Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 9/11/2020

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Andreas Scheuer (Minister:in)

Politiker ID: 11003625

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Am Geld liegt es nicht. Das steht in Rekordhöhe zur Verfügung. Auch dank der Unterstützung aus dem Deutschen Bundestag, von dieser Großen Koalition aus CDU, CSU und SPD, können wir in Rekordhöhe investieren. Das werden wir auch beim Haushalt 2021 beweisen. Das ist eine gute Botschaft. Am Geld liegt es nicht. Wir sitzen jetzt zum vierten Mal hier zusammen, um Planung und Genehmigung zu beschleunigen. Drei Pakete haben wir bereits geschnürt, um Genehmigungen, um Planungen in Deutschland schneller zu machen. Jetzt geht es um ein viertes Paket, und nach meiner Meinung ist es auch nicht das letzte Paket in dieser Legislaturperiode. Wir haben fest im Blick und fix vor, dass wir Genehmigungen und Planungen in Deutschland beschleunigen, ja sogar beschleunigen müssen. ({0}) Der Koalitionsausschuss hat am 8. März weitere Maßnahmen beschlossen. Deswegen legen wir diesen Gesetzentwurf mit der Unterstützung der Spitzen aus der Koalition vor. Darin nehmen wir – über den Bereich des reinen Planungsrechts hinaus – jetzt auch das vorgelagerte Raumordnungsverfahren und das nachfolgende Gerichtsverfahren in den Blick. Denn auch hier lassen sich die Verfahren straffen. Im Bereich der Schiene zum Beispiel werden wir bestimmte Genehmigungen erleichtern. So ist künftig bei der Elektrifizierung von vorhandenen Bahnstrecken oder auch bei der Ausstattung einer Strecke mit digitaler Signal- und Sicherungsleittechnik kein Planfeststellungsverfahren mehr nötig. Gleiches gilt beim Erneuern eines Bahnsteigs oder beim Errichten von Schallschutzwänden aus Gründen des Lärmschutzes. Das heißt also, dort, wo entweder keine Betroffenheiten oder nur wenig Betroffenheiten sind, wollen wir beschleunigen. Wenn ich nach dem heutigen Tag, nach dieser heutigen Aussprache auf diese Debatte schauen werde, dann hoffe ich, feststellen zu können, dass nicht nur die Große Koalition dieser Beschleunigung von Genehmigungen und Planungen zugestimmt haben wird, sondern auch, da es gerade um Forderungen geht, die Schiene zu stärken, die Oppositionsfraktionen dieses Vorhaben unterstützt haben werden. Denn bei manchen Veranstaltungen gab es für mich sogar einen Handschlag, also das Versprechen, dass, wenn wir gerade bei der Schiene beschleunigen, dann auch die Opposition an dieser Stelle mitmacht. Das wäre ein gutes Signal. ({1}) Es ist auch nur konsequent, dass in einigen dieser Fälle künftig die Prüfung der Umweltverträglichkeit entfällt, wie etwa bei der Digitalisierung von Bahnstrecken oder der Erneuerung von Bahnsteigen sowie Bahnübergängen. In anderen Fällen, zum Beispiel wenn eine Bahnstrecke mit einer Oberleitung oder einer Lärmschutzwand ausgestattet wird, genügt künftig eine Vorprüfung, die je nach Ergebnis eine anschließende Prüfung der Umweltverträglichkeit entbehrlich machen kann. Der zweite Bereich, den wir mit dem Gesetzentwurf angehen, ist das Thema Raumordnungsverfahren, und zwar allgemein, also nicht nur bei der Schiene. Wir wollen, dass Raumordnungsverfahren nicht mehr zwingend nötig sind. Wenn in dem betreffenden Gebiet keine Einwände von Anwohnern, Naturschützern, Landwirten oder anderen wichtigen Akteuren zu erwarten sind, kann derjenige, der ein Bauprojekt plant, darauf verzichten. Das bedeutet natürlich nicht, dass Bürger oder Umweltschutzverbände um die Möglichkeit gebracht werden, Einwände gegen ein Vorhaben zu erheben. Das können sie nach wie vor – nur eben nicht in einem Raumordnungsverfahren, sondern in der Planfeststellung. Zudem sollen Raumordnungsverfahren stärker digitalisiert werden, zum Beispiel durch Onlineveröffentlichungen. Und es wird noch einmal klargestellt, dass Belange, die bereits Gegenstand eines Raumordnungsverfahrens waren, im weiteren Zulassungsverfahren nicht erneut geprüft werden. Wir erleben bei ganz großen Bauprojekten jedes Mal, dass Anliegen oder Widersprüche immer wieder eingereicht werden, sodass sich diese Verfahren leider verzögern. Das können wir uns in Anbetracht der Herausforderungen für unsere Infrastruktur nicht leisten. Klargestellt wird auch, dass Linienbestimmung und Planfeststellung nach einem Raumordnungsverfahren zeitnah erfolgen sollen. Nur dann nämlich lassen sich die erhobenen Daten und Gutachten ohne langwierige Aktualisierungen für die folgenden Verfahren verwenden. Und schließlich können wir auch die Gerichtsverfahren beschleunigen. Statt drei Instanzen – Verwaltungsgericht, Oberverwaltungsgericht, Bundesverwaltungsgericht – werden künftig in bestimmten Fällen zwei Instanzen genügen. Konkret geht es um Streitigkeiten rund um Landesstraßen, bestimmte Hafenprojekte oder Windräder. In diesen Fällen sind künftig gleich in der ersten Instanz die Oberverwaltungsgerichte oder Verwaltungsgerichtshöfe zuständig. Damit sparen wir eine Instanz und verkürzen das Verfahren. Zudem sollen Rechtsbehelfe Dritter in Fällen von übergeordneter Bedeutung sowie bei Windkraftanlagen an Land keine aufschiebende Wirkung haben. Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, am Geld scheitert es nicht. Deswegen ist auch das Hohe Haus gefragt, wenn es darum geht, dass wir einen Kompromiss auf den Weg bringen. Die einen wollen noch mehr – das kann ich gut verstehen –, die anderen wollen viel, aber wenn es konkret wird, können sie sich dem nicht anschließen, doch zu beschleunigen. Ich bin für eine Kompromissfindung offen, vor allem im weiteren Verfahren. Es ist unbedingt notwendig, dass wir die Realisierung von Infrastruktur beschleunigen. Dazu hat diese Koalition den Kurs eingeschlagen. Ich bitte das Hohe Haus, dass wir schnell zu einer Beschlussfassung zu diesem Gesetzentwurf kommen. Dazu lade ich alle sehr herzlich ein. Danke schön. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Dirk Spaniel, AfD. ({0})

Dr. Dirk Spaniel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004899, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der von der Koalition hier vorgelegte Gesetzentwurf ist im Grundsatz für unser Land mehr als überfällig. Die Langsamkeit bei der Umsetzung von Infrastrukturprojekten in unserem Land hat ja mittlerweile Weltruf. Der Berliner Flughafen oder Stuttgart 21 sind weit über die Landesgrenzen bekannt. ({0}) Eine schnellere Realisierung solcher Projekte ist ein Schlüsselfaktor, um die Wettbewerbsfähigkeit eines Industriestaats zu erhalten. ({1}) Wir sind das Transitland im Zentrum Europas. In den vergangenen 20 Jahren mussten in Deutschland über 35 Prozent mehr Güter über ein quasi stagnierendes Straßen- und Schienennetz transportiert werden. Allerdings ist dieses Gesetz hier eine Mogelpackung, Herr Scheuer. Sie wollen unter dem Deckmäntelchen des Infrastrukturausbaus vorwiegend Schiene und Windkraft ohne entsprechende Bürgerbeteiligung und Einspruchsrechte ausbauen; das haben Sie ja eben auch selber gesagt. Damit zeigen Sie, dass es Ihnen eben gerade nicht um die Wettbewerbsfähigkeit dieses Landes geht. ({2}) Sie wollen nicht die volkswirtschaftlichen Schäden durch Staus und marode Brücken beseitigen, sondern vertuschen, dass Ihre Klimaideologie an ihre Grenzen gerät. Sie wollen verhindern, dass Anwohner den Bau von Windindustrieanlagen aufschieben können, und nehmen in Kauf, dass fertige Windparks wieder abgerissen werden müssen, wenn die Klagen im Nachhinein erfolgreich sind. Dazu wird mein Kollege nachher noch mehr ausführen. Auch Ihre Pläne zum Ausbau der Schiene sind ideologiegetrieben. Die Schiene leistet gerade einmal 20 Prozent des Gütertransports und circa 10 Prozent des Personenverkehrs hier in diesem Land. Das Kosten-Nutzen-Verhältnis von Schienenprojekten ist ein Bruchteil dessen von Straßenprojekten. Wir wollen das in diesem Land demnächst knappe Geld aus Steuern nicht verschleudern, und daher brauchen wir zuallererst eine Investitionsoffensive für Straßen und marode Brücken. ({3}) Ein wesentliches Problem für Infrastrukturprojekte sind unzureichende Planungskapazitäten. Aus diesem Grund fordert die AfD eine an der tatsächlichen Bedeutung der Verkehrsträger ausgerichtete Verteilung der Investitionen und Planungskapazitäten. Das bedeutet: Wir wollen vor allen Dingen Projekte mit günstigem Kosten-Nutzen-Verhältnis in diesem Land bevorzugen. Kurz zum Gesetzentwurf der FDP: Diesen finden wir zwar grundsätzlich gut und interessant, aber dieses Parlament ist eben keine überregionale Baugenehmigungsbehörde. Wir können nicht in diesem Haus per Maßnahmengesetz aus der Ferne über Straßen in Friesland oder dem Ländle entscheiden. Diesen Zentralismus unterstützen wir nicht. ({4}) – Ja, Sie haben recht, Dänemark macht das. Aber Dänemark ist eben viel kleiner. Übrigens, dieses Gesetz birgt das Risiko, dass bei einer entsprechenden Regierungskoalition aus dem links-grünen Spektrum hier in diesem Land gar keine Bauprojekte mehr realisiert werden, wenn eben ein grün-rotes Veto aus Berlin kommt. Und deshalb sehen wir in Summe viel Aktionismus der Regierung und seitens der FDP; die eigentlichen Probleme im Ausbau der Infrastruktur werden aber hier überhaupt nicht adressiert. ({5}) Wir brauchen eine Investitionsoffensive speziell für die Verkehrsträger, welche das beste Kosten-Nutzen-Verhältnis bieten, und dieser Entwurf ist das Gegenteil. Schlimmer noch: Dieser Regierungsentwurf schafft neue Probleme durch den Wegfall entsprechender Einspruchsrechte bei Windindustrieanlagen. Und deshalb, meine Damen und Herren, lehnen wir beide Gesetzentwürfe ab und werden in den nächsten Sitzungswochen Alternativen dazu von uns einbringen. Vielen Dank. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Sören Bartol, SPD. ({0})

Sören Bartol (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003496, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister! Wir haben in den letzten Monaten sehr viele Reden darüber gehalten, dass wir in Deutschland auf Rekordniveau investieren. Und auch wenn Eigenlob stinkt: An der Stelle können wir selbstbewusst sagen, dass wir für dieses Land gute und richtige Beschlüsse gefasst haben. ({0}) Vor allen Dingen mit dem Konjunkturpaket haben wir enorme Investitionsimpulse für die Infrastruktur gesetzt. Wir modernisieren unser Verkehrssystem auf intelligente Weise, wir erhöhen zum Beispiel die Kapazitäten im Bahnbereich und machen damit die Verkehrswende möglich. Entscheidend ist jetzt, dass das Geld schnell in Projekte umgesetzt wird. Das Versprechen, das wir den Menschen mit den Investitionsbeschlüssen gegeben haben, müssen wir auch einlösen. Ich halte das heute debattierte Gesetz daher für gut und wichtig, damit wir schneller bauen können und so dieses Land nicht nur auf dem Papier voranbringen. Ein erster echter Schritt zur Planungsbeschleunigung wäre allerdings, wenn die Mittel von den zuständigen Ministerien vernünftig und zügig ausgegeben würden. Konjunkturimpuls bedeutet, dass das Geld schnell wirksam werden muss. Und ich zitiere jetzt mal die Kanzlerin – es stand ja im „Tagesspiegel“ –: Andi, wie lange dauert das noch? – Diese bemerkenswerte Selbstkritik, immerhin durch die Chefin, kann man mal getrost auf die Umsetzung der Programme insgesamt beziehen. ({1}) Es ist die Verantwortung der politischen Leitung in den Ministerien, dass das Geld vor Ort zügig ankommt. Und ich glaube, Sorgfalt und Tempo lassen sich auch verbinden. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Bauen in Deutschland dauert zu lange. Wir brauchen daher dringend beschleunigte Verfahren. Bei jeder Veränderung des Planungsrechts stehen wir aber vor der Herausforderung, trotzdem substanzielle Beteiligungsrechte beizubehalten und ökologische Vorgaben umzusetzen. Das ist ein schmaler Grat, aber wir bewältigen das. Mit dem Gesetz heben wir Beschleunigungspotenziale in der Raumordnung, beim Bau und in der Justiz. Auf den wichtigsten Modernisierungsfeldern kommen wir schneller voran: im Verkehr, bei der Digitalisierung und dem Ausbau der Windenergie. Und gerade mit Blick auf die Stärkung der Bahn ist das Gesetz ein großer Schritt. Die Elektrifizierung der Schiene wird von der Planfeststellungspflicht befreit, für die Digitalisierung der Bahn und die Erneuerung von Übergängen ist keine Umweltverträglichkeitsprüfung mehr nötig. Das ist ein vertretbarer Abbau von Planungsschritten, der die Verkehrswende voranbringt. Insofern begrüße ich den vorliegenden Entwurf des Bundesverkehrsministers ausdrücklich. Ich möchte aber gleichzeitig davor warnen, in Zukunft das Kind mit dem Bade auszuschütten. Im Kanzleramt gibt es offenbar schon weiter gehende Überlegungen zum Abbau von Standards. Das sehe ich mit großer Skepsis. Die Rezepte der 90er-Jahre sind nicht mehr zeitgemäß. Wir haben einen komplett veränderten internationalen Rechtsrahmen, insbesondere im Umweltbereich, und wir haben ganz andere Beteiligungsansprüche der Menschen als noch vor 30 Jahren. Planungsbeschleunigung ist ein Dauerthema. Den einen großen Wurf gibt es nicht; es sei denn, man schafft ab, was wir in den letzten 20 Jahren an Standards erreicht haben. Wer meint, mit der Aarhus-Konvention mal eben Völkerrecht ändern zu können, dem wünsche ich eine gute Reise. Das sind Prozesse, die 15 Jahre dauern und uns aktuell null Komma null helfen. Wir müssen uns auf das konzentrieren, was jetzt funktioniert. Nur dann glauben uns die Menschen, dass unsere Beschlüsse das Leben und Wirtschaften tatsächlich besser machen. Um Investitionsmittel zügig verbauen zu können, sind die Verschlankungen in diesem Gesetz gut. Das sage ich auch mit Blick auf den Bundesrat. Ich setze auch hier auf die Vernunft, auch auf die der grünen Verkehrsminister. Es geht nicht darum, jetzt Schaufensterdebatten zu führen. Nie dabei sein zu wollen, wenn es um die konkrete Umsetzung geht, ist auch eine Art von Populismus, ({3}) und Sie sind auch mit in der Verantwortung, dass es in diesem Lande vorangeht. ({4}) Wichtig ist: Ausnahmen müssen Ausnahmen bleiben. Das Planungsrecht darf nicht zum Schweizer Käse werden. Vor allen Dingen haben wir jenseits des Rechtes unsere Möglichkeiten, Prozesse zu beschleunigen, noch gar nicht richtig ausgereizt. Planungsbeschleunigung ist ein Begriff, mit dem man Menschen auch verunsichert. Aber uns geht es ja um Akzeptanz und Vertrauen in den Staat. Wir können und wollen nicht gegen die Bevölkerung Riesenprojekte durchsetzen. Beteiligungsrechte sind für mich auch Bürgerrechte. ({5}) Und vor allen Dingen: Eine bessere Beteiligung spart auch Zeit. Eine frühzeitige, eine transparente Beteiligung wirkt in hohem Maße befriedend und damit am Ende auch planungsverkürzend. Wir müssen daher Beteiligungsprozesse optimieren und dafür am Ende auch die Verwaltungen stärken. Wir müssen die Behörden besser ausstatten und bei der Digitalisierung deutlich schneller werden. Die Personalausstattung ist immer noch ein Riesenproblem. Wir brauchen eine Fachkräfteoffensive für Planer und endlich mehr Stellen in den Planungsämtern. ({6}) Das, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, verstehe ich unter einer sozialen und ökologisch ausgewogenen Weiterentwicklung des Planungsrechts. Vielleicht kriegen wir davon in den kommenden Monaten gemeinsam noch etwas hin. Packen wir es an! Vielen Dank. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Torsten Herbst, FDP, ist der nächste Redner. ({0})

Torsten Herbst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004746, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich weiß nicht, wer von Ihnen das Beispiel des Neubaus der Bundesstraße 178 in Ostsachsen kennt; meine sächsischen Kollegen kennen das vermutlich. Da reden wir unter anderem über einen Lückenschluss von 5 Kilometern, 5 Kilometer zwischen einer Autobahn und einem schon ausgebauten Abschnitt einer Bundesstraße, 5 Kilometer, auf die die Bürger seit 20 Jahren warten, und ihnen kann heute niemand sagen, wann die Bagger rollen. Meine Damen und Herren, das ist ein Armutszeugnis. ({0}) Jeder kennt, glaube ich, in seiner Region, in seinem Wahlkreis genau diese Beispiele, die nicht nur eine Frage der Verkehrspolitik oder der Wirtschaftsförderung oder der Lebensqualität in der Region sind. Nein, sie wecken Frust sowie Zweifel an der Handlungsfähigkeit des Staates. Deshalb ist Planungsbeschleunigung ein existenzielles Anliegen, dessen Umsetzung auch dazu führen wird, dass wieder Vertrauen in den Staat und in die Demokratie herrscht, meine Damen und Herren. ({1}) Wer in diesem Sommer so geschaut hat, was hier als Erfolg der Verkehrspolitik ausgeben wird, der wundert sich zum Teil. Schauen wir nach Berlin: Dort wurden die sogenannten Pop-up-Radwege, die jetzt vom Gericht kassiert wurden, als großer Erfolg gefeiert. Dort wird einfach mit einem Farbstrich ein Radweg geschaffen, und man sagt, das sei der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur. – Das ist der Erfolg. Wenn wir uns die letzten sieben Jahre angucken, stellen wir andererseits fest, dass wir es nicht einmal schaffen, pro Jahr 100 Kilometer Eisenbahnstrecke in Deutschland zu elektrifizieren. Meine Damen und Herren, das ist infrastrukturelle Selbstverzwergung der viertgrößten Wirtschaftsnation der Welt. ({2}) Die Koalition ist jetzt aus ihrem Schlaf erwacht, hektisch geworden und legt den Entwurf eines vierten Planungsbeschleunigungsgesetzes vor. Wir werden dem auch zustimmen, so wie wir das in der Vergangenheit gemacht haben, selbst wenn er aus unserer Sicht nicht weit genug geht und viel zu spät kommt. Ich meine, die CSU stellt seit 2009 den Verkehrsminister. Hätte man beispielsweise in der letzten Legislaturperiode die Gesetze vorgelegt, hätten sie jetzt bereits Wirkung gezeigt. Deshalb bedauern wir, dass Sie hier nicht weit genug gehen und dass Sie sich auch gegenüber dem Umweltministerium nicht durchgesetzt haben. Ich denke da etwa an die Stichtagsregelung für Einsprüche von Umweltverbänden, an die Streichung von Doppelprüfungen und an die Präklusionsregelung zur Entlastung der Gerichte. All das hätten wir uns gewünscht. ({3}) Meine Damen und Herren, wir reden hier viel über Schiene, und das ist auch uns wichtig. Auch wir glauben, dass der Ausbau der Schieneninfrastruktur Impulse für dieses Land geben kann, aber wir dürfen dabei die Straße nicht aus den Augen verlieren. Zwischen 2012 und 2018 hatten wir auf unseren Autobahnen 300 Prozent mehr Staukilometer. Auch in diesem Bereich müssen wir etwas tun. Wir legen einen eigenen Entwurf eines Bundesfernstraßen-Baubeschleunigungsgesetzes vor, um auch bei Autobahnen und Bundesstraßen zu mehr Tempo zu kommen. Wir wollen bei ausgewählten Projekten von nationaler Bedeutung als Bundestag selbst Bauherr werden – weg von dem reinen Verwaltungsakt hin zu einer politischen Entscheidung, das Ganze verbunden mit einer umfassenden frühen Bürgerbeteiligung –, weil auch wir glauben, dass nur durch die Einbeziehung der Bürger Konflikte befriedet werden können und langwierige rechtliche Auseinandersetzungen vermieden werden. ({4}) Nun sagen gerade einige von den Grünen: Das geht alles nicht, das können wir alles nicht machen. Da empfehle ich mal den Blick nach Dänemark. Die dänischen Kollegen zeigen mit großen Infrastrukturvorhaben – Stichwort: Fehmarnbeltquerung –, wie es gelingt, in wenigen Jahren als Parlament dafür zu sorgen, dass die Bagger rollen können. ({5}) Das brauchen wir auch in Deutschland, meine Damen und Herren. ({6}) Wir feiern in diesem Jahr 30 Jahre deutsche Einheit. Sie kennen vielleicht die berühmten Verkehrsprojekte Deutsche Einheit, 1991 beschlossen; da ist wirklich viel passiert, und wir können stolz darauf sein. Aber es gibt immer noch Projekte, die bis heute nicht fertig sind. Denken Sie an die A 44 zwischen Kassel und Eisenach: Da feiern wir bald 30 Jahre Nichtfertigstellung. Meine Damen und Herren, das ist eines Landes unserer Leistungsfähigkeit nicht würdig. ({7}) Das kann nicht sein, das schafft Frust bei den Bürgern vor Ort. Ich glaube, die Beschleunigung ist dringend notwendig. Wir müssen hier ganz neue Wege gehen, und zwar nicht nur Trippelschritte, sondern Sprünge. Das wollen wir als Freie Demokraten. Wir unterstützen die Koalition aber auch, wenn sie Trippelschritte geht; besser Trippelschritte als keine Schritte, meine Damen und Herren. Vielen Dank. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Sabine Leidig, Die Linke, hat als Nächste das Wort. ({0})

Sabine Leidig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004089, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Guten Morgen, Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Wir behandeln heute etliche Gesetzesänderungen, die den Bau oder den Umbau von Infrastruktur beschleunigen sollen. Dazu sollen Genehmigungsverfahren abgekürzt werden. Okay. Nun stellt die Koalition ja selber fest – wir haben es gehört –, dass bereits in der Vergangenheit eine ganze Reihe solcher Maßnahmen beschlossen worden sind – das stimmt –; aber leider ist bis heute nicht ersichtlich, welche Wirkung eigentlich damit erzielt worden ist. Sie haben – übrigens gegen die Stimmen der Linken – demokratische Beteiligung erschwert, Sie haben Umweltschutz abgebremst, Sie haben Entscheidungen zentralisiert, Sie haben Einwände ausgeschlossen. Was ist dabei herausgekommen? Sind die Umsetzungen schneller geworden? Wir wissen es nicht. Es gibt keine Untersuchung und keine Auswertung. Das ist ein Kritikpunkt, der nicht nur von uns kommt, sondern auch von den beteiligten Verbänden. Wir fordern von der Bundesregierung, endlich eine ordentliche Evaluation vorzulegen. Das ist das Mindeste. ({0}) Jetzt steht also das nächste Beschleunigungspaket auf der Tagesordnung. Immerhin: Dieses Mal liegt der Schwerpunkt der Koalition nicht beim Straßenausbau, dieses Mal geht es nicht gegen Klimaschutz und Nachhaltigkeit. Mit dem neuen Gesetz sollen die Genehmigungsverfahren für den Aufbau von Windrädern, für die Modernisierung von bestehenden Schienenstrecken und für Lärmschutzmaßnahmen vereinfacht werden. Da haben wir zwar im Detail noch Änderungsbedarf, aber im Großen und Ganzen sind wir einverstanden. Wir werden das im Verkehrsausschuss noch diskutieren; dort wird auch eine Anhörung stattfinden. So weit, so gut. Allerdings bleibt ein ganz gravierendes Problem, was die Investitionen des Bundes angeht, völlig ungelöst, nämlich dass diese Investitionen immer noch zum großen Teil in alte fossile Infrastruktur fließen. Und dagegen hilft ein bisschen Beschleunigung bei der Elektrifizierung des Schienennetzes wenig. Für die Energiewende ist es schädlich, wenn neue Kohlemeiler ans Netz gehen. Für die Verkehrswende ist es schädlich, wenn neue Autobahnkilometer gebaut werden. Ich habe dafür ein ganz konkretes und anschauliches Beispiel: Hier in Berlin wird der nördliche Berliner Ring von vier auf sechs Spuren erweitert. Dafür müssen alle 38 Brücken, die die Autobahn kreuzen, abgerissen und durch Neubauten ersetzt werden. Eine dieser Brücken ist eine viergleisige Eisenbahnbrücke für die S-Bahn, Regionalbahn und den Schienenfernverkehr zwischen Berlin und Oranienburg. Hier sind normalerweise jeden Tag Tausende Pendlerinnen und Pendler klimafreundlich unterwegs. Die haben jetzt über Jahre immer wieder Scherereien, müssen umsteigen, den Schienenersatzverkehr nutzen usw. Am Ende werden 650 Millionen Euro Baukosten in den Straßenverkehr geflossen sein. Das sind Fehlinvestitionen im doppelten Sinn: Erstens ist das Geld falsch eingesetzt, zweitens wird es bei der Modernisierung und beim Ausbau der Bahn fehlen. – Das muss endlich ein Ende haben. ({1}) Es ist doch ganz klar: Der Versuch, mehr Verkehr auf die Schiene zu bringen, bleibt halbherzig, wenn gleichzeitig der Straßenverkehr zunimmt. So werden die Klimaschutzziele nicht erreicht, erst recht nicht, wenn für neue Autobahnabschnitte wertvoller Waldbestand zerstört wird, unsere einzige CO2-Senke. Genau das aber steht in meinem Heimatland Hessen gerade bevor. Eine Fläche von hundert Fußballfeldern Größe soll demnächst für den Weiterbau der A 49 abgeholzt werden. 250 Jahre gewachsener Wald, noch dazu im Wasserschutzgebiet. Dahinter stehen Planungen, die 40 Jahre alt sind; Planungen, die überhaupt nichts zur Lösung heutiger Probleme beitragen, im Gegenteil. Deshalb sind ja in der Region auch längst Alternativen erarbeitet worden. Die werden auch von Kommunen unterstützt. Dazu gehört zum Beispiel die Reaktivierung von Bahnstrecken. Es ist also völlig widersinnig, am Bau dieser Autobahn festzuhalten. Es ist kein Wunder, dass immer mehr junge und ältere Menschen Widerstand dagegen leisten, mit Demonstrationen, Waldspaziergängen, Mahnwachen, ({2}) Protestcamps und Baumbesetzungen. ({3}) Als Linke stehen wir an der Seite dieser Menschen – draußen, aber auch hier im Parlament. ({4}) Ich sage Ihnen voraus, dass mit dieser Bewegung ein ähnliches Symbol entsteht wie mit der Bewegung für den Erhalt des Hambacher Waldes, für den Kohleausstieg. Wir brauchen den Ausstieg aus dem Autobahnbau. Dass der zuständige hessische grüne Minister Tarek Al-Wazir als Vollstrecker der klimaschädlichen A 49 in Erscheinung tritt, ist ein Problem für die Grünen, aber es ist auch ein Problem für die Demokratie. ({5}) Die Mehrheitsverhältnisse im Hessischen Landtag sind ja inzwischen andere, weil so viele Bürgerinnen und Bürger eine umweltverträgliche Wirtschafts- und Verkehrspolitik wollen. ({6}) Es muss möglich sein, solche alten Bundesverkehrswegepläne aufzugeben und zu ändern. ({7}) Unsere Orientierung lautet: Eisenbahn statt Autobahn und Wald statt Asphalt. ({8}) Das ist eine Neuausrichtung der Investitionspolitik im Sinne der Linken und im Sinne des Großteils der Bevölkerung. Eine solche Neuausrichtung der Investitionspolitik wollen wir, und zwar mit großer Beschleunigung. Vielen Dank. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Stephan Kühn, Bündnis 90/Die Grünen, hat jetzt das Wort. ({0})

Stephan Kühn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004085, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat: Der Bau von Bahnstrecken, der Bau von Windkraftanlagen dauert viel zu lange. Wenn wir die Energie- und Verkehrswende, wenn wir die klimapolitischen Ziele erreichen wollen, brauchen wir eine Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsprozessen. Das ist zwingend. Da besteht große Einigkeit. Wir glauben, dass der Gesetzentwurf mit Blick auf die Eisenbahninfrastruktur tatsächlich zu Beschleunigungseffekten bei den Investitionen führen wird, weil es unter bestimmten Bedingungen keine Pflicht mehr für eine Planfeststellung geben wird: bei der Digitalisierung – sprich: ETCS –, beim barrierefreien Umbau von Haltestellen, bei der Elektrifizierung und beim Lärmschutz. Das begrüßen wir. Trotzdem bleibt der Gesetzentwurf halbherzig. Was ist denn mit dem Ausbau der barrierefreien Haltestellen im ÖPNV? Sobald Sie zum Beispiel dafür die Gleise verlegen müssen, brauchen Sie eine Planfeststellung. Wir haben zum Glück die Mittel für das GVFG-Bundesprogramm deutlich erhöht und den Handlungsrahmen erweitert, damit die Kommunen investieren können. Wenn bei den Planungs- und Genehmigungsprozessen jetzt aber nichts passiert, wird das Geld wie schon heute nicht abfließen. ({0}) Wieder einmal – schon zum zweiten Mal – haben Sie bei den Planungsbeschleunigungsgesetzen, die Sie hier einbringen, den ÖPNV komplett vergessen. Das sollten Sie im Gesetzgebungsverfahren noch einmal überdenken. ({1}) Wo sind außerdem die Vorschläge zur Beschleunigung des Radwegebaus? Auch dazu finden wir im Gesetzentwurf keine Vorschläge. Es ist aus Gründen des Klimaschutzes dringend erforderlich, für eine Beschleunigung beim Ausbau der Radverkehrsinfrastruktur zu sorgen. ({2}) Was Sie vorschlagen, ist eine Abwertung des Raumordnungsverfahrens. Künftig soll es weniger Raumordnungsverfahren geben. Das Gegenteil wäre richtig: eine Aufwertung der Raumordnungsverfahren; denn hier liegt der Ansatz für eine frühzeitige Bürgerbeteiligung. Es geht um eine grundsätzliche Betrachtung für die Umsetzung des Vorhabens. Beim Planfeststellungsverfahren geht es nur noch um Details. Wenn man Konflikte früh erkennen will, wenn man Akzeptanz schaffen und Planungsqualität sichern will, dann muss man das im Raumordnungsverfahren entsprechend regeln. Das spart am Ende Zeit in den weiteren Planungsprozessen. Darum ist eine Abwertung der falsche Ansatz. ({3}) Zwei zentrale Ursachen für Planungsverzögerungen packen Sie nicht an: Das ist zum einen das fehlende Personal in den Planungs- und Genehmigungsbehörden und bei den Gerichten. Wir brauchen eine Personaloffensive, wir brauchen mehr Weiterbildung, und wir brauchen mehr finanziellen Handlungsspielraum für die Behörden bei der Personalrekrutierung. Ansonsten kommen wir mit der Planung und Genehmigung von Projekten nicht voran. ({4}) Das Zweite ist: Wir setzen immer noch die völlig falschen Prioritäten beim Infrastrukturausbau. Ein Blick in den Umweltbericht zum Bundesverkehrswegeplan zeigt: Es gibt keine vernünftige Ausrichtung auf Klimaschutz; es werden immer noch die falschen Projekte abgearbeitet. Wir bauen Straßenprojekte, als ob es keine Digitalisierung gäbe, als ob keine Automatisierung käme und als ob es keine Klimakrise gäbe. Meine Damen und Herren, wir brauchen dringend eine Überprüfung der Straßenbauprojekte. ({5}) Dann haben wir auch freie Kapazitäten, um klimapolitisch notwendige Projekte umzusetzen. Ohne eine andere verkehrspolitische Priorisierung beim Infrastrukturausbau wird die ganze Planungsbeschleunigung im Sande verlaufen. Vielen Dank. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Patrick Schnieder, CDU/CSU. ({0})

Patrick Schnieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004146, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Beim Thema Planungs- und Genehmigungsbeschleunigung geht es im Kern um die Zukunftsfähigkeit dieses Landes. Deshalb sind die Vorhaben so wichtig. Deshalb legen wir in dieser Legislaturperiode, besonders in den vergangenen beiden Jahren, so großen Wert darauf, hier einen ordentlichen Schritt voranzukommen. Das ist, wie der Minister treffend ausgeführt hat, bereits das vierte Gesetzesvorhaben in diesem Bereich in dieser Legislaturperiode. Wir haben mit dem Planungsbeschleunigungsgesetz 2018 Möglichkeiten zur vorläufigen Anordnung geschaffen und Bürgerbeteiligungen im Internet gestärkt. Wir haben mit dem Genehmigungs- und Beschleunigungsgesetz 2020 unter anderem Planungsverfahren für Ersatzneubauten bei Straße und Schiene verschlankt. Einige Ersatzneubauten werden von der Genehmigungspflicht insgesamt befreit. Wir haben mit dem Maßnahmengesetzvorbereitungsgesetz 2020 ermöglicht, Baurecht durch Maßnahmengesetze zu schaffen, die hier, im Deutschen Bundestag, beschlossen wurden, zunächst für 13 Pilotprojekte. Wir legen heute mit dem Investitionsbeschleunigungsgesetz das vierte Paket vor, das die Beschlüsse des Koalitionsausschusses vom 8. März umsetzt. Das, was wir hier abliefern, ist eine einzige Erfolgsgeschichte. Die Koalition liefert in einem zentralen Bereich. ({0}) Wir haben auch vorher schon in diesem für die Zukunftsfähigkeit Deutschlands zentralen Bereich gehandelt. Wir haben Personal beim Eisenbahn-Bundesamt und bei der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung aufgestockt. Ich will daran erinnern, dass wir 2017 das Grundgesetz geändert und die Autobahn GmbH und das Fernstraßen-Bundesamt gegründet haben. Auch das ist ein wesentlicher Bereich, um Vorhaben demnächst beschleunigt umsetzen zu können. An die Adresse des Kollegen Herbst von der FDP sage ich: Man kann sich nicht nur einen schlanken Fuß machen und auf den Bund zeigen. Sie regieren in vielen Ländern mit und stellen Wirtschafts- und Verkehrsminister. Auch hier gibt es erheblichen Bedarf an Beschleunigungsmaßnahmen. Ich nenne als Beispiel das Land Rheinland-Pfalz. Der designierte Generalsekretär würde gut daran tun, sich darum zu kümmern, einige Verfahren etwas schneller voranzubringen. Ich nenne als Beispiel den Lückenschluss der A 1, auf den wir schon seit 20 Jahren warten. ({1}) Die Verzögerung liegt nicht am Bund, sondern daran, dass das Land kein entsprechendes Baurecht schafft. Ich nenne die Schiersteiner Brücke zwischen Hessen und Rheinland-Pfalz. Das Land Hessen hat seinen Teil mustergültig fertiggebaut, im Land Rheinland-Pfalz gucken wir in die Röhre. ({2}) Auch die Länder dürfen sich nicht vom Acker machen, sondern sollten entsprechend mitwirken. ({3}) Die Maßnahmen des Investitionsbeschleunigungsgesetzes machen vor allen Dingen ein schnelleres Bauen im Bereich Schiene möglich. Wir verkürzen Verwaltungsgerichtsverfahren. Auch hier sollen sich die Länder bitte nicht vom Acker machen. Wenn gefordert wird, Herr Kollege Kühn von den Grünen, wir brauchten mehr Personal, dann ist das vollkommen richtig. Aber es ist natürlich zunächst Sache der Länder, im Bereich ihrer Landesjustizverwaltungen mehr Personal einzustellen und damit die Möglichkeit zu schaffen, Gerichtsverfahren zu beschleunigen. ({4}) – Ja, lieber Herr Kollege Hofreiter, wir haben beim Eisenbahn-Bundesamt das Personal verstärkt. ({5}) Aber wenn es darum geht, Gerichtsverfahren zu beschleunigen, vor allem bei Verwaltungsgerichten und Oberverwaltungsgerichten, wollen Sie doch nicht im Ernst behaupten, dass der Bund für das Personal zuständig ist. Ich würde noch mal in der Verfassung nachlesen, wo die Zuständigkeiten liegen. Der vorliegende Gesetzentwurf ist auch für die Vorhaben, die wir bereits beschlossen haben, notwendig. Schnellere Planungs- und Genehmigungsprozesse sind wichtig, vor allem für die Wettbewerbsfähigkeit der Bundesrepublik im internationalen Vergleich. Die Geschwindigkeit von Planungs- und Genehmigungsprozessen ist zu einem zentralen Standortkriterium für Unternehmen geworden. Wenn wir in Deutschland zukunftsfähig bleiben wollen, müssen wir hier mehr tun. Es ist wichtig, unsere Infrastruktur schnell an veränderte Rahmenbedingungen anpassen zu können. Wir müssen zu jeder Zeit handlungsfähig sein, statt Jahre oder Jahrzehnte zu warten, bis wir wichtige Maßnahmen umsetzen können. Nicht zuletzt ist das auch wichtig für das Vertrauen der Bürger in den Staat. Zwischen dem Beschluss einer Maßnahme und deren Umsetzung muss möglichst wenig Zeit liegen. Es kann nicht sein, dass Generationen warten müssen, bis Maßnahmen, die hier beschlossen worden sind, auch tatsächlich umgesetzt werden. ({6}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir haben in dieser Legislaturperiode und mit dem Gesetz, das wir heute beraten, wichtige Weichen gestellt, um schneller planen und bauen zu können. Die Ergebnisse der Maßnahmen werden in den nächsten Jahren sukzessive sichtbar werden. Es verbleiben Stellschrauben, an denen wir weiter arbeiten werden. Ja, wir müssen ran an die Aarhus-Konvention; daran geht überhaupt kein Weg vorbei. Wir haben in bestimmten Bereichen zu viel Speck angesetzt. Dort müssen wir schlanker werden. Wir müssen, denke ich, eine Präklusionsregelung einführen; das wollen wir natürlich europarechtskonform ausgestalten. Mit dem Investitionsbeschleunigungsgesetz gehen wir heute einen weiteren wichtigen Schritt, in Deutschland Strukturen zu schaffen, um Genehmigungs- und Investitionsvorhaben schneller durchführen zu können und zukunftsfähig zu bleiben. Vielen Dank. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Steffen Kotré, AfD. ({0})

Steffen Kotré (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004791, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die die Umwelt zerstörenden Windindustrieanlagen sollen mit dem vorliegenden Gesetzentwurf weiter juristisch privilegiert werden. Der Instanzenweg soll verkürzt werden, Widerspruch und Anfechtung sollen keine aufschiebende Wirkung haben. Das ist eine Einschränkung des Rechtsstaates, das ist ein Abbau der bürgerlichen Rechte, meine Damen und Herren. ({0}) Das kann nur geschehen durch diese abenteuerliche Konstruktion, dass Windindustrieanlagen im öffentlichen Interesse seien. Aber diese umweltzerstörenden Monster sind mitnichten im öffentlichen Interesse. ({1}) Es kann kein öffentliches Interesse an Umweltzerstörung, an Zerstörung der Artenvielfalt und an Gesundheitsgefährdung geben. ({2}) Wir haben es im Ausschuss doch gehört. Der Naturschutzbund NABU hat ganz klar gesagt: Windindustrieanlagen im Meer verändern die Ökosysteme, die Habitate und die Strömungsverhältnisse. Er hat ganz klar die negativen Auswirkungen auf die Umwelt skizziert. Er hat gesagt, dass sie unterschätzt worden sind, und spricht von dramatischen Auswirkungen auf Vögel und von massiven Lebensraumverlusten. Das kann mitnichten im öffentlichen Interesse sein. Hier wird das grundgesetzliche Gebot des Umweltschutzes massiv verletzt. ({3}) Frau Leidig, ich habe in Ihrer Aufzählung den Reinhardswald vermisst. Dort habe ich Sie nicht gesehen. Der Reinhardswald soll zerstört werden. Das Landschaftsbild soll zerstört werden; 18 ganz große Windräder sollen dort ein zusammenhängendes Waldgebiet zerstören. ({4}) Das Grundwassersystem wird gestört. Die Demokratie leidet übrigens auch. Es gibt ein Gutachten, das der Öffentlichkeit vorenthalten wird, und zwar schon seit sieben Jahren, und das von der schwarz-grünen Regierung in Hessen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Steffen Kotré (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004791, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ja, gerne.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Bitte, Herr Kollege.

Timon Gremmels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004732, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie haben den Reinhardswald angesprochen. Sie hatten ja im Sommer die dortigen Bürgerinitiativen, mit denen ich nicht immer übereinstimme, angeschrieben und Ihre Unterstützung angeboten. Die sogenannten Waldschützer vor Ort waren über Ihre Anfrage im höchsten Maße irritiert. Sie fühlten sich von Ihnen missbraucht und in eine Ecke gestellt. Sie haben gesagt, dass Falschinformationen wie „der Urwald wird abgeholzt“ dem Ziel mehr schaden als nutzen würden. ({0}) Ich bin froh, dass die Bürgerinitiativen bei uns die Einvernahme durch die AfD verhindern wollen, dass sie erkannt haben, welches Spiel Sie spielen. Ihnen geht es hier um billigen Populismus und nicht um den Inhalt. Ich bin froh, dass die Menschen vor Ort das auch so sehen. Danke. ({1})

Steffen Kotré (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004791, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Hier zeigt sich genau das Problem. Ihnen geht es irgendwie immer nur um den Kampf gegen die AfD. Wenn ich dort als Umweltschützer bin und den Wald schützen will, wenn also jemand kommt, der unterstützen will, der seine Unterstützung anbietet und nachfragt, wie er unterstützen kann, und das dann abgelehnt wird, das zeugt eben von dieser Ideologie, die Sie haben ({0}) und die wohl teilweise auch vor Ort vorhanden ist. ({1}) Daran sieht man, dass dahinter eigentlich ganz andere Dinge stecken. Da geht es vielleicht nebulös um den Kampf gegen die AfD oder nebulös um den Kampf gegen rechts, ({2}) der übrigens kein Kampf gegen rechts, sondern ein Kampf für linke Ideologie ist. Nur das steckt dahinter. ({3}) Noch mal: Wir wollten uns dort konstruktiv und sachorientiert einbringen. Und wenn das nicht gewollt ist, sind das vermutlich Funktionäre, die das nicht wollen; aber die Leute vor Ort wollen das. Wir haben mit den Leuten vor Ort gesprochen. Wenn Sie vor Ort mal durch die Dörfer gehen, dann sehen Sie in fast jedem Dorf und in fast jeder Gemeinde ein Schild, auf dem steht: Schützt unseren Reinhardswald! – Darum geht es hier, um nichts anderes. Es ist traurig, zu sehen, wie man sich da auseinanderdividiert. Am Beispiel Reinhardswald sieht man: Scheinbar gibt es gute Bäume und schlechte Bäume. ({4}) Wenn es gegen die Kohle geht, dann werden die Bäume geschützt. Wenn aber diese Industrieanlagen in den Wald gestellt werden sollen, dann sind die Bäume völlig egal. ({5}) Sie haben natürlich zu Recht gesagt: Gerade Wälder sind CO2-Senken. Deswegen ist es ja so widersinnig, Windindustrieanlagen in Wälder zu stellen und sie hier, wie in diesem Fall, auch noch juristisch zu privilegieren. Insofern lehnen wir das ab. Wie sehen an diesem Thema ganz klar: Die Grünen sind längst nicht mehr die Umweltpartei. Sie zerstören die Umwelt. ({6}) Ich muss Ihnen ganz klar sagen: Es scheint so, dass die AfD die einzige Partei ist, die die Umwelt noch schützen will. ({7}) In diesem Sinne: Das neue Grün der Umweltpolitik ist das Blau der AfD, meine Damen und Herren. So ist es. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Mathias Stein, SPD. ({0})

Mathias Stein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004904, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für uns Sozialdemokraten hat vorhin schon der Kollege Sören Bartol die großen Linien zum Thema „Investitionen und Investitionsbeschleunigung“ gezeichnet. Später wird Kirsten Lühmann noch mal ganz speziell auf die Schienenprojekte eingehen. Ich möchte hier hervorheben: Der Gesetzentwurf ist natürlich eine Gratwanderung, eine Gratwanderung zwischen Vereinfachung und Erleichterung und zu Recht hohen Standards für den Schutz von Menschen und Umwelt. Diese Gratwanderung finde ich gelungen. Deshalb gibt es von den Umweltverbänden diesmal auch keine Generalkritik. Der vorliegende Gesetzentwurf ist eine gute Grundlage. Er baut auf unserer Arbeit als Koalition im Frühjahr und auch auf den Ergebnissen des Koalitionsausschusses im März auf. Dieser Entwurf dient vor allem dazu, ganz zentrale Vorhaben dieser Regierung zu beschleunigen: das Klimapaket vom Dezember 2019 und das Konjunkturprogramm aus dem Juni des Jahres. Im Zentrum stehen jeweils milliardenschwere Investitionen für den Klimaschutz. Wenn wir unsere Klimaschutzziele erreichen wollen, müssen wir diese Milliarden schnell verbauen. Wir wissen, dass der Verkehrssektor im Bereich des Klimaschutzes in einer großen Bringschuld ist. Die Straße trägt dafür die Hauptverantwortung. 95 Prozent unserer CO2-Emissionen sind im Bereich der Straße. Deshalb müssen wir Verkehre verlagern: weg von der Straße, hin zur Schiene und auch zur Wasserstraße. ({0}) Deswegen ist es so zentral, dass dieser Gesetzentwurf gerade die Investitionen im Bereich Schiene beschleunigt. Wir brauchen Prioritäten für Investitionen in umweltfreundliche Verkehrsträger. Für uns als SPD steht fest: Wir wollen mit den Menschen bauen und nicht gegen sie. ({1}) Wir gehen nicht mit der Axt durch den Wald des Planungs- und Genehmigungsrechts. Wir richten keinen Kahlschlag bei Beteiligungsrechten und Schutzniveau an. Wir gehen mit Augenmaß vor. Die Planungsvereinfachung im Bereich Schiene wurde sehr lange diskutiert, und wir haben im Ergebnis einen Konsens mit fast allen Beteiligten erreicht. Sören Bartol hat dargelegt, dass wir das nicht erst seit gestern tun. Konsens ist zentral für schnelle, akzeptierte Planung und Realisierung von Verkehrsprojekten. Ich weiß, die Niederlande und Dänemark werden immer als Beispiele genannt, und das aus gutem Grund. Beide haben eine sehr starke Konsenskultur, beide sind wesentlich schneller als wir, und beide Länder sind schon da, wo wir hinwollen, zumindest beim Thema „Planen und Bauen von Infrastrukturmaßnahmen“. Deshalb noch ein Appell an all diejenigen, die diesen Gesetzentwurf im Bundestag und im Bundesrat weiterbehandeln werden: Konsens erreichen wir nicht, indem wir zum Beispiel Klagebegründungsfristen massiv verkürzen; das fordert aktuell das Land Nordrhein-Westfalen im Bundesrat. ({2}) Konsens erreichen wir auch nicht, indem wir Schuldige für Planungsverzögerungen suchen. Konsens erreichen wir ebenso nicht, indem wir eindimensionale Antworten auf komplexe Herausforderungen geben. ({3}) Konsens erreichen wir nur, wenn wir in einem Dialog mit allen Betroffenen auf Augenhöhe arbeiten. Konsens erreichen wir durch echte, gute und frühe Bürgerbeteiligung. Konsens erreichen wir durch schwierige Abwägungsprozesse und Zugeständnisse auf allen Seiten. Ja, das ist mühselige Detailarbeit, aber sie lohnt sich. Packen wir es an! Vielen Dank. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erhält das Wort der Kollege Bernd Reuther, FDP. ({0})

Bernd Reuther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004864, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Noch immer ist der große Wurf in Sachen Planungsbeschleunigung nicht gelungen. Das zeigt schon allein die Tatsache – der Minister hat es selbst erwähnt –, dass wir hier den vierten Gesetzentwurf der Bundesregierung zu dem Thema beraten. Weitere werden wahrscheinlich noch folgen. Wir brauchen aber nicht noch einen Minimalkonsens, in dem es lediglich um Raumordnung und Gerichtsverfahren geht. Was wir brauchen, ist ein Systemwechsel hin zu schlanken Planungsverfahren, mit denen wir die Herausforderungen für die Infrastruktur angehen können, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Genau hier geht der Gesetzentwurf von uns Freien Demokraten einen Schritt weiter. Wir wollen wichtige Verkehrsprojekte von nationaler Bedeutung per Gesetz im Bundestag genehmigen. Im Gegensatz zu komplizierten und langjährigen Verfahren ist das eine demokratische und zeitgemäße Form der Planung, die die Bedürfnisse unseres Landes im Blick hat. Wir können zahllose Probleme mit unserem Gesetzentwurf angehen: Der Ausbau der Erneuerbaren kommt voran. Die Verkehrsverlagerung auf emissionsarme Verkehrsträger wird gewährleistet, und auch die marode Wasserstraßeninfrastruktur wird endlich ertüchtigt. – Die Bundesregierung hat hier nur die Elektrifizierung der Bahn im Blick. Wir Freie Demokraten hingegen haben den gesamten Verkehr im Blick, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Wir hinken bei der Realisierung von Verkehrsprojekten massiv hinterher; das steht fest. Das liegt daran, dass Planung und Bau nicht Hand in Hand gehen. Herr Kollege Stein hat ja gerade die Niederlande erwähnt. Da sehen wir, wie es besser geht. Dort sind aber ÖPP-Projekte, die ihr ablehnt, eher die Regel als die Ausnahme. Öffentliche Hand und Privatwirtschaft verstehen sich dort als Partner. Das schafft Vertrauen und zahlt sich in der Durchführung von großen Bauprojekten aus. Die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen hat das sehr gut erkannt und wird die A 57 und die A 1 als ÖPP-Projekte umsetzen. Aber auch bei den konventionellen Projekten wie der A 40 über den Rhein beweist Nordrhein-Westfalen, dass bedeutende Projekte schnell planfestgestellt werden können. Ich bin im Gegensatz zum Kollegen Stein froh, dass die Landesregierung NRW konstruktive Vorschläge im Bundesrat eingebracht hat, so zum Beispiel in Bezug auf das Baustellenmanagement oder die Finanzierung von Projekten. Das ist der richtige Weg, um Millionen staugeplagte Pendler zu entlasten. ({2}) Ich möchte noch einen letzten Punkt ansprechen. Schnelles Planen ist das eine, schnelles Bauen ist das andere. Deswegen müssen wir uns alle gemeinsam anstrengen, dass die Integration der DEGES in die Autobahngesellschaft gelingt. Da gibt es große Probleme. Wir brauchen die fähigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der DEGES; denn die sitzen an den Planungsbeschleunigungshebeln und an den Beschleunigungshebeln beim Bau. Ganz, ganz herzlichen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erhält das Wort der Kollege Matthias Gastel, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Matthias Gastel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004278, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Es ist unstrittig, dass wir bei der Umsetzung von Infrastrukturprojekten schneller vorankommen müssen. Es kann nicht sein, dass die Schweiz in atemberaubendem Tempo komplizierte Tunnel durch die Alpen bohrt und wir es nicht schaffen, im Rheintal Gleise zu legen. Es ist aber auch wichtig, zu wissen, was man will und wo man hinkommen will. Wir wollen Klimaziele erreichen und nachhaltige Mobilität sichern. Dieser Gesetzentwurf ist in diesem Hinblick in vielen Punkten richtig, in einigen Punkten falsch und in einigen Punkten auch schlicht und ergreifend unvollständig, unvollständig beispielsweise in Bezug auf den öffentlichen Nahverkehr. Weshalb wollen Sie nicht auch beispielsweise den Ausbau von Straßenbahn- und U-Bahnnetzen beschleunigen? Das wäre doch auch ein Projekt für dieses Gesetz. ({0}) Falsch ist schlichtweg, dass Sie auch Straßenprojekte beschleunigen wollen. Das ist deswegen falsch, weil wir jahrzehntelang einseitig Straßen in Deutschland gebaut haben und das bis heute der Fall ist. Schauen wir uns doch mal die Bilanz des Jahres 2019 Ihrer Regierung an: Gerade einmal 9 Kilometer Bundesschienenwege wurden gebaut, aber 233 Kilometer Bundesfernstraßen. Das ist die erschreckende Bilanz Ihrer Verkehrspolitik, und das wollen wir nicht auch noch per Gesetz beschleunigt haben. ({1}) Es kommt also darauf an, welche Projekte beschleunigt werden, ob sie uns helfen, wichtige Ziele zu erreichen. Wir haben in Deutschland über 100 Mittelzentren, die keinen Bahnhof haben, wo Millionen von Menschen keinen direkten Zugang zur Bahn haben. Aber jedes Haus ist mit einer Straße erschlossen. Trotzdem wollen Sie immer mehr Straßen bauen, die wir gar nicht brauchen. ({2}) Deswegen gehören die Straßen raus aus diesem Gesetzentwurf. Sie gehören raus aus dem Bundesverkehrswegeplan, und sie gehören rauf auf den Prüfstand, um kritisch auf ihre unbedingte Notwendigkeit hinterfragt zu werden. ({3}) Da bin ich bei dem, was wir unbedingt wollen und wo wir den Gesetzentwurf auch gut finden, nämlich bei der Bahn. Da gibt es viele grundlegende Probleme: zu wenig guten Willen, zu wenig Planung und häufig auch bis heute noch zu wenig Geld. Wo keine Planung ist, kann nämlich auch nichts beschleunigt werden. Da können Sie noch 100 Beschleunigungsgesetze beschließen. Wo zu wenig Personal ist, kriegen Sie aber auch keine Planungen voran. Das ist gerade beim Eisenbahn-Bundesamt so. Dort haben Sie über Jahre Personal abgebaut, das Ihnen fehlt, wenn Sie es brauchen. ({4}) Es gibt auch fehlenden Willen beispielsweise bei der Digitalisierung der Schiene. Einer Ihrer Vorgänger, ebenfalls von der CSU, hat die Frage gestellt, ob wir die digitale Schiene in Deutschland überhaupt brauchen. Sie haben das Ziel ausgegeben: Bis 2035 soll die digitale Schiene in Deutschland gebaut werden. – Kurze Zeit später haben Sie das Ziel auf 2040 verschoben, jetzt wieder auf 2035 vorverlegt. Mit einem solchen Hin und Her verunsichern Sie nur und beschleunigen niemals. Mit einer solchen Politik des Hin und Her werden wir noch in 100 Jahren auf des Kaisers Infrastruktur vor uns hintuckern. ({5}) Neben der Digitalisierung ist auch das Thema Barrierefreiheit im Gesetzentwurf enthalten; das ist gut und richtig. Das gilt auch für das Thema Elektrifizierung. Es sind erst 60 Prozent der Schienenkilometer in Deutschland mit einer Oberleitung versehen. Wir müssen aber auch auf der Schiene und nicht nur auf der Straße entdieseln. Deswegen ist es gut, dass das schneller gehen soll. Es ist ebenfalls gut, dass wir mit dem Ausbau der Windenergie vorankommen wollen; denn wir brauchen Ökostrom auf der Schiene für eine nachhaltige Mobilität der Menschen, für einen nachhaltigen Gütertransport und für den Ausstieg aus fossilen Kraftstoffen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege.

Matthias Gastel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004278, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Damit komme ich zum Schluss, Herr Präsident. – Es gibt viele gute Dinge in diesem Gesetzentwurf. Herr Minister, wir nehmen das Angebot ernst, ihn gemeinsam zu verbessern. Wir sind dabei und haben dafür gute Ideen. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Michael Donth, CDU/CSU, ist der nächste Redner. ({0})

Michael Donth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004262, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielleicht war der eine oder die andere von Ihnen bereits zum Shoppen in der Outletcity Metzingen. ({0}) Einen Besuch ist die Stadt in meinem Wahlkreis allemal wert, und sie ist auch mit dem Zug von Stuttgart her bestens zu erreichen. ({1}) Auf der Rückfahrt von ihrem Einkaufsbummel allerdings haben dann Rollstuhlfahrer oder auch Familien mit Kindern ein Problem. Sie können nämlich nicht selbstständig auf das richtige Gleis gelangen, um ihren Zug zu bekommen. Sie müssen zunächst die Bahn in die andere Richtung nehmen, nach Reutlingen, dort barrierefrei umsteigen und dann in die richtige Richtung, nach Stuttgart, weiterfahren. Das dauert eine Stunde mehr. Diesen Missstand gibt es seit 2016, und ebenso lange arbeiten alle Beteiligten im Bund, bei der Bahn und auch vor Ort am schnellen barrierefreien Ausbau des Bahnhofs. Auch das Geld ist da. Umfangreiche Planungs- und Genehmigungsverfahren aber haben diesen Baubeginn lange verzögert. Dank intensiver Bemühungen ist das nun endlich 2023 vorbei, ({2}) schlappe sieben Jahre nach Beginn der Gespräche. Ich habe diesen Fall im Frühjahr unserem Verkehrsminister Andi Scheuer geschildert, weil dieses Beispiel symptomatisch ist für die vielen weiteren Maßnahmen im Schienenverkehr, die alle Beteiligten befürworten, deren Finanzierung geklärt ist, wo aber dennoch nichts vorangeht, nichts begonnen werden kann. Ich bin unserem Verkehrsminister Andreas Scheuer und auch seinem Bahnbeauftragten Enak Ferlemann sehr dankbar, dass sie diese Anregung, dieses Beispiel in diesen Entwurf eines Investitionsbeschleunigungsgesetzes haben einfließen lassen. Die Erleichterungen bei der Planung von Schienenprojekten machen den wesentlichen Teil dieses Gesetzentwurfs aus und sind für unsere Ziele zum Ausbau der klimafreundlichen Schiene unerlässlich. Den Investitionshochlauf im Schienenetat konsequent fortzusetzen, ist das eine. Aber das allein reicht eben nicht aus; denn das Geld muss auch verbaut werden können. Es kann nicht sein, dass wir für jeden Zentimeter Bahnsteigverlängerung, für jeden Masten einer neuen Oberleitung und für jeden Sicherungskasten für das digitale ETCS-Steuersystem dieselben aufwendigen Planfeststellungsverfahren durchlaufen müssen, als würden wir die gesamte Strecke oder den Bahnhof komplett neu bauen. ({3}) Dieser Gesetzentwurf zeigt erneut, dass wir es ernst meinen mit dem schnellen Schienenausbau. Denn wenn wir 2030 doppelt so viele Fahrgäste haben wollen wie vor Corona, müssen wir jetzt handeln, um das Planungsrecht anzupassen. Wir müssen jetzt handeln, um unser Schienennetz, die Bahnhöfe und Bahnsteige für diese Verdoppelung fit zu machen. Und genau das tun wir mit diesem Gesetz. ({4}) Ich lade daher auch die Kolleginnen und Kollegen der Opposition ausdrücklich ein, dem vorliegenden Gesetzentwurf zuzustimmen. Noch im März dieses Jahres hatten die Linken im Verkehrsausschuss mit Unterstützung der Grünen in einem Antrag bemängelt – der Kollege Gastel hat das gerade noch einmal gesagt –, dass lediglich 60 Prozent des deutschen Schienennetzes bislang elektrifiziert seien und dass man das schnell ändern müsse. Genau das ist ein wichtiger Bestandteil dieses Entwurfs. Also, machen Sie mit! Dieses Gesetz ist für längere Bahnsteige, für längere Züge mit mehr Fahrgästen, für eine schnellere Schaffung der Barrierefreiheit, für klimafreundliches Reisen für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen und für eine schnelle Elektrifizierung und Digitalisierung vieler Bahnstrecken. Wir wollen, dass unser Schienennetz klimafreundlicher, digitaler und barrierefreier, kurz gesagt, dass es leistungsfähiger und attraktiver wird. Deshalb unterstützen wir dieses Gesetz und hoffen, dass Sie mitmachen. Vielen Dank. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Kirsten Lühmann, SPD. ({0})

Kirsten Lühmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004101, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Bis 2030 werden wir, bezogen auf 2005, 38 Prozent CO2 weniger in diesem Land ausstoßen dürfen. Schon heute – weil wir unsere Zwischenziele nicht erreicht haben – müssen wir Strafzahlungen an die EU leisten. Der Straßenverkehr hat zwar – das wissen wir alle, insbesondere die Fachleute in dieser Debatte – seinen CO2-Ausstoß in den letzten Jahren nicht erhöht. Aber wir haben ihn auch nicht verringert. Das liegt unter anderem daran, dass die Verkehrsleistung sehr stark gewachsen ist. Das heißt, wenn wir unsere Ziele erreichen wollen, kommt der Bahn dabei eine Schlüsselrolle zu. Sonst schaffen wir es nicht, die geplanten Klimamaßnahmen wirksam umzusetzen. Wenn wir die Bahn nicht unterstützen, schaffen wir das nur mit einer Maßnahme, nämlich mit der Verhinderung von Mobilität, und das ist mit meiner Fraktion nicht zu machen. Wir wollen eine Mobilitätswende. Wir wollen Mobilität, aber vernünftige Mobilität. ({0}) Wir müssen die Kapazitäten schneller erweitern. Ich höre immer wieder: Warum bringen wir nicht mehr Güter auf die Schiene? Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Nachfrage ist nicht das Problem. Die Kapazitäten auf den Strecken sind das Problem. Das heißt, wir müssen diese Kapazitäten schnell erhöhen. Mir ist natürlich klar, dass so große Projekte wie zum Beispiel der Hafenhinterlandverkehr in Niedersachsen oder der Deutschland-Takt, den wir anpacken, nicht in wenigen Jahren realisiert werden können, insbesondere dann nicht, wenn wir Bürgerbeteiligung ernst nehmen, wenn wir einen vernünftigen Interessenausgleich machen wollen zwischen denen, die an der Strecke leben und Nachteile in Kauf nehmen müssen, und denen, die diese Strecken nutzen. Daher haben wir auch für alle Projekte eine vorgezogene Bürgerbeteiligung verpflichtend gemacht, also nicht erst im Planfeststellungsverfahren, wie ich es eben gehört habe. Nein, das gehört der Vergangenheit an. ({1}) Wir haben auch – weil wir wissen, dass wir schnelle Maßnahmen brauchen – im Bundesverkehrswegeplan erstmals Maßnahmen aufgenommen, die keine Großprojekte sind. Zum Beispiel sollen Knoten in Hannover, Hamburg und Köln aufgelöst werden. Die Elektrifizierung von Strecken soll vorangetrieben werden, damit wir weniger Dieselloks, weniger Lärm und weniger Abgase haben. Es geht auch um sogenannte mikroskopische Maßnahmen, um den Bau von Überholgleisen und längeren Bahnsteigen. Das Problem, das wir haben, ist nur: Wenn man eine Hochgeschwindigkeitsneubaustrecke plant, hat man im Prinzip die gleichen Regeln zu beachten, als ob man einen Lückenschluss bei der Elektrifizierung auf einer Strecke von 20 Kilometern vornimmt. Und das ändern wir mit diesem Gesetz. ({2}) Wir wissen auch – mein Kollege Stein hat das erwähnt –, dass der Grat zwischen Umweltschutz, Bürgerbeteiligung und Beschleunigung ganz schmal ist. Daher haben wir klare Grenzen gesetzt, die festlegen, was ohne Umweltverträglichkeitsprüfung und Planfeststellung gemacht werden kann und was eben nicht. Insbesondere die angesprochenen kleinen effektiven Maßnahmen werden wir dadurch beschleunigen. Aber wichtig ist auch: Die Rechte der Betroffenen bleiben erhalten. Aber dann, wenn es keine Einwände gibt – wir alle kennen solche Projekte; alle wollen sie, keine Einwände –, muss man doch nicht das gleiche langwierige Verfahren wie bei hochumstrittenen Verkehrsprojekten durchlaufen. Damit unsere Regelungen auch Wirkung entfalten, sollten wir uns aber die Zeit nehmen, sie noch einmal genau anzuschauen. Darum haben die Koalitionsfraktionen eine Anhörung im Verkehrsausschuss beantragt. Wir müssen genau zuhören, wenn uns gesagt wird, dass möglicherweise unsere Beschleunigungsmaßnahme bei der Elektrifizierung nicht greifen kann, weil die notwendigen Brückenerhöhungen dann doch wieder den langwierigen Planungsverfahren unterliegen. Wir müssen gegebenenfalls dieses Gesetz noch schärfen. Ich freue mich, liebe Kolleginnen, auf die Diskussion, damit wir dann ein Gesetz verabschieden, das die Mobilitätswende wirksam unterstützt. Herzlichen Dank. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Alois Rainer, CDU/CSU. ({0})

Alois Rainer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004384, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir Deutschland fit für die Zukunft machen wollen, dann gehören dazu auch schnellere Investitionen in wichtige Infrastrukturprojekte. Verfahren für wichtige Infrastrukturprojekte dauern bei uns oftmals viel zu lange. Das können wir uns nicht länger leisten. Es schadet unserem Wirtschaftsstandort. Es belastet oft die betroffenen Anwohner, und es ist auch nicht gut für unser Klima. Was wir brauchen, sind einfachere und schnellere Planungsverfahren. Der nun vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Beschleunigung von Investitionen ist ein weiterer wichtiger Meilenstein, den Investitionshochlauf, den wir in den vergangenen Jahren im CSU-geführten Verkehrsministerium gesehen haben, in der Zukunft fortzuführen. ({0}) In dieser Legislaturperiode haben wir zusammen mit unserem Koalitionspartner wichtige Neuregelungen in der Planungsbeschleunigung beschlossen. Der Bundestag kann nun per Gesetz wichtige umweltfreundliche Schienen- und Wasserstraßenprojekte genehmigen. Verfahren bei Ersatzneubauten werden verschlankt. Wenn zum Beispiel eine Brücke ersetzt wird, entfällt ein neues Genehmigungsverfahren. Außerdem entlasten wir die Kommunen nach dem Eisenbahnkreuzungsgesetz. Jetzt gehen wir die weiteren Schritte. Wir wollen für schnelleres Bauen auf der Schiene sorgen. Schienenstrecken sollen nämlich einfacher und schneller elektrifiziert und digitalisiert werden können. Der barrierefreie Umbau – ganz wichtig – und die Erhöhung und Verlängerung von Bahnsteigen sollen erleichtert werden. Das Gleiche gilt für die Errichtung von Schallschutzwänden zur Lärmsanierung. Wir schaffen das, indem wir diese Maßnahmen grundsätzlich von der Genehmigung durch ein Planfeststellungsverfahren befreien. Auch sorgen wir für kürzere Gerichtsverfahren. Wichtige Infrastrukturprojekte können bisher durch Gerichtsverfahren unnötig in die Länge gezogen werden, manchmal über Jahre hinweg. In erster Instanz sollen künftig die Oberverwaltungsgerichte oder Verwaltungsgerichtshöfe zuständig sein, zum Beispiel auch für Landstraßen, Umgehungsstraßen – sehr wichtig auch für die betroffenen Menschen –, Hafenprojekte oder auch für Windräder. Dadurch sparen wir eine Instanz und vor allem auch Zeit. Wir sorgen dafür, dass das Baurecht für überregional wichtige Infrastrukturprojekte sofort vollzogen wird. Das heißt, nach der Genehmigung durch die zuständige Behörde soll künftig sofort gebaut werden können. Widersprüche oder Anfechtungsklagen haben keine aufschiebende Wirkung mehr. Dabei bleibt aber der Weg des einstweiligen Rechtsschutzes im Eilverfahren erhalten. Wir sorgen für eine schnellere Prüfung der Raumverträglichkeit. Das heißt, künftig kann auf ein Raumordnungsverfahren verzichtet werden, wenn keine entsprechenden Konflikte zu erwarten sind. Dadurch werden auch unnötige Doppelverfahren vermieden. Außerdem werden Verfahren stärker digitalisiert, zum Beispiel durch Onlineveröffentlichungen. Gerade solche Onlineveröffentlichungen ermöglichen es den Menschen, schnell darauf zu reagieren und, wenn sie nicht damit einverstanden sind, ihr Veto einzulegen. All diese Maßnahmen sorgen im Ergebnis für schnellere Investitionen. Das stärkt die Konjunktur, es sichert Arbeitsplätze, und es nützt langfristig dem Wirtschaftsstandort Deutschland. Vor allem aber nutzt es den Menschen, die vor dem Lärm geschützt werden müssen. Es nutzt den Menschen, die auf einen behindertengerechten Ausbau angewiesen sind. Es nutzt auch den Menschen, die Mobilität in unserem Land brauchen, und zwar in den verschiedensten Bereichen. Wir werden Mobilität nicht nur auf der Schiene benötigen, sondern wir brauchen sie genauso auf der Straße und auf den Radwegen, lieber Gero. Das ist unglaublich wichtig. Darum kümmern wir uns sehr gerne. Wir brauchen die Mobilität auch im ÖPNV. Wir müssen in allen Bereichen daran arbeiten. Das Ganze ist sehr vielschichtig und komplex. Ich freue mich schon auf das Beratungsverfahren im Ausschuss. Dazu wünsche ich uns allen miteinander viel Erfolg und viel Freude. Danke schön. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Damit schließe ich die Aussprache.

Thomas Ehrhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004707, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Zuhörer! Jeder Autofahrer in der Bundesrepublik hat vermutlich schon Hunderte Stunden seiner kostbaren Lebenszeit in Staus an Autobahnbaustellen verschwendet, an denen monatelang erkennbar überhaupt niemand arbeitet. Das liegt unter anderem daran, dass man in den letzten Jahren offensichtlich völlig planlos gleichzeitig bis zu 600 Baustellen auf unseren Autobahnen eingerichtet hat. Das ist einfach nicht machbar; denn a) gibt es dafür zu wenig qualifizierte Baufirmen, und b) kommt es sogar zu Engpässen bei der Anlieferung der notwendigen Rohstoffe. Warum es bei der öffentlichen Vergabe ganz offensichtlich keine Bauzeitenpläne und Vereinbarungen über Vertragsstrafen gibt, bleibt uns ein Rätsel. Die daraus resultierenden Staus sind jedenfalls nicht nur ärgerlich, sondern sie verursachen für die deutsche Volkswirtschaft jährlich einen Schaden in der Größenordnung von 80 Milliarden Euro. Gleichzeitig bilden sie natürlich Gefahrenschwerpunkte mit Hunderten von schweren und schwersten Unfällen, von den unnötigen Umweltbelastungen mal ganz zu schweigen. Die deutschen Autofahrer in ihrer unglaublichen Leidensfähigkeit haben sich an all diese Zustände offensichtlich längst gewöhnt; manche glauben vielleicht sogar, es ginge gar nicht besser. ({0}) Tatsächlich haben wir es hier mit einer geradezu toxischen Mischung aus Gleichgültigkeit und Unfähigkeit der politisch Verantwortlichen zu tun. ({1}) Das Problem ist nicht neu; denn bereits in der 17. Wahlperiode kündigte Andreas Scheuer, damals noch Parlamentarischer Staatssekretär, eine Änderung der Richtlinien zur Baubetriebsplanung an. Wo ist diese Änderung denn bitte, Herr Scheuer? Wir sind jetzt in der 19. Wahlperiode. Wenn wir also fordern, Baustellen künftig nur so zu planen und einzurichten, dass auf der gesamten Länge durchgängig und zügig gearbeitet werden kann, und zwar an sieben Tagen in der Woche in einer 24-Stunden-Schicht, und gleichzeitig die Baustellen gemäß unserem Antrag sinnvoll zu verkürzen, dann sind diese Forderungen nicht nur berechtigt, sondern sie sind allemal überfällig. ({2}) Jeder deutsche Autofahrer sollte allerdings auch wissen, dass diese Verbesserungsvorschläge am letzten Mittwoch im Verkehrsausschuss gemeinschaftlich von allen anderen Parteien, einschließlich der CDU, abgelehnt wurden. ({3}) Ich bin aber sicher, dass die Bürgerinnen und Bürger mehr und mehr erkennen werden, wer hier ihre Interessen überhaupt noch vertritt. Sie werden erkennen, dass wir es sind, die den Anspruch haben, Dinge anzupacken und besser zu machen – wir, die AfD, die Partei der arbeitenden Menschen. Vielen Dank. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erhält das Wort der Kollege Patrick Schnieder, CDU/CSU.

Patrick Schnieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004146, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Zunächst einmal ist die Tatsache, dass es in Deutschland eine Vielzahl von Baustellen gibt, durchaus etwas Positives. Es wird gebaut, das Straßennetz wird verbessert. Das ist sicherlich ein gutes Zeichen. ({0}) Aber natürlich sind Baustellen auch immer mit Nachteilen verbunden; das ist doch gar keine Frage. Die Frage ist, ob es nur deshalb mehr Staus gibt – wie hier behauptet worden ist –, weil die Baustellen schlecht geplant sind, oder ob es mehr Staus gibt, weil der Personen- und Güterverkehr in den letzten Jahren dramatisch zugenommen hat. Im Übrigen kann es viele Gründe dafür geben, dass an eingerichteten Baustellen scheinbar nicht gearbeitet wird. Ich will nicht sagen, dass es in dem einen oder anderen Fall nicht auch schlechte Arbeit gibt, aber eine pauschale Aussage, an Baustellen werde nicht gearbeitet, ist falsch. Es gibt geplante Baupausen, beispielsweise muss der Asphalt auskühlen, oder man wartet auf die Neuberechnung von Statikern. Es kann auch zu Engpässen bei der Zulieferung von Materialien kommen. Eine pauschale Verunglimpfung von Bauunternehmen bei der Einrichtung von Baustellen ist vollkommen falsch. Wir brauchen einen vernünftigen Blick auf die Situation. Für keines der Probleme, die in diesem Zusammenhang bestehen, bietet der Antrag der AfD eine Lösung. Deshalb haben Sie es – Sie hatten die Ausschusssitzung vorhin erwähnt – am letzten Mittwoch auch vorgezogen, über diesen Antrag im Ausschuss gar nicht zu debattieren. Das sollte man hierzu wissen. ({1}) Ich komme zu den einzelnen Vorschlägen. Ein 24-Stunden-Betrieb als neuer Regelfall ist aus einer Vielzahl von Gründen ungeeignet. Sie wollen ein pauschales Modell einer 24-Stunden-Baustelle an sieben Tagen in der Woche. Wenn Sie von sich als der angeblichen Partei der Arbeitnehmer reden, dann müssen Sie den Arbeitnehmern, die in einer solchen Baustelle sieben Tage in der Woche 24 Stunden arbeiten sollen, einmal erklären, wie das denn gemeint ist. ({2}) Das ist Realsatire, Herr Kollege! Nachtbaustellen bergen grundsätzlich eine größere Unfallgefahr, sowohl für die Arbeiter als auch für die Autofahrer.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Schnieder, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Patrick Schnieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004146, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, der Kollege hatte Redezeit genug. – Das Rangieren mit Fahrzeugen ist im Dunkeln schwieriger. Die Qualität der Arbeiten kann in der Nacht leiden. Es gibt viele Arbeiten, die aus Lärmschutzgründen nachts nicht stattfinden können. Zudem müssen Lenkzeiten von Zulieferfirmen beachtet werden. Wir sollten auch die Kosten von Nachtbaustellen nicht vernachlässigen. Daher sage ich: Nachtbaustellen sind möglich, es gibt sie auch, aber sie müssen in jedem Einzelfall begründet werden. Sie taugen nicht als pauschales Modell. ({0}) Im Regelfall wird bei längeren Baustellen das Tageslicht für die Bauarbeiten voll ausgenutzt. Insbesondere bei kurzen Baustellenarbeiten, die am Wochenende und über Feiertage hinweg durchgeführt werden können, wird auf Nachtbaustellen zurückgegriffen. Ich will es noch einmal sagen: Bei jeder einzelnen Entscheidung darüber, wo wir eine Nachtbaustelle einrichten, müssen wir das Nutzen-Kosten-Verhältnis errechnen. Es ist ja nicht so, dass das per se günstiger wäre, sondern das ist in der Regel teurer. Deshalb müssen wir diesen Wirtschaftlichkeitsnachweis immer führen. Im Übrigen ist für den Verkehrsfluss gar nicht entscheidend, für wie lange eine Baustelle eingerichtet ist, sondern wie viel Fahrstreifen verfügbar sind. Wenn der Verkehrsfluss aufrechterhalten werden kann, dann gibt es in der Regel gar keinen Bedarf, über die normalen Arbeitszeiten hinaus zu arbeiten. Weiter schlagen Sie eine Beschränkung der Länge von Baustellen vor. Schon heute gilt in Deutschland: Baustellen sollen möglichst nicht mehr als 12 Kilometer Länge aufweisen. Auch hier sage ich: Eine starre, politisch festgelegte Grenze macht keinen Sinn, sondern wir müssen im Einzelfall schauen: Was ist sinnvoll? Können wir einzelne Bauabschnitte zusammenlegen? Ist das wirtschaftlicher? Geht das dann schneller? Das ist oft so. Dann wird die Baustelle eben etwas länger. Ansonsten machen wir hier das, was sinnvoll ist. Insofern: Starre, politisch festgelegte Grenzen sind hier nicht das Maß, das wir anlegen sollten. Der dritte Vorschlag, den Sie machen: konsequente Freigabe des Seitenstreifens. Das ist bereits heute gängige Praxis. Man hätte sich besser einmal informiert, was heute schon gilt: An allen Baustellen wird versucht, die bestehende Fahrstreifenzahl aufrechtzuerhalten. Es wird nur dann darauf verzichtet, wenn dies die Sicherheit der Bauarbeiter und den Ablauf der Arbeiten beeinträchtigen könnte. Es gibt bessere Wege für kluges Baustellenmanagement, als von Ihnen in dem Antrag beschrieben ist. Da die Baustellen auch in dieser Anzahl notwendig sind, ist ein intelligentes Verkehrsmanagement der Schlüssel zur Optimierung des Verkehrsflusses in der bestehenden Infrastruktur. Durch die Autobahn GmbH wird ab dem 1. Januar 2021 ein länderübergreifendes Baustellenunterhaltungsmanagement die Regel. Zudem wird zeitgleich die Verkehrszentrale Deutschland in Frankfurt ihre Tätigkeit aufnehmen und die Verkehrsmengen auf den Autobahnen digital koordinieren. Der zweite Punkt. Digitales Bauen und Planen ist das Gebot der Stunde. Durch die Anwendung von Building Information Modeling werden zusätzliche Synergiepotenziale bei der Planung und Durchführung von Baustellen entlang von Autobahnen gehoben. Deshalb sage ich als Fazit: Das bestehende System funktioniert. Viele Verbesserungen sind bereits auf dem Weg. ({1}) Den Antrag, den Sie vorgelegt haben, brauchen wir nicht. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Oliver Luksic, FDP, ist der nächste Redner. ({0})

Oliver Luksic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004102, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zwei Themen stehen auf der Tagesordnung. Es ist gut, dass wir darüber reden, auch wenn die Lösungsansätze, die angeboten wurden, so nicht zutreffen. Beim ersten Thema Baustellen besteht in der Tat ein Problem. Aber da müssen wir über die richtigen Ursachen und Lösungsansätze reden. Natürlich brauchen wir an neuralgischen Punkten, da, wo viel Verkehr ist, im Ausnahmefall auch mal 24-Stunden-Baustellen. Aber wie die AfD zu suggerieren, dass man an jeder Autobahnbaustelle in ganz Deutschland rund um die Uhr arbeiten könnte, das ist unseriös. Das wäre kostenmäßig überhaupt nicht darstellbar. Wir haben einen absoluten Fachkräftemangel am Bau; reden Sie mal mit der Bauindustrie. Das ist völlig unseriös und unmöglich und wäre höchstens in totalitären Staaten so umzusetzen. ({0}) Richtig wäre es, nachzufragen, wo denn die Probleme sind. Da ist zum einen das Planungsrecht. Dazu hatten wir heute den vierten Entwurf in einer Wahlperiode vorliegen. Der Neubau einer Brücke in meinem Wahlkreis, der Fechinger Talbrücke, dauert zehn Jahre. Da muss man ran; da sind wir zu langsam. Das zweite Problem, über das wir hier im Hohen Haus auch diskutieren werden müssen, ist die Reform der Auftragsverwaltung, der größten Bundesbehörde, die geschaffen wird. Da haben wir immer sehr nett nachgefragt, da wurde vieles abgewiegelt. Der Bundespräsident hat schon bei seiner Unterschrift unter dieses Gesetz darauf hingewiesen, dass es bei der gemeinsamen Auftragsverwaltung der Länder bei den Bundesstraßen verfassungsrechtliche Probleme gibt. Die Integration der DEGES funktioniert so nicht. Deswegen droht jetzt, dass im nächsten Jahr zahlreiche Bauprojekte liegen bleiben, weil diese Reform handwerklich auch vom Bundesrechnungshof ein katastrophales Zwischenzeugnis bekommen hat. Also, Herr Scheuer, Sie müssen dringend darauf hinwirken, dass wir nächstes Jahr nicht noch mehr Baustellen in Deutschland haben, auf denen nichts passiert. ({1}) Entscheidend ist natürlich bei den Haushaltsberatungen: Zwar wird immer mehr Geld ausgegeben, als gäbe es kein Morgen, aber ausgerechnet beim Straßenbau – das hat eine Kleine Anfrage von mir ergeben – will die Große Koalition sparen. Da werden wir im Haushaltsverfahren ganz genau hinschauen. Wir können es uns nicht leisten, die Mittel weiter runterzufahren. Wir brauchen weiter eine hohe Investitionslinie, auch im kommenden Haushaltsjahr. ({2}) Was den zweiten Diskussionspunkt angeht, die synthetischen Kraftstoffe, ist es in der Tat notwendig, die Debatte zu führen, weil wir auf der europäischen Ebene bei der Umsetzung von RED II auf der Bremse stehen und weil wir auch bei der nationalen Zulassung, Stichwort „Care-Diesel“, hinterherhängen. Ich habe mir ein Forschungsprojekt der HTW angeschaut, bei dem es darum geht, das umzusetzen. Es geht völlig problemlos. In den Niederlanden kann man so was tanken, aber in Deutschland ist dies nicht möglich. Das ist ein schwerer Fehler. Wir brauchen dringend synthetische Kraftstoffe, gerade wenn wir auch an den Bestand von Fahrzeugen denken wollen. Also: Eine Dekarbonisierung ohne synthetische Kraftstoffe wird nicht funktionieren. ({3}) Aus ideologischen Gründen steht da aber leider die Große Koalition und vor allem das SPD-geführte Umweltministerium voll auf der Bremse. ({4}) Das ist das Kernproblem. Die Wasserstoffnutzung dauert zu lange; bei synthetischen Kraftstoffen steht man auf der Bremse. Es gibt leider eine einseitige Fixierung auf die batteriebetriebene E-Mobilität. ({5}) Das ist einer der Gründe, warum jetzt der Fahrzeugbau in der Krise ist. Natürlich, Corona hat den Fahrzeugbau getroffen. Wir hatten jetzt den Autogipfel. Es gibt einen globalen Schock bei Angebot und Nachfrage. Aber es ist vor allem der Ausblick auf die nächsten Jahre, der so schwierig ist. Das erfahren Sie, wenn Sie mal mit Herstellern, Zulieferern und kleinen Betrieben reden. Woran liegt das? Sie haben dafür gesorgt, dass die Flottengrenzwerte in Europa so streng sind. 95 Gramm CO2 pro Kilometer – das sind 4 Liter Verbrauch je 100 Kilometer – gilt im Schnitt als Grenzwert. Er geht runter auf 65 Gramm. Das bedeutet Strafzahlungen von 1 000, 2 000, 3 000 Euro pro Fahrzeug. Gleichzeitig müssen sie E-Autos auf den Markt bringen, mit denen sich derzeit kein Geld verdienen lässt. Sie haben einen politisch erzeugten Kostendruck in der Automobilindustrie verursacht. Deswegen haben wir so viele katastrophale Meldungen bei Conti, bei Schaeffler, bei allen Herstellern. Das muss dringend geändert werden! Die Autoplanwirtschaft ist keine Lösung. Verstaatlichung ist auch der absolut falsche Ansatz. Bis auf Kevin Kühnert findet das keiner gut, auch der BMW-Betriebsrat nicht.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege.

Oliver Luksic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004102, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wir brauchen hier dringend eine marktwirtschaftliche Wende, sonst haben wir ein Problem. Vielen Dank, Herr Präsident. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Mathias Stein, SPD, ist der nächste Redner. ({0})

Mathias Stein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004904, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Anscheinend muss man der AfD beim Thema Autobahn mal etwas Grundsätzliches erklären: ({0}) Kein Bauwerk ist auf ewig gebaut, auch deutsche Autobahnen nicht. Wer eine sichere und gute Infrastruktur will, der muss auch gelegentlich mit Baustellen leben, sonst sind die Straßen nämlich ganz schnell Schrott. ({1}) Aber wenn ich mir den Antrag der AfD so ansehe, merke ich: Die AfD hat offenbar noch mehr nicht verstanden. Sie stellt die Straßenbauverwaltung als Blockierer hin, die die Menschen ohne Grund mit viel zu langen Baustellen schikaniert. Aber das geht vollkommen an der Realität vorbei; denn die Planerinnen und Planer in den Straßenbauverwaltungen sind die, die frühzeitig und sorgfältig über Einschränkungen und Sperrungen informieren und die auch gründlich planen. Mit der Autobahngesellschaft verbessern wir diese Voraussetzung für eine einheitliche, klare und deutliche Kommunikation noch weiter. Insgesamt handeln die Verwaltungen dort verantwortlich und bürgernah. Das verdient unsere Hochachtung und unseren Dank. ({2}) Keinerlei Respekt hat die AfD auch vor den hart arbeitenden Menschen auf den Baustellen. ({3}) Sie tun hier so, als wären die Leute freie Verfügungsmasse, die jederzeit nachts in Schichten arbeiten könnten. Die Bauarbeiterinnen und Bauarbeiter sollen doch bitte schön durcharbeiten, dann lässt sich das Gaspedal auch schneller wieder durchdrücken. ({4}) Das ist mit der SPD nicht zu machen. ({5}) Wir haben Respekt vor den Leistungen der Menschen auf diesen Baustellen. Wir wissen, wie schädlich Nachtarbeit für die Gesundheit der Beschäftigten ist. Wir halten nichts davon, die Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern einzuschränken. ({6}) Aber, meine Damen und Herren von der AfD, Sie haben nicht nur wenig Respekt vor den Menschen, Sie haben auch keine Ahnung. ({7}) Denn viele arbeiten auf den Baustellen, auf denen sich die Arbeiten nachts gar nicht mit der gleichen Qualität wie tagsüber durchführen lassen. Es geht gar nicht nur um die Arbeit auf der Baustelle, sondern es geht auch darum, wie die Zulieferer, die Produktionsbetriebe dort arbeiten. Dort gibt es meistens auch keinen Dreischichtbetrieb, und das aus gutem Grund. Sie vergessen auch völlig die Anwohnerinnen und Anwohner der Baustellen, die eventuell nachts durch Baulärm oder Bauverkehrslärm gestört werden. Vielleicht werfen sie einmal einen Blick auf den Unterschied bei Lärmschutzgrenzwerten für den Tag und für die Nacht. Wer Baustellen wirklich besser machen will, sollte sich auf eine stärkere Eigenverantwortung der Beschäftigten in der Autobahngesellschaft stützen. Auch technische Innovationen im Baustellenablauf können Baustellen schneller und besser machen, zum Beispiel das Kaltrecycling. Dort kann man nachhaltig Ressourcen sparen, und ein Großteil der Arbeiten kann direkt auf der Baustelle erledigt werden. Und natürlich brauchen wir auch mehr Personal und eine bessere Qualifikation. Wir haben aber als SPD Vertrauen in unsere Fachleute auf den Baustellen, die planen und dort arbeiten. Mit der Bundesanstalt für Straßenwesen haben wir auch die nötige Kompetenz, um bei der Sanierung und dem Bau von Straßen und Brücken stetig besser zu werden. Über den Antrag der AfD kann man hier nur den Kopf schütteln; wir lehnen ihn natürlich ab. Vielen Dank. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Thomas Lutze, Die Linke, erhält das Wort, sobald das Pult gerichtet ist. ({0})

Thomas Lutze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004103, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die sogenannte AfD schreibt in ihrem Antrag zur Gleichsetzung von Fahrzeugen mit Wasserstoffantrieb gleich zu Beginn – ich zitiere –: Es gibt keinen wissenschaftlichen Beweis für einen maßgeblichen Einfluss auf das Weltklima durch vom Menschen verursachte CO2-Emissionen. ({0}) Die angeblichen Beeinträchtigungen beruhen auf unbelegten, hypothetischen Annahmen. ({1}) Sorry! Wer im Jahr 2020 so einen Unsinn zu einer Bundestagsdrucksache macht, der streitet wahrscheinlich auch ab, dass Autos vier Räder haben. ({2}) Vor diesem Hintergrund macht es überhaupt keinen Sinn, sich mit den weiteren Positionen Ihrer Fraktion ernsthaft auseinanderzusetzen. Für Sie ist die Erde eine Scheibe. Dass das alle normalen Menschen irgendwie anders sehen, ist Ihnen egal. So was ist peinlich hoch zehn. ({3}) Zum Thema. Wir brauchen eine Verkehrswende weg vom motorisierten Individualverkehr hin zu einem flächendeckenden und attraktiven öffentlichen Verkehr. ({4}) Alle Bemühungen, Autos umweltfreundlich umzurüsten, indem man auf E‑Motoren oder Wasserstoff setzt, sind derzeit keine echten Mobilitätslösungen. Gerade beim Wasserstoff ist der Stand der Technik der, dass eher große Anlagen für Wasserstoff einen besseren Nutzungsgrad haben als zum Beispiel kleinere in Automobilen. ({5}) Wasserstoff muss aufwendig mit viel Energie hergestellt werden. Will man es richtig machen, muss man diesen Wasserstoff aus regenerativen Energien herstellen; Stichwort „Grüner Wasserstoff“. Dieser ist aber unbegrenzt noch nicht verfügbar. Man kann also nur so viel verwenden, wie auch tatsächlich hergestellt wird. Für den Grünen Wasserstoff wäre die Schwerindustrie, die energieintensiv ist, ein viel wichtigerer Abnehmer als der automobile Straßenverkehr. ({6}) Wenn es eine sozialökologische Verkehrswende gibt, werden mit Sicherheit Automobile nicht mehr das dominierende Verkehrsmittel sein. ({7}) Wir müssen weg vom Auto, das im Durchschnitt gerade mal eine Stunde am Tag benutzt wird und den Rest des Tages irgendwo rumsteht. Autos sind im Durchschnitt 1,5 Tonnen schwer, transportieren aber gerade mal 1,3 Personen. Besonders effektiv ist das nicht. Wir brauchen also mehr Förderung für Carsharing, für Leihautos und für Taxis, und dann gern auch mit Elektroantrieb oder von mir aus mit Wasserstoff. ({8}) Als Zweites thematisiert die sogenannte AfD den alltäglichen Baustellenwahnsinn auf deutschen Autobahnen. Ja, es ist nervend, wenn man zum Beispiel die 200 Kilometer von Frankfurt nach Saarbrücken fährt und dabei gefühlt 23 Baustellen passieren muss. Doch auch hier blendet die Höcke-Partei die Ursachen vollständig aus. ({9}) Autobahnen, besonders die teuren Autobahnbrücken, gehen bekanntlich nicht von allein kaputt. Es ist der Schwerlastverkehr, der den Bauwerken hart zusetzt. Ein 40-Tonner belastet eine Brücke bezüglich des Verschleißes rund 15 000-mal mehr als ein normales Auto. Auch hier brauchen wir eine Verkehrswende. ({10}) Der Güter- und Schwerlastverkehr muss wieder auf die Schiene. In den 80er- und 90er-Jahren wurde die Schieneninfrastruktur aber drastisch zurückgebaut. Damals hatte noch fast jedes Unternehmen einen eigenen Gleisanschluss. Versuchen Sie heute mal als ökologisch engagierter Unternehmer, Ihre Waren auf der Schiene zu transportieren. Viel Spaß zu wünschen, wäre dabei fast schon sarkastisch. Richtig aber: Wenn man mit dem Auto unterwegs ist, hat man manchmal den Eindruck, dass auf vielen Baustellen nichts passiert oder eine neue Baustelle eingerichtet wird, bevor eine andere fertig ist. Auch hier könnten sich die Abgeordneten von rechts außen mal ansehen, was die zuständigen Landesämter dazu sagen. Aber so eine Information holen Sie sich nicht. Sie haben als Datenquelle offensichtlich lediglich die „Bild“-Zeitung, und dann kommen solche Anträge dabei raus. ({11}) Fakt ist: Die Behörden und die Unternehmen vor Ort unternehmen alles Mögliche, um Unannehmlichkeiten so gering wie möglich zu halten. Kurzbaustellen eröffnen zum Beispiel Freitagabend und sind Montagfrüh wieder frei. Hier arbeiten Kolleginnen und Kollegen am Wochenende, die dann nicht bei ihren Familien sind. Ich habe Respekt vor diesen Menschen, die im Regen, im Schnee oder bei brütender Hitze ihren Job machen. ({12}) Die Anzahl der längeren Baustellen wird eher zunehmen. Gerade der Ersatz und die Instandsetzung von Brücken sind sehr teuer und nicht in 14 Tagen erledigt. Und wenn Sie eine Autobahnbrücke sperren müssen, weil sie baufällig und damit gefährlich ist, dann nützt auch kein Gesetz. Sicherheit geht vor, liebe Kolleginnen und Kollegen! ({13}) Als Linksfraktion wollen wir auf neue Straßenbauprojekte verzichten. Stattdessen muss die Infrastruktur auf der Schiene ausgebaut werden, und dies vor allem in der Fläche. Realität ist aber, dass in Deutschland noch immer mehr Straßen neu gebaut werden als Schienenwege. Aktuell haben wir einen Rekord bei den Pkw-Zulassungszahlen. Autobahnen sind eine rollende Lagerhalle für Lkws. Wenn dieser verkehrspolitische Wahnsinn nicht bald umgekehrt wird, erreichen wir auch keine Klimaziele. ({14}) Das Geld, das in teure Autobahnen fließt, sollte besser im sozialen Wohnungsbau oder im Ausbau der digitalen Infrastruktur angelegt werden. Vielen Dank und ein herzliches Glückauf! ({15})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Stephan Kühn, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Stephan Kühn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004085, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was sind die zentralen Herausforderungen für die Verkehrspolitik? Wir brauchen eine krisenfeste Infrastruktur; das haben wir durch Corona gemerkt; Stichwort „sichere Lieferketten“. Es geht um die Themen „klimagerechte Mobilität“, „Substanzerhalt der Infrastruktur“, „Beschleunigung von Verkehrsprojekten“, über die wir gerade gesprochen haben. Was macht die AfD? Sie stellt einen Antrag zu Autobahnbaustellen, nicht etwa zu der Frage: „Wie geht es mit allen Verkehrsträgern weiter? Wie sieht es mit vernetzter Mobilität aus?“, sondern es geht um Autobahnbaustellen. Also, dass Sie ein besonderes Verhältnis zur Autobahn haben, ist klar. Der Antrag war Ihnen offensichtlich aber trotzdem so peinlich, dass Sie ihn nicht mal im Ausschuss diskutieren wollten. Sie behaupten, Autobahnbaustellen würden für volkswirtschaftliche Schäden sorgen. Das ist totaler Blödsinn. Das Gegenteil ist der Fall. Substanzerhalt sichert, dass es eben keine volkswirtschaftlichen Schäden gibt; darum sind Autobahnbaustellen wie andere Baustellen notwendig. ({0}) Sie fordern Baustellen rund um die Uhr, 24 Stunden, sieben Tage. – Sie finden gar keine Baufirmen, die das machen – und wenn, dann zu exorbitanten Preisen, die hier niemand bezahlen will. Und wie sieht es eigentlich mit dem Lärmschutz für die betroffenen Menschen aus, die nachts schlafen oder am Wochenende mal Ruhe haben wollen? Alles das ist Ihnen egal. Dann beglücken Sie uns noch mit einem zweiten Antrag, der überschrieben ist mit „Deutschlands Automobilindustrie unterstützen“. Als ob die Autoindustrie nicht schon genug Probleme hätte, jetzt kommen Sie auch noch an und bieten Ihre Hilfe an. ({1}) Wir sind ja als Grüne manchmal kritisch gegenüber der Autoindustrie; aber das hat sie nun wirklich nicht verdient. ({2}) Die CO2-Flottengrenzwerte wollen Sie wieder hochsetzen. Wo soll denn dann der Anreiz dafür sein, Wasserstoffautos oder Autos mit synthetischen oder biogenen Kraftstoffen einzusetzen? ({3}) Sie lehnen den Ausbau erneuerbarer Energien ab – haben Sie ja vorhin schon wieder verkündet –, wollen aber gleichzeitig mehr Kraftstoffe auf Basis erneuerbarer Energien. Merken Sie selber, dass das nicht zusammenpasst. ({4}) E-Fuels haben wir noch nicht mal im industriellen Maßstab. Sie sind auch teuer; 1 bis 2 Euro allein die Produktionskosten. Sie wollen also Mobilität für die Bürgerinnen und Bürger richtig teuer machen. Sagen Sie es doch direkt. Die Autoindustrie ist schlauer, die bauen Elektroautos, die nutzen den Strom effizient und direkt, anstatt ihn aufwendig umzuwandeln. Bei der Betrachtung der Gesamtkosten wird deutlich, dass schon heute Elektroautos günstiger als Verbrenner sind. Es zeigt sich mal wieder bei diesen beiden Anträgen: Wenn man sich mit Ihnen auf Augenhöhe über Verkehrspolitik unterhalten wollte, müsste man sich flach auf den Boden legen. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Björn Simon, CDU/CSU. ({0})

Björn Simon (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004893, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie uns über die Praxis des Baus von Bundesfernstraßen reden. Die AfD behauptet in dem vorliegenden Antrag, Baustellen würden nicht zügig, nicht sicher und nicht umweltfreundlich genug umgesetzt werden. Ich habe gerade den Einwurf gehört, alle Quellenangaben, die das bestätigen würden, wären doch da. Liest man aber mal die ersten Zeilen des Antrags, ist interessant, welche Quellenangaben Sie dort machen. Unter anderem ist das ZDF dabei, also eines der von Ihnen so genannten Systemmedien, die Sie nach eigener Aussage am liebsten abschaffen würden. Dass Sie sich auf diese Quellen beziehen, ist schon sehr interessant, ({0}) und das auch noch signiert von beiden Fraktionsvorsitzenden. Beim Lesen des Antrags fällt zunächst auf, dass Ihnen gar nichts anderes übrig bleibt, als die Arbeit der Bundesregierung und das Engagement des Bundesverkehrsministeriums beim Straßenbau ausdrücklich zu loben. Autobahnbaustellen sind unumgänglich – richtig –, um entstandene Schäden an den Straßen zu beseitigen. Es ist in der Tat begrüßenswert, dass die Instandsetzung und der Ausbau der Infrastruktur für den wachsenden Verkehr in Angriff genommen werden müssen. In Zahlen gesprochen: 2019 stiegen die Investitionen in Fernstraßen auf 7,9 Milliarden Euro; das ist Rekord. Bis 2023 wird das Investitionsniveau noch einmal steigen auf dann über 8,6 Milliarden Euro. Zwischenfazit: Wir befinden uns mitten in der größten Modernisierungsoffensive unserer Verkehrsinfrastruktur. ({1}) Das fällt nun mal durch Baustellen und dadurch, dass man im Stau steht, negativ auf. Wenn man von dem berechtigten Lob für die Bundesregierung absieht, bietet Ihr Antrag zu den Autobahnbaustellen allerdings nicht viel Gehaltvolles. So ist eines der hauptsächlichen Anliegen die Forderung eines 7-Tage- und 24-Stunden-Betriebs für Baustellen auf Bundesautobahnen. Das klingt im ersten Augenblick sehr verlockend. Aber ist das auch realistisch? Zunächst sind Arbeiten in der Nacht deutlich teurer als am Tag. Wir reden hier von Lohnkostensteigerungen von 20 Prozent und Mehrausgaben beispielsweise für umfangreiche Beleuchtung. Zudem sind die Arbeitsbedingungen nachts in vielerlei Hinsicht deutlich schwieriger. ({2}) Dasselbe Arbeitssicherheitsniveau ist schlicht nicht gegeben – um mal den Blick auf die Arbeitnehmer zu werfen. Die Versorgung mit Material ist kompliziert. Viele Lieferanten wie Asphalt-, Kies- oder Schotterwerke haben keine Genehmigung für den Nachtbetrieb, können also nachts kein Material zur Verfügung stellen. ({3}) Auch der nächtliche Baulärm in der Nähe von Wohnorten – das wurde schon angesprochen – ist als Problem nicht zu unterschätzen. Wichtig ist außerdem, dass Arbeiten mit besonders hohen Qualitätsanforderungen nachts gar nicht möglich sind. Ein gutes Beispiel hierfür ist der lärmmindernde, offenporige Flüsterasphalt. Es darf nämlich keine Nähte geben beim Verlegen dieses Asphaltes, und das Wasser muss seitlich ablaufen können. Bei diesen höchsten Qualitätsanforderungen sind Arbeiten in der Nacht schlicht nicht möglich. Das werden Ihnen auch Bauexperten zweifelsfrei bestätigen; vielleicht suchen Sie das Gespräch. In Einzelfällen mit Einzelprüfung ist eine 24/7-Baustelle durchaus möglich; wird ja auch teilweise praktiziert, wo es möglich ist. ({4}) Als pauschales Zukunftsmodell ist aber diese Rund-um-die-Uhr-Baustelle unter den genannten Voraussetzungen keine Lösung. Eine weitere Forderung im Antrag betrifft die Länge der Autobahnbaustellen: höchstens 5 Kilometer durchgehend, auf Streckenabschnitten von 100 Kilometer eine Gesamtlänge von maximal 17 Kilometer; ebenso soll es Intervalle von freien Strecken mit mindestens 20 Kilometer Länge geben. – Was schon beim Zuhören wie ein kompliziertes Puzzle klingt, ist auch in der Realität kaum umsetzbar. Erklären Sie mal den Autofahrern, wie Sie bei diesem Schneckentempo, das Sie gerne vorlegen möchten, die deutschen Autobahnen auf ihrem hohen Niveau halten wollen. Hinzu kommt, dass die Wirtschaftlichkeit einer Baustelle leidet, da die Arbeitsmittel und ‑geräte in kurzen Autobahnbaustellen von unter 5 Kilometer, wie Sie sie fordern, häufig nicht effizient einsetzbar sind. Die Wahrheit ist: Wir müssen langfristig auch weiterhin mit umfangreichen Bau- und Erhaltungsmaßnahmen rechnen. Hinzu kommen mittelfristig nicht absehbare Instandhaltungsmaßnahmen von Streckenabschnitten und Brückenbauwerken, die hier nicht vergessen werden dürfen. Eine strikte Kategorisierung in kleine Teilstücke und Strecken, die nicht angetastet werden dürfen, ist nicht praktikabel. Lassen Sie mich abschließend betonen, warum wir in der Unionsfraktion davon überzeugt sind, dass wir schon in wenigen Monaten eine weitere Optimierung im Hinblick auf die Planung und Durchführung von Autobahnbaustellen erleben werden. Am 1. Januar 2021 – wir haben es bereits gehört – übernimmt die Autobahn GmbH des Bundes die Planung, den Bau, den Betrieb, die Erhaltung, die Finanzierung und die Verwaltung der Autobahnen in Deutschland. Dass die Autobahn GmbH im vorliegenden Antrag von Ihnen mit keinem einzigen Wort erwähnt wird, zeigt ein seltsames Verständnis von Verkehrspolitik aufseiten der Antragsteller. ({5}) Wer die heutige Planung und Durchführung von Autobahnbaustellen verändern will, dabei aber nicht berücksichtigt, dass die Grundlage ebendieser Planung und Durchführung in wenigen Wochen grundlegend verändert wird, dem fehlen entweder die politischen Themen, oder dem fehlt schlicht und ergreifend der Durchblick bei diesem Thema. Vielen Dank. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Dirk Spaniel, AfD. ({0})

Dr. Dirk Spaniel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004899, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die aktuelle Perspektive für die Beschäftigten in der Automobilindustrie könnte eigentlich gar nicht schlechter sein, als sie im Moment ist. Das, was auf uns zukommt, ist nichts anderes als die Kernschmelze der deutschen Automobilindustrie. ({0}) Das kommt übrigens nicht überraschend. Wir hatten vorletztes Jahr eine Expertenanhörung. Wer den Experten dort zugehört hat – bei Ihnen muss man sagen: hätte –, wurde gewarnt. Speziell wir als AfD-Fraktion haben Ihre für die Autoindustrie katastrophale CO2-Gesetzgebung hier in diesem Hause etliche Male angeprangert. Ja, Sie werden jetzt einwenden: Die Gesetzgebung kommt aus Brüssel. ({1}) Die Tatsache, dass Sie in Brüssel einem Gesetz zustimmen, das absehbar die Leitindustrie in diesem Land vernichten wird, ist entweder Zeichen für Ihre Unfähigkeit oder für Ihr unzureichendes Durchsetzungsvermögen in Bezug auf deutsche Interessen in der Europäischen Union. ({2}) Meine Einschätzung Ihrer desaströsen Politik wird von führenden Experten der Automobilindustrie und neuerdings auch von der FDP unisono geteilt. Allerdings haben wir mittlerweile ein Klima der Angst, ({3}) und fast niemand traut sich, Ihrem sozialistischen Lenkungswahn der Verkehrswende offen zu widersprechen. ({4}) – Ja, das ist so. Wenn wir die zurückliegende Woche sehen, stellen wir fest, dass im Vorfeld des Autogipfels von IG Metall, SPD und Grünen sogar die Teilverstaatlichung notleidender Unternehmen in der Autoindustrie gefordert wurde. ({5}) Das Ergebnis des Autogipfels waren dann Worthülsen der Regierung. Sie haben dort verlauten lassen, dass Sie das Heil der Autoindustrie in Digitalisierung und autonomem Fahren sehen. Auf die konkreten Probleme der Automobilunternehmen – die mangelnde Absatzperspektive für verbrennungsmotorische Fahrzeuge – sind Sie mit keinem Wort eingegangen. Das von Ihnen politisch gewollte Ende des Verbrennungsmotors ist die Ursache für die Arbeitsplatzverluste in der Automobil- und Maschinenbauindustrie hier in Deutschland. ({6}) Das können Sie auch durch eine staatlich subventionierte Elektroautoindustrie nicht kompensieren. Wie schlecht sinnlose Technologieförderung funktioniert, haben wir ja am Beispiel der Solarzellenindustrie gesehen. Wo sind sie denn hin, unsere Steuermilliarden für Subventionen? Solarzellen werden heute im Ausland gefertigt, und alle entsprechenden Arbeitsplätze in Deutschland sind weg. ({7}) Genau das passiert, wenn Subventionen in betriebswirtschaftlich sinnlose Projekte investiert werden, so wie Sie das hier wieder fordern. ({8}) Wie sagte doch der Betriebsratsvorsitzende der Daimler AG im Sommer dieses Jahres? ({9}) 95 Prozent der Arbeitsplätze hängen am Verbrennungsmotor. – Eine kleine Gruppe von technikfernen, beratungsresistenten Politikern von SPD, Grünen, CDU/CSU und FDP entzieht Hunderttausenden hart arbeitender Menschen und mittelständischer Unternehmen in diesem Land die Existenzgrundlage, ({10}) und das auch noch auf Basis der fälschlichen Annahme, dass Elektromobilität die CO2-Emissionen in diesem Land reduzieren wird. Wir bringen hier einen Antrag zur Rettung des Verbrennungsmotors ein. Durch die Anrechnung der Verwendung von synthetischen Kraftstoffen können die Arbeitsplätze, die am Verbrennungsmotor hängen, gerettet werden, und gleichzeitig werden mehr CO2-Emissionen eingespart als durch den Einsatz von Elektrofahrzeugen. ({11}) Und wenn Sie diesen Antrag ablehnen, dann handeln Sie gegen die Interessen Hunderttausender Arbeitnehmer in diesem Land. ({12}) Und wir werden dafür sorgen, dass Sie für die Existenzvernichtung dieser Menschen die volle politische Verantwortung tragen. Jawohl! Vielen Dank. ({13})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erhält das Wort die Kollegin Elvan Korkmaz-Emre, SPD. ({0})

Elvan Korkmaz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004790, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Fraktion hier ganz rechts außen beweist wieder: Wenn einem die Fakten fehlen, dann bedient man sich eben des puren Populismus. ({0}) Mein Kollege Mathias Stein hat das, glaube ich, hinlänglich beschrieben. Ihr Antrag trägt nur dazu bei, die Effizienz bei Planen und Bauen in unserem Land zu stören und die Kosten unnötig in die Höhe zu treiben. ({1}) Die Bautätigkeit der letzten Jahre beweist, dass diese Bundesregierung in die Infrastruktur investiert und damit den Wohlstand in unserem Land sichert. ({2}) Ich sage mal, warum Ihr Antrag auch aus Sicht der Verkehrssicherheit totaler Quatsch ist. Sie sorgen sich um den deutschen Autofahrer, reden von großem Unfallrisiko und schweren und tödlichen Auffahrunfällen. Gucken Sie mal in die Statistik – ich weiß ja aus dem Verkehrsausschuss: es fällt Ihnen sehr schwer, die Statistik richtig zu lesen –; dann würde Ihnen auffallen, dass die schweren Unfälle nicht in Baustellen, sondern auf offener Strecke passieren. ({3}) Dann kommen Sie mit einer Lösung für ein Problem, das es nicht gibt, die lautet: Wir verkürzen einfach die Baustellenabschnitte und schaffen damit mehr Baustellen. – Wenn wir uns jetzt aber angucken, wo die Gefahrenstellen tatsächlich liegen, wo Unfälle passieren, dann sehen wir: Sie passieren erstens in den Einmündungsbereichen, also im Zuflussbereich am Anfang einer Baustelle, auf den ersten Metern, wenn die Geschwindigkeit noch nicht von allen reguliert ist, zweitens bei Verschwenkungen und behelfsmäßigen Anschlussstellen und drittens am Ende einer Baustelle, wenn alle wieder hoch beschleunigen. So. Und wenn wir jetzt mehr Baustellen schaffen, gibt es auch mehr Anfänge und Enden von Baustellen, und damit erhöht sich auch das Gefahrenrisiko. Also ist es total egal, ob eine Baustelle 2 oder 12 Kilometer lang ist; das ist nicht das Problem. ({4}) Indem Sie mehr Gefahrenquellen schaffen, erhöhen Sie das Unfallrisiko für die deutschen Autofahrer. Wenn ich Ihren Antrag lese, stelle ich fest: Sie haben anscheinend noch nie etwas von der Bundesanstalt für Straßenwesen gehört, die schon lange an diesem Thema arbeitet und sich zum Beispiel der Fahrstreifenreduktionsbeeinflussungsanlagen bedient. Das ist vielleicht ein sehr schweres Wort – das ist ja auch eine komplexe Materie –; aber vielleicht googeln Sie mal; das würde Ihrem Wissen sicher auf die Sprünge helfen. ({5}) Wenn wir die Zahl der Unfälle in Baustellen wirklich verringern wollen, dann müssen wir an die Verkehrsüberwachung ran. Und da helfen Maßnahmen wie zum Beispiel Section Control. Das geht in vielen anderen Ländern; in Deutschland noch nicht. ({6}) Ich würde das Bundesverkehrsministerium gerne dabei unterstützen, das in unserem Land einzuführen. Vielleicht, Herr Scheuer, nehmen Sie das schon mal als Empfehlung auf für das ausstehende Verkehrssicherheitsprogramm. Das würde mich und viele andere freuen. Den AfD-Antrag können wir wegen „viel Quatsch mit Soße“ mit gutem Gewissen ablehnen. Vielen Dank. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort die Kollegin Daniela Kluckert, FDP. ({0})

Daniela Kluckert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004784, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Verehrter Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Der Kollege Lutze hatte schon aus dem Antrag der AfD zitiert. Bereits im ersten Satz schafft es die AfD, noch unter den Erwartungen, die man an einen solchen Antrag noch hat, zu bleiben. Das wird auch im Folgenden nicht besser. Was die AfD beispielsweise fordert, ist, technisch sicherzustellen, dass bestimmte Verbrennungsmotoren ausschließlich mit E-Fuels betrieben werden sollen. Aber das ist eben genau der Clou dieser E-Fuels, dass man gar nicht merkt, welche Kraftstoffe man benutzt, und dass man die Verbrennungsmotoren überhaupt nicht umrüsten kann. ({0}) Meine sehr geehrten Damen und Herren von der AfD, egal welches Thema Sie anpacken, egal wie oft Sie versuchen, das Land zu retten, modern oder problemorientiert zu wirken: Sie schaffen es einfach nicht, weil es entweder Unkenntnis ist, die Ihre Anträge scheitern lässt, Wissenschaftsfeindlichkeit oder eben Wut auf irgendwas und irgendwen, und in diesem Teil trifft es die EU-Regelungen zu den Flottengrenzwerten. Und natürlich brauchen wir Flottengrenzwerte in Europa; aber sie müssen maßvoll sein, und sie müssen vernünftig sein. Und hier sind tatsächlich Maß und Mitte verloren gegangen, und die brauchen wir wieder zurück. ({1}) Denn bei echter Technologieoffenheit geht es eben um Innovation, um marktwirtschaftliche Instrumente, darum, wie sich durch Wettbewerb die besten Ideen für unser Wirtschaftssystem, aber eben auch für den Klimaschutz, der lokal, national und global betrieben werden muss, durchsetzen. Und nur wenn alle Technologien die gleichen Startchancen bekommen, dann bekommen wir das, was wir wollen: eine Reduzierung der CO2-Emissionen. ({2}) Wir brauchen den Wasserstoff; deswegen ist die Wasserstoffstrategie der Bundesregierung auch so bedauerlich. Sie wurde nicht nur viel zu spät geliefert; sie ist auch ambitionslos und völlig ohne Klarheit. ({3}) Die Zeit blumiger Worte muss in diesem Bereich endlich einmal vorbei sein, und die tollen Pilotprojekte müssen auch beendet werden. Wir müssen jetzt vom Ankündigungs- in den Umsetzungsmodus starten. E-Fuels müssen auf CO2-Flottengrenzwerte angerechnet werden; sie müssen in die Kraftstoffbilanz einfließen; denn nur so werden sie marktreif. Und regulatorische Fragen müssen gelöst werden. In der Wasserstoffstrategie ist überhaupt nicht behandelt, wie Wasserstoff überhaupt transportiert werden soll. Das sind aber ganz zentrale Fragen, um die Sie sich nicht drücken dürfen; entsprechende Regeln müssen hier auch endlich beschlossen werden. Und dann muss der Staat Wasserstoffprodukte auch selbst kaufen; er muss Vorbild sein, damit der Markt überhaupt in Gang kommt. Dass wir beim Thema Wasserstoff vorankommen, ist nicht nur essenziell für den Klimaschutz, es ist auch essenziell für unser Land, das auch von der Automobilindustrie lebt. Deswegen ist es wichtig, dass hier mehr getan wird, damit wir für die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland und der Automobilindustrie, die durch Corona gerade enorm unter Druck ist, etwas tun können. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Abstand und Hygiene! ({0}) Jetzt ist das Pult für den Kollegen Dr. Christoph Ploß, CDU/CSU, vorbereitet. ({1})

Dr. Christoph Ploß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004854, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit Freude sehe ich erst mal, dass nichts von meiner Redezeit weggenommen wurde. – Heute Vormittag müssen wir über die Anträge der AfD diskutieren. Und wenn man sich die ersten Sätze anschaut, in denen der menschengemachte Klimawandel geleugnet wird, wenn gesagt wird, eigentlich müsse man gar nichts tun, dann kann ich, glaube ich, im Namen von ganz vielen im Land sagen: Das kann man nicht ernst nehmen. Wir sollten uns hier dringend mit den Fragen beschäftigen, die sich die Menschen am Abendbrottisch, beim Gartenfest, bei politischen Diskussionen stellen, ({0}) nämlich: Wie können wir die Klimaschutzziele von Paris erreichen? Aber viele stellen sich auch die Fragen: Wie können wir Arbeitsplätze in der Automobilindustrie sichern? Wie können wir die Klimaschutzziele mit einer vernünftigen Mobilitäts- und Wirtschaftspolitik verbinden und das alles miteinander in Einklang bringen? Deswegen, glaube ich, sollten wir gar nicht so viel über Ihren Antrag reden, sondern uns genau mit diesen Fragen beschäftigen und sagen: Wir lösen die ganzen Klimaschutzprobleme nicht durch Verbote – das hat man heute wieder bei den Grünen herausgehört –, ({1}) sondern wir lösen sie durch Innovation, und wir lösen sie durch Investition in neue Technologien. Da sagen wir als CDU/CSU-Fraktion ganz klar: Wir setzen auf batteriegetriebene Elektromobilität, wir setzen auf Wasserstoff, und wir setzen auf klimaneutrale Kraftstoffe. Jetzt wurde in einigen Vorreden schon gesagt, was die Vorteile von batteriegetriebener Elektromobilität sind, was die Vorteile von Wasserstoff sind, warum es klimaneutrale Kraftstoffe braucht. Alle unterschiedlichen Technologien haben ihre Vor- und Nachteile: Die einen sind energieeffizienter, mit den anderen kann man schnell große Reichweiten erzielen. Klimaneutrale Kraftstoffe haben den Vorteil, dass man die bestehende Logistik verwenden kann. Alle sind, wie gesagt, mit Vor- und Nachteilen behaftet. Aber in einer sozialen Marktwirtschaft sollte doch nicht die Politik darüber entscheiden, welche Technologien die Unternehmen und die Verbraucher einsetzen sollten, sondern es muss einen Wettbewerb der Technologien geben. Die Entscheidung, was sie in ihrem Fall für am besten halten, liegt bei den Unternehmen und den Verbrauchern. Deswegen sagen wir auch: Wir brauchen gleiche Rahmenbedingungen, das sogenannte Level Playing Field; das heißt, Wasserstoff, klimaneutrale Kraftstoffe und batteriegetriebene Elektromobilität müssen zum Zuge kommen können. Deswegen müssen wir tatsächlich ran an die gesetzlichen Bestimmungen, was Wasserstoff und klimaneutrale Kraftstoffe angeht. Ich bin Verkehrsminister Andreas Scheuer und den Kollegen der CDU/CSU-Fraktion sehr dankbar, dass sie Initiativen in die Wege geleitet haben, wie zum Beispiel, dass beim Grünen Wasserstoff die EEG-Umlage in Zukunft entfallen soll. Genau mit diesen Ansätzen werden wir dafür sorgen, dass Wasserstoff und klimaneutrale Kraftstoffe in Zukunft im Verkehr eine viel größere Rolle spielen. So können wir dann den Wind an unseren norddeutschen Küsten, aber auch die Sonne zum Beispiel Spaniens, Italiens oder Afrikas zum Antrieb machen für unsere Lkw, für unsere Schiffe und für unsere Flugzeuge. Genau das muss der Gedanke sein: dass wir hier mit unseren deutschen Technologien Wasserstoff und klimaneutrale Kraftstoffe herstellen, Exportschlager entwickeln, die dann auch in anderen Ländern zum Einsatz kommen können.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kollege, ich grüße Sie.

Dr. Christoph Ploß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004854, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich grüße Sie auch.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Ich hatte Ihnen ja noch nicht guten Morgen gesagt. Also: Guten Morgen!

Dr. Christoph Ploß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004854, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich wurde eben freundlich von Herrn Schäuble begrüßt.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Heute kommt es ganz dick, jetzt auch noch von mir. Meine Güte, was wird das für ein Wochenende! ({0}) Erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung von Herrn Hilse?

Dr. Christoph Ploß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004854, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne doch. ({0})

Karsten Hilse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004752, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie die Zwischenfrage zugelassen haben. Ich bin Ihren Worten jetzt gefolgt. Sie sagten soeben, dass der Wasserstoff in Südeuropa und in Nordafrika hergestellt werden soll. Planen Sie also quasi, die Herstellung von Kraftstoffen, die normalerweise in Deutschland stattfindet, ins Ausland zu verlagern? ({0}) Habe ich Sie richtig verstanden?

Dr. Christoph Ploß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004854, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ganz herzlichen Dank für die Frage, die mir noch ein paar Sekunden gibt, um genau diese Ideen hier darzulegen. Denn das ist gar kein Widerspruch: Ob wir jetzt in Deutschland Wasserstoff herstellen oder eben in Afrika oder in Südeuropa, wir werden in Zukunft alles machen müssen. Wir werden auch darauf angewiesen sein, dass in sonnen- und windreichen Regionen dieser Erde Wasserstoff und klimaneutrale Kraftstoffe hergestellt werden, die wir dann nach Deutschland importieren werden. Deswegen meinte ich eben: Wir haben hier in Deutschland die Technologien. Da können wir weitere Schlüsselindustrien entwickeln, diese in diese Regionen exportieren und dann wiederum den Wasserstoff oder die klimaneutralen Kraftstoffe nach Deutschland importieren. Wenn Sie sich – auch angesichts der Bilder aus Moria – die Frage stellen: „Wie können wir Fluchtursachen noch besser begrenzen oder beseitigen?“, ({0}) dann muss man sagen: Mit diesem Thema kann man in diesen Ländern Perspektiven schaffen, wirtschaftliche Strukturen aufbauen und damit in einen Handel gehen, der zum Nutzen von beiden Seiten ist. Die Themen, die wir hier diskutieren – Mobilität, Wirtschaftspolitik, Klimaschutzpolitik und Entwicklungspolitik –, sind alle miteinander verzahnt. Genauso vernetzt denken wir auch als CDU/CSU-Fraktion, und deswegen lösen wir ja auch genau die Probleme unseres Landes. ({1}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn man es noch mal zusammenfasst, stehen wir letztlich vor der Frage: Wollen wir die Klimaschutzziele im Mobilitätssektor mit Verboten, mit Gängelung, mit immer neuen Vorschriften erreichen? Ich halte das für den völlig falschen Ansatz. Es wird nicht dazu führen, dass wir ein Vorbild werden in der Welt. Es wird auch nicht dazu führen, dass wir am Ende Weltklimaschutz machen – weil wir dann Deutschland deindustrialisieren würden. Deswegen sagen wir: Lasst uns in diese neuen, klimafreundlichen Technologien investieren. Als Große Koalition haben wir ganz starke Investitionen zum Beispiel in die Wasserstoffinfrastruktur beschlossen. Das wollen wir noch die nächsten Monate umsetzen, bis zum Ende der Legislaturperiode. So kann Deutschland es schaffen, Innovator Europas zu sein und tatsächlich ein Vorbild, was Klimaschutz angeht. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Christoph Ploß. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Daniela Wagner. ({0})

Daniela Wagner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004184, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dem Baustellen-sind-blöd-Antrag der AfD ist überdeutlich anzumerken, dass er von Autonarren und Geschwindigkeitsfanatikern verfasst wurde. ({0}) Meine Damen und Herren, so wenig das Abholzen zahlreicher Alleen in den neuen Bundesländern nach der Wende ein Beitrag zu mehr Reisekomfort und Verkehrssicherheit war, so wenig ist es einer, Firmen und Menschen im 7-Tage- und 24-Stunden-Betrieb arbeiten zu lassen, damit Baustellen schneller fertig werden – von der praktischen Umsetzbarkeit einmal ganz abgesehen. Weshalb mehrere kurze Baustellen weniger Stauenden, also Gefahrenpunkte, bedeuten als eine lange Baustelle, erschließt sich logisch schon überhaupt nicht – jedenfalls wahrscheinlich niemandem im Hause außer Ihnen. ({1}) Baustellen sind in der Tat Einschränkungen und führen zu gefährlichen Situationen. Da sowohl Lkw als auch Pkw aber leider immer größer und schwerer werden, nimmt auch der Fahrbahnsanierungsbedarf drastisch zu, mit der Folge, dass die Zahl der Baustellen unabwendbar immer größer wird. Und es kommen ständig neue Straßen und damit neuer Unterhaltungsbedarf hinzu. Das Streckennetz wächst ständig. Es gibt nur ein probates Mittel gegen die damit verbundenen Nachteile und Gefahren: angemessenes und angepasstes Autofahren. ({2}) Hinzu kommt: Je gleichmäßiger der Verkehrsfluss, desto höher der Fahrzeugdurchsatz. Oder anders gesagt: Große Geschwindigkeitsunterschiede, permanentes Bremsen und wieder Beschleunigen machen das Fahren nicht schneller, sondern gefährlicher für alle Verkehrsteilnehmenden, einschließlich der Arbeitenden auf den von Ihnen so geschmähten Baustellen. Und deren Job ist wahrlich hart genug, man möchte ihn kaum machen. Deswegen ist es wichtig, dass sie wenigstens sicher sind. ({3}) Eine solche Fahrweise kostet Sprit, erhöht die Emissionen, erhöht den Reifenabrieb, erzeugt also Feinstaub, erzeugt mehr Lärm und strapaziert die Nerven aller Verkehrsteilnehmenden. Deshalb ist unsere Losung: Nur eine langfristig angekündigte und gut erkennbare Baustelle auf der einen Seite und angepasste Geschwindigkeiten auf der anderen Seite sind angemessene und die besten Mittel gegen jedwede Unfallrisiken. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Daniela Wagner. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Arno Klare. ({0})

Arno Klare (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004329, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Spaniel, ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie einmal nur, in diesem Hause an diesem Pult stehend, nicht zu Ihrem YouTube-Kanal reden, sondern zu diesem Plenum. ({0}) Das ist eine zynische Haltung gegenüber dem Parlament, eine ideologische, zynische Haltung gegenüber dem Parlament. ({1}) Zur Sache. Sie fordern eine Gleichstellung von Fahrzeugen, die mit synthetischen Kraftstoffen betrieben werden, mit denen, die mit Strom betrieben werden, und sagen, die Politik habe herbeigeführt, dass alle nur noch auf Strom setzen. ({2}) Das scheint mir nicht so zu sein. Die Industrie hat sich dazu entschieden. ({3}) Die Industrie hat sich entschieden. Ich war bei der Vorstellung des ID.3 – das ist schon ein paar Jahre her; da war das nur ein Dummy – bei VW. Da haben uns Leute gesagt, also der Vorstandsvorsitzende: Wir setzen alles auf diese batterieelektrische Karte. ({4}) Morgen wird der ID.3 ausgeliefert. Zum ersten Mal kann man ihn dann auf der Straße fahren sehen und ihn kaufen. Es gibt mehrere Argumente dafür, Stromfahrzeuge zu fahren. Ein Argument sind übrigens die Kosten. Die Steuerbelastung bei Strom – also das Äquivalent zu einem Liter – liegt bei ungefähr 18,4 Cent, bei einem Liter Benzin sind es 65 Cent, wohlgemerkt vor Mehrwertsteuer. Die Mehrwertsteuer kommt noch obendrauf. Sie wählen ein Differenzierungskriterium, um es nach der Funktionsweise des Motors anzupassen, weil Sie natürlich den Verbrennungsmotor in den Mittelpunkt stellen. Wir haben schon jetzt, was die Differenzierungsweise bei Motoren angeht, Regelungen. Wenn er mit Strom pur läuft, dann ist er steuerbefreit. Die Steuerbefreiung gilt übrigens auch für Motoren, die emissionsfrei betriebene Energiewandler sind, also Fuel Cell. Das gibt es auch schon, und zwar nach § 3d des Kraftfahrzeugsteuergesetzes. Hybride sind übrigens nicht begünstigt. Bei den Verbrennern haben wir bereits eine Regelung über den zweiten Bestandteil der Kraftfahrzeugsteuer, der sich auf den CO2-Gehalt bezieht. Was brauchen wir also? Ich bin auch dafür, dass man über synthetische Kraftstoffe spricht. ({5}) – Ja, wir sprachen schon davon, da waren Sie noch gar nicht da. Wir sprechen schon seit Jahren darüber, wie das bewerkstelligt werden kann. ({6}) Das Differenzierungskriterium kann aber nicht die Funktionsweise des Motors sein, sondern muss im THG-Gehalt des Kraftstoffes liegen. Das heißt, man darf kein Downstream-Prinzip anlegen, sondern wir brauchen ein Upstream-Prinzip. Das machen wir laut Brennstoffemissionshandelsgesetz übrigens mit dem CO2-Preis, den Sie aber auch ablehnen. Genau das ist nämlich das Differenzierungskriterium. Wenn ich einen CO2-Preis anlege, der erst mal bei 25 Euro liegen wird, dann habe ich einen Aufpreis auf das zu 100 Prozent fossile Produkt. Wenn ich ein Drop-in von 10, 15, 20 Prozent vorsehe, reduziert sich genau da der Preis. Der entscheidet sich an der Zapfsäule und nicht bei der Funktionsweise des Motors. Das heißt, Sie wählen rein technisch – Frau Kluckert hat darauf hingewiesen; übrigens sehr richtig – das völlig falsche Kriterium und die völlig falsche Ebene, auf der man das gar nicht entscheiden kann. Insofern ist der Antrag schon rein technisch völliger Unsinn. ({7}) Frau Präsidentin, ich komme sofort zum Schluss.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Ja.

Arno Klare (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004329, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe noch nie meine Zeit überzogen. Das mache ich jetzt zum ersten Mal. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Das ist nicht wirklich ein Argument. Aber machen Sie voran.

Arno Klare (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004329, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich weiß, das ist kein Argument. Aber den Satz darf ich noch zu Ende sagen. Da Sie aber aus ideologischen Gründen mit Klimaschutz usw. nichts zu tun haben, ({0}) wählen Sie das technisch falsche Kriterium, die falsche Ebene und desavouieren Ihren eigenen Ansatz. Denken Sie darüber mal nach. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Arno Klare. – Letzter Redner in dieser Debatte ist Alois Rainer für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Alois Rainer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004384, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich den Antrag der AfD zum Baustellenmanagement gelesen habe, habe ich eigentlich erwartet, dass ihr den Antrag wieder zurückzieht und irgendwann klüger werdet. ({0}) Dieser Antrag, meine Damen und Herren, beleidigt alle Bauarbeiter, die auf den Baustellen tätig sind, und alle Planer, die an diesen hochkomplexen Bauvorhaben tätig sind. ({1}) Ich würde mich schämen, so einen Antrag zu stellen. Es wurde noch nie so wenig über einen Antrag wie diesen hier von der Partei rechts gesprochen. ({2}) Ich sage Ihnen noch mal eines: Wir haben Baustellen auf Autobahnen. Und ich bin froh, dass wir viele Baustellen auf Autobahnen haben. ({3}) Es ist schwierig – das gebe ich zu – für die Autofahrer. Aber wir haben 13 000 Kilometer Autobahn in unserem schönen Land. Wenn wir die, laut Ihrem Antrag, in Fünfkilometerschritten sanieren wollten, dann erleben wir das nicht mehr, und auch unsere Nachfolgerinnen und Nachfolger erleben das nicht. Die Autobahnen werden uns unter den Rädern der Verkehrsfahrzeuge zusammenbrechen. Man braucht also längere Abschnitte. Meine Damen und Herren, zum 7-Tage- und 24-Stunden-Betrieb: In Bayern machen wir das auf vielen Baustellen. Und ich weiß, auch im Rest der Republik wird das auf vielen Baustellen gemacht. Es macht durchaus in manchen Bereichen Sinn, aber in anderen Bereichen macht es keinen Sinn, weil es einfach bautechnisch nicht immer möglich ist, 24 Stunden zu arbeiten, und das auch noch 7 Tage in der Woche. Man braucht auch zwischendurch eine Erholungsphase für die verschiedensten Baustoffe, die verwendet werden. Es gibt also verschiedenste Gründe, um diesen Antrag eigentlich in die Tonne zu schmeißen. Aber gut, Sie haben ihn gestellt, wir haben uns heute eine Stunde dafür Zeit genommen, auch für den zweiten Antrag zum Thema Wasserstoff. Ich werde mich jetzt noch ein Stück weit auf die Baustellenproblematik begrenzen. Diese Arbeitsleistungen in der Nacht, 24 Stunden und am Wochenende kosten enorm viel Geld. Das ist heute schon angesprochen worden. Auch das darf man am Ende des Tages nicht vergessen. Die Autobahnbaustellen sind hochkomplexe Baustellen mit einem Verkehr von täglich 100 000 Fahrzeugen. Am Autobahnkreuz Regensburg, das ich kürzlich besichtigen konnte, sind täglich zwischen 80 000 und 100 000 Fahrzeuge unterwegs. Auch hier werden die Standstreifen selbstverständlich genutzt; auch hier gibt es ein Baustellenmanagement, das hervorragend eingestellt ist. Ich kann Ihnen nur sagen: Kommen Sie nach Bayern, kommen Sie in die Oberpfalz, besuchen Sie die Autobahnbaustelle Regensburg! Dann sehen Sie mal, wie das funktioniert, nämlich sehr gut. Und ich freue mich darauf, wenn die Autobahn GmbH im kommenden Jahr die Aufgaben übernimmt. Wenn es am Anfang auch ein bisschen rumpeln wird: Ich bin mir sicher, dass es am Ende der Tage noch ein Stück weit besser wird. Wir brauchen unsere Verkehrsinfrastruktur, und wir brauchen einen guten Ausbau unserer Verkehrsinfrastruktur, meine Damen und Herren. ({4}) Ihr Antrag erinnert ein Stück weit an die Österreicher und daran, wie Österreich das alles macht. Man kann uns zwar mit Österreich vergleichen, aber letztlich lässt sich das doch nicht vergleichen. Die Österreicher haben eine völlig andere Infrastruktur, völlig anders finanziert als bei uns. Ich bin wegen der Nähe zu Österreich durchaus auch das eine oder andere Mal auf diesen Autobahnen unterwegs. Und jetzt will ich mal eine Lanze für unsere Autobahnen brechen. Man kann über unsere Verkehrsverhältnisse schimpfen. Man kann auch gut sagen: In anderen Ländern Europas sind die Autobahnen gut. – Aber, meine Damen und Herren, fahren Sie in die anderen Länder – Österreich, Schweiz, unsere Nachbarländer –: ({5}) Unsere Autobahnen sind um einen großen Teil besser. Auch die Baustellen sind um einen großen Teil besser. ({6}) Sie sind wesentlich besser gemanagt. Die Umfahrungen sind um einen großen Teil besser. Also, man kann viel darüber reden. Diesen Antrag werden wir heute in Gänze und auch mit großer Freude ablehnen, weil er ein großer Unsinn ist. Vielen herzlichen Dank. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Alois Rainer. – Damit schließe ich die Aussprache.

Anja Karliczek (Minister:in)

Politiker ID: 11004323

Liebe Frau Bundestagspräsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die letzten Monate haben uns, glaube ich, eins sehr deutlich vor Augen geführt, nämlich was die berufliche Bildung für unser Land leistet. Denn dass wir bisher so gut durch die Krise gekommen sind, hat ganz viel mit den Menschen zu tun, die unser Land in diesen Tagen getragen haben: gut ausgebildete Pflegekräfte, Einzelhandelskaufleute, Laborfachkräfte und viele andere. Ich kann sie gar nicht alle aufzählen. Aber es war plötzlich sehr sichtbar, warum wir um unsere duale Ausbildung so beneidet werden. In diesem Monat haben wieder Hunderttausende von jungen Menschen ihre Ausbildung begonnen. Ein Start ins Berufsleben mitten in der Pandemie, das war und ist für viele noch mit Hürden verbunden. Wir sehen das an den aktuellen Ausbildungszahlen. Der Ausbildungsmarkt ist geschrumpft: 8 Prozent weniger Ausbildungsplätze, aber eben auch 8 Prozent weniger Bewerberinnen und Bewerber. Für die Auszubildenden und die, die noch einen Ausbildungsplatz suchen, ist das trotzdem eine gute Nachricht. Es stehen nämlich nach wie vor auch in der Krise mehr Plätze zur Verfügung, als besetzt werden können. Für die Arbeitgeber und unseren wirtschaftlichen Wohlstand ist das ein klein wenig anders; denn weniger Auszubildende heute bedeuten weniger Fachkräfte morgen – und das in einer Zeit, in der wir Fachkräfte dringend brauchen. Für die wirtschaftliche Stärke unseres Landes ist die duale Ausbildung entscheidend; denn nur mit genügend Technikern, Meistern und Betriebswirten können wir unsere Innovationskräfte vollständig ausschöpfen. ({0}) Deswegen haben wir schnell ein wichtiges Signal gesetzt. Wir wollen, dass die berufliche Ausbildung als attraktiver Einstieg ins Berufsleben geschätzt wird. Wir wollen, dass in Deutschland weiterhin auf hohem Niveau ausgebildet wird. Es gibt deshalb Ausbildungsprämien für kleine und mittlere Unternehmen, wenn sie ihr Ausbildungsniveau halten oder erhöhen, obwohl die Coronakrise sie heftig getroffen hat. Es gibt Zuschüsse zur Ausbildungsvergütung, wenn Auszubildende nicht in Kurzarbeit geschickt werden. Es gibt Übernahmeprämien, wenn kleine und mittlere Unternehmen Auszubildende aus insolventen Betrieben übernehmen. Das alles gibt es, damit die duale Ausbildung stark durch die Coronakrise kommt, damit junge Menschen weiterhin gute Startchancen haben, damit exzellente Fachkräfte die Wirtschaft beleben und damit das Innovationsland Deutschland auch zukünftig Innovationsland bleiben kann. Eine weitere gute Nachricht hat uns aus der Bundesagentur für Arbeit erreicht. Sie erkennt eine Aufholbewegung auf dem Ausbildungsmarkt. Ich denke, auch das ist ein gutes Signal – für unsere jungen Menschen und für unsere Wirtschaft. ({1}) Ein weiteres positives Signal kommt aus den Bereichen Gesundheit, Pflege und Erziehung. Die Zahl derer, die in diesen Bereichen ihre Ausbildung begonnen haben, ist im vergangenen Jahr gestiegen, und zwar um fast 4 Prozent. Und das war vor Corona. Aber – auch das gehört zu einem vollständigen Bild dazu –: Der demografische Wandel ist auf dem Ausbildungsmarkt angekommen. Schon im vergangenen Jahr sind weniger Ausbildungsverträge abgeschlossen worden als im Jahr davor. Es gibt mehr offene Lehrstellen als Bewerber. Betriebe finden nicht mehr genug Auszubildende. Jugendliche hingegen, die sich für eine Ausbildung entscheiden, haben hervorragende Perspektiven: auf begehrte und sichere Arbeitsplätze, auf gute Verdienstmöglichkeiten, auf Aufstiegschancen oder auch auf Selbstständigkeit. Unsere berufliche Bildung ist nach wie vor ein Garant für einen erfolgreichen Berufsweg und ein wesentlicher Grund – auch das, finde ich, muss man hier nennen – für unsere geringe Jugendarbeitslosigkeit. ({2}) Deswegen kann ich es auch gar nicht oft genug betonen: Eine Ausbildung ist ein guter Start ins Berufsleben. Wir tun alles dafür, dass Karrieremöglichkeiten gerade auch aus der beruflichen Ausbildung heraus erleichtert und gefördert werden. Die Dualität in der Ausbildung, das Zusammenspiel von Theorie und Praxis bedeutet gerade in einer sich so schnell wandelnden Arbeitswelt Fähigkeiten und Fertigkeiten, bedeutet Einsatzfähigkeit auf dem Arbeitsplatz, schnell und mit hoher Expertise. Deswegen haben wir die Ausbildung für junge Menschen noch attraktiver gemacht. Wir haben das Berufsbildungsgesetz in dieser Legislaturperiode modernisiert. Ich will da nur die Mindestvergütung für Auszubildende nennen, mehr Flexibilität und auch die internationale Vergleichbarkeit der Fortbildungsstufen. Auch mit finanzieller Unterstützung begleiten wir unsere beruflichen Aufsteiger, egal ob sie sich als Maurer, als IT-Kaufmann oder auch in sozialen Berufen weiterbilden wollen. Mit höheren Zuschüssen, mit höheren Freibeträgen und mit modernen Strukturen begleiten wir unsere beruflichen Aufsteiger Schritt für Schritt bis auf Masterniveau. Wir machen damit lebenslange Weiterbildung attraktiv, und wir wollen Weiterbildung als Teil unseres Lebens verankern. ({3}) Das Innovationsland Deutschland braucht viele gut ausgebildete Fachkräfte. Fachkraft bleibe ich aber nur, wenn ich mich immer wieder neuen Anforderungen stelle. Genauso muss auch die Ausbildung selbst sich immer wieder neuen Anforderungen stellen. Es geht um Innovationen durch die Ausbildung, aber ebenso geht es um Innovationen in der Ausbildung. Die Ausbildung selbst muss neue Technologien wie die Digitalisierung oder auch die künstliche Intelligenz nutzen. Nur so bleiben wir als Innovationsland weiter an der Spitze. Liebe Kolleginnen und Kollegen, in der nächsten Woche treffe ich mich mit meinen europäischen Bildungsministerkollegen in Osnabrück. Wir wollen gemeinsam noch mal Lehren aus der Coronakrise ziehen: Was hat sich verändert? Aber genauso werden wir uns mit dem Schwerpunkt berufliche Bildung beschäftigen. Wir haben uns vorgenommen, während der deutschen Präsidentschaft die europäische Zusammenarbeit in der Berufsbildung neu zu justieren. ({4}) Eine leistungsstarke berufliche Bildung kann einen großen Beitrag dazu leisten, dass sich die Wirtschaft in ganz Europa schnell erholt. Die berufliche Bildung ist damit eine Chance für die vielen, vielen jungen Menschen in ganz Europa, für jeden Einzelnen, aber natürlich auch für unsere gesamten Gesellschaften. Sie ist damit eine tragende Säule unserer Volkswirtschaft, und die duale Ausbildung ist ein Versprechen für den künftigen Wohlstand Deutschlands. Wir brauchen sie, wir schätzen sie, und ich werde alles dafür tun, dass das auch jeder erkennt. Herzlichen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Anja Karliczek. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Dr. Götz Frömming. ({0})

Dr. Götz Frömming (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004722, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Ministerin! Wir diskutieren den Berufsbildungsbericht 2020, der sich auf die Daten aus dem Jahr 2019 bezieht. Der Bericht wurde ja bereits im April abgeschlossen und lag interessierten Lesern vor. Jetzt im September diskutieren wir hier im Parlament das erste Mal darüber. Meine Damen und Herren, das zeigt doch, welche Priorität Sie diesem Thema in Wahrheit zumessen, nämlich nicht die erste. Das muss sich dringend ändern. ({0}) Auch wenn inzwischen die Daten natürlich überwiegend veraltet sind, lassen sich doch aus dem vorliegenden Bericht einige langfristige Trends ablesen – und diese, meine Damen und Herren, sind besorgniserregend. Von 2008 bis 2019 haben wir einen Rückgang von 15 Prozent, was die Zahl der abgeschlossenen Ausbildungsverträge anbelangt, zu verzeichnen. Die duale Berufsausbildung, die ja international eine hohe Anerkennung genießt – zu Recht –, ist in Wahrheit längst chronisch erkrankt. Die Gründe dafür sind vielfältig. Zum einen ist die demografische Krise zu nennen. Immer weniger Kinder, vor allen Dingen immer weniger deutsche Kinder, werden geboren, und das führt natürlich dazu, dass wir immer weniger Schulabgänger haben. Innerhalb von zehn Jahren gab es hier einen Rückgang um 100 000. Hinzu kommt, dass unter diesen Schulabgängern immer weniger einen soliden Haupt- und Realschulabschluss vorweisen können, und gerade der Haupt- und Realschulabschluss ist ja die wichtigste Eintrittskarte in die duale Berufsausbildung. Stattdessen, meine Damen und Herren, erleben wir eine Aufblähung und Inflation des Abiturs, eine Aufblähung auch an den Universitäten. Wir haben immer mehr Akademiker. ({1}) Allerdings wissen wir auch – die Zahl, Herr Gehring, wollen Sie immer nicht hören; sie stimmt trotzdem –, dass jeder dritte Student sein Studium erfolglos abbricht. Und auch das gehört zur Wahrheit dazu: Die Abbruchquote unter ausländischen Studenten ist dabei doppelt so hoch wie die unter deutschen Studenten. ({2}) Meine Damen und Herren, wir meinen, diese jungen Leute gehören überwiegend gar nicht an die Universitäten. ({3}) Sie gehören in die berufliche Ausbildung. ({4}) Diese Ihre Politik führt natürlich dazu, dass wir inzwischen eine erschreckend hohe Ungelerntenquote haben; sie beträgt nämlich 14,4 Prozent. Das sind 2,12 Millionen junge Menschen im Alter von 20 bis 34. Auch hier gilt – Sie wollen es wieder nicht hören –: Bei Migranten ist die Quote doppelt so hoch. Bei türkischstämmigen Menschen haben wir sogar 52 Prozent ohne eine Ausbildung. ({5}) – Ich zitiere nur aus dem vorliegenden Bericht. Sie können das alles nachlesen. Meine Damen und Herren, zur Wahrheit gehört auch, dass die Quote noch schlimmer wäre, wenn wir die Flüchtlinge erfassen würden. Das tun wir aber nicht mehr; denn, wie der Bericht uns verrät, 2017 wurde die Erhebungsmethode umgestellt. Flüchtlinge, die nicht in Privathaushalten leben, werden nämlich gar nicht mehr erfasst, was ihren Ausbildungsstand anbelangt. ({6}) Meine Damen und Herren, die Coronapolitik der Bundesregierung führt zusätzlich dazu, dass zahlreiche der 400 000 Ausbildungsbetriebe kurz vor dem Ruin stehen. Wir meinen, dass wir insbesondere den kleineren Betrieben helfen müssen. Die AfD-Fraktion hat deshalb einen Antrag vorgelegt, der acht konkrete Maßnahmen enthält, wie insbesondere den kleinen Betrieben geholfen werden kann. Dazu gehört auch, das Kurzarbeitergeld für Auszubildende gleich vom ersten Tag an auszuzahlen. ({7}) Meine Damen und Herren, die Auszubildenden, die heute in die Ausbildung gehen, das sind diejenigen, die morgen unsere Rente erwirtschaften sollen. ({8}) Ich finde, wir dürfen sie nicht im Stich lassen. Vielen Dank. ({9})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön. – Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Yasmin Fahimi. ({0})

Yasmin Fahimi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004713, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer an den Monitoren! Nur eine Anmerkung an meinen Vorredner. Herr Frömming, ich will Sie nur darauf hinweisen: Das ist hier ein freies Land und ein Land, das sich stets darum bemüht, sich gegen Diskriminierung aufzustellen. Deswegen ist die duale Ausbildung nicht nur eine Ausbildung für in Deutschland Geborene, sondern für alle, das heißt auch für Migrantinnen und Migranten, die im Übrigen sehr viel dazu beitragen, dass wir in Deutschland überhaupt noch einen funktionierenden Fachkräftemarkt haben. ({0}) Ich will auf einen Befund des Berufsbildungsberichtes eingehen. In der Tat ist die Vertragslösungsquote, die es auch in der beruflichen Ausbildung gibt, mit 26,5 Prozent auch aus meiner Sicht zu hoch. Dieser Wert ist Anlass, dass wir uns noch einmal Gedanken darüber machen, wie wir eigentlich die Berufsorientierung aufstellen, welche Qualität, welche Spielräume in den Schulen wir dazu brauchen, aber auch darüber, welche Attraktivitätssteigerungen für die Auszubildenden – das heißt bessere Ausbildungsbedingungen – wir eigentlich sicherstellen müssen. „Lehrjahre sind keine Herrenjahre“, sagt man so schön. Ja, das gilt aber nicht nur für die Auszubildenden, das gilt auch für die Ausbilder. Und deswegen ist es gut und richtig, dass wir mit der Novelle zum Berufsbildungsgesetz die Rechte der Auszubildenden verbessert haben und dass wir als SPD-Fraktion darauf gedrängt haben, dass es endlich eine Mindestausbildungsvergütung gibt. ({1}) Der Anstieg des Anteils junger Menschen ohne Berufsabschluss – das ist ein zweiter Befund – muss uns allerdings auch Sorgen machen. 14,4 Prozent sind es inzwischen; das ist jeder siebte Jungerwachsene. Das deutet auch darauf hin, dass wir neben der Berufsorientierung vor allem einen besseren Übergang von Schule in Ausbildung brauchen. Wir brauchen Ausbildungslotsen, die tatsächlich dabei helfen, die verschiedensten Probleme zu lösen, seien sie sozialpädagogischer, psychischer oder sonstiger Art, um junge Schulabgänger in Betriebe zu vermitteln. Das muss regelkreisübergreifend sein. Deswegen glaube ich auch, dass die duale Einstiegsqualifizierung, wie sie in vielen Sozialpartnermodellen schon sehr erfolgreich gelebt wird, etwas ist, was wir uns sehr genau dahin gehend anschauen müssen, inwiefern wir das verallgemeinern können. Aber – das sage ich an der Stelle auch, weil ich ja schon einige Gedanken der FDP-Fraktion dazu kenne – das darf nicht zu einem neuen Erprobungsjahr vor der Ausbildung werden. Man würde dann quasi sagen: Ach, dann gucken wir uns den mal ein Jahr an, ob wir den tatsächlich in Ausbildung übernehmen. – Es muss eine sehr spezifische Übergangsregelung für diese jungen Menschen geben, die hilft, individuelle Probleme zu überwinden und sie tatsächlich bis zum Ausbildungsabschluss zu begleiten. Ich will als Drittes kurz den Anstieg schulischer Ausbildungsgänge in den Gesundheits-, Erziehungs- und Sozialberufen ansprechen; er liegt bei fast 4 Prozent. Das ist sehr erfreulich, weil wir diese jungen Menschen und diese Fachkräfte brauchen. Aber sie brauchen auch uns. Ich finde, es ist an der Zeit, darüber zu reden, wie wir dieses Zweiklassensystem der Ausbildung in Deutschland beenden: die duale Ausbildung gemäß Berufsbildungsgesetz einerseits und alle anderen Ausbildungen in einem Wildwuchs von 16 Bundesländern andererseits. Wir brauchen in Deutschland endlich ein neues Berufsgesetz, das Berufe auch in diesem Bereich ordnet, Rechte und Pflichte einheitlich klärt und eine bundesländerübergreifende Anerkennung sicherstellt. ({2}) Ich möchte zum Schluss natürlich auch darauf eingehen, dass die Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge gesunken ist, ja – und dabei beziehe ich mich auf Zahlen von vor der Pandemie. Wir kennen inzwischen auch andere Zahlen, nicht zuletzt vom Bundesinstitut für Berufsbildung, die prognostizieren, dass für das kommende Ausbildungsjahr 45 000 Ausbildungsplätze weniger angeboten werden. Wir wissen genau: Wer einmal aus der Ausbildung ausgestiegen ist, der tut sich mit einem Wiedereinstieg schwer. Selbst wenn einige Bewerberzahlen zurückgehen, weil es eine Umorientierung auf die akademische Ausbildung gibt – was im Übrigen nicht einfach eine Konkurrenz zur dualen Ausbildung ist, so nach dem Motto „Für die Eliten das eine und für den Rest, das Fußvolk, das andere“, sondern was zwei attraktive Berufswege sein sollen –, müssen wir darüber reden, wie wir die Attraktivität der Ausbildung weiter steigern können und wie es uns gelingt, dass zum Beispiel Hauptschüler besser vermittelt werden. Der Markt alleine wird es nicht regeln. Deswegen, glaube ich, ist es an der Zeit, darüber zu reden, dass diese Generation nicht zu einer verlorenen „Generation Corona“ wird. Wir müssen darüber reden, dass es endlich eine Ausbildungsplatzgarantie in Deutschland geben muss. „Qualifizieren, nicht parken“, das muss unser Motto sein. ({3}) Wir haben als Bundesregierung und als SPD-Fraktion schon einiges getan. Der Schutzschirm für Ausbildung, auf den wir sehr gedrängt haben, ist hier schon genannt worden. Es ist jetzt die Stunde der Regierung. Sie muss dafür sorgen, dass es in den kommenden Ausbildungsjahren nicht zu einem weiteren Abbau der Ausbildungsplätze kommt. Frau Ministerin Karliczek, das ist natürlich die Kennzahl, an der wir alle prüfen werden, ob die Regierung hier weiterhin handlungsfähig ist. Wir als SPD – das ist jedenfalls klar – kämpfen nicht nur um jeden Arbeitsplatz, sondern auch um jeden Ausbildungsplatz. Deswegen werden wir es aufmerksam und konstruktiv begleiten, wenn neue und zusätzliche Maßnahmen notwendig sind. Vielen Dank. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Yasmin Fahimi. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Dr. Jens Brandenburg. ({0})

Dr. Jens Brandenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin! Wie so oft diskutieren wir heute über die berufliche Bildung. Das ist ärgerlich – nicht weil sie diese Aufmerksamkeit nicht verdient hätte, sondern weil sich die Koalition auch heute mal wieder nicht zu relevanten Entscheidungen durchringen kann. Dabei wären mutige Schritte heute notwendiger denn je. Corona hat die berufliche Bildung hart getroffen. Ausbildungsmessen fallen aus, die Berufsorientierung lief de facto auf Sparflamme, Berufsschulen waren geschlossen und oft schlecht auf digitale Lehre vorbereitet. Ausbildende Betriebe kämpfen ums Überleben. Viele Ausbilder sind in Kurzarbeit. Auszubildende sorgen sich um ihre Übernahme. Wir haben es eben gehört: Für neue Auszubildende stehen in diesem Jahr fast ein Zehntel weniger Plätze zur Verfügung, und gleichzeitig bewerben sich immer weniger Schulabgänger um eine berufliche Ausbildung. Corona hat Probleme verschärft, die vorher schon sichtbar waren. Und was macht die Bundesregierung? ({0}) Sie meint, mit einer kleinen Prämie sei ja schon alles getan. Frau Karliczek, kein Betrieb dieser Welt macht die Entscheidung für oder gegen eine dreijährige Ausbildung an 2 000 Euro mehr oder weniger fest. Das ist lächerlich! ({1}) Wenn Sie es ernst meinen, stärken Sie die Ausbildung dauerhaft. Wir Freie Demokraten haben ja einen „Azubi-Pakt 2030“ vorgeschlagen, der Ausbildungen vollständig steuer- und abgabenfrei stellt. Das entlastet Betriebe und gönnt auch Auszubildenden etwas mehr in der Tasche. Stärken Sie die Berufsschulen mit einem Digitalpakt 2.0, der auch in pädagogische Konzepte, Lehrerfortbildungen und in professionelle IT-Kräfte an den Schulen investiert. Und schaffen Sie in allen Branchen endlich verlässliche Umsatzperspektiven, damit sich Betriebe die Ausbildung überhaupt wieder leisten können. ({2}) Corona darf nicht zur Bildungsbremse werden. Hören Sie auf mit symbolischen Miniprämien, und kümmern Sie sich um die großen Baustellen. Die berufliche Bildung hätte es verdient. Ja, Corona ist zur Ausbildungsbremse geworden. Aber, Frau Karliczek, Sie haben das Gaspedal auch vorher schon nicht gefunden. Mit Symboldebatten und Schaufensteretiketten wie „Bachelor Professional“ haben Sie viel wertvolle Zeit verloren. Jetzt geht es um einen Blick nach vorne. Jede Krise ist ja auch eine Chance für Neues. Wir Freie Demokraten wollen die 20er-Jahre zur Turbodekade für die berufliche Bildung machen: Sorgen wir mit einer „Exzellenzinitiative berufliche Bildung“ für einen neuen Innovationsschub. Bringen wir auch an Gymnasien Azubis in die Klassen, um authentisch für ihre Berufe zu werben. Machen wir die Berufsschulen fit für die digitale Arbeitswelt – mit digitalen Lernmethoden, modernen Lernfabriken ({3}) und kreativen Maker Spaces. Stärken wir internationale Kompetenzen mit einer europäischen Austauschagentur und mit internationalen Berufen, bei denen Auslandsaufenthalte in der Ausbildungsordnung fest vorgesehen sind. Und erleichtern wir endlich den über 2 Millionen jungen Ungelernten ihren Weg in die berufliche Qualifikation. ({4}) Es gibt wirklich viel zu tun. Packen Sie es endlich an! Einen letzten Punkt möchte ich noch herausgreifen, weil er heute zur Entscheidung ansteht: Menschliche Begabungen und Talente sind vielfältig. Sie zeigen sich eben auch in sozialen Kompetenzen und in der Fähigkeit, theoretische Erkenntnisse in ganz praktische, innovative Anwendungen zu übersetzen. Deshalb haben wir Freie Demokraten hier im Bundestag beantragt, die 13 deutschen Begabtenförderungswerke für die besten Talente aus der beruflichen Aus- und Weiterbildung zu öffnen. Sie alle reden doch ständig von Gleichwertigkeit und Durchlässigkeit; aber das geht Ihnen jetzt zu weit. Die Hochschulstipendiaten wollen Sie in einem akademischen Elfenbeinturm isolieren. Was befürchten Sie denn eigentlich? Immerhin, die Grünen haben sich erfreulicherweise unserer Forderung angeschlossen; sie wollen aber ausgerechnet in den politiknahen Stiftungen erst mal unter sich bleiben. ({5}) Warum sollen denn bei der Heinrich-Böll-Stiftung Germanisten und Theaterwissenschaftlerinnen über den Klimawandel diskutieren, wenn gleichzeitig der Förster und die Anlagenmechanikerin außen vor bleiben müssen? Das ist scheinheilig. ({6}) Große Talente gibt es nicht nur an den Hochschulen. Also, zeigen Sie, dass Sie es ernst meinen, und stimmen Sie heute unserem Antrag zu. Wir Freie Demokraten wollen weltbeste Bildung für jeden.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Sie meinen es ernst mit der Redezeit.

Dr. Jens Brandenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich komme zum Ende. – Es geht um dein Talent, deine Zukunft, und dafür kämpfen wir. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Jens Brandenburg. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Dr. Birke Bull-Bischoff. ({0})

Dr. Birke Bull-Bischoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004688, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es war klar, dass die wirtschaftliche Krise auch die berufliche Ausbildung in schwieriges Fahrwasser bringen wird. Deshalb haben wir bereits vor dem Sommer einige Maßnahmen für ein Krisenmanagement vorgeschlagen, um Azubis zu schützen, um die Qualität der Ausbildung unter Krisenbedingungen zu sichern und letztlich, über den Tellerrand hinausblickend, um Ausbildung auch krisenfest zu machen. Vorgeschlagen war und ist, einen Ausbildungsbonus für Unternehmen zu finanzieren. Den gibt es inzwischen. Wir sagen aber: Es muss prinzipiell darum gehen, über eine solidarische Umlagefinanzierung der Ausbildung vor allen Dingen Klein- und Kleinstunternehmen finanziell zu unterstützen. ({0}) In der Bertelsmann-Studie wurden die Ausbildungskosten als ein wesentlicher Grund dafür herausgearbeitet, dass sich Klein- und Kleinstunternehmen aus der Ausbildung zurückziehen. Wir sagen: Wir brauchen ein Recht auf Ausbildung. Das heißt ganz praktisch für diejenigen, die im Moment keinen Ausbildungsplatz finden, dass sie einen bekommen, der öffentlich finanziert ist, ({1}) und zwar, ja, im Bereich der außerbetrieblichen Ausbildung, als Maßnahme in der Krise, wohlgemerkt, und eben nicht als Dauerzustand; denn wir haben schon über 2 Millionen junge Menschen, die ohne Berufsausbildung auf dem Arbeitsmarkt unterwegs sind. ({2}) Wir wissen alle, was das bedeutet. Das kann nicht so bleiben; denn eine gute Ausbildung entscheidet letztlich sehr grundsätzlich über gute Arbeit und gute Löhne, und wir brauchen ausgebildete Fachkräfte. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, warum eigentlich haben künftige Erzieherinnen und Erzieher kein verbrieftes Recht darauf, eine Ausbildungsvergütung zu bekommen? Wir finden das falsch, wir finden das ungerecht; das muss und kann geändert werden. ({4}) Seit vielen Jahren weise ich auf dieses Thema hin; doch wir kommen nicht voran. Mehr als 25 Prozent der jungen Leute wählen diese schulische Ausbildung – Gesundheits- und Pflegeberufe, pädagogische Berufe –, und es sind meistens Frauen. Vielfach kriegen sie keine Ausbildungsvergütung und erwerben damit keine Rentenanwartschaft. Bestenfalls gibt es vorübergehende Lösungen, die durch die Bundesgelder für zwei Jahre gesichert sind. Mitunter müssen sie Schulgeld zahlen, nämlich dann, wenn sie bei freien Trägern ausgebildet werden. Auch das ist unterschiedlich geregelt. So ist zum Beispiel eine assistierte Ausbildung – eine unterstützende Maßnahme gemäß SGB III – für sie nicht zugänglich. Es gibt kein verbrieftes Recht auf eine Auszubildendenvertretung, wie wir es aus dem BBiG und der Handwerksordnung kennen, und auch die Sozialpartner sind außen vor, wenn es darum geht, wie ein Beruf entsteht, wie er weiterentwickelt wird, wie er zukunftsfest gemacht werden kann. Ich finde, das muss sich ändern. ({5}) Es ist Ihnen ja selbst bekannt, dass da was schräg ist, und zwar schon seit Jahrzehnten. Im Koalitionsvertrag finden sich ja durchaus gute Absichten: der Abbau von finanziellen Ausbildungshürden für schulische Ausbildungsberufe, die Abschaffung des Schulgeldes für Gesundheitsfachberufe oder die Einführung einer Ausbildungsvergütung. Nur ist das bisher nur Text auf geduldigem Papier. Wir haben Ihnen zwei Anträge vorgelegt. Was sind die Kernpunkte? Zum Ersten: Ausbildungsvergütung muss verbindlich und verbrieft gewährt werden. ({6}) Zweitens. Schulgeld gehört abgeschafft, und zwar genauso verbrieft wie im Pflegeberufegesetz. ({7}) Ausbildungsverträge müssen den Aufbau von Rentenanwartschaften beinhalten. Meine Damen und Herren, es kann nicht sein, dass gerade Frauen in sogenannten Frauenberufen am Ende eines arbeitsreichen Lebens in die Armut geführt werden. ({8}) Wir brauchen für die Azubis – genau genommen sind es Schülerinnen und Schüler – jetzt Schutz- und Teilhaberechte, und wir müssen ihnen den Zugang zu unterstützenden Möglichkeiten gemäß SGB III und BBiG gewähren. Was ich ebenso wichtig finde: Für die Entwicklung der Berufsbilder braucht es die Kompetenz und die demokratische Willensbildung der Sozialpartner, der Gewerkschaften, der Arbeitgeber, meinetwegen auch eine staatliche Beteiligung. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, als Erstes höre ich jetzt selbstverständlich die Rufe „Das geht alles gar nicht!“, „Da sind die Länder zuständig!“ oder „Das darf der Bund nicht!“. Doch, meine Damen und Herren, er darf. Die Enquete-Kommission „Berufliche Bildung in der digitalen Arbeitswelt“ hat sich dazu in einer Anhörung umfassende Expertise eingeholt. Der Weg wäre frei – auf der Basis der konkurrierenden Gesetzgebung gemäß Artikel 74 des Grundgesetzes –, wenn der Wille da wäre. ({9}) Wir haben obendrein das Fachkräftegebot gemäß SGB VIII, was uns dazu berechtigt. Also: Nur zu! Ich unterstelle mal, dass Sie diese Vereinbarung, die Sie im Koalitionsvertrag getroffen haben, nicht zur allgemeinen Erbauung da hineingeschrieben haben, sondern um die Situation der Schülerinnen und Schüler in der schulischen Ausbildung zu verbessern. Dann machen Sie es; denn die Ungleichbehandlung von schulischer und dualer Ausbildung muss beendet werden. ({10})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Birke Bull-Bischoff. – Die nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Beate Walter-Rosenheimer. ({0})

Beate Walter-Rosenheimer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004221, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Ministerin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Liebe Zuschauer und Zuschauerinnen! Der „Berufsbildungsbericht 2020“ hat uns Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt aufgezeigt, die uns Sorgen bereiten. Trotz des großen Fachkräftemangels werden weniger junge Menschen ausgebildet als in den Jahren zuvor, und das ist irgendwie paradox. Da gibt es nichts zu feiern, Frau Ministerin. Andersherum müsste es sein: ({0}) Mehr junge Menschen müssen in Ausbildung, um die beruflichen Chancen, die der Mangel bietet, gut nutzen zu können. ({1}) Immer noch hängen circa 255 000 junge Menschen in Warteschleifen, im Übergangssystem. Das ist einfach zu viel. ({2}) Bedenklich ist auch, dass sich immer mehr Betriebe vollständig aus der Ausbildung zurückziehen. Nicht einmal jedes fünfte Unternehmen bildete im Jahr 2019 noch aus, und das, obwohl viele Unternehmen gern ausbilden wollen, sich personell und finanziell dazu aber nicht imstande sehen. Hier brauchen wir klare Konzepte, die den Betrieben wirklich helfen, damit diejenigen, die ausbilden wollen, auch ausbilden können. ({3}) Stichwort „Ausbildung in der Krise“: Wir alle hatten Angst, dass sich die Lage verschärfen würde. Man kann zumindest eine Teilentwarnung geben. Wir haben nicht den ganz großen Einbruch bei den Ausbildungszahlen; aber wir sprechen immerhin von einem Rückgang von 8 Prozent. Alarmierend ist, dass uns Verbände und Organisationen berichten, dass circa 30 000 junge Menschen in der Krise vom Radar verschwunden sind. Wo sind die? Diese jungen Menschen zu verlieren, das dürfen wir uns nicht leisten. ({4}) Die Krise hat uns die Anfälligkeit des Ausbildungssystems deutlich gemacht. Wir haben gesehen, Frau Ministerin, dass die berufliche Bildung, die ein Stiefkind des Bildungssystems ist, in der akuten Krisensituation zu sehr hintenanstand. ({5}) Wir haben die Schwächen bei Digitalisierung und Krisenmanagement deutlich gesehen. Viele haben sie auch deutlich gespürt, Frau Ministerin. Ihre kurzfristigen Maßnahmenpakete allein werden nicht ausreichen, um Ausbildung zukunftsfest und krisensicher zu machen. Deshalb wollen wir die Erfahrungen aus der Krise für einen langfristigen und auch längst überfälligen Modernisierungsschub nutzen. Das haben Sie bisher versäumt. ({6}) Wir fordern, die beschlossenen Unterstützungsinstrumente begleitend zu evaluieren und ein umfassendes Update für das Lernen in Betrieb und Berufsschule auf den Weg zu bringen. Dazu gehört eine Ausbildungsgarantie, die jungen Menschen sichere Brücken ins Berufsleben baut, und dazu gehört eine deutliche Aufwertung der systemrelevanten Ausbildungsberufe im Gesundheits-, Pflege- und Erziehungsbereich. Längst überfällig und zwingend erforderlich ist eine Digitalisierungsoffensive für die beruflichen Schulen. ({7}) Auf in ein neues Zeitalter, Ausbildung gestalten statt verwalten, Frau Karliczek! Gehen wir die Veränderungen jetzt an, und machen wir diesen Bereich zukunftssicher und krisenfest, damit unser großer Exportschlager, das duale System, auch wirklich Zukunft hat. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Beate Walter-Rosenheimer. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Stephan Albani. ({0})

Stephan Albani (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004241, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Bürger an den Monitoren zu Hause! Ja, wir debattieren heute den Berufsbildungsbericht. Das ist richtig. Egal ob wir ihn im April oder heute diskutieren: Grundlage sind die Zahlen von 2019, die vor allen Dingen eine Eigenschaft haben: Sie kamen vor den großen Veränderungen zustande, die wir in dieser Legislatur durchgeführt haben. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an meine Worte „,Los Wochosʼ für die berufliche Bildung“. Wir haben eine Menge auf den Weg gebracht. Das Berufsbildungsmodernisierungsgesetz ist zum Anfang dieses Jahres gestartet. Hinzu kommt das Aufstiegs-BAföG mit großen Veränderungen, mit Vollzuschuss, mit der Möglichkeit, wenn man einen Betrieb übernimmt, die Gesamtkosten erlassen zu bekommen, mit deutlichen Steigerungen. All diese Dinge sind dieser Tage überhaupt erst ans Netz gegangen. Diejenigen, die entweder die Zahlen aus dem Bericht oder die Zahlen aus diesem Jahr zugrunde legen, machen ungefähr den Fehler, den ein Mensch macht, der glaubt, dass mit dem Kaufen einer Tablette in der Apotheke die Schmerzen bereits vorbei sein können. Das ist falsch. Man muss sie immer auch schlucken. Wir haben uns auf Maßnahmen geeinigt – das heißt, wir sind auf dem Weg –, und das haben wir gemeinsam getan – das ist etwas sehr Wichtiges –: in allen Bereichen, mit den Sozialpartnern, mit der Politik. Mir ist an dieser Stelle sehr wichtig, dass wir uns darüber klar werden, dass man sich bei all diesen Veränderungen immer überlegen muss: Wann werden sie wirken? Wir können davon ausgehen, dass die vorgenommenen Änderungen sich überhaupt erst bei denjenigen Auszubildenden auswirken, die in diesem Jahr ihre Ausbildung beginnen. Eben wurde gesagt, unter Corona sei das Angebot an Lehrstellen gesunken. Ja, Angebot und Nachfrage sind gesunken. Wenn man die Zahlen ehrlich betrachtet, stellt man fest: Der gesamte Ausbildungsmarkt ist um 8 Prozent kleiner geworden. Das Verhältnis von angebotenen zu nachgefragten Stellen liegt in diesem Jahr bei 110 zu 100. Noch mal: 110 angebotene Stellen stehen 100 Nachfragenden gegenüber. Das heißt, wir haben ein Überangebot, und wir dürfen davon ausgehen, dass die bisher noch nicht Versorgten bis Ende September eine Stelle finden können. ({0}) Insbesondere im Zuge von Corona haben wir noch vor der Sommerpause ein sehr umfassendes Paket im Wert von einer halben Milliarde Euro beschlossen. Aus den Betrieben in meinem Wahlkreis kommt durchaus die Rückmeldung, dass man sehr positiv wahrnimmt, dass diejenigen, die von Corona betroffen sind und bei aller Kraftanstrengung und allen Schwierigkeiten die Ausbildungsplätze halten, eine Unterstützung von 2 000 Euro pro Ausbildungsplatz bekommen. Diejenigen, die sogar noch darüber hinausgehen und sagen: „Gerade jetzt müssen wir in Zukunft investieren“ – das muss man sich klar machen: diejenigen, die heute ausgebildet werden, sind in drei bis fünf Jahren fertige Kräfte, und dann werden wir sie brauchen –, bekommen eine Unterstützung von 3 000 Euro. Für diejenigen, die trotz aller Bemühungen, insbesondere im Bereich der wirtschaftlichen Unterstützung der Unternehmen, nicht in der Lage sind, die Ausbildung in ihrem Betrieb weiterzuführen, sind entsprechende Hilfen vorhanden, wenn andere Betriebe diese Auszubildenden übernehmen. Ich halte das für richtig, und ich halte das für wirksam. Des Weiteren muss man sich vor Augen führen, dass im September 2019 laut Berufsbildungsbericht 53 100 offene Stellen 24 500 suchenden jungen Menschen gegenüberstanden. Also auch hier haben wir eher Passungsprobleme im System – derer wir uns annehmen müssen; das ist richtig –, und dafür werden entsprechende Maßnahmen ergriffen. Das Nächste, was ich hier noch klarstellen wollte, ist: Die Anzahl – das zeigt der Bundesbildungsbericht auch – der in die Berufsbildung Gehenden war vor der Coronapandemie gegen den Trend eher sogar ansteigend. Während die Zahlen in anderen Bereichen demografisch eher zurückgingen, hatten wir hier einen Zuwachs zu verzeichnen. Auch das muss man an dieser Stelle einmal bewerten. Das heißt, die Attraktivität in diesem System ist weiterhin vorhanden. Liebe Kollegin Fahimi, das muss ich korrigieren: Es waren zwar 26,5 Prozent Vertragslösungen zu verzeichnen – das ist richtig –; aber es ist sehr hilfreich, wenn man noch dazusagt, dass 60 Prozent der Auszubildenden ihre Ausbildung in einem anderen Betrieb weiterführen könnten. Das bedeutet: Ein Abbruch kann auch mit einem Umstieg einhergehen. Auch das sollte man an dieser Stelle berücksichtigen. Insofern komme ich in aller Kürze noch zu den – –

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Sie müssen sich wirklich sehr kurzfassen.

Stephan Albani (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004241, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, davon können Sie ausgehen. – Die suggerierte Schieflage im System ist nicht vorhanden, liebe AfD. Die Ausbildungsumlage, liebe Linke, ist kalter Kaffee und würde die Unternehmen momentan eher belasten als ihnen helfen. Die Förderungen gestalten wir schön mit dem Schraubenzieher: ordentlich für die Akademiker und für die Berufsbildung mit dem SBB-Stipendium. Da sind wir gut dabei. Im Antrag der Grünen habe ich viele Vorschläge gefunden, die wir schon umsetzen. Ich glaube, wir sind auf dem Weg, es ganz ordentlich zu machen. Herzlichen Dank. – Und stellvertretend für alle, die ihre Ausbildung jetzt beginnen, –

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Albani!

Stephan Albani (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004241, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

– wünsche ich Marco, meinem Praktikanten, alles Gute. Wir brauchen euch. Er wird eine Pflegeausbildung machen. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Es geht hier gerade um Bildung in dieser Debatte. Jetzt bilde ich Sie mal weiter: Wenn da vorne ein rotes Licht leuchtet, dann heißt das: Bitte kommen Sie zum Schluss. – Wir sind heute schon sehr weit mit der Zeit vorangeschritten, und möglicherweise geht es bis heute Abend. Deswegen bitte ich, die Redezeiten einzuhalten; sonst ziehe ich bei Ihren Kolleginnen oder Kollegen Redezeit ab. Die nächste Rednerin: für die AfD-Fraktion Nicole Höchst. ({0})

Nicole Höchst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004753, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Werte Kollegen! Liebe Bürger! Ein Berufsbildungsbericht 2020 hauptsächlich aus Vor-Coronazeiten und vor den hochgejubelten Regierungsmaßnahmen – haben wir alles gehört. Opposition heißt aber nicht, Jubelarien singen, sondern genau hinsehen und das ansprechen, was alle anderen Parteien am liebsten ausblenden oder mit noch mehr Geld, schönen Phrasen und blindem Aktionismus zuwerfen wollen. Laut Statistischem Bundesamt gab es zum Winter 2020 weniger neue Ausbildungsverträge. Ja, der demografische Wandel ist auch auf dem Ausbildungsmarkt angekommen. ({0}) Deutsche bekommen schon lange zu wenige Kinder. Wir reden außerdem von stabil etwa 100 000 Kindern, die seit Jahrzehnten aus zumeist sozialer Indikation jedes Jahr abgetrieben werden. Diese Menschen fehlen. ({1}) Familiär oft tragisch, gesellschaftspolitisch skandalös und wirtschaftlich folgenschwer! Weniger neue Ausbildungsverträge also, und das trotz des ungebrochenen Zuzugs von rohdiamantgleichen Fachkräften aus aller Welt. Diese kommen heilsuchend und oft unverbildet. Während die Quote der Unqualifizierten bei 20- bis 34-jährigen Deutschen auf 8,3 Prozent sank, stieg sie bei den Bewerbern mit Migrationshintergrund auf satte 32,9 Prozent. Meine Damen und Herren, braucht Deutschland auf dem Sprung in die Digitalität wirklich eine stetig wachsende Anzahl unqualifizierter, womöglich unbildbarer Auszubildender? Wozu? ({2}) Der Bildungsstandort Deutschland und damit auch der Ausbildungs- und Wirtschaftsstandort Deutschland ist durch die fehlgehende Politik der letzten Jahrzehnte gefährdet, ja in seiner Existenz bedroht. Frau Fahimi möchte als Lösung auch gerne weiterhin mit viel Geld und tollen Programmen Auszubildende zum Jagen tragen. Und was bringen die Grünen neben teilweise durchaus sinnvollen Dingen? Geschlechtsspezifischem Berufswahlverhalten soll entgegengewirkt werden. ({3}) Wahnsinn! ({4}) Haben Sie eigentlich noch etwas anderes außer Geschlechts-, Umwelt- und Angstpropaganda im Kopf? Die Linken fordern neben durchaus Vernünftigem mehr Sozialismus. Super! Was sonst? ({5}) Sie möchten trotz Coronamaßnahmenkrise die Betriebe durch ihre Ausbildungsumlagenfinanzierung ungebührlich zusätzlich belasten. Das schafft keine zusätzlichen Ausbildungsverträge, schon gar nicht derzeit. ({6}) Die Alternative für Deutschland fordert mit allem Nachdruck, die Coronamaßnahmenkrise und die Zuzugskrise sofort zu beenden. ({7}) Wir fordern echte Wertschätzung der beruflichen Bildung statt einer billigen und letztlich inhaltsleeren Übernahme des AfD-Mottos: mehr Meister statt Master. Das geschieht bisher noch zu halbherzig.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Ihre Redezeit ist zu Ende.

Nicole Höchst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004753, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ja, ich komme zum Schluss. – Wir haben einen pragmatischen, realitätsbezogenen und wertschätzenden Antrag für die duale Ausbildung und die berufliche Bildung vorgelegt. Bitte stimmen Sie diesem zu! Vielen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Oliver Kaczmarek. ({0})

Oliver Kaczmarek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004063, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich fange mal mit Corona an, weil Corona bestehende Herausforderungen auch in der Berufsausbildung schonungslos offengelegt, aber auch neue Probleme geschaffen hat. ({0}) Vor allem aber hat Corona auch unterstrichen: Die Sicherung und die Weiterentwicklung der beruflichen Bildung ist eine herausragende Zukunftsaufgabe, und das muss sich auch in unserem politischen Handeln und auch in unseren politischen Debatten ablesen lassen. Die Lage auf dem Ausbildungsmarkt ist angespannt. Allein in Nordrhein-Westfalen haben von 30 Arbeitsamtsbezirken zu Beginn des Ausbildungsjahres 18 Bezirke weniger Stellen als Ausbildungsbewerberinnen und ‑bewerber gemeldet. Das zeigt: Wir müssen dafür arbeiten, dass es keinen Coronajahrgang gibt. ({1}) Dazu müssen wir zwei Dinge im Auge behalten: Erstens. Wir wollen so viele Ausbildungsplätze wie möglich erhalten. Deshalb ist es gut – und das ist keine Petitesse, Herr Brandenburg –, dass wir Unternehmen unterstützen, die ihre Ausbildungsplätze auch im neuen Ausbildungsjahr halten oder zusätzliche Ausbildungsplätze schaffen oder die Auszubildenden anderer Betriebe übernehmen. Das ist vielleicht nicht die gesamte Kostenübernahme, das ist aber jedenfalls ein Zeichen der Wertschätzung und eine Investition in die Zukunft, die wir vornehmen. ({2}) Zweitens. Wir müssen dafür sorgen, dass trotz Corona bestehende Ausbildungen ordentlich weitergeführt und abgeschlossen werden können. Der BIBB-Hauptausschuss hat das übrigens auch in seiner Stellungnahme zum Berufsbildungsbericht ausgeführt. Wie geht es weiter mit Prüfungen? Wie wirkt sich Kurzarbeit aus? Wie organisieren wir Verbundausbildungen und vieles mehr? Es ist deshalb gut, dass die Allianz für Aus- und Weiterbildung das aufgegriffen hat. Aber eine Erklärung allein reicht nicht. Wir erwarten jetzt, vier Monate nach der Erklärung der Allianz, dass die Bundesregierung die offenen Fragen klärt und dafür sorgt, dass Auszubildende trotz Coronafolgen ihre Ausbildung aufnehmen, fortsetzen oder beenden können. Hier braucht es mehr Tempo in der Umsetzung. Darum bitten wir Sie ganz herzlich, Frau Ministerin. ({3}) Der Berufsbildungsbericht zeigt aber auch strukturelle Defizite auf. Ich will da Beispiele nennen: Der demografische Wandel verändert natürlich entscheidend die Rahmenbedingungen für Berufsausbildung. Immer häufiger heißt es nicht mehr: Auszubildende konkurrieren um Ausbildungsplätze, sondern immer häufiger heißt es: Ausbildungsbildungsplätze und Unternehmen konkurrieren um Auszubildende. Es ist eine Aufgabe für die Unternehmen, dafür zu sorgen, mit attraktiven, qualitativ hochwertigen Ausbildungen Perspektiven zu schaffen, dass Leute sich für diese Ausbildungsberufe entscheiden. Übrigens gelingt das meist in Betrieben mit funktionierender Sozialpartnerschaft, mit Jugend- und Auszubildendenvertretungen viel besser als in anderen Unternehmen. Die Unternehmen müssen diese Aufgabe in ihrem eigenen Interesse erledigen, insbesondere in den Branchen, in denen immer noch Ausbildungsplätze unbesetzt bleiben, wie im Hotel- und Gaststättengewerbe und im Einzelhandel, um nur zwei Beispiele zu nennen. ({4}) Es ist aber auch eine Aufgabe für uns als Staat, dafür zu sorgen, dass wir alle mitnehmen, auch die, die nach der Schule noch etwas Zeit brauchen, die noch Vorbereitung brauchen. Ausbildungsbegleitende Hilfen und assistierte Ausbildung sind zwei Instrumente, mit denen wir zeigen: Wir geben niemanden auf. – Deshalb ist es gut, dass wir sie in dieser und der vorangegangenen Wahlperiode gestärkt haben, meine Damen und Herren. ({5}) Eine Ausbildung, die ein ganzes Leben reicht, ein Arbeitsleben in einem Beruf – das ist keine Perspektive mehr; das wissen die jungen Leute am besten. Die Herausforderung Weiterbildung spüren sie jeden Tag. Da müssen wir ihnen auch nichts Neues erzählen. Deshalb ist es gut, dass die Koalition hier geliefert hat. Wir haben das Berufsbildungsgesetz novelliert. Wir haben das Aufstiegs-BAföG novelliert. Wir haben eine Nationale Weiterbildungsstrategie und das Qualifizierungschancengesetz beschlossen. Das alles steht heute schon im Gesetzblatt und verbessert die Weiterbildungsmöglichkeiten für Beschäftigte. Wir brauchen aber auch zukünftig bessere Finanzierungswege, die miteinander verschränkt und lebenslang verfügbar sind. Statt BAföG und AFBG, also Aufstiegs-BAföG, nebeneinander brauchen wir gemeinsame oder zumindest eng verzahnte Instrumente für lebensbegleitendes Lernen, beruflichen Aufstieg oder auch Umorientierung, eine echte Unterstützung eben für lebensbegleitendes Lernen, die weit in die Zukunft reicht. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kaczmarek, Sie denken an die Redezeit?

Oliver Kaczmarek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004063, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bin gleich fertig. – Berufsausbildung als feste Grundlage für den weiteren Wohlstand in unserem Land, für Teilhabe, für ein in der Zukunft sicher Aufgestelltsein, das ist eine Riesenherausforderung für uns alle. Da heißt es: Nicht schwurbeln, sondern anpacken! Vielen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Oliver Kaczmarek. ({0}) – Sie brauchen sich gar nicht aufzuregen. Ich habe bei Ihnen auch 20 Sekunden zugegeben. ({1}) Keine Verschwörungstheorien hier oben! ({2}) – Was haben Sie gerade gesagt? ({3}) – Ach, Sie haben mit sich selber geredet von der Verschwörungspraktik. Gut. Das glaube ich, dass Sie mit sich selber geredet haben. ({4}) Nächster Redner: Dr. Thomas Sattelberger. ({5})

Dr. h. c. Thomas Sattelberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004869, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Meine Damen und Herren! Berufliche Bildung muss zukunftsfähig sein, wetterfestes Fundament für das ganze Leben, auch in Krisenzeiten. Hier besteht massiver Handlungsbedarf. Technologische Entwicklung ist oft sprunghaft. Berufsbilder unterliegen teils dem disruptiven Wandel. Es darf nicht das Ziel sein, der Industrie nur „Deckelchen aufs Töpfchen“ zu liefern, also nur für den aktuellen Bedarf auszubilden, sondern wir müssen auch die Menschen befähigen, mit ihren Talenten ihre Zukunft zu meistern. ({0}) Dazu gehört ein breitbandiges Fundament und kein schmalspuriges. Deswegen raten viele Wissenschaftler, das bisherige System schrittweise umzudrehen, also breite, digital kompetente Arbeitsmarktbefähigung in breiten Berufsfeldern an den Anfang, Employability, ({1}) und erst danach die Spezialisierung in Berufsbilder. Die Schweiz macht es vor. ({2}) Ein zweiter Punkt: das Übergangssystem zwischen Schule und Ausbildung. Es sollte eigentlich ein Rettungsnetz sein, eine zweite Chance auf eine Ausbildung. Doch leider geht es hierzulande, Frau Karliczek, zu 50 Prozent in die Hose, im vergangenen Jahr für mehr als 100 000 junge Menschen, aufaddiert inzwischen 2,1 Millionen Ungelernte. Das ist jede siebte Frau und jeder siebte Mann hierzulande zwischen 20 und 34 Jahren. Dazu sagen Sie kein Wort, Frau Karliczek, in Ihren glamourösen Erfolgsstorys. ({3}) Die Ursache: ein undurchschaubarer Dschungel an Einzelmaßnahmen, deren Qualität niemand evaluiert. Fatal für Deutschland, erst recht in der Coronazeit, in der digitale Berufe und digitale Wirtschaft rasant an Bedeutung gewinnen. Doch die Bundesregierung lässt den Maßnahmendschungel unbeirrt weiter wachsen. Sie misst nur, was hineingeht, aber nicht, was dabei herausgeht. ({4}) Frau Fahimi – Sie Hellseherin –, dazu trägt sozialdemokratische Politik auch bei. ({5}) Und diese Politik der faulen Hand setzt die Chancen Hunderttausender junger Menschen aufs Spiel. ({6}) Frau Karliczek, entrümpeln Sie dieses Übergangssystem! Schärfen Sie Ihre Machete und roden Sie den Dschungel! ({7}) Was junge Menschen mit Förderbedarf brauchen, ist ein einziges und gutes Förderprogramm – maximal ein Jahr –, in dem wir Persönlichkeiten nicht nach Noten aussieben, sondern anhand ihrer Kompetenzen einschätzen, und zwar sowohl am Anfang als auch am Ende.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Dr. Sattelberger, die Zeit ist vorbei.

Dr. h. c. Thomas Sattelberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004869, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Glauben Sie wenigstens einmal einem nicht ganz unerfolgreichen Personalchef, Frau Karliczek. ({0}) Ran an den Speck, solange er noch da ist! ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Dr. Sattelberger, ich danke Ihnen. – Nächste Rednerin: für die CDU/CSU-Fraktion Yvonne Magwas. ({0})

Yvonne Magwas (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004346, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die berufliche Bildung ist auch weiterhin eine gute Grundlage für eine Karriere in unserem Land. Die Koalition hat in dieser Legislaturperiode ja auch sehr viel für die berufliche Bildung getan. ({0}) Ich möchte kurz erinnern an die Novellierung des Berufsbildungsgesetzes und an das AFBG, das Aufstiegs-BAföG. Hier haben wir die finanzielle Attraktivität der beruflichen Bildung gesteigert, aber auch Karrierechancen durch die berufliche Bildung ermöglicht. ({1}) Kaum war das abgeschlossen, wurden wir mit der Pandemie und den damit verbundenen ökonomischen Unsicherheiten konfrontiert. Ich bin mir allerdings sicher: Die duale Berufsausbildung wird ihre Anpassungsfähigkeit auch dieses Mal wieder unter Beweis stellen. – Ja, als Regierungskoalition sind wir gefragt, hier auch zu handeln. Wir wissen heute bereits, dass nicht alle Branchen gleich stark betroffen sind. Es gilt deshalb, mit Ernsthaftigkeit zu beobachten, wie sich die wirtschaftliche Situation verändert und dementsprechend auch die Ausbildungsplatzsituation. Wir sind bereit, mit präzisen Maßnahmen an den geeigneten Stellen auch gegenzusteuern. Die auf den Weg gebrachten Ausbildungsprämien sind dafür ein Beispiel, und ich denke, sie senden auch die klare Botschaft: Auch in der Krise soll in Fachkräfte und in die Zukunft von Unternehmen investiert werden. ({2}) Sehr geehrte Damen und Herren, in meiner Arbeitsgruppe bin ich auch Berichterstatterin für das Thema Regionalförderung. Ich möchte hier noch einmal – ich habe es schon öfters gesagt, aber ich glaube, es ist auch immer wichtig, es zu wiederholen – auf ein anderes Anliegen in Bezug auf die berufliche Bildung eingehen. Wir brauchen eine starke Wirtschaft für die berufliche Bildung. Aber gleichfalls bedarf es eben auch einer hinreichenden Infrastruktur für eine gute duale Berufsausbildung, und zwar im gesamten Land. Das hat etwas mit gleichwertigen Lebensverhältnissen von Stadt und Land zu tun. Wir brauchen gute Berufsschulen in den Großstädten – ja –, aber auch auf dem Land. In den Großstädten ist es oft kein Problem, auf die notwendigen Schülerzahlen für einen Standort zu kommen. Die berufliche Bildung muss aber auch in der Fläche, auf dem Land verankert sein. Und das geht manchmal nur, wenn man mehr Flexibilität bei den Schülerzahlen zulässt. Das Angebot an weiterführenden Bildungseinrichtungen entscheidet über die Zukunftsfähigkeit einer Region. Ich weiß, dass wir als Bund nicht für die Berufsschulnetzplanung zuständig sind. Aber wir geben als Bund sehr viel Geld für die Digitalisierung in Berufsschulen, und wir geben mit Programmen wie dem „WIR!“-Programm sehr viel Geld in die Entwicklung der Zukunftsfähigkeit von Regionen. ({3}) Die Gleichwertigkeit von Lebensverhältnissen in Stadt und Land ist eine gesamtstaatliche Aufgabe, und alle Ebenen sind hier gefragt. Gerade der ländliche Raum, der oftmals über keine Hochschule bzw. keinen Hochschulstandort verfügt, ist auf den Erfolg der dualen Berufsausbildung angewiesen. Für unsere ländlichen Regionen ist das System der dualen Berufsausbildung gleichzeitig essenzielle Standortpolitik, und davon profitiert jede Region in unserem Land. Herzlichen Dank. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Yvonne Magwas. – Nächster Redner: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Kai Gehring. ({0})

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt nichts Schöneres, als wenn Märchen wahr werden. Das Böse ist besiegt, das Gute hat gewonnen, ein Regenbogen strahlt. Ein modernes Märchen, das auf ein Happy End wartet, ist die Gleichwertigkeit von beruflicher und akademischer Bildung. ({0}) Gleichwertigkeit wird hier ganz viel beschworen. Die Wirklichkeit sieht leider anders aus: In der Wirtschaft gibt es kaum Führungskräfte ohne Hochschulabschluss, im öffentlichen Dienst sind beruflich Qualifizierte von höheren Positionen nahezu ausgeschlossen. – Es wird Zeit, das zu ändern. ({1}) Ein dickes Brett ist hier wahrlich der öffentliche Dienst. Stellenanzeigen sind hier voll mit akademischem Standesdünkel. Ein Beispiel: Das Umweltministerium hatte neulich eine Stelle für einen Referenten für IT-Steuerung ausgeschrieben. Voraussetzung: ein abgeschlossenes Hochschulstudium, theoretisch egal, ob Jurist, Sinologe oder Physiker. Nicht bewerben konnte sich allerdings ein staatlich geprüfter Informatiker. Der bringt zwar alle Kenntnisse und Fertigkeiten für die Stelle mit, hat aber „nur“ den beruflichen Abschluss und kann damit nicht in den Höheren Dienst. Welch ein Irrsinn! Wie lange wollen wir das noch so lassen? Ich meine, der öffentliche Dienst muss seine Ausschreibungspraxis ändern. ({2}) Und auch Unternehmen sollten das tun. Ins Management und in die Führungsspitze von Unternehmen gehören mehr Menschen, die sich über die berufliche Bildung qualifiziert haben. Mehr Gleichwertigkeit brauchen wir auch bei der Forschung. Die Forschungslücken in der beruflichen Bildung sind nach wie vor groß. Es wird allerhöchste Zeit für eine Sozialerhebung für Azubis. Die muss auf den Weg gebracht werden; denn für Studierende gibt es das seit 1951. Also: Einführen, Frau Ministerin! ({3}) Bei Akademikern wissen wir genau, wo sie arbeiten, wie viel sie verdienen und ob ihr Abschluss zur Tätigkeit passt. Karrierewege von Azubis liegen ziemlich im Dunkeln. Wir brauchen diese Erkenntnisse aber dringend auch für Absolventen der beruflichen Bildung, um die Berufsausbildung attraktiv zu halten. Das muss unser gemeinsames Ziel sein. ({4}) Wir sind uns einig: Die Lage auf dem Ausbildungsmarkt droht pandemiebedingt besorgniserregend zu werden. Daraus muss jetzt eine Politik erwachsen, die Auszubildenden und Betrieben wirklich wirksam hilft, und da wünsche ich mir endlich eine aktive Bundesbildungsministerin. ({5}) Jeder junge Mensch in unserem Land muss die Wahlfreiheit haben, sich zwischen Studium und Ausbildung zu entscheiden. Wir brauchen mehr Abschlüsse, und wir brauchen mehr Anschlüsse statt Sackgassen. Eine prekäre Generation Corona müssen wir verhindern. Aus der Coronakrise darf eben keine Bildungskrise werden. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, in Märchen mit Happy End taucht am Ende oft die gute Fee auf. Schlüpfen Sie endlich in diese Rolle, Frau Karliczek! Wenn Sie und die Koalition unsere Vorschläge aus den Anträgen – auch zu mehr Gleichwertigkeit von beruflicher und akademischer Bildung – umsetzen, –

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Kommen Sie zum Ende. Sonst sagt die böse Fee hinter Ihnen: Jetzt reicht’s! ({0})

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

– besteht die Chance auf ein gutes Ende. Den Regenbogen können wir dann zusammen betrachten. Danke schön. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kai Gehring. – Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Ulrike Bahr. ({0})

Ulrike Bahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004246, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Deutschlands duales Bildungssystem ist top. Das wissen nicht nur wir, sondern auch alle, die am Dienstag die „Tagesschau“ geschaut haben. Dort wurden die Ergebnisse der neuesten OECD-Studie präsentiert, die Deutschland gute Noten für die Ausgestaltung der beruflichen Bildung attestiert. ({0}) Ich habe in der Sommerpause viele Unternehmen besucht. Vor allem von den kleineren Betrieben wurde mir aber auch berichtet, dass es immer schwerer fällt, Nachwuchs zu finden. Corona verschärft natürlich die Situation. All diese Gespräche decken sich mit den Ergebnissen des Berufsbildungsberichts. 70 Prozent der Jugendlichen machen die Wahl einer Ausbildung von den künftigen Berufschancen abhängig. Das heißt im Umkehrschluss nichts anderes, als dass wir abwechslungsreiche Anschlussqualifizierungen und damit Perspektiven für die jungen Menschen schaffen müssen. ({1}) Das gilt insbesondere für diejenigen Berufe, die vielleicht nicht so gefragt sind wie der Kfz-Mechatroniker oder die Kauffrau für Büromanagement. Da müssen wir hin. Mit dem Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz haben wir zu Beginn des Jahres schon einen guten Schritt in diese Richtung gemacht. Das gilt vor allem für die finanzielle Unterstützung einer individuellen Weiterbildung. Das neue Aufstiegs-BAföG ist seit dem 1. August in Kraft und wird seinen Teil beitragen, auch die berufliche Erstausbildung attraktiver zu machen; denn es schafft eben diese von den Jungen erwarteten Aufstiegs- und Zukunftsperspektiven. Trotzdem gibt es das Problem mit dem Spagat zwischen den Aus- und Weiterbildungen nach dem BBiG oder der Handwerksordnung und den meist landesrechtlich geregelten Sozial- und Gesundheitsberufen. Noch gestern habe ich hier im Plenum zur Ausgestaltung des vereinbarten Rechtsanspruchs auf eine Ganztagsbetreuung gesprochen. Auch auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: Ein Rechtsanspruch bedeutet, dass es gute Qualitätskriterien dafür geben muss. Für mich gehört dazu immer auch ein guter Fachkräfteschlüssel. Und da haben wir enormen Nachholbedarf. Trotzdem bleiben sozialpädagogische Ausbildungswege unübersichtlich. Und es ist ein Unding, dass die außerhalb des BBiG und der Handwerksordnung geregelten Berufsausbildungen keine konkreten Laufbahnen vorgeben, was aber wichtig wäre für Berufsanfängerinnen und Berufsanfänger und Studierende. ({2}) Insofern stimme ich meiner Kollegin Yasmin Fahimi vollkommen zu. Wir sollten darüber nachdenken, ob es nicht zielführender ist, ebendiese Ausbildungsberufe in ein neues Bundesberufegesetz zu überführen, in dem es klare und überall gleichermaßen geltende Regelungen für alle gibt. ({3}) – Der ist nicht schlecht. – Denn das würde nicht nur Ordnung und Übersichtlichkeit schaffen, sondern auch Frauen stärken, die drei Viertel aller Berufsanfängerinnen in den Bereichen Gesundheit, Erziehung und Soziales ausmachen. Damit bringen sie sprichwörtlich positive Trends in den an einigen Stellen negativ ausfallenden Bildungsbericht. Am Dienstag war der Weltalphabetisierungstag. Und die SPD-Fraktion hat aus diesem Anlass ein Fachgespräch durchgeführt. Darin wurde deutlich, dass die Problemlagen funktionaler Analphabeten im Bildungsbereich zu wenig berücksichtigt werden. Wir haben gerade erst den Rechtsanspruch auf das Nachholen eines Berufsabschlusses verankert. Gut so! Dazu muss man aber auch in der Lage sein. Doch wer bereits die Schule ohne Abschluss verlässt, weist häufiger geringere Lese- und Schreibkompetenzen auf; und das hat Auswirkungen auf die Ausbildungs- und Arbeitsplatzsuche. Mehr Brückenangebote und Sensibilisierungen an den Schulen, Berufsschulen und Betrieben könnten Abhilfe schaffen. Doch das passiert zu selten. ({4}) Es leben weiterhin 6,2 Millionen Menschen in Deutschland, die nicht richtig lesen und schreiben können. Dieser Realität muss der Berufsbildungsbericht künftig ebenfalls Rechnung tragen. Das Problem fehlender Grundbildung und geringer Literalität sollte daher besser dargestellt, und die Auswirkungen auf das Bildungsgeschehen sollten dokumentiert werden.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Ihre Redezeit ist vorbei.

Ulrike Bahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004246, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Daraus ließen sich dann auch gute Hilfsangebote entwickeln. – Ich bin schon fertig. Danke sehr. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön, Ulrike Bahr. – Letzte Rednerin in dieser Debatte: Katrin Staffler für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Katrin Staffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004901, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gerade jetzt in den letzten Wochen, in den letzten Monaten haben wir es wieder vermehrt beobachten können: junge Menschen im Übergang in ihr Erwachsenenleben, die sich die Fragen stellen, worin sie eigentlich richtig gut sind, was ihre Kompetenzen sind, wo ihre besonderen Fähigkeiten liegen, wie sie sich ihre Zukunft mal vorstellen, was sie arbeiten wollen, wie sie arbeiten wollen, welcher Job zu ihnen passt und was ihnen eigentlich am Beruf wichtig ist. Und ja, es mag sein, dass die Antwort auf diese Fragen – also letzten Endes dann die Berufswahl selbst – immer noch in durchaus nicht unerheblichem Maße den persönlichen Lebensweg jedes Einzelnen dieser jungen Menschen bestimmt. Andererseits ist diese Entscheidung aber eben auch nicht mehr endgültig. Die Berufsbilder von heute sind nicht mehr so starr, wie sie vielleicht vor ein paar Jahrzehnten noch waren, als die meisten Menschen aus demselben Unternehmen in die Rente gegangen sind, in dem sie viele Jahre zuvor schon ihre Ausbildung begonnen haben. ({0}) Es hat viele Entwicklungen gegeben, die ihren Teil dazu beigetragen haben, dass sich die Arbeitswelt grundlegend verändert hat, zum Beispiel die Digitalisierung. Und durch die Digitalisierung haben sich unsere Tätigkeiten und die Anforderungen an diese sehr stark gewandelt, und gleichzeitig stehen jedem Einzelnen von uns ganz umfangreiche Informationen zur Verfügung und eine große Reihe an Angeboten zur Weiterbildung. Und dadurch endet eben der Bildungsweg heute in der Regel nicht mehr mit der beruflichen Ausbildung, sondern die berufliche Ausbildung ist der erste Schritt – ein natürlich ganz wichtiger Schritt, aber eben nicht der einzige Schritt – auf der lebenslangen Bildungsreise, die wir durch unseren eigenen Karriereweg machen. Und die berufliche Bildung funktioniert eben nach dem Motto: Viele Wege führen nach Rom oder – in dem Fall eben – zum Erfolg. Und genau das bestätigt uns der OECD-Bericht, der diese Woche erschienen ist: 92 Prozent der jungen Menschen in Deutschland machen ihre Ausbildung explizit in einem Bereich, der den beruflichen Aufstieg möglich macht. Und auch im Berufsbildungsbericht können wir sehen, dass das etwas ist, was den jungen Menschen wichtig ist, worauf sie Wert legen; denn die überwiegende Mehrheit der Jugendlichen sagt, dass die Karrierechancen für sie ein wesentlicher Einflussfaktor bei ihrer Berufswahl sind. Und durch diese verschiedenen Aufstiegsfortbildungen bilden wir uns unsere Spezialisten, unsere Führungskräfte, die Unternehmer von morgen aus. Deswegen war es auch so wichtig, dass wir die Novelle zum Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz durchgeführt haben, weil wir damit dieses Modell, das ja sehr bewährt ist, gestärkt und weiterentwickelt haben. ({1}) Über die berufliche Bildung ist also nicht mehr vieles möglich für junge Menschen. Durch die berufliche Bildung ist für junge Menschen alles möglich geworden. Und auch das bestätigt uns der Berufsbildungsbericht. Mit einem Fortbildungsabschluss haben Erwerbstätige häufiger direkte Personalverantwortung; sie haben verantwortliche Positionen inne, und sie selber sehen ihren Berufsverlauf auch insgesamt als Aufstieg. Und trotzdem: Der Berufseinstieg, die Weiterbildung, die Planung von Karrierewegen – das muss zukünftig noch sehr viel einfacher werden; es muss zugänglicher werden. Und genau dabei hilft uns auch die Digitalisierung. Wir brauchen One-Stop-Shop-Lösungen im Sinne von zentralen unbürokratischen Anlaufstellen für die berufliche Bildung. Ich finde, dass das BMBF mit dem Projekt INVITE da schon einen sehr guten Schritt gegangen ist und entsprechende Vorplanung gemacht hat. Uns als Unionsfraktion ist es wichtig, dass wir zügig, schnell weiterentwickeln, was da schon im Anfang vorhanden ist. Und genauso wie wir das für die Weiterbildung machen, brauchen wir ähnliche Angebote auch für die Berufsorientierung und für die Ausbildung. Unser Berufsbildungssystem ist erfolgreich, und mit den Möglichkeiten, die wir zusätzlich durch die Digitalisierung haben, bekommt jeder einzelne Mensch die Chance, seine persönliche Erfolgsgeschichte zu schreiben.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Kommen Sie zum Schluss, bitte.

Katrin Staffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004901, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aufstieg durch berufliche Bildung ist ein altes Versprechen, aber in der heutigen Zeit wichtiger und richtiger denn je. Deswegen ist es wichtig, dass wir diesen Weg gemeinsam weitergehen. Danke schön. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Katrin Staffler. – Damit schließe ich die Aussprache.

Dr. Dietmar Bartsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003034, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Moria war kein Flüchtlingslager, Moria war ein einziges Elend. Ausgelegt für 2 800 Menschen, waren 13 000 Menschen dort eng auf eng eingepfercht, ohne Perspektive, ohne Hygiene, unter menschenunwürdigen Bedingungen. Ein Drittel von ihnen war minderjährig. Berichte über Kinder, die versucht haben, sich ihr Leben zu nehmen, die sich vor Verzweiflung die Haare ausgerissen haben, sind herzzerreißend. Sie sind eine Schande für die Europäische Union, und sie sind auch eine Schande für Deutschland. ({0}) In Moria sind die Werte der Europäischen Union in Flammen aufgegangen. Moria und die weiteren sogenannten Hotspots im Mittelmeer sind der menschenrechtliche Tiefpunkt unserer Zeit. ({1}) Was wird ein Bundestag in 20 Jahren dazu sagen? – Warum haben die nicht geholfen? Warum haben die nicht gehandelt? – Kommunen, Städte, Länder fordern Sie seit einer gefühlten Ewigkeit dazu auf, Menschen aufzunehmen und ihnen Sicherheit und Würde zu geben. Herr Seehofer, Ihr Verbot, das zu ermöglichen, das immer noch gilt, ist ein Skandal, der sofort beendet werden muss! ({2}) Auch die 150 Menschen, die Sie jetzt aufnehmen wollen, ändern daran überhaupt nichts. Ihr Agieren ist nicht christlich, Ihr Agieren ist unmenschlich. ({3}) Der Evangelist Matthäus hat in der Bibel beschrieben, was Jesus zu den Gerechten sagen wird: Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und … ihr habt mich aufgenommen ... Die Gerechten aber fragten Jesus erstaunt: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und dir zu essen gegeben, oder durstig und dir zu trinken gegeben? Und wann haben wir dich fremd … gesehen und aufgenommen? Darauf antwortet Jesus: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan. Meine Damen und Herren, die EU darf nicht länger ein Ort der menschlichen Kälte sein. ({4}) Sie muss wieder ein Ort der Empathie werden, Ort einer Politik, die sich wenigstens vorzustellen vermag, was es bedeutet, wenn die eigenen Kinder, Enkel, Mütter oder Schwestern durch den Schlamm von Moria waten. Das gehört dazu! Frau Bundeskanzlerin, auch wenn Sie nicht hier sind, möchte ich Sie an Ihre Worte erinnern. Sie haben vor genau fünf Jahren gesagt: Wenn wir uns jetzt noch entschuldigen müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land. ({5}) Wir haben eine gewaltige Notsituation. Zeigen Sie ein freundliches Gesicht! Handeln Sie jetzt, wo Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft innehat. Ich bitte Sie darum wegen der Kinder auf Lesbos. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Dietmar Bartsch. Ich danke Ihnen. – Jetzt hat das Wort für die Bundesregierung Minister Horst Seehofer. ({0})

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Durch mehrere Brände ist das Flüchtlingscamp Moria auf der Insel Lesbos zerstört. Gott sei Dank gab es keine Verletzten und Toten, gleichwohl haben wir eine bittere humanitäre Notlage. Ich möchte zu Beginn die humanitäre Leistung der Bundesrepublik Deutschland und auch unserer Bevölkerung kurz in Zahlen darstellen. Wir haben seit 2015  1,73 Millionen Flüchtlinge aufgenommen. Wir nehmen zurzeit werktäglich 300 bis 400 Flüchtlinge auf – jeden Werktag. Wir nähern uns wieder den Höchstzahlen der Vergangenheit. Ich habe vor dem Brand auf Lesbos entschieden, dass wir 243 behandlungsbedürftige Kinder sowie 53 Jugendliche mit ihren Familienangehörigen aufnehmen. ({0}) Das sind insgesamt etwa 1 000 Personen, bei denen schon vor dem Brand entschieden wurde, dass sie in der Bundesrepublik Deutschland Hilfe erfahren. ({1}) Angesichts von 1,37 Millionen Flüchtlingen insgesamt in fünf Jahren und jetzt werktäglich 300 bis 400 Personen sowie der 1 000 Personen, die wir aus dem Bereich der behandlungsbedürftigen Kinder und Jugendlichen aufgenommen haben, ist mir sehr daran gelegen, unserer Bevölkerung zu danken für die Humanität, die bei uns vorherrscht. ({2}) Ich sage: Das machen wir nicht notgedrungen; das machen wir gern. Wir haben jetzt eine humanitäre Notlage. Sie erfordert in enger Abstimmung mit der griechischen Regierung, aber auch mit der Kommission der Europäischen Union – wir haben ja gerade die Ratspräsidentschaft inne – vor allem drei Punkte: Erstens. Die Hilfe vor Ort – das ist das Wichtigste –, damit die Menschen dort wieder eine vernünftige Bleibe und eine gute Versorgung bekommen. ({3}) Wir haben gestern am Spätnachmittag eine Liste der griechischen Regierung bekommen. Wir sind ständig mit ihr in Kontakt darüber, welche Bedarfsgegenstände notwendig sind. Unsere Hilfsorganisationen sind unterwegs. Ich finde, das ist für die Menschen die wichtigste Maßnahme: nicht zu reden, sondern zu helfen. Das tun wir. ({4}) Ich bin sehr erfreut darüber, was der Vizekommissionspräsident Schinas mir heute gesagt hat: dass die Kommission der griechischen Regierung vorschlagen wird, das neue Projekt auf der Insel so zu bauen, dass es höheren Ansprüchen genügt, als das bisher der Fall war, und dass sich die Europäische Kommission vorstellen kann, dass es zu einer gemeinsamen Trägerschaft der griechischen Regierung und der Kommission bei dem Betreiben dieses Flüchtlingscamps in der Zukunft kommen wird. Das ist ein großer Fortschritt. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Seehofer, erlauben Sie eine Zwischenfrage?

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Nein. – Das könnte die Blaupause auch für andere Länder sein. Wir haben ja ähnliche Probleme auf Zypern, auf Malta, in Italien, in Spanien und zum Teil in Portugal. Das ist also der erste und wichtigste Punkt: Hilfe vor Ort. Der zweite Punkt ist die Hilfe für die Jugendlichen, die nicht begleitet sind, die ganz alleine auf dieser Insel waren, aber mittlerweile auf das Festland überführt wurden. Wir haben in den letzten Tagen im Innenministerium fieberhaft daran gearbeitet, dass es zu einer europäischen Lösung diesbezüglich kommt. Herr Macron und Angela Merkel haben das gestern Abend im Grundsatz verkündet. Wir haben durch intensive Kontakte mit anderen europäischen Ländern erreicht, dass sich zehn Länder an der Aufnahme von diesen 400 Jugendlichen beteiligen. ({0}) Die Hauptaufgabe wird bei Frankreich und Deutschland liegen. Aber ich bin für jede Solidarität in Europa, auch wenn sie nur wenige Flüchtlinge umfasst, dankbar. Deshalb wird es für uns wahrscheinlich eine Größenordnung – das hängt davon ab, wie viele Länder wir noch gewinnen – (Dr. Daniela De Ridder [SPD]: Gehen wir doch mit gutem Beispiel voran, Herr Minister! zwischen 100 und 150 Jugendlichen sein. ({1}) Wir werden alles daransetzen, dass die Umsiedlung nach Deutschland noch im September erfolgt. Auch dies ist ein ganz konkretes Beispiel praktizierter Nächstenliebe, meine Damen und Herren. ({2}) Das Dritte ist die europäische Lösung des Flüchtlingsthemas. Wir haben ja deshalb regelmäßig Probleme mit Seenotrettung, mit Blockaden, mit solchen schlimmen Ereignissen wie jetzt auf Lesbos, weil es eine europäische Regel bisher nicht gibt. Ich nehme für mich in Anspruch, dass ich unzählige Male hier vor dem Deutschen Bundestag diese europäische Regel eingefordert habe. ({3}) Die Kommission hat heute erklärt, dass sie am 30. September diesen Vorschlag für die gemeinsame Asylpolitik vorlegen wird. Das ist ein ganzheitlicher Vorschlag von der Hilfe für die Herkunftsländer über die Rückführung von der Außengrenze der Europäischen Union in die Herkunftsländer mit Frontex bis hin zur Solidarität innerhalb Europas bei der Aufnahme von Schutzberechtigten. Nichtschutzberechtigte gelangen wieder zurück in ihre Herkunftsländer. Wir im Innenministerium beginnen mit der Kommission in der nächsten Woche mit der Arbeit zur Umsetzung einer europäischen Lösung auch für die Aufnahme weiterer Flüchtlinge. Die Hilfe für die Jugendlichen war der erste Schritt. Der zweite Schritt ist eine europäische Lösung mit weiteren Ländern. Hier lege ich persönlich sehr großen Wert darauf, dass wir innerhalb der gesamten Europäischen Union eine rasche Lösung für Familien mit Kindern finden. ({4}) Ich glaube, die brauchen die Hilfe besonders. Darum werde ich mich auch persönlich sehr kümmern. Ich betone also: Das, was wir jetzt gemeinsam mit Frankreich und anderen Ländern entschieden haben, ist ein erster Schritt. Es werden weitere Schritte folgen. Innerhalb dieser weiteren Schritte gilt immer der Grundsatz „Gemeinsam in Europa“ und gilt für mich der Grundsatz – ich denke, der gilt für die ganze Regierung –, dass wir für Familien mit Kindern besonders rasch eine Lösung herbeiführen. ({5}) Ich glaube, diese drei Punkte sind ein guter Kompass für die nächsten Tage und Wochen. Ich kann nur sagen: Es kommt niemandem bei uns in der Regierung darauf an, die Aufgaben auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zu verschieben. ({6}) Wir wollen rasche Lösungen, und rasche Lösungen sind auch europäisch möglich. Ich vertrete seit jeher die Auffassung, dass man nicht warten muss, bis das letzte der 27 Mitgliedsländer auch noch zustimmt, ({7}) sondern dass man mit denen, die jetzt bereit sind, bei der Hilfe für die 400 Kinder europäische Solidarität zu zeigen, vorneweg marschieren soll. ({8}) Dazu sind wir auch weiterhin entschlossen. Also: Kein Warten auf den letzten Staat, sondern wir handeln so schnell wie möglich mit den Staaten, die zu einer guten Lösung bereit sind. ({9}) Ich möchte hier aber auch eine tiefe Überzeugung ausdrücken, die daher rührt, dass ich die letzten Jahre auch in anderer Position sehr intensiv erlebt habe: Ich nehme den Satz: „2015 darf und soll sich nicht wiederholen“, sehr, sehr ernst; wir alle in der Regierung. ({10}) Deshalb sage ich Ihnen: Man kann mal punktuell mit Lösungen voranmarschieren, wie jetzt bei den 243 Kindern. Aber wenn wir als Bundesrepublik Deutschland glauben, die europäische Asylproblematik alleine lösen zu können, dann wird sich das Jahr 2015 wiederholen; denn dann wird es eine europäische Lösung nicht mehr geben. ({11}) Davon bin ich zutiefst überzeugt, dafür arbeiten wir, und das ist uns auch gelungen – wir haben ja dieses Thema in den letzten Jahren sehr gut in den Griff bekommen –: die Balance herzustellen zwischen unserer humanitären Verantwortung auf der einen Seite und Ordnung und Steuerung dieses Migrantengeschehens, das ein globales ist, auf der anderen Seite. ({12}) Es ist kein lokales Geschehen. Ein globales Problem werden wir auch nur international und europäisch lösen. ({13}) Ich danke zum Schluss den Kommunen. Beteiligt sind flächendeckend fast alle Kommunen in Deutschland und nicht nur jene, die sich gelegentlich bis jeden Tag werbewirksam in der Öffentlichkeit melden. ({14}) Alle Kommunen nehmen unsere Flüchtlinge auf und versorgen sie. Dafür möchte ich heute mal danken. ({15}) Dieses schreckliche Feuer sollte für uns alle eine Mahnung sein, ({16}) und zwar europaweit, dass sich die Verhältnisse wirklich substanziell verändern müssen. ({17}) Wir werden als Bundesregierung alles dafür tun. Ich danke. ({18})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Horst Seehofer. – Zu Ihrer Information: Herr Seehofer hat länger geredet, als es angemeldet war. Das wird jetzt mit der Redezeit der CDU/CSU verrechnet, und zwar werde ich bei Ihnen vier Minuten abziehen. Bitte klären Sie, wer redet oder wer weniger redet. Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Dr. Gottfried Curio. ({0})

Dr. Gottfried Curio (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004698, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Moria: Die griechische Regierung teilt mit: Die Migranten haben selbst Feuer gelegt; es handele sich um Menschen, die ihr Gastland nicht respektieren. Österreichs Innenminister sagt: Wer unsere Hilfsbereitschaft mit Füßen tritt, kann nicht mit Schutz in Europa rechnen. Die Niederländer sagen, dass sie keine Menschen übernehmen. Eine europäische Lösung wird’s nicht geben. Alle wissen: Im Zweifelsfall nimmt Merkel am Ende auch wieder alle alleine. Was war passiert? In der Nacht wurden zeitgleich mehrere Brände gelegt, Feuerwehrleute beim Löschen mit Steinen beworfen, Migranten singen „Bye-bye, Moria!“. Nachts drauf erneut: was noch heil war, wird abgefackelt, noch unversehrte Zelte und Unterkünfte niedergebrannt. Dieselbe infame Strategie wie bei den Bootsbetrügern vor Libyen: Man macht sich hilflos, um daraus Ansprüche zu erpressen. Was für eine unverschämte Anspruchshaltung – alles seit September 2015! ({0}) Die Linke gibt den Wirtschaftsmigranten und Asylbehauptern die Losung vor: Wenn dir die erste geschenkte Hütte nicht mehr zusagt, fackle sie ab, dann müssen sie dir was Besseres geben. – Wollen wir wirklich Leute hier haben, die nächtlich Feuer legen, Rettungskräfte angreifen, noch Häuser der Inselbewohner abfackeln? ({1}) Die Sankt-Georg-Kirche auf Lesbos wurde komplett verwüstet, Inventar zerstört, Heiligenikonen verbrannt. Vor einem Jahr legten Migranten ein Feuer, in dem eine Frau und ein Kind starben. Diese Klientel will Die Linke hier im Lande und wirbt: Die Feuerteufel von Moria – bald auch in Ihrer Nachbarschaft! – Die deutschen Bürger lehnen dankend ab, meine Damen und Herren. ({2}) Warum sollte Deutschland Wirtschaftsmigranten und Erpresser auch noch belohnen mit Sozialhilfe und Luxusunterkünften? Hilfe ist vor Ort zu leisten. Das heißt nicht auf griechischen Inseln, sondern in den Heimatregionen. Dorthin ist zu evakuieren. ({3}) Die Reise nach Deutschland gäbe einen Nachzugseffekt, ein Fass ohne Boden – und nur eine Frage der Zeit, bis weitere Lager brennen. Soll das Schule machen? ({4}) Und wenn sie dann hier sind, werden dann wieder Asylheime angesteckt, um luxuriösere Unterkünfte zu erzwingen? So wie 2016 ein Marokkaner in Düsseldorf sein Flüchtlingsheim abfackelte, weil er keinen Schokopudding bekam – wirklich eine Schande, dass es keinen Schokopudding gab! Die sind zu 70 Prozent aus Afghanistan. ({5}) Wenn in Leipzig bald Bürgerkriegszustände herrschen, gehen Sie dann nach Griechenland oder Afghanistan oder nicht eher nach Bayern oder Brandenburg? Was für eine schamlose Lüge, dieser als Flucht verbrämte Sozialtourismus! ({6}) Was hier nottut, ist: konsequent Grenzen schützen, Migranten abweisen, Illegale abschieben. Dann kommen keine mehr, keine überfüllten Lager, keine Brände, keine Mittelmeertoten. Und mit den eingesparten Milliarden kann man hundertmal mehr vor Ort helfen. Das wäre wahre Humanität! ({7}) Aber wer jetzt wieder Asylbehaupter importieren will, kann Kanzler – ein Überbietungswettbewerb der Kandidaten beginnt: eben noch: „Wer ist der härteste Coronasheriff?“, jetzt: „Wer holt mehr Sozialhilfeempfänger?“ Laschet: 1 000, Röttgen: 5 000; fehlen noch: Merz: 10 000, Söder: ganz Afrika. Plant er, das von Neuschwanstein aus zu verkünden? ({8}) Nein, meine Damen und Herren! Dieselben Leute, die „Wir haben Platz!“ skandieren, beschweren sich über Mietexplosionen in den Städten, zu wenig Kitaplätze, schicken ihre Kinder auf teure Privatschulen ohne Migranten. Und wo haben wir Platz? Berlins Grüne meinen: in Hotels. Während arbeitende Deutsche keine bezahlbare Wohnung mehr finden, werden von ihrem Steuergeld Wohnungen für illegale Scheinflüchtlinge finanziert, ({9}) mit Mieten oft über 100 Prozent über den ortsüblichen. Aber dass genug Platz in Deutschland sei, das wird ja schon zweifelsfrei durch Stühle vorm Reichstag bewiesen. Erst die Stühle, dann das Feuerwerk. Die geistigen Brandstifter sitzen hier in Deutschland! ({10}) Was für eine peinliche choreografierte Show, diese konzertierte Aktion! Für wie dumm halten die Umsiedlungsfanatiker den Wähler eigentlich? ({11}) Nein, meine Damen und Herren, Deutschland ist keine weltweite Hilfsorganisation mit lediglich angehängter Steuersklavenbevölkerung. Aufgabe der Regierung ist es, die Interessen des Volkes zu vertreten, des deutschen Volkes. Da haben Sie in der von Ihnen verursachten Lockdownkrise jetzt wahrlich genug zu tun. ({12})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön. – Wir kommen zurück zur Debatte über die Konsequenzen aus dem Brand in Moria und der humanitären Katastrophe vor Ort. ({0}) Die nächste Rednerin ist Ute Vogt für die SPD-Fraktion. ({1})

Ute Vogt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002823, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Bartsch hat zu Beginn seiner Rede sehr eindrücklich auf die Zustände in Moria hingewiesen, wie wir sie schon seit Monaten dort beobachten müssen. Wenn ich sehen und hören muss, Herr Curio, wie Sie angesichts eines solchen humanitären Dramas von einem solch riesigen Ausmaß auf europäischem Boden reden, ({0}) dann muss ich sagen: Es übersteigt meine Vorstellungskraft, wie man so kaltherzig, so gemein sein kann, und es widert mich persönlich richtig an, wie Sie über Menschen und deren Leid hier reden! ({1}) Ich muss sagen: Natürlich hat der Innenminister recht, wenn er sagt: Wir brauchen eine europäische Lösung. Die Bundesregierung hat schon im Februar ihre Eckpunkte dafür vorgestellt. Auch unsere Bundestagsfraktion hat sich die Mühe gemacht und schon im Juni exakt ausgearbeitet, wie so eine Lösung aussehen könnte. ({2}) Nur: Wer fehlt, ist die Europäische Kommission. Wenn ich heute oder gestern gelesen habe, dass die Kommissionspräsidentin Frau von der Leyen ganz traurig ist über die Situation in Moria, dann muss ich sagen: Frau von der Leyen hätte mal Tatkraft zeigen müssen; dann bräuchten wir jetzt alle nicht zu trauern. ({3}) Es ist schon erschütternd, dass es erst diesen Brand gebraucht hat, ({4}) damit die Kommission jetzt wenigstens ankündigt, zum 30. September etwas vorzulegen, was uns möglicherweise zu einer europäischen Lösung führt. Ich finde, es ist höchste Zeit, und es ist beschämend, dass es bisher nicht geklappt hat. ({5}) Man muss in Bezug auf unseren Innenminister zugestehen: Er ist einer der wenigen, der sich schon seit, ich glaube, über einem Jahr bemüht, auf so eine Lösung hinzuarbeiten. ({6}) Bei aller Kritik, die man an ihm üben kann, muss man das, glaube ich, durchaus anerkennen. Ich will aber, Herr Innenminister, sagen: Dass wir jetzt vorangegangen sind mit der Aufnahme von insgesamt 1 000 Menschen und jetzt 150 weiteren, ist sicher ein wichtiger Schritt. Wir stimmen ja überein, dass man das gemeinsam mit europäischen Partnern lösen muss. Aber Sie haben gesehen, dass der Schritt, den wir gemacht haben, auch dazu geführt hat, dass andere Länder mitgezogen sind, dass unser Vorbild geholfen hat. ({7}) Wenn Sie jetzt nach Deutschland schauen und sehen, dass von 16 Bundesländern 14 Bundesländer schon erklärt haben: „Wir sind bereit, mehr Menschen aufzunehmen“, dass 174 Städte sagen: „Wir sind sicherer Hafen“, dann fordere ich Sie auf: Werfen Sie Ihr Herz über die Hürde und sagen Sie gemeinsam mit diesen Ländern und Städten: Wir machen noch mal ein Bundesaufnahmeprogramm, in das wir die Zahl der Menschen, die dort aufgenommen werden können, übernehmen und mit dem wir den Menschen einen sicheren Hafen bieten. ({8}) Das können nicht alle 13 000 sein; das wissen wir wohl. ({9}) Aber mein Eindruck ist, dass das Vorbild, das, was Sie hier leisten und was auch wir geleistet haben, Früchte trägt und andere Staaten merken, dass man da durchaus mitarbeiten und damit etwas bewegen kann. Deshalb habe ich keine Sorge, dass die Menschen in Deutschland diese einmalige humanitäre Leistung aufgrund der Situation dort falsch verstehen würden. ({10}) Indem wir ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem ausarbeiten, werden wir am Ende dafür sorgen, dass eben nicht immer und immer wieder solche Situationen entstehen. Wir dürfen es nicht mehr zulassen, dass so ein Lager wie Moria auf europäischem Boden überhaupt entsteht. ({11}) Deshalb ist es schon wichtig, dass wir jetzt nicht nur humanitäre Hilfe leisten, sondern dass wir ganz schnell dafür sorgen, dass die 13 000 Menschen, die dort sind, auf die europäischen Länder verteilt werden. ({12}) Ich habe es für einen großen Fehler gehalten, dass in der Europäischen Union zuerst über den Finanzhaushalt abgestimmt worden ist und jetzt dann über das gemeinsame Asylsystem geredet wird. Denn am Ende, finde ich, muss es so sein: Wer sich nicht solidarisch zeigt bei der Aufnahme von geflüchteten Menschen, der kann auch nicht aus dem EU-Haushalt entsprechende Unterstützung erhalten. ({13}) Deshalb, Herr Minister, bitte ich Sie: Sie haben unsere starke Unterstützung beim weiteren Kampf für ein europäisches Asylsystem; da sind wir auf einer Linie. Aber zeigen Sie auch Großherzigkeit und humanitäre Leistung, indem Sie zu den Ländern und Kommunen sagen: Ja, wir nehmen weiter Menschen auf. Wir haben die Plätze schon bereitgestellt.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Vogt.

Ute Vogt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002823, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

In diesem Sinne bitte ich Sie entsprechend um Ihre Zustimmung für die Aufnahme in dieser humanitären Notsituation. ({0})

Not found (Minister:in)

Vielen Dank, Frau Präsidentin, auch für die freundliche Begrüßung. – Meine Damen und Herren! Ich werde nicht auf die erbärmlichen Provokationen des Abgeordneten Curio eingehen; ich finde, dafür ist die Debatte zu ernst. ({0}) Meine Damen und Herren, die Lage auf Lesbos ist beschämend, und das war die Lage bereits vor dem Brand. Ich bin zweimal dort gewesen, zuletzt vor einem Monat. Ich bin auch viel in anderen Ländern unterwegs gewesen. Es ist für die Europäische Union nicht akzeptabel, dass wir Migranten schlechter versorgen, als das beispielsweise die Iraker mit den Jesiden machen oder als man in Jordanien mit syrischen Flüchtlingen umgeht. Das geht nicht, das ist für die EU inakzeptabel. ({1}) Herr Kollege Bartsch, Sie als Linke geben allein der Europäischen Union die Schuld. ({2}) Sie zitieren hier die Bibel und Jesus Christus und nehmen für sich eine Moral in Anspruch, zu der ich dann sagen muss: Es ist Ihr Genosse Tsipras gewesen, der in einer Koalitionsregierung mit einer Art griechischer AfD dafür verantwortlich ist, dass Moria zu einem solchen Lager geworden ist. Das gehört zur Wahrheit dazu. ({3}) Wenn Sie sich hier so moralisch positionieren, dann hätte ich von Ihnen erwartet, dass Sie dorthin fahren und sich selbst bei Herrn Tsipras für Verbesserungen einsetzen. ({4}) – Ja, das ist für Sie schwer zu akzeptieren, Herr Bartsch. ({5}) Aber wenn man sich hier moralisch so hinstellt, dann muss man vorher auch mit den Genossen dort gesprochen haben, meine Damen und Herren. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Dr. Stamp, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung?

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Nein, ich würde jetzt gerne weiter ausführen. – Es ist auch ein Versagen der Europäischen Union, dass sie diese Entwicklung zugelassen hat. Es hat nicht an Warnungen gefehlt. ({0}) Wir haben auch seitens der Freien Demokraten – Fraktionsvorsitzender Christian Lindner und ich noch Anfang März – der Bundeskanzlerin geschrieben und auf die dramatischen Zustände hingewiesen und betont, wie wichtig es ist, dass es zu Veränderungen kommt. Wir können uns, Herr Bundesinnenminister Seehofer, an die vollmundigen Ankündigungen erinnern, die es zur europäischen Ratspräsidentschaft gegeben hat – das gilt im Übrigen auch für Heiko Maas –, dass dieses Thema, die europäische Asylpolitik, an die Spitze der Agenda der deutschen Ratspräsidentschaft kommen soll. Und passiert ist, meine Damen und Herren, bisher nichts, und wir haben bereits ein Drittel der Ratspräsidentschaft hinter uns. ({1}) Das kann nicht unser Anspruch sein. Deswegen erwarte ich hier eine andere Aktivität. Es kann nicht sein, dass es erst jetzt nach einem Brand dazu kommt, dass Sie mit der Kommission über neue Einrichtungen auf der Insel nachdenken, dass die Sache jetzt überhaupt erst wieder ins Rollen kommt. Ich hätte von Ihnen erwartet, Herr Bundesinnenminister, dass Sie vom ersten Tag der Ratspräsidentschaft an reisen, dass Sie sich wirklich für eine neue Systematik in Europa einsetzen. ({2}) Jetzt geht es aber darum, dass wir zunächst eine Soforthilfe für obdachlose Menschen brauchen; das muss jetzt im Vordergrund stehen. Ich kann sagen: Nordrhein-Westfalen hilft mit Medikamentenspenden. Wir haben logistische Unterstützung angeboten, und wir sind auch bereit, besonders Gefährdete – Familien mit kleinen Kindern, Kranke, auf sich allein gestellte Frauen – zu evakuieren. Auch aus anderen Bundesländern und anderen Kommunen kommen entsprechende Signale. Herr Bundesinnenminister, Sie haben recht – das möchte ich ausdrücklich sagen –, dass nicht jede Kommune und nicht jedes Land hier einfach eine eigene Flüchtlingspolitik machen kann. Das geht weder rechtlich, das geht im Übrigen auch nicht logistisch, und es ist auch nicht politisch klug; denn wir können keinen deutschen Sonderweg gehen. Wir brauchen Verbündete in Europa. ({3}) Aber ich würde Sie trotzdem herzlich bitten – ich habe Sie dazu auch vor zwei Tagen angeschrieben –, dass wir uns als Bund und Länder hier auf eine gemeinsame Linie verständigen. Das hilft letztendlich auch der souveränen Argumentation der Bundesrepublik Deutschland, um europäische Partner zu finden. Es ist positiv, dass sich mit Blick auf die 400 Minderjährigen jetzt zumindest in ganz kleinem Rahmen eine Entwicklung in diese Richtung andeutet. Was ich dabei übrigens erschreckend finde, ist, dass Österreich – von den Grünen mitregiert – nicht bereit ist, einen einzigen Migranten von Moria aufzunehmen. ({4}) – Wenn Sie jetzt dazwischenrufen, dann sage ich Ihnen ganz ehrlich: Vielleicht wäre es sinnvoller und würde den Menschen in Moria mehr helfen, Sie würden eine Resolution in einem Stadtrat weniger machen und stattdessen mal nach Wien fahren, um dort mit Ihrer Schwesterpartei zu sprechen. ({5}) Meine Damen und Herren, es muss um Humanität und Ordnung gehen. Wir können beides miteinander verbinden. Es ist wichtig, dass europäisches Recht auch umgesetzt wird. Heute Morgen hörte ich von einem Kollegen aus dem Europäischen Parlament, dass die EU-Kommissarin Johansson gestern im Innenausschuss einräumen musste, dass unter den Migranten in Moria 2 000 anerkannte Asylbewerber sind, die von dort nicht weggebracht wurden, sondern in Moria verbleiben mussten. Das ist skandalös! Dafür müssen wir Verantwortung übernehmen. ({6}) Wir müssen aber genauso – das gehört zur Ordnung eben auch dazu – die Griechen unterstützen und dafür sorgen, dass die EU-Kommission hier ein anderes Engagement bei der Beschleunigung der Verfahren zeigt. Wer kein Asylrecht bekommt, der muss in die Heimat zurückkehren, nach Möglichkeit mit freiwilliger Ausreise – da versucht IOM eine ganze Menge –, aber auch mit Rückführung. Da in diesem gesamten Komplex offensichtlich niemand wirklich den Hut aufhat, wäre mein Vorschlag, zu überlegen, hier einen EU-Sonderbeauftragten einzusetzen, der auch mit der nötigen Autorität in der Lage ist, dort zwischen den verschiedenen Stellen und Akteuren zu vermitteln und das, was für Humanität und Ordnung benötigt wird, auf den Weg zu bringen. ({7}) Herr Bundesminister Seehofer, ich kann das als Vertreter des Bundesrates für die Länder sagen, ich sage es aber auch als Vertreter der Freien Demokraten: Wir sind bei einer Politik von Humanität und Ordnung an Ihrer Seite. Wir erwarten aber, dass Sie handeln, und wir erwarten, dass Sie mit anderem Engagement und mit anderem Tempo handeln. Das muss der Anspruch der Bundesrepublik Deutschland und unserer Ratspräsidentschaft sein. Vielen Dank. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Luise Amtsberg für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Luise Amtsberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004243, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Stamp, wenn Sie schon auf die grüne Verantwortung in Österreich referieren, dann müssen Sie, wenn Sie hier im Deutschen Bundestag reden, auch die Presselage verfolgen und zumindest zur Kenntnis geben, dass sich die Grünen ja gerade zur Wehr setzen gegen diese Politik und dass sie mehr Verantwortung fordern. Das sei zumindest an der Stelle gesagt. ({0}) Wir alle haben sie gesehen, die Bilder von brennenden Zelten in Moria, die Flammen, den Rauch, die vielen Tausend Menschen, Familien mit Kindern, die nun an den Straßenrändern von Lesbos ohne Obdach darauf vertrauen müssen, dass die Europäische Union handelt, und zwar schnell. Die Bilder entsetzen, sie erschüttern, sie machen traurig, und viele von uns machen sie auch sehr wütend. Denn das, was sich in Moria ereignet hat, ist – man kann es nicht anders sagen – eine Katastrophe mit Ansage. ({1}) Es war völlig vorhersehbar; denn man kann Menschen nicht jahrelang solch menschenunwürdigen Bedingungen aussetzen – ohne Perspektive und zuletzt auch noch völlig schutzlos vor dem Virus – und sich dann wundern, dass die Situation eskaliert. Es war nur eine Frage der Zeit, und wir alle hier haben das gewusst. ({2}) Dass die Menschen am dritten Tag nach dem Brand noch immer keine Zelte, keine Decken, keine medizinische Versorgung, kein Essen haben, ist einfach unfassbar! ({3}) Wir alle wissen doch, dass bei jeder anderen Katastrophe dieser Art alles mobilisiert worden wäre, um den Menschen sofort zu helfen. Aber hier geht es um Flüchtlinge. Hier wird mit zweierlei Maß gemessen, wird erst mal nach der großen Lösung gesucht, statt einfach das zu tun, was mensch in so einer Situation tun muss: helfen, versorgen und unterbringen. ({4}) Meine Fraktionsvorsitzende und der Europapolitiker Erik Marquardt sind gerade vor Ort. Was sie berichten, macht mich wirklich fassungslos. Das Bild auf der Insel ist geprägt von geschlossenen Geschäften, griechischem Militär mit Wasserwerfern, von NGOs, die von faschistischen Gruppen an ihrer Arbeit gehindert werden, von Bürgerwehren, die Straßen abriegeln und Menschen behindern, von einer Polizei, die die Arbeit von Hilfsorganisationen nicht ausreichend sichert, aber auch die Betroffenen nicht vor rechtsextremen Übergriffen schützen kann. Keine Koordinierung seitens des griechischen Staates. Es herrscht völliges Chaos. Ich frage mich wirklich, Herr Seehofer: Ist das alles, was wir tun können in dieser Situation? Wir reden hier nicht über Lösungen in fünf Monaten; wir reden über Lösungen jetzt, sofort; denn die Menschen brauchen Hilfe. ({5}) Für meine Fraktion steht völlig außer Frage: Es muss jetzt notversorgt werden, und dann muss sofort – natürlich unter Wahrung des Infektionsschutzes – verteilt werden. Es gibt keine Alternative hierzu, wenn man weiteres menschliches Leid verhindern will. ({6}) Das geht an die Adresse von Union und SPD, aber besonders an Sie, Herr Horst Seehofer; denn Sie sehen anscheinend die Lösung für all das in einem Wiederaufbau des Camps. Deshalb müssen wir heute und jetzt darüber sprechen, wie es überhaupt zu dieser Situation kommen konnte, damit sich die Fehler aus der Vergangenheit nicht wiederholen. Es hat sich gezeigt, dass das sogenannte Gemeinsame Europäische Asylsystem nichts wirklich Gemeinsames hat. Wie auch? Es ist zutiefst unsolidarisch. Und auch wenn alle EU-Mitgliedstaaten eine Reform dieses Systems wollen, konnten sie sich bisher eigentlich nur auf zwei Dinge einigen: eine Abmachung mit der Türkei und die Schließung der sogenannten Balkanroute. Der kleinste gemeinsame Nenner lautet: Verantwortung auslagern, einige Staaten alleinlassen und wegschauen. Das ist die Wahrheit. ({7}) Mit dieser Politik wurde das Flüchtlingslager auf Lesbos wie auch die anderen Lager auf den griechischen Inseln zu den Orten, die sie heute sind: Freiluftgefängnisse, ausgelegt für 3 000 Menschen, zeitweise belegt mit 20 000 Menschen, Menschen, die vor den Taliban geflohen sind, vor Krieg und Verfolgung in Syrien oder im Irak. Ich kann nicht anders, als Ihnen Tatenlosigkeit vorzuwerfen; denn auch zuletzt, angesichts der aktuellen deutschen Ratspräsidentschaft, habe ich von Ihnen abseits von Vorprüfungen an den Außengrenzen, die das gegenwärtige System sogar verschlimmern würden, nichts vernommen. Das ist ein Skandal! Meine Fraktion und ich haben ausgearbeitet, wie es anders gehen kann. Wir haben in Reaktion auf das offensichtliche Scheitern des Dublin-Systems Konzepte entwickelt und versucht, hier mit Ihnen zu diskutieren, wie europäische Verantwortungsteilung gelingen kann, und zwar fair und solidarisch mit den EU- Mitgliedsländern im Sinne des Flüchtlingsschutzes. Denn dieser gehört nun einmal zu unserer Europäischen Union, und zwar nicht nur als Gebot unseres eigenen Rechts, sondern als Fundament unserer gemeinsamen Werte. ({8}) Und auch als wir Grüne gemeinsam mit Verbänden, den Kirchen und der Zivilgesellschaft gefordert haben, dass Deutschland wenigstens mit der Aufnahme von besonders Schutzbedürftigen – unbegleiteten Kindern, Schwangeren, schwer Traumatisierten – aus den europäischen Lagern vorangehen muss, haben Sie monatelang blockiert. Wir wollten diese Aufnahme, und zwar nicht als Abkehr von einer gemeinsamen europäischen Flüchtlingspolitik, im Gegenteil: Wir sind überzeugt, dass Deutschland vorangehen muss, damit andere mitziehen. ({9}) Wie sonst – und diese Frage müssen Sie beantworten – will man einen Weg heraus aus dieser Blockade, die seit fünf Jahren andauert, finden? Wir warten seit fünf Jahren auf diese gemeinsame Lösung. Liebe Bundesregierung, Sie haben diese Initiativen und diese Debatten immer wieder runtergedrückt, sich immer mit Verweis auf die Tatenlosigkeit anderer EU-Staaten zurückgezogen, haben sich über Jahre mit dem Umstand zufriedengegeben, dass weniger Menschen in Deutschland ankommen, während die Lage für all jene in den Hotspots immer hoffnungsloser wurde. Die bisherigen Trippelschritte der Bundesregierung zur humanitären Aufnahme aus den Hotspots waren auch schon vor dem Brand in Moria völlig ungenügend, und das allen Signalen aus den Bundesländern und Kommunen zum Trotz, die sich zum Beispiel in der Seebrücke engagieren und lautstark fordern: Wir haben Platz! Wir wollen und wir können Menschen aufnehmen. – Deshalb erwarte ich von Ihnen, Herr Innenminister, dass Sie den Ländern und Kommunen zugestehen, aufzunehmen, und das nicht weiter blockieren ({10}) und dass Sie angesichts der jetzigen Katastrophe unbürokratisch und schnell handeln; denn wir haben wirklich schon viel zu viel Zeit verloren. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Thorsten Frei das Wort. ({0})

Thorsten Frei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004276, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, diese Brandkatastrophe auf Lesbos – wir haben die Bilder von rauchenden Trümmern und verzweifelten Gesichtern gesehen – lässt niemanden von uns kalt. Und es ist selbstverständlich, dass in dieser Situation beherzt, schnell, umfassend geholfen werden muss. Deswegen ist es richtig, dass die Bundesregierung bereits wenige Stunden nach diesem Brand der griechischen Regierung umfassende Hilfe angeboten hat. Die griechische Regierung hat diese auch angenommen und sagt uns jetzt, wo wir schnell und unmittelbar helfen können, damit die Menschen etwas zu essen haben, damit sie ein Dach über dem Kopf haben, damit die entsprechende Infrastruktur, die für ein menschenwürdiges Leben notwendig ist, vorhanden ist. ({0}) Dieser Debatte liegt ja ein Antrag der Fraktion Die Linke zugrunde. Sie schlagen vor, dass wir 13 000 Menschen aus Lesbos aufnehmen sollen. ({1}) Und ich sage Ihnen eines: Wer das tut, wer einen deutschen Alleingang vorschlägt, der sorgt dafür, dass wir bei unserem Bestreben, zu einem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem zu kommen, nicht vorwärtskommen werden, ({2}) und zwar aus zwei Gründen – ich will sie Ihnen gerne nennen –: Wir müssen doch deutlich machen, dass wir es mit einem internationalen und europäischen Problem zu tun haben und nicht mit einem deutschen. ({3}) Das bedeutet, dass sich andere nicht zurücklehnen dürfen, vielmehr brauchen wir einen europäischen Geleitzug. Und jetzt will ich an Ihre Adresse mal Folgendes sagen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Frei, akzeptieren Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Hänsel?

Thorsten Frei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004276, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, gerne.

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke, Frau Präsidentin. – Herr Frei, wir haben hier schon mehrfach über die Situation in Moria diskutiert. Darauf möchte ich auch noch mal hinweisen – etliche Kollegen haben es schon gesagt –: Wir reden hier seit Jahren über diese Situation. Ich bin auch regelmäßig dort. Wir haben Sie ständig gewarnt: So kann es nicht weitergehen. Sie erkennen die Situation gar nicht. Sie sagen, dass es darum geht, dass die Menschen wieder ein Dach über dem Kopf haben usw. Die Menschen schlafen auf der Straße, und sie brauchen jetzt Unterstützung. Und ich kann Ihnen von meinem letzten Besuch sagen: Die griechische Inselbevölkerung auf Lesbos wird die Situation auch nicht mehr akzeptieren. Es werden dort bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen. Alle Straßen sind blockiert. Sie erkennen die Dramatik dieser Situation überhaupt nicht. Sie müssen die Flüchtlinge, um deren Leib und Leben zu schützen, aus Lesbos, aus Moria rausholen. Das ist wirklich ein Appell! Das kann so nicht funktionieren. ({0}) Abschließend möchte ich Sie fragen: Wie kann es sein, dass die Bundesregierung bei dem EU-Türkei-Deal vorangegangen ist – sie hat die Initiative ergriffen, diesen EU-Türkei-Deal entwickelt und als deutsche Initiative in die EU eingebracht –, aber jetzt nicht fähig ist, voranzugehen? Dieses System, das auf die Idee der Bundesregierung zurückgeht, ist gescheitert. Die Bundesregierung muss jetzt auch die Konsequenzen tragen und die Menschen hierherholen. Es ist aufgrund dieses EU-Türkei-Deals die Verantwortung der Bundesregierung. ({1})

Thorsten Frei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004276, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Hänsel, ich möchte Ihnen Folgendes sagen: Die Bundesrepublik Deutschland und auch die Europäische Union haben in den vergangenen Jahren enorm geholfen. Seit 2016 sind 2,6 Milliarden Euro europäisches Geld nach Griechenland geflossen. ({0}) Deutschland hat im Dezember Hilfe in Höhe von 1,6 Millionen Euro geleistet, im April 2,4 Millionen Euro. Wir haben in unterschiedlichen Bereichen geholfen, zeitweise waren zwei Drittel der EASO-Beamten in Griechenland Deutsche. Wir haben dabei geholfen, dass die Verfahren beschleunigt werden können; wir haben für Feldbetten, Zelte, Nahrungsmittel, Medikamente und vieles andere gesorgt, und das tun wir auch weiterhin. Zu Ihrer Frage: Geht Deutschland voran, ja oder nein? Ja, wir gehen voran, wenn es darum geht, zu einer gemeinsamen europäischen Lösung zu kommen. Ich will Ihnen Folgendes sagen: Die Bundesregierung hat bereits im Februar dieses Jahres eine abgestimmte Position und Forderungen für die Weiterentwicklung des GEAS vorgelegt. Es war der Bundesinnenminister, der mit seinen Kollegen aus Frankreich, aus Italien, aus Spanien gemeinsam an die Kommission geschrieben hat und dringend gebeten hat, dass endlich diese Vorschläge vorgelegt werden. Sie sind im März das erste Mal angekündigt worden und wurden dann immer wieder verschoben. Jetzt hoffen wir, dass sie wenigstens am 30. September kommen, damit wir in unserer Ratspräsidentschaft wenigstens die politischen Schlussfolgerungen daraus ziehen können. Deutschland ist vorangegangen, auch in der konkreten humanitären Hilfe. Wer war es denn, der gemeinsam mit Malta, Italien und Frankreich dafür gesorgt hat, dass die Seenotflüchtlinge aufgenommen werden? Es war der Bundesinnenminister, ({1}) der das gemacht hat. Deutschland ist vorangegangen. ({2}) Das sollten Sie, wenn Sie die Lage beschreiben und beurteilen, mit einbeziehen. Seit 2015 hat Deutschland 1,8 Millionen Migranten aufgenommen, 41 Prozent der Migranten in Europa. Sie können sich doch nicht hierhinstellen und sagen: Deutschland geht nicht voran, Deutschland wird seiner Verantwortung nicht gerecht. – Nein, wir tun das. Es war in der Vergangenheit so, und es wird auch zukünftig so bleiben. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer wirklich helfen will in der Situation, der muss dafür sorgen, dass das Türkei-EU-Abkommen ertüchtigt wird, ({4}) dass die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass Flüchtlinge in der Türkei menschenwürdig untergebracht werden, dass die Türkei tatsächlich Ablandungen verhindert und dass auch auf den griechischen Inseln menschenwürdige Verhältnisse herrschen. Darauf kommt es an. Und Sie müssen doch bei all dem, was Sie fordern, auch an die Folgen denken. Wenn Sie das nicht machen, wenn Sie unterschiedslos Ad-hoc-Aufnahmen machen, dann führt das doch im Kern dazu, dass es nicht nur ein neues zweites Moria, sondern auch ein drittes Moria geben wird. Das Problem Ihrer Politik ist doch, dass Sie keine Probleme lösen, sondern dass Sie neue Probleme schaffen. ({5}) Deshalb sind Sie auf dem Holzweg. Ich will Ihnen an dieser Stelle noch eines sagen: Ich habe die letzten Tage immer wieder gelesen, dass der Bundesinnenminister aufgefordert wird, dass er den Ländern Thüringen und Berlin erlauben soll, Landesaufnahmeprogramme zu machen. Ich bin dem Bundesinnenminister sehr dankbar dafür, dass er das nicht gemacht hat. ({6}) Erstens ist § 23 des Aufenthaltsgesetzes mutmaßlich gar nicht einschlägig, und zum Zweiten ist es so, dass für die Migrationspolitik natürlich nur der Bund zuständig sein kann, weil ja auch die Herausforderungen und Lasten, die mit der Migration verbunden sind, deutschlandweit gelöst werden müssen; das ist insbesondere auch bei der Finanzierung der Fall. ({7}) Jetzt will ich Ihnen noch das Entscheidende sagen: Wenn Sie ein Landesaufnahmeprogramm nach § 23 Aufenthaltsgesetz machen, dann folgt daraus sofort ein Aufenthaltstitel. ({8}) Das bedeutet im Klartext, es findet kein Asylverfahren mit der Prüfung der Schutzbedürftigkeit statt. Da zeigt Rot-Rot-Grün, worum es Ihnen geht: Sie wollen nicht Asylbewerber aufnehmen, Sie wollen unterschiedslos alle Menschen, die hierherkommen wollen, aufnehmen. ({9}) Damit lösen Sie keine Probleme, nicht bei uns, nicht in Griechenland und auch sonst nirgendwo. ({10}) Das wäre das Zeichen „Der Weg nach Zentraleuropa und Deutschland ist offen“, das wäre eine Einladung an alle, die auf gepackten Koffern sitzen. Das ist eine verantwortungslose Politik, die Sie hier propagieren. Deswegen werden wir Ihren Antrag selbstverständlich ablehnen. Herzlichen Dank. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich nutze die Zeit, die gebraucht wird, um das Redepult herzurichten – ich bitte zuallererst, die Aufmerksamkeit herzustellen –, für einen geschäftsleitenden Hinweis. Ich habe die Wortmeldung des Abgeordneten Peterka eben gesehen. Ich werde aber im weiteren Verlauf alle gleich behandeln: Ich werde pro Redebeitrag maximal wegen einer Frage oder Bemerkung beim Redner nachfragen. Wenn er oder sie sie zulässt, werde ich das natürlich auch entsprechend hier behandeln. Aber wir werden nicht zu einer Praxis kommen, die die Redezeit der jeweiligen Rednerinnen und Redner verdoppelt oder verdreifacht. Hiermit kündige ich daher an – ähnlich wie wir das gestern Abend gehandhabt haben –, dass ich keine Kurzinterventionen noch zusätzlich zulasse. Jede Fraktion hat hier Rederecht, und natürlich gibt es auch das Recht, Fragen zu stellen und Bemerkungen anzubringen. Aber, wie gesagt, je Redebeitrag werde ich maximal wegen einer angezeigten Frage entsprechend nachfragen. – Da haben Sie jetzt Pech gehabt, Herr Kollege, dass Sie sich während der Beantwortung der ersten Frage gemeldet haben. Damit alle wissen, woran sie sind, habe ich das jetzt hier einmal erklärt. Das Wort hat nun der Abgeordnete Jürgen Braun für die AfD-Fraktion. ({0})

Jürgen Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004680, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Moria-mal zu den Fakten zurück! ({0}) Absichtlich Zelte in Brand gesteckt – durch Bewohner des Lagers. Die Feuerwehr am Löschen gehindert – durch Bewohner des Lagers. Straßen blockiert, Polizisten mit Steinen beworfen – durch Bewohner des Lagers. Der Vizechef des Zivilschutzes auf Lesbos sagt wörtlich im griechischen Fernsehen: Es war vorsätzlich, die Zelte waren leer. – Zitatende. Noch in der Brandnacht zogen etwa 4 000 gewalttätige illegale Migranten über die Insel Lesbos. Links-grüne Fake News dagegen in Deutschland: Die lebensgefährliche Straftat der Brandstiftung ({1}) wird von der ARD-Tagesschau verharmlost, von verzweifelten Protesten ist die Rede. Über Jahre hinweg immer wieder Gewalttaten von Bewohnern der Lager in Moria auf Lesbos. Zahlreiche Kirchen auf Lesbos geschändet – in Deutschland verschwiegen. Der FDP-Kollege Kuhle sprach im Februar von – ich zitiere – kriminellen Banden, die über die Inseln ziehen, Zitatende, ({2}) gewalttätigen Banden von Migranten, bewaffnet mit Eisenstangen und Macheten. 13 000 leere Stühle standen am Montag hier vor dem Reichstag – eine Inszenierung zwischen Leni Riefenstahl und Soldatenfriedhof. In der übernächsten Nacht brannte Moria. 13 000 Stühle – auch für Brandstifter? Ein Angriff auf die Würde des Bundestages kann viele Gesichter haben. ({3}) Humanitäre Hilfe für Kinder ist das eine, Unterstützung von kriminellen Brandstiftern und Terroristen das andere. Hilfe für Menschen vor Ort und vor allem in ihren Heimatländern ist sinnvoll, illegale Einwanderung in ferne Länder ist es nicht und niemals. ({4}) 16 CDU-Abgeordnete fordern aktuell die Aufnahme von Migranten aus dem abgebrannten Lager. Das ist nichts Neues, im April haben bereits 50 CDU-Abgeordnete die Aufnahme von Kindern aus Moria gefordert. Die wenigen Kinder, die nach solchen Aufrufen kamen, sie trugen teils schon Bärte. ({5}) Links-grüne Lügen im März zur Situation an der griechisch-türkischen Grenze: Griechische Polizisten, angeblich haben sie auf Flüchtlinge geschossen – eine Lüge, eine erbärmliche Verschwörungstheorie gegen das griechische Volk, ständig wird sie auch von Medien verbreitet. Die AfD-Fraktion steht an der Seite der Griechen und Griechenlands. ({6}) Es gibt kein Menschenrecht auf Migration, ({7}) es gibt kein Menschenrecht auf illegale Einwanderung. Aber es gibt das Recht, das eigene Land zu verlassen. Und davon wollen Sie von der Linken/SED ablenken. ({8}) Sie haben hier in Deutschland Menschen erschießen lassen, die genau dieses Recht wahrnehmen wollten. Davon wollen Sie ablenken in Ihrem Antrag voller sozialistischer Heuchelei ({9}) und mit Reden wie die Pharisäer im Neuen Testament. Schämen Sie sich! Nie wieder Sozialismus! ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Frank Schwabe das Wort. ({0})

Frank Schwabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003846, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Ich glaube, dazu muss man nichts sagen; das ist immer dieser Wettbewerb: Wer ist der größte Menschenverächter? Das ist bitter, aber das ist leider so. Wir müssen gucken, wie wir mit der Lage konstruktiv umgehen, wie wir den Menschen am Ende helfen. Die Welt schaut auf Moria. Ich weiß nicht, ob Sie diese Rückmeldungen nicht bekommen aus Ihren Wahlkreisen. Auch Menschen, die sonst mit Migrationsthemen nicht so viel zu tun haben, melden sich und sagen: Leute, das ist doch erbärmlich, es ist doch nicht zu ertragen, dass Kinder dort jetzt unter diesen Bedingungen auf irgendwelchen Straßenkreuzungen hausen. – Das ist wirklich ein Fanal für einen Teil der Welt, der auf der Flucht ist, und ein Fanal für das Scheitern der Europäischen Union. Ich fürchte, die Bilder werden sich einbrennen wie das Bild des toten Alan Kurdi an der Küste. Es ist gut, dass wir helfen – klar. Das Technische Hilfswerk ist auf dem Weg. Es ist auch gut, dass sich die EU einbringt. Aber bei allem Verständnis für die Europäische Union und für die Schwierigkeiten der Positionen – ich will gar nicht in Abrede stellen, dass Versuche gemacht werden, dort zu Regelungen zu kommen –: Es ist doch völlig klar, dass wir, wenn wir warten, bis das letzte Land mitmacht, wenn wir warten, bis am Ende auch noch Orban in Ungarn bereit ist, Menschen aufzunehmen, dieses Problem nicht lösen können und mit dieser Herausforderung nicht klarkommen. Dann werden wir die Europäische Union, jedenfalls als Wertegemeinschaft, verlieren. Das ist doch völlig klar. ({0}) Ich bin auch dafür, dass man darüber reden muss, wie wir diese europäische Lage klären. Aber jetzt ist die Situation doch so, dass Nothilfe nötig ist. Wie wäre es denn in Deutschland? Wir wäre es denn, wenn bei Ihnen zu Hause in der Stadt ein Haus brennt? Was würde man dann tun? ({1}) Man würde doch nicht anfangen, darüber zu diskutieren, wer der Brandstifter war. Das kann man alles später diskutieren, aber zuerst geht es doch darum, Menschen in dieser erbärmlichen Situation zu helfen. Das ist das, was wir als Europäische Union, als Europa insgesamt, tun müssen. ({2}) Das müssen wir als Deutsche tun. Wir können lange darüber philosophieren, ob wir vorangehen oder nicht vorangehen; wir müssen es tun. Ich will für die Sozialdemokratische Partei sagen: Es ist eine Schande, dass wir dazu nicht in der Lage sind. Als ich die Zahlen gelesen habe, dass 400 Kinder von den EU-Staaten bzw. 100 bis 150 Kinder von Deutschland aufgenommen werden, habe ich es nicht glauben mögen. Ich habe gehofft, dass wir in dieser Debatte heute zu einem anderen Ergebnis kommen. Ich hätte gerne einen anderen Redetext gehabt. Es ist wirklich eine Schande. Ich will für die Sozialdemokratische Partei Deutschlands sagen: Wir sind nicht bereit, einen Teil dieser Verantwortung auf unsere Rechnung zu übernehmen. Wir wollen, dass die Menschen in Deutschland aufgenommen werden. Wir ermahnen die deutsche Bundesregierung, andere Angebote zu machen, als es heute der Fall war. ({3}) Es ist gerade darüber diskutiert worden, dass es in der Union eine Initiative gibt. Wir hören gleich Frau Motschmann. Wenn man einmal Adam Riese bemüht und all die Angebote von Ländern und Kommunen in Deutschland zusammenzählt, dann kommen wir auf die Bereitschaft, über 5 000 Menschen aufzunehmen. Es geht nicht darum, dass die Länder das alleine machen oder die Kommunen das organisieren; das muss der Bund organisieren. Das ist gar keine Frage. Aber dann muss man doch die Solidarität in Deutschland und in der Europäischen Union stärken, wenn die Menschen entsprechend bereit sind, so zu agieren. ({4}) Was die Europäische Union angeht, ist doch völlig klar: Erstens, wir müssen Menschenleben retten, aber nicht, indem wir die Seenotrettung behindern, vielmehr müssen wir sie fördern und unterstützen. ({5}) Wir brauchen zweitens Regelungen an den Außengrenzen. Wir müssen sehen, dass die Situation an den Außengrenzen geordnet wird. Man muss im Übrigen auch den Griechen sagen – bei allem Verständnis –, dass sie Völkerrecht und humanitäre Grundsätze einhalten müssen. Das tun sie in vielen Fällen nicht, schon unter der vorherigen Regierung zum Teil nicht, jetzt aber noch viel weniger. Auch das ist die Wahrheit. Und wir müssen dafür sorgen, dass wir EU-weite Verteilungsregelungen bekommen. Da werden nicht alle mitmachen. Darauf werden wir nicht warten können. Aber es ist richtig, glaube ich, zu sagen: Wer sich nicht an der solidarischen Lösung beteiligt, der kann auch anderes von der Europäischen Union nicht erwarten. ({6}) Aber noch einmal: Jetzt geht es gar nicht um die langfristige Lösung. Da warte ich gerne auf die Vorschläge vom 30. September. Jetzt geht es um Not und Elend sowie um Kinder, die sich in einer erbärmlichen Situation befinden. Ich finde, dass Deutschland agieren muss. Es ist am Ende Ihre Verantwortung, Herr Bundesinnenminister. Vielen Dank. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Die Linke hat nun der Abgeordnete Michel Brandt das Wort. ({0})

Michel Brandt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004679, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In Moria haben wir gesehen, wie Ihr europäisches Projekt der Abschottung, Ihr europäischer Konsens der Verachtung in Flammen aufging. Eine Katastrophe mit Ansage, eine Katastrophe als direkte Folge der Politik, die hier betrieben wird. Die Katastrophe hat sich aber nicht erst Dienstagnacht abgespielt. Sie besteht in den Lagern in Griechenland seit mehr als fünf Jahren. ({0}) 13 000 Menschen stehen wieder einmal vor dem Nichts. Geflüchtete sind die dritte Nacht in Folge im Freien und mit den Nerven am Ende. Es fehlt an allem. Helferinnen und Helfer werden von Anwohnerinnen und Anwohnern bedroht und angefeindet. Die Polizei rüstet auf und behindert Hilfsorganisationen an ihrer Arbeit. Das ist also die europäische Solidarität. Unerträglich! ({1}) Seit dem EU-Türkei-Deal, seit es diese Hotspots gibt, sitzen Geflüchtete in solchen Lagern fest. Von Anfang an waren die Zustände jenseits der Menschenwürde: stundenlang warten auf Essen, zu wenige Schlafplätze, keine Schutzzonen für Frauen und Kinder, katastrophale hygienische Bedingungen. Abdul Karim, ein 26-jähriger querschnittsgelähmter Syrer, bekam nicht nur keine anständige medizinische Versorgung, sondern er musste dabei zusehen, wie ihm Ratten die Füße anfraßen. Das ist das europäische Projekt Moria. Diese Zustände waren und sind politisch doch genau so gewollt, sonst hätte man sie lange ändern können. Und das ist der Skandal. ({2}) Aber spätestens seit Corona hätte man doch einlenken müssen. Und was haben Sie gemacht? Nichts, wieder nichts. Es war doch nur eine Frage der Zeit, bis das Virus das Lager erreicht – eine Frage der Zeit. Und wir hatten sechs Monate Zeit, viel länger, als wir geglaubt haben. Und Sie haben sechs Monate lang nichts gemacht, die Menschen nicht rausgeholt und diese Zustände nicht beendet. Schon im März lag von uns ein Antrag vor, doch wenigstens die 5 000 unbegleiteten Minderjährigen aus Moria rauszuholen. Die Allermeisten hier in diesem Haus haben damals dagegengestimmt. Und jetzt, nach der Katastrophe, lese ich von denselben Abgeordneten Tweets von Betroffenheit und Solidarität geprägt. Ich finde das nur noch heuchlerisch. ({3}) Ich unterbreite einmal einen Vorschlag: Holen Sie doch Leute raus und twittern Sie dann Ihre Taten und nicht vorher. Und noch etwas: Wenn die Seebrücke und andere mit Aktionen 13 0000 Stühle vor Ihre Büros stellen, dann tun sie das nicht, um Ihnen eine schöne Fotokulisse für Ihr Gewissen aufzubauen, sondern es ist eine deutliche Handlungsaufforderung. ({4}) Es ist ja nicht so – und auch das haben wir schon gehört –, dass niemand helfen will in diesem Land. Über 170 Kommunen stehen in Deutschland bereit, Menschen aufzunehmen. Ganze Bundesländer erklären sich bereit, Menschen aufzunehmen. Thüringen ist bereit, mehr Menschen aufzunehmen als die europäische Lösung von Merkel und Macron. Was für ein Armutszeugnis! ({5}) Sorgen Sie doch endlich dafür – ich gucke auch in Richtung SPD; Herr Schwabe, Sie haben es gerade gesagt –, dass diese menschenverachtende Blockade von Ihnen, Herr Seehofer, fällt, dass die Kommunen und Länder, die helfen wollen, auch endlich helfen dürfen. Moria ist doch nur das Paradebeispiel für Ihre organisierte brutale Abschottungspolitik, der kleinste gemeinsame Nenner der zerstrittenen Mitgliedstaaten. Und noch etwas: Wir haben in dieser Debatte von Brandstiftern gehört.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Brandt.

Michel Brandt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004679, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die Brandstifter sind allerdings nicht auf Lesbos zu suchen. Die Brandstifter, die sitzen leider hier im Haus. Danke schön. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Elisabeth Motschmann für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Elisabeth Motschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004357, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Außenminister von Österreich, Alexander Schallenberg, hat gefordert, dass wir die Debatte um Moria deemotionalisieren. Genau das aber ist falsch. ({0}) Ich werde diese Debatte emotionalisieren, aber anders als Sie, Herr Curio. Sie haben emotional vorgetragen, aber eine eiskalte emotionslose Rede gehalten. ({1}) Emotionslose Politik ist niemals gute Politik. Wir müssen Politik mit Kopf und Herz machen. „Man sieht nur mit dem Herzen gut“, heißt es im „kleinen Prinzen“ von Antoine de Saint-Exupéry. Was sehen wir denn? In dritter Nacht in Folge kampieren Menschen am Straßenrad, in den Wäldern, ja sogar auf einem Friedhof, ohne ein Dach über dem Kopf, ohne Lebensmittel, ohne Trinkwasser, ohne sanitäre Anlagen, teilweise ohne Decken und ohne medizinische Versorgung. Das ist nackte Not, meine Damen und Herren, und die müssen wir lindern. ({2}) Es war schon vor dem Brand katastrophal. Man glaubte, es gäbe keine Steigerung des Elends. Die jetzige Situation ist eine Steigerung des Elends. Deshalb habe ich den Brief von Norbert Röttgen unterschrieben, in dem wir fordern, dass als einmalige Nothilfe 5 000 Flüchtlinge aufgenommen werden. Dies war mit niemandem und keinem Gremium abgestimmt; das ist wahr. Meine Unterschrift habe ich allein mit meinem Gewissen und meinem Herzen abgestimmt. Natürlich verstehe ich die Innenpolitiker, die Sorge haben, dass es ein Geschäftsmodell werden könnte, ein Camp abzufackeln, um dadurch eine Fahrkarte nach Deutschland, Frankreich oder in ein anderes EU-Land zu bekommen. ({3}) Dass es zum Missbrauch der Situation kommen könnte, ist aber eine Vermutung. Ich trete mit 12 000 obdachlosen Flüchtlingen an, die auf der Straße liegen; das ist ein Fakt. In diesem extremen Notfall brauchen wir eine einmalige Hilfe für die notleidenden Menschen. Die Verfassung der Europäischen Union gründet sich auf Werte wie Achtung der Menschenwürde und Wahrung der Menschenrechte. Diese Werte müssen wir ernst nehmen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Es ist richtig, vor Ort zu helfen. Aber das dauert. Es ist richtig, eine europäische Lösung zu suchen. Aber auch das dauert. Wir haben es in der Vergangenheit gesehen: Es waren und sind immer nur wenige Staaten, die ihrer Verantwortung gerecht geworden sind. In dieser Situation aber müssen wir nicht erst fragen, sondern wir müssen sofort und tatkräftig zupacken und helfen. ({4}) Wir müssen die Reihenfolge ändern. Alles, was geschieht und was der Innenminister hier vorgetragen hat, ist ja richtig. Aber die Reihenfolge kann in dieser Situation nur sein: erst tatkräftige Hilfe und dann die Gremien, meine Damen und Herren. ({5}) Bisher gibt es eben keine gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik – leider. Deshalb müssen wir jetzt die offensichtliche menschliche Not lindern. Deutschland ist stark, Deutschland kann helfen. ({6}) Ich schließe mit der Präambel unseres Grundgesetzes, die mit den Worten beginnt: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen …“. Mir werden Sie es vielleicht abnehmen, weil es nicht das erste Mal ist, dass ich daran erinnere: In dieser Situation müssen wir uns von diesem Bewusstsein leiten lassen und aus christlicher Verantwortung jetzt handeln. Vielen Dank. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Helge Lindh das Wort. ({0})

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „I Ellada den einai moni”: Griechenland ist nicht allein. – Das ist keine Realität, sondern das ist eine Forderung, die ich sehr ernst meine und die von uns ausgehen muss. Dieser Satz beinhaltet jetzt all die Geflüchteten auf den Inseln und übrigens auch auf dem Festland, aber insbesondere auf Lesbos und in den anderen Lagern. Aber gemeint ist auch die Bevölkerung auf den Inseln, auf dem Festland. Das sind all die Menschen in Griechenland. All denen sind wir es schuldig, dafür zu sorgen, dass diese Lage endlich endet. Wir sind das als Deutsche in ganz besonderem Maße schuldig, nicht nur aufgrund der Belastung infolge der Finanzkrise, sondern ganz besonders auch – das sollten wir nicht vergessen – angesichts dessen, was dieses Land während des Dritten Reiches im deutschen Namen in Griechenland angerichtet hat; ({0}) das gehört zu dieser Geschichte dazu. Ich habe heute Nacht und heute Morgen in einer langen Konversation mit einer Helferin telefoniert, die vor Ort ist; eine Frau, die aus christlichen Motiven, aus Nächstenliebe unterstützt und mit griechischen Organisationen sehr kooperativ zu helfen versucht und die oft nur ihre Aufmerksamkeit und ihr Ohr anbieten kann, der sonst die Hände gebunden sind. Angesichts all dessen sage ich nach den Bildern, die wir sehen, aber auch nach dem Ausbruch von Corona ganz persönlich – auch mit Blick auf mein eigenes Handeln –: Ich habe mich geirrt, und ich habe versagt, und ich habe mich auch schuldig gemacht. Ich sage das nicht als Anklage an die anderen; das wäre zu einfach. Wir alle sind ja bei Migrationsdebatten – auch in moralischen Kulissen – immer gut in der Rechthaberei. Wir haben unsere ideologischen Wagenburgen und haben es immer schon richtig gewusst. Vorhin habe ich das auch so ein bisschen erlebt: Die Grünen haben dies und jenes falsch gemacht; die FDP hat es besser gewusst. – Auch wir sind dagegen nicht immun. Ich glaube aber, das bringt uns in dieser Situation nicht weiter. Das Vetorecht auf Basis der Moralität und der Realität gilt jetzt, und ihm haben wir Folge zu leisten. Deshalb müssen wir uns, glaube ich, klarmachen, dass einzelne Solidaritätslichter, die wir aufstellen, was ja nicht falsch ist, auch zu Nebelkerzen werden können. Natürlich ist es sinnvoll, wenn wir jetzt das THW runterschicken und wenn wir dort Hilfseinrichtungen aufbauen. Und natürlich ist es grundsätzlich eine gute Idee, wenn wir in Zukunft auf Lesbos ein vorbildliches Lager mit einer begrenzten Zahl von Personen und mit besten hygienischen Einrichtungen haben. Aber – diese Fragen müssen wir beantworten –: Werden die Bedingungen dort anders sein? Wie viele Menschen leben dort? Und wie schnell funktionieren Verfahren? Ich befürchte, bis ein solches Lager dort errichtet ist und die Verfahren laufen, sind Monate oder sogar Jahre vergangen. Wir können es uns zu diesem Zeitpunkt nicht erlauben, weiter Monate oder Jahre innezuhalten und abzuwarten. ({1}) Frau Motschmann zitierte gerade Schallenberg, den Europaminister der türkis-grünen oder auch schwarz-grünen Regierung in Österreich, der ein erschreckendes Beispiel für die Politik ist, der wir nicht folgen dürfen: für die Logik der Abschreckung. Er beruft sich darauf, man brauche Deemotionalisierung und Rationalisierung. Einerseits ist das angesichts derjenigen zynisch, die an den Straßen liegen oder sitzen, kein Essen haben und deren Augen wie ausgehöhlt wirken: die Schwangeren, die Alten, die Verzweifelten. Andererseits entspricht das aber auch nicht Schallenbergs eigenem Prinzip. Denn rationalisieren heißt doch in dieser Logik nicht – da widerspreche ich Ihnen, Herr Frei –, zu denken: Wir brauchen jetzt erst ein GEAS, ein funktionierendes System, und dann kann Nothilfe kommen. ({2}) Wir brauchen erst die Nothilfe und diese für Tausende, die zu evakuieren sind; denn niemals – niemals! – wird ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem ({3}) mit Aufnahmezentren funktionieren, wenn wir nicht in diesem Fall, im Fall von Moria, beweisen, dass Europa zu seinen Werten steht und dass es in der Lage ist, Humanität und Kontrolle miteinander zu verbinden. ({4}) Ich sage: Nicht Moralität, aber der Anspruch, Kontrolle walten zu lassen, zeigt, dass Kontrollverlust, dass Rechtlosigkeit, dass Pushbacks, dass menschenverachtende Verhältnisse in Moria nicht diesem Europa entsprechen und dass wir wegen Kontrolle und wegen Kontrollgewinn und wegen Steuerung von Migration und nicht allein aus moralischen Gründen verpflichtet sind, Tausenden von Menschen eine Perspektive zu bieten und sie zu evakuieren, entweder vom Festland oder am besten direkt von den Inseln. Vielen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Michael Kuffer das Wort. ({0})

Michael Kuffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004795, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Das Gebot der Stunde ist Hilfe. Die effektivste Hilfe ist die Hilfe vor Ort, etwa durch den Einsatz des THW, dem ich bereits an dieser Stelle für den Einsatz alles Gute und Gottes Segen wünsche. ({0}) Das ist die humanitäre Dimension und die Frage der Hilfe in der Not. Freilich gibt es darüber hinaus eine politische Dimension, die zu diskutieren dieser Brand nötig macht. Natürlich ist es ein alarmierendes Bild für die europäische Flüchtlingspolitik, wenn 13 000 Personen in Griechenland stranden, für die es keine Perspektive und keine Lösung gibt. Ich hoffe, dass jene Mitgliedstaaten in der EU, die bisher eine Lösung beim GEAS blockiert haben, jetzt zu einem Umdenken kommen. An der Bundesrepublik Deutschland liegt es ganz sicher nicht, und an unserem Bundesinnenminister liegt es schon dreimal nicht. ({1}) Man kann es nicht oft genug betonen: Die Situation auf den griechischen Inseln ist kein originär griechisches Problem; es ist ein europäisches, und deshalb kann auch die Lösung nur eine europäische sein. Und eine europäische Lösung, liebe Kolleginnen und Kollegen, können wir nun durch ein kluges Vorgehen wahrscheinlicher machen, oder wir können sie unwahrscheinlicher machen. Mit einem deutschen Alleingang würden wir sie unwahrscheinlicher machen. ({2}) Und ich habe Verständnis dafür, dass jetzt von verschiedensten Seiten viele Forderungen erhoben werden, die damit zu tun haben, dass man unter dem Eindruck dieser Bilder endlich das durchdrücken kann, was man sich politisch so vorstellt. Aber letztlich haben wir jetzt alle eine Verantwortung zu tragen – das alleine muss jetzt unser Handeln bestimmen –, weil das Thema neben der humanitären und der politischen eine dritte Dimension hat, die wichtig ist, nämlich eine präventive. Wir haben nämlich auch und gerade die Verantwortung dafür, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir eine Wiederholung solcher Dramen unwahrscheinlicher machen oder gar für die Zukunft ausschließen. Und wenn wir jetzt in einer völlig falsch verstandenen vermeintlichen Menschlichkeit alle Ampeln auf Grün stellen, sofort die Inseln evakuieren und die Menschen in Europa verteilen oder gar nach Deutschland holen, dann passiert doch absehbar Folgendes: Wir schaffen einen Pull-Faktor, der größer nicht sein kann, und wir schaffen die Voraussetzung dafür, dass demnächst in Moria die nächsten 15 000 bis 20 000 Menschen stranden, für die es wieder keine Perspektive und keine Lösung gibt. ({3}) Und ich sage Ihnen darüber hinaus ganz offen, dass wir die Reaktion auch so auslegen müssen, dass die Gefahr einer Wiederholung von Brandstiftungen kleiner und nicht größer wird. Wir wissen mittlerweile sicher, dass es sich um Brandstiftung handelt. Der Sprecher der griechischen Regierung hat gestern Nachmittag zur Frage, von wem die Brände gelegt worden sind, eine eindeutige Antwort gegeben. Wie auch immer es gewesen ist: Ich will mir auf jeden Fall nicht vorstellen, liebe Kolleginnen und Kollegen, wie viele Menschenleben wir gefährden, wenn der Eindruck entsteht, dass ein Brand die Eintrittskarte auf das europäische Festland sein kann. ({4}) Deshalb bleibe ich dabei: Es ist richtig, vor Ort zu helfen. Es ist richtig – und ich bin dankbar dafür –, jetzt die 150 unbegleiteten Minderjährigen in einer europäischen Lösung aufzunehmen, so wie sie der Bundesinnenminister heute Morgen zusammen mit Kommissar Schinas vorgestellt hat. Ich bin froh, dass die Bundesregierung hier wohlüberlegt und sehr verantwortlich gehandelt hat, gerade mit Blick auf die Zukunft. Dafür danke ich ausdrücklich dem Bundesinnenminister, der sich die letzten Tage Unsägliches hat anhören müssen, und ich danke auch der Bundeskanzlerin, die hier, wie ich meine, bereits vorgestern die richtige Linie vorgegeben hat. Vielen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache.

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Gesetz zur Stärkung der Vor-Ort-Apotheke ist eines, bei dem der Name tatsächlich Programm ist. Es geht darum, die Apotheken, die in dieser Pandemie immer noch zeigen, aber vor allem in den ersten Monaten gezeigt haben, wie wichtig ihre Arbeit ist, wie wichtig es ist, sie auch vor Ort leicht und gut erreichbar zu haben, für die 20er-Jahre zu stärken. Sie waren nah und gut erreichbar ab dem ersten Tag, sie waren vor allem auch für die niedrigschwellige Beratung gut erreichbar. Ich kann erinnern: Am Anfang, im Februar/März, gab es teilweise lange Schlangen vor den Apotheken, weil die Bürgerinnen und Bürger viel Informationsbedarf hatten und dieser niedrigschwellig auch in den Apotheken befriedigt wurde. Es gab übrigens auch viele krebs- oder HIV- und andere chronisch kranke Patienten, die, als Meldungen kamen, Medikamentenknappheit könnte entstehen, zum Teil wirklich mit Tränen in den Augen, erschüttert und in Sorge um ihr Leben und ihre Gesundheit, in den Apotheken intensiv beraten und unterstützt worden sind und dadurch auch wieder Sicherheit gefunden haben. Wir haben es beim Thema Desinfektionsmittel gesehen. Desinfektionsmittel waren zu Beginn knapp, und wir haben gemeinsam mit dem Umweltministerium Ausnahmeregelungen möglich gemacht, sodass die Apotheken vor Ort sie wieder herstellen konnten. Auch dort konnten wir gemeinsam die Knappheit wieder in eine gute Versorgung verwandeln. Deswegen möchte ich das heute zum Anlass nehmen, auch ein großes Dankeschön an die Apothekerinnen und Apotheker zu sagen, an die vielen pharmazeutisch-technischen Assistentinnen und Assistenten und alle anderen, die in den Apotheken während der Pandemie in den letzten Wochen und Monaten bis heute einfach eine Wahnsinnsarbeit gemacht haben, aber auch in den nächsten Monaten leisten werden. Danke schön dafür! ({0}) Was ist nun wichtig zur Stärkung der Apotheken? Erstens wollen wir außer der Vergütung, die ja formal im Moment nur bei der Abgabe einer Packung erfolgt, zusätzliche Dienstleistungen vergüten, etwa bei der Medikationsberatung. Es gibt viele Patientinnen und Patienten in Deutschland, die 10, 12, 14 Medikamente jeden Tag nehmen, nehmen müssen. Für diese Menschen macht es Sinn, auch dort niedrigschwellig eine gute Beratung zu bekommen. Es geht auch um präventive Angebote, wobei die Grippeimpfung als Modellprojekt bereits ermöglicht ist. Ich wünsche mir sehr, dass das mit Blick auf die kommende Grippesaison jetzt schon in einigen Regionen in Deutschland tatsächlich auch erprobt werden kann, und danach sieht es aus. Der Notdienst gehört dazu, der schon seit einigen Jahren zusätzlich vergütet wird; wir haben die Notdienstvergütung noch mal angehoben. All das – es gäbe noch mehr Beispiele – sind zusätzliche Dienstleistungen über die Abgabe von Arzneimitteln hinaus, die die Apotheken jeden Tag erbringen und die wir zusätzlich vergüten wollen. Zweitens gehört zur Stärkung der Vor-Ort-Apotheke, sie bei der Digitalisierung zu unterstützen. Wir sind beim Rezept, das immer noch körperlich, also auf Papier, im Grunde den ganzen Weg bis zur Abrechnung bei den Krankenkassen durchläuft, eigentlich noch eher in den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts als in den 20ern dieses Jahrhunderts. Und deswegen ist es richtig und wichtig, dass das E-Rezept kommt. Das haben wir schon in der Koalition aufgegriffen, das hat der Bundestag schon angestoßen. Aber dafür wollen wir auch weiter den Rahmen setzen. Dabei ist es wichtig, die Apotheke vor Ort im Wettbewerb zu stärken, sodass es klare Regeln gibt, dass der Patient darüber entscheidet, welche Apotheke das Arzneimittel tatsächlich liefert oder zur Verfügung stellt. Dazu gehört drittens ein fairer Wettbewerb, ein fairer Wettbewerb vor allem bei den Preisen, kein Wildwest mehr beim Bonus, insbesondere da, wo sozialrechtlich die gesetzlichen Krankenversicherungen zahlen. Nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofes können ausländische Versender einen Bonus geben; die inländischen Apotheken können das nicht und wollen das auch nicht, und wir als Koalition wollen das eben auch nicht. Arzneimittel sind kein Produkt, keine Ware wie jede andere. Da braucht es besondere Regeln und deswegen eben auch klare Regeln bei den Preisen für verschreibungspflichtige Arzneimittel. Diese Wildwestmethoden, die es im Bereich der Krankenversicherung gibt, wollen wir beenden. ({1}) Im Übrigen hilft auch die Vergütung der Botendienste; denn die Apotheke vor Ort liefert im Bedarfsfall binnen Stunden ein Arzneimittel aus, während der Versandhandel zwei, drei Tage braucht. Ich fasse zusammen, Frau Präsidentin. – Fairer Wettbewerb, mehr vergütete Dienstleistungen, Stärkung im Bereich der Digitalisierung, all das macht im Alltag und im Notfall die Apotheken stark für das, was in den 20er-Jahren kommt. Genau das wollen wir mit dem Gesetz anstoßen. Deswegen bitte ich um konstruktive Beratungen. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Paul Viktor Podolay für die AfD-Fraktion. ({0})

Paul Viktor Podolay (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004855, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor allem: Liebe Apothekerinnen und Apotheker! Wie wichtig die flächendeckende Versorgung durch die Vor-Ort-Apotheken in Deutschland ist, hat uns die durch die Regierung herbeigeführte Coronakrise noch einmal schmerzlich offenbart. ({0}) Apotheken gehören zu den wichtigsten und stabilsten Säulen unseres deutschen Gesundheitssystems. Sie versorgen uns mit Arzneimitteln, übernehmen Nacht- und Notdienste und stehen uns mit kompetenter Beratung zur Seite. Besonders in ländlichen Gegenden, die zusätzlich auch noch vom Ärztemangel und von der Schließung von Krankenhäusern betroffen sind, sind die sogenannten Solitärapotheken unabdingbar für die bedarfsgerechte Versorgung der Bevölkerung. Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass diese traditionsreichen Apotheken erhalten bleiben. Viele dieser Apotheken sind jedoch von der Schließung bedroht, da der europäische Versandhandel sie langsam, aber stetig vom Markt verdrängt. So sollte man meinen, dass die Regierung alles Nötige tun würde, um die pharmazeutische Versorgung der Menschen auf dem Lande sicherzustellen, insbesondere in diesen schwierigen Zeiten, in denen auch noch um jeden Arbeitsplatz gekämpft werden muss. Die Bundesregierung hat in den zurückliegenden Monaten immer wieder betont, sie wolle die deutschen Präsenzapotheken unterstützen, und hat dafür den Entwurf eines Vor-Ort-Apotheken-Stärkungsgesetzes vorgelegt. Was uns in diesem Gesetzentwurf serviert wird, ist jedoch wieder einmal Augenwischerei. In dieser Einschätzung bestätigt uns sogar der Bundesrat in seiner Stellungnahme. Was diesen Gesetzentwurf wirklich unterstützenswert gemacht hätte und wodurch ein signifikanter Unterschied hinsichtlich der Lebensrealität unserer deutschen Bürger gemacht worden wäre, wäre ein Versandhandelsverbot für rezeptpflichtige Arzneimittel gewesen. Der Bundesrat schreibt in seiner Stellungnahme zum Gesetzentwurf, dass dieser sein eigenes Ziel, nämlich die Stärkung der deutschen Vor-Ort-Apotheken, konterkariert. Die AfD fordert genauso wie der Bundesrat, den Versand verschreibungspflichtiger Arzneimittel zu verbieten und dafür den Botendienst der Vor-Ort-Apotheken auszubauen, um den Stand der deutschen Apotheken zu stärken. Wir haben unseren Antrag „Apotheken – Botendienste sichern und ausbauen“ eingebracht, um eine Pauschale für Botendienste langfristig einzuführen, auch für die Zeit nach Corona, also ab sofort. ({1}) Vieles ist noch unklar, was das Gesetz zur Stärkung der Vor-Ort-Apotheken betrifft. Die ursprüngliche Verortung des Botendiensthonorars im Krankenhauszukunftsgesetz ist gescheitert. Die Botendienstvergütung gemäß der aktuellen Coronaverordnung läuft am 30. September aus, und im Kabinettsentwurf ist keine Spur davon. Werden die Apotheken nach dem 30. September noch ein Honorar für die Botendienste bekommen? Das ist alles fraglich. Herr Bundesgesundheitsminister, ich fordere Sie auf: Stehen Sie zu Ihrem Wort und zu Ihrem Vorhaben, die Vor-Ort-Apotheken zu unterstützen, und hören Sie endlich auf, die Menschen da draußen mit ihren verdünnten und substanzlosen Initiativen hinters Licht führen zu wollen! Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Sabine Dittmar das Wort. ({0})

Sabine Dittmar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004261, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Fast vier Jahre sind seit dem EuGH-Urteil, das den europäischen Versendern die Bonigabe erlaubt, ins Land gezogen. Man mag zum Versandhandel stehen, wie man will, aber mit dem Urteil wurden Fakten geschaffen. Fakt ist auch, dass es trotz aller Horrorszenarien, die im Nachgang heraufbeschworen wurden, durch den Rx-Versandhandel keinerlei signifikante Marktverschiebungen gegeben hat. ({0}) Der Marktanteil liegt nach wie vor stabil bei rund 1 Prozent. Das hängt natürlich auch damit zusammen, dass unsere Patientinnen und Patienten den Wert ihrer Vor-Ort-Apotheke sehr zu schätzen wissen. Und die Apotheken haben ihren Wert während der letzten Monate – auch der Herr Minister hat das in seinen Dankesworten vorhin zum Ausdruck gebracht – noch einmal unter Beweis gestellt. ({1}) Spannend ist für mich, dass das IGES-Gutachten, das vom Gesundheitsministerium in Auftrag gegeben wurde, zu dem Ergebnis kommt, dass sich auch nach den gesetzgeberischen Veränderungen im Rx-Versandhandel nichts Wesentliches ändern wird. ({2}) Aber, Kolleginnen und Kollegen, ich halte den vorliegenden Gesetzentwurf zur Stärkung der Vor-Ort-Apotheken dennoch für richtig und wichtig. Es ist Ihnen bekannt, dass wir Sozialdemokraten einem Rx-Versandhandelsverbot nicht sehr viel abgewinnen können; denn gerade bei der Versorgung von Patienten mit speziellen Bedarfen spielen vor allem die deutschen Versandhändler eine wichtige Rolle. Nur 300 von unseren 19 000 Apotheken verfügen zum Beispiel über ein Sterillabor, das notwendig ist, um besondere Versorgungsbedarfe abdecken zu können. Aber es war uns immer wichtig – das haben wir auch stets zum Ausdruck gebracht –, dass im Wettbewerb zwischen Offizinapotheken und europäischen Versendern gleich lange Spieße hergestellt werden müssen, und das europarechts- und verfassungskonform. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Vor-Ort-Apotheken liegt uns ja schon seit ein paar Monaten vor. Das Gesundheitsministerium hatte viel Zeit, mit der EU-Kommission einen gemeinsamen Weg abzustimmen. Meine Fraktion geht deshalb davon aus, dass die europarechtlichen Probleme ausgeräumt sind und das Apothekengesetz von Minister Spahn kein zweites Mautdesaster wird. Meine Damen und Herren, mit dem Gesetz wollen wir dafür sorgen, dass Vor-Ort-Apotheken und europäische Versandapotheken, die zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung verordnete Medikamente als Sachleistungen abgeben, dem Rahmenvertrag beitreten. Sie müssen dann auch die darin vorgegebenen Rechtsvorschriften zwingend einhalten. Dazu gehört unter anderem die Anerkennung der Arzneimittelpreisverordnung. Der Arzneimittelpreis ist ein wichtiges Steuerungselement in unserer nationalen Gesundheitspolitik. 17 Prozent der Leistungsausgaben der GKV gehen auf Arzneimittel zurück. Die Steuerung über die Arzneimittelpreisverordnung, das AMNOG-Verfahren und die Rabattverträge hat sich bewährt. Sie ist wichtig für die finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung. Kolleginnen und Kollegen, ein mir ganz besonders wichtiger Aspekt in diesem Gesetzentwurf ist die Aufwertung der heilkundlichen Kompetenz der Apotheker. Deswegen ist es richtig, dass für zusätzliche pharmazeutische Dienstleistungen auch ein Extrahonorar zur Verfügung gestellt wird. Viele Punkte des Gesetzentwurfs haben wir in den letzten Monaten schon abgearbeitet. Ich möchte an die Dauerverordnung erinnern oder auch an die Modellprojekte für die Grippeschutzimpfung. Ich persönlich muss sagen: Ich bin sehr verwundert darüber, dass das Modellprojekt in der Apothekerschaft zurückhaltend angenommen wurde. Ich hätte mir hier mehr Drive gewünscht. Kolleginnen und Kollegen – ich komme zum Schluss –, auch wenn der Apotheker vor Ort Sie noch nicht impft, denken Sie daran: Die Erkältungszeit steht vor der Tür. Wir sollten auf alle Fälle vermeiden, dass wir neben einer steigenden Zahl an Coronainfektionen gleichzeitig auch mit einer Grippewelle zu kämpfen haben. Nehmen Sie sich deshalb Zeit für die Grippeschutzimpfung! Ich freue mich auf die parlamentarischen Beratungen und danke für die Aufmerksamkeit. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun die Kollegin Christine Aschenberg-Dugnus das Wort. ({0})

Christine Aschenberg-Dugnus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004003, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Gesetzentwurf ist leider mit heißer Nadel gestrickt worden, und was das Schlimmste ist: Nach unserer Auffassung ist er europarechtswidrig und kann sogar zu Schadensersatzforderungen gegen Deutschland führen. Da hört es für uns auf. Das machen wir nicht mit. ({0}) Sie wollen die sogenannte Gleichpreisigkeit statt über das Arzneimittelgesetz über das Sozialgesetzbuch V regeln. Das bedeutet, ausländische Versandapotheken sollen über das Sozialgesetzbuch der deutschen Preisbindung unterworfen werden. Das ist doch – das muss ich so deutlich sagen – ein Taschenspielertrick, der dazu dient, die EuGH-Rechtsprechung – die Kollegin hat es schon angesprochen – aus dem Jahr 2006 zu umgehen. Die Bundesregierung wurde diesbezüglich schon mehrfach von der EU ermahnt. ({1}) Sie sah sich einem Vertragsverletzungsverfahren ausgesetzt. Ich finde, es ist keine großartige Leistung, die die Bundesregierung bisher gezeigt hat. ({2}) Wir haben durch unsere Kleine Anfrage erfahren, dass zwischen August 2019 und Juli 2020 insgesamt neun Gespräche zwischen der Europäischen Kommission und der Bundesregierung stattgefunden haben, allerdings ohne Ergebnis. Eine Einigung mit Brüssel, wie sie die Kollegen von der SPD so wie wir zu Recht einfordern, sieht anders aus und liegt leider nicht vor. Das SPD-geführte Justizministerium geht ebenfalls von einer Europarechtswidrigkeit des vorliegenden Gesetzentwurfes aus. ({3}) Ich sage es ganz deutlich: Der Gesetzentwurf basiert auf der falschen Annahme, die flächendeckende Versorgung mit Arzneimitteln durch Vor-Ort-Apotheken sei durch die Bonigewährung durch den ausländischen Versandhandel gefährdet. Dafür gab und gibt es keinerlei Belege oder Anhaltspunkte. Im Gegenteil – ich kann das immer wieder nur bestätigen –: Die Patientinnen und Patienten sind da schon viel weiter. Im Qualitätswettbewerb zwischen der Offizinapotheke und dem ausländischen Versandhandel entscheiden sich die Patienten bei rezeptpflichtigen Arzneimitteln trotz Boni weiterhin für ihre Vor-Ort-Apotheke, weil sie dort ein Vertrauensverhältnis aufgebaut haben. Der Marktanteil bei Versandapotheken liegt hier bei 1 Prozent. ({4}) Insofern wäre ein Notifizierungsverfahren von Anfang an der richtige Weg gewesen, aber wahrscheinlich hatten Sie Angst vor dem Ergebnis. Wir haben realisierbare Vorschläge unterbreitet, die ich noch einmal kurz nennen möchte: Wir haben uns für einen fairen Wettbewerb, also für gleich lange Spieße, eingesetzt und können uns einen schmalen Korridor bzw. Leitplanken für Boni vorstellen. Damit wäre dem EuGH-Urteil Rechnung getragen, und vor allen Dingen wäre unser inländischer Versandhandel nicht länger benachteiligt. ({5}) Wir finden gut, dass die Polypharmazieberatungen besser vergütet werden. Sie haben es angesprochen, Herr Minister: Die bessere Vergütung des Nacht- und Notdienstes war übrigens eine Erfindung eines FDP-Ministers, nur um das klarzustellen. Meine Damen und Herren, wir als FDP-Fraktion haben erhebliche europarechtliche Bedenken gegenüber dem vorliegenden Gesetzentwurf. Ich kann meiner Kollegin Dittmar von der SPD nur zustimmen: Ein zweites Debakel wie bei der Maut dürfen wir uns beim Apothekengesetz nicht leisten. Ich freue mich auf die Anhörung. Herzlichen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Dr. Petra Sitte für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Patientinnen und Patienten müssen schnell an ihre Medikamente kommen können und dabei verlässlich beraten werden. Eine Schweizer Versandapotheke auf den Kaimaninseln mit der saudischen Königsfamilie als Anteilseigner hilft zwar, Steuern zu sparen, aber in aller Regel nicht den Patientinnen und Patienten. ({0}) Nötig sind vielmehr Apotheken in Wohnortnähe, die in jedem Sinne die Sprache ihrer Patientinnen und Patienten sprechen und auch nachts und an Wochenenden für ihre Anliegen offen sind. Wir wollen Apotheken, die in ihr Umfeld, ob auf dem Dorf oder in der Stadt, eingebunden sind, die mit den Ärztinnen und Ärzten im Austausch stehen, die beim Medikationsmanagement helfen und die somit die „sprechende Medizin“ stärken. All das leistet der Versandhandel nicht. ({1}) Allein in den vergangenen zehn Jahren haben mehr als 10 Prozent aller Apotheken aufgegeben. Mittlerweile liegt die Apothekendichte in Deutschland deutlich unter dem EU-Durchschnitt. Das macht sich vor allem in den ländlichen Regionen arg bemerkbar. Deshalb brauchen die Apotheken vor Ort vom Bundestag aus ein klares Bekenntnis seitens der Politik. Ihr Apothekenstärkungsgesetz sieht zwar eine ganze Reihe von Verbesserungen vor; das will ich gar nicht in Abrede stellen. Aber Sie wollen beispielsweise auch das Honorar, das gerade in den Pandemiezeiten für die Botendienste so wichtig war, auf 2,50 Euro senken, also halbieren. Dafür schaltet ein Taxifahrer nicht einmal die Uhr an. Für eine Kostendeckung haben wir, Die Linke, bereits vor längerer Zeit eine gesonderte Finanzierung vorgeschlagen und diese mit Qualitätsvorgaben verbunden. Wir wollen, dass entweder bei der Abgabe des Rezepts oder bei der Auslieferung des Medikaments durch pharmazeutisches Personal beraten werden kann und beraten werden muss. Meine Damen und Herren, warum drängen Sie mit dem vorliegenden Gesetzentwurf die Apotheken in eine Konkurrenz zu internationalen Versandhändlern? Das verstehe ich nicht, auch weil Sie das im Koalitionsvertrag eigentlich anders versprochen oder zumindest in Aussicht gestellt hatten. Auch der Bundesrat fordert mehrheitlich – dort insbesondere Bayern; man staune –, dass die Versandhandelslösung nicht angestrebt wird. Ein solches klares Verbot gibt es im Übrigen in 21 von 28 EU-Staaten. Sie können darauf zurückgreifen, Herr Spahn, und Ihre EU-rechtlichen Bedenken zurückstellen. ({2}) Wohin uns Liberalisierung und Deregulierung – das sage ich insbesondere mit Blick auf die FDP – im Gesundheitsbereich in den letzten Jahrzehnten geführt haben, das hat die Coronakrise deutlich gezeigt. Sie sind das falsche Rezept, auch für Apotheken. Die Linke hat bereits vor einem Jahr einen Antrag zum Thema Versandhandelsverbot eingebracht. Schließlich will ich nicht unerwähnt lassen, dass es im vergangenen Jahr eine Petition mit einer Rekordzahl von über 420 000 Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern gegeben hat, die wir hier im Bundestag nicht übergehen sollten, wenn wir den Gesetzentwurf beraten. Wir als Linke wollen, dass Sie erst einmal den Koalitionsvertrag einhalten. ({3}) Besten Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Kordula Schulz-Asche für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Kordula Schulz-Asche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004405, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor fast vier Jahren entschied der Europäische Gerichtshof, dass ausländische Versender auch bei verschreibungspflichtigen Arzneimitteln Rabatte und Boni gewähren dürfen. Seitdem tobt in Deutschland eine Diskussion darüber, den seit 2004 etablierten erlaubten Versandhandel mit diesen Medikamenten ganz zu verbieten. Heute erleben wir eine Art Höhepunkt dieses Trauerspiels in Gestalt einer juristischen Finte, die uns Herr Minister Spahn vorgelegt hat. Ich bezweifle sehr stark, dass diese Finte vor dem Europäischen Gerichtshof bestehen wird; wir werden sehen. Wir Grünen versuchen übrigens ebenfalls seit vier Jahren, den Fokus darauf zu legen, worauf es bei der guten Versorgung von Bürgerinnen und Bürgern wirklich ankommt. Wir sind uns alle einig: Für eine patientennahe, flächendeckende Versorgung mit Arzneimitteln ist die Vor-Ort-Apotheke unverzichtbar. ({0}) Aber gerade dazu steht im aktuellen Gesetzentwurf erstaunlich wenig. Die Stärke von Apothekerinnen und Apothekern liegt gerade nicht darin, wie viele Arzneimittelpackungen sie verkaufen – das ist der heutige Zustand –, sondern in ihrer heilberuflichen Kompetenz. Wir wollen die Vergütung von pharmazeutischen Dienstleistungen verbessern. Dazu gehört, dass wir die Arbeit von Apothekerinnen und Apothekern zum Beispiel in den Bereichen Arzneimittelsicherheit und Medikationsmanagement sowie bei der Beteiligung an Programmen zur besseren Betreuung gerade älterer Menschen mit mehreren Erkrankungen aufwerten. ({1}) Ja, meine Damen und Herren, es gibt eine ganze Reihe von in ihrer Existenz gefährdeten Apotheken. Deswegen wollen wir zum Beispiel – wir machen mehrere Vorschläge – den Nacht- und Notdienstfonds zu einem echten Sicherstellungsfonds weiterentwickeln. So könnten wir die flächendeckende Versorgung in Stadt und Land tatsächlich gewährleisten. ({2}) Ein weiterer Punkt: Immer mehr junge Apothekerinnen und Apotheker suchen Angestelltenverhältnisse oder nach risikoarmen Geschäftsmodellen. Deshalb wollen wir zum Beispiel das gemeinsame Betreiben einer Apotheke durch mehrere Apothekerinnen und Apotheker endlich erleichtern. ({3}) Meine Damen und Herren, das sind nur einige Punkte aus unserem Antrag, mit denen wir die Vor-Ort-Apotheke stärken wollen. Darauf kommt es nämlich in der aktuellen Situation tatsächlich an. Das sogenannte Vor-Ort-Apotheken-Stärkungsgesetz macht aber genau das Gegenteil. Es verlängert die Debatte über das Rx-Versandhandelsverbot und verhindert die notwendige gemeinsame Diskussion über innovative und nachhaltige Ideen für eine gute Patientenversorgung und eine sichere Zukunft für die Vor-Ort-Apotheke. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Michael Hennrich das Wort. ({0})

Michael Hennrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003551, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mich zunächst dem Dank unseres Bundesgesundheitsministers an die Apotheker und ihre Mitarbeiter vor Ort für ihre großartige Leistung zur Bewältigung der Coronakrise anschließen. Ich habe es selber im Wahlkreis erlebt. Als die Desinfektionsmittel ausgingen, waren die Apotheker bereit, über Nacht neue Desinfektionsmittel anzurühren. Sie haben bei Lieferengpässen mit benachbarten Apotheken telefoniert und sich um Nachschub gekümmert. Nie stand der Schutz des Apothekers im Vordergrund, sondern immer der Schutz der Patienten, die Hilfe für die Patienten. Dafür möchte ich mich noch einmal ausdrücklich bedanken. ({0}) Ich glaube, es ist wichtig, noch einmal auf die Zusammenhänge einzugehen, warum wir heute dieses Vor-Ort-Apotheken-Stärkungsgesetz beschließen müssen. Wir hatten einen funktionierenden Markt bei einem guten Nebeneinander von Versandapotheken und Präsenzapotheken. Beide waren zwar mit der Situation unzufrieden, aber den Patienten hat es genutzt; denn den Patienten standen zwei Versorgungswege offen. Dann kam dieses unselige Urteil des EuGH, der ausschließlich auf das Thema Wettbewerb Wert gelegt hat und zu keinem Zeitpunkt den Aspekt der Versorgungssicherheit, die flächendeckende Versorgung der Patienten, in den Mittelpunkt seiner Entscheidung gestellt hat. Ich gebe es ganz offen zu: Tief im Innern meines Herzens bin ich ein Anhänger des Rx-Versandhandelsverbots. ({1}) Ich bin Sabine Dittmar dafür dankbar, dass sie noch mal deutlich gemacht hat, dass die SPD davon nicht ganz so begeistert ist. In den Monaten, in denen ich für das Versandhandelsverbot gekämpft habe, habe ich gelernt, dass ich mit der Idee und den Vorstellungen ein Stück weit old-fashioned bin, dass das nicht der Wunsch der Patienten ist, egal wo, sondern dass das ausschließlich getriggert war – leider Gottes – von den Apothekern. Das sind Realitäten, die wir anerkennen müssen. Deswegen haben wir jetzt einen Gesetzentwurf auf den Weg gebracht, mit dem wir versuchen, möglichst nah an die Situation heranzukommen, wie wir sie vor dem EuGH-Urteil hatten. Liebe Frau Kollegin Schulz-Asche, ich möchte schon sehr deutlich sagen: Das ist keine Finte. Wir haben die Vergütung der Ärzte im SGB V geregelt. Wir haben die Vergütung der Krankenhäuser im SGB V geregelt. Und es ist eine Lücke, dass wir bisher nicht auch das Thema „Arzneimittelversorgung/Apotheken“ im SGB V integriert haben. Deswegen ist das ein richtiger und notwendiger Schritt, und ich bin überzeugt, dass das verfassungsrechtlich und europarechtlich hält. ({2}) Aber ich will noch einige Punkte ansprechen, die mir in dem Gesetzgebungsverfahren sehr, sehr wichtig sind: Punkt eins: Gleichpreisigkeit auch bei Privatversicherten. Das haben wir im Gesetzentwurf bisher noch nicht vorgesehen. Aber ich glaube, wir sollten uns darüber noch mal vertieft Gedanken machen, weil es ja mit dem E-Rezept zu einer Wende im Wettbewerb gekommen ist. Das EuGH-Urteil basiert wesentlich darauf, dass man gesagt hat: Die Versandapotheker können nur über den Preis in den Wettbewerb kommen und im Wettbewerb bestehen. – Mit dem E-Rezept – das hat das IGES-Gutachten auch sehr deutlich gemacht – kommt es zu einem Paradigmenwechsel. Deswegen stellt sich schon die Frage, ob man jetzt zusätzlich noch mehr Flexibilität beim Preis braucht oder ob wir vielleicht auch, was den Privatversichertenbereich angeht, für Gleichpreisigkeit sorgen können. Zweites Thema sind die pharmazeutischen Dienstleistungen. Ich erwarte, dass wir auch da zum Beispiel den Landesverbänden mehr Möglichkeiten einräumen, Verträge zu schließen. Wir haben in der Vergangenheit die Blockaden auf Bundesebene erlebt. Deswegen ist mein Wunsch und mein Appell an den Minister, für ein bisschen mehr Flexibilität zu sorgen. Wir sollten uns – das möchte ich zum Schluss ansprechen – ein Thema noch einmal sehr genau anschauen, nämlich den Erwerb von TeleClinic durch DocMorris. Seit 780 Jahren gibt es die Regel, dass Ärzte nicht an Medikamentenabgaben verdienen sollen. Diese Regel wurde mit diesem Kauf gebrochen. Das ist ein fundamentaler Paradigmenwechsel in der Versorgung von Patienten. Mein Wunsch ist, dass wir an dem Punkt Flagge zeigen ({3}) und eine Regelung finden, die dieses Thema beendet. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun Dr. Edgar Franke das Wort. ({0})

Dr. Edgar Franke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004033, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Versandhandelsverbot für verschreibungspflichtige Medikamente ist aus meiner Sicht ein Rezept von gestern – das habe ich schon gesagt, und das stimmt nach wie vor, lieber Michael Hennrich –; denn erstens hat das taufrische IGES-Gutachten dies noch mal bestätigt, und zweitens wäre es ein Verstoß gegen die Berufsfreiheit und das Eigentumsrecht der Versandhändler. Seit inzwischen 16 Jahren gibt es den Arzneimittelversandhandel hier in Deutschland, und die Welt ist nach wie vor nicht untergegangen. Das muss man ganz deutlich sagen, meine sehr verehrten Damen und Herren. Die Versorgung ist nicht schlechter geworden, ganz im Gegenteil. ({0}) Deshalb finde ich es richtig, dass wir als Koalition vom Rx-Versandhandelsverbot Abstand genommen haben. Seit dem EuGH-Urteil, das hier schon mehrfach angeführt wurde, haben wir es ja schriftlich: Ein Rabattverbot im Arzneimittelgesetz ist europarechtswidrig. Deswegen begrüße ich es ausdrücklich, Herr Minister, dass Sie einen innovativen Vorschlag vorgelegt haben, mit dem wir den gordischen Knoten zusammen durchschlagen wollen. Wir streichen jetzt die Vorgabe eines einheitlichen Abgabepreises aus dem Arzneimittelrecht und überführen sie, wenn man so will, in das Sozialrecht. Sie wissen alle: Das Sozialrecht ist dem Zugriff des Europäischen Gerichtshofs entzogen. Anders als im Wirtschaftsrecht können wir im Sozialrecht, und hier im SGB V, besondere nationale sozialrechtliche Regelungen ausgestalten. Insofern können wir schon davon ausgehen – Herr Hennrich hat es auch gesagt –, dass das europarechtlich hält. Meine sehr verehrten Damen und Herren, nach langer Diskussion treffen wir endlich eine ordnungspolitische Entscheidung. Auch das sind wir nicht nur den Patienten, sondern auch den Apothekern schuldig. Deshalb unterstützen wir als SPD – Frau Dittmar hat es schon gesagt – das Gesetz grundsätzlich. Problematisch ist allerdings – das möchte ich ausdrücklich sagen –, dass Kassenpatienten jetzt keine Rabatte mehr erhalten, Privatversicherte aber schon, weil sie nicht dem Sozialrecht unterliegen. Das ist eine Ungleichbehandlung; das muss man schon sagen. Sicher ist aber, meine sehr verehrten Damen und Herren: Das Gesetz sorgt für einen fairen Wettbewerb, und wir stärken die Apotheken vor Ort. Der Minister hat es schon gesagt: Wir haben die Zahl der Nacht- und Notdienste bereits erheblich erhöht; auch das ist etwas für die Stärkung der Apotheke vor Ort, gerade auf dem Land. Und: Mit diesem Gesetz vergüten wir zum ersten Mal, Frau Sitte, die Botendienste dauerhaft. Auch das ist positiv für die Versorgung; das muss ich ganz klar sagen. Jetzt müssen allerdings – das möchte ich zum Schluss noch sagen – die Apotheken digitaler werden. Wir wissen alle: Ab 2021 sollen E-Rezepte bei jeder Apotheke, auch bei der Apotheke um die Ecke, eingelöst werden können. Da ist für mich eines klar – das sage ich hier auch –: Ohne Apotheken vor Ort wird es nicht gehen. Der Minister hat auch gesagt, dass wir gerade in der Coronapandemie gemerkt haben, wie wichtig Apotheken vor Ort sind. Die Menschen brauchen eine kompetente, die Menschen brauchen eine persönliche Beratung; Frau Schulz-Asche hat den Medikationsplan angeführt. Ich glaube, mit diesem Gesetzentwurf schaffen wir einen fairen Ausgleich zwischen freiem Wettbewerb, der auch ein Wettbewerb um Qualität und deswegen wichtig ist, auf einer einen Seite und der Versorgungssicherheit auf der anderen Seite.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Franke, denken Sie bitte an die Zeit.

Dr. Edgar Franke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004033, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Dieser Ausgleich – Frau Präsidentin, letzter Satz –, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist das richtige Rezept für die Apotheke von morgen. Danke schön. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun die Kollegin Emmi Zeulner das Wort. ({0})

Emmi Zeulner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004452, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich kurz etwas Grundsätzliches sagen: Es ist die hoheitliche Aufgabe unseres Staates, die Menschen in unserem Land mit Medikamenten zu versorgen, und diese hoheitliche Aufgabe haben wir als Staat unseren Apothekern übertragen. Diese haben gerade in den letzten Monaten deutlich gezeigt, dass sie eine hervorragende Arbeit für unser Gemeinwohl leisten, mit viel Einsatz und Kompetenz vor Ort. Deswegen ein herzliches Vergelt’s Gott dafür. ({0}) Doch mit der Übertragung der Aufgabe an die Apotheker geht auch ein Sicherstellungsauftrag für uns als Gesetzgeber einher; denn wir müssen es den Apothekern ermöglichen, ihre Aufgabe zu erfüllen. Wir wollen dabei weiterhin zwar einen Qualitätswettbewerb, aber eben keinen Preiswettbewerb. Genau das ist es, warum für mich das Versandhandelsverbot bei rezeptpflichtigen Medikamenten der Königsweg bleibt. ({1}) Nicht weil ich grundsätzlich gegen Versandhandel bin – nein –, sondern weil für mich das Versandhandelsverbot bedeutet, eine Gleichpreisigkeit von rezeptpflichtigen Medikamenten auch für Versandhandelsapotheken aus dem EU-Ausland garantieren zu können. Die Sicherstellung der Gleichpreisigkeit in der Medikamentenversorgung ist ein hohes Gut unseres Versorgungssystems. Denn sie gibt jedem die Gewissheit, dass er für ein verschreibungspflichtiges Medikament überall in Deutschland den gleichen Preis zu zahlen hat und nirgends übervorteilt wird, sei es in der Apotheke am Viktualienmarkt in München oder bei mir in meiner Heimat im Frankenwald, in Presseck. Ich bin froh, dass in unserem Land ein Qualitätswettbewerb statt eines Preiswettbewerbs herrscht, weil Medikamente ein so sensibles Gut sind. Die Idee, die Gleichpreisigkeit für die gesetzlich Versicherten über das SGB V zu erreichen, ist eine sehr charmante Lösung, und wir werden sehen, ob sie vor Gericht hält. ({2}) Aber es ist wie überall: Vor Gericht und auf hoher See ist man in Gottes Hand. Aber da hat sich wirklich jemand gute Gedanken gemacht, und es ist wirklich ein guter Vorschlag. Egal welche Regelung wir treffen: Wir sind uns natürlich alle im Klaren darüber, dass jede Regelung beklagt werden wird. Sollte die Regelung einer Klage aber nicht standhalten, dann ist das Versandhandelsverbot für mich das Mittel der Wahl. Das Versandhandelsverbot zusammen mit den anderen Regelungen wie beispielsweise dem Ausbau des Botendienstes – wir verstetigen ihn also –, bei dem der Bote zum Personal der Apotheke gehören muss, um die Qualität zu sichern, dem Nutzen der Kompetenz des Apothekenpersonals durch erweiterte pharmazeutische Dienstleistungen wie beispielsweise das Erstellen von einem Medikamentenplan oder auch der Verbesserung der Medikamentenversorgung bei Palliativpatienten macht diesen Gesetzentwurf zu einem starken Paket für unsere Apotheken vor Ort. Deswegen freue ich mich auf die weiteren Beratungen. Vielen herzlichen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache.

Dr. Florian Toncar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003856, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Fall Wirecard ist ein beispielloser Fall schwerster Kriminalität, einmalig in seiner Dimension und kriminellen Energie in der Nachkriegsgeschichte. Aber nicht allein das macht ihn so besonders. Besonders macht den Fall Wirecard auch, in welcher Weise sämtliche Kontrollinstanzen über Jahre hinweg versagt haben. ({0}) Ja, Finanzaufsicht ist manchmal die Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen. Aber im Fall Wirecard war es doch zunehmend so, dass wir einen Stecknadelhaufen hatten, aus dem nur jemand ein bisschen Heu hätte herausziehen müssen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Seit Anfang 2019 gab es Berichte von Hinweisgebern an die Finanzaufsicht, mindestens seit Anfang 2019 konkrete Zeitungsberichte, die das Betrugsmodell zum Teil sehr präzise beschrieben haben, im Februar 2019 eine Geldwäscheverdachtsmeldung gegen maßgebliche Akteure der Wirecard AG. Das waren doch klar sichtbare Hinweise, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Was machte die Aufsicht mit diesen Hinweisen, diesem Haufen von Stecknadeln, der sich da aufgetan hat? Sie kippten erneut haufenweise frisches Heu drüber, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Das ist doch das, was passiert ist. ({4}) Die Finanzaufsicht erließ ein Leerverkaufsverbot und zeigte die Journalisten an, die die wahren Zeitungsartikel geschrieben hatten. Die Staatsanwaltschaft München stellte das Geldwäscheverfahren schnell wieder ein, und die Abschlussprüfer von Ernst & Young setzten brav die Unterschrift unter den Abschluss 2018. Bei Wirecard haben die Kontrolleure nicht nur versagt; es ist noch schlimmer. Die Botschaft an die Anleger war doch: Bei Wirecard ist alles in Ordnung. – Die Anleger wurden in die Irre geführt dadurch, dass die Kontrolleure Wirecard sogar noch als Opfer dargestellt haben. Das ist das, was diesen Fall ganz besonders gravierend macht. ({5}) Insofern lautet die Frage nicht: Kann man einen Untersuchungsausschuss einsetzen? Man muss einen Untersuchungsausschuss einsetzen. Dieser ist so zwingend wie kaum ein zweiter. ({6}) Das, was die Behörden gemacht haben, geschah ja nicht allein auf der Fachebene in kleinen Behörden, sondern unter engster Einbindung von maßgeblichen Stellen der Bundesregierung. Der Bundesfinanzminister war seit Anfang 2019 regelmäßig über den Fall Wirecard informiert. Er ist in der Mitverantwortung für das, was gemacht wurde, und in der Mitverantwortung für das, was nicht gemacht wurde, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({7}) Auch aus der Staatsregierung im Freistaat Bayern ist es erstaunlich still in diesem Fall. ({8}) Ich meine, diese Stille hat auch Gründe: Man hofft, dass man über den Sturm hinwegkommt. Aber wir werden herausarbeiten, dass natürlich auch in Bayern Hinweisen nicht so nachgegangen worden ist, wie es zwingend erforderlich gewesen wäre. ({9}) Hinzu kommen Regierungskontakte von Wirecard bis hin dazu, dass die Bundeskanzlerin persönlich auf direkte Bitte von Karl-Theodor zu Guttenberg in offizieller Funktion in China sich noch für Wirecard eingesetzt hat, als man im Unternehmen längst eine Hausdurchsuchung hätte durchführen müssen. Wo sind wir denn, dass eine Regierung in so einer Lage noch für das Unternehmen wirbt, statt durch die Aufseher eine Durchsuchung durchzuführen? Das wäre doch die richtige Reaktion gewesen. ({10}) Der Verdacht, der da im Raum steht, ist, dass man sich blenden ließ, dass man meinte, einen digitalen Champion zu haben, auf den Deutschland weltweit stolz sein kann, und dass man meinte, ihn auch in Schutz nehmen zu müssen vor vermeintlichen Attacken von außen. Wir wollen in diesem Untersuchungsausschuss wissen, ob das auch ein Grund dafür war, dass weggeschaut wurde und dass das Instrumentarium nicht genutzt wurde, das man gehabt hätte. Eine falsche Solidarität von Regierung und Behörden mit diesem angeblichen Vorzeigeunternehmen? Ich glaube, dass wir dem noch sehr genau nachgehen müssen. ({11}) Dieser Untersuchungsausschuss wird ein Untersuchungsausschuss für die, die jeden Tag mit ehrlicher Arbeit ihr Geld verdienen, für die, die daran zweifeln, dass der Rechtsstaat sie auch vor schwerster Kriminalität effektiv schützen kann, und vor allem auch für die, die nicht damit zufrieden sind, dass nach einem solchen Skandal jeder Kontrolleur – der Finanzminister, Ernst & Young und die anderen Beteiligten – immer nur sagen, was sie nicht tun konnten, wo ihre Grenzen waren, anstatt dass sich einmal einer hinstellt und sagt: Ich war verantwortlich, und ich trage diese Verantwortung auch. – Dafür werden wir mit diesem Untersuchungsausschuss sorgen. Er ist zwingend nötig, und ich werbe um breite Zustimmung. Herzlichen Dank. ({12})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Matthias Hauer für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Matthias Hauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004292, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Wirecard-Skandal hat das Vertrauen in den Finanzplatz Deutschland massiv beschädigt. Dieses Vertrauen gilt es nun zurückzugewinnen. Wirecard steht für Milliarden Euro, die verschwunden sind oder vielleicht nie existiert haben, für Manager, die von Interpol gesucht werden, für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die um ihren Arbeitsplatz bangen, und für Anlegerinnen und Anleger, die viel Geld verloren haben. Wir wollen diesen Skandal lückenlos aufklären: strafrechtlich, aufsichtsrechtlich und politisch. Bei der strafrechtlichen Aufklärung sind in allererster Linie die Strafverfolgungsbehörden und die Gerichte am Zug. Wer in diesen Dimensionen betrügt, den muss die volle Härte des Gesetzes treffen. ({0}) Bei der politischen Aufklärung ist vor allem Olaf Scholz als Bundesfinanzminister in der Pflicht. Herr Bundesfinanzminister, machen Sie sich zum obersten Aufklärer und zum obersten Reformer! Als Aufklärer sollten Sie für volle Transparenz bei der Aufarbeitung des Skandals sorgen, gerade als Bundesfinanzminister, der für die Finanzaufsicht BaFin und auch für die Geldwäscheaufsicht FIU zuständig ist. Mir ist schon klar: Es ist angenehmer, über künftige Reformen zu reden als über etwaige Fehler im eigenen Ministerium. Aber es geht nicht darum, was angenehmer ist. Es geht um Sachaufklärung. Wir stehen zur Aufklärung bereit. Tragen auch Sie mit vollem Einsatz dazu bei! Machen Sie Schluss mit der Salamitaktik! ({1}) Als Reformer sollten Sie Schwachstellen identifizieren und konkrete Gesetzentwürfe dazu vorlegen. Der Wirecard-Skandal wird auch politisch Spuren hinterlassen. Wir prüfen derzeit sehr genau: Wo muss bei der Aufsicht nachgeschärft werden? Wo bestehen Regelungslücken? Wo müssen Prozesse oder Zuständigkeiten verbessert werden? Das werden wir nicht durch Aktionspläne und auch nicht durch blinden Aktionismus lösen. Wir brauchen politisch abgestimmte Gesetzesinitiativen, die klug abgewogen sind und konkrete Probleme lösen. Einen Aktionsplan vorzulegen, das ersetzt noch keine Gesetzgebung. Herr Bundesfinanzminister, legen Sie endlich Gesetzentwürfe dazu vor! ({2}) Als Unionsfraktion stehen wir jederzeit für Sondersitzungen des Finanzausschusses bereit; das hatte ich vor der Sommerpause hier an diesem Pult gesagt. Es ist gut, dass wir gemeinsam, Koalitionsfraktionen und Opposition, von diesem Werkzeug der Aufklärung Gebrauch gemacht haben. Drei Sondersitzungen mit knapp 24 Stunden Befragungen, das hat viele Antworten gebracht, aber eben auch viele Fragen aufgeworfen. Die Sitzungen waren wichtig, aber die Aufklärung muss weitergehen. Die Fraktionen von FDP, Linken und Grünen haben sich darauf verständigt, die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zu beantragen. Untersuchungsausschüsse sind ein wichtiges Werkzeug der parlamentarischen Kontrolle. Wie das bei Werkzeugen so ist, so hat jedes Werkzeug seine eigene Verwendung. Wenn Sie einen Nagel in die Wand schlagen wollen, sind der Schraubenzieher oder der Zollstock doch nur die zweitbeste Lösung. ({3}) Ob der Untersuchungsausschuss zur Aufklärung des Wirecard-Skandals das beste Werkzeug ist, werden wir gemeinsam mit den Antragstellern erörtern. Das hängt natürlich maßgeblich vom Untersuchungsauftrag ab. Der muss passgenau und rechtssicher sein. Die Einsetzung ist an strenge verfassungsrechtliche Vorgaben gebunden. Deshalb ist es gut, dass sich vorab der Geschäftsordnungsausschuss mit dem Thema befasst. Wir als Unionsfraktion werden im Untersuchungsausschuss konstruktiv und mit Hochdruck daran mitarbeiten, den Fall Wirecard so weit, wie es nur irgendwie geht, aufzuklären. Nach dem größten Finanzskandal in der Geschichte der Bundesrepublik dürfen wir nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. ({4}) Inhaltlich sind nach wie vor viele Fragen unbeantwortet: Hätte die BaFin die Wirecard AG als Finanzholding einstufen und sie damit auch unter ihre Aufsicht nehmen müssen? Wieso hat die BaFin keine eigene Bilanzprüfung bei Wirecard vorgenommen? Wieso haben Justizministerium und Finanzministerium kaum Einfluss auf die DPR-Prüfungsverfahren genommen? Wieso wurden Probleme mit dem zweistufigen Bilanzprüfungsverfahren nicht frühzeitig erkannt und auch behoben? Wieso unterlag die Wirecard AG eigentlich weitgehend überhaupt keiner Geldwäscheaufsicht? Wie konnte es ein Unternehmen wie Wirecard, dessen Erfolg weitgehend auf Betrug aufgebaut war, in den DAX schaffen? Gerade der Frage, welche Kontrollmechanismen versagt haben, werden wir uns in den kommenden Wochen und Monaten widmen. Ich hoffe, dass wir am Ende ein möglichst vollständiges Bild davon haben, wie es zu diesem Skandal kommen konnte und wie wir gemeinsam einen zweiten Fall Wirecard verhindern können. Als Unionsfraktion ist uns an vollständiger Sachaufklärung gelegen. Fair im Umgang, aber hart in der Sache! Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Kay Gottschalk für die AfD-Fraktion. ({0})

Kay Gottschalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004731, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kollegen! Liebe Mitbürger! Es kommt nun, wie es kommen musste. Ich habe bereits in meiner Rede am 2. Juli zur Aktuellen Stunde zum Fall Wirecard den Untersuchungsausschuss ins Spiel gebracht. Somit war ich wohl einer der Ersten, wenn nicht sogar der Erste, der diesen Untersuchungsausschuss forderte. ({0}) Darum bin ich an dieser Stelle froh, dass nun endlich alle Oppositionsfraktionen der größten Oppositionsfraktion in dieser Hinsicht folgen. Leider – leider! – haben Sie es versäumt, meine Damen und Herren von der Linken, den Grünen und der FDP, mit der AfD gemeinsam diesen Einsetzungsantrag zu formulieren. ({1}) Hierin sehe ich zunächst einmal parteipolitisches Kalkül. Das finde ich an dieser Sache absolut schade; denn es geht hier an erster Stelle – das haben meine Vorredner betont – um Aufklärung, Aufklärung, Aufklärung. Nach gängiger Praxis der letzten 50 Jahre – und ich habe dieses Theater und dieses Spiel nicht angefangen – steht der AfD, verehrte Bürger, der Vorsitz in diesem Untersuchungsausschuss zu. Daran gibt es zurzeit weder in den Medien, hier im Parlament noch bei den Rechtsexperten einen Zweifel. Diesen Vorsitz werden wir auch beharrlich einfordern. Was wir tun werden und alle zusammen tun sollten, ist eine faire Aufklärung der Sachverhalte. An der sollten wir interessiert sein, und nicht an Wahlkampfgetöse, meine Damen und Herren. Keine Vorverurteilung und damit Scheingefechte, die uns den Blick auf die wirklichen Abläufe bei Wirecard verstellen! In dieser Hinsicht rege ich auch an, dass die Kollegen im Bayerischen Landtag – da es ein bayerisches Unternehmen ist; wir haben die Bezirksregierung Niederbayern; wir haben die CSU-geführte Landesregierung; wir haben die Bayerische Landesbank – vielleicht auch hierzu einmal zusammenkommen und einen Untersuchungsausschuss einfordern. Auch das werden wir sicherlich mit den Kollegen im Bayerischen Landtag sehr konstruktiv begleiten. Eines muss allen an dieser Stelle klar sein: Es sollte zu keinen Blockaden – Sie haben eben die Geschäftsordnung angesprochen – kommen; denn letztlich geht es um die Sparer – die wurden hier eben nicht angesprochen –, die institutionellen Anleger, und steht der Finanzplatz Deutschland in der Kritik. Das Image unseres Finanzplatzes ist erheblich angekratzt, liebe Kollegen. Dafür gibt es am Ende dann keine Entschuldigung, wirklich keine Entschuldigung. Es ist unsere Pflicht, hier die notwendigen Dinge und Schritte einzuleiten. Der vorliegende Antrag der drei Oppositionsparteien ist in der Sache weitreichend und sehr gut. Deswegen wird meine Fraktion, die AfD, diesem Untersuchungsausschusses uneingeschränkt zustimmen und ihn kritisch, aber auch fair begleiten. Wir als AfD interessieren uns aber auch für weitere Punkte, wie zum Beispiel das Leerverkaufsverbot oder auch die Frage, die in der Presse gerade aufkommt, warum Wirecard mutmaßlich Spionagesoftware aufkaufen wollte, meine lieben Freunde und Damen und Herren. Bevor ich zum Ende komme, erlaube ich mir schon eine Replik. Wir arbeiten im Finanzausschuss sehr konstruktiv und fair zusammen. Da fand ich es schon abenteuerlich, Herr De Masi, welche Verbindung Sie da herstellen wollten: Weil ich die Zusammenarbeit mit der FPÖ gut fände, eventuell Herrn Strache und der wiederum Herrn Marsalek kennen könnte, könnten bei einer etwaigen Einsetzung meiner Person dadurch eventuell Informationen an Herrn Marsalek gelangen. Das fand ich abenteuerlich, und das ist der ganzen Sache nicht würdig. Ein solches Hypothesenspiel verbietet sich bei einer so ernsten Angelegenheit, liebe Kollegen. ({2}) Es muss um Lösungen gehen, und da werden wir uns nicht verschließen. Beispielsweise könnte man daran denken, die Rotationszeiträume für Wirtschaftsprüfer – das hat hier niemand angesprochen – auf vier Jahre zu reduzieren; denn die Wirtschaftsprüfer haben eine Schlüsselrolle gespielt. Davon habe ich bei meinen Vorrednern nichts gehört. Wie können wir eine bessere Koordination zwischen BaFin und der APAS herstellen? Wieso ist die APAS beim Wirtschaftsministerium aufgehängt und kommt nicht unter das Dach des Finanzministeriums? Es geht hier um größtmögliche Transparenz. Ein weiterer Punkt ist die Erhöhung der Haftungssummen bei den Wirtschaftsprüfern. Eine Haftungssumme von 4 Millionen Euro bei grober Fahrlässigkeit – das ist angesichts der Summe, die verschwunden ist, ein glatter Witz! Lassen Sie uns also gemeinsam nach konstruktiven Möglichkeiten suchen und vor allen Dingen am Ende dieses Jahres auch zu Gesetzesänderungen kommen, damit sich der Fall Wirecard bei uns nicht wiederholt. Vielen Dank, meine Damen und Herren. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun Dr. Jens Zimmermann das Wort. ({0})

Dr. Jens Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004603, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Was bei Wirecard passiert ist, ist ein Skandal, da sind wir uns alle einig. Wir als SPD-Fraktion wollen zwei Dinge: Wir wollen eine lückenlose Aufklärung dessen, was passiert ist, und wir wollen die notwendigen Reformen. Das steht für uns ganz klar im Fokus. Wir haben vor zwei Monaten im Finanzausschuss in verschiedenen Sondersitzungen mit der Aufarbeitung begonnen. Sie ist ganz sicher noch nicht abgeschlossen, und für uns sind noch einige Fragen offen: Wie konnte es sein, dass eine Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Brief und Siegel auf die Jahresabschlüsse gab? Wie konnte es sein, dass es dann erst ein anderes Wirtschaftsprüfungsunternehmen brauchte, um die Missstände aufzudecken? Wie konnte es sein, dass Verdachtsmeldungen in Bayern versandet sind? Wie konnte es sein, dass Institutionen wie BaFin, APAS und DPR nichts dagegen unternehmen konnten? Das sind Fragen, die bisher nicht abschließend beantwortet sind. Daher erhoffen wir uns, in dem von der Opposition angestoßenen Untersuchungsausschuss mit einer konstruktiven Zusammenarbeit Aufklärung leisten zu können. ({0}) Wichtig ist: Wir haben es mit einer Pyramide von unterschiedlichen Verantwortungen zu tun. Es ist immer wieder wichtig, zu betonen: An der Spitze dieses Unternehmens stand ein kriminelles Top-Management. Darunter sind Wirtschaftsprüfer, die offenbar über zehn Jahre nicht alle diese Nadeln im Heuhaufen, von denen Herr Toncar vorhin sprach, gesehen haben. Der Heuhaufen war auch für die Wirtschaftsprüfer da – das sind die, die im Unternehmen unterwegs sind –, und die haben sie offenbar auch nicht gesehen. ({1}) Die Frage ist auch: Warum konnte unser Institutionengeflecht an Aufsichtsorganen das Ganze nicht aufdecken? Das sind Fragen, die geklärt werden müssen. Wir als SPD sagen ganz klar: Alle Puzzleteile dieser Pyramide müssen aufgedeckt werden, nicht nur einige wenige. ({2}) Über den Einsetzungsbeschluss, den die Opposition vorgelegt hat, ist noch nicht so viel gesprochen worden. Wir haben ihn uns sehr genau angeschaut. Gestern war ja der große Auftritt vor der Bundespressekonferenz. Da habe ich mich schon gefragt, wann denn das erste Album der Boygroup vorgestellt wird. Da wurde uns vorgeworfen, wir würden uns zu sehr auf die Wirtschaftsprüfer ausrichten. ({3}) Das ist ein Vorwurf, den ich gerne annehme. Wer heute das „Handelsblatt“ aufgeschlagen hat, der hat auch gesehen, dass sich dieses Organ der deutschen Wirtschaft heute ausführlich mit der Rolle der Wirtschaftsprüfer in diesem Kontext auseinandersetzt. Wenn SPD und „Handelsblatt“ der Meinung sind, da müsse man genauer hinschauen, dann kann das so falsch nicht sein. ({4}) Lassen Sie mich zum Abschluss eines sagen: Wir werden beim Einsetzungsbeschluss sehr genau hinschauen; denn wir glauben: So wie er aktuell formuliert ist, wird dieser Untersuchungsausschuss die Wirtschaftsprüfer nicht vorladen können. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es die Intention der Opposition ist, dass die Hauptverantwortlichen nicht einmal erscheinen müssen. Herzlichen Dank! ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Fabio De Masi für die Fraktion Die Linke. ({0})

Fabio De Masi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004817, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Wirecard-Skandal ist der größte Finanzskandal der jüngeren deutschen Geschichte. 1,9 Milliarden Euro Bilanzvolumen sind weg, ein Börsenwert von über 20 Milliarden Euro hat sich in Konfetti aufgelöst – und keiner hat etwas gesehen. Ich würde mir wünschen, lieber Kollege Zimmermann, dass Sie die Aufmerksamkeit, die Sie unserem Untersuchungsauftrag gewidmet haben, einmal der Aufsicht gewidmet hätten, dann wäre in der Vergangenheit schon viel gewonnen gewesen. ({0}) Aber keine Sorge: Die Wirtschaftsprüfer stehen im Untersuchungsauftrag drin. Die Story, die wir immer wieder hören, ist, Wirecard sei mit hoher krimineller Energie in die Champions League aufgestiegen. Das stimmt, aber zur Wahrheit gehört auch: Die Aufsicht hat auf Kreisliganiveau gespielt, und deswegen ist Wirecard ein True Crime made in Germany. ({1}) Ich stelle Ihnen eine Preisfrage: Wer ist eigentlich – Stand heute – für die Geldwäscheaufsicht über den Wirecard-Konzern zuständig? Antwort: Niemand. – Die BaFin lehnt es ab. Sie sagt: Die sind ein Technologiekonzern wie Volkswagen, und dafür sind wir nicht zuständig. – Die Bayern haben am Tag der Insolvenz festgestellt, dass sie auch nicht mehr zuständig sein wollen. Das ist in der Tat eine Verhöhnung der Kleinanlegerinnen und ‑anleger, von denen viele ihre Ersparnisse verloren haben, häufig über mehrere Generationen aufgebaut. Da gibt es dramatische Schicksale. Es ist richtig, dass man nicht alle Eier in einen Korb legen soll, aber das tun eben Menschen, vor allem, wenn von der BaFin, der Finanzaufsicht, das Signal ausging, das sei ein sicheres Unternehmen, und es sei Opfer unseriöser Spekulation. Deswegen gibt es hier eine politische Verantwortung. ({2}) Es geht nicht nur um Wirecard, sondern es geht auch darum, was wir mit den großen Tech-Unternehmen der neuen Generation machen, den Apples, den Facebooks, die Daten sammeln, die Finanzdaten auswerten und zu neuen Megaschattenbanken werden. Wenn für sie zukünftig ein Regierungsbezirk bei der Geldwäscheaufsicht zuständig ist, dann können wir den Laden hier in Deutschland dichtmachen! ({3}) Deswegen sind weiterhin viele Fragen offen: Warum lobbyierte die Bundeskanzlerin in China für dieses Unternehmen mit dieser kriminellen Energie? Hat sie denn nicht die internationale Wirtschaftspresse zur Kenntnis genommen, die schon damals umfänglich berichtet hat? Warum lobbyierte der ehemalige Geheimdienstkoordinator, der auch noch für die Österreicher als Geheimnisträger zuständig war, und zwar für einen FPÖ-Minister? Vielen Dank noch einmal, Herr Gottschalk, dass Sie Ihre engen Beziehungen zu Herrn Marsalek auch für die Kleinanleger noch mal dargestellt haben. ({4}) Es gibt weiterhin Fragen, die sich an die Staatsanwaltschaft in Bayern richten; der Kollege Toncar hatte das hier ausgeführt. Bei allen politischen Unterschieden möchte ich mich noch einmal explizit für die gute Zusammenarbeit mit den Liberalen und mit den Grünen bedanken. Wir haben das Ganze hier in der Sommerpause vorangetrieben. Ich muss sagen, ich kam mir dabei oft vor wie „Die drei ???“. Diese Zusammenarbeit werden wir mit Sicherheit fortsetzen. Wir werden unsere eigenen politischen Schlussfolgerungen ziehen. Aber klar ist, wir stehen erst am Anfang. Wir sind der Bevölkerung Aufklärung schuldig. Wir können nicht zur Tagesordnung übergehen, wenn sich so etwas in Deutschland ereignet; denn der Schaden ist enorm. Auch viele Menschen, die tatsächlich in Innovationen investieren wollen, fragen sich zukünftig: Kann ich eigentlich den Bilanzen in Deutschland noch trauen? – Das müssen wir ändern.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Kollege.

Fabio De Masi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004817, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Deswegen sind wir gespannt auf die Vorschläge der Großen Koalition. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der Kollege Dr. Bayaz das Wort. ({0})

Dr. Danyal Bayaz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004664, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Es gibt nur eine einzige Vorgehensweise: Voran, nichts verbergen, aktiv an der Spitze der Aufklärung stehen“. Das sind übrigens nicht meine Worte, sondern die des Bundesfinanzministers Scholz. Gerade sein Verständnis von Aufklärung ist der Grund, warum wir diesen Untersuchungsausschuss brauchen. Wir haben heute einiges gehört. Ich möchte es an einem Beispiel Ihnen klar und deutlich machen: Ich habe mich Mitte Juli, als der Fall schon hochpolitisch war, auf der politischen Ebene an das Finanzministerium mit der Frage gewandt: Wie ist es eigentlich mit dem Aktienhandel von BaFin-Beschäftigten? – Ich habe eine schriftliche Antwort mit zwei Botschaften bekommen: Erstens. Es gibt ein angemessenes internes Kontrollverfahren. Zweitens. Es gibt keine Auffälligkeiten mit Blick auf den Handel der Wirecard-Aktie. – Dann habe ich erst mal gesagt: Okay. – Ich habe mir auch ein paar Tage Urlaub gegönnt, doch irgendwie hatte ich ein Störgefühl. Dann habe ich gedacht: Ich möchte es noch mal genau wissen. Ich habe ein zweites Mal nachgefragt. Und auf einmal war die Antwort eine ganz andere. Da hieß es auf einmal: Die Wirecard-Aktie ist der mit Abstand am häufigsten gehandelte Wert von Mitarbeitern, die dieses Unternehmen kontrollieren sollen. – Als ich Herrn Scholz und Herrn Hufeld damit konfrontiert habe, hieß es: Ja, wir müssen uns die Compliance-Regeln noch mal dringend anschauen. Ich fasse das mal zusammen: Hätten wir nicht nachgefasst, hätten wir nicht zweimal genau nachgebohrt, wäre dieser Interessenskonflikt nicht deutlich geworden. ({0}) Das steht symbolisch für die Aufklärungskultur der Bundesregierung. Deswegen sehen wir uns im Untersuchungsausschuss wieder, meine Damen und Herren. Was in der Debatte heute ein bisschen auffällig war: Die SPD-Abgeordneten sprechen über die Wirtschaftsprüfung, die Union redet über die Finanzaufsicht. Ich meine, es ist doch klar: Jeder will seine Leute schützen. Aber wenn wir genau und wenn wir ehrlich sind: Wir haben in den letzten Wochen sehr viele Erkenntnisse über die Materie gewonnen. Mit Ruhm hat sich hier keiner bekleckert – im Gegenteil –: nicht das Wirtschaftsministerium, nicht das Finanzministerium, nicht das Kanzleramt und nicht der Freistaat Bayern. ({1}) Das ist ein Skandal, ein Desaster mit langer und lauter Ansage gewesen. Niemand – niemand! – hat seine politische und seine behördliche Kompetenz mal wirklich genutzt und gesagt: Ich will da ein paar Steine umdrehen. – Die Frage „Warum eigentlich nicht?“ wollen wir im Untersuchungsausschuss klären, meine Damen und Herren. ({2}) Zu guter Letzt: Wenn dieser Fall etwas Positives hat, dann das, finde ich, dass Journalisten immer wieder den Finger in die Wunde gelegt haben. Da denke ich vor allem an Dan McCrum und seine Kollegin Palma von der „Financial Times“. Die haben ihren Job gemacht – die Regierung und die Behörden haben ihn nicht gemacht –, und zum Dank wurden sie von der BaFin angezeigt. Ich finde, es ist auch mal Zeit, aus Fehlern zu lernen. Dazu gehört, die Größe zu haben, sich bei denen zu bedanken, aber auch sich bei denen zu entschuldigen. Ich finde, die haben diesen Skandal mit ihren Recherchen mutig aufgeklärt. ({3}) Die haben sich damit auch um das Gemeinwohl – denken Sie mal an die vielen Anlegerinnen und Anleger! – verdient gemacht. Ich halte es für angemessen, dass die beiden am Ende das Bundesverdienstkreuz verliehen bekommen. Denken Sie mal darüber nach! Aufklärung beginnt mit Selbstkritik, meine Damen und Herren. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Hans Michelbach, CDU/CSU. ({0})

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Wirecard steht für einen Super-GAU am Finanzplatz Deutschland. Ein DAX-Konzern hat sich quasi über Nacht in Luft aufgelöst. Kleinanleger, Investoren und Gläubiger haben Milliardenverluste erlitten. Arbeitnehmer haben ihren Arbeitsplatz verloren. Es gibt praktisch keine Insolvenzmasse, dafür aber mehr als 3 Milliarden Euro offene Forderungen. Der Ruf des Finanzplatzes Deutschland wurde massiv geschädigt. Die Staatsanwaltschaft ermittelt unter anderem wegen gewerbsmäßigen Bandenbetrugs und Marktmanipulation. Drei Wirecard-Manager sitzen in Untersuchungshaft, einer der Hauptverdächtigen ist weiter auf der Flucht. Wirecard – das stellt sich heraus – war kein erfolgreiches Fintech-Unternehmen, sondern nur ein Scheinriese, ja, ein Gebäude aus Lug und Trug, das unter den Augen der Wirtschaftsprüfer, der Ministerien und Aufsichtsorgane gedeihen konnte. Meine Damen und Herren, so etwas darf in Deutschland nie mehr passieren! Dafür lohnt es sich gemeinsam zu arbeiten, und das wollen wir tun. ({0}) Meine Damen und Herren, der Finanzausschuss hat sich in der Sommerpause mit großer Ernsthaftigkeit in drei langen Sitzungen intensiv bemüht, Licht in den Fall Wirecard zu bringen. Doch jede Antwort führte zu neuen Fragen und weniger Transparenz. Deshalb verstehen wir den Untersuchungsausschuss als Chance, die notwendige Aufklärung zu erreichen, die persönlichen Verflechtungen zu untersuchen, die Ungereimtheiten der Anzeigen durch die BaFin gegenüber Journalisten zu hinterfragen; als Chance, die Aufsicht nachhaltig zu verbessern; als Chance, die Kontrolle der Wirtschaftsprüfer neu zu justieren, zu stärken, die Aufnahme in den DAX zu hinterfragen und letzten Endes so das Vertrauen von Investoren und Kleinanlegern in den Finanzplatz Deutschland wieder zu stärken. Das muss unser Auftrag sein. Das muss die Chance dieses Untersuchungsausschusses sein, meine Damen und Herren. Die notwendige Aufklärungsarbeit können wir erfolgreich nur leisten, wenn wir uns die zentralen Fragen vornehmen und uns auf diese zentralen Fragen konzentrieren. Es gibt einige Unbestimmtheiten im Untersuchungsauftrag; darüber müssen wir reden. Hier geht es nicht nur um Aktionismus oder Wahlkampfspektakel, meine Damen und Herren. Dann dienen wir dieser Chance nicht. Das möchte ich noch einmal betonen. ({1}) Natürlich kann es für niemanden einen Bonus geben. Es gilt, die parlamentarische Kontrolle als Verfassungsorgan Deutscher Bundestag aktiv wahrzunehmen. Darauf kommt es letzten Endes an. Das sind wir den Geschädigten, das sind wir den Arbeitnehmern, die ihren Arbeitsplatz verloren haben, und das sind wir vor allem den vielen soliden Unternehmen und Unternehmern in Deutschland schuldig. Es darf nicht dieses Bild von Wirecard auf den Wirtschaftsstandort Deutschland übertragen werden, der im Großen und Ganzen solide Unternehmer und fleißige Arbeitnehmer hat, meine Damen und Herren. ({2}) Dazu ist die CDU/CSU-Fraktion ohne Wenn und Aber bereit; das möchte ich noch einmal betonen. Ich habe die Bitte an die Opposition, der Sache zu dienen, ohne Schaum vor dem Mund und ständige Verteilung auf die anderen. Natürlich, wenn jetzt hier der Kollege Bayaz sagt: „Alles ist bei der Staatsregierung in Bayern“, was ist denn dann mit der Aufsicht der Börse durch einen grünen Wirtschaftsminister? Wenn Sie fair sind, sagen Sie: Beide Seiten müssen aufgeklärt werden. Es muss aufgeklärt werden, was Herr Al-Wazir gemacht hat, ebenso wie das, was in Bayern gemacht wurde. Auch das ist für die Akzeptanz eines Untersuchungsausschusses wesentlich: dass ich nicht irgendeine Scheuklappe habe, sondern dass ich ganz wertneutral die Dinge aufarbeite, die notwendig sind, meine Damen und Herren. ({3}) Der Untersuchungsauftrag steht bereit. Wir sind der Meinung: Das ist mehr Chance für die Zukunft, mehr Chance für Transparenz, mehr Chance für den Finanzplatz Deutschland. Deswegen: Lassen Sie uns gemeinsam dafür arbeiten! Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Voraussichtlich letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Cansel Kiziltepe, SPD. ({0})

Cansel Kiziltepe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004328, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Fall Wirecard ist ein außerordentlicher Wirtschaftskrimi. Doch statt um einen Roman handelt es sich hier um die bittere Realität des DAX. Wirecard hat mit diesem Bilanzbetrug nachhaltig das Vertrauen in unseren Finanzstandort Deutschland geschwächt. Es geht um Betrug in Milliardenhöhe. Öffentliche Aufklärung ist deshalb hier nicht nur wünschenswert, sondern notwendig und geboten. Vor dem Deutschen Bundestag gehören alle Karten auf den Tisch gelegt. ({0}) Bereits in der Sommerpause haben wir mehrere Wirecard-Sondersitzungen des Finanzausschusses einberufen. Und auch wenn wir noch nicht alle Details kennen, klar ist: Die Hauptverantwortung liegt beim kriminellen Wirecard-Management und bei den scheinbar blinden Wirtschaftsprüfern. Hier müssen alle Beteiligten identifiziert und zur Verantwortung gezogen werden. ({1}) Doch der Fall Wirecard hat nicht nur Fragen zum Management und zur fehlerhaften Wirtschaftsprüfung aufgeworfen; er hat auch gezeigt, dass Lobbyisten wie Plagiatkönig zu Guttenberg, aber auch Ex-Geheimdienstkoordinator Fritsche ihren Zugang zum Bundeskanzleramt schamlos Finanzkonzernen zur Verfügung stellen. ({2}) Er hat auch gezeigt, dass ein Aufsichtswirrwarr bei Bilanzkontrolle und Geldwäsche vorliegt. ({3}) Also: Es gibt dringenden Handlungsbedarf. Wir brauchen endlich ein Lobbyregister für das Parlament, aber auch für die Bundesregierung. Ich bin froh, dass die Union heute ihren Widerstand hier aufgegeben hat. ({4}) Auch für die Finanzaufsicht und die Wirtschaftsprüferaufsicht haben wir als SPD-Bundestagsfraktion konkrete Vorschläge gemacht. Allerdings fehlt mir hier noch immer der Umsetzungswille der Union und des Wirtschaftsministers Altmaier. ({5}) Herr Altmaier hat die Aufsicht über die Wirtschaftsprüfer. ({6}) Und Herr Dr. Jens Weidmann als Bundesbankpräsident trägt auch Verantwortung, weil Wirecard nämlich als Technologieunternehmen eingestuft und somit der Bankenaufsicht entzogen wurde. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Rumgeeiere reicht hier eben nicht. Ich habe noch keinen einzigen Vorschlag von der Union, geschweige denn von Herrn Altmaier gehört. Im Untersuchungsausschuss werden wir vor allem die Aufklärung weiter vorantreiben. ({8}) Wir wissen immer noch nicht, warum die Wirtschaftsberatung EY den Schwindel jahrelang gedeckt hat, und auch EY will ich hier sehen. Am Ende des Ausschusses muss hier mehr Klarheit herrschen. ({9}) Ich will aber auch deutlich machen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Der Untersuchungsausschuss darf nicht zu einer Wahlkampfplattform werden. ({10}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch wenn die Verlockung groß sein mag: Das ist weder für dieses Haus noch für die Geschädigten noch für unseren Wirtschaftsstandort angemessen. Ich sage Ihnen: Für Wahlkampf wird es noch genug Möglichkeiten geben. Im Mittelpunkt des Ausschusses muss es um Aufklärung gehen. Dafür werden wir uns als SPD starkmachen. Danke schön. ({11})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Damit schließe ich die Aussprache.

Dr. Matthias Bartke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004248, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor Ihnen steht ein hochzufriedener Sozialdemokrat. ({0}) Seit zehn Jahren fordert die SPD ein Lobbyregister, und jetzt kommt es. Hartnäckigkeit zahlt sich aus. ({1}) Mit großer Freude stelle ich fest: Es hat ein Bewusstseinswandel stattgefunden. Die anständigen Parteien rechts der Mitte, also Union und FDP, waren früher die härtesten Kritiker eines Lobbyregisters, und jetzt sind sie dafür. Bei der Union waren das wohl die Verfehlungen von Philipp Amthor, die zu diesem Sinneswandel beigetragen haben. So hat alles Schlechte eben auch sein Gutes. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ganz grundsätzlich gilt: Lobbyismus gehört als Interessenvertretung zu den Wesensmerkmalen eines demokratischen Staates. ({2}) Aber Lobbyismus ist nur dann legitim, wenn er auch transparent ist. Genau das ist derzeit aber nicht der Fall. Gestern war der Warntag 2020. Der hat ja bekanntlich nicht besonders gut funktioniert. Aber ein Warnsignal haben wir alle hier im Plenum gehört, und zwar als Sozialminister Hubertus Heil vor den Lobbyisten gewarnt hat, die versuchen, das Lieferkettengesetz zu stoppen. Mit einem Lobbyregister wäre auch deren Tätigkeit transparent. Und eben haben wir die Debatte zu Wirecard gehabt: Auch die Tätigkeit von Herrn zu Guttenberg wäre deutlich transparenter gewesen, wenn wir ein Lobbyregister gehabt hätten. ({3}) Die Grenze zwischen transparentem Lobbyismus und intransparenter Mauschelei ist derzeit absolut fließend, und das werden wir jetzt ändern. ({4}) Künftig gibt es eine Registrierungspflicht in einem Lobbyregister. Die Pflicht gilt für diejenigen, die Interessenvertretung bei der Gesetzgebung ausüben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Lobbyisten müssen sich künftig registrieren lassen. Sie müssen künftig ihre Auftraggeber nennen. Sie müssen künftig alle wesentlichen Angaben zu ihrer Tätigkeit darlegen. Sie müssen künftig vor einer Kontaktaufnahme mit Abgeordneten Auftraggeber und Anliegen nennen. Und schließlich – ganz wichtig –: Sie müssen künftig ihre finanziellen Aufwendungen, ihre Zuwendungen, ihre Zuschüsse und ihre Spenden offenlegen. Tun sie das nicht, kommen sie auf eine öffentlich einsehbare schwarze Liste. Erfolgshonorare für Lobbyisten sind künftig verboten. Verstöße oder falsche Angaben im Lobbyregister werden geahndet. Interessenvertretung darf künftig nur noch auf Basis eines anerkannten Verhaltenskodex erfolgen. Dieser Kodex muss den Grundsätzen der Transparenz, der Ehrlichkeit und der Integrität dienen. ({5}) Und dieser Kodex muss ein öffentliches Rügeverfahren vorsehen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das sind alles Regeln, die uns die lobbykritischen Verbände ins Stammbuch geschrieben haben, und die setzen wir jetzt um, eins zu eins. Ein Thema haben die lobbykritischen Verbände aber auch absolut zu Recht angesprochen. Die allermeisten Gesetze werden schließlich nicht vom Bundestag initiiert, sondern von den Bundesministerien, und auch dort sind die Lobbyisten aktiv. Das Lobbyregistergesetz muss daher auch für die Bundesregierung gelten. Auch die Bundesregierung muss Treffen mit Lobbyisten und deren Stellungnahmen veröffentlichen. ({6}) Das ist eigentlich Konsens unter Experten. Daher waren wir alle konsterniert, als die Kanzlerin in ihrer Sommerpressekonferenz vor zwei Wochen genau das Gegenteil gesagt hat, nämlich dass das Lobbyregister nicht für die Bundesregierung gelten solle. Man muss es ganz klar sagen: Ein Lobbyregister, das nur für den Bundestag gilt, nicht aber für die Bundesregierung, das ist nur ein halbes Lobbyregister. Es war daher richtig, dass Vizekanzler Olaf Scholz vorgestern in der Regierungsbefragung deutlich gemacht hat, dass er ein Lobbyregister auch für die Bundesregierung möchte. ({7}) Am Ende will ich daher ausdrücklich sagen: Ich begrüße es sehr, dass die Union in diesem Punkt eingelenkt hat. Wir werden als Koalition gemeinsam einen Änderungsantrag einbringen, nach dem das Gesetz auch für die Bundesregierung gilt. ({8}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, heute ist ein guter Tag für den Parlamentarismus. Ich danke Ihnen. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Thomas Seitz, AfD. ({0})

Thomas Seitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004891, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Nach Jahren der Merkel’schen Verhinderungspolitik legt die Koalition endlich einen Gesetzentwurf zur Einführung eines Lobbyregisters vor – ein Entwurf, der jetzt aber noch so viele Schlupflöcher für Lobbyisten belässt, dass er wohl wirklich nur den allerkleinsten Nenner darstellt, auf den Sie sich einigen konnten. Wir haben gehört, es soll einen Änderungsantrag geben; darauf bin ich noch gespannt. Was aber hat den Ausschlag gegeben, dass die Union endlich ihren Widerstand gegen eine Regulierung des Lobbyismus aufgegeben hat? Der Anruf des Vorstandsvorsitzenden der DAK und des früheren CDU-MdB Andreas Storm bei Kanzleramtschef Helge Braun wegen des GKV-Versichertenentlastungsgesetzes im Jahr 2018 war es offenbar nicht. Und auch der auf Video protokollierte freundschaftliche Austausch der Bundesministerin für Ernährung und Landwirtschaft, Julia Klöckner, mit dem Vorstandsvorsitzenden von Nestlé im Jahr 2019 blieb noch folgenlos. Aber irgendwann zwischen der Causa Amthor und dem Bekanntwerden der Verbindungen der Regierung zum Wirecard-Skandal – in beiden Fällen war auch Ex-Minister und Promotionsbetrüger zu Guttenberg aktiv beteiligt – muss ein Gesinnungswandel erfolgt ({0}) und die Bereitschaft entstanden sein, zumindest einen Alibientwurf vorzulegen, und mehr haben wir bislang nicht. Vielleicht haben aber auch die Kollegen von der Union einfach erkannt, dass eine weitere Totalverweigerung die SPD dazu bringen könnte, für eine weiter gehende Regulierung zu stimmen. Dafür gäbe es dann wohl auch eine breite Mehrheit im Hohen Hause. Denn nach ihrer eigenen früheren Positionierung können die Kollegen der SPD mit dem, was bisher vorliegt, nicht zufrieden sein. Die geäußerte Zufriedenheit des Kollegen klingt für mich nach Selbstbetrug. Ich warte auf den Änderungsantrag. Meine Damen und Herren, Lobbyismus hat einen schlechten Ruf, und das ist sowohl richtig als auch falsch. Falsch ist die grundsätzliche Verdammung jeglichen Lobbyismus; denn in einem freien Land ist auch die Vertretung und Vermarktung von Partikularinteressen zulässig. Ebenso falsch ist es, ausschließlich Lobbyismus im Auftrag von Wirtschaftsunternehmen zu verurteilen und die ideologische Beeinflussung der Gesetzgebung durch sogenannte NGOs zu ignorieren. Zum Vergleich: Alleine Greenpeace Deutschland hatte 2019 über 71 Millionen Euro an Spenden vereinnahmt; damit lässt sich weit mehr Einfluss auf die Gesetzgebung nehmen, als es vielen Industrieverbänden möglich ist. ({1}) Nicht selten brauchen wir bei der Gesetzgebung auch die Informationsvermittlung aus dem realen Leben. Die Auswirkungen auf ganze Berufsstände oder Wirtschaftszweige können von uns nicht beurteilt werden, weil wir das Wissen des Innenlebens der entsprechenden Branchen nicht haben. Hinweise auf möglicherweise nicht gewollte Auswirkungen tragen dazu bei, dass entweder die Gesetzgebung verbessert wird, oder aber sie zwingen uns zur bewussten Entscheidung für solche Auswirkungen um höherrangiger Ziele willen. Das Problem für die Demokratie besteht deshalb in einem Lobbyismus, der im Verborgenen tätig ist, dessen Einflussnahme auf Abgeordnete, Regierung und die Gesetzgebung als Ganzes der Bürger nicht erkennen kann. Deshalb braucht es zwingend umfassende Transparenz. Der legislative Fußabdruck des Lobbyismus muss für jeden interessierten Bürger erkennbar sein, und zwar deutlich. Das erreichen Sie mit dem bislang vorgelegten Gesetzentwurf nicht. Wie es besser geht, zeigt unser Vorschlag; denn Transparenz wird nur hergestellt, wenn ein Lobbyregister die Kontaktaufnahme zu allen Funktionsträgern erfasst, die auf die Bundesgesetzgebung Einfluss nehmen können. Solche Funktionsträger finden sich eben nicht nur im Bundestag, sondern auch im Bundesrat, in der Bundesregierung und anderswo, was unser Entwurf berücksichtigt. Nur indem wirklich alle Personen erfasst werden, die in irgendeiner Art und Weise die Politik des Bundes beeinflussen oder gar steuern können, ist größtmögliche Transparenz gewährleistet – nicht als Selbstzweck, sondern um der Demokratie willen. Darauf hat das deutsche Volk ein Anrecht. Vielen Dank. Wir freuen uns auf die Beratung im Ausschuss. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Patrick Schnieder, CDU/CSU. ({0})

Patrick Schnieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004146, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die Koalition hat einen Gesetzentwurf zur Einführung eines Lobbyregisters vorgelegt. Ich kann nur feststellen: Die Koalition liefert, und das Warten auf diesen Gesetzentwurf hat sich gelohnt; denn jetzt gibt es zumindest einen konkreten, vernünftigen Vorschlag für ein Lobbyregister, der dem Hohen Hause vorliegt. Wir wollen ein Lobbyregister beschließen, das umfassend und angemessen ausgestaltet ist. Wir wollen Transparenz herstellen bei der Interessenvertretung, bei der Interessenwahrnehmung, ohne aber den Kontakt zu Abgeordneten und das freie Mandat einzuschränken. Wir beschließen dieses Lobbyregister nicht nur für den Bundestag, sondern auch für die Bundesregierung. Das Bundesministerium des Innern – das ist federführend; vielleicht kümmert sich Herr Scholz um die Dinge, die im Moment bei ihm im Ministerium etwas stärker im Mittelpunkt stehen – hat zugesagt, dass sich die Ministerien unserer Regelung im Bundestag anschließen. Wir werden noch einen Änderungsantrag vorlegen und in der zweiten und dritten Lesung dann ein umfassendes Lobbyregister für Bundestag und Bundesregierung verabschieden. ({0}) Was sieht unsere Regelung vor? Für Interessenvertretung besteht künftig eine Eintragungspflicht, bevor gegenüber Abgeordneten oder Fraktionen und auch gegenüber der Bundesregierung Interessenvertretung betrieben wird. Interessenvertreter müssen dabei Daten über sich selbst eintragen. Das sind vor allem Daten, die Rückschlüsse auf die Intensität der Interessenvertretung geben, also Daten über die Finanzierung, die Anzahl der Mitarbeiter, die für Interessenvertretung zur Verfügung stehen, über Auftraggeber und dergleichen mehr. Auf der anderen Seite war uns aber wichtig, dass das freie Mandat des Abgeordneten nicht eingeschränkt wird; der Schutz des freien Mandates ist von grundsätzlicher Bedeutung. Wer hier etwas anderes fordert, zum Beispiel Daten über Termine oder Gesprächspartner, der will die Ausforschung von Abgeordneten. Das widerspricht dem Bild des Abgeordneten, das das Grundgesetz von ihm zeichnet. Von dort wäre es auch nur noch ein kleiner Schritt, bis man mit ähnlichen Argumenten auch die Offenlegung von Kontakten zu Anwälten, Journalisten oder Geistlichen fordern könnte. Die Registrierungspflicht in unserem Register wird umfassend sein. Sie betrifft auch Interessenvertreter, die im Rahmen von Netzwerken oder Internetplattformen Interessenvertretung betreiben. Wenn hier darauf hingewiesen wird, dass dort Lücken blieben, ({1}) zum Beispiel bei der Interessenvertretung von Gewerkschaften oder von Arbeitgebern, dann empfehle ich einen Blick ins Grundgesetz, in Artikel 9 Absatz 3, Koalitionsfreiheit; das ist ein vorbehaltlos gewährtes Grundrecht. Wer bei den Anhörungen in der 17. Wahlperiode – es waren natürlich nicht alle da, die sich darüber auslassen – dabei gewesen wäre, der hätte eindeutig hören können, was uns die Rechtsgelehrten dort ins Stammbuch geschrieben haben. Transparenz ist sicherlich ein hoher Wert, den wir verfolgen, hat aber keinen Verfassungsrang. ({2}) Das hier gegenüber dem vorbehaltlos gewährten Grundrecht aus Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz anzuführen, reicht nicht aus. Wir sollten uns auf die Anhörung am 1. Oktober freuen; dann werden wir das noch einmal sehr deutlich hören können. ({3}) Wir sehen ferner Auskunftsverweigerungsrechte vor. In diesen Fällen werden entsprechende Interessenvertreter auf einer gesonderten öffentlichen Verweigerungsliste geführt. Verstöße gegen die Eintragungspflicht werden bußgeldbewehrt sein; Bußgelder bis zu 50 000 Euro können ausgesprochen werden. In diesem Zusammenhang wollen wir das Gesetz über Ordnungswidrigkeiten ergänzen, damit die Bundestagsverwaltung im Verfahren über Rechte verfügt, die auch die Staatsanwaltschaft bei der Verfolgung von Straftaten hat. Umfassender können wir in einem Rechtsstaat Sanktionierungen nicht regeln. Welche Vorschläge liegen sonst noch auf dem Tisch? Die FDP hat einen schmalen Antrag gestellt, der hinter unserem Gesetzentwurf deutlich zurückbleibt. ({4}) Die Grünen legen über mehrere Wahlperioden überhaupt keinen konkreten Vorschlag vor, sondern immer wieder denselben unkonkreten Antrag. Die Linken legen einen Gesetzentwurf vor, der aber deutlich verfassungswidrig ist. Nicht nur, dass man dort ein Bürokratiemonster schaffen will mit einem Lobbyismusbeauftragten – Besoldungsgruppe B 11 plus Behörde –, sondern – jetzt kommen wir zur Verfassungswidrigkeit – die Linken wollen, dass bei Verdacht auf Verstöße Häuser, Wohnungen, Geschäftsräume durchsucht werden können, und zwar ohne richterlichen Beschluss. ({5}) – Das ist durchaus dramatisch. – Die Linken wollen auch ein Sanktionsverfahren mit der Pflicht zur Mitwirkung an der eigenen Verurteilung nach ihrem Interessenvertretungsgesetz statuieren. Ich glaube, da hat man vom „Nemo tenetur“-Grundsatz noch nichts gehört; das ist ein Grundsatz unseres Rechtsstaates. Deshalb steht dem Gesetzentwurf die Verfassungswidrigkeit auf die Stirn geschrieben. Ich möchte noch darauf hinweisen, dass die Debatte nicht dazu führen sollte, dass wir Interessenvertretung stigmatisieren oder überhöhen. Interessenvertretung ist notwendig in der Demokratie. Wir wollen hier die nötige Transparenz schaffen. Aber wir brauchen auch in Zukunft Interessenvertretung. Politik ist immer die Wahrnehmung von Interessen. Es geht darum, dass wir klarmachen, wer hier warum Interessen wahrnimmt.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Schnieder, die rote Lampe leuchtet.

Patrick Schnieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004146, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Schluss. – Deshalb glaube ich, meine Damen, meine Herren, dass wir mit unserem Gesetzentwurf eine neue, eine vernünftige und eine ausgewogene Antwort auf das Miteinander von Interessenvertretung und Politik geben. Ich freue mich auf die Beratungen im Ausschuss. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dr. Marco Buschmann, FDP, ist der nächste Redner. ({0})

Dr. Marco Buschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004023, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Das Sprichwort sagt: Was lange währt, wird endlich gut. – Dass es auch anders geht, beweist die Große Koalition mit ihrem Gesetzentwurf; denn es hat wahrlich lange gedauert, bis er vorlag. ({0}) Und außerhalb der Großen Koalition gibt es niemand, der ihn ernsthaft für gut halten würde, meine Damen und Herren. ({1}) Warum das so ist, möchte ich Ihnen an wenigen Punkten zeigen: Erstens. Dass der Entwurf mangelhaft ist, zeigen die Koalitionäre alleine dadurch, dass sie parallel zu ihrem Erstaufschlag schon einen Änderungsantrag ankündigen, der aber noch gar nicht vorliegt. Was wenn nicht Ausdruck schlechten Gewissens ist es, wenn man etwas vorlegt, bei dem man selber merkt, dass man die Hausaufgaben nicht ordentlich gemacht hat? ({2}) Zweitens. Die Ausnahmeregelungen dieses Gesetzes sind scheunentorgroß. Der Entwurf ist löchrig wie ein Schweizer Käse. Und die Begründung dafür ist doch fadenscheinig. Die Integrität und das Vertrauen der Öffentlichkeit in den demokratischen Gesetzgebungsprozess ist natürlich ein Rechtsgut von Verfassungsrang, Herr Kollege Schnieder. Dass Sie das bestreiten, wundert mich ernsthaft. ({3}) In Wirklichkeit war es doch so: Die SPD hat gesagt: Moment! Den Gewerkschaften fühlen wir uns nah; die wollen wir nicht mit einbeziehen. – Dann hat irgendein findiger Jurist gesagt: Ja, das können wir mit ihrer Stellung als Tarifvertragspartei begründen; dann müssen wir die Arbeitgeber auch rausnehmen. – Dann hat die SPD gesagt: Einverstanden. – Dann hat die CDU gesagt: Dann wollen wir auch was haben; dann nehmen wir doch die Kirchen raus. ({4}) Ernsthaft: Diese drei Organisationen – Arbeitgeber, Arbeitnehmer, also durch die Gewerkschaften, und die Kirchen – vertreten legitime Interessen. Ich bin froh darüber, dass sie sich intensiv in den Gesetzgebungsprozess einbringen; aber natürlich haben sie eigenwirtschaftliche Interessen. Sie betreiben Bildungswerke, deren Umsätze auch von der Gesetzgebung hier im Hause abhängig sind. Sie betreiben Banken und Verlage. Und wenn man kirchliche Tätigkeit sogar so weit auffasst, dass die Wohlfahrtsverbände mit eingeschlossen sind, dann geht es um die größten Arbeitgeber in Deutschland und um Milliardenumsätze. Und dass Sie diese Interessen aus einem Interessenvertretungsgesetz herausnehmen, zeigt: Dieses Gesetz ist löchrig wie ein Schweizer Käse. ({5}) Wenn man in den Anwendungsbereich fällt, ist es ja gut, wie hier gesagt wurde, dass man über Personalaufwendungen und die Finanzierung Auskunft erteilen soll. Nur, Sie haben vergessen, die ganze Wahrheit zu sagen: Man kann sich ja aussuchen, ob man diese Informationen preisgibt. Der Gesetzentwurf lädt ja sogar zur Option ein. Und wissen Sie, was die schärfste Sanktion ist, wenn man sich für die Option entscheidet, die Auskunft nicht zu erteilen? Die Verweigerung eines Hausausweises, sprich: der freie Zugang zur Kantine des Bundestags wird verweigert. ({6}) Wenn es um das Vertrauen in den demokratischen Gesetzgebungsprozess geht, sollte Ihnen etwas Besseres einfallen. Herzlichen Dank, meine Damen und Herren. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat Friedrich Straetmanns, Die Linke, das Wort. ({0})

Friedrich Straetmanns (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004907, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Nach Jahren des Hinhaltens legt die Koalition nun doch noch einen Vorschlag – oder vielleicht mehrere – zum Lobbyregister vor, der einem Schweizer Käse gleicht. Dass Ihr plötzlicher Aktionismus mit dem Fall Amthor zu tun hat, der sein Mandat für Luxusreisen, Direktorenposten und Aktienoptionen missbraucht hat, liegt auf der Hand. Aber wenn man sich diesen Skandal um Amthor vergegenwärtigt, sieht man deutlich, dass gerade der vorgelegte Entwurf nicht mal als Feigenblatt taugt. Denn gerade in der Bewertung Ihres CDU-Jungstars würde sich mit Ihrem Gesetzentwurf nichts ändern. Juristisch wäre das Handeln von Amthor, Guttenberg, Hirte und Co weiterhin einwandfrei. Die Bevölkerung reibt sich aber weiterhin verwundert die Augen über ein solch dreistes Vorgehen und erst recht darüber, dass das legal sein soll. ({0}) Das scheint Sie überhaupt nicht zu interessieren. Ich kann in der Kürze nicht alle Lücken – sie wurden auch angesprochen – aufzählen, die Ihr Gesetzentwurf hat. Ganz besonders erschreckend ist, dass Sie allen Ernstes nur Lobbyismus gegenüber Bundestagsabgeordneten regulieren wollten, nicht aber gegenüber der Regierung. ({1}) Meine Damen und Herren, 90 Prozent der Gesetzentwürfe stammen nicht aus der Mitte des Parlaments, sondern aus der Feder der Regierung. Warum bitte schön soll es sinnvoll sein, dass wir für die 10 Prozent eine stärkere Kontrolle einführen, nicht aber für die 90 Prozent? Einige Redner haben angekündigt, einen Änderungsantrag einzubringen. Wir wollen nur noch mal vergegenwärtigen: Sinnbildlich für den Lobbyismus steht das Verkehrsministerium, das der Autolobby seit Jahrzehnten exklusiven Zugang gewährt. Hier hoffe ich sehr, dass Sie die angekündigten Änderungsanträge einbringen. ({2}) Aber wie man überhaupt darauf kommt, die Regierung auszunehmen, ist doch absolut schleierhaft und der eigentliche Skandal. ({3}) Was wir brauchen, ist zudem ein legislativer Fußabdruck, der klar erkennbar macht, wer an der Erstellung eines Gesetzes beteiligt war. Das fordern nicht nur wir als Linke; auch das Europäische Parlament hat dies gemacht. Mir ist bewusst, liebe Abgeordnete der Union, dass Ihre Parteikollegen im EU-Parlament gegen diese Transparenz gestimmt haben. Doch ich glaube, auch Sie wollen nicht ernsthaft unterstellen, dass die EU mit ihrem legislativen Fußabdruck im Begriff ist, unterzugehen. Zumindest an dieser Stelle funktioniert sie wunderbar, was mit Blick auf die menschliche Katastrophe auf den griechischen Inseln nicht zu behaupten ist. Aber die Parteien mit „C“ im Namen interessieren sich nicht erst seit Kurzem mehr für Kapitalinteressen als für christliche Werte. Zuletzt frage ich mich noch, was Sie denn kryptisch mit der Befreiung von der Eintragungspflicht in das Lobbyregister meinen, wenn bei dem Handelnden ausschließlich lokaler Charakter vorliegt. Sollen damit tatsächlich jene Unternehmen von Kontrolle freigestellt werden, deren Firmensitz nur in einem oder zwei Wahlkreisen angesiedelt ist? Was bedeutet das für Firmen, die in keinem Wahlkreis sitzen, sondern zum Beispiel in der Steueroase Delaware wie Augustus Intelligence? Das müssen Sie uns im Ausschuss wirklich erklären. In Vorbereitung empfehle ich Ihnen zur Leseübung noch einmal unseren Gesetzentwurf zum Lobbyregister, ({4}) der geeignet ist, den Lobbyismus transparent zu machen und einzudämmen. Ich wünsche Ihnen für die Lesezeit ein schönes Wochenende. Danke. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Britta Haßelmann, Bündnis 90/Die Grünen, hat das Wort. ({0})

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirecard, die Mautaffäre von Andi Scheuer, die Cum/Ex-Affäre, Rente Rüttgers, „Rent a Sozi“-Skandale, der Abgasskandal und das Vorgehen der Autolobby in der Dieselaffäre oder die Debatte um Philipp Amthor und Augustus Intelligence: Jeder einzelne Skandal, meine Damen und Herren, jede einzelne Verfehlung erschüttert das Vertrauen in Politikerinnen und Politiker insgesamt, und das ist eine Situation, die wir so nicht hinnehmen können. Und dem, meine Damen und Herren, können wir nur mit klareren und strikteren Regeln und mehr Transparenz begegnen. ({0}) Seit Jahren streiten wir im Deutschen Bundestag für mehr Transparenz, für Nachvollziehbarkeit und Offenheit bei politischer Interessenvertretung. Auch ein breites Bündnis, die Lobbyallianz mit dem Verband der Chemischen Industrie, fordert mehr Transparenz in der Interessenvertretung. Im europäischen Vergleich steht Deutschland miserabel da, wenn es um Fragen von Transparenz und rechtliche, klare und strikte Regelungen bei Einflussnahmen geht. So viele Jahre haben sich die Union – vor allen Dingen die Union; denn Sie haben es in erster Linie blockiert – und die Koalition aus Union und SPD geweigert, hier voranzukommen. Jetzt ist es endlich an der Zeit. Ich bin froh, dass wenigstens etwas vorliegt, auch wenn der Gesetzentwurf so, wie er vorliegt, auf gar keinen Fall ausreichend ist für die Problemlage, um die Transparenz, Nachvollziehbarkeit und Offenheit zu schaffen, die wir brauchen, meine Damen und Herren. Was ist das für ein Gesetzentwurf, der die Bundesregierung in der Frage der Transparenz und der Darlegung von Lobbyismus außen vor lässt? Das ist doch verrückt! Wie kann man so was überhaupt einbringen, ohne das ganz breite Element derer, die dafür verantwortlich sind, dass wir dauernd Untersuchungsausschüsse einsetzen, meine Damen und Herren? ({1}) Einflussnahme findet doch nicht nur im Parlament statt, sondern auch bei der Regierung. Deshalb bin ich froh, dass Sie nach der massiven öffentlichen Kritik und dem Druck auf die Idee kommen, jetzt einen Änderungsantrag anzukündigen. Ich bin gespannt, wie das dann aussieht. Und die ganzen Ausnahmen für Verbände, die sich nicht darlegen müssen, sich nicht erklären müssen, wo nehmen Sie die denn alle her? Wer ist das dann am Ende alles? Warum sollten denn Verbände nicht dieser Eintragungspflicht unterliegen, von der Sie in Ihrem Gesetzentwurf reden? Das ist doch überhaupt nicht nachvollziehbar. ({2}) Darüber hinaus fehlt der legislative Fußabdruck. Wir wollen doch wissen: Wer geht in Ministerien und im Parlament ein und aus? Und wer nimmt Einfluss auf Gesetzentwürfe? Das wollen wir doch nicht durch unsere schriftlichen Fragen und das Fragerecht der Abgeordneten erfahren –

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Kollegin Haßelmann, schauen Sie mal auf die rote Lampe.

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

– ja –, sondern aufgrund einer Darlegungspflicht, die von vornherein besteht. Deshalb ist auch ein legislativer Fußabdruck wichtig. Meine Damen und Herren, 82 Prozent der Menschen halten den Einfluss von Lobbyisten für zu hoch. Wir haben dringenden Bedarf, hier zu liefern in Sachen Transparenz, Nachvollziehbarkeit und Offenlegung politischer Interessenvertretung. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort der Kollege Carsten Schneider, SPD. ({0})

Carsten Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003218, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir Sozialdemokraten sind sehr froh, dass wir heute diesen Gesetzentwurf im Bundestag beraten und in den nächsten Wochen auch verabschieden können. Wir kämpfen, wie mein Kollege Bartke gesagt hat, schon seit vielen Jahren dafür, dass wir im Bundestag über die Einflussnahme auf Gesetzgebung und Handeln von Regierung und Parlament Transparenz herstellen. Viele Abgeordnete machen das schon selbst, indem sie die Termine veröffentlichen. Wir machen das jetzt per Gesetz, durch einen Kodex und ein klares Transparenzregister für Lobbyisten, und sind dafür, dass das nicht nur für den Bundestag gilt, sondern – nachdem wir uns als Koalition geeinigt haben; wir als SPD waren schon lange so weit – auch für die Bundesregierung. ({0}) Dass das manchmal ein bisschen dauert, liebe Kollegin Haßelmann, das kennen Sie auch. ({1}) Ich habe mir einmal angeguckt, wie das in den Ländern ist. ({2}) In Hessen, schwarz-grün regiert, stand es 2013 und 2018 im Koalitionsvertrag. Bis heute gibt es kein Gesetz, ({3}) unsere Anträge wurden abgelehnt. 2019 gab es einen Antrag dazu, der wurde abgelehnt von Schwarz-Grün. So ist das. ({4}) Ich könnte das über Baden-Württemberg genauso sagen, möchte jetzt hier nicht mit Steinen werfen. ({5}) Ich bin froh, dass es uns gelingt, im Bundestag diesen entscheidenden Schritt zu gehen. Ich wünschte mir, dass Herr Buschmann nicht nur sagt, was nicht geht und was alles schlimm ist, sondern dass er einfach konstruktiv einen eigenen Vorschlag vorlegt. ({6}) Mir liegt jedenfalls bisher seitens der FDP zu mehr Transparenz im Lobbyismus keinerlei Vorschlag oder Gesetzentwurf vor. Vielleicht kommt das noch; dafür wäre ich sehr dankbar. ({7}) – Ich lasse die Zwischenfrage des Kollegen Fricke gerne zu. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Das ist alles wahr. Aber wenn es so funktioniert, dient es der Zeitersparnis. ({0})

Otto Fricke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003530, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

So sind wir Haushälter. – Kollege Schneider, es wurde gesagt, die FDP habe keine Vorschläge gemacht. Sie haben – das habe ich gemerkt; sicherlich weil Sie Ihrem Kollegen noch einiges erklären mussten im Gesetzentwurf – vielleicht an der Stelle meinem Kollegen Buschmann nicht richtig zugehört. Aber würden Sie nicht auch den Vorschlag unterstützen, die Löcher im Käse jedenfalls insoweit zu schließen, als dass natürlich auch Gewerkschaften Interessenvertreter sind und damit Lobbyisten, als dass auch Kirchen Interessenvertreter sind und damit Lobbyisten, als dass auch Arbeitgeber Interessenvertreter und Lobbyisten sind? Das war ja ein konkreter Vorschlag. Könnten Sie dem denn dann folgen? Oder würden Sie nicht zumindest sagen: „Das ist ein Vorschlag, den wir in der Debatte berücksichtigen müssen“? ({0})

Carsten Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003218, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Kollege Fricke, ich hatte in meiner Rede gerade darauf hingewiesen, dass seitens der FDP keinerlei Gesetzgebungsvorschlag vorliegt, die FDP also anscheinend keinerlei gesetzgeberischen Bedarf sieht, ({0}) den Lobbyismus und damit die Einflussnahme auf die Gesetzgebung in Regierung und Parlament zu schärfen oder transparenter zu machen. Das habe ich hier festgestellt, und dabei bleibt es auch. ({1}) Ansonsten halten wir an unserem Gesetzentwurf fest. ({2}) Ich will zum Abschluss nur ganz kurz sagen: Natürlich ist es so, dass wir mit der Transparenz, die wir hier herstellen, auch – ich glaube und hoffe das – ein Stück die Demokratie in Deutschland stärken. ({3}) Natürlich wird die Unwucht zwischen denen, die über hohe Finanzmittel verfügen, wie der Verband der Automobilindustrie, der hier in Berlin mittlerweile 80 Beschäftigte hat, gegenüber 2,6 Millionen Alleinerziehenden, deren Interessen nur durch ehrenamtliche Verbände – neben dem, was sie tagtäglich zu leisten haben – vertreten werden können, bestehen bleiben; man wird hier niemals gleichziehen können. Aber es wird transparent werden, es wird nachvollziehbar werden. Und es ist unsere Aufgabe als Abgeordnete, zum Beispiel die Interessen der Alleinerziehenden hier im Parlament selbst aufzubringen und ihre Interessen zu einer Durchsetzung zu führen. Vielen Dank. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Michael Frieser, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Michael Frieser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004034, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kollegen! Ich befürchte, jetzt als der letzte Redner vielleicht zu dem untauglichen Versuch eines Schlussakkords einer Debatte zu kommen, in der wir nun wahrlich alles Mögliche gehört haben. Was die althergebrachten Vorwürfe angeht, damit können wir leben, keine Frage. Mit dem Vorwurf, wir hätten schneller handeln können, ({0}) können wir auch leben. Aber dieser sehr flexible Umgang mit der Verfassung – auf der einen Seite noch nicht mal zuzugeben, dass man seine eigenen Vorbehalte gegen ein Lobbyregister und gegen manche Formen von Transparenz hat, während man auf der anderen Seite aufzählt, was wir noch alles brauchten, um am Ende des Tages ein bestimmtes Bild zu schmieden: das Bild der Verschwörung im dunklen Hinterzimmer, durch die verdeckt auf die Gesetzgebung Einfluss genommen wird –: Das, meine sehr verehrten Damen und Herren, zerstört Vertrauen in die Demokratie, nicht unser Lobbyregisterentwurf, um das mal festzuhalten. ({1}) Worum geht es? Interessenvertretung ist nicht nur so alt wie die Menschheit, sie ist notwendigerweise Inbegriff und Werkzeug der Demokratie. Der Austausch mit Menschen, mit Institutionen, ja, auch mit Unternehmen, aber auch mit NGOs, auch mit Verbänden, die sich übrigens aus öffentlichen Mitteln speisen, gehört zur Demokratie. Entmündigen Sie den Bürger bitte nicht! Der Bürger muss in der Lage sein, sich am Ende ein Bild darüber zu machen, wer an dem Willensbildungsprozess auf dem Weg zu einem Gesetz wirklich teilhat. Deshalb schaffen wir ein Lobbyregister, das ganz wesentlich nicht nur sagt: Um wen handelt es sich da eigentlich? Wer ist da Gesellschafter? Wie viele Mitarbeiter stehen dahinter, wie viele Mitglieder in Verbänden? Wie speisen sich die finanziellen Mittel, ob Spenden, Zuschüsse und Ähnliches? Das muss hinein, aber auch die Richtung der Interessenvertretung: Warum kommt es überhaupt zu dieser Interessenvertretung? Das soll dem Bürger kenntlich gemacht werden. Um da mit einer Sache aufzuräumen: Wir leben immer noch – den Hinweis erlaube ich mir – in einem Rechtsstaat, und in einem Rechtsstaat besteht so etwas wie die Möglichkeit der Auskunftsverweigerung. Die Folge ist dann nicht das Verweigern eines Hausausweises, sondern tatsächlich das Auflisten: Wenn jemand solche Angaben nicht macht, dann kommt er auf eine separate Liste; ich will sie aufgrund meiner Zugehörigkeit zur Union nicht „schwarze Liste“ nennen. ({2}) Aber auf jeden Fall wird für den Bürger deutlich, um wen es sich an dieser Stelle handelt. ({3}) Was alle anderen angeht, muss ich mal deutlich sagen – das meine ich mit flexibler Haltung zur Verfassung –, dass Kirchen, Institutionen, ja, auch Gewerkschaften einen verfassungsrechtlichen Rang haben, ({4}) der sie auf der einen Seite geradezu zur Interessenvertretung verpflichtet, es aber auf der anderen Seite notwendig macht, sie anders zu behandeln. ({5}) Das ist aus unserer Sicht absolut notwendig. ({6}) Es stimmt: Angesichts des Wechselspiels zwischen Parlament und Regierung, aus dem sich der Gesetzgebungsprozess speist, ist klar, dass die Regeln nicht nur für eine Seite gelten können. Das ist jetzt geklärt. Diese ganzen Krokodilstränen, die jetzt hier vergossen werden, sagen meines Erachtens etwas in eine andere Richtung. Wer von einem „Lobbyregister light“ spricht – bei einer Ordnungswidrigkeit in Höhe von 50 000 Euro, bei einer Deutlichmachung „Wer diese Auskünfte nicht erteilen will, wird dem Bürger kenntlich gemacht“ –, der hat meines Erachtens entweder die Systematik nicht ganz verstanden, er will sie vielleicht nicht verstehen oder verfolgt am Ende eine andere, ideologische Absicht. Man kann natürlich Politik, den Prozess der Willensbildung, den Prozess der Gesetzgebung so weit einengen und, wieder mal, mit Gängelung und Verboten arbeiten, dass am Ende des Tages höchstens noch etwas Automatisches dabei herauskommt. Deshalb ist unser Wunsch bezüglich des Lobbyregisters nicht nur Nachvollziehbarkeit und Transparenz. Lassen Sie den Bürger in seiner Mündigkeit entscheiden, damit er lesen und feststellen kann, wer mit welcher Intention in diesem politischen Prozess eine Rolle spielt. Am Ende des Tages glauben wir, dass das, was wir mit den Unternehmen und Verbänden zusammen erarbeiten können, genau dem Willen entspricht. Die Unternehmerschaft, auch die Verbände, sind mit ihren Compliance-Vereinbarungen, mit ihren Grundlagen, schon viel weiter. Fällen Sie am Ende des Tages über den Gesetzentwurf der Koalition zu diesem Lobbyregister Ihr eigenes Urteil! Vielen Dank. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Damit schließe ich die Aussprache.

Ronja Schmitt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004617, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schon heute profitieren wir im Alltag von zahlreichen KI-Anwendungen. Wir sind uns nur wahrscheinlich ganz oft nicht darüber bewusst, zum Beispiel, wenn wir uns im Auto navigieren lassen, wenn wir einer Musik- oder einer Nachrichtenempfehlung folgen oder auch wenn wir eine Sprachassistenz befragen. Aber das alles ist nur der Anfang; denn KI ist eine Technologie, die unser Leben verbessern und gar Leben retten kann. Mithilfe von Algorithmen können künftig Krankheitsausbrüche früher vorhergesagt und Therapien verbessert und weiterentwickelt werden. Dabei ist für uns stets wichtig, zu differenzieren; denn Algorithmen unterstützen, aber sie entscheiden letztendlich nicht. Es sind Menschen, die entscheiden: Menschen, die Verantwortung tragen, wo und wie sie Technologie einsetzen wollen. Dafür brauchen wir gute Rahmenbedingungen, dass Technologie sich entwickeln kann, dass Innovationen vorankommen. Dafür müssen wir jetzt innerhalb der EU handlungsfähig und entscheidungsfest werden. Das Weißbuch setzt im Bereich KI einen ersten Rahmen. Es sieht zwei wesentliche Säulen vor; ich würde das noch um eine dritte ergänzen wollen, und zwar: Exzellenz, Agilität und auch Vertrauen. Ich sage das bewusst in dieser Reihenfolge. Wir können international doch nur erfolgreich sein, wenn wir erstens die Grundlagenforschung und die angewandte Forschung im Bereich KI weiter ausbauen, wenn wir zweitens den Transfer zwischen Wissenschaft und Forschung weiter vorantreiben, wenn wir drittens auch innovative Start-ups noch besser fördern und abschließend einen vertrauensbildenden Rechtsrahmen in Europa bieten. Dafür braucht es Augenmaß. Augenmaß vor allem zwischen Freiräumen auf der einen Seite und Regulierung auf der anderen Seite. Es braucht aber vor allem auch Tempo; denn während wir in Europa noch über die richtige Strategie diskutieren, gehen andere voran, setzen – meist Unternehmen aus den USA oder China – entsprechend ihren Weg fort und bauen ihre Marktmacht aus. Und das schmälert den Vorsprung, den wir zum Beispiel im Bereich Robotik haben, es schmälert aber vor allem die Möglichkeit, auch international Standards zu setzen. Es muss doch unser Anspruch sein, dass wir auch da künftig international mitreden. ({0}) Deswegen gilt es eben jetzt, beim Weißbuch Fehler der Vergangenheit, die wir vielleicht an anderen Stellen gemacht haben, nicht zu wiederholen. Wenn wir zum Beispiel über die Umsetzung der DSGVO nachdenken, die in ihrer Zielsetzung ja absolut richtig war, dann sehen wir, dass wir heute, nach einem langwierigen Prozess, unterschiedliche nationale Auslegungen haben und eben keine volle Harmonisierung zwischen den verschiedenen Mitgliedstaaten. Da müssen wir bei KI deutlich praxisnäher agieren, gerade auch für Nutzerinnen und Nutzer; denn ich bezweifle wirklich zutiefst, dass wir, wenn wir einer Musikempfehlung folgen oder zu Hause vielleicht den Staubsaugerroboter anschmeißen, künftig hören wollen: Achtung, hier kommt KI zum Einsatz. Sind Sie denn überhaupt damit einverstanden? – Ich glaube nicht, dass das einen Mehrwert für uns als Verbraucher hätte. Deswegen wollen wir als Union eben kein pauschales KI-Gesetz, wir wollen keinen Algorithmen-TÜV, und wir wollen auch keine Superaufsichtsbehörde zum Thema KI. Wir begrüßen hingegen den Ansatz der Kommission, der ganz klar sagt, dass unterschieden werden soll zwischen Hochrisiko- und Niedrigrisikosystemen auf beiden Seiten. Denn es macht eben einen Unterschied, ob wir über einen Chatbot sprechen, der einfach nur Standardfragen beantwortet, oder ob wir über einen Medizinroboter oder ein System, das künftig vielleicht auch bei Kreditvergaben mit entscheidet, diskutieren. Die meisten Anwendungen im Bereich KI – schätzungsweise 80 bis 90 Prozent – brauchen keine neue Regulierung. Sie sind bereits durch bestehende Gesetzgebung abgedeckt. Deswegen fordern wir stattdessen im Antrag ganz klar einen schnellen und praxisnahen Check für vorhandene Gesetze, um da nachzubessern, wo es notwendig ist, zum Beispiel im Bereich Haftung, oder um Aufsichtsbehörden besser zu verzahnen, und fordern, vor allem auch Instrumente wie Normung, Standardisierung oder Gütesiegel noch besser zu nutzen. Wir brauchen natürlich einen europäischen digitalen Binnenmarkt, gerade auch beim Thema Daten. Hier wollen wir eine innovative Datenstrategie, die auf Souveränität setzt und die am Ende sowohl Quantität als auch Qualität der Daten gewährleistet; denn nur so werden die Systeme künftig auch trainiert werden können. Abschließend, meine Damen und Herren, braucht es bei KI, wie bei so vielen Dingen, ein gesundes Mittelmaß: weder blinde Begeisterung noch komplettes Misstrauen. Ich denke, dafür steht der Antrag auch: für eine künftige Marke „KI made in Europe“. Dafür wollen wir heute werben. Herzlichen Dank. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Peter Felser, AfD. ({0})

Peter Felser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004714, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kollegen! Liebe Gäste! Was steht eigentlich in diesem Weißbuch KI der EU? Künstliche Intelligenz soll die Werte der EU fördern, soll Freiheit und Menschenrechte weltweit durchsetzen. Künstliche Intelligenz soll den Green Deal voranbringen, den Klimaschutz antreiben, die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands erhöhen. Künstliche Intelligenz soll eine bürgerfreundliche und effiziente Verwaltung herbeizaubern, das gesamte wirtschaftliche und gesellschaftliche Wohlergehen maximieren und natürlich Diskriminierung verhindern. Meine Damen und Herren, Sie sind damit Weltmeister im Absondern weltfremder Wohlfühlprosa. ({0}) Die eigene Handlungsunfähigkeit und Ratlosigkeit wollen Sie damit doch nur verschleiern – bei diesem wichtigen Thema. Der größte Hemmschuh für KI – wir haben es gerade gehört – ist das mangelnde Vertrauen der Menschen. Genau das hören wir auch immer wieder in der Enquete-Kommission „Künstliche Intelligenz“. Ja, liebe Kollegen der Bundesregierung, dann sprechen Sie doch bitte einmal Klartext mit den Bürgern. Hören Sie mit dem unsäglichen Geschwurbel auf! Sagen Sie den Menschen klar und deutlich, wo die Vorteile beim Einsatz von KI-Systemen liegen und wo die Nachteile beim Einsatz von KI liegen! Mit einer so offenen Diskussion würden Sie Vertrauen in diesem Land schaffen. ({1}) Sie wollen eine „weltweite Vorreiterstellung der EU bei KI-Systemen“ – weltweit! Europa soll von der Grundlagenforschung über die konkrete Anwendung bis hin zu „global erfolgreichen Geschäftsmodellen“ eine „Spitzenposition“ übernehmen – Spitzenposition! Hoffentlich liest dieses Weißbuch niemand in China oder in den USA. Was wollen Sie denn für diese Spitzenposition tun? Fachkräfte zur Verfügung stellen, lese ich, und Sie wollen vor allem regulieren. Meine Damen und Herren, das ist weltfremd. Damit bauen wir die Defizite nicht mehr ab. Europa hat keine nennenswerte Hardwareproduktion. Bis auf ein deutsches Unternehmen haben wir keine bedeutenden Softwarehersteller; das wissen Sie. Wir haben in Deutschland und Europa auch keine Plattformen. In allen drei Bereichen dominieren außereuropäische Player. Hier liegt doch das Hauptproblem, hier müssten Sie doch eigentlich ansetzen. Sie können noch so viele Fachkräfte haben, Standards und Regeln aufstellen, wie Sie wollen: Wenn Sie keine Datenplattformen haben, keine Großrechner herstellen, die Software nicht programmieren und die Netzwerke nicht selbst betreiben, dann sind Ihre Standards für die Tonne. Das muss ich leider so sagen, liebe Kollegen. ({2}) Ein Beispiel für ein völlig weltfremdes digitales Prestigeobjekt – steht bei Ihnen ja auch im Antrag –: Gaia‑X. Gaia‑X soll jetzt alles lösen. Gaia‑X soll eine europäische Cloud-Infrastruktur als Alternative zu den Angeboten der großen Marktbeherrscher in den USA und China sein – hört sich erst einmal gut an. Aber warum um alles in der Welt sollten kleine und mittelständische Unternehmen ihre Daten auf der Gaia‑X-Infrastruktur unterbringen? Was ist das Alleinstellungsmerkmal? Sie sagen: europäische Standards als Alleinstellungsmerkmal. – Aber die großen amerikanischen und chinesischen Konzerne sind doch schon hier. Sie bieten europäische Datenhaltung auf ihren Cloud-Servern an. Sie haben längst die Nachfrage nach europäischen Standards erkannt. Als Unternehmer im IT-Bereich entscheide ich nach Performance, nach Schnelligkeit, nach Verfügbarkeit, nach Sicherheit und nach dem Preis, welchem Cloud-Anbieter ich letztendlich meine Daten übergebe. Ich bin mir sicher, viele Unternehmen in Deutschland werden genauso handeln. Und auch Sie, Kollegen von den Grünen, hosten Ihre Bundesseite bei Google. Das Problem liegt woanders. Gaia‑X steht für digitale Souveränität, sagen Sie. Aber auch das ist falsch. Die digitale Souveränität haben wir nicht. Woher kommt denn die Hardware für diese Server und Router, die Sie da aufbauen wollen? Woher kommt denn die Netzwerktechnik? Jedenfalls nicht aus Europa, Stichwort „Huawei“. Ich habe bereits vor Monaten an dieser Stelle die skandalöse Abhängigkeit Europas im Bereich Datenspeicherung, Hardware und Software angesprochen. Das müssen wir lösen, bevor wir irgendwelche anderen Projekte anschieben. Ich bedanke mich. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Jens Zimmermann, SPD. ({0})

Dr. Jens Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004603, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir reden heute über künstliche Intelligenz, über das Weißbuch der Kommission und über unsere Stellungnahme dazu. Und ich finde es gut, dass der Deutsche Bundestag hier Stellung nimmt. Ich finde, das Bild, das der Kollege von der AfD gezeichnet hat, ist ein bisschen peinlich. Es ist peinlich, damit unsere tüchtigen Forscherinnen und Forscher in Deutschland in ein schlechtes Licht zu rücken. ({0}) Dass das gerade von der AfD kommt, ist auch interessant, meine Damen und Herren. Ein Punkt, ein Funfact am Rande: Zum Beispiel haben wir in Europa die größte Anzahl an Programmiererinnen und Programmierern – im Vergleich zu China, im Vergleich zu den USA. Das ist ja mal etwas, auf dem man aufbauen kann. Deswegen ist es beileibe nicht so, als könnten wir als Europäerinnen und Europäer an dieser Stelle nichts mehr gestalten. Wir als Deutscher Bundestag sind so selbstbewusst und sagen: Jawohl, wir wollen dort mitreden. Für uns als SPD-Fraktion ist ganz klar, dass Mensch und Gemeinwohl im Mittelpunkt stehen müssen und dass gleichzeitig Innovation ermöglicht werden muss. Deshalb wollen wir einen europäischen Regulierungsrahmen, „KI made in Europe“; denn das kann ein Qualitätsmerkmal sein. Warum ist das so attraktiv? Wenn wir uns die internationale Situation anschauen, dann sehen wir, dass wir momentan sehr aggressive Player aus China, aus den USA haben. Mit denen stehen wir in einem harten Wettbewerb. Aber warum glauben wir, dass wir als Europäerinnen und Europäer an dieser Stelle ebenso gute Chancen haben? Das liegt ganz klar an unseren europäischen Werten. Denn KI, künstliche Intelligenz, ist irgendwie so ein Schlagwort, unter das ganze viele Dinge fallen, etwa die Frage: Was machen wir mit sehr großen Datenmengen, und wie nutzen wir intelligente Algorithmen, um mit diesen Datenmengen Nutzen zu stiften? Und ja, wenn man sich anschaut, was in China los ist – Stichwort „Social Scoring“ –, dann sieht man, dass man mit solchen Datenmengen und Algorithmen genau gegen unsere europäischen Werte arbeiten kann, dass man damit die eigene Bevölkerung überwachen kann, dass man damit diskriminieren kann. Das geschieht in einem Land, in dem die Ein-Kind-Politik mal so hart durchgesetzt wurde. Das ist wirklich, wie Orwell es sich vorgestellt hat. ({1}) In den USA haben wir einen sehr reinen Kapitalismus, wo nur der Profit im Vordergrund steht und wo es eben keine Rolle spielt, ob Kundinnen und Kunden, ob Bürgerinnen und Bürger diskriminiert werden. Das kann auch nicht unser Ansatz sein. Deswegen, sagen wir als SPD, ist es der richtige Weg, wenn wir als Europäerinnen und Europäer vorangehen und versuchen, unsere europäischen Werte da unterzubringen. Das Thema Datenschutz-Grundverordnung ist vorhin von der Kollegin genannt worden. Es ist doch interessant, dass wir – denken wir ein bisschen zurück – auch in diesem Hohen Haus hysterische Diskussionen über dieses Thema geführt haben und dass in Kalifornien, der Heimat des Silicon Valley, die Bürgerinnen und Bürger ihre Vertreterinnen und Vertreter im Parlament fragen – das sollten wir ebenfalls sehen –: Warum werden eigentlich die Rechte der Europäerinnen und Europäer bei Facebook, Google und Co so gut geschützt und unsere nicht? – Das kann, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, eine Blaupause auch für unseren Ansatz im Bereich der Regulierung von künstlicher Intelligenz sein: klare europäische Werte, Investitionen in Forschung und Entwicklung. Dann müssen wir auch keine Sorge haben, dass sich unser Ansatz international vielleicht nicht durchsetzen könnte. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Mario Brandenburg, FDP. ({0})

Mario Brandenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004677, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Drei Anträge zum Thema künstliche Intelligenz in drei Minuten – das wird nichts. Daher möchte ich drei Themen rauspicken, die uns als Freien Demokraten wichtig sind. Der erste Punkt: die Diskussion um Regulierung. Es ist keinesfalls so, dass wir, wenn wir die Diskussion immer von dieser Seite beginnen, uns allen einen Gefallen tun. Denn es gilt, die künstliche Intelligenz erst mal in Anwendung zu bringen, um dann passgenaue Regulierung für etwas vorzunehmen, was für jeden etwas anderes bedeutet. Ich höre jetzt schon die Gegenrufe: Ja, was ist denn in den sicherheitskritischen Bereichen wie Verkehr oder Medizin? Genau aus dem Grund, dass auch dort die künstliche Intelligenz zum Einsatz kommen soll, setzen sich die Freien Demokraten schon lange für sogenannte Regulatory Sandboxes ein, ({0}) die es ermöglichen, Daten zu sammeln, Erkenntnisse zu gewinnen und dann passgenau und treffsicher zu regulieren und nicht mit dem Holzhammer über die Chancen dieser Technologie hinwegzugehen. ({1}) Der zweite Punkt: die Anwendungen. Da möchte ich zu unserem Antrag überleiten. Wir sehen hier den Staat in der Verantwortung, voranzugehen. Denn es hat multiple Vorteile, wenn der Staat als sogenannter First Customer agiert. Zum einen steigt das Wissen über die Technologie und den Einsatz auf der Seite des Staates, und man kann dann auch kluge Regulierungen ableiten. Zum anderen kann der Staat diese Projekte in einer Offenheit abwickeln, wie es Industrieunternehmen nie können: Open Data, Open Access, die ganzen Learnings hochladen, die Bürgerinnen und Bürger, die letzten Endes über Steuergeld diese Projekte finanzieren, abholen und die digitale Souveränität des ganzen Landes steigern. Der dritte Punkt. Der Staat kann dabei zum attraktiven Arbeitgeber werden. Wenn junge Menschen wissen, dass sie die Nutzung der modernsten Tools beim Staat erlernen können, dann wird es auch wieder attraktiv, in den öffentlichen Dienst einzutreten. Das muss unser Ziel als modernes Land sein. ({2}) Zum Abschluss ein letzter Punkt: die Diskussion über Bias, also die sogenannte Voreingenommenheit von Algorithmen. Ja, die gibt es, und ja, niemand möchte dies. Wenn allerdings jedes Paper, jede Diskussion, jeder Antrag immer wieder mit denselben fünf bis zehn Geschichten beginnt, die in den letzten fünf Jahren global passiert sind, dann werden wir dem Potenzial, das diese Technologie in der Medizin, in der Mustererkennung, in vielen anderen Dingen bietet, eben nicht gerecht. Es macht keinen Sinn, eine Technologie dafür zu beschuldigen, was wir getan haben. Es sind unsere Daten. Wenn Sie keinen sexistischen, rassistischen, nazistischen Chatbot wollen, füttern Sie ihn nicht mit sexistischen, rassistischen, nazistischen Daten. Deswegen ist die Diskussion, unsere Verfehlungen auf eine Technologie auszuladen, falsch. Das ist ungefähr so, wie wenn Sie nach einer Straftat das Tatwerkzeug verhaften, den Täter aber davonkommen lassen. Das bringt uns nichts, das bringt dem Standort Deutschland nichts, und das wird den vielen klugen Menschen, die sich damit auseinandersetzen, nicht gerecht. Wir brauchen mehr Mut und den Einsatz von KI. Vielen Dank. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort die Kollegin Dr. Petra Sitte, Die Linke. ({0})

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 13 Seiten Koalitionsantrag zu KI, da habe ich gedacht: Was soll das denn jetzt? Das ist ja schon bemerkenswert, und nicht mal in den Ausschuss soll es gehen. Es soll sofort abgestimmt werden. ({0}) – Ich sage dazu noch was. Na klar ist künstliche Intelligenz wichtig. Das haben ja alle hier gesagt; das muss ich nicht mehr ergänzen. Natürlich müssen wir uns zu den Überlegungen der EU-Kommission hier im Bundestag verständigen – keine Frage –, erst recht, wenn die EU-Kommission nächstes Jahr Regelungen auf den Weg bringen will. Und genau weil das Thema so wichtig ist, haben wir hier gemeinsam im Bundestag vor zwei Jahren eine Enquete-Kommission eingesetzt, durch die wir uns seit zwei Jahren mühen, mit unendlichen Debatten, mit Experten usw. Diese Enquete-Kommission ist jetzt auch noch kurz davor, ihren Abschlussbericht einzubringen. Dennoch sollen wir über den 13-seitigen Antrag der Koalition heute hier sofort abstimmen. Dann noch ein kleiner Hinweis: Das, worauf Sie sich beziehen, der formale Prozess der Stellungnahme gegenüber dem Weißbuch der EU, ist im Juni abgelaufen. Ich glaube, das haben Sie ein bisschen verschlafen. 13 Seiten im Juni – na ja, warum nicht? Aber immerhin. Also, man fragt sich hier und heute: Warum die Eile? Was Sie damit eigentlich bezweckt haben, das bleibt Ihr großes Geheimnis. Das kann man in dem Antrag auch nicht lesen. Warum Sie nicht die Gelegenheit nutzen, tatsächlich erst mal den Bericht der Enquete-Kommission mit den Stellungnahmen zahlreicher Experten abzuwarten, ist mir auch irgendwie schleierhaft. Ich muss ehrlich sagen: Wenn ich als Experte seit zwei Jahren in dieser Enquete-Kommission arbeiten würde und das heute kurz vor meinem Abschlussbericht von der Koalition vorgelegt bekommen würde, käme ich mir irgendwie wie eine Witzfigur der Geschichte der Enquete-Kommissionen des Bundestages vor. ({1}) Insofern finde ich das ganze Verfahren ziemlich daneben. Trotzdem: Einigem in dem Antrag kann man ja durchaus zustimmen, etwa wenn Sie in Ihrem Antrag soziale Innovationen ansprechen oder das Wettbewerbsrecht anschneiden, das zumindest fair gestaltet werden sollte. Dagegen haben wir als Linke gar nichts einzuwenden. Ich bin nur gespannt, wie Sie es umsetzen und ob Sie es überhaupt umsetzen, weil das Kartellrecht ja schon so einige Füße hat, die sehr hölzern daherkommen. Über anderes müsste man diskutieren, etwa darüber, was Sie damit meinen, wenn Sie „Ökosystem der Agilität“ schreiben; denn konkret für unternehmerische Anreize wollen Sie ja immer Freiräume schaffen. Deshalb würde ich mich auch an dieser Stelle fragen: Was sind denn Ihre konkreten Vorstellungen über die Ausgestaltung, über Restriktionen, über Eckpfeiler? Einige Aspekte fehlen aber ganz. Das ist wiederum typisch. Es fehlen beispielsweise die Arbeitswelt oder Medien. Am Ende bleibt bei 13 Seiten dann doch eine ordentliche Schlagseite, weil Sie es mal wieder ziemlich einseitig aus der Sicht der Wirtschaft gesehen haben und gesellschaftliche Aspekte weitestgehend ausgeblendet haben. Das finde ich schade. Warum? Weil ich der Auffassung bin, dass wir mit der Enquete-Kommission schon weiter waren, weil wir uns dort ausgewogenere Betrachtungen erarbeitet haben.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Kollegin Sitte.

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Jawohl.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Die Zeit geht zu Ende.

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich bin im letzten Satz, Herr Präsident.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Sehr schön.

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich wollte meinen wunderbaren Beitrag jetzt beenden. – Außerdem sollten wir diesen Antrag vielleicht auch in der Enquete-Kommission mal gemeinsam ansprechen und bereden. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke für Ihren wunderbaren Beitrag. ({0}) Dr. Anna Christmann, Bündnis 90/Die Grünen, ist die nächste Rednerin. ({1})

Dr. Anna Christmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004694, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist ja grundsätzlich schön, dass wir heute endlich mal über den europäischen Weg zur Gestaltung von KI sprechen. Das wollten wir als Grüne ja schon vor zwei Jahren, als wir einen Antrag zum Thema „Künstliche Intelligenz – made in Europe“ vorgelegt haben. Wie schön, dass auch Sie sich nach zwei Jahren dazu entscheiden konnten, dass die europäische Ebene die richtige ist, auf der KI gestaltet werden muss. Denn KI kann ja Windräder mehr Strom produzieren lassen. KI kann auch dazu beitragen, in einer Pandemiesituation Schutzgüter besser zu verteilen. KI kann aber eben auch Beschäftigte kontrollieren; wir haben von Social Scoring gehört. Natürlich ist es ganz zentral, dass wir auf europäischer Ebene sicherstellen, dass wir KI zum Wohl unserer Gesellschaft auf der Grundlage europäischer Werte einsetzen. ({0}) Jetzt möchte ich aber auch zu einer gewissen Ironie in Ihrem Antrag kommen. Die Enquete-Kommission ist eben schon erwähnt worden, in der wir eigentlich gerade viele dieser Punkte sehr gut, wie ich finde, diskutieren. Dort kommen wir auch zu etwas weiter gehenden Ausführungen. Die andere Ironie ist aber, dass die Umsetzung der KI-Strategie dieser Bundesregierung, die ja eigentlich seit zwei Jahren dabei sein sollte, viele dieser Dinge auch umzusetzen, völlig brachliegt. Sie hatten mit der KI-Strategie 3 Milliarden Euro angekündigt. Jetzt sollen im Konjunkturpaket noch mal 2 Milliarden Euro obendrauf kommen. Ausgegeben sind 65 Millionen Euro. Das ist wirklich ein Armutszeugnis und für den europäischen Weg definitiv zu wenig; ({1}) denn wir müssen ja auch in der Lage sein, selber voranzugehen und zu zeigen, wie es geht. Wenn wir bei uns nicht vorankommen, wird das sicherlich nicht dazu beitragen, dass wir auf europäischer Ebene wirklich Einfluss darauf haben, wie denn KI am Ende gestaltet und entwickelt werden soll. Die geplante Zusammenarbeit mit Frankreich gibt es bisher ja fast noch gar nicht; sie wird jedenfalls nicht finanziell unterstützt. Der Förderung europäischer Forschungsnetzwerke wie ELLIS und CLAIRE haben Sie im Gespräch eine Absage erteilt, Frau Karliczek – wenn es anders ist, würde ich mich freuen. Insofern ist die KI-Strategie der Bundesregierung bisher eine echte Luftnummer und braucht dringend ein Update. ({2}) Wir haben dazu heute auch einen Vorschlag gemacht. Sie sprechen ja in Ihrem Antrag sehr viel von Agilität. Es wäre schön, wenn wir auch bei der Umsetzung etwas agiler würden. Wir haben deswegen den Vorschlag gemacht, eine Technologie-Taskforce beim Kanzleramt einzusetzen, die endlich mal diejenigen, die in der Technologieentwicklung sind – Gründerinnen, Entwickler –, in die Verwaltung holt und die dort ermöglicht, dass die Dinge mit einem eigenen Digitalbudget umgesetzt werden, das dann vielleicht auch mal anschließt. Denn es ist ja schon ein Hohn, dass Sie so viele Milliarden für KI versprechen, dass Sie aber das Geld für die Umsetzung des Hackathons gegen die Pandemie mühsam zusammenkratzen müssen. Die guten Ideen aus der Zivilgesellschaft, aus der Wissenschaft müssen wir in die Verwaltung hineinholen, und wir müssen sie vor allen Dingen auch gemeinsam umsetzen. Dafür braucht es neue Strukturen; denn so, wie diese Bundesregierung es bisher macht, geht es offensichtlich nicht voran. Wir brauchen aber dringend mehr Fortschritt; denn nur so werden wir diesen europäischen Weg auch beschreiten können, bevor er zugewuchert ist. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Katrin Staffler, CDU/CSU. ({0})

Katrin Staffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004901, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich erinnere mich oft und gerne an Serien, die ich als Kind angeschaut habe. Ich weiß nicht, ob Sie noch „Knight Rider“ kennen. Das war die Serie mit dem selbstfahrenden Auto namens „K.I.T.T.“. ({0}) Das habe ich geliebt. ({1}) – Hasselhoff, genau. Ich bin oft vor dem Fernseher gesessen und habe über die Dinge gestaunt, die man da so in der Fiktion mit Technik hinbekommen hat: Autos, die eben ohne Fahrer auf Knopfdruck gekommen sind, wenn man sie gerufen hat, und wenn man in die Armbanduhr gesprochen hat, hat man sogar mit dem Auto kommunizieren können – ganz großartig. Jetzt sind wir ein paar Jahre weiter, und jetzt sind wir selber in der Lage, dass wir aus dieser Fiktion auch Wirklichkeit werden lassen. Autonomes Fahren ist durchaus in den Bereich des Machbaren gerückt, und dass wir in unsere Armbanduhren oder in andere digitale Devices reinsprechen und sogar eine Antwort kriegen, ist im Prinzip eigentlich fast schon Alltag. Aber anders als das jetzt vielleicht klingt, ist der Fortschritt halt doch eher eine Schnecke und kein Rennpferd, weil die Technologie „künstliche Intelligenz“ eben ein viel komplexeres Feld ist, als uns die Filmemacher damals oder auch teilweise heute noch haben glauben lassen. Von vielem, was in der Theorie oder in Filmen machbar erscheint, sind wir in der Realität halt doch noch ein großes Stück entfernt. Wir stecken in den Kinderschuhen der Technologie; aber nichtsdestotrotz ist künstliche Intelligenz heute schon ein wichtiger Teil unseres Lebens, zum Beispiel in der Medizin – das ist schon angesprochen worden –, wenn es um die Diagnose, um die hochpräzise Behandlung von Krankheiten geht. Wir kriegen es oft nicht mit; aber KI ist jetzt schon immer um uns herum. Ziel der KI muss sein, dass sie unser Leben verbessert, Innovationen fördert, Wohlstand sichert, den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärkt. Künstliche Intelligenz ist eine hochkomplexe Technologie mit einem enormen Potenzial. Gerade weil sie so komplex ist, muss sie zu jeder Zeit auf unserem Wertesystem basieren. Gerade dafür will die EU-Kommission mit dem Weißbuch sorgen. Sie geht einen ersten Schritt in die richtige Richtung, hin zu einer sicheren, nachvollziehbaren und vertrauenswürdigen „AI made in Europe“. Fakt ist, dass wir klare Regeln brauchen, was künstliche Intelligenz darf und was sie nicht darf. Natürlich müssen wir auch dafür sorgen, dass die Regeln durchgesetzt werden; denn KI kann nur dann erfolgreich sein, wenn die Menschen auch das notwendige Vertrauen in die Technologie haben. Aber es braucht halt noch was zum Erfolg: Unternehmen, die die Technologie weiterentwickeln und sie nutzen. Ich glaube, man kann feststellen: In diesem Bereich können wir noch besser werden; da müssen wir auch noch besser werden. Ein Hindernis dabei ist sicherlich ein unsicherer Rechtsrahmen; denn der hält die Unternehmen davon ab, zu investieren. Deswegen müssen wir dringend einen Regulierungsrahmen schaffen bzw. den vorhandenen anpassen. Angesichts der unglaublich rasant voranschreitenden Entwicklung ist es notwendig, dass wir Raum schaffen, und zwar Raum für weitere technologische Entwicklungen, Raum, in dem der Rechtsrahmen praxisnah ausgestaltet wird. Auch in der Forschung nimmt die KI schon einen großen Stellenwert ein. Europa ist mit Blick auf KI in einer Spitzenposition. Aber anders als einige hier sich das vielleicht wünschen, darf die KI-Forschung kein innereuropäischer Wettkampf sein; KI aus Europa muss sich vielmehr global behaupten können. Das erreichen wir sicherlich nur, wenn wir unsere Kompetenzen bündeln und unsere Anstrengungen zusammenführen, weil wir dann gut und breit aufgestellt sind, sodass wir auch international wettbewerbsfähig sein können. Deswegen müssen wir mit aller Kraft daran arbeiten, noch mehr europäische KI-Entwicklungen auf den Markt zu bringen. Im Moment bleibt, wie ich finde, noch zu vieles hinter verschlossenen Türen und ist oft nur einer kleinen Gruppe von Forschern zugänglich. Die EU-Kommission hat mit ihrem Weißbuch Potenziale und Chancen von künstlicher Intelligenz für die Wirtschaft und die Gesellschaft erkannt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Kommission ist mit dem Weißbuch einen großen Schritt in Richtung Zukunft gegangen. Aber diese Zukunft der KI müssen wir jetzt mit Leben füllen, damit wir künftig auch über die Uhr unser autonom fahrendes Auto „K.I.T.T.“ rufen können, das dann angefahren kommt. Daran sollten wir gemeinsam arbeiten. Vielen Dank. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dr. Joe Weingarten, SPD. ({0})

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die künstliche Intelligenz ist das zentrale Datenwerkzeug der Zukunft. Heute stellen wir die Weichen dafür, wie dieses Werkzeug der Zukunft eingesetzt werden soll. Wir müssen dabei höchste Ansprüche anlegen, um europäische KI zum Erfolg zu führen und daraus die Werkbank der Zukunft zu formen. Neben der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der KI-Systeme als Produkt müssen wir deshalb auch darauf achten, dass unsere Unternehmen von der KI-Entwicklung profitieren und rechtssicher arbeiten können. Denn es geht um nicht weniger als eine zentrale Frage der Wettbewerbsfähigkeit unserer Industrie und unseres Mittelstandes. Es geht um die Frage, wie wir unsere weltweit führenden Kompetenzen in der Organisation industrieller Produktion, in der Präzision und Qualität und in der Verbindung von Datenwelt und Produktion in eine erfolgreiche Zukunft führen. Gelingt uns das, kann KI einer der Erfolgsfaktoren der deutschen mittelständischen Industrie auf den Weltmärkten der nächsten Jahrzehnte werden. Um hier einen erfolgreichen Transfer einzurichten, verfügen wir bereits über wissenschaftliche Spitzeneinrichtungen, etwa das in Kaiserslautern ansässige Deutsche Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz mit seinen bahnbrechenden Arbeiten zum Thema Industrie 4.0 oder den ebenfalls dort angesiedelten Industrieverbund SmartFactory, in dem künstliche Intelligenz schon in Produktionsschritte eingebettet wird. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, als Industrienation müssen wir grundsätzlich den Fokus darauf legen, wie KI bei uns immer weiter verbessert und eingesetzt werden kann. Die EU-Strategie, dazu ein Ökosystem der Exzellenz in Verbindung mit einem Ökosystem des Vertrauens zu schaffen, geht genau in die richtige Richtung – aber eben nur vor dem Hintergrund eines rechtssicheren Regulierungsrahmens, der gleichzeitig experimentelle Forschung ermöglicht. Neben dem Vertrauen in die Technologie muss dabei auch ein Verständnis für die Anwendung aufgebaut werden. Dazu brauchen wir anwendungsbasierte Cluster aus Hochschulen und mittelständischen Unternehmen, in denen maßgeschneiderte Lösungen entwickelt werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, als Abgeordneter der Nahe-Region um Birkenfeld und Bad Kreuznach mit vielen Mittelständlern freut es mich, dass auch deren besondere Situation in das Weißbuch der Europäischen Union zur KI aufgenommen wurde und dass der Koalitionsantrag ausdrücklich die KI-Implementierung in kleinen und mittelständischen Unternehmen fordert. ({1}) Die dort liegenden Risiken und Chancen müssen wir effizient und übersichtlich benennen. Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, dem Mittelstand bei der Bewältigung der enormen Herausforderungen beizustehen, die die Implementierung von KI-Prozessen für ihn bringt. Das Weißbuch der EU, der Antrag der Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und SPD und die heutige Debatte sind wichtige Schritte zur weiteren Konkretisierung. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Damit schließe ich die Aussprache.

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Januar haben wir eine Große Anfrage zur finanziellen Situation der Kommunen in Deutschland eingebracht. Die Antwort der Bundesregierung zeigt ganz deutlich, dass sich die Kluft zwischen reichen und armen Kommunen in den vergangenen Jahren weiter vergrößert und weiter verschärft hat, und das trotz der damaligen guten konjunkturellen Entwicklung. Die wirtschaftlich gute Lage der letzten Jahre hat somit nicht dazu geführt, dass sich arme Kommunen an reiche annähern konnten. Es bestehen weiterhin sehr große Unterschiede. Jede fünfte Kommune in Deutschland hat 2018 bereits unter einem Haushaltssicherungskonzept arbeiten müssen. Damit lebt ein Viertel aller Bürgerinnen und Bürger in einer solchen Kommune. Eine Entwicklung hin zu einer Zweiklassengesellschaft der Kommunen ist unübersehbar. Laut dem Kommunalpanel der KfW aus dem Jahr 2020 – also ganz aktuelle Zahlen – besteht immer noch ein öffentliches Investitionsdefizit von 147 Milliarden Euro, davon fehlen allein 44 Milliarden Euro in Schulen und 10 Milliarden Euro in Sportstätten. ({0}) Meine Damen und Herren, was heißt das konkret für die Menschen vor Ort? Das bedeutet, dass jährlich fast 80 Schwimmbäder schließen. ({1}) Wir sehen schon jetzt die Konsequenzen: Immer weniger Kinder im Grundschulalter können schwimmen. – Das bedeutet auch, dass die Digitalisierung an Schulen nicht schnell genug vorangeht, und gerade jetzt in der Coronakrise brauchen unsere Schülerinnen und Schüler doch Laptops und digitale Kenntnisse, um nicht zurückzufallen. ({2}) Für Kunst und Kultur, für Jugendpolitik und sogenannte freiwillige Leistungen fehlt häufig das Geld vor Ort. Die Große Anfrage zeigt auch, dass sich die Regionen sehr ungleich entwickeln. Ungleichheiten bestehen zwischen Ost und West, Nord und Süd, aber auch zwischen Stadt und ländlichen Räumen. Besonders auffallend sind die Unterschiede bei den Altschulden. Der Bestand der Kassenkredite liegt immer noch bei 40 Milliarden Euro. Die Kommunen von drei Bundesländern sind ganz besonders betroffen. Dort gibt es große Strukturbrüche, das wissen wir alle. Eine Debatte darüber nach dem Motto „Die sind doch selbst schuld!“, meine Damen und Herren, muss man in aller Deutlichkeit zurückweisen. ({3}) Jeder und jede, der bzw. die diese Städte, diese Regionen und diese Bundesländer kennt, weiß, dass das an den großen Strukturbrüchen in Nordrhein-Westfalen, in Rheinland-Pfalz oder dem Saarland liegt. ({4}) Die Bundesregierung stellt fest: Hoch mit Kassenkrediten belastete Kommunen werden absehbar nicht hinreichend in der Lage sein, ihre finanzielle Situation dauerhaft zu verbessern. – Das ist so, meine Damen und Herren. Und was folgt daraus? Ja, der Bund hat in den letzten Jahren immer wieder unterstützt, hat Gelder bereitgestellt und an vielen Stellen sicherlich punktuell Erleichterungen verschafft und hilfreiche Unterstützung geleistet. Aber Kommunen brauchen eine strukturelle Entlastung, meine Damen und Herren. Wir wissen, dass wir in der nächsten Woche ({5}) – hoffentlich gemeinsam, Herr Hauer – darüber beraten, was wir als Bund angesichts der Gewerbesteuerausfälle aufgrund der Coronakrise tun können. Es wird auch darum gehen, wie wir als Bund bei den sozialen Kosten, zum Beispiel den Kosten der Unterkunft, ein Zeichen setzen können. Aber ich habe kein Verständnis, meine Damen und Herren, warum Sie bei der Altschuldenhilfe nicht in der Lage sind, ein deutliches Signal zu senden und zu helfen. ({6}) Wir brauchen eine Altschuldenhilfe für die Kommunen. Dass Sie nicht die Größe hatten, eine entsprechende Vereinbarung zu treffen, kann ich nicht verstehen. Bund, Länder und Kommunen müssen eine solche Altschuldenhilfe auf den Weg bringen. Wir brauchen einfachere Förderprogramme, mehr Übersichtlichkeit für Kommunen. Und wir brauchen eine Gemeindefinanzreform, die den Namen auch verdient und durch die Kommunen nachhaltig entlastet werden, statt eines Hin- und Hergeschiebes der Verantwortung zwischen Bund und Ländern. Wir sind alle dafür verantwortlich, dass wir ein lebendiges Gemeinwesen haben. Vielen Dank. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Eckhardt Rehberg, CDU/CSU, ist der nächste Redner. ({0})

Eckhardt Rehberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003826, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, Kollegin Haßelmann, es gibt eine gesamtstaatliche Verantwortung. Aber wir haben auch ein Grundgesetz. ({0}) Schauen Sie sich den Artikel 28 an: ({1}) Die Verantwortung für die Kommunen haben die Länder. Wie ist denn die Situation vor Corona gewesen? Länderüberschüsse 2015 bis 2019: 31 Milliarden Euro. Überschüsse bei den Kommunen: 30,5 Milliarden Euro. – Wenn Sie sagen, wir haben nicht strukturell entlastet, halte ich Ihnen entgegen: Wir haben strukturell entlastet. Der Bund hat die Kosten für die Grundsicherung im Alter, knapp 8 Milliarden Euro in 2020, komplett übernommen. Der Bund hat 9 Milliarden Euro der Kosten für die Unterkunft übernommen, und wir werden noch weitere 3,4 Milliarden Euro übernehmen. Das ist gerade für die strukturschwachen, für die sozial schwächeren Regionen in Deutschland sehr wertvoll. ({2}) Außerdem werden die Kommunen pauschal um 5 Milliarden Euro entlastet. Kommen wir jetzt mal zum Thema Altschulden: Warum ist es einem Land wie Hessen möglich gewesen, aus einem 5-Milliarden-Paket die Hessenkasse zu entwickeln und die Kommunen in Hessen – übrigens unter Schwarz-Grün – komplett zu entschulden? Das nenne ich Verantwortung eines Landes für seine Kommunen. ({3}) Ich nenne es unverantwortlich, dass andere Länder, egal unter welcher politischen Führung, Geld aus dem 5-Milliarden-Paket einstecken und teilweise nicht an die Kommunen durchleiten, zugleich bei den Altschulden der Kommunen nichts machen und mit allen Fingern auf den Bund zeigen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, so ist unser föderaler Staat nicht aufgebaut! ({4}) Und das hat Folgerungen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Für die Schule ist nicht der Bund verantwortlich. Für Kindergärten ist nicht der Bund verantwortlich. Für Hochschulen ist nicht der Bund verantwortlich. ({5}) Der Bund hat komplett die Kosten für das BAföG übernommen. Für Maßnahmen aus dem Gute-Kita-Gesetz wurden allein 5,5 Milliarden Euro übernommen. Schauen Sie sich nun mal an, wie engagiert die Länder beim DigitalPakt Schule sind: 720 Millionen Euro sind im Topf, aber noch nicht einmal 200 Millionen Euro sind abgeflossen. ({6}) Ich halte es für unverantwortlich, dass sich die Länder an dieser Stelle nicht mehr engagieren. Wir hätten schon eine viel bessere digitale Infrastruktur in den Ländern, viel mehr Schülerinnen und Schüler hätten Laptops auf dem Tisch, wenn die Länder sich mehr engagiert hätten. Im jüngsten Bericht hieß es: keine Mittelverwendung von den Ländern abgefordert. Ich halte das bei den meisten der 16 Länder für katastrophal und für unverantwortlich. Wenn wir über Kommunalfinanzen debattieren, muss man auch mal darauf verweisen, wie das Geld abfließt, das der Bund zur Verfügung stellt, und wer dafür verantwortlich ist, dass Maßnahmen nicht umgesetzt werden? Wir haben in Deutschland kein Finanzproblem mehr zwischen Bund, Ländern und Kommunen. Wir haben an dieser Stelle ein reines Umsetzungsproblem, liebe Kollegin Haßelmann. ({7}) Es geht noch weiter. Wir haben jetzt deutliche Steuermindereinnahmen; das hat die Steuerschätzung gestern gezeigt. ({8}) Nur: Wir als Bund werden frühestens 2023 wieder die Steuereinnahmen von 2019 haben. Wissen Sie, wer schon im kommenden Jahr nach dieser Steuerschätzung die Steuerhöhe des Jahres 2019 erreicht haben wird? – Länder und Kommunen. Das Jahr 2019 wird das letzte Jahr sein, in dem der Bund in der Gesamtheit mehr Steuereinnahmen hat als die Länder. Schauen Sie sich mal den Pfad an: Dadurch, dass wir so massiv Umsatzsteuerpunkte und Umsatzsteuerfestbeträge an die Länder und Kommunen abgegeben haben, geht die Schere deutlich auseinander. Das heißt: Gerade in der Zukunft wird die krisenfeste Umsatzsteuer, von der wir viele Punkte abgegeben haben, sodass sie ganz stark bei Ländern und Kommunen ankommt, dazu beitragen, dass Länder und Kommunen deutlich besser steuerlich ausgestattet sind als der Bund. ({9}) – Natürlich. Liebe Frau Kollegin Haßelmann, wir kennen uns beide ziemlich gut. Ich hätte wenigstens von Ihrer Seite einen Satz dazu erwartet, was in bestimmten Bereichen passiert, zum Beispiel bei den zusätzlichen Regionalisierungsmitteln in Höhe von 2,5 Milliarden Euro. Kommen diese Gelder wirklich beim ÖPNV in den Kommunen an? Kommen sie wirklich an – auch da, wo Sie Mitverantwortung in der Regierung tragen? Darum würde ich mich mal kümmern. Oder das Thema „sozialer Wohnungsbau“: In Thüringen erzählt Herr Hoff zu Beginn dieses Jahres: Es gibt dieses Jahr eine halbe Milliarde weniger. – Ja, tricky. Wir geben 1 Milliarde Euro als Finanzhilfe für den sozialen Wohnungsbau, und von den ehemaligen Entflechtungsmitteln stecken 518 Millionen Euro in den Bund-Länder-Finanzvereinbarungen. Die gehen rein nur aus der Umsatzsteuer an die Länder. Da kann ich mich doch bitte als Land nicht hinstellen, Theater veranstalten und erzählen: Der Bund gibt weniger für den sozialen Wohnungsbau. – Das, was wir an Entflechtungsmitteln – 3 Milliarden Euro insgesamt – beim Bund-Länder-Finanzausgleich haben, ist bitte weiter für sozialen Wohnungsbau, für Hochschulbau, für kommunale Straßen usw. zu verwenden. Das gilt auch für mein Heimatbundesland. Wir sollten uns alle mal gemeinsam darauf konzentrieren, dass wir wirklich dafür sorgen und zugleich deutlich machen, wie sehr der Bund in den letzten Jahren seiner gesamtstaatlichen Verantwortung gerecht geworden ist und was letztendlich bei den Kommunen ankommt. Wenn Sie in ihren Ausführungen hier sagen: „Wir helfen nur punktuell“, sage ich Ihnen: Ich könnte Ihnen eine lange Liste von 20 Punkten durchdeklinieren und aufzählen, was der Bund seit Schwarz-Gelb, ({10}) seit Beginn des letzten Jahrzehnts, und mit der Großen Koalition für Länder und Kommunen getan hat. Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Die Aufgabe von heute ist nicht, ständig mehr Geld ins Schaufenster zu stellen, sondern dafür zu sorgen, dass es dort ankommt, wo es hingehört, nämlich bei den Kommunen vor Ort. Herzlichen Dank. ({11}) – Sie tragen doch in Hessen Verantwortung! Dann sorgen Sie doch dafür, mein Gott! ({12})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Udo Hemmelgarn, AfD. ({0})

Udo Theodor Hemmelgarn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004743, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Zuschauer auf den Tribünen und zu Hause! Die Grünen treibt die Sorge um die Finanzen der Kommunen um. Das ist natürlich sehr lobenswert. Ob ihnen allerdings ihre große Anfrage mit über 150 Seiten weiterhilft, darf bezweifelt werden. ({0}) Zunächst ist man natürlich sehr dankbar dafür, wenn eine solche Beratung möglichst kurzfristig auf die Tagesordnung gesetzt wird. Noch schöner ist es, wenn man es dann auf 150 Seiten mit Zahlen zu tun hat, die völlig überholt sind. Dafür erfährt man, dass die Kommunen seit 1971 mehr als 19 Milliarden Euro aus dem Bundesprogramm Städtebauförderung abgerufen haben. Wirklich bahnbrechend! Manchmal steht aber auch Interessantes drin, wie zum Beispiel, dass der Bund in 2020 für die psychosoziale Betreuung ausländischer Flüchtlinge mehr als 4 Millionen Euro an die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege zahlt – die neuen Dienstwagen der AWO können dann wohl schon bestellt werden – ({1}) oder dass für das Jahr 2020 mehr als 1 Milliarde Euro vom Bund für Integrations- und Sprachkurse gezahlt werden. Bei der hohen Abbrecherquote sicher eine tolle Investition! Natürlich werden auch wieder die Verkehrs- und Energiewende, Klimaschutz und Klimaanpassung erwähnt. Die Grünen fürchten wohl, dass diese Dinge ohne ausreichendes Geld der Kommunen nicht umgesetzt werden können. Das erstaunt etwas. Sind diese Geschichten vielleicht doch nicht zum Nulltarif zu haben oder für die berühmte Kugel Eis des Herrn Trittin, oder stimmt vielleicht das Märchen vom reichen Land, das sich alles leisten kann, doch nicht? Aber: Die Sorge der Grünen um die Kommunen muss man ernst nehmen. Deshalb wollen wir den Grünen dabei helfen und sie auf ein paar wesentliche Punkte hinweisen. Zunächst einmal: Ja, es gibt Kommunen, die schon vor Corona finanziell angeschlagen waren. Aber die Ursache dafür war oftmals die schlechte Politik der Altparteien in den letzten Jahren und Jahrzehnten. ({2}) – Danke schön. Die aktuelle Situation stellt sich so dar, dass sich die Kommunen noch nicht von den finanziellen Folgen der Migrationskatastrophe von 2015 erholt hatten, als sie vom Corona-Lockdown erneut mit voller Wucht getroffen wurden. Diesen Doppelschlag konnten auch Kommunen mit soliden Finanzen nicht verkraften. Die völlig unverhältnismäßige Beibehaltung der Coronamaßnahmen schadet den Kommunen und unserem Land weiter massiv. Worüber reden wir bei diesem Coronavirus? Mit Stand gestern sind 9 338 Bürgerinnen und Bürger in Deutschland mit – nicht an! – diesem Virus gestorben, ({3}) fast alle mit einer oder mehr Vorerkrankungen. Das Durchschnittsalter der Verstorbenen beträgt 82 Jahre. Wo war Ihr Aufschrei in 2018 hier in diesem Hohen Hause, als mehr als 25 000 Menschen mit einem Grippevirus verstorben sind, wiederum fast alle mit einer oder mehr Vorerkrankungen und – Sie werden es schon ahnen – mit einem Durchschnittsalter von 82? ({4}) Eines noch mal zur Klarstellung: Niemand leugnet die Existenz des Virus. Aber die Maßnahmen dagegen waren und sind aus unserer Sicht schon lange nicht mehr verhältnismäßig. ({5}) Das schwedische Modell wäre völlig ausreichend gewesen. Damit, liebe Grüne, kommen wir zu einem ganz entscheidenden Punkt. Politische Entscheidungen haben direkte Folgen für dieses Land und auch für die Kommunen. Um es klar zu sagen: Ihr Weltverbesserungswahn hat das Land in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten Unsummen gekostet. Wenn die Grünen heute die finanzielle Lage der Kommunen beklagen, beklagen sie die Ergebnisse ihrer eigenen Politik. Und: Man muss befürchten, dass sich das in Zukunft nicht ändern wird. Wenn die Grünen heute Klimaschutz fordern, werden sie sich morgen darüber beklagen, dass nicht genug Geld für Streetworker, Begegnungszentren und Migrantentanzgruppen vorhanden ist. Deshalb unsere Empfehlung an die Grünen: Erstens. Werden Sie erwachsen, und begreifen Sie, dass Ihre Politik auch reale Folgen hat! Zweitens. Lernen Sie das Geld so auszugeben, als wäre es von Ihnen selbst erwirtschaftet! Wir werden uns vernünftigen, notwendigen Hilfen für die Kommunen nicht widersetzen. Vielen Dank. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Dennis Rohde, SPD. ({0})

Dennis Rohde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004388, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Ich würde jetzt wieder über die finanzielle Situation der Kommunen sprechen wollen. ({0}) Die Kommunen sind verfassungsrechtlicher Bestandteil der Länder. Die Hauptverantwortung für die Kommunen in diesem Land, für die gleichwertigen Lebensverhältnisse zwischen den Kommunen tragen in Deutschland die Länder und nicht der Bund. Und doch ist der Stellenwert unserer Kommunen ein besonderer. Die kommunale Infrastruktur ist Lebensraum von uns allen. Wir alle nutzen tagtäglich kommunale Angebote. Wir wissen um den Stellenwert dieser kommunalen Angebote für unser Land. Und ja, es sind auch gesamtgesellschaftliche Aufgaben, die in den Kommunen geleistet werden. ({1}) Deswegen haben wir in den letzten Jahren – und ich will sagen: aus Überzeugung – milliardenschwere Kraftanstrengungen unternommen, um Kommunen zu stärken. Und ja, auch viele Länder haben davon profitiert. Die aktuelle Steuerschätzung von gestern ist ein Beleg dafür, dass der Bund enorm viel Finanzkraft zugunsten von Kommunen und Ländern verschoben hat. Allein die Gesamtheit der Länder hat ab sofort mehr Geld zur Verfügung als wir im Bund. Länder und Kommunen werden ein Jahr eher wieder auf das Niveau der Steuereinnahmen von 2019 kommen als wir als Bund. Wir haben erhebliche Verschiebungen zugunsten von Kommunen und Ländern in den letzten Jahren unternommen. Ich finde, bei allen Forderungen dürfen wir das auch mal selbstbewusst betonen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Trotzdem: Wir sehen auch eine Verantwortung des Bundes für die Kommunen in dieser Coronakrise, in der wir uns befinden. Wir sehen die Verantwortung, weil sie zwei zentrale Aufgaben haben: Zum einen sind sie Träger der Daseinsvorsorge. Zum anderen sind sie auch für die konjunkturelle Entwicklung in Deutschland enorm wichtig; denn der größte staatliche Investitionsgeber in Deutschland sind die Kommunen. Von daher wollen wir gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Opposition das Grundgesetz ändern. Wir wollen als Bund mehr von den Kosten der Unterkunft übernehmen, um eine dauerhafte Abnahme von Transferleistungen für die Kommunen zu gewährleisten. Damit stärken wir nachhaltig deren Finanzkraft, übrigens gerade die Finanzkraft von Kommunen, wo viele sozial bzw. wirtschaftlich schwächere Menschen wohnen. Deshalb, finde ich, ist es geboten, dass wir das in dieser Coronakrise auch nach vorn bringen. ({3}) Und: Wir sind bereit, die Hälfte der Gewerbesteuerausfälle zu übernehmen. Wir machen das, damit es jetzt eben nicht zu einem Abwürgen von kommunalen Investitionen kommt, damit es jetzt nicht dazu kommt, dass Kommunen, weil ihnen Gewerbesteuereinnahmen wegbrechen, überlegen müssen, ob sie noch investieren. Wir wollen Investitionssicherheit schaffen. Deshalb ist es auch richtig, dass wir – hoffentlich in der nächsten Sitzungswoche – gemeinsam diesen Schritt gehen und die Verfassung an dieser Stelle ändern. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Kommunen sind Bestandteil der Länder, aber sie sind auch uns als Bundespolitiker ein Anliegen. Wir tragen gemeinsam mit den Ländern Verantwortung für die Kommunen. Ich finde, man kann bei alldem, was wir in den letzten sieben Jahren gemacht haben – Kollege Rehberg hat einiges davon aufgezählt –, sagen: Diese Bundesregierung, dieser Deutsche Bundestag hat ein Herz für die Kommunen in diesem Land. Vielen Dank. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort der Kollege Otto Fricke, FDP. ({0})

Otto Fricke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003530, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Geschätzter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Erst mal: Gut, dass die Anfrage gestellt worden ist! Zweitens: Dank an die Bundesregierung für diese wirklich umfangreiche Beantwortung der Großen Anfrage, weil es ein essenzielles Problem für uns ist, ob unsere Kommunen funktionieren oder nicht, und weil wir alle eine Verantwortung spüren. Das merkt man hier in der ganzen Runde – vielleicht mit kleinen Ausnahmen. ({0}) Aber, meine Damen und Herren, ich möchte auf einen Punkt eingehen, den auch schon meine Vorredner angesprochen haben. Wenn es bei den Kommunen Probleme gibt, haben wir immer das Gefühl: Der Bund löst es. Wenn es irgendwo eine Schwierigkeit gibt: Der Bund löst es. Jetzt mal ehrlich – auch für die, die uns zuhören –: Haben Sie sich mal überlegt, wie viel Prozent von den Steuereinnahmen eigentlich der Bund und wie viel die Länder kriegen? Nur mal als Hinweis, auch in Richtung der Grünen, die hier immer nach dem Bund rufen: Der Bund kriegt in diesem Jahr und in den nächsten Jahren 38 Prozent der Steuereinnahmen, die Länder 42 Prozent; die Kommunen kommen teilweise auf bis zu 14 Prozent. Angesichts unserer Verfassung, die zudem klar besagt, dass die Kommunen bei den Ländern einzuordnen sind, müssten wir eigentlich sagen, dass die Anklagebank hier die Bundesratsbank ist, also der Ort, wo eigentlich die Länder sitzen und wo heute auch wieder keiner ist. Da liegt die Verantwortung. Da müssten die Länder doch überlegen: Wenn ich bis ins Jahr 2024 jedes Jahr 20 Milliarden Euro mehr bekomme als der Bund, was sind mir denn dann eigentlich meine Kommunen wert? Und das höre ich weder von Ihnen noch – leider – von den Ländern. Da müssen wir aufpassen, damit das Gefüge noch in Ordnung gebracht werden kann. ({1}) Denn wir haben die Verantwortung und wollen sie als Liberale auch wahrnehmen; das möchte ich auch deutlich sagen. Aber wir müssen uns vielleicht auch mal fragen – kurzer Einblick in die Tiefe –: Passt der Verfassungs- und Verwaltungsaufbau, passt das Konnexitätsprinzip, passt die Auftragsverwaltung mit ihren Grenzen aus den Jahren 1949 ff. eigentlich noch in das Jahr 2020? Ist es nicht vielmehr so, wie es auch der Kollege Rohde gesagt hat, dass Kommunen heute ganz andere Aufgaben haben und dass wir deswegen grundsätzlich überlegen müssen, wie wir das ändern? Wir werden – ich hoffe das auch – nächste Woche zwei weitere verfassungsrechtlich basierte Hilfsmaßnahmen vorbringen, wenn wir zuvor noch Kleinigkeiten regeln; aber ich bin da guten Mutes und danke auch für die konstruktive Zusammenarbeit. Eines möchte ich doch zum Schluss noch sagen: Wir müssen uns überlegen, wie wir die Verhältnisse verteilen und wie wir es hinbekommen, dass der Kontakt des Bürgers mit dem Staat, gerade dort, wo er als Erstes erfolgt, also vor Ort, gut funktioniert, nachvollziehbar und effizient ist. Ich will nicht immer wieder das Gefühl haben, dass versprochen wird: „Ja, ja, heute erklären wir, dass es was Neues beim Sportstättenbau gibt; da retten wir was, da helfen wir“, und es faktisch irgendwann erst in drei, vier, fünf, sechs Jahren umgesetzt wird. Das betrifft die berühmte Frage der Förderprogramme. Ich möchte dazu hier noch deutlich sagen: Die Länder wie auch der Bund haben in den letzten Jahrzehnten – da nehme ich auch die FDP nicht aus – viel zu oft gesagt: Wir machen ein Förderprogramm. – Förderprogramm heißt, ich habe auf der Ebene des Fördergebers eine Behörde mit Leuten, die etwas zu genehmigen haben, bezahlt werden, Aufgaben haben und klarmachen müssen, warum sie da sind. Und ich habe auf der Ebene derjenigen, die die Fördergelder beantragen, ebenso solch einen Aufbau. Wäre es nicht viel vernünftiger, zu sagen: „Wir lassen das und vertrauen den Kommunen, dass sie viel besser wissen, was sie wirklich machen wollen“, als es so zu regeln, dass sie nur sagen müssen, was sie gerne wie gefördert hätten? Das wäre die Aufgabe. ({2}) Das wäre auf Dauer und insbesondere über stabilere Steuereinnahmen die Möglichkeit, den Kommunen zu helfen. Herzlichen Dank. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Kerstin Kassner, Die Linke. ({0})

Kerstin Kassner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004324, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Das Papier, das uns vorliegt, ist eine Antwort auf die Große Anfrage der Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen. Alleine das Erarbeiten dieser Fragen ist schon eine riesige Fleißarbeit, die Beantwortung – das muss ich wirklich der Ehre wegen sagen – ebenfalls. Ich empfehle Ihnen allen, diese Statistiken mal durchzusehen und zu gucken, wo Ihre Kommune steht und wie es bei Ihnen zu Hause aussieht. Gehören Sie zu den Top 20 oder Top 10? Ist Ihre Kommune an der Spitze oder am Ende der Listen? Das ist bestimmt für jeden von uns ein Weg der Erkenntnis. Im Grunde genommen wissen wir zwar, wo unsere Kommunen stehen, aber es kann viel aus diesen Zahlen, aus diesen zusammengefassten Werten abgelesen werden. Es ist ein sehr heterogenes Bild, und es zeigt sich immer wieder: Es gibt sehr gut dastehende Länder, die die Mittel tatsächlich im Interesse der Kommunen einsetzen, und es gibt Länder, die das nicht können. Ich will ausdrücklich sagen, dass das nicht unbedingt eine Frage des Wollens ist, sondern dass es dafür auch ganz klare Gründe gibt. Dass beispielsweise Baden-Württembergs Kommunen oder Bayerns Kommunen immer an der Spitze liegen, dagegen aber Kommunen aus Niedersachsen, aus Thüringen und aus Sachsen am Ende, hat wirklich Ursachen, die ganz objektiv sind und die analysiert gehören, damit es dort zu Veränderungen kommt. Ja, auch ich wünsche mir unbedingt ein Ende der Altschuldenfalle, in die man immer wieder hineintappt. Denn wer erst einmal in dieser Falle gefangen ist, kann sich schwer daraus befreien und kann sich auch die großzügigen Fördermaßnahmen nicht erarbeiten. Das ist eine zweite Forderung, die ich hier stellen will: Wir müssen unbedingt prüfen, woran es liegt, dass diese Fördermittel nicht allen zugutekommen, sondern nur denen, die wirklich die Möglichkeiten haben und denen es in vielen Fällen sowieso schon bessergeht als anderen. ({0}) Eine dritte Forderung, die mir sehr wichtig ist, resultiert aus der Frage: Wie schaffen wir es, dass alle Kinder und Jugendlichen gleiche Bildungschancen haben? Und da reicht es nicht, zu sagen: Dafür sind die Länder verantwortlich. – Nein, das ist eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung, die Bund, Gemeinden, Städte und Länder gemeinsam wahrnehmen müssen. ({1}) Deshalb würde ich mir wünschen, dass wir uns hier alle zusammen starkmachen für eine Gemeinschaftsaufgabe Bildung, die den Namen, den sie trägt, auch wirklich verdient, damit wir es schaffen, allen Kindern gleiche Chancen zu bieten. ({2}) Gucken Sie daher in dieses Werk! Daraus kann man viel ableiten. Aber am Ende kommt es auf unsere mutigen Entscheidungen an. Gehen wir also weiter diesen Weg, und nutzen wir, was uns an Möglichkeiten gegeben ist, und die sind zahlreicher, als wir hier manchmal so hören. Vielen Dank. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Sebastian Brehm, CDU/CSU, hat als Nächster das Wort. ({0})

Sebastian Brehm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004682, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die kommunale Finanzausstattung ist ein wesentlicher Aspekt gleichwertiger Lebensverhältnisse in Deutschland. Viele von uns waren lange in der Kommunalpolitik aktiv gewesen oder sind es teilweise sogar noch. Auch ich war 15 Jahre in der Kommunalpolitik in meiner Heimatstadt in Nürnberg aktiv und habe mich intensiv mit Haushalts- und Finanzpolitik in unserer Stadt auseinandergesetzt. Deshalb: Das Thema „finanzielle Ausstattung der Kommunen“ ist eine wirklich wichtige Frage, aber man kann sie nicht einfach mit dem Thema Umschuldung, so wie Sie es fordern, beantworten. Denn auch die umfangreiche Antwort der Bundesregierung zeigt die große Komplexität genau dieser Fragestellung. Ich glaube, es gibt vier Wahrheiten bei diesem Thema: Die erste Wahrheit ist – Eckhardt Rehberg hat darauf hingewiesen –: Nach dem Grundgesetz sind die Länder für die finanzielle Situation in den Kommunen zuständig und nicht der Bund. Die zweite Wahrheit ist: Obwohl der Bund nicht zuständig ist, muss man aber de facto feststellen, dass der Bund seiner großen Verantwortung nachkommt und trotzdem viel tut. Die sehr ausführliche Darstellung in der übrigens guten Antwort zeigt auf, was der Bund, was die Bundesregierung und was die Große Koalition hier auf den Weg gebracht haben: die großen Bundesprogramme, die es für die Kommunen gibt, die Fördertöpfe und die zahlreichen Leistungen, übrigens gerade in der Coronapandemie eine weitere Erhöhung der Bundesbeteiligung bei den Kosten der Unterkunft. Aber auch schon vorher wurde ja vieles getan. Ich erinnere an die Bundesinvestitionshilfen, an das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz-Bundesprogramm, an die Grundsicherung und die Übertragung von Umsatzsteuerpunkten. Eckhardt Rehberg hat auf vieles schon hingewiesen. Daran sieht man doch, was der Bund bereits macht, obwohl er eigentlich gar nicht zuständig ist. ({0}) Die dritte Wahrheit ist: Die finanzielle Situation der Kommunen war vorher sehr gut; auch das geht aus dem Bericht hervor. Die Schulden konnten abgebaut und teilweise Investitionen vorangetrieben werden. Oftmals kam es zum Investitionsstau. Aber auch da – darauf wurde richtigerweise hingewiesen – lag es nicht an der Zurverfügungstellung von Geld, sondern am Abruf der Mittel. So wurden teilweise Verwaltungskapazitäten nicht geschaffen, so wurden teilweise Baufirmen nicht gefunden, um es abzuarbeiten, weil einfach die Wirtschaft ausgelastet war, oder Mittel wurden nicht abgerufen, wie wir es zum Beispiel jetzt bei der Digitalisierung von Schulen erleben. Wir stellen das Geld zur Verfügung, aber es wird nicht in dem Maße abgerufen, wie es abgerufen werden sollte. Natürlich hat sich die Situation der Kommunen in der Coronapandemie verschlechtert. Das liegt aber vor allem natürlich an der Volatilität der Gewerbesteuer, also am Ausmaß der Schwankungen bei der Gewerbesteuer in der Krise. Es gab ja wesentliche Bemühungen vom damaligen Finanzminister und heutigen Präsidenten Wolfgang Schäuble, hier eine Konstanz zu schaffen, eventuell durch eine stabile Alternative zur Gewerbesteuer. Aber dies wurde von den Kommunen selbst abgelehnt. Deswegen glaube ich, dass wir auch die Frage stellen müssen: Können wir uns das als Bund alles leisten? Otto Fricke hat darauf hingewiesen: Nur 38 Prozent der Steuereinnahmen gehen an den Bund. Wir haben in diesem Jahr eine Neuverschuldung von 218 Milliarden Euro, natürlich aufgrund der Coronapandemie. Wir hatten zuerst geplant, keine neuen Schulden aufzunehmen. Das war übrigens vor der Pandemie noch völlig realistisch. Aber wir müssen uns heute fragen: Können wir uns weiterhin den Kurs, den Sie von Rot-Grün fordern, leisten? Ich glaube, eine Umschuldung wäre falsch. ({1}) Die vierte Wahrheit – das will ich noch einmal unterstreichen –: Wir müssen kurz- und mittelfristig viele Länder wieder darauf aufmerksam machen, dass sie zuständig sind. Das Geld ist in den Ländern da. Also müssen sie auch die Zuständigkeit und die Verantwortung wahrnehmen. Ich glaube, es wäre ein Fehler, wenn wir einfach die Gedankenspiele fortsetzten und sagten: Wir entschulden jetzt alle Kommunen. Damit würden wir übrigens die Kommunen benachteiligen – das gehört auch zur Wahrheit über die gleichwertigen Lebensverhältnisse –, die schon gute Arbeit geleistet haben. Bayerische und andere Kommunen, die sich stark entschuldet und investiert haben, wären dann benachteiligt. Das kann nicht der Weg sein. Liebe Frau Kollegin Haßelmann, wenn Sie sich schon auf die Kommunalwahlen in NRW am Sonntag vorbereiten, dann sollten Sie in einer solchen Debatte auch deutlich sagen: Wir als Große Koalition tragen die Verantwortung. Wir werden der Verantwortung auch gerecht. Wir stellen die Mittel für die Kommunen und die Länder zu Verfügung. Aber es muss abgerufen werden. Dort, wo Sie Verantwortung tragen, müssen Sie erst einmal zeigen, dass die Mittel überhaupt abgerufen werden und dass das funktioniert. Das ist die Wahrheit. Wir haben die Verantwortung und werden ihr gerecht. ({2}) Im Zuge dieses von Ihnen aufgesetzten Tagesordnungspunkts sollte man sagen: Wer ist der verlässliche Partner in der Krise? Wer ist der verlässliche Partner bei Wirtschafts- und Finanzfragen? Es ist diese Große Koalition. Herzlichen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Andreas Schwarz für die SPD-Fraktion. ({0})

Andreas Schwarz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004407, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich eines feststellen: Diese Bundesregierung ist seit Jahren die kommunalfreundlichste Regierung, die dieses Land je hatte. ({0}) Und das darf ich als ehemaliger Bürgermeister hier auch feststellen. Vor der Coronapandemie war die finanzielle Situation der Kommunen an vielen Stellen sehr erfreulich. Es gab sicherlich auch Gegenbeispiele. Aber es gab in der Regel Finanzierungsüberschüsse und eine ordentliche Investitionsentwicklung. Trotzdem hat der Bund in die Kommunen investiert: in Bildung, in Kitas, in den ÖPNV. Die Milliarden wurden hier genannt. Nebenbei sind noch ein paar kleinere Programme gelaufen wie das Sportstättenprogramm. Es laufen Denkmalschutzprogramme, es laufen Digitalisierungsprogramme usw. Das heißt, wir nehmen hier schon Geld in die Hand, damit die Menschen in den Kommunen eine vernünftige Wohn- und Lebensqualität haben. Trotzdem – das will ich an der Stelle natürlich auch nicht leugnen – erleben wir oftmals einen Investitionsstau. Das liegt aber nicht am Geld. Es wird viel Geld ins Schaufenster gestellt. Ich höre oft aus den Rathäusern: Wir haben kein Geldproblem, wir haben ein Umsetzungsproblem. – Das wird begründet mit fehlendem Personal in den Behörden; das wird begründet mit zu geringen Planungskapazitäten. Es fehlen Baukapazitäten, und manchmal macht die Bürokratie einem Bürgermeister auch das Leben schwer. Nun, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Pandemie hat uns noch vor zusätzliche Herausforderungen gestellt. Olaf Scholz hat mit Sicherheit mit dieser Großen Koalition auch das Heft des Handelns in die Hand genommen. Mit zwei Nachtragshaushalten haben wir viel Entlastung geschaffen und versucht, die Infrastruktur in den Kommunen aufrechtzuerhalten, auch im Beschäftigungsbereich. Zudem arbeiten wir – das haben wir auch gerade gehört – an einem Ausgleich bei der Gewerbesteuer. Dieser wird in Kürze hoffentlich erfolgen. Wir wollen die Hälfte dessen, was fehlt, ausgleichen. Ich hoffe, dass die Länder hier genauso mitziehen. Gleiches gilt auch bei den Leistungen für die Kosten der Unterkunft. Hier wollen wir als Bund unseren Anteil um 25 Prozent erhöhen. ({1}) Der Bund hilft den Kommunen, und wir stärken den Zusammenhalt. Wir müssen natürlich diesen Weg weitergehen. Wir dürfen die Kommunen auch beim Thema Altschuldenproblematik nicht im Regen stehen lassen; da müssen wir helfen. ({2}) Auch hier hat Olaf Scholz schon erste Handlungsempfehlungen und Lösungen erarbeitet. Regionen wie das Ruhrgebiet, die vom Strukturwandel sicherlich stark betroffen sind, würden sich freuen, wenn hier aus Berlin und aus den Ländern entsprechende positive Signale kämen. Die Grünen können mit Herrn Kretschmann Herrn Laschet in NRW überzeugen, dass eine Notwendigkeit für derartige Hilfsmaßnahmen besteht. ({3}) Meine Damen und Herren, ich lade alle Demokraten in diesem Hause ein, sich weiterhin aktiv und konstruktiv in die Diskussion zu begeben. Unsere klare Botschaft an die kommunale Familie: Wir werden auch in Zukunft ein zuverlässiger Partner sein, und wir hoffen, dass die Länder uns da auch anständig begleiten und kräftig unterstützen. Danke schön. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache.

Agnes Malczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004106, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Anna Politkowskaja, Sergej Magnitskij, Boris Nemzow, Sergej Skripal – das sind nur einige Namen von vielen, die zeigen: Der üble Mordanschlag auf Alexej Nawalny war kein Einzelfall. Er ist eine weitere Stufe der Eskalation des Systems von Wladimir Putin, das eigentlich immer schwächer wird. Aus Angst vor Machtverlust werden eiskalt politische Morde angeordnet. Da wird ein international geächteter chemischer Kampfstoff eingesetzt. Eine gemeinsame europäische Antwort der Entschlossenheit darauf ist längst überfällig. ({0}) Der Zeitpunkt war nicht zufällig gewählt. Wladimir Putins Botschaft ist: Wer meine Macht infrage stellt, der muss um sein Leben fürchten, jederzeit und überall. ({1}) Diese Drohung richtet sich besonders an die Tausenden von mutigen Menschen in Belarus, die trotz willkürlicher Verhaftungen, die trotz Folter immer wieder auf die Straße gehen und für einen demokratischen Wandel demonstrieren. Das ist der Mut, vor dem Wladimir Putin und alle anderen Autokraten dieser Welt Angst haben. Und das ist der Mut, den wir unterstützen müssen. ({2}) Meine Damen und Herren, natürlich wäre es wünschenswert und dringend geboten, dass wir mit Russland gut zusammenarbeiten können, gerade bei so wichtigen Themen wie Rüstungskontrolle oder Klimaschutz. Und in diesen schwierigen Zeiten ist der Dialog mit der russischen Gesellschaft wichtiger denn je. ({3}) Aber das darf nicht dazu führen, dass man die Realität entgegen aller Beweise schönredet und die Art und Weise des Systems Putin verharmlost. ({4}) Es ist der Kreml, der sich mit seiner repressiven Innenpolitik und seiner aggressiven Außenpolitik von einer Zusammenarbeit mit der EU und einer gemeinsamen Wertebasis abgewendet hat, und nicht umgekehrt. ({5}) Gerade wenn wir uns die Enthüllungen von Alexej Nawalny anschauen: Dort sind mehr als genug Beweise gegen eine Reihe von Oligarchen, um weitere personenbezogene Sanktionen zu verhängen. Dass sie ungestört durch die Welt reisen und ihr oft illegal erbeutetes Geld ohne jegliche Verluste und zu ihrem eigenen Gewinn bei uns investieren können, das ist doch unsäglich. ({6}) Eine andere Reaktion ist auch längst überfällig: Nord Stream 2 war nie ein nur rein privatwirtschaftliches Projekt, wie die Bundesregierung immer wieder behauptet und sich herausgeredet hat. Nord Stream 2 ist nicht nur überflüssig, weil diese Pipeline eine Wette gegen den europäischen Klimaschutz ist, ({7}) sondern es ist ein von unseren Partnern seit Jahren zu Recht heftig kritisiertes Projekt. Trotz des Krieges in der Ukraine, trotz der Verbrechen in Syrien, trotz des Angriffs mit chemischen Kampfstoffen in Salisbury, trotz der Hackerattacken in Deutschland – auch auf dieses Hohe Haus – und trotz des Auftragsmordes im Tiergarten – direkt vor den Türen dieses Hohen Hauses – hat die Bundesregierung dieses Projekt immer weiter vorangetrieben und dabei völlig verkannt, dass sie damit die Botschaft in den Kreml sendet: Egal was ihr tut, wirtschaftliche Gewinne gehen für uns über Klimaschutz, über Sicherheitspolitik und über Menschenrechte. ({8}) An alle Bad Guys dieser Welt geht die Nachricht: Egal was ihr tut, ernste Konsequenzen müsst ihr nicht fürchten. – Das ist doch fatal! Es war ein großer Fehler – im wahrsten Sinne des Wortes –, um jeden Preis an Nord Stream 2 festzuhalten. Wir können die Bundesregierung nur auffordern: Verabschieden Sie sich endlich von diesem falschen Kurs! ({9}) Auch wenn Sie nun endlich aufgewacht sind – und Sie scheinen ja ehrlich schockiert über das Attentat auf Nawalny zu sein –, von einer klaren Haltung der Stärke und einer entschlossenen Antwort sind Sie noch weit entfernt. Außenminister Maas ist in der SPD sehr einsam mit seiner sanft fragenden Haltung zu Nord Stream 2 und schafft es nicht einmal, die minimalste Form der Ansage Richtung Kreml auszusprechen. ({10}) Der russische Botschafter gehört nicht eingeladen, sondern er gehört einbestellt! ({11}) Bei der Union ist das völlige Chaos ausgebrochen: Wirtschaftsminister Altmaier ist auf einmal ideologisch gegen alle Sanktionen, obwohl er sie jahrelang mitgetragen hat. Markus Söder will an Nord Stream 2 festhalten, während Norbert Röttgen den Ausstieg fordert, Friedrich Merz hingegen ein Moratorium. Die Kanzlerin schließt zwar nichts aus, aber sie entscheidet auch nichts. Wollen Sie mit diesem Wirrwarr Wladimir Putin beeindrucken? Stärke und Klarheit sehen definitiv anders aus! ({12}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, gehen Sie nicht, wie so oft in den letzten Jahren, nach ein paar schockierten Statements zur Tagesordnung über, sondern machen Sie endlich Ernst. Das Gleiche gilt für die Bundesregierung. Gerade in Zeiten der EU-Ratspräsidentschaft haben Sie hier eine besondere Verantwortung. Beenden Sie Ihre Blauäugigkeit, Ihre kurzsichtige, egoistische Haltung und lassen Sie Ihren Worten gemeinsam mit unseren europäischen Partnern Taten der Stärke folgen. Vielen Dank. ({13})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Jürgen Hardt das Wort. ({0})

Jürgen Hardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004050, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Fall Nawalny ist der vorläufige bedauerliche Höhepunkt einer Serie von rund 20 erschlagenen, erschossenen oder vergifteten wichtigen Oppositionspolitikern und Journalisten im Russland Putins. In keinem der Fälle fand eine hinreichende Aufklärung statt. Im Gegenteil haben wir in der großen Zahl der Fälle deutliche Hinweise, dass die Morde zumindest im Zusammenhang mit staatlichen Stellen stehen. Dessen sind wir uns auch im Fall Nawalny beim Einsatz des Nervengifts Nowitschok sicher. Es gibt jetzt den einen oder anderen, der sagt: Solange nicht der rauchende Colt zu sehen ist, solange nicht der Täter beweissicher überführt ist, gilt die Unschuldsvermutung. Dazu möchte ich an dieser Stelle sagen: Wenn wir in der Außenpolitik mit diesem Maßstab messen wollten, dann müssten wir auch die Möglichkeit haben, mit deutschen oder mit UN-Staatsanwälten, Polizisten und Richtern Durchsuchungen und Beschlagnahmen durchzuführen, Beweismittel zu sichern und Zeugen zu vernehmen. Das ist international aber nicht möglich. Daher gibt es im internationalen Recht den Grundsatz, dass das Land, das sich derart klaren Fragen und erdrückenden Indizien gegenübersieht, sich damit zu befassen hat und seinen Beitrag zur Aufklärung leisten muss. ({0}) Genau das sollten wir jetzt von Russland verlangen – als Europäische Union, als Deutschland, und, wenn ich an den Fall Skripal denke, sicherlich auch mit Unterstützung von Großbritannien, den USA, den G-7- und den NATO-Partnern. Unsere Bedingung lautet, dass Russland jetzt bereit ist zu einer lückenlosen, transparenten Aufklärung der Vorgänge um Nawalny. Bevor wir darüber reden, ob es Sanktionen gibt, müssen wir diese Bedingung so formulieren. Im Fall Nawalny haben wir in den ersten Wochen merkwürdige Dinge aus Russland gehört, die absolut nichts mit der Realität zu tun hatten: Das war zunächst ein Stoffwechselzusammenbruch bei Herrn Nawalny und kein Giftanschlag, und erst als feststand, dass er vergiftet wurde, hieß es, dass er das Gift möglicherweise in Deutschland bekommen habe. Das ist eine Vernebelungstaktik, die uns daran zweifeln lässt, dass Russland tatsächlich an einer ernsthaften Aufklärung dieses Vorgangs interessiert ist. Das Begehren der deutschen Bundesregierung müsste jetzt darin bestehen, eine möglichst geschlossene und klare Positionierung der Europäischen Union zu erreichen. Ich glaube, dass eine gemeinsame Stimme der EU Russland wesentlich mehr beeindruckt, als wenn wir Deutschen das als unser Ding betrachten, nur weil Herr Nawalny hier in der Charité behandelt wird. ({1}) Auch auf die Frage, wie die Europäische Union reagiert, wenn Russland diesem Erfordernis der Aufklärung nicht entspricht, müssen wir eine gemeinsame Antwort finden. Das gilt auch für die Tatsache, dass es sich hierbei um einen Giftstoff handelt, der nach internationaler Konvention verboten ist, sodass Russland eine Mitwirkungspflicht bei der Aufklärung hat, wie dieser Stoff überhaupt in der Welt sein und in Russland existieren kann. Diesbezüglich müssen wir ebenso klar und deutlich sprechen. Wie dann die angemessene Sanktion aussehen wird, wie wir am besten und wirksamsten auf diese Sache reagieren, das muss dann entschieden werden. Es gibt dazu einen Vorschlag, der ist sehr plakativ und fällt einem sofort ein, wenn man über die Frage nachdenkt, wie man Russland treffen könnte. Ich persönlich bin nach intensivem Nachdenken über diesen Vorschlag nicht davon überzeugt, dass es der richtige ist. ({2}) Ich halte Nord Stream 2 für ein unwirtschaftliches, überflüssiges Projekt; ich habe aber keine Lust, dass wir denjenigen Entschädigungszahlungen leisten, die auf diese Weise die Chance hätten, sich möglicherweise aus dem Projekt zu verabschieden. Aber das muss eine sorgfältige Analyse ergeben. ({3}) Darüber hinaus denke ich, dass sich die Europäische Union Gedanken machen muss, wie sie ihr Verhältnis zu Russland gestaltet, vor allem was die Abhängigkeit von Russland betrifft. Da kommt mir nicht die Frage nach einer Rohrleitung in den Sinn, sondern die Frage danach, wie viel russisches Gas wir in den europäischen Netzen eigentlich vertragen können, ohne dass wir zu sehr von einem Lieferanten abhängig werden. ({4}) Diese Frage dürfte in Moskau im Zweifel genauso viel Aufregung verursachen wie die plakative Beendigung des Pipelineprojekts. Aber wie gesagt: Zum jetzigen Zeitpunkt muss Russland seinerseits aufklären. Wir sollten ihnen die Chance geben, dies zu tun. Herzlichen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Tino Chrupalla für die AfD-Fraktion. ({0})

Tino Chrupalla (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004695, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Landsleute! Die Kette der Verdächtigungen gegen Russland reißt nicht ab. Alle Register werden gezogen, um die Angst vor dem bösen Feind im Osten wiederzubeleben und den alliierten Partnern im Westen zu gefallen. Die aktuellen Diskussionen um den Anschlag auf Alexej Nawalny unterliegen einer grundlegenden Schwäche: Es fehlen schlüssige Beweise, die eine eindeutige Schuldzuweisung erlauben. Bis heute gibt es mehr offene als geklärte Fragen zu diesem Fall: Warum sollte der Kreml den Mord an einem Oppositionellen versuchen und dann dessen Überstellung nach Deutschland zustimmen? Und warum sollte man dabei ausgerechnet dasselbe Nervengift benutzen, das schon im Fall Skripal nicht wirkte? Apropos Nervengift: Man sagt, es gehöre zur Nowitschok-Gruppe. Kann es denn nur von Russland und von Russen erworben werden? Sicherlich nicht. Ein Speziallabor der Bundeswehr hat das Kampfmittel analysiert. Weshalb wurde nicht ein zweites, staatenunabhängiges Testinstitut beauftragt? Das würde das zweifelsfreie Ergebnis unterstreichen und die Bundeswehr aus der Schusslinie von Verdächtigungen nehmen. ({0}) Auf dem internationalen Parkett würde man dadurch auch eine deutlich bessere Figur machen. Meine Damen und Herren, der Anschlag auf Alexej Nawalny bedarf unbedingter Aufklärung. Er wird jedoch zum Anlass genommen, ihn mit der Energiepolitik Deutschlands zu vermischen. Erneut wird mit Sanktionen gegen Russland oder gar mit dem Abbruch des Projekts Nord Stream 2 gedroht. Hier werden aufs Neue alte Gräben zwischen Ost und West aufgerissen, und zwar auf deutschem Boden und unter Mithilfe der Bundesregierung. Besonders bitter ist, wenn bei so entscheidenden Fragen über Krieg und Frieden in Europa die persönliche Profilierung eine Rolle spielt. ({1}) Herr Röttgen, wir wissen ja, dass Sie Vorstandsmitglied der Atlantik-Brücke sind und den CDU-Vorsitz anstreben. Aber bitte bedenken Sie doch die Folgen Ihres Handelns! ({2}) Wie dem auch sei, eines steht fest: Deutschland wird von der Bundesregierung und ihren Steigbügelhaltern vor den Karren der US-Wirtschaft gespannt. Damit wird eine weitere Eskalation der deutsch-russischen Beziehungen provoziert. Wollen Sie Europa erneut zum Kriegsschauplatz werden lassen? Heulen deshalb heute wieder die Weltkriegssirenen? Ach nein, nicht mal das hat funktioniert. ({3}) Die wichtigste Frage, die wir uns unbedingt stellen müssen, lautet doch: Wem nutzt es, wenn die Bundesregierung deutsche Interessen verrät? Cui bono? ({4}) Meine Damen und Herren, ich weiß, ich bin nicht alleine mit meinem Verdacht, ({5}) dass man verzweifelt versucht, das Projekt Nord Stream 2 zu stoppen. Den USA ist es ja schon lange ein Dorn im Auge. Stattdessen sollen wir jetzt deren Fracking-Gas kaufen. Das scheint den Amerikanern ja so wichtig zu sein, dass Bürgermeister in Mecklenburg-Vorpommern persönlichen Besuch aus dem Weißen Haus erhalten. Der Preis dieses Fracking-Gases ist aber viel zu hoch für uns, und das sogar in mehrfacher Hinsicht. Es ist erstens deutlich teurer als russisches Erdgas. Zweitens ist es auch viel schmutziger; schließlich braucht man Unmengen von Energie und hochgiftigen Chemikalien, um es zu fördern. „Umweltmord“ ist dafür gar kein Ausdruck. ({6}) Interessanterweise findet diese Aktuelle Stunde auf Verlangen der Grünen statt – vielen Dank übrigens. Aber wie grün sind Sie eigentlich, wenn es um Fracking-Gas geht? Warum unterstützte Ihr Bundesvorsitzender Robert Habeck als stellvertretender Ministerpräsident Schleswig-Holsteins den Bau eines Entladeterminals für das verflüssigte Fracking-Gas? ({7}) Die Energieversorgung in Deutschland ist in Gefahr, auch durch den vorfristigen Braunkohleausstieg; darauf weisen wir von der AfD regelmäßig hin. ({8}) Die Grundversorgung der Bevölkerung ist Staatsaufgabe und muss sichergestellt sein. Nord Stream 2 bietet zumindest die Energiesicherheit für die nächsten Jahrzehnte. ({9}) Meine Damen und Herren, die aktuellen antirussischen Debatten schaden nicht nur Russland, sondern auch uns selbst. Wir können uns in den östlichen Bundesländern keine weiteren wirtschaftlichen Einbrüche leisten. Gerade dort werden erfolgreiche Kooperationen im wirtschaftlichen und kulturellen Austausch mit unseren Nachbarn im Osten gepflegt. Erneute Sanktionen gegen Russland lehnt die AfD entschieden ab. ({10}) Die Menschen in Mecklenburg-Vorpommern brauchen Nord Stream 2 und verdienen unsere bundesdeutsche Rückendeckung. Nord Stream 2 steht für eine sichere Energieversorgung, die auch benachteiligten Regionen Arbeit und Wohlstand ermöglicht. Wir können uns in diesem Bereich keine weiteren Experimente mehr leisten. Was wir uns als Land im Herzen Europas am allerwenigsten leisten dürfen, ist eine einseitige Parteinahme, die Europa in den Krieg treibt. Vielen Dank. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Johann Saathoff für die SPD-Fraktion. ({0})

Johann Saathoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004393, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Chrupalla, wissen Sie, wofür Sie mir leidtun? Kein Wort des Bedauerns, keine Genesungswünsche an Herrn Nawalny, nichts. ({0}) Sie haben Ihre Menschenwürde einfach draußen an den Haken gehängt und reden hier über Dinge, die eigentlich nicht im Kontext stehen. Dafür tun Sie mir leid. ({1}) Die Vergiftung von Alexej Nawalny war ein verabscheuungswürdiges Verbrechen. Es war nicht einfach nur eine Vergiftung, wenn man bei Vergiftungen überhaupt von „einfach“ sprechen kann, es war ein Mordversuch. Diese Straftat muss transparent aufgeklärt werden, und die Verantwortlichen müssen dafür zur Rechenschaft gezogen werden. ({2}) Herr Nawalny wurde am 20. August in Tomsk vergiftet. Er lag daraufhin zwei Tage in einem Krankenhaus in Omsk, ehe er am 22. August, übrigens aufgrund einer zivilgesellschaftlichen Initiative, nach Deutschland geflogen und dort auch fachgerecht behandelt wurde. Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich denjenigen danksagen, die durch ihre Kontakte die medizinische Behandlung von Herrn Nawalny in Deutschland erst möglich gemacht haben – ({3}) ein hervorragendes Beispiel der zivilgesellschaftlichen Zusammenarbeit. Diese Woche ist zu erfahren, dass Herr Nawalny aus dem Koma erwacht und ansprechbar ist. Wir freuen uns über diese Nachricht und wünschen Alexej Nawalny von Herzen gute, schnelle und vor allen Dingen vollständige Genesung. ({4}) Wenn ich sage: „Das Attentat muss aufgeklärt werden“, ist Folgendes zu beachten: Die Vergiftung von Herrn Nawalny geschah in Russland. Sie erfolgte mit einem in Russland entwickelten militärischen Nervenkampfstoff. Folglich können die Ermittlungen auch nur aus Russland erfolgen. Alle Zeugen, alle Spuren dieser Straftat, die im Übrigen auch einen Verstoß gegen das Chemiewaffenübereinkommen darstellt, alle Beweismittel befinden sich in Russland. Es stellen sich aufgrund dieses Attentats viele Fragen an die russische Führung, und zwar nicht nur in Deutschland, wo Herr Nawalny behandelt wird; diese Fragen an die russische Führung stellt sich die gesamte Welt. Im Übrigen müsste die russische Seite ein eigenes Interesse an der Aufklärung haben, damit dieser Verschwörungsdschungel mit Theorien in alle Richtungen, den wir auch heute hier erleben, endlich ein Ende hat ({5}) und damit diese Straftat die internationalen Beziehungen Russlands nicht noch nachhaltig belastet. Wenn die russische Seite sich in ihren Augen grundlosen Beschuldigungen ausgesetzt fühlt, dann kann es nur eine Lösung dafür geben: nämlich schnelle, transparente Aufklärung. ({6}) Die Verbindungen und die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland sind aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, viel mehr als nur die diplomatischen Kontakte der Regierungen. Russland ist genau wie Deutschland und jedes andere Land der Erde mehr als nur seine politische Führung – viel, viel mehr als nur seine politische Führung. ({7}) Es gibt unendlich viele Partnerschaften zwischen Deutschland und Russland in der Zivilgesellschaft. Es gibt hervorragend funktionierende Städtepartnerschaften, wo die Belange des öffentlichen Lebens miteinander abgeglichen werden, wo voneinander gelernt wird, wo miteinander sich entwickelt wird, und zwar friedlich und solidarisch und gemeinsam zwischen Russen und Deutschen. Es gibt Hochschulpartnerschaften, wo man wissenschaftliche Austausche miteinander unternimmt und sich gegenseitig letzten Endes – ich könnte es auf Platt sagen – schlauer macht, sich gegenseitig dabei hilft, Dinge weiterzuentwickeln. Es gibt Tausende, Abertausende von persönlichen Freundschaften, in denen Russen und Deutsche eng miteinander verbunden sind. Das nur auf die Kontakte der Regierungen zu verengen, würde dem Ganzen nicht gerecht werden. ({8}) Die Vergiftung von Herrn Nawalny als einem der bekanntesten Oppositionspolitiker verurteilen wir ausdrücklich. Dennoch stellen wir darüber hinaus nicht alles infrage, was uns mit Russland verbindet, sondern wir wollen Brücken bauen, wir wollen Verbindungen schaffen, und wir wollen Verbindungen erhalten; ({9}) denn ohne Brücken und ohne Verbindungen werden wir keine gemeinsame Zukunft haben können. ({10}) Wir wollen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass die Menschen sich begegnen, dass sie sich verstehen. Das hört man ja auch hier im Hause. Hören und Verstehen sind nämlich nicht das Gleiche. Oder ostfriesisch platt: „Mit Kopp versteihst du, mit Hart begrippst du.“ Oder wie Antoine de Saint-Exupéry sagt: „Man sieht nur mit dem Herzen gut.“ Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Renata Alt für die FDP-Fraktion. ({0})

Renata Alt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004654, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Der Giftanschlag auf Alexej Nawalny war auch ein Anschlag auf die Hoffnung vieler Menschen auf ein demokratisches Russland. Denen, die Wladimir Putin kritisieren, wird gerne Russlandhass vorgeworfen. Eins ist für mich klar: Ich mag Russland. Gerade deshalb finde ich es unerträglich, wie dort mit den Menschen umgegangen wird. ({0}) Ich liebe die russische Sprache, die wunderbare Literatur von Tolstoi, Gogol und Tschechow. Ich höre und spiele selbst gerne die wunderschöne Musik von Tschaikowski und Schostakowitsch. Die Entfremdung zwischen Russland und dem Westen ist für mich deshalb unerträglich. Es ist grotesk: Auf der einen Seite will Russland eine führende Nation in Forschung und Technologie sein – ich sage nur „Coronaimpfung“ –, und dann werden die Gegner und Kritiker einfach so beseitigt wie früher von den Medicis. Wir Freien Demokraten verurteilen aufs Schärfste die perfide Vergiftung von Alexej Nawalny. ({1}) Es war absolut richtig, Alexej Nawalny in der Berliner Charité zu behandeln. Jetzt erwarten wir von Russland ein kooperatives Verhalten bei der Aufklärung. Litwinenko, Politkowskaja, Nemzow – wurde schon erwähnt –, Skripal, der im Kleinen Tiergarten ermordete Changoschwili: In keinem dieser Fälle hat sich Russland um ernsthafte Aufklärung bemüht. Was macht Russland jetzt, um die Vergiftung von Alexej Nawalny aufzuklären? Russland behauptet, wir hätten die Vergiftung erfunden. Deutschland wird sogar zum Täter erklärt. Eine Kooperation bei den Ermittlungen sieht anders aus. Wir wünschen uns gute und vertrauensvolle Beziehungen zwischen der EU und Russland. Aber will Russland das? Will Russland das? 2019 wurde Russland ohne Gegenleistung in die Parlamentarische Versammlung des Europarates aufgenommen. Das war ein Fehler. ({2}) Wir haben damals als einzige Partei dagegengestimmt. Dieses Entgegenkommen wurde von Russland überhaupt nicht gewürdigt, im Gegenteil: Es wurde als Schwäche Europas dargestellt. Deswegen brauchen wir jetzt eine entschlossene Reaktion der Bundesregierung. Wir müssen auf Russland Druck ausüben. ({3}) Wir fordern den Außenminister Maas auf, Russland auf allen diplomatischen Ebenen und in allen internationalen Organisationen mit dem Fall Nawalny zu konfrontieren. Das Projekt Nord Stream 2 muss auf den Prüfstand gestellt werden. Wir fordern deshalb ein Moratorium für den Weiterbau des Pipelineprojektes, bis der Fall Nawalny geklärt ist. Unter den jetzigen Umständen kann nicht weitergebaut werden. Außerdem fordern wir gezielte personenbezogene Sanktionen gegen Putins Eliten. Wir müssen diejenigen sanktionieren, gegen die Alexej Nawalny ermittelten, nämlich die korrupten Eliten Russlands. ({4}) Diesen müssen wir die Einreise in die EU verweigern, deren Konten einfrieren. Diese Woche hat die FDP-Fraktion als erste Fraktion im Bundestag einen Antrag beschlossen, in dem wir genau das fordern. ({5}) Wir brauchen einen europäischen Magnitsky Act. ({6}) Es kann doch nicht sein, dass jemand morgens Oppositionelle vergiftet und am Nachmittag am Ku’damm shoppen geht. Meine Damen und Herren, gute Beziehungen zu Russland sind wichtig. Wir brauchen einander. Deswegen müssen wir unbedingt weiter mit der russischen Zivilgesellschaft im Dialog bleiben. Russischen Dissidenten, die von politischer Verfolgung betroffen sind, sollte die Bundesregierung proaktiv Asyl anbieten. ({7}) Ich appelliere an die Bundesregierung: Legen Sie Nord Stream 2 jetzt auf Eis! Verhängen Sie persönliche Sanktionen gegen die Menschenrechtsverletzer! Alexej Nawalny wird Ihnen dafür danken. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Amira Mohamed Ali für die Fraktion Die Linke. ({0})

Amira Mohamed Ali (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004823, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Die Vergiftung von Alexej Nawalny ist in der Tat ein furchtbares Verbrechen. Herr Kollege Saathoff, Sie haben es gerade schon gesagt, ich möchte es noch mal wiederholen: Es ist gut, dass es ihm inzwischen ein bisschen besser geht, dass er aus dem Koma aufgewacht ist, und auch ich wünsche ihm – ich glaube, wie jeder hier im Saal – weiter gute Genesung. ({0}) Und auch das ist jetzt mehrfach richtigerweise gesagt worden: Es ist wichtig, dieses Verbrechen lückenlos aufzuklären, und die Verantwortlichen müssen entsprechend zur Rechenschaft gezogen werden. In der Tat, es ist dringend notwendig, dass Russland hier vollständig kooperiert und bei der Aufklärung mithilft; das geht nicht anders. ({1}) Es muss kooperiert werden, aber eben auch von beiden Seiten. Stattdessen haben wir es erlebt, dass reflexartig nach neuen Sanktionen gegen Russland gerufen worden ist und – das ist auch heute hier gesagt worden – nach dem sofortigen Stopp des Baus der Pipeline Nord Stream 2. Das kommt vor allem aus Teilen der Union, von den Grünen kommt das, und die FDP hat sich ja eben auch noch einmal so geäußert. Manuela Schwesig, SPD-Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, sagte aber zu Recht, dass dieses Verbrechen eben nicht dazu benutzt werden darf, Nord Stream 2 infrage zu stellen. ({2}) Und auch der CDU-Ministerpräsident von Sachsen, Michael Kretschmer, äußerte sich so. ({3}) Aus wirtschaftlicher Sicht wäre der Stopp zum jetzigen Zeitpunkt – und das kann man nicht anders sagen – absoluter Wahnsinn. Die Pipeline ist zu 94 Prozent fertiggebaut. Den Bau jetzt zu stoppen, das hieße, eine 12-Milliarden-Euro-Investition in den Sand zu setzen, und es drohen außerdem Schadensersatzforderungen in Milliardenhöhe von Unternehmen, die an Nord Stream 2 beteiligt sind. Und auch aus ökologischer Sicht ist der Baustopp nicht vernünftig. Denn wenn Nord Stream 2 nicht kommt, dann besteht die große Gefahr, dass wir auf Frackinggas aus den USA angewiesen sind. Aber genau das darf nicht passieren. ({4}) Fracking gehört zu den umweltschädlichsten Technologien überhaupt. Es werden hochgiftige Chemikalien in die Erde gepresst, Trinkwasser wird verseucht, rund um die Frackingstelle gibt es erhöhte Krebsraten und Erdbeben. ({5}) – Das ist bei Fracking nun mal so, Herr Kollege von den Grünen; das müssten Sie ja eigentlich wissen. ({6}) Aus ökologischer Sicht muss man diese Technologie also ablehnen, nicht nur in Deutschland, sondern auf der ganzen Welt. Ich meine, dass ausgerechnet Sie jetzt sagen: „Wir sollten uns abhängig machen vom Frackinggas aus den USA“, das finde ich befremdlich. ({7}) Zum Glück ist die Mehrheit der Bevölkerung hier klüger. Sie lehnt laut einer jüngsten Umfrage den Baustopp von Nord Stream 2 ab. Wenn wir jetzt mal schauen, wer als Erster den Bau von Nord Stream 2 stoppen wollte – oder zumindest hat er behauptet, er wolle es –, stellen wir fest: Das war der US-Präsident Donald Trump. Donald Trump hat in der Tat kein Interesse daran, dass die Wirtschaftsbeziehungen zu Russland ausgeweitet werden. Im Gegenteil: Er möchte uns zwingen, sein dreckiges Frackinggas zu kaufen. ({8}) Um Nord Stream 2 zu verhindern, ist die Trump-Administration sogar bereit, das Völkerrecht zu brechen und Firmen und Kommunen hierzulande mit Sanktionen zu drohen. Die Bundesregierung hätte diese Drohung übrigens klar zurückweisen müssen. ({9}) Denn natürlich dürfen wir uns nicht von Donald Trump erpressen lassen. ({10}) Und wenn Donald Trump sich heute hinstellt und mit Verweis auf die Vergiftung von Herrn Nawalny den Baustopp von Nord Stream 2 fordert und öffentlich verkündet, man könne von einem solchen Staat wie Russland kein Gas beziehen, dann scheint er das wirklich wörtlich zu meinen. Denn in der Tat: Die USA beziehen kein Gas aus Russland. Sie beziehen stattdessen große Mengen Rohöl. ({11}) Hier wurden die Liefermengen kürzlich sogar erhöht, und es ist überhaupt nicht die Rede davon, dass diese Importe eingestellt werden sollen. Man sieht also, es geht bei dieser Forderung nicht um Menschenrechte; es geht um die wirtschaftlichen Interessen von US-Konzernen. ({12}) Ich muss sagen, ich finde es auch befremdlich, Herr Kollege Röttgen, dass Sie sich da eins zu eins die Argumente der US-Administration und der Frackingindustrie zu eigen machen. ({13}) Was man hier leider sieht, ist, dass in der Außenpolitik eben oft doppelte Standards gelten. ({14}) Es gibt viele, aber ich möchte nur ein Beispiel nennen: Ich erinnere mich noch gut daran, als im Jahr 2018 der regierungskritische Journalist Jamal Khashoggi im saudischen Konsulat in Istanbul auf bestialische Weise ermordet worden ist. ({15}) Damals hat von der Regierungsseite niemand gefordert, dass wir die wirtschaftlichen Beziehungen zu Saudi-Arabien abbrechen. ({16}) Soviel ich weiß, beziehen wir nach wie vor unverändert Öl aus Saudi-Arabien. Damals war die Menschenrechtsfrage nicht so relevant, obwohl in diesem Fall ja auch handfeste Beweise vorgelegen haben. ({17}) Diese Doppelstandards sind durchsichtig, und sie helfen nicht weiter, insbesondere nicht bei der Aufklärung dieses wirklich furchtbaren Verbrechens. Danke. ({18})

Armin Paulus Hampel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004735, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! An die wenigen Zuschauer: Guten Tag! Nach dem Wort zum Sonntag des Kollegen Kiesewetter wollen wir mal fix wieder zu den Tatsachen der Aktualität zurückkehren. ({0}) Man kann, meine Damen und Herren, der Bundesregierung nur die gleiche Frage stellen, die ich Ihrem Außenminister und auch vielen Anwesenden hier im Hohen Hause gestellt habe: Für wie bescheuert halten Sie eigentlich die Russen? Da wird versucht, auf einen Regimegegner, zu dem er ja erst vom Westen so richtig aufgebaut worden ist – vorher war Nawalny eine relativ unbekannte Person –, ({1}) einen Anschlag mit einem Massenvernichtungsmittel, quasi mit einer chemischen Keule, zu verüben. Das Gift kommt an sich in Gasform vor und ist nur schwer in Kristallinform zu packen; aber man hat es geschafft. Man hat es dann am Flughafen passend in einen Tee gepackt, und es gibt auch gleich das Beweisfoto, das zeigt, dass Herr Nawalny den Tee trinkt. Besser noch: Auch im Flugzeug waren gleich mehrere Kameras vorhanden, die diesen skandalösen Vorfall gefilmt haben. ({2}) Nichts gegen Herrn Nawalny; auch wir, meine Damen und Herren, wünschen ihm baldige Genesung. Wir haben vom Minister gehört, er ist aus dem Koma wieder erweckt worden und befindet sich auf dem Weg der Besserung. ({3}) Warum also ist die russische Regierung so blöd, wenn sie denn dahinterstecken würde, dass sie ihn, nachdem dieser angebliche Anschlag erfolgt ist, ({4}) auch noch in die Bundesrepublik Deutschland ausfliegen lässt, anstatt ihn irgendwo in den Weiten Russlands zu verbergen? Das ist doch absurd. ({5}) Interessanterweise ist das Gift auch schnell gefunden worden – fragen Sie mal Wissenschaftler; Sie müssen schon wissen, wonach Sie suchen –: Es ist eindeutig Nowitschok. Klar, kennt man seit dem Fall Skripal. Da macht man es sich einfach. Ich halte es mit dem ehemaligen Geheimdienstkoordinator der Union, Herrn Schmidbauer, und mit dem ehemaligen Geheimdienstchef der Briten, Mister Omand. Der Erste warnte vor verfrühter Benennung der angeblich Schuldigen, und der Zweite sagte völlig zu Recht: Nawalny – der übrigens erst vom Westen, wie ich schon sagte, zum angeblichen Staatsfeind Nummer eins gemacht wurde – hatte in Russland Feinde im Kreml und auch ganz viele außerhalb des Kremls. – Das sollte man hier mal wahrnehmen. Er ist ein Kämpfer gegen die Korruption, und nicht nur auf Regierungsebene. ({6}) Reflexartig aber zeigen die Bundesregierung und die Medien auf den Kreml. ({7}) Herr Kollege Hardt, internationale Strafmaßnahmen sind eine wunderbare Idee. Da frage ich: Wie flach war denn Ihr Aufschrei im Fall Khashoggi? Sie reden heute noch mit den Saudis, als ob nichts gewesen wäre. ({8}) Mit China betreiben Sie nach wie vor Handelspolitik, ({9}) obwohl es jedes Jahr Tausende von Hinrichtungen gibt und die Uiguren in KZs gesperrt werden. Das scheint hier kein Schwein zu interessieren. ({10}) Ihr Freund Obama, um das Bild gleich zu vervollkommnen, hat in seiner Amtszeit 400 Hinrichtungen angeordnet – Mister Trump übrigens nur eine, nebenbei bemerkt –, ohne dass in einem einzigen Fall ein amerikanischer Richter ihm dazu die Befugnis gegeben hat. ({11}) Auf deutsche Recherchen aus Russland müssen wir allerdings verzichten; denn der deutsche Geheimdienst BND ist über Russland so schlecht informiert wie seit vielen, vielen Jahrzehnten nicht mehr. Zu verdanken – ich höre immer in die Richtung der Sozialdemokraten – haben wir das übrigens Ihnen. Ihr Bundeskanzler Gerhard Schröder hat damals, ich glaube 2004, die Russlandabteilung aufgelöst, und seitdem sind unsere Nachrichten aus Russland etwas mau. ({12}) Wenn allerdings das Gerücht zutreffen sollte, dass der angekündigte Besuch des russischen Außenministers Lawrow hier in Berlin kommenden Dienstag vom Außenministerium auf eine Stunde terminiert worden ist, dann kann ich nur das Diplomatenhandbuch Seite 1 bis 3 empfehlen. In dem Augenblick, wo wir solche Probleme haben, muss man miteinander reden und nicht nur ein Stündchen plauschen. An Herrn Maas’ Stelle hätte ich mir zwei Tage Zeit genommen, um mit Herrn Lawrow ins Benehmen zu kommen. ({13}) Wenn die Bundesregierung an der Aufklärung wirklich interessiert ist, frage ich Sie: Warum gibt sie das umständlich der OPCW? Warum schicken wir das deutsche Ermittlungsmaterial auf Anforderung der Russen nicht an deren Staatsanwaltschaft, die schon seit Tagen darauf wartet? Da gehört es übrigens hin, Herr Hardt; nicht die Regierung in Russland ermittelt, sondern wie bei uns die Staatsanwaltschaft. Sie wollen das deutsche Ermittlungsmaterial haben, und die Bundesregierung verweigert den russischen Untersuchungsbehörden die Übergabe dieser wichtigen Dokumente. ({14}) Das ist Fakt. ({15}) Wer wirklich Aufklärung will, meine Damen und Herren, sollte mit den russischen Ermittlungsbehörden kooperieren ({16}) und ihnen alles zur Verfügung stellen, was sie brauchen, und zwar auf direktem Wege, Herr Kollege, und nicht über internationale Umwege. Wir alle wissen, wie lange das dauert. Das liegt nicht nur im russischen, sondern auch im deutschen Interesse; aber darauf kommt hier augenscheinlich kaum eine Seele in diesem Hause. Danke schön, meine Damen und Herren. ({17})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Daniela De Ridder für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Daniela De Ridder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004386, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für manche ist dieses Pult hier eine Berufung; das gilt für viele von uns. Andere wiederum – das durften wir gerade erleben – nutzen dieses Pult für Märchenstunden. ({0}) Dieses Talent als Märchenerzähler, Herr Hampel, das Sie zweifellos haben, heben Sie sich doch besser für Ihre Enkelkinder auf. Zunächst einmal möchte ich die Gelegenheit nutzen, hier meiner Hoffnung Ausdruck zu verleihen, dass der russische Oppositionspolitiker Alexej Nawalny schnellstmöglich wieder gesund wird. Ich wünsche ihm und seiner Familie viel Kraft für seine Genesung; er wird sie brauchen. Lassen Sie mich hinzufügen: Ich möchte auch den Ärztinnen und Ärzten in der Charité hier in Berlin danken, die sich unermüdlich um seinen Gesundungsprozess kümmern. Ihnen gebührt ebenso unser Dank. ({1}) Noch sind in der Tat die Umstände von Nawalnys Vergiftung nicht geklärt, und leider trägt eben auch die russische Seite nichts zur Aufklärung bei, liebe Kolleginnen und Kollegen. Im Gegenteil: Der russische Außenminister Lawrow und sein Umfeld versteifen sich vielmehr darauf, zu behaupten, Ermittlungen seien nur möglich, wenn Deutschland Beweise dafür liefert – seltsam, seltsam. ({2}) – Ja, das wird sich zeigen. Eine Zeitstunde, Herr Hampel, ist viel Zeit, um zu lügen, und viel Zeit, um die Wahrheit zu sagen. Solche propagandistischen Schachzüge kennen wir zur Genüge. Lassen Sie mich deshalb einige Namen russischer Oppositioneller nennen, deren Schicksal mich anrührt: Sergej Skripal, Boris Nemzow, Selimchan Changoschwili, jener Georgier, der wenige Meter von hier im Tierpark exekutiert wurde. Besonders schmerzlich spreche ich aber den Namen von Anna Politkowskaja aus, die ich persönlich kennenlernen durfte und die 2006 sterben musste, weil ihre Aufklärungsarbeit über das korrupte russische Verteidigungsministerium dem Regime missfiel. Aber lassen Sie mich heute vor allem an die 2009 ermordete Journalistin und Menschenrechtsaktivistin Natalja Estemirowa erinnern. Ein Jahr nach ihrer Ermordung versprach Russlands Präsident Dimitrij Medwedew der deutschen Kanzlerin, dass die Täter verfolgt und zur Rechenschaft gezogen würden. Auch die Hintermänner sollten ermittelt werden. Bis heute – elf Jahre später – sind diese Ermittlungen keinen Schritt weitergekommen; ihr Tod ist bis heute ungesühnt. Deshalb möchte ich Sie bitten, lieber Kollege Hardt, bei Ihrer Kanzlerin nicht nur Aufklärung für das Verbrechen an Nawalny zu ersuchen, sondern eben auch für das Verbrechen an dieser verstorbenen Menschenrechtlerin. ({3}) Nebelkerzen zündet das Putin-Regime nun auch in diesem Falle. Ja, gerade deshalb ist es richtig, dass der Außenminister Heiko Maas den russischen Botschafter Sergej Netschajew eingeladen hat und, Herr Hampel, keinen Zweifel daran lässt, dass die Bundesregierung derartige Verbrechen scharf verurteilt. Wir alle hier in diesem Hause sollten uns dem anschließen, auch Sie. ({4}) An der Forderung nach rückhaltloser Aufklärung – wie von Außenminister Heiko Maas oder von NATO-Generalsekretär Stoltenberg gefordert – kann ich nichts Naives oder gar Lächerliches finden, im Gegenteil. Stellen wir doch bitte eines klar: Russland braucht keine deutsche Amtshilfe, um Ermittlungen einzuleiten. Es fehlt vielmehr der politische Wille, und das ist Fakt. Russland hat – und auch das gehört zum Faktischen – ein wirtschaftliches Problem, und das nicht erst seit der Coronakrise. Im vergangenen Jahr hatte ich mehrfach Gelegenheit, nach Russland zu fahren, und ich hörte dort in den Workshops, an denen ich teilnahm, wie scharf die Kritik an Putin ist. Sie hat auch nicht abgenommen seit der Rentenreform 2018, die in der Tat völlig verunglückt war. Und es hat Proteste gegeben, nicht nur in Moskau und in Sankt Petersburg, sondern vor allem auch in den ländlichen Regionen. Und Nawalny war hier schon zugegen. Ja, liebe Frau Alt, es gibt mehr, was wir tun können, als abzuwarten und Forderungen zu stellen: keine Visa auszustellen und die Bewegungsfreiheit einzuschränken, beispielsweise russische Oligarchen daran zu hindern, auf ihr in Deutschland angelegtes Vermögen zuzugreifen. Das ist ein Weg. Die Ideologisierung allerdings von Nord Stream 2 ist es nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({5}) Wenn wir also internationale Untersuchungen fordern, dann sollte das auch das Mindeste sein, was die russische Regierung in die Wege leitet. Folter, Mord und Totschlag an Oppositionellen – auch das sollten wir Putin unmissverständlich sagen – sind eben kein Zeichen von Stärke, sondern eines von Schwäche. Diesen Dialog gilt es weiter fortzusetzen. Die Zustimmung für Putin sinkt, und mit Blick auf eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, die das auch noch mal deutlich macht, sage ich: Wir müssen weiter den Mut haben, Wandel durch Annäherung und Wandel durch Dialog zu ermöglichen, etwa indem wir das Deutsch-Russische Jugendwerk stärken. Wer nur Härte fordert, wer den Dialog verweigert, der gibt auf. ({6}) Wer nur Härte zeigt, liebe Kolleginnen und Kollegen, ({7}) hat einfach keine Fantasie für wirklich gute Lösungen. Vielen Dank. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der Kollege Manuel Sarrazin das Wort. ({0})

Manuel Sarrazin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003889, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einmal mehr liegt ein Kritiker des Kremls in der Berliner Charité. Wie schon vor einiger Zeit Pjotr Wersilow ist auch Nawalny in Lebensgefahr, nicht aus medizinischer Sicht, aber trotzdem. Wenn der Kreml wirklich den Mordanschlag auf Alexej Nawalny bedauert und wirklich aufklären will, warum braucht Nawalny dann Schutz durch unsere Sicherheitsbehörden? Vor wem glauben eigentlich unsere Sicherheitsbehörden diesen Mann beschützen zu müssen mit diesem Aufwand? Vor einem durchgedrehten Einzeltäter? ({0}) Politischer Mord gehört zum System Putin. Das Regime ist seit 20 Jahren dadurch geprägt, dass politischer Mord ein Teil seines Programmes ist. Welche Konsequenzen hatten die genannten Fälle von Politkowskaja, Estemirowa, Nemzow und all den anderen für die deutsche Russland-Politik? Und welche Konsequenzen wird der Fall Nawalny haben? Ich bin sehr glücklich, dass viele Kolleginnen und Kollegen diese Namen ausgesprochen haben. Das sind nicht nur Namen von einzelnen Personen. In einer Situation wie der in Russland sind die Leben von Einzelnen wichtig für die ganze Gesellschaft. ({1}) Deswegen müssen wir festhalten: Bei der gesamten Entwicklung geht es auch um eine eigene Standortbestimmung. Ein Festhalten an Nord Stream 2 wird von Moskau als klammheimliche Legitimation seiner Politik empfunden und bestätigt somit seinen aggressiven Kurs. Eine strategische Partnerschaft kann es mit Putin nicht geben. Damit tut man auch den Menschen in Russland keinen Gefallen. Alexej Nawalny ist ein russischer Staatsbürger, der umgebracht werden sollte. ({2}) Die Menschen in Russland haben etwas Besseres verdient, als diesem Putin und seinem Clan entgegen allen demokratischen Grundlagen noch auf Jahrzehnte ausgeliefert zu sein. Gleichzeitig ist das System Putin auch bei uns nicht nur mit Pipelines aktiv. Tragende Säulen von Putins System wie Jewgenij Prigoschin können Deutschland wie ihr Stammlokal benutzen, sie verbringen hier ihre Freizeit mit ihrer Familie und ihrem Geld. Die Bundesregierung muss ihre Russland-Politik jetzt um Klarheit und um Menschenrechte ergänzen, anstatt Gaspipelines im Zentrum zu haben. ({3}) Aber was tut sie? Während Nawalny von unseren Sicherheitsorganen davor beschützt werden muss, vom Regime Putin doch noch umgebracht zu werden, sagt die Bundesregierung, man sei auf die Ermittlungsergebnisse der russischen Behörden angewiesen, um letztendlich sagen zu können, wer der Urheber dieser Tat war. Dieses Zurückrudern von den klaren Worten der Kanzlerin, das hört man in Moskau wohl. Und man versteht das nicht als Angebot zum Dialog, sondern als Spielraum. So auch in Sachen Belarus. Der Außenminister fordert Lukaschenko zum Dialog auf, und er freut sich, dass der Kreml sich rhetorisch ähnlich äußert. Doch beide meinen einen unterschiedlichen Dialog. Der Außenminister fordert Lukaschenko dazu auf, in der Realität anzukommen. Doch Lukaschenko hat eine andere Realität, in der Realität Lukaschenkos heißt Dialog physisches und psychisches Foltern. ({4}) Wir müssen heute maskierte Männer sehen, die junge Leute von der Straße mitnehmen und in Zivilautos abtransportieren, weil sie eine Fahne hochgehalten haben. In der Realität sind Menschen nach der Folter in belarussischen Krankenhäusern gestorben. In der Realität steht Lukaschenko mit der Kalaschnikow vor seinem Palast. Mit diesem Diktator wird es keinen Dialog geben, er will ihn nicht. ({5}) Er gewinnt mit dem Gerede von Dialog nur die Zeit, um mit Staatsterror die Opposition auszuschalten. Dieser Diktator verteidigt nicht Belarus vor dem Kreml, sondern nur seine korrumpierte Macht. ({6}) Bis auf eine einzige Ausnahme sind alle Mitglieder des oppositionellen Koalitionsrates in Haft oder gewaltsam außer Landes gebracht worden. Swetlana Tichanowskaja hat Sanktionen gegen Lukaschenko gefordert, weil dieser Diktator nicht reden will. Die Bundesregierung hat sich auf europäischer Ebene gegen die Listung auf der EU-Sanktionsliste eingesetzt. Lukaschenko, dieser Diktator, gehört aber auf die EU-Sanktionsliste. Eigentlich gehört er vor ein Gericht und nicht an einen Verhandlungstisch, den wir legitimieren. ({7}) Deutschland gehört eindeutig an die Seite der belarussischen demokratischen Opposition und nicht an irgendeinen anderen Platz. Ich komme zum Schluss. Die Ereignisse der letzten Wochen haben diese Bundesregierung außenpolitisch überrollt. Sie hat große Schwierigkeiten, entschlossen, klar und konsistent zu reagieren. Diese Schwäche wird Herr Putin zu nutzen wissen. Ändern Sie bitte Ihren Kurs, bevor das passiert. Danke sehr. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Norbert Röttgen für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Fall Nawalny – das ist unser Thema – ist zunächst der Fall eines einzelnen Menschen, den man vergiftet hat und den man ermorden wollte. Der Fall Nawalny ist insofern ein klarer Fall, als feststeht, dass die Täter in Russland, und zwar im russischen Sicherheitsapparat, zu suchen und zu finden sind. Der Fall Nawalny ist insofern aufschlussreich, als es hier im Hause das übereinstimmende Bemühen der Linksfraktion und der AfD-Fraktion gibt, die Täter irgendwo anders, aber jedenfalls nicht in Russland zu suchen – eher ist es der deutsche Nachrichtendienst als der russische Nachrichtendienst gewesen. ({0}) So wird es in diversen Talkshows vorgetragen, meine Damen und Herren. Diese politische Übereinstimmung ist aufschlussreich. ({1}) Drittens. Der Fall Nawalny ist kein Einzelfall, er ist Teil einer Serie von Vergiftungen und Ermordungen und Mordversuchen, und er ist Teil eines politischen Systems, des politischen Systems Russlands. Dieses System verschreibt sich der rücksichtslosen Verfolgung der politischen Opposition im eigenen Land, der aggressiven Expansion des Einflusses des Landes jenseits der Grenzen, wie etwa in der Ukraine, wie etwa in Syrien, neuerdings auch in Libyen. Und es betreibt eine Politik, die darauf abzielt, eine russische Einflusszone von Moldau mit militärischer Intervention über Georgien, über die Ukraine bis nach Belarus zu etablieren, meine Damen und Herren, es ist ein politisches System, das hier expansiv ist, das aggressiv, völkerrechtswidrig vorgeht. ({2}) Weil es eine Politik ist, die darauf abzielt, unseren Kontinent erneut zu spalten – nämlich zwischen dem Westen und der russischen Einflusszone und Russland –, und weil es unser Selbstverständnis ist, ein Minimum an Zivilität auf diesem Kontinent zu gewährleisten, das es verbietet und ächtet, dass Menschen umgebracht werden, weil sie eine bestimmte politische Meinung haben, ist das eine europäische Angelegenheit, die eine Antwort der Europäer verdient. Sie kann nicht mit Schweigen beantwortet werden. ({3}) Wer eine Antwort fordert, der ist nicht für ein Konfliktverhältnis zu Russland, überhaupt nicht. Auch die CDU/CSU-Fraktion will ein konstruktives Verhältnis zu Russland. Wir wissen, dass Russland eine Realität ist, und wir wissen um die reiche Geschichte; Frau Alt hat das eindrucksvoll, in vielen Facetten geschildert. Aber wir müssen feststellen, dass eine Politik der Konsequenzlosigkeit gegenüber Russland bislang keine Verhaltensänderung bei Russland bewirkt hat. Wir brauchen eine Konsequenz, und das ist mein letzter Punkt. ({4}) – Nein, unsere Interessen vertreten, für unsere Werte eintreten. ({5}) Sie mögen diese Werte nicht teilen, das übrige Haus teilt sie. Dafür müssen wir eintreten: für unsere eigenen Interessen und Werte. ({6}) Also muss es eine Konsequenz geben. Meine Position ist, dass Nord Stream 2 der Dreh- und Angelpunkt dafür ist, ob Putin versteht, dass wir es ernst meinen. Wir müssen bei den Konsequenzen nämlich die Sprache sprechen, die von Putin auch verstanden wird, ({7}) und das ist Nord Stream 2. Nord Stream 2 ist kein Projekt, das der Energieversorgung Deutschlands dient; das war nie die Intention. ({8}) Es entspricht auch nicht den Realitäten. Wir haben schon an Land genug Pipeline-Infrastruktur. Durch Nord Stream 1 lässt sich weit mehr Gas transportieren, als wir heute verbrauchen. ({9}) Fast 40 Prozent des deutschen Gasverbrauchs kommen aus Russland. ({10}) Nord Stream 1 ist in seinen Kapazitäten nur zur Hälfte ausgelastet, es sind noch zig Milliarden Kubikmeter frei, um dort Gas zu transportieren. ({11}) Im Übrigen haben wir Klimaziele festgelegt, ({12}) die vorsehen, dass wir in 30 Jahren klimaneutral werden wollen. Wer klimaneutral werden will, muss mindestens die Energieversorgung weitestgehend klimaneutral machen, ansonsten ist das nicht die Klimapolitik, der wir uns verschrieben haben, meine Damen und Herren. ({13}) Aber diejenigen, die anderer Auffassung sind, mögen dann sagen, was ihre Antwort ist, von der sie glauben, dass sie eine Verhaltensänderung in der Politik von Putin bewirkt. Ich bin sehr offen dafür. ({14}) Ich bin nur nicht offen dafür, dass es am Ende darauf hinausläuft, dass nichts passiert. Es ist jetzt durch die besondere Brutalität des Vorgehens gegen Alexej Nawalny und durch die Unterstützung des brutalen Diktators Lukaschenko zu einem europäischen Moment der Ordnung aus Werten und für die Interessen des Rechts und der Selbstbestimmung geworden. ({15}) Ich appelliere an alle – auch an die Regierung –, dass wir dieses Momentum für Europa nicht verstreichen lassen, sondern dass wir es kraftvoll im friedlichen, konstruktiven Sinne ergreifen und Europa zum Entstehen bringen in der Gestaltung unseres Kontinents. ({16}) Danke sehr. ({17})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Christoph Matschie für die SPD-Fraktion. ({0})

Christoph Matschie (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001434, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Für mich ist es wichtig, dass fast alle in diesem Hohen Hause diesen schändlichen Mordversuch klar verurteilt haben; es ist wichtig, das deutlich zu machen. ({0}) Es ist ein Fall, der sich einreiht in eine ganz lange Reihe; der Kollege Hardt hat es hier sehr eindrücklich deutlich gemacht, andere auch. Und deshalb geht es mir wie vielen: Mich wühlt auf, was dort passiert. Dies muss dazu führen – hier gebe ich Norbert Röttgen recht –, dass wir unseren Umgang mit Russland sehr grundsätzlich überdenken. Aber rechtfertigt das, dass wir jetzt schon eine Entscheidung treffen? ({1}) Ich glaube, dass es klug ist, jetzt nicht nur aus heißem Herzen heraus, sondern auch mit klarem Verstand vorzugehen. ({2}) Einige haben hier deutlich gemacht: Es ist keine bilaterale Angelegenheit zwischen Deutschland und Russland, um die es hier geht, sondern es ist eine internationale Angelegenheit. Russland hat einen chemischen Kampfstoff eingesetzt, der erst vor kurzer Zeit auf die Verbotsliste der internationalen Organisation für das Verbot chemischer Waffen gesetzt worden ist – mit russischer Beteiligung. Jetzt, wenige Wochen später, verstößt Russland gegen diese eigene Verpflichtung. Dieses Verhalten muss eine internationale Antwort bekommen. ({3}) Dazu ist es aber auch notwendig, dass dieser Befund mit den klaren Erkenntnissen, die das Bundeswehrlabor gewonnen hat – dieses Labor ist eines von 17 zertifizierten Laboren der internationalen Organisation für das Verbot chemischer Waffen –, noch einmal von einem anderen Labor der OVCW überprüft wird und dann Schlüsse daraus gezogen werden. ({4}) Ist es aber richtig, wenn Russland sagt, es könne nur ermitteln, wenn die deutschen Ergebnisse den russischen Stellen jetzt zur Verfügung gestellt werden? Nein, der Tatort liegt in Russland. ({5}) Es war ein russischer Inlandsflug. Die Tat ist an einem russischen Bürger begangen worden. Er lag dort zwei Tage im Krankenhaus. Alle Befunde, alle Tatortspuren, alle medizinischen Erhebungen, die man braucht, liegen Russland vor. Russland kann jetzt ermitteln. Das sollte es auch tun. ({6}) Hat Deutschland ein Interesse daran, die Gräben zu vertiefen: zwischen Deutschland und Russland, zwischen Europa und Russland? Nein. Gerade Deutschland hat in der Vergangenheit viel dafür getan, immer wieder Brücken zu bauen. Ich will nur daran erinnern, dass – lange geplant – im Herbst das Deutschlandjahr in Russland starten soll. ({7}) Aber Brückenbau funktioniert ja nur, wenn auf der anderen Seite des Flusses auch ein Pfeiler gebaut wird. Wenn dort keiner gebaut wird oder immer eingerissen wird, dann kann es keine Brücke geben, dann funktioniert sie nicht, jedenfalls nicht mit der Regierung Putin. Das ist uns klar. ({8}) Wir brauchen natürlich auch die Zusammenarbeit mit der russischen Zivilgesellschaft. Das ist mir sehr wichtig. Diese Brücken existieren vielfältig. Die müssen wir von beiden Seiten begehen, so intensiv wie möglich. Russland ist nicht Putin, sondern Russland ist viel mehr. Diese Partnerschaft ist es wert, noch viel mehr Energie hineinzustecken als bisher. ({9}) Mir ist wichtig, dass wir jetzt eine überlegte europäische Antwort geben, nicht nur auf diesen einzelnen Fall. Ich gebe allen Rednern recht, die das auch betont haben. Dieser Fall, dieser einzelne, ist jetzt Anlass, unser Verhältnis zur russischen Führung grundsätzlich zu überdenken. Ich finde, dass keine Option in der Reaktion vorzeitig vom Tisch genommen werden darf. Ich bin nicht dafür, jetzt schon zu entscheiden, ob wir Nord Stream 2 nicht bauen. Aber ich bin dafür, alle Optionen offenzulassen, sorgfältig mit den europäischen Partnern zu beraten, auch in der NATO zu besprechen und dann eine gemeinsame Reaktion zu geben; denn eine gemeinsame Reaktion wird eine viel stärkere Reaktion gegenüber Russland sein, als wir sie allein geben können. Das wird für die nächste Zeit wichtig sein und unser Verhältnis bestimmen. Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, ich will am Schluss Alexej Nawalny und seiner Familie alles, alles Gute wünschen. Die Wünsche zur Besserung, die er jetzt braucht, und die Hoffnung, dass er vollständig genesen wird, sollen aus diesem Haus in die Charité dringen. Vielen Dank. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Florian Hahn das Wort. ({0})

Florian Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004048, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mich als Allererstes den Wünschen, die der Kollege Matschie im Namen des Hohen Hauses an die Familie Nawalny gerichtet hat, anschließen. Dieser Giftanschlag auf Nawalny war ein menschenverachtender und hinterhältiger Mordversuch. Er war aber vor allem auch eine fürchterliche Nachricht und Drohung an alle, die, ähnlich wie Nawalny, Kritik am politischen System Russlands äußern. Auch der Zeitpunkt, parallel zu den Ereignissen in Weißrussland, dürfte nicht ganz zufällig sein. Untersuchungen von Spezialisten der Charité in Berlin und der Bundeswehr in München haben zweifelsfrei ergeben, dass es sich um eine Vergiftung mit einem chemischen Nervenkampfstoff der Nowitschok-Gruppe handelt. Das ist ein überstarkes Indiz dafür, dass russische staatliche Stellen hinter diesem Vorgang stehen; denn der gezielte und kontrollierte Umgang mit diesem russischen Kampfstoff auf russischem Boden erfordert besondere Infrastruktur, besonderes Wissen und besonderes Können. Die Vergiftung Nawalnys ist auch kein Einzelfall, sondern reiht sich in eine lange Liste, eine schreckliche Liste ähnlicher Vorfälle ein, die in dieser Debatte schon mehrfach genannt worden sind. Angesichts dessen finde ich es wirklich unerträglich, wie Vertreter der Partei Die Linke und der AfD auch in diesem Fall versuchen, die Rolle Russlands zu verharmlosen und zu relativieren. Die Kollegin Dağdelen hat nicht einmal davor zurückgeschreckt, den BND zu verdächtigen, etwas damit zu tun haben zu können. ({0}) – Ich habe die Sendung von Anne Will gesehen. ({1}) – Sie können sie in der Mediathek sehen. Ich kann nur dazu raten. Schauen Sie sich das an. Genau das war der Fall, gar keine Frage. – Und auch Herr Gysi hat in den Raum gestellt, dass hier ausländische Geheimdienste vermutlich die Finger im Spiel haben könnten. Das ist alles Tatsache. Besonders krude fand ich den Kollegen Chrupalla heute, der nicht einmal davor zurückgeschreckt hat, an den Ergebnissen der Untersuchung der Bundeswehr zu zweifeln. Das ist wirklich eine Schande für Sie und Ihre Partei, Herr Kollege. ({2}) Sie machen sich mit dieser Vernebelungstaktik, bei der Sie wildeste Spekulationen und Verschwörungstheorien streuen, um vom Offensichtlichen abzulenken, zum Handlanger derer, die für diese Taten verantwortlich sind. Dafür sollten Sie sich schämen. Man könnte sagen: Das Fass ist übergelaufen. Wir werden zum Handeln gezwungen und müssen eine angemessene Antwort finden. – Und das stimmt. Es kommt mir allerdings wie ein zu schneller, falscher Reflex vor, jetzt die sofortige Einstellung von Nord Stream 2 zu fordern, womit die Sache sozusagen erledigt wäre; Russland wäre bestraft, und nur so könne es vorangehen. Die Forderung nach der Beendigung von Nord Stream 2 ruft jetzt natürlich vor allem diejenigen auf den Plan, die schon immer gegen das Projekt waren – allen voran die Grünen. ({3}) Sie wittern die Chance, dieses ungeliebte Projekt sozusagen auf den letzten Metern zu Fall zu bringen. Würde man das tun, würde dies letztlich nur einen Pyrrhussieg bedeuten. Der Schaden für Deutschland wäre immens. Dabei geht es um Fragen der Verlässlichkeit, dabei geht es um die Frage von Vertragstreue, und dabei geht es um immense Schäden für die europäische Wirtschaft und auch – denken wir an die Kosten für den Schadensersatz – für den deutschen Steuerzahler. ({4}) Im Übrigen überzeugt mich auch nicht die Annahme, dass der Stopp von Nord Stream 2 tatsächlich eine Verhaltensänderung Putins erzeugen würde. Das muss man mir erst mal erklären. ({5}) Für mich ist entscheidend, dass der Fall Nawalny kein deutsches Problem ist, nur weil Deutschland in einem humanitären Akt die Behandlung des Patienten Nawalny in der Charité ermöglicht hat. Daraus ist kein deutsch-russisches Problem entstanden. Der Vorgang betrifft nicht Deutschland, sondern ist ein internationaler. Schließlich handelt es sich um einen Verstoß gegen das Verbot der Verwendung chemischer Kampfstoffe. Russland muss deshalb aufklären und sich gegenüber der Weltgemeinschaft erklären. Hier hat die Bundeskanzlerin meine volle Unterstützung. Meine Schlussfolgerungen im Fall Nawalny sind daher zum heutigen Tage: Der Giftanschlag auf Nawalny ist ein klares Verbrechen. Die Indizien für eine Beteiligung russischer staatlicher Stellen sind überstark. Russland muss eine vollständige Sachaufklärung vorantreiben. Wir brauchen auf diesen Fall eine internationale, mindestens aber eine europäische Antwort. Mögliche Konsequenzen dürfen keine Schnellschüsse sein, sondern müssen europäisch abgesprochen, zielgenau und auch wirkungsvoll sein. Herzlichen Dank. ({6})