Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Übernehmen Petitionen die Aufgabe des Parlaments? Diesen Eindruck könnte man schnell gewinnen, wenn man sich das letzte Jahr, vor allem die letzten Monate, einmal näher anschaut. Besonders prominente und medienwirksame Petitionen werden von der Öffentlichkeit außerhalb des Parlaments breit diskutiert.
Die Politisierung des Petitionswesens ist in den letzten Jahren stark angestiegen. Eingaben wie die zur Reduzierung des Mehrwertsteuersatzes auf Periodenprodukte konnten viele Menschen mobilisieren. Noch bevor sich der Bundestag der Sache annahm, schien die Öffentlichkeit den Ausgang der Petition bereits festgestellt zu haben. Die Öffnung des Parlaments ist richtig und wichtig. Wir dürfen aber nicht zulassen, dass die repräsentative Demokratie geschwächt wird.
Ich bin stolz darauf, dass kein Bundestagsausschuss eine stärkere Bürgernähe und ‑beteiligung aufweist als der Petitionsausschuss. Wir geben, anders als die bekannten Konzerne, die Garantie, dass jede Petition entgegengenommen, sorgfältig geprüft und beschieden wird. Wir sind das Original!
Lassen Sie mich kurz einige Fakten zum Jahresbericht 2019 nennen. Es freut mich sehr, dass wir wiederholt einen Anstieg der Anzahl eingereichter Petitionen auf 13 529 Petitionen verzeichnen konnten. Die Anzahl eingereichter Petitionen ist damit in den letzten fünf Jahren um 20 Prozent angestiegen. Das unterstreicht das Interesse der Bevölkerung an Politik und den Willen der Menschen beim Mitgestalten unseres Landes.
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Als starker Befürworter der Digitalisierung begrüße ich es außerordentlich, dass die Zahl der digital eingereichten Petitionen weiter steigt. Auf unserer Plattform haben sich im letzten Jahr über 850 000 Nutzerinnen und Nutzer neu registriert; dies entspricht einer Steigerung gegenüber dem Vorjahr von über 40 Prozent. Im Berichtsjahr wurden 929 Petitionen auf unserer Internetplattform veröffentlicht; das sind mehr als doppelt so viele wie noch 2015.
Es beeindruckt mich sehr, dass so viele Nutzerinnen und Nutzer auf diesem Forum die Petitionen, insbesondere die zur gesetzgeberischen Gestaltung, angeregt und zumeist konstruktiv diskutieren. Mit großer Freude stellen wir auch fest, dass im Vergleich zu den Einzelfallpetitionen die Anzahl der Petitionen mit klaren gesetzgeberischen Ideen, die einen Input in unser Haus bringen, deutlich angestiegen ist.
Wir dürfen aber nicht vergessen, dass neben diesen Petitionen zur Gesetzgebung auch zahlreiche Einzelfallpetitionen an uns herangetragen werden. Sie sind unser wichtiges Brot-und-Butter-Geschäft und haben im letzten Jahr 55 Prozent aller Eingaben ausgemacht. Dabei ging es beispielsweise um Meinungsverschiedenheiten mit der Bundesagentur für Arbeit bzw. den Jobcentern hinsichtlich der Bearbeitungsdauer von Anträgen und der Höhe von Leistungen.
Die Zahl der Mitzeichnungen hat sich gegenüber dem Vorjahr mehr als verdoppelt. Wir konnten mehr als 1,8 Millionen Mitzeichnungen bei öffentlichen Petitionen verzeichnen, darunter circa 1 Million elektronische Mitzeichnungen. Das zeigt, dass trotz aller Digitalisierung knapp die Hälfte aller Mitzeichnungen noch in Form der klassischen Unterschriftenliste, per Fax oder auch per Brief, bei uns eingehen.
Dieses Engagement der Bürgerinnen und Bürger führte dazu, dass 2019 17 Eingaben das Quorum von 50 000 Mitzeichnungen erreichten, das erforderlich ist, damit die Petition bei uns in öffentlicher Beratung behandelt wird. Das sind fast dreimal so viele Petitionen wie im Vorjahr.
Bei den mitzeichnungsstärksten Petitionen im Jahr 2019 ging es um das Verbot des Versandhandels mit verschreibungspflichtigen Medikamenten – gut 413 000 Menschen haben mitgezeichnet –, die angemessenen Übergangsregelungen für Psychologiestudierende und Psychotherapeutinnen und ‑therapeuten in Ausbildung – hier gab es gut 84 000 Mitzeichnungen – und die Besteuerung von Periodenprodukten mit dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz von 7 Prozent; hier gab es gut 82 000 Mitzeichnungen. Zu all dem gab es eine breite mediale Debatte, die lebhaft geführt wurde, und zwar nicht nur auf der Homepage des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages.
Von den 17 Petitionen, die das notwendige Quorum von 50 000 Unterschriften erreicht haben, konnten wir 14 Eingaben im Rahmen einer öffentlichen Sitzung behandeln. In diesen öffentlichen Sitzungen konnte der Petent oder die Petentin sein oder ihr Anliegen persönlich vor den Ausschussmitgliedern und den anwesenden Regierungsvertretern vortragen. Themen waren unter anderem das Terminservice- und Versorgungsgesetz oder das generelle Tempolimit auf Autobahnen.
Mich persönlich freut es sehr, dass die bereits erwähnte Petition zur Besteuerung der Periodenprodukte mit dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz schnell und erfolgreich im Sinne des Petenten und damit auch im Sinne der Bürgerinnen und Bürger abgeschlossen werden konnte. Der Petitionsausschuss war der Treiber des politischen Prozesses und eröffnete so den Bürgerinnen und Bürgern das Tor zum Deutschen Bundestag. Wir sind die Tür in unser Haus hinein.
Um Veränderungen anzustoßen – das ist sehr wichtig –, ist nicht allein die Zahl der Unterschriften maßgebend. Eine Petition mit nur wenigen Mitzeichnungen führte etwa dazu, dass die Sonderurlaubsregelungen bei Rehamaßnahmen geändert wurden.
Ein auch für mich persönlich sehr erfreuliches Ergebnis konnten wir in einem Fall der Familienzusammenführung erzielen. Der sich in Deutschland aufhaltende minderjährige Petent bat um Visa für seine Geschwister, um diesen die Einreise nach Deutschland zur Familienzusammenführung zu ermöglichen. Der Ausschuss kontaktierte verschiedene Ministerien und konnte schließlich eine Familienzusammenführung ermöglichen.
Solche Berichterstattergespräche finden oft im Hintergrund statt. Dabei werden Gespräche unter anderem mit den Ministerien geführt; in meinem Beispielfall fanden Gespräche mit dem Innenministerium statt. Mit Herrn Staatssekretär Mayer haben wir schon sehr viele gemeinsame Berichterstattergespräche geführt. Wir arbeiten eng zusammen. Für die gute Zusammenarbeit und die vielen Problemlösungen möchte ich meinen Dank aussprechen.
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20 solcher Berichterstattergespräche konnten im letzten Jahr geführt werden. Dabei konnten die persönlichen Anliegen der Bürgerinnen und Bürger behandelt und einer Lösung zugeführt werden.
Natürlich können wir nicht alle Wünsche der Petentinnen und Petenten erfüllen. In diesen Fällen versucht der Ausschuss dadurch zu helfen, dass er den Bürgerinnen und Bürgern die gesetzlichen Grundlagen und die staatlichen Entscheidungen erläutert und nachvollziehbar macht. So konnte der Ausschuss beispielsweise dem Anliegen, das Streben nach Glück ins Grundgesetz aufzunehmen, nicht entsprechen. Wir antworteten dem Petenten, dass das persönliche Glücksempfinden überwiegend von privaten Umständen geprägt ist, auf die der Staat keinen oder nur bedingt Einfluss hat.
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Der Petitionsausschuss versteht sich als Anwalt der Bürgerinnen und Bürger. Wir bemühen uns mit großem Engagement darum, die bestmögliche Lösung für jede Petentin und jeden Petenten zu finden. Dabei arbeiten wir meist sehr konstruktiv zusammen, auch – und das ist die Besonderheit unseres Ausschusses – über die Fraktionsgrenzen hinweg. Wir sind uns alle einig, dass das Petitionsrecht dem Bürger eine echte Chance für mehr direkte Beteiligung bietet.
Ein Appell an die Bürgerinnen und Bürger sei mir an dieser Stelle erlaubt: Bitte nutzen Sie die Chance! Nutzen Sie die Chance, eine Petition einzureichen! Es ist ganz einfach. Seien Sie gewiss, dass jede Petition von uns ernst genommen und gewissenhaft bearbeitet wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Petitionsrecht ist eine historische Leistung unserer Demokratie. Deshalb müssen wir uns umso mehr den Versuchen entgegenstellen, das Petitionsrecht zu missbrauchen. Konzerne dürfen ihre kommerziellen Interessen nicht unter dem Deckmantel des Gemeinwohls verkaufen. Nennen wir es doch beim Namen: Betriebe und Unternehmen arbeiten in unserer sozialen Markwirtschaft gewinnorientiert, was richtig ist. Das ist auch gut so. Aber die Politik muss den entsprechenden Interessenausgleich zwischen Gewinnorientierung und Gemeinwohl schaffen. Ich glaube, liebe Kolleginnen und Kollegen, das werden wir auch schaffen.
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Das Petitionsrecht ist Instrument der Bürgerinnen und Bürger. Das Petitionsrecht gibt ihnen die Möglichkeit, direkt mit dem Deutschen Bundestag in Kontakt zu treten. Das Petitionsrecht beteiligt sie an der Weiterentwicklung unseres Landes. Es ist aus meiner Sicht eine echte Chance für mehr Teilhabe und Partizipation.
Aber übernehmen Petitionen die Aufgabe des Parlamentes? Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen. Das Petitionswesen zu stärken, heißt, unsere repräsentative Demokratie zu stärken. Deshalb ist eine Politisierung des Petitionsausschusses uns allen willkommen. Wir müssen als Parlament lernen, konstruktiv mit den öffentlichen Debatten umzugehen, ohne uns vor ihnen hertreiben zu lassen. Das ist eine Chance auch für uns, aktiv in den Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern zu treten.
Der wichtigste Gedanke zum Schluss, meine Damen und Herren: Ein Dank gilt den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unseres Sekretariates, unseres Ausschussdienstes.
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Knapp 80 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundestagsverwaltung unterstützen die 28 Kollegen im Ausschuss bei der Bewältigung der zuletzt 13 500 Petitionen im Jahr. Eine kleine Delegation hat heute hier Platz genommen, um diesen Ausschuss zu vertreten. Einen ganz herzlichen Dank an diese Kolleginnen und Kollegen, an die Mitarbeiter des Ausschusses und alle Bürgerinnen und Bürger, die sich aktiv für unser Gemeinwohl einsetzen.
In diesem Sinne: Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Wendt. – Nächster Redner ist der Kollege Stefan Schwartze, SPD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, so viele Staatssekretäre hier begrüßen zu dürfen, mit denen wir eng zusammenarbeiten. Die Minister freue ich mich in der nächsten Anhörung wiederzusehen. Sie stehen uns und auch den Petenten dann Rede und Antwort.
Meine Damen und Herren, als Allererstes möchte ich den Mitarbeitern des Ausschussdienstes und in unseren Büros danken, die ganz viel Arbeit für die Anliegen der Menschen erledigen. Ohne sie könnten wir unsere Aufgaben nicht erfüllen. Danke schön!
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Liebe Mitmenschen, egal ob jung, alt, männlich, weiblich, deutsch oder mit einer anderen Staatsangehörigkeit, einfach alle: Schreibt Petitionen! Die Politik braucht die Themen, die Sie bewegen. In der letzten Zeit sind Petitionen beim Deutschen Bundestag in der öffentlichen Wahrnehmung sichtbarer geworden. Das ist gut so.
Gesprochen und berichtet wird aber vor allem über die öffentlichen Petitionen, die eine große Zahl an Mitzeichnungen erreicht haben. Ein weitverbreiteter Fehler sowohl in der öffentlichen Wahrnehmung als auch in der Berichterstattung ist, dass eine Petition als gescheitert gilt, wenn sie keine 50 000 Unterstützerinnen und Unterstützer erreicht. Das ist falsch.
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Der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages bearbeitet jede Petition; genau das ist unsere Stärke.
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Ich bin in der dritten Wahlperiode Mitglied dieses Ausschusses. Ich habe im letzten Jahr 300 Petitionen bearbeitet. Ich freue mich über jede weitere, die auf meinem Tisch landet; denn ich brauche sie, um Fehler in der Gesetzgebung zu finden, um Veränderungen in unserem Land aufgezeigt zu bekommen und darauf reagieren zu können. Jede Petition ist mir dabei gleich wichtig. Kein Thema ist zu groß oder zu klein, kein Anliegen zu laut oder zu leise, keine Beschwerde zu kompliziert oder gar zu einfach.
Petitionen wirken. Ein gutes Beispiel dafür – übrigens keine öffentliche Petition, sondern ein Brief einer einzelnen Person – ist eine Petition, die der Ausschuss einstimmig zur Berücksichtigung an die Bundesregierung überwiesen hat. Mehrere Ministerien arbeiten daran, diese Gesetzeslücke zu schließen. Es geht um Fälle, in denen Menschen mit psychischen Behinderungen ins Krankenhaus gehen müssen. Diese Menschen müssen schon im Alltag stets von jemandem professionell begleitet werden, von jemandem, dem sie vertrauen. Genau diese Begleitung brauchen sie auch ganz besonders dringend während der Zeit im Krankenhaus. Es geht hier nicht um die pflegerische Arbeit, sondern es geht darum, den Menschen zu erklären, was mit ihnen geschieht, und ihnen in der Situation zur Seite zu stehen. So etwas kann nur eine Vertrauensperson leisten. Nach der geltenden Rechtslage gibt es hier noch eine gesetzliche Lücke; denn die Sicherung der Begleitung ist nicht gewährleistet, da bislang die Kosten dafür nicht übernommen werden. Der Ausschuss wird ganz genau darauf achten, dass wir hier eine Lösung im Sinne der Betroffenen bekommen.
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Wie wichtig das ist, durfte ich bei meinen Besuchen im Wohnheim Spatzenberg in Löhne in meinem Wahlkreis erfahren. Hier sind Menschen mit Autismus zu Hause. Für sie ist ein Aufenthalt im Krankenhaus eine ganz besondere Herausforderung. Sie brauchen dabei diese Vertrauensperson; nur so ist eine Behandlung überhaupt möglich.
Auch wenn der Ausschuss sehr solide arbeitet, braucht er unbedingt ein Update seiner Abläufe und der Technik. Ich will schneller werden, viele Verfahren dauern mir oft zu lange. Ich will Petitionen transparenter bearbeiten. Bei jedem Onlineeinkauf kann man den Status der Bestellungen nachverfolgen. Das muss doch auch bei einer Petition möglich sein.
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Wir müssen verständlicher mit den Menschen kommunizieren. Ich will über meine Arbeit im Petitionsausschuss auch öfter öffentlich sprechen und für sie werben. Es sollte eine Debatte auch zur Hälfte eines Jahres erfolgen, dann ohne Vorlage eines Berichts. So können wir für den Ausschuss werben.
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Ich will, dass der Petitionsausschuss endlich eine App bekommt; ich glaube, das habe ich vor acht Jahren das erste Mal gesagt.
Persönlich finde ich es sehr spannend, auch über das Amt einer Bürgerbeauftragten, eines Bürgerbeauftragten auf der Bundesebene zu diskutieren. Er oder sie könnte in einem gestärkten Petitionswesen den Bürgeranliegen ein Gesicht geben: ein Anwalt für Bürgerinteressen, der in Abstimmung mit einem starken Petitionsausschuss und angebunden an ihn die Interessen der Bürger noch viel besser vertreten könnte und unsere Wahrnehmung in der Öffentlichkeit deutlich stärken könnte.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Jetzt hat das Wort der Kollege Johannes Huber, AfD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Mitbürger! Artikel 17 des Grundgesetzes gibt jedermann das Recht, sich schriftlich mit Bitten oder Beschwerden an den Deutschen Bundestag zu wenden. Seit die AfD im Jahr 2017 in den Deutschen Bundestag eingezogen ist, in dieses Hohe Haus, hat sich der zuvor kontinuierliche Rückgang an Petitionen umgekehrt.
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Der Beitrag der AfD ist es unter anderem, die Demokratie ein großes Stück wiederbelebt und Menschen zurück in den politischen Diskurs gebracht zu haben, die sich zuvor nicht mehr vertreten gefühlt hatten.
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Das Petitionsportal ist dabei das mit Abstand erfolgreichste Internetangebot des Deutschen Bundestages. Im Vergleich zum Vorjahr haben sich 40 Prozent mehr Bürger auf der Plattform registriert, um sogar 45 Prozent mehr Mitzeichnungen an öffentlichen Petitionen vorzunehmen. Leider ist dies aber aktuell neben nichtöffentlichen Petitionen und direkten Anfragen an die Abgeordneten die einzige Möglichkeit für die Bürger, während einer Legislatur an der Bundespolitik direkt mitzuwirken. Aus diesem Grund wollen wir die direkte Demokratie in unserem Land endlich weiter ausbauen.
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Sehr herzlich begrüße auch ich die Mitarbeiter des Ausschussdienstes.
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Zu jeder Petition, müssen Sie wissen, verfassen sie im Schnitt drei Schreiben, und sie konnten etwa ein Drittel aller Bürgeranliegen bereits im Vorfeld des parlamentarischen Prozesses durch unbürokratische Hilfe erledigen. Einen großen Dank an die fleißigen Mitarbeiter!
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Was die Veröffentlichung von Petitionen angeht, vermelde ich ebenfalls einen Erfolg. Sie erinnern sich an den UN-Migrationspakt, bei dem erst durch die Beharrlichkeit der AfD eine Petition veröffentlicht wurde
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und wir verhinderten, dass der Begriff „Zensurausschuss“, Herr Gremmels, zutrifft. Heute kann ich sagen – so viel sei gestattet –, dass auch durch unser wiederholtes Einwirken deutlich mehr veröffentlicht wird als früher.
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Einer politischen Willkür allerdings, welche Bürgeranliegen veröffentlicht werden, bleibt die Tür geöffnet.
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Daher wollen wir weiterhin die Richtlinie für öffentliche Petitionen überarbeiten und verbindlich in der Geschäftsordnung des Bundestags verankern. Sie können ja zustimmen.
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Liebe Mitbürger, im letzten Jahr ging der Preis für das Ministerium mit dem größten Handlungsbedarf an das Innenministerium. In erster Linie richteten sich die Zuschriften gegen den von der Bundesregierung vorgelegten Entwurf zur Änderung des Waffengesetzes. Dank über 50 000 Mitzeichnern gab es dazu im Januar 2020 eine öffentliche Anhörung mit dem Petenten.
Trotz des Lockdowns in diesem Jahr wird es voraussichtlich 15 öffentliche Anhörungen 2020 geben: im Dezember dieses Jahres über die Einberufung einer Expertenkommission mit Befürwortern und Kritikern des bundesweiten Coronavirus-Lockdowns. Sie sehen also: Während die Bundesregierung mit Christian Drosten und Lothar Wieler nur zwei sogenannte Experten gelten lässt, ist der Petitionsausschuss dank den Bürgern bereits einen Schritt weiter.
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Obwohl der Bundestagspräsident Dr. Schäuble erst gestern bei der Übergabe des Petitionsberichtes wiederholte, dass er Volksabstimmungen auf Bundesebene eigentlich gar nicht möchte, sehen das ungebrochen viele Bürger anders und reichten Petitionen dafür ein. Obwohl sogar der Koalitionsvertrag eine Expertenkommission dafür zum Ziel hat, haben es CDU, CSU und SPD bis heute nicht einmal geschafft, die Kriterien zu benennen, nach denen die Sachverständigen eingeladen werden. Ich muss also sagen: Nach drei Jahren hat die Große Koalition hier absolut gar nichts geschafft, womöglich weil sie es gar nicht schaffen möchte.
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Und wenn der Petitionsausschuss dann zusammen mit dem gesamten Bundestag mehrheitlich beschließt, ein Anliegen von Bürgern in Erwägung zu ziehen, wie es im Berichtsjahr zur Kfz-Versicherung und zum Lärmschutz zweimal der Fall war, dann fühlt sich die Regierung nicht an die Mehrheitsbeschlüsse gebunden und lehnt diese Verbesserungsvorschläge der Bürger einfach ab.
Das passt ins Bild; denn schon seit drei Jahren können wir von der AfD beobachten, wie die Legislative, der Bundestag, von der Bundesregierung nur zum Abnicken von Gesetzen benutzt wird,
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die nicht der verfassungsmäßige Gesetzgeber, sondern die Bundesregierung eigentlich selbst geschrieben hat.
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Wir als AfD haben dagegen ein komplett anderes Demokratieverständnis: Der Bürger schlägt vor, der Bundestag beschließt, und die Regierung setzt um – so rum. Wichtige Entscheidungen werden stattdessen oftmals bereits vorab im Hinterzimmer getroffen. Das wissen wir nicht erst seit dem Fall „Philipp Amthor“ oder den Lobbytätigkeiten einer Angela Merkel im Fall Wirecard.
Meine schriftliche Anfrage zu Nichtregierungsorganisationen wie dem in Berlin ansässigen und laut eigener Aussage von George Soros finanzierten European Council on Foreign Relations ergab,
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dass – Zitat – „Erkenntnisse aus diesen Kontakten in die vorbereitende Diskussion zu politischen Entscheidungen und zum Regierungshandeln einfließen“.
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Mitglieder dieser Denkfabrik – es sind auch Sie dabei – sind neben Regierungsvertretern wie Staatssekretär Niels Annen von der SPD etwa der mittlerweile kriegslüsterne Kandidat für den CDU-Parteivorsitz Norbert Röttgen und Führungskräfte der anderen angeblich demokratischen Parteien wie Franziska Brantner von den Grünen und Alexander Graf Lambsdorff von der FDP.
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Diese offensichtlichen Verflechtungen, Herr Korte, bestätigen die Vermutung vieler Bürger, dass sich die selbsternannten demokratischen Parteien, die „besseren Demokraten“ in diesem Land, in Wahrheit am liebsten am Parlament und damit an den Bürgern vorbei in den Hinterzimmern absprechen.
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Was wir aus diesem Grund brauchen, ist ein Lobbyregister, das seinen Namen verdient, und einen solchen Antrag wird die AfD morgen in den Bundestag einbringen.
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Die Fortsetzung folgt.
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Nächster Redner ist der Kollege Marc Biadacz, CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bürgergespräche, Ideen, Sorgen und Bedenken mitzunehmen, das ist die Aufgabe von Bundestagsabgeordneten und von allen anderen Abgeordneten in den Länder- und in den Kommunalparlamenten, also: Teilhabe ermöglichen und die Menschen einbinden für die Demokratie.
Direkte Beteiligungsformate, ja, die haben wir in der Verfassung. Die Mütter und die Väter des Grundgesetzes haben in Artikel 17 klar und deutlich das Petitionsrecht hineingeschrieben. Und jeder kann mitmachen, jede Frau, jeder Mann, egal welchen Alters, egal woher er kommt. Die Ideen, die Sorgen und die Bedenken, sie landen hier, liebe Kolleginnen und Kollegen, auf unseren Schreibtischen,
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auf dem Schreibtisch bei mir im Paul-Löbe-Haus und bei euch, auch bei der SPD.
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Und das ist richtig und gut so, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Meine Damen und Herren, ich bin Digitalpolitiker und überzeugtes Mitglied des Petitionsausschusses. Durch die Digitalisierung kommt der Petitionsausschuss auch in die Wohnzimmer der Bürgerinnen und Bürger. Der Petitionsausschuss auf der Seite des Deutschen Bundestags ist eine Erfolgsgeschichte. Wir sind Benchmark. Wir haben über 3 Millionen registrierte Nutzer für den Petitionsausschuss. Das ist ein Erfolg. Wir sind Benchmark, und darüber, glaube ich, müssen wir uns auch freuen.
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Lieber Herr Huber, das ist nicht Ihr Erfolg. Das ist nicht der Erfolg der AfD. Es ist der Erfolg der Demokratie, es ist der Erfolg des Grundgesetzes, dass diese Zahlen steigen. Also so ein Kokolores! Ein bisschen Demut bitte! Das ist nicht Ihr Erfolg!
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Herr Huber, ich habe mir eigentlich vorgenommen, über die AfD nichts zu sagen.
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Aber einen Punkt sage ich doch: Abnicken tut hier im Parlament niemand.
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Auch während der schweren Zeit der Pandemie waren wir alle hier. Wir haben gerungen, wir haben nachgedacht, und wir haben Entscheidungen gemeinsam mit der Regierung getroffen. Von „Abnicken“ bitte ich Sie Abstand zu nehmen. – Danke schön.
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Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sage als Digitalpolitiker auch ganz deutlich: Ja, wir müssen noch stärker in die sozialen Medien, auch der Petitionsausschuss. Lieber Kollege Schwartze von der SPD: Ja, wir brauchen auch eine App; da bin ich mit dabei. Lassen Sie uns das angehen; das kriegen wir hin. Denn den digitalen Stempel des Petitionsausschusses auf eine Petition, den gibt es nur hier bei uns im Deutschen Bundestag, und der wird hoffentlich in Zukunft dann auch auf der App drauf sein.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Petitionsausschuss wirkt. Und warum wirkt er? Ich erinnere mich an eine klasse Petition der Petentin Jule Schulte. Völlig zu Recht hat sie ein Thema aufgeworfen, über das auch ich erst einmal nachdenken musste: Periodenprodukte, also Binden, Tampons und Menstruationstassen. Hierfür hat ein erhöhter Mehrwertsteuersatz von 19 Prozent gegolten; das war eine Ungleichbehandlung. Wir im Deutschen Bundestag haben dann auf Initiative der Petentin, auf Initiative des Petitionsausschusses zum 1. Januar 2020 den niedrigeren Mehrwertsteuersatz von 7 Prozent umgesetzt. Wir haben bei der Anhörung im Petitionsausschuss leidenschaftlich diskutiert. Wir haben die 82 000 Unterzeichner sehr ernst genommen, und die Petentin hat präzise und mit Leidenschaft für ihr Anliegen gekämpft. Nun ist diese Ungleichbehandlung aufgehoben. Das ist ein Erfolg für den Petitionsausschuss, für die Bürgerinnen und Bürger und für die Petentin.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, Bausteine direkter Demokratie und parlamentarischer Demokratie widersprechen sich nicht. Mit dem Petitionswesen haben wir hier eine klasse Verbindung. Den Erfolg von knapp 14 000 Petitionen im Jahr 2019 lassen wir uns von niemandem nehmen; darauf sind wir alle hier in diesem Hohen Haus stolz.
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Meine Damen und Herren, ich möchte all denjenigen, die noch keine Petition im Deutschen Bundestag eingereicht haben, von denen noch keine Petition auf unseren Schreibtischen im Paul-Löbe-Haus oder woanders eingetroffen ist, sagen: Nehmen Sie dieses Recht wahr! Geben Sie uns im Petitionsausschuss noch mehr Arbeit! Ich freue mich auf diese Arbeit auch in Zukunft. Es macht wirklich große Freude, auch wenn es viel Arbeit ist.
Ich danke all denjenigen, die daran mitarbeiten: dem Ausschuss, der AG, den Kolleginnen und Kollegen im Ausschuss. Lassen Sie uns so weitermachen – für die Petitionen, für die Bürgerinnen und Bürger und für die Demokratie in diesem Land.
Danke schön.
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Das Mikrofon wird für den Kollegen Manfred Todtenhausen, FDP, vorbereitet.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Und vor allen Dingen: Liebe Bürgerinnen und Bürger! Wir haben gerade den Redebeitrag der AfD gehört. Seien Sie versichert: Ich habe da eine ganz andere Betrachtungsweise. Ich finde dieses Medium viel zu wichtig, um es für Polemik zu nutzen.
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Wir reden heute über ein wichtiges Bürgerrecht. Sie alle haben das Recht, sich mit Bitten und Beschwerden an dieses Parlament zu wenden.
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So steht es sogar im Grundgesetz. Das Petitionsrecht ist für alle Bürgerinnen und Bürger gedacht, die sich ungerecht behandelt fühlen oder Einfluss auf parlamentarische Arbeit nehmen wollen. Aber selbst wenn Petitionen von Vereinen, von einer Landeskirche oder von einem Unternehmen kommen, kümmern wir uns darum. Das alles hat es in dieser Wahlperiode schon gegeben. Egal von wem die Eingabe kommt, wir bearbeiten jede.
Leider wird immer wieder der Eindruck erweckt – wir haben Ähnliches gerade schon gehört –, dass man mindestens 50 000 Unterschriften braucht, damit der Petitionsausschuss eine Petition annimmt oder wir tätig werden. Das ist falsch. Eine einzige Unterschrift genügt, Ihre Unterschrift genügt. Jede Petition bekommt die gleiche Beachtung.
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Der Unterschied ist der: Wenn eine Petition mehr als 50 000 Unterschriften erhält, wird sie im Petitionsausschuss öffentlich beraten. Wir laden dann die Petenten und Regierungsvertreter ein. Außerdem übertragen wir die Anhörung im Parlamentsfernsehen, sodass sie jeder mitverfolgen oder später abrufen kann.
An dieser Stelle auch mal ein großes Lob. Wir freuen uns ja immer, wenn Staatssekretäre oder Abteilungsleiter als Regierungsvertreter zu uns kommen. Ich muss aber einmal Jens Spahn loben; denn dieser Minister war bereits zweimal persönlich bei uns. Das hinterlässt natürlich einen ganz anderen Eindruck.
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Dies könnte Vorbild für andere Ministerinnen und Minister sein. Wir würden uns jedenfalls darüber freuen.
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Bei unseren öffentlichen Anhörungen zeigt sich: Der Petitionsausschuss drückt sich auch nicht vor schwierigen Themen; wir haben einige gerade schon gehört. Zum Beispiel haben wir über den UN-Migrationspakt öffentlich gesprochen, über die Forderung, den Holodomor in der Ukraine als Völkermord anzuerkennen, und auch darüber, ob man Taiwan als eigenständiges Land diplomatisch anerkennen sollte. Eines muss man klar sagen: Der Petitionsausschuss trifft keine politische Entscheidung – die Erwartung haben manche –; aber er weist die Regierung auf Missstände hin.
Letztes Jahr forderte eine junge Frau – wir haben das schon gehört –, den Mehrwertsteuersatz auf Tampons und Binden zu senken. Wir haben das öffentlich beraten. Der besondere Erfolg besteht nicht nur darin, dass es durchgesetzt wurde, sondern auch in der kurzen Zeit, die es gebraucht hat, bis dieses Gesetz in Kraft getreten ist, nämlich weniger als elf Monate. Für ein normales Gesetzgebungsverfahren ist das wirklich sehr schnell.
In letzter Zeit erreichen uns aber auch zahlreiche Petitionen, in denen Probleme beschrieben werden, die sich aus Coronamaßnahmen ergeben haben, zum Beispiel aus der Reisebranche oder von Schaustellern. Ich finde, wir müssen uns Gedanken über ein Express-Petitionsverfahren machen; denn das übliche Petitionsverfahren dauert manchmal zu lange. Deshalb brauchen wir eine Überholspur für zeitaktuelle Petitionen.
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Im Mai haben zum Beispiel Soloselbstständige, unter anderem Unternehmensgründer und Künstler, eine Petition zum Thema Coronahilfen eingereicht. Sie fordern die Regierung auf, neben laufenden Betriebskosten auch den Lebensunterhalt, Miete und Krankenversicherung als notwendige Ausgaben anzuerkennen. Eines ist sicher: Den Soloselbstständigen muss jetzt geholfen werden, und nicht erst, wenn die Pandemie vorbei ist.
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Eine Anhörung dazu ist leider erst im Dezember möglich – so sind die Regularien –, und das kann für viele Betroffene schon zu spät sein.
Wir waren uns letztes Jahr im Petitionsausschuss einig, dass sich der Bund an der Rettung der Schwimmbäder beteiligen sollte, damit weiterhin alle Kinder schwimmen lernen – so eine Petition der DLRG. Die Regierung sollte sich daran halten, damit wir in Zukunft weniger tödliche Badeunfälle haben.
Der Ausschuss ist sich nicht immer einig – das muss man auch mal klarstellen –, und auch nicht jeder Petent bekommt eine Lösung nach seinen Vorstellungen. Man kann dem Petenten dann aber sagen, er sollte nicht entmutigt sein; denn wenn sich die Zusammensetzung der Bundesregierung durch eine Wahl ändern sollte – wir haben ja bald eine –, hat er die Möglichkeit, die gleiche Petition noch einmal einzureichen. Je nachdem, wie die Mehrheitsverhältnisse sind, kann sich dann auch das Ergebnis ändern.
Viele Petenten ärgern sich darüber, dass sie lange nichts vom Ausschuss hören, nachdem sie ihre Petition eingereicht haben; wir haben das schon gehört. Wir müssen schneller und besser werden. Wir brauchen ein Onlineangebot, sodass der Petent jederzeit einsehen kann, wie der Sachstand seiner Petition ist; Kollege Schwartze hat etwas Ähnliches gesagt. Ich glaube, wir sind alle dieser Meinung.
Die allermeisten Petitionen beraten wir übrigens nicht öffentlich. Das wäre sonst zu viel. Wir haben es gehört: 13 000 Petitionen gab es im vergangenen Jahr. Es wäre gar nicht möglich, das alles öffentlich zu behandeln. Deshalb mein herzlicher Dank an alle, die hinter den Kulissen daran gearbeitet haben. Das sind die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Petitionsausschusses, der Fraktionen und natürlich unsere Abgeordneten, die auch eine hervorragende Arbeit leisten.
Ich komme zum Schluss. Ja, liebe Kollegen, ich möchte mich auch bei Ihnen bedanken, bei den Kollegen aus allen Fraktionen, für die kollegiale Zusammenarbeit, für das Streiten für den Petenten und für die Suche nach gemeinsamen Lösungen. So, wie wir das untereinander machen, gibt es das in keinem anderen Ausschuss. Wir diskutieren sachorientiert. Es geht um den Petenten, um die Sache. Wir wollen gemeinsam möglichst vielen Menschen helfen. Das soll so sein, und das muss auch so bleiben.
Vielen Dank.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Kerstin Kassner, Die Linke.
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Werter Herr Präsident! Einen wunderschönen guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Bürgerinnen und Bürger! Auch ich möchte meinen Vortrag mit einem Dank beginnen. Zuerst der Dank an Sie, liebe Bürgerinnen und Bürger, die Sie uns mit Ihren Petitionen die Augen öffnen, die Sie uns sagen, wo die Säge klemmt, wo Sie Probleme haben und worum wir uns kümmern müssen.
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Das machen Sie in einzigartiger Weise. Sie vertrauen uns mit Ihren Petitionen wirklich viel, auch Persönliches, an. Herzlichen Dank dafür!
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Der zweite Dank gilt unserem Ausschusssekretariat. Hier wird wirklich umfangreiche Arbeit geleistet, die man nur würdigen kann, und das trotz nicht besetzter Stellen, was sehr schmerzlich ist für die Menschen, die diese Arbeit miterfüllen müssen. Also: Herzlichen Dank!
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Ein weiterer Dank gebührt unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Fraktionen oder den Büros, die wir selbst vertreten. Auch da sind unwahrscheinlich engagierte Leute am Werk. Denen möchte ich heute unbedingt auch mal danken.
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Eine Stunde Debattenzeit im Plenum steht dem Petitionsausschuss jedes Jahr zur Verfügung; das ist meines Erachtens zu wenig. Wir alle sind dafür verantwortlich, wie gut unser Petitionsausschuss arbeitet, und ich könnte mir durchaus vorstellen, dass es bei der Verbesserung unserer Arbeit noch Luft nach oben gibt. Wir haben uns entwickelt, ohne Frage; aber mir geht es einfach zu langsam, zu schleppend. Ich nenne drei Argumente, die das erhärten sollen:
Das erste Argument. Wir haben gehört, die Zahl der Petitionen, die uns erreichen, erhöhe sich nur sehr moderat, also 13 500 im Jahre 2019. Aber dahinter verbirgt sich ja viel mehr. Wenn wir all die Massenpetitionen, die Unterschriften bei öffentlichen Petitionen dazuzählen, werden es viel, viel mehr. 3 Millionen Nutzer der Plattform „Petitionen des Bundestages“ – das sagt doch etwas. Das sind viele Menschen, die einfach Wege suchen, um mit ihrer Unzufriedenheit fertigzuwerden.
Schauen wir uns an, was sich hinter diesen Petitionen verbirgt. Die Petition zum Gesetz über die bedarfsgerechte Planung der Mitarbeiter in den Krankenhäusern hatte beispielsweise fast 200 000 Unterstützer. Ist das nicht so aktuell wie nur irgendetwas?
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Weitere Themen beschäftigten sich mit einem umfassenden, sektorenübergreifenden Gesetz für Nachhaltigkeit. Das ist ein Vorschlag aus der Bevölkerung zum Klimaschutz; den müssen wir doch ernst nehmen.
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Ich glaube, wir sind gut beraten, wenn wir das, was die Bürger uns hier auf den Tisch legen, noch viel ernster nehmen. Wir brauchen diese unmittelbare Beteiligung der Bürger, diesen Austausch mit den Bürgern. Nicht zuletzt hat hier ja auch unser Bundestagspräsident Wege aufgezeigt. Ich erinnere nur an den Bürgerrat, wo diese direkte Einflussnahme auch gewünscht wird.
Ein zweiter Punkt ist, dass wir uns eigentlich vorgenommen hatten, in dieser Legislaturperiode sehr viel weiter zu kommen, nicht wahr, Herr Vorsitzender Wendt? Wir saßen mehrmals in Klausuren zusammen und haben überlegt: Was können wir noch besser machen? – Ich kann nur sagen: Wir haben sechs Vorschläge eingebracht, alle sind abgelehnt worden. Ein Vorschlag war: öffentliches Tagen unseres Petitionsausschusses – das hätte uns gutgetan –,
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natürlich unter Einhaltung des Datenschutzes, ohne Frage. Der zweite Vorschlag war, das Quorum abzusenken. „25 000 Unterstützer für die Behandlung in der öffentlichen Sitzung“ war dann der kleine Kompromiss. Abgelehnt! Ein weiterer Vorschlag war, einen Hilfsfonds einzurichten, der Menschen in besonderen Härtefällen helfen und unterstützen sollte. Abgelehnt! Also, liebe Kolleginnen und Kollegen, hier ist noch sehr viel Entwicklung möglich.
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Der dritte Grund, den ich noch erwähnen möchte, ist unser eigenes Selbstverständnis als Mitglieder dieses Parlamentes. Und da kann ich es nicht verstehen, wenn sich die Kollegen der regierungstragenden Fraktionen sozusagen als Türsteher für die Regierung verstehen und einfach nicht zulassen, dass bestimmte Dinge an die Regierung herangetragen werden.
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Schauen Sie doch einmal, wie man uns diese Zusammenarbeit dankt: Hier sitzt nicht ein einziger Minister,
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– Oh, Entschuldigung! Danke, dass Sie da sind. Aber es sind viel zu wenige, da geben Sie mir recht. Das soll keine Nichtachtung der Arbeit unserer Staatssekretäre sein.
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Wir haben an vielen Stellen schon sehr gut zusammengearbeitet. Es tut mir leid; ich habe das aus der Perspektive einfach nicht gesehen. Ich entschuldige mich. Trotzdem: Es könnten mehr sein.
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Wir haben also noch viel zu tun. Das möchte ich an dieser Stelle sagen. Wenn wir uns nicht dazu durchringen konnten, der Regierung einen Beschluss zur Berücksichtigung auf den Tisch zu packen, und wir nur zwei Erwägungsbeschlüsse hatten, die dann auch noch von der Regierung abgelehnt wurden, dann, so meine ich, ist da wirklich noch Luft nach oben. Unser Petitionsausschuss ist nur so gut, wie wir – alle Mitglieder dieses Ausschusses und natürlich alle Mitglieder dieses Hohen Hauses – ihn machen. Lassen Sie uns dieses Problem weiter angehen!
Vielen Dank.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Corinna Rüffer, Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist völlig richtig: Wir haben echt Besseres zu tun, als uns hier auf die Schulter zu klopfen, das Petitionswesen zu loben und immer zu wiederholen, dass es eine Perle der Demokratie ist; da wird ja keiner widersprechen. Wir alle, die wir im Ausschuss arbeiten, wissen doch, dass es echt noch ganz viel Luft nach oben gibt. Wir müssen die Arbeit des Petitionsausschusses viel besser machen.
Das hat ganz viel damit zu tun, dass die Verantwortung, die wir tragen, von Jahr zu Jahr wächst. Wir können das im Moment an der Statistik ablesen. Herr Wendt und andere haben es gesagt, und es stimmt ja auch: Die Anzahl der Nutzerinnen und Nutzer wächst, sie ist um 40 Prozent gestiegen. Die Anzahl der Mitzeichnungen ist sogar um fast 50 Prozent gewachsen. Das zeigt, dass das Instrument bei den Bürgerinnen und Bürgern ankommt. Das zeigt aber auch, dass wir eine Verantwortung dafür tragen, mit diesem Instrument verantwortungsbewusst und so gut wie möglich umzugehen.
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Denn wir im Petitionsausschuss haben das Beste zu tun – ich meine das völlig ernst –, was Abgeordnete des Deutschen Bundestags überhaupt tun können: Wir können, müssen und vor allen Dingen dürfen uns für die Anliegen der Bürgerinnen und Bürger direkt einsetzen, nicht vermittelt über Ausschüsse; die Bürgerinnen und Bürger können sich direkt an uns wenden. Sie sehen uns als die Anwälte der Menschen, als ihr Sprachrohr, die Verteidigerinnen und Verteidiger ihrer Interessen.
Ich stehe hier nicht zum ersten Mal. Vielmehr habe ich seit einigen Jahren die Möglichkeit, die Bilanz des Petitionsausschusses zu bewerten. Jedes Jahr stehe ich hier und stelle, glaube ich, ganz explizit die Stärken dieses Ausschusses in den Mittelpunkt, aber sage auf der anderen Seite auch: Es gibt erhebliche Schwächen, an denen wir arbeiten müssen. Wir haben Erfolge zu feiern, aber wir vertun Woche für Woche Chancen. Das muss sich ändern, meine sehr verehrten Damen und Herren!
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Deswegen jammern wir nicht nur, sondern legen Vorschläge vor. Frau Kassner hat es gerade gesagt: Wir haben uns im Ausschuss in der Obleuterunde zusammengesetzt. Wir haben seitenweise Vorschläge vorliegen; wir müssen sie einfach umsetzen. Wir diskutieren seit Jahren darüber. Wir müssen endlich mit der Umsetzung beginnen. Diese Legislaturperiode darf nicht verstreichen, ohne dass das Petitionswesen tatsächlich erheblich verbessert wird.
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Es muss durchlässiger und transparenter werden. Es muss leichter zugänglich, barrierefrei sein für alle Menschen in diesem Land. Wir müssen die Mitwirkung an unserem demokratischen Gemeinwesen verbessern.
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Verwaltung, die Kolleginnen und Kollegen sind ganz tolle Leute. Sie tun ganz viel dafür, dass im Einzelfall geholfen wird, und im Einzelfall funktioniert das auch. Dafür gibt es ja schöne Beispiele, die im Jahresbericht dargelegt sind. Für ihre Arbeit will ich ihnen noch einmal danken.
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Vor allen Dingen bin ich aber von den Bürgerinnen und Bürgern beeindruckt. Ich bin beeindruckt von dem Willen, der Unverdrossenheit und dem großen Vertrauen der Menschen in diesem Land, das sie uns, dem Petitionsausschuss und dem gesamten Parlament, entgegenbringen. Das ist wirklich bemerkenswert.
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Ich bin auch berührt und bewegt davon, wie sehr sich Menschen öffnen, uns mit ihren persönlichen Sorgen, Ängsten und auch ihren Hoffnungen begegnen und uns um Unterstützung bitten. Über 50 Prozent aller Eingaben sind dieser Natur; sie sind höchstpersönlich. Dieses persönliche Vertrauen ist wichtig; wir dürfen es nicht verspielen.
Schauen wir noch einmal hin, um was es geht. Es geht ganz häufig um Probleme mit Anträgen bei Jobcentern, Krankenversicherungen, Versicherungen im Allgemeinen. Menschen haben es mit Sanktionsmaßnahmen zu tun, sie sind in existenziellen Krisen, und sie wenden sich an uns, das Parlament, weil sie Hilfe im Einzelfall brauchen.
Der Präsident hat gestern gesagt: Wir können als Parlament Gesetze so gut schreiben, wie wir wollen, in der Exekutive, in der Anwendung, wird es immer Probleme geben. – Deswegen brauchen die Bürgerinnen und Bürger diesen Petitionsausschuss, um im Einzelfall wirklich aus der Krise herauszukommen. Das ist unsere Aufgabe.
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Auf der anderen Seite gibt es ganz viele kreative Menschen mit hohem Potenzial in Deutschland, die sich an den Petitionsausschuss wenden mit Vorschlägen, um unser Gemeinwesen nach vorne zu treiben. 2019 – es ist nicht weiter verwunderlich – stand natürlich das Thema Klimaschutz im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit: Tempolimit auf Autobahnen, Klimaschutzgesetz, Bienenschutz, Klimanotstand – alles Petitionen mit über 50 000 Unterstützerinnen. Sie von der AfD – Sie können noch so dreckig lachen, ja – haben es mit allen Mitteln versucht, aber Sie konnten diesen Ausschuss nicht kapern, es ist Ihnen nicht gelungen.
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Menschen, die sich konstruktiv an diesem Land beteiligen wollen, haben diese Vorschläge eingereicht. Jetzt müssen wir den Auftrag daraus ziehen, es umsetzen. Helfen wir mit dabei, diesen Ausschuss auf die Beine zu stellen! Schöpfen wir seine Rechte im Sinne der Bürgerinnen und Bürger aus! Wecken wir den schlafenden Riesen! Das ist die Aufgabe und mein großer Wunsch an diesem Morgen.
Vielen Dank.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Jens Lehmann, CDU/CSU.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Die Tätigkeit des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages im Jahr 2019“, hinter dem doch recht unscheinbar wirkenden Titel verbirgt sich mehr, als es zunächst erscheint, viel mehr. Zum einen ist die Anzahl der eingereichten Petitionen – meine Kollegen erwähnten es bereits – abermals gestiegen, um 2,5 Prozent auf insgesamt 13 529 Petitionen, die zeigen, wie sehr die Bürger vom Instrument der Petition Gebrauch machen, um auf Missstände hinzuweisen oder auch Gesetzesänderungen anzuregen. Mein geschätzter Kollege Oster hat es letztes Jahr sehr treffend formuliert – ich zitiere –:
Das Petitionsrecht ist … ein starker Baustein in Sachen direkter Demokratie.
Die Bürger bauen auf diesen Stein,
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sie nutzen dieses Element der direkten Demokratie, um sich an der Architektur des Staates zu beteiligen; das belegen die Zahlen.
Die gestiegene Zahl der eingereichten Petitionen, die im Tätigkeitsbericht beschrieben sind, zeigt jedoch noch etwas anderes, was sich hinter dem Titel verbirgt, nämlich die Mehrarbeit für alle Beteiligten: die Mitarbeiter des Ausschusses und der Fraktionen, die Mitarbeiter der Abgeordnetenbüros und die Mitglieder des Ausschusses. Mich freut dieses Mehr an Arbeit. Es gibt uns die Möglichkeit, dass wir uns – neben der Arbeit in den Wahlkreisen – direkt mit den Anliegen der Bürger auseinandersetzen und im Rahmen der Möglichkeiten des Petitionsausschusses für Verbesserungen sorgen.
Lassen Sie mich dies anhand ausgewählter Beispiele aus dem aktuellen Jahresbericht etwas näher erläutern. Die derzeit wohl bekannteste Petition ist die Petition „Rettet die Bäder!“ der DLRG. Hier war sich der Petitionsausschuss fraktionsübergreifend einig: Es muss etwas geschehen, wir müssen dafür sorgen, dass die Bäderschließungen gestoppt werden, damit vor allem unseren Kindern das lebensnotwendige Schwimmen beigebracht werden kann. Daher bitten wir mit dem höchsten Votum des Ausschusses, dass sich die Bundesregierung dieser Petition annimmt.
An dieser Stelle möchte ich unseren Bundesinnenminister Horst Seehofer freundlich an den in Aussicht gestellten Goldenen Plan erinnern, den er im vergangenen Dezember auf der Mitgliederversammlung des Deutschen Olympischen Sportbundes erwähnt hat.
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Nicht nur die DLRG, sondern vor allen Dingen viele Breitensportler und Spitzenathleten freuen sich, wenn dieser Plan zur Anwendung kommen wird.
Im Petitionsausschuss bekommen wir auch Petitionen eingereicht, welche die Bundeswehr betreffen. Als Mitglied des Verteidigungs- und des Petitionsausschusses habe ich an dieser Stelle dankenswerterweise einen sehr guten Überblick über die Sachlage und kann diese aus einer weiteren Perspektive betrachten. So erreichten uns beispielsweise Petitionen, welche militärische Tiefflüge oder das Betanken in der Luft stark einschränken wollten, weil die Beschränkung die Lebensqualität in den betroffenen Gebieten erhöhen würde. Demgegenüber stehen die militärischen Erfordernisse der Bundeswehr. Solche Petitionen zeigen uns also, wie schwierig es manchmal ist, wenn unterschiedliche Interessen aufeinandertreffen.
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Die eingereichten Petitionen zeigen uns vor allem aber, dass Schicksale hinter den Anliegen stecken. Die Eingaben an den Bundestag können auch Bereiche direkt vor unserer eigenen Haustür berühren. Ich erlaube mir daher, zwei Petitionen zu erwähnen, die aus meinem Wahlkreis – Leipzig I – kommen und die mich inhaltlich besonders berührt haben:
Die erste Petition richtet sich gegen eine Flugroute am Leipziger Flughafen; hier wollen Menschen aus meiner Nachbarschaft Änderungen an den Flugrouten erreichen.
Die zweite Petition befasst sich mit der Aufarbeitung von DDR-Unrecht, nämlich den sogenannten gestohlenen Kindern der DDR. Sie kennen es vermutlich noch aus der letzten Aussprache: Es geht um Kinder, die gegen den Willen ihrer Eltern zur Adoption freigegeben wurden, wo teilweise sogar der Tod von Säuglingen durch die staatlichen Stellen der DDR vorgetäuscht wurde. Wenn wir hier als Petitionsausschuss unseren Beitrag dazu leisten können, dass den Betroffenen geholfen wird, und eine Lösung zum Wohle der Betroffenen finden, dann erfüllt mich die Arbeit im Petitionsausschuss mit großem Stolz.
Ich möchte aber auch vor allzu großen Erwartungen an den Petitionsausschuss warnen. Wir sind eben keine Gerichtsinstanz, die Entscheidungen in die eine oder andere Richtung fällt. Wir befassen uns mit Themen und sprechen im höchsten Fall deutliche Empfehlungen an die zuständigen Bundesministerien aus, wenn etwas geändert werden kann und sich ein Ministerium mit einem Thema befassen soll. Wir empfehlen aber auch, Petitionen abzulehnen, weil wir dem Anliegen nicht entsprechen können. Zusammengefasst: Auch wenn unsere Voten nicht immer im Sinne des Petenten sind, sie sind vor allem wohlüberlegt und gründlich durchdacht; denn wir nehmen jede Petition sehr ernst und prüfen umfassend den Inhalt, um zu unserem Votum als Berichterstatter zu kommen.
Daher möchte ich alle Bürger auffordern, von den Möglichkeiten des Petitionswesens Gebrauch zu machen. Wenden Sie sich direkt an den Deutschen Bundestag, nutzen Sie das im Grundgesetz verankerte Recht, sich mit Bitten oder Beschwerden an die Volksvertretung zu wenden! Wir werden uns um diese Bitten kümmern.
Abschließend möchte ich mich noch einmal bei allen Abgeordneten, den Mitarbeitern des Ausschusses und der Fraktionen sowie den Mitarbeitern der Abgeordnetenbüros für die akribische und umfassende Arbeit bedanken: Sie sorgen dafür, dass jede Petition die ihr zustehende Aufmerksamkeit bekommt.
Herzlichen Dank.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Bela Bach, SPD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Besucherinnen und Besucher! Das Petitionsrecht ist ein Grundrecht, das seit 1849 in unterschiedlichen deutschen Verfassungen verankert ist. Seit 1849 haben sich aber ein paar Dinge verändert. Zum Beispiel gehen Petitionen nicht mehr nur per Brief und per Fax bei uns ein, sondern 3,3 Millionen Menschen nutzen das Internetportal des Deutschen Bundestages, das Petitionsportal.
Das hat im Übrigen auch nichts mit der AfD zu tun. Ich finde es immer wieder beeindruckend, wie bei Ihnen Selbst- und Fremdwahrnehmung diametral auseinandergehen.
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Die Zahlen für Eingaben waren auch schon einmal rückläufig. Woran liegt das? Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich behaupte, wir brauchen uns nichts vorzumachen: In der Gunst um öffentliche Aufmerksamkeit haben uns private Kampagnenplattformen zum Teil den Rang abgelaufen, sie suggerieren Einflussnahme, aber laufen eigentlich ins Leere. Das wäre aber nicht nötig, wenn die Petitionen vielmehr an den Deutschen Bundestag gerichtet würden. Deswegen müssen wir unser sehr gutes Petitionswesen, das hier auch schon vielfach gelobt worden ist, noch bürgerfreundlicher und noch offener ausgestalten.
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Die gesellschaftlichen Erwartungen an die Öffentlichkeit parlamentarischer Abläufe haben sich nämlich verändert, sie sind ganz erheblich gewachsen. Wenn wir unser Ohr am Gleis der Zeit haben wollen, dann müssen wir mit der Zeit gehen und diese Brücke neu bauen. Dazu gehört für mich ganz stark der Ausbau der Öffentlichkeitsarbeit. Zum Beispiel braucht es im 21. Jahrhundert endlich einen eigenen Auftritt in den sozialen Medien. Denkbar wäre auch eine Zusammenarbeit mit der Bundeszentrale für politische Bildung oder auch – wie mein Kollege Schwartze schon vorgeschlagen hat – eine Halbjahresbilanz des Ausschusses über diesen Jahresbericht hinaus, weil auch das Aufmerksamkeit erzeugt.
Wichtig wäre es auch, das Quorum für öffentliche Beratung von Petitionen abzusenken. Ich denke hier zum Beispiel an eine Absenkung der Mitzeichnungen auf 30 000 und auch an eine Verlängerung der Mitzeichnungsfrist auf acht Wochen.
Die aktuelle Kampagne, die unter dem Slogan „Hey Bundestag! Lass uns reden!“ läuft, hat in dieser Woche über 57 000 Mitzeichnerinnen und Mitzeichner erreicht. Erforderlich gewesen wären 50 000. Hier geht es um die CO2-Kennzeichnung von Lebensmitteln. Den Petenten war die öffentliche Beratung der Petition ein sehr wichtiges Anliegen. Es ist zwar schön, dass so viele Bürgerinnen und Bürger die Petition mitgezeichnet haben, aber es wäre erfreulich, wenn wir die Hürden hier weiter absenken würden und dafür sorgen könnten, dass wichtige gesellschaftliche Debatten nicht nur von Firmen angestoßen werden, sondern vor allem auch von einzelnen Bürgerinnen und Bürgern.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, die öffentlichen Diskussionen der vergangenen Wochen waren keine Sternstunden des Parlamentarismus. Sie waren geprägt von einem aufgeblähten Bundestag im Zuge der Wahlrechtsreform und von fahnenschwingenden Nazis auf den Stufen des Reichstags. Ich möchte an dieser Stelle die Gelegenheit nutzen und ganz ausdrücklich dafür danken, dass es dem Petitionsausschuss gemeinsam mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschussdienstes in diesem Jahr gelungen ist, so viele Petitionen zu bearbeiten. Das ist eine der wichtigsten Brücken zum Parlament.
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Begegnen wir deshalb dem wachsenden Bedürfnis der Bevölkerung nach Transparenz und nach Öffentlichkeit im Parlament konstruktiv. Lassen Sie uns den Petitionsausschuss digitaler, moderner und damit nahbarer machen.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Gero Storjohann, CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Schluss der Debatte möchte ich auf einige Dinge eingehen, die hier auch vorgeschlagen worden sind. Aber eines möchte ich hier abweisen: Wir sind kein „schlafender Riese“, Frau Rüffer.
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Wir sind sehr aktiv im Rahmen unserer Möglichkeiten. Dass man sie verbessern kann, darin sind wir uns sicherlich auch einig.
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Ich möchte darauf hinweisen, dass ich seit 2005 im Obleutegremium bin und die Entwicklung kenne. 2003 sind wir nach Schottland gefahren, um uns Onlinepetitionen überhaupt anzusehen. Das war damals neu. Wir haben das System gekauft, und wir haben es dann im Laufe der Zeit auch anpassen können, verbessern können. Das machen wir nicht als Petitionsausschuss, das macht die Bundestagsverwaltung, in der wir nur ein kleines Rädchen sind und andere das für uns entscheiden müssen. Und dann stellen wir fest, dass die Kapazitäten nicht ausreichen für die neue Zeit, und es braucht auch seine Zeit, bis etwas ausgeschrieben ist und angepasst wird.
Dann stellen wir fest, dass es nicht mehr reicht, eine Stunde im Ausschuss zu diskutieren. Woran liegt das? Weil wir keinen eigenen Sitzungssaal haben. Wir müssen also vor den anderen diskutieren: von 8 bis 9 Uhr. Wir können das auch von 7 bis 9 Uhr oder von 6 bis 9 Uhr machen; das sind noch unsere Alternativen.
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– Ja, ist schon klar. – Aber das ist unser Problem. Wenn wir intensiver einsteigen wollen, dann müssen wir einen eigenen Sitzungssaal haben. Jeder kann sich vorstellen, wann eine Umsetzung in der heutigen Situation der Fall wäre.
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Wir haben mehr Zuspruch. Wir haben auch mehr Probleme, in die wir einsteigen wollen. Das heißt, wir machen mehr Vor-Ort-Termine, wir führen mehr Berichterstattergespräche. Berichterstattergespräche bedeutet, dass die Fachleute aus den Ministerien, sei es aus Bonn oder Berlin, kommen und dass wir als Fraktionen hinterfragen. Ein bis zwei Stunden dauert jedes Berichterstattergespräch. Sie nehmen zu. Wir haben die öffentlichen Beratungen. Wir haben 52 Wochen, und wir können nur den Montag nehmen, weil wir keinen Sitzungssaal finden, weil auch andere Ausschüsse Gesetzesberatungen machen. Wenn jetzt die Forderung kommt, dass wir noch mehr öffentliche Beratungen machen sollen, dann ist das irgendwann nicht mehr leistbar. Deswegen haben wir 50 000 Unterzeichner gesagt. Frau Bach, es gibt ganz wenige Petitionen, die zwischen 20 000 und 50 000 liegen. Wenn wir einen freien Termin haben, wenn wir also keine 50 000er-Petition haben, dann sagen wir selbstverständlich in der Obleuterunde: Und was können wir jetzt nehmen, um die Lücke zu füllen? – Dann nehmen wir eine 15 000er oder 5 000er. Da sind wir uns auch immer ganz schnell einig.
Das heißt, wir müssen arbeitsfähig bleiben im Rahmen unserer beschränkten Möglichkeiten, die wir leider haben. Dafür setzen wir uns ein. Was wir brauchen, ist eine Umstellung von der Papierakte auf die digitale Akte.
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Aber wir haben die Papierakte. Die Akten werden jahrzehntelang aufbewahrt, weil es teilweise Petenten gibt, die sehr lange mit uns in Kontakt sind.
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Glauben Sie mir, ich freue mich, wenn ich eine Akte abarbeite. Das sind dann drei Aktenordner, die ich schon mal zur Seite packen kann; besser, als wenn ich diese kleinen dünnen immer nehme. Deswegen: Die Umstellung ist das Problem. Wir müssen das parallel machen, mit einem Mitarbeiterstarb, der nicht wächst. Ich bearbeite den Bereich Verkehr. Seit über einem Jahr ist die Referentenstelle im Bereich Verkehr nicht besetzt – nicht weil wir das nicht wollen, sondern weil es Rechte der Mitarbeiter gibt. Man kann gegen eine Personalbesetzung klagen, und das wird auch gemacht. Dann ist ein Jahr im Bereich Verkehr Stillstand. Ich kann ja keinen aus dem Sozialausschuss da hinsetzen; denn was beim Verkehr bearbeitet werden muss, ist speziell.
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Insofern gibt es Dinge, die wir leider nicht verändern können. Was wir können, ist: Wir können unsere Digitalität vorantreiben. Das wird auch keine Wunder bewirken. Wir sind sechs Fraktionen mit sechs Meinungen, manchmal sieben. Das bedeutet – das erleben wir in jedem anderen Ausschuss auch –, dass es länger dauert, zu einer Entscheidung zu kommen. Dann sind vier Fraktionen einer Meinung, dann kommt das Thema im Ausschuss an und Manfred Todtenhausen sagt: Also, ich habe mit meinen Leuten gesprochen, wir wollen noch einmal eine Berichterstattung haben. – Dann läuft die Petition noch einmal drei Monate, bis wir sie wieder haben. Das ist alles richtig, es dient der Sache, aber es verlängert den Entscheidungsprozess. Ich würde mich freuen, wenn ich von meinem Finanzamt alle drei Wochen Bescheid bekomme: Dein Antrag auf Lohnsteuerausgleich oder die Einkommensteuererklärung hat jetzt diesen Bearbeitungsstand. – Bekomme ich aber nicht. Wenn ich einen Bauantrag stelle, bekomme ich das auch nicht.
Wir haben einige Petenten, die bei uns in den Büros bekannt sind und auch die Mitarbeiter entsprechend kontaktieren. Das ist auch eine Sache. Deswegen versuchen wir, die Berichterstatter öffentlich nicht transparent zu machen.
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– Ja, mag ja sein; Sie haben dann ja Glück. – Wir versuchen, das nicht transparent zu machen, sondern es geht um die Sache. Es ist auch ein gewisser Schutz für unsere Mitarbeiter, dass wir das nicht allzu transparent machen.
Das alles gilt es abzuwägen. Hier sind wir gerne bereit, auch in Gespräche einzutreten. Das Petitionswesen in Deutschland ist erfolgreich. Es ist insgesamt auf der Welt ein Erfolg. Wenn jetzt vorgeschlagen wird, wir sollten eventuell einen Ombudsmann auf Bundesebene implementieren, dann kann man das wollen. Das wird aber die Arbeit des Petitionsausschusses grundsätzlich verändern. Dann sind nach meiner Auffassung die Einzelanliegen beim Ombudsmann angesiedelt, und die politischen Anliegen, die wir auch in den Ausschüssen diskutieren, würden dann im Petitionsausschuss zusätzlich noch einmal einen besonderen Drive bekommen. Das möchten wir als Union nicht. Deswegen diskutieren wir hierüber auch mit dem Koalitionspartner, mit Stefan Schwartze, sehr intensiv. In dieser Periode wird das jedenfalls nichts. Wir wollen andere Dinge vorantreiben. Auf Landesebene mag das richtig sein, wir können da jedenfalls nicht mitmachen.
Also: Meinen herzlichen Dank an die Mitarbeiter, die trotz vieler Kritik von uns, die immer unberechtigt ist, weitermachen. Ich danke meinem Fraktionsvorsitzenden, dass er uns entsprechend ausstattet und entsprechend Aufmerksamkeit schenkt, auch heute. Einen Dank an alle, die mit mir zusammenarbeiten müssen. Ich mache das gerne weiter und freue mich auf die gemeinsame Arbeit.
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Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Timon Gremmels, SPD.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es gibt wenige Punkte auf der Tagesordnung, bei denen man ein solches Themenspektrum diskutieren kann wie beim Jahresbericht des Petitionsausschusses. Wo sonst können Sie die Themen „Verbot der Konversionstherapie“, also Homo-Heilung, „Vereinheitlichung der Eichfrist von Warm- und Kaltwasserzählern“ und „Bau einer Güterbahnstrecke“ sinnvoll in eine Vierminutenrede packen? Das geht nur beim Jahresbericht des Petitionsausschusses.
({0})
Das zeigt doch die ganze Bandbreite, mit der wir uns beschäftigen, das zeigt, wie unterschiedlich die Anliegen der Bürgerinnen und Bürger sind. Ich möchte ein Beispiel nennen: Das ist die Konversionstherapie, Homo-Heilung. Das Durchführen dieser Therapie war bisher möglich. Es gab eine Petition, die besagte, das solle verboten werden. Die erste Stellungnahme des Bundesgesundheitsministeriums war noch ablehnend. Dann kam es zu einer öffentlichen Petition, und zwar nicht über das Portal des Bundestages, sondern das eines privaten Anbieters, nämlich www.change.org. Dort gab es sehr viel Unterstützung, auch eine mediale Aufmerksamkeit. Dann hat sich unser Koalitionspartner bewegt. Herr Spahn, vielen Dank! Wir haben jetzt Gott sei Dank das Verbot der Konversionstherapie.
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Dieses Beispiel zeigt aber auch, dass ein Zusammenwirken zwischen privaten Plattformen und der Plattform des Deutschen Bundestages sinnvoll sein kann und stattfinden kann. Diese sind sozusagen nicht immer Konkurrenz, sie können sich manchmal auch gegenseitig bereichern. Allerdings muss man den Bürgern sagen, dass eine Petition nach Artikel 17 des Grundgesetzes nur über das Portal des Deutschen Bundestages geht, aber die privaten Plattformen können unterstützend sein. Das ist ein positives Beispiel.
Ein zweites positives Beispiel, bei dem wir etwas geschafft haben, betrifft ein ganz anderes Themenfeld. Man merkt, wenn man eine solche Akte auf dem Tisch hat, dass man sich damit zum ersten Mal beschäftigt. Bisher gab es unterschiedliche Eichfristen für Kalt- und Warmwasserzähler, nämlich einmal fünf Jahre und einmal sechs Jahre. Die Kosten für den Zählertausch sind umlagefähig. Wenn also alle fünf bzw. sechs Jahre der Warm- bzw. der Kaltwasserzähler ausgetauscht wird, entstehen zweimal Kosten, die auf die Mieterinnen und Mieter umgelegt werden können. Dazu gab es eine Petition. Wir haben eine Stellungnahme des Wirtschaftsministeriums bekommen, ich als Berichterstatter habe darum gebeten – das ist auch eine Frage des Verbraucherschutzes –, dass wir noch eine Stellungnahme des Justizministeriums bekommen. Nach einem konstruktiven Berichterstattergespräch sind wir zu dem Ergebnis gekommen, dass wir beide Fristen einheitlich haben möchten. Aktuelle Meldung aus dem Bundeswirtschaftsministerium ist, dass die Verordnung geändert wird. Herr Altmaier, vielen Dank! Sie folgen dem Petitionsausschuss in diesem Falle, dass es künftig eine einheitliche Eichfrist von sechs Jahren gibt. Das ist konkreter Verbraucherschutz. Das zeigt, dass man in diesem Petitionsausschuss auch etwas bewirken kann. Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen!
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Drittes Beispiel. Eine Petition, die mich gerade sehr intensiv beschäftigt, betrifft die Kurve Kassel. Das ist eine Bahntrasse, die in meinem Wahlkreis gebaut werden soll. Dazu gibt es mittlerweile sechs Bürgerinitiativen, vier davon haben die Möglichkeit der Abgabe einer Petition genutzt. Sie haben ihre Petition zum Teil schon vor einem Jahr eingereicht. Die Menschen fragen mich immer, wie denn der Sachstand sei, sie hätten bisher nur eine Eingangsbestätigung bekommen. Ehrlich gesagt kann ich ihre Ungeduld nachvollziehen. Ich sage ihnen immer, ein Jahr ginge noch, es gibt Petitionen, die sehr viel länger dauern. Aber für Transparenz und Offenheit wäre es in der Tat gut, eine Art Trackingverfahren einzuführen, so wie wir das auch beim Paketdienst haben, um nachverfolgen zu können, welchen Sachstand das Anliegen hat. Das würde uns alle entlasten, würde mehr Transparenz schaffen. Lassen Sie uns das gemeinsam angehen, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Das Beispiel der Kurve Kassel zeigt auch, dass man als Berichterstatter sehr viele Möglichkeiten hat, wie zum Beispiel Ortstermine, Berichterstattergespräche. Damit werden wir uns noch sehr häufig beschäftigen.
Sie sehen also, dass der Petitionsausschuss wirkt, dass wir Bürgeranliegen ernst nehmen. Ich kann alle Zuschauerinnen und Zuschauer bitten, da ich der letzte Redner bin, nach der Beendigung dieser Debatte auszuschalten oder umzuschalten – ich weiß gar nicht, welche Debatte die nächste ist, aber egal – und einfach einmal auf epetitionen.bundestag.de zu schauen. Überlegen Sie, welches Anliegen, welche Bitte oder welche Beschwerde Sie haben. Prüfen Sie bitte, ob das wirklich eine Beschwerde ist. Reichen Sie Ihr Anliegen ein und schauen Sie einmal, was mit Ihrer Petition passiert. Ich freue mich auf jeden Fall, weitere tolle Anregungen zu bekommen.
In diesem Sinne alles Gute und Glück auf!
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Damit schließe ich die Aussprache. – Ich danke allen Mitgliedern des Petitionsausschusses und allen Mitarbeitern für ihre Arbeit im Namen des ganzen Bundestages.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zunächst möchte ich Peter Altmaier danken, dass er an dieser Debatte teilnimmt. Es ist durchaus ungewöhnlich, dass ein Bundesminister sich zu einem Antrag der Opposition im Plenum äußert. Da aber so viele Gesetzgebungsvorhaben aus dem Wirtschaftsministerium nicht so richtig vorankommen – ich sage nur: Postnovelle oder Weltraumgesetz –, haben Sie vielleicht auch ein bisschen Redebedarf.
Der aktuelle Beteiligungsbericht der Bundesregierung listet 104 unmittelbare Unternehmensbeteiligungen auf, außerdem nicht weniger als 433 mittelbare Beteiligungen. Dazu gehören zum Beispiel Post, Telekom und Bahn, aber auch der 0,05-Prozentanteil des Bundes an der Wankendorfer Baugenossenschaft in Itzehoe. Insbesondere seit dem Amtsantritt von Ludwig Erhards selbsternanntem Erben, hier auf der Regierungsbank, sind staatliche Beteiligungen in Mode gekommen. Während die Privatisierung zum Erliegen gekommen ist,
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beteiligen wir uns an 50Hertz, Lufthansa, CureVac. Eine Beteiligung an TenneT dürfte nur noch eine Frage der Zeit sein.
In keinem dieser Fälle wäre eine staatliche Beteiligung zwingend gewesen. Im Falle von 50Hertz hätte sich zweifellos ein privater europäischer Investor gefunden.
({1})
Viele Staaten haben Fluglinien ohne staatliche Beteiligungen gerettet. Das wäre auch für die Lufthansa eine Option gewesen. Eine staatliche Beteiligung ist auch keine Grundvoraussetzung für den Erfolg bei der Suche nach einem Covid-19-lmpfstoff.
({2})
Bei Peter Altmaier und der Bundesregierung sitzt das Geld jedoch sehr locker. Es ist auch nicht das eigene. Die Zinsen sind im Moment zum Glück sehr niedrig. Vielleicht befassen wir uns demnächst auch noch mit dem Einstieg bei TUI oder thyssenkrupp.
Aber diese Investitionen sind langfristig nicht sinnvoll. Sie binden Kapital, das besser an anderer Stelle eingesetzt würde. Wer Deutschlands künftige Innovations- und Wohlstandsmotoren fördern will, beteiligt sich nicht an Telekom, Post und Commerzbank, sondern schafft bessere Rahmenbedingungen für die private Wirtschaft.
({3})
Auf den Zukunftsfonds, meine Damen und Herren, warten wir hingegen bis heute, obwohl viele deutsche Unternehmen und Start-ups händeringend Wagniskapitalgeber in Deutschland suchen. Wann folgt Ihre Initiative?
({4})
Staatsbeteiligungen verzerren den Wettbewerb. Der Einstieg des Bundes bei CureVac beispielsweise wirkte wie eine offizielle Kaufempfehlung zugunsten eines einzelnen Unternehmens. Eine bessere Werbung im Vorfeld des Börsenganges hätte man sich in Tübingen kaum vorstellen können.
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Selbstverständlich wünsche ich CureVac viel Erfolg bei der Suche nach einem Covid-19-lmpfstoff und darüber hinaus.
({6})
Aber es ist nicht die Aufgabe des Staates, sich derart vor den Karren einzelner Unternehmen spannen zu lassen, erst recht nicht, wenn es in Deutschland und Europa zahlreiche andere Unternehmen gibt, die Ähnliches leisten wie CureVac.
({7})
Die Beteiligung an der Lufthansa war wettbewerbspolitisch sogar so problematisch, dass die Rettung der Airline beinahe gescheitert wäre; denn die Wirkung der Beteiligung auf andere Investoren ist doch klar: Erstens. Das Unternehmen hat privilegierten Zugang zu Entscheidungsträgern der Bundesregierung. Das belegt beispielsweise der Umgang der Bundesregierung mit der Deutschen Post.
Zweitens. Das Unternehmen steht unter deutlich weniger Wettbewerbsdruck. Die Erfahrung lehrt, dass Staaten bei eigenen Beteiligungen meist bereit sind, gutes Geld schlechtem hinterherzuwerfen.
({8})
Und, meine Damen und Herren, man sollte sich nicht der Illusion hingeben, dass man dem Unternehmen selbst einen Gefallen tut. Staatsunternehmen und solche mit Beteiligung sind selten wirkliche Innovationstreiber, eben weil sie sich auf dem Privileg der Beteiligung, dem Schutz der Regierung, ausruhen können. Und wer den Wettbewerb schwächt, meine Damen und Herren, schwächt auch Innovation.
({9})
Gerade das aber kann sich Deutschland nicht erlauben, wenn wir aus der Krise schnell herauskommen und internationalen Konkurrenten Paroli bieten wollen.
({10})
Wir Freie Demokraten sind daher der Überzeugung, dass wir umsichtiger mit Beteiligungen umgehen müssen. Es geht nicht darum, alle staatlichen Beteiligungen pauschal zu verdammen.
({11})
Wir stellen den Sinn von Beteiligungen nicht generell infrage. Insbesondere brauchen wir auch ausreichend Spielraum für Krisenlagen.
({12})
Sowohl im Falle Lufthansa als auch bei CureVac war die Staatsbeteiligung nicht alternativlos, aber wir schließen nicht aus, dass Beteiligungen in Extremsituationen notwendig sein könnten.
({13})
Daher schlagen wir vor, dass der Bundestag in außerordentlichen Lagen diese Beteiligungsbremse auch temporär aussetzen kann. Uns geht es nicht um eine Vollbremsung, sondern um eine kontrollierte Rückkehr auf den Pfad der sozialen Marktwirtschaft. Das bedeutet, dass wir insbesondere die Leichtfertigkeit eindämmen müssen, mit der staatliche Beteiligungen eingegangen und gehalten werden.
({14})
Wir wollen, dass in Zukunft besser investiert wird, nämlich dort, wo es tatsächlich notwendig und zielführend ist.
({15})
Die von uns vorgeschlagene Beteiligungsbremse sieht daher insbesondere Folgendes vor: Für jede neue Staatsbeteiligung muss innerhalb eines Jahres eine bestehende Beteiligung beendet werden.
({16})
Der Wert der veräußerten Beteiligung muss mindestens dem der neuen Beteiligung entsprechen.
({17})
So schaffen wir einen Anreiz, bestehende Beteiligungen immer wieder auf ihren Sinn zu überprüfen. Das braucht eine soziale Marktwirtschaft als permanenten Prozess. Ich bitte daher um Ihre Unterstützung für unseren Antrag.
Vielen Dank.
({18})
Jetzt erteile ich das Wort dem Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es war für mich selbstverständlich, an dieser Debatte teilzunehmen, weil es um ein wichtiges Thema geht und weil es mir die Gelegenheit gibt, auch noch einmal zu sagen, dass die soziale Marktwirtschaft vielleicht die beste wirtschaftspolitische Erfindung ist, die wir jemals gemacht haben. Sie ist von Ludwig Erhard gemacht worden. Wir haben sie verteidigt gegen alle Anfeindungen, und es gibt kein besseres Instrument, um festzustellen, was erfolgreich und was weniger erfolgreich ist, als das Spiel der Kräfte, und deshalb liegt mir sehr daran, dass dies auch in Zukunft so bleibt. Der Staat ist nicht der bessere Unternehmer,
({0})
er wird es auch nicht werden, und er muss es auch nicht werden. Staatsbeteiligungen nur als Ultima Ratio im begründeten Ausnahmefall: Ja.
Und dann bin ich auch gerne gekommen, sehr geehrter, lieber Herr Houben, weil ich mich bei Ihnen persönlich bedanken wollte.
({1})
Ihr Antrag kam mir nämlich bekannt vor. Ich habe ihn gelesen und gedacht: „Mensch, das hast du schon mal gehört, und dann habe ich ein Dokument aus dem Schrank genommen, nämlich die Nationale Industriestrategie des Bundeswirtschaftsministers Peter Altmaier vom 5. Februar 2019. Dort steht drin:
Bei Übernahmeversuchen, bei denen nicht in erster Linie das staatliche Sicherheitsinteresse, sondern vielmehr Technologie- und Innovationsführerschaft betroffen sind, ist es vorrangig Sache der privaten deutschen Wirtschaft und ihrer Akteure, derartige Übernahmen durch eigene Angebote zu verhindern. ...
Nur in sehr wichtigen Fällen soll der Staat für einen befristeten Zeitraum selbst als Erwerber von Unternehmensanteilen auftreten können.
({2})
Insgesamt darf sich der Anteil staatlicher Beteiligungen langfristig aber nicht erhöhen. Deshalb kommt die Schaffung einer nationalen Beteiligungsfazilität in Betracht, über deren Umfang regelmäßig dem Parlament zu berichten ist. Der Übernahme neuer Beteiligungen muss grundsätzlich die Privatisierung anderer Beteiligungen gegenüberstehen.
Wenn ich Ihren Antrag richtig lese, haben Sie alles sehr genau übernommen, was ich damals in der von Ihnen in höchstem Maße kritisierten Industriestrategie vorgeschlagen hatte. Herzlichen Dank für diese großartige Leistung!
({3})
Es ist nämlich so, dass in der Endfassung vom November 2019 genau dieser Teil gestrichen ist, und zwar auf Wunsch von vielen Politikern auch aus Ihrer Fraktion und weiteren Fraktionen.
Ich meine, das Thema ist zu ernst, als dass wir es einfach nur in der polemischen politischen Debatte nutzen sollten.
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Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass der Staat über 100 Beteiligungen hat. Natürlich muss man darüber diskutieren, welche berechtigt und welche unberechtigt sind. Aber, sehr geehrter Herr Houben, ich habe in einer gemeinsamen Regierung mit Herrn Brüderle und mit Herrn Rösler – zwei sehr geschätzte Kollegen, beide Vorgänger von mir als Wirtschaftsminister – gearbeitet. Wissen Sie, damals waren wir schon an der Telekom beteiligt, damals waren wir an der Deutschen Post beteiligt, damals hat uns die Deutsche Bahn gehört, so wie heute auch. Ich kann mich nicht erinnern, dass irgendeiner von Ihren FDP-Wirtschaftsministern einen ernsthaften und nachdrücklichen Versuch gemacht hat, das in seiner Amtszeit zu ändern.
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Und deshalb finde ich: Man muss auch glaubwürdig bleiben und muss sich dann auch mal fragen, welche Fehler und Versäumnisse man selbst begangen hat.
Ein letzter Punkt, der mir ganz wichtig ist: Ich habe mich in diesen Tagen so vieler Kritik stellen müssen. Es wurde gesagt, der Staat greife dauernd in die Marktwirtschaft ein, der Staat unterstütze angeblich Zombie-Unternehmen. Wissen Sie, der Eingriff in die Marktwirtschaft ist nicht erfolgt durch das, was wir in Zusammenarbeit mit der Wirtschaft und ihren Akteuren, den Verbänden, den Unternehmen, gemeinsam innerhalb von wenigen Tagen und Wochen auf den Weg gebracht haben. Der Eingriff in die Marktwirtschaft ist erfolgt durch das Coronavirus, das dazu geführt hat, dass die Marktgesetze für viele tüchtige Unternehmen ausgesetzt worden sind.
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Deshalb haben wir geholfen: weil wir wollen, dass die Akteure der Marktwirtschaft diese Pandemie unbeschädigt und unbeschadet überstehen.
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Wenn ein Unternehmen, das vor der Krise über gute Auftragsbestände verfügt hat, das nach der Krise wieder über gute Auftragsbestände verfügen wird, in der Zwischenzeit so gut wie null Umsätze hat, wie Schausteller,
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weil Kirmesveranstaltungen nicht stattfinden oder weil Weihnachtsmärkte vielleicht nicht stattfinden werden, oder weil große Messeveranstaltungen nicht stattfinden oder weil große Caterings nicht stattfinden oder weil es keine großen Veranstaltungen mit mehreren Tausend Teilnehmern in der bisherigen Form gibt, lieber Herr Houben, dann ist das eben nicht ein Versagen von einzelnen Unternehmen, die nicht wettbewerbsfähig sind. Dann ist das die Folge einer Pandemie, wie sie dieses Land in den letzten 60 Jahren noch nie hat bewältigen müssen. Und dann ist es unsere Verantwortung, den Unternehmen, die sich in der Marktwirtschaft bewährt haben, zu helfen. Und genau deshalb haben wir gehandelt.
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Ich möchte noch auf einen Punkt hinweisen, der mir in der ganzen Debatte wichtig ist. Wir haben in dieser Zeit mehrere Hundert Milliarden Euro mobilisiert: an Krediten der KfW, an Mitteln aus dem WSF, an Soforthilfen für kleine und mittelständische Unternehmen mit bis zu zehn Beschäftigten, an Sofortkrediten in Höhe von bis zu 800 000 Euro für größere mittelständische Unternehmen.
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Wir haben diese Mittel mobilisiert, um zu helfen.
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In keinem Fall – außer in den beiden von Ihnen genannten – haben wir dafür eine staatliche Beteiligung eingefordert oder gemacht.
Wir haben es in der Koalition gemeinsam in zwei Fällen getan. Zum einen war es die Deutsche Lufthansa, die wir gerettet haben, weil wir wussten, dass die Lufthansa zum Tafelsilber der Bundesrepublik Deutschland gehört und es nicht an den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern lag, dass die Flugzeuge am Boden bleiben müssen. Wenn Sie 9 Milliarden Euro zur Verfügung stellen, dann ist es, glaube ich, kein Sündenfall wider die Marktwirtschaft, wenn Sie für einige Hundert Millionen Euro auch eine Aktienbeteiligung vorsehen. Das dient der Akzeptanz in der gesellschaftlichen Debatte.
Was CureVac angeht, so war das auch eine gemeinsame Entscheidung der Bundesregierung. Das war keine Entscheidung eines einzelnen Ministers. Ich habe sie vorbereitet, ja, gewissenhaft, mit einer Due-Diligence-Prüfung, und wir haben das getan, weil wir fest davon überzeugt sind, dass es im strategischen Interesse dieses Landes ist, dass solche Unternehmen eine dauerhafte Chance haben, in Deutschland zu bleiben, und nicht aus Mangel an Kapital und Unterstützung am Ende ins Ausland abwandern und viele sich fragen, warum wir es nicht geschafft haben, diese Unternehmen in Deutschland zu halten.
Sie haben zum Schluss das Stromnetz erwähnt. Lieber Herr Houben, 50 Hertz hätte ich, als es um die Anteile von zweimal 20 Prozent ging, liebend gern bei einem privaten Investor gesehen, der sich dafür interessiert. Es hat sich nur bei mir keiner gemeldet. Ich habe auch einige gefragt; die hatten kein Interesse. Wenn Sie irgendwelche Interessenten wissen, lassen Sie es mich wissen, sagen Sie mir das. Es interessiert mich.
Aber es ging um die Frage, ob wir wollen, dass zentrale Bestandteile der öffentlichen Infrastruktur, in dem Fall das modernste Elektrizitätsnetz, was es auf der ganzen Welt gibt, mit dem höchsten Anteil von Erneuerbaren, in europäischem oder in deutschem Mehrheitsbesitz sind, oder ob wir sagen: Das interessiert uns nicht. Wer das kauft und wer es übernimmt, das ist uns egal.
Und da gibt es vielleicht einen Punkt, wo wir uns unterscheiden: Ich habe gelernt, nachdem ich anfänglich auch gezögert habe, dass wir vieles privatisieren können und müssen, dass aber die zentralen Leistungen der Daseinsvorsorge – Wasserversorgung, die Versorgung mit Elektrizitätsinfrastruktur,
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mit Gesundheitsinfrastruktur und vielem anderen mehr –
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in der öffentlichen Verantwortung verbleiben sollen, weil wir das unseren Bürgerinnen und Bürgern schuldig sind. Und dafür gibt es nach meiner festen Wahrnehmung auch einen breiten Konsens in diesem Land.
Ganz herzlichen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Enrico Komning, AfD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Lieber Minister Altmaier! Meine Damen und Herren Kollegen! Auch ich, Herr Altmaier, freue mich, dass Sie bei dieser Debatte heute dabei sind und dass Sie auch Ihr Papier zur Nationalen Industriestrategie mitgebracht haben. Und es hat sich ja gerade so angehört, als ob Sie den FDP-Antrag hier sozusagen als überflüssig entlarven wollten. Auch wenn es nicht oft vorkommt: Ich will heute mal der FDP-Fraktion beispringen;
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denn das, was in Ihrem Papier steht, das steht da gut. Allerdings handeln Sie genau andersherum, und das werde ich Ihnen kurz darlegen.
Die AfD-Fraktion unterstützt den Antrag der Kollegen der FDP zur Einführung einer Beteiligungsbremse für den Bund. Er enthält nämlich tatsächlich sinnvolle Forderungen, insbesondere die nach grundsätzlich nur stillen Beteiligungen oder nach Rückführung staatlicher Beteiligung auf das Vor-Corona-Niveau. Erweiterte Berichtspflichten dienen der Transparenz und beugen dem Missbrauch vor.
So weit, so gut, Herr Houben. Wovon dieser Antrag allerdings ausgeht, ist, dass die massive Ausweitung staatlicher Beteiligung eine Sondersituation sei und man einfach zur Normalität, nämlich zur sozialen Marktwirtschaft, zurückkehren müsse. Diese Normalität gab es aber schon vor Corona nicht mehr.
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Die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen zusammen mit den beiden Linksaußenfraktionen der Grünen und der Dunkelroten wollen nämlich gar keine soziale Marktwirtschaft.
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Die Coronakrise bestätigt und bekräftigt einen Trend, der sich durch die Amtszeit von Frau Merkel zieht, einen Trend, der sich von der sozialen Marktwirtschaft entfernt und in eine gelenkte Staatswirtschaft mündet. Was mit der Teilverstaatlichung der Commerzbank infolge der Finanzmarktkrise begann, findet nun bei Lufthansa, bei TUI, bei der Deutschen Bahn und vielen anderen seine Fortsetzung. Herr Houben hat vorhin viele Unternehmen benannt; ich will die alle nicht noch mal wiederholen.
Die Bundesregierung springt in Wahrheit nicht in der Krise ein, um die Unternehmen zu retten, sondern nutzt Krisen, um ihr neues, offensichtlich vom vermeintlichen Erfolgsmodell China inspiriertes staatskapitalistisches Modell zu installieren. Mit der aktuellen Coronakrise haben wir jetzt eine neue Qualität erreicht. Sie, Herr Altmaier, nutzen nicht nur die Krise, sondern Sie erschufen die Krise durch den Lockdown erst selber.
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Schon nach der damaligen Datenlage war der Lockdown unnötig, in jedem Fall unverhältnismäßig, und Herr Spahn hat dies ja unlängst selbst zugegeben. Ihr fortwährendes Drohen mit einem zweiten Lockdown lässt auch kaum einen anderen Rückschluss zu.
Beteiligungen des Staates, meine Damen und Herren, folgen keinen wirtschaftlichen Notwendigkeiten. Ihr Interesse, das Interesse der Bundesregierung, ist es, sukzessiv-schleichend, sozusagen von hinten durch die Brust ins Auge, die staatliche Kontrolle über alle Bereiche von Wirtschaft und Gesellschaft auszudehnen. Und das, glaube ich, ist auch kein Hirngespinst,
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sondern schon lange im politischen Fokus.
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Ich darf Sie, Herr Präsident, mit Ihrer Erlaubnis aus einer Podiumsdiskussion aus Ihrer Zeit als Finanzminister im Jahre 2011 zitieren, als Sie gesagt haben:
… wenn die Krise größer wird, werden die Fähigkeiten, Veränderungen durchzusetzen, größer.
Das ist richtig; prophetische Worte, wie auch immer sie gemeint waren. Und ja, meine Damen und Herren, in der Krise werden sich die Menschen beugen. Und die Regierung ist ja eben auch schon fleißig dabei.
Der Energiebranche nehmen Sie ein Kraftwerk nach dem anderen weg und zwingen sie zum Ausbau einer neuen Strominfrastruktur, die zwar dem Klima nichts bringt, aber die Steuerzahler und Konsumenten Billionen Euro Subventionen kostet.
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Mit der Deutschen Bank gibt es eigentlich nur noch eine echte deutsche Privatbank, und auch der gehen Sie mit Ihrer Euro-Politik ans Leder.
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Überraschend wäre es daher nicht, wenn von Ihren Kollegen in Ländern und Gemeinden der jüngste Vorschlag des Deutschen Städtetages, die Gewerbeflächen in deutschen Innenstädten zu verstaatlichen, mit großem Enthusiasmus aufgegriffen würde. Und so ist es auch nicht verwunderlich, dass Sie die einstmalige Vorzeigeindustrie Deutschlands, die deutsche Automobilindustrie, ehedem der Wachstumsmotor Deutschlands, zum Subventionsfall herabregiert haben. Die jetzige Situation der Automobilindustrie, Herr Altmaier, hat nichts mit Corona zu tun,
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sondern allein mit Ihnen und leider eben auch mit willfährigen Vorstandsvorsitzenden.
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Ihr Weg hin zum Staatskapitalismus ist der falsche Weg. Er verletzt fundamentale Freiheitsrechte der Menschen und gefährdet unsere Demokratie. Der Staat, Herr Altmaier, darf gar kein Unternehmer sein. Er ist bekanntlich nicht besonders gut darin, wie 40 Jahre DDR nachhaltig bewiesen haben.
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Der Staat darf in der Wirtschaft nicht Partei ergreifen; denn die Unterstützung eines Unternehmens bedeutet gleichzeitig eben auch die Benachteiligung eines konkurrierenden, häufig sogar kleineren – weil nicht systemrelevanten – Marktbegleiters.
Und ich darf – Herr Präsident, mit Ihrer Erlaubnis – Ludwig Erhard zitieren:
Ebenso wie beim Fußballspiel der Schiedsrichter nicht mitspielen darf, hat auch der Staat nicht mitzuspielen. Die Grundlage aller Marktwirtschaft bleibt die Freiheit des Wettbewerbs.
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Der Staat darf den Wettbewerb nicht beeinflussen. Er muss die Voraussetzungen für Wettbewerb gewährleisten. Wir brauchen, Herr Houben, im Grunde keine Rückkehr zur sozialen Marktwirtschaft. Wir müssen sie wiederfinden, mit einem starken Staat, der, Herr Altmaier, ausschließlich seiner Pflicht zur Daseinsvorsorge nachkommt. „Vorfahrt für die Marktwirtschaft“ heißt eben vor allem, den Marktplatz neu zu pflastern. Ein staufreies Straßennetz, ein deutlich verzweigteres Schienennetz und ein lückenloses digitales Breitbandnetz, ein im wahrsten Sinne des Wortes flächendeckendes Mobilfunknetz, das sind staatliche Aufgaben.
Wir teilen zwar nicht alle Vorschläge der FDP-Fraktion. Jedoch kommt es derzeit vor allem darauf an, die Regierung davon abzuhalten, Krisen selber herbeizuführen, um hinterher als strahlender Retter aufzutreten. Der vorliegende FDP-Antrag würde dazu beitragen, der Regierung diesen Weg zu erschweren, und deshalb werden wir diesen Antrag unterstützen.
Vielen Dank.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Bernd Westphal, SPD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich finde es auch sehr angenehm, dass wir über den Antrag der FDP hier die Möglichkeit haben, über grundsätzliche wirtschaftspolitische Themen zu debattieren. Wenn man sich das in Deutschland anguckt: Wir gehören zu den Ländern, die eine sehr transparente, sehr offene, sehr einladende Marktwirtschaft haben, eine soziale Marktwirtschaft, die gerade international für Investoren sehr attraktiv ist. Deshalb passt das Bild, das die FDP – und die AfD sowieso – hier gezeichnet hat, nicht zu dem Zustand, den wir haben, sondern es ist eine Marktwirtschaft, die innovativ ist, die soziale Balance hat und vor allen Dingen den Menschen in den Mittelpunkt stellt. Das ist auch das Ziel der SPD in einer sozialen Marktwirtschaft.
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Was wir dafür brauchen, ist natürlich eine solidarische, humane und demokratische Arbeitswelt ohne Angst und ohne Unsicherheit für die Beschäftigten, mit fairen Löhnen und gleichberechtigter Mitbestimmung. Natürlich sind das Rahmenbedingungen, die der Staat setzen muss. Arbeit muss stark, auch interessant sein und zufrieden machen und nicht krank. Deshalb ist es wichtig, dass der Staat die Rahmenbedingungen dementsprechend gestaltet.
Was die Umweltbelange angeht: Eine klimaneutrale Wirtschaft aufzubauen, ist eine Aufgabe, in die sich der Staat natürlich mit Rahmensetzungen einbringt. Wir brauchen auch das innovative und stabile Umfeld für innovative Entwicklungen. Wir müssen strategische Investitionen in eine sozialökologische Marktwirtschaft einbinden. Auch das sind Zielsetzungen, die natürlich von staatlicher Seite organisiert werden müssen.
Wir brauchen für das staatliche Handeln natürlich auch eine Leitplanke für unsere industrielle Basis. Wir haben mit Chemie, mit Maschinenbau, mit der Stahlindustrie und auch mit der Automobilindustrie wirklich eine starke Struktur, die natürlich auch der Motor ist für viele innovative Dinge, die aus dem Zulieferbereich und aus dem innovativen Mittelstand kommen. Man kann an vielen Beispielen zeigen, wie durch staatliches Handeln ein Konzern wie – ich nenne ein Beispiel aus der Luft- und Raumfahrtindustrie – Airbus mit weltweit erfolgreichen Produkten entstanden ist. Deshalb ist das nicht völlig auszuschließen, sondern gehört zu einer intelligenten Wirtschaftspolitik dazu.
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Wenn man sich einmal die kommunale Ebene, also die Regionen, in denen die Menschen leben, anschaut, erkennt man: Gerade dort sind in kommunaler Hand Unternehmen, die sehr erfolgreich die öffentliche Daseinsvorsorge organisieren und auch mit den entsprechenden Rahmenbedingungen dafür sorgen, dass die Versorgung der Menschen vor Ort sichergestellt ist.
Der Antrag der FDP geht in die falsche Richtung. Wir wollen keine Beteiligungsbremse. Wieso auch? Wir haben doch gerade gemerkt, dass wir in der aktuellen Krise ein aktives staatliches Handeln brauchen, um vor allen Dingen den Unternehmen, die ins Straucheln geraten, dementsprechend zu Hilfe zu kommen. Deshalb – der Wirtschaftsminister hat einige Beispiele genannt – kann man doch nicht einfach zugucken, wie unser Flaggschiff in der Luftfahrt durch die Krise in eine Situation kommt, wo es im Grunde in Existenznot gerät. Wir müssen hier vielmehr mit staatlichen Mitteln die Eigenkapitalseite stärken und dann natürlich dementsprechend Mandate im Aufsichtsrat wahrnehmen, und zwar nicht, um da irgendwie im kleinen Detail Einfluss zu nehmen, sondern um die großen strategischen Linien aufrechtzuerhalten und zu beeinflussen. Deshalb ist es völlig richtig, was hier vorgetragen wurde.
Ich bin froh, dass wir mit Peter Altmaier als Wirtschaftsminister und mit seiner Industriestrategie uns genau auf diese Themen fokussieren: Wo sind Zukunftstechnologien? Wo kann der Staat sich dementsprechend beteiligen?
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Die FDP muss sich natürlich mal entscheiden. Die ehemaligen Wirtschaftsminister Niedersachsens Rösler und Bode saßen sogar im Aufsichtsrat von VW, also in einem unter staatlicher Beteiligung geführten Unternehmen. Ich glaube nicht, dass das schädlich ist.
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Es ist widersprüchlich, dass man im Antrag auf der einen Seite eine Zurückhaltung des Staates fordert und auf der anderen Seite aber selbst diese Unternehmen stärkt und auch begleitet in den entsprechenden Gremien.
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Marktwirtschaft ist gut. Damit sie sozial, erfolgreich, innovativ und nachhaltig bleibt, ist staatliche Rahmensetzung und ab und zu auch Beteiligung sicherlich hilfreich und notwendig.
Vielen Dank.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Pascal Meiser, Die Linke.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mir scheint wirklich: FDP und ja offenkundig auch AfD leben in einer Art Parallelgesellschaft. In der Coronapandemie zeigt sich doch gerade weltweit, dass der Markt eben nicht alle Probleme lösen kann. Vielerorts sehen wir, welche fatalen Folgen es hat, wenn man beispielsweise das Gesundheitssystem radikal privatisiert. Mehr noch: Wir erleben die schwerste Wirtschaftskrise seit den 1920er-Jahren, und nur durch staatliche Eingriffe konnte unsere Wirtschaft bisher vor dem totalen Kollaps bewahrt werden.
({0})
Doch was machen FDP und ja auch AfD? Sie haben nichts Besseres zu tun, als genau diese staatlichen Eingriffe zu geißeln. Denn was Sie hier unter dem Deckmantel einer Beteiligungsbremse vorschlagen, ist doch nichts anderes als die Forderung nach einem Privatisierungsbeschleunigungsgesetz.
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Das ist verantwortungslos und der Lage im Land absolut nicht angemessen.
Haben Sie von der FDP eigentlich mal ernsthaft durchgelesen, was Sie da fordern?
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– Das macht es noch schlimmer. – Sie fordern, dass für jede neue staatliche Beteiligung eine bestehende Beteiligung aufgegeben wird.
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Ja was heißt das denn konkret?
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Dass, wer in der jetzigen Krise ein Unternehmen durch staatliche Beteiligung retten will, ein anderes Unternehmen über die Wupper gehen lassen soll?
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– Hören Sie doch mal zu! – Was ist Ihr Vorschlag? Sollte also im Gegenzug für die Rettung der Lufthansa jetzt zum Beispiel die Deutsche Bahn verkauft werden? Wie stellen Sie sich das denn vor? Das ist doch absurd.
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Mehr noch – ich habe mir Ihren Antrag genau angeschaut; es war nicht sonderlich erfreulich, aber trotzdem –: Sie wollen allen Ernstes, dass staatliches Eigentum künftig im Zweifel auch dann verkauft werden kann, wenn die öffentliche Hand dabei Verluste macht. Das ist doch nichts anderes als eine Aufforderung zur Veruntreuung öffentlichen Vermögens, meine Damen und Herren.
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Ganz nebenbei wollen Sie unter anderem die Deutsche Post komplett privatisieren. Glauben Sie ernsthaft, dass die Probleme, die wir im Post- und Paketmarkt haben, aufhören, wenn der Staat seinen Restanteil an der Deutschen Post verkauft?
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Ich meine, die Probleme mit zwielichtigen Subunternehmerketten, sinkende Löhne, mehr Ärger für die Kunden sind doch die Folgen von 25 Jahren Post-Privatisierung. Und Sie wollen mehr davon? Das ist absurd, meine Damen und Herren.
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Ich sage Ihnen: Wir brauchen keine Beteiligungsbremse, wir brauchen eine Privatisierungsbremse in diesem Land.
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Aber ja: Wir müssen darüber reden, wo zu welchem Zweck der Staat tatsächlich als Eigentümer agiert. Das Beispiel Lufthansa ist kein gutes Beispiel dafür.
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Das Motto der Bundesregierung lautet ja hier: Der Steuerzahler soll blechen, der Staat soll retten, die öffentliche Hand aber nichts zu sagen haben. – Kein privater Geldgeber – auch Sie, Herr Houben, nicht – wäre so dämlich und würde so etwas mitmachen.
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Deshalb muss auch bei staatlichen Beteiligungen gelten: Wer bezahlt, bestimmt, meine Damen und Herren.
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Auf all diese Fragen bietet der Antrag der FDP keine Antworten. Sie unterstützen ja de facto auch Herrn Altmaier in seinen zentralen Ansätzen, wie er das Beteiligungsmanagement organisiert. Ich finde das nicht verantwortungsvoll.
Ich komme zum Schluss. Für uns als Linke bleibt es dabei: keine staatlichen Rettungsprogramme, keine Beteiligungen ohne Beschäftigungsgarantien. Wir brauchen eine verbindliche Verpflichtung, Tarifverträge und Mitbestimmung zu respektieren, und natürlich müssen auch staatliche Beteiligungen genutzt werden, um sie auf das Ziel des Klimaschutzes auszurichten. Das ist verantwortungsvolle Politik, meine Damen und Herren.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Katharina Dröge, Bündnis 90/Die Grünen, hat als nächste Rednerin das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister Altmaier! Ich hätte nie gedacht, dass ich diese Rede im Deutschen Bundestag einmal halten würde. Ich hätte nie gedacht, dass es einmal notwendig sein würde, einem Wirtschaftsminister, der der Union angehört, zu erklären, warum es keine gute Idee ist, die deutsche Wirtschaft zu verstaatlichen. Und damit meine ich explizit nicht den Wirtschaftsstabilisierungsfonds. Ich meine explizit nicht, anders als es von der FDP hier vielleicht vorgebracht wurde, dass es eine schlechte Idee ist, Unternehmen in der Krise zu retten. Selbstverständlich ist es unser Job, Unternehmen, die vor Corona gut dastanden, jetzt durch die Krise zu bringen, sodass sie nach dieser Krise weiterhin existieren können. Alles andere zu behaupten, wäre wirtschaftspolitischer Unfug.
({0})
Doch das, Herr Altmaier, was Sie machen, hat eigentlich schon vor zwei Jahren begonnen. Sie versuchen jetzt, so ein bisschen im Geleitzug der Coronakrise, Ihre Träume zu verwirklichen. Sie haben uns vor einem Jahr eine Industriestrategie vorgelegt und darin vorgeschlagen, eine Beteiligungsfazilität zu schaffen, in der der Staat hier und da mal Unternehmen aufkaufen kann.
Auch wir Grünen sind nicht grundsätzlich dagegen, dass der Staat ein Akteur in der Wirtschaft ist. Infrastruktur wie Bahnschienen, Stromnetze oder auch Aufgaben der Daseinsvorsorge wie die Wasserversorgung gehören in öffentliche Hand, Herr Altmaier. Ich finde es schade, dass Sie in dieser Debatte jetzt noch mal gesagt haben, dass Sie es besser gefunden hätten, wenn es für TenneT oder 50Hertz private Investoren gegeben hätte. Das Gegenteil ist richtig. Wir Grünen haben einen entsprechenden Antrag in den Bundestag eingebracht: Stromnetze gehören in die öffentliche Hand, und deswegen soll die öffentliche Hand das von diesen Betreibern zurückkaufen.
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Doch genau diese Dinge, Herr Altmaier, meinten Sie mit Ihrer Industriestrategie nicht. Daseinsvorsorge oder Infrastruktur kommen da gar nicht vor. Stattdessen erwähnen Sie in Ihrer Industriestrategie Unternehmen wie Siemens, thyssenkrupp oder die Deutsche Bank.
Man kann jetzt am Fall CureVac sehen, dass Sie das, was Sie damals aufgeschrieben haben, auch meinen. Sie kaufen einen Pharmakonzern in der Krise. Wir haben Sie in einer Kleinen Anfrage gefragt: Aus welchem Grund eigentlich?
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Geht es darum, dass CureVac einen Impfstoff hat, der besonders aussichtsreich ist? Warum ist er aussichtsreicher als beispielsweise der Impfstoff, den das Mainzer Unternehmen BioNTech entwickelt, das in der Impfstoffentwicklung sogar schon etwas weiter ist?
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Gab es dazu Analysen in der Bundesregierung? Gab es keine andere Möglichkeit, zum Beispiel Abnahmeverträge mit CureVac zu schließen, wenn man sagt, dass dieser Impfstoff besonders vielversprechend ist?
Auf all das hatten Sie keine Antwort. Stattdessen haben Sie auf unsere Kleine Anfrage geantwortet: Weil CureVac gefragt hat. – Das, Herr Altmaier, ist kein verantwortungsvoller Umgang mit Steuermitteln. Sie können nicht, nur weil Sie es schick finden, einen Impfstoffhersteller zu besitzen, oder weil Ihr Kumpel Dietmar Hopp angefragt hat und Sie ihm einen Gefallen tun wollten, Hunderte Millionen an Steuergeld investieren. Das ist Buddypolitik, und das lassen wir Ihnen nicht durchgehen.
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Ich versuche noch mal, Ihnen unser Unbehagen mit dieser Art von Politik zu erklären: Wirtschaft kann nur funktionieren, wenn Unternehmen darauf vertrauen können, dass der Staat sie alle fair und gleich behandelt. Unser Job als Politik ist es, Regeln zu setzen: Regeln, die die Marktmacht begrenzen, Regeln für den Schutz von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und Regeln für den Umweltschutz. Da könnten Sie mal handeln; da ist bei Ihnen eine echte Leerstelle vorhanden. Aber die Unternehmen werden sich auf diese Regeln nur verlassen können, wenn sie das Gefühl haben, dass die Regeln für alle gelten. Und wenn ein Staat ein Unternehmen besitzt, dann hat er natürlich ein Interesse daran, dass dieses Unternehmen besonders gut dasteht und dass gute Dividenden in den Staatshaushalt fließen.
Wir haben schon jetzt eine zu große Nähe der Wirtschaft zur Politik. Schon jetzt haben wir ein Problem mit Lobbyismus. Noch stärkere Verknüpfungen der Wirtschaft mit der Politik verschärfen dieses Problem aus meiner Sicht, Herr Altmaier.
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Beim Wirtschaftsstabilisierungsfonds dagegen machen Sie es andersrum. Auch das verstehe ich nicht. Wir Grünen haben gesagt: „Es ist richtig, Unternehmen in der Krise zu retten“; aber man rettet ein Unternehmen nicht nur, damit am Ende die Anteilseigner ihre Anteile gesichert haben. Der Staat hat mehr Aufgaben, wenn er Unternehmen rettet. Er ist verantwortlich für die Beschäftigung, er ist auch für andere gesellschaftliche Aufgaben verantwortlich.
Deswegen haben wir es nicht verstanden, dass Sie, als Sie die Lufthansa gerettet haben, nicht gleichzeitig gesagt haben: Ich mache klare Vorgaben für die Beschäftigungssicherung, und ich mache auch klare Vorgaben zum Thema Klimaschutz; ich nutze diese Krise als Chance, um die Lufthansa im Klimabereich zum Vorreiter zu machen: gerechtere Klimapolitik und CO2-neutraleres Fliegen. – Das wäre jetzt Ihr Job gewesen; Sie haben mehrere Jobs, wenn Sie als Staat einsteigen. Das haben Sie nicht gemacht, und das ist Ihr Fehler, Herr Altmaier.
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Ganz zum Schluss zum Antrag der FDP. Auch wenn ich Ihr grundsätzliches Unbehagen hinsichtlich der Politik von Herrn Altmaier teile, ist Ihr Antrag nicht sinnvoll. Sie schlagen darin eine „One-in, one-out“-Regel“ vor. Die schlagen Sie ja überall vor; das scheint Ihr Allheilmittel in allen wirtschaftspolitischen Fragen zu sein.
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Ich frage Sie: Was meinen Sie denn damit? Heißt das, dass wir, wenn wir, wie wir Grünen es vorschlagen, die Stromnetze jetzt wieder in öffentliche Hand überführen, dann gleichzeitig die Schienennetze der Deutschen Bahn privatisieren müssen? Das ist doch absoluter Unfug, Herr Houben. Das können Sie nicht ernsthaft meinen.
Was wir brauchen, sind klare Kriterien, wann die Staatsbeteiligung sinnvoll ist, klare Kriterien, die mit anderen gesellschaftlichen Kriterien verbunden sind. Es braucht einen klaren ordnungspolitischen Kompass. Und dafür muss man nicht die Haushaltsordnung des Deutschen Bundestages ändern, dafür muss man schlichtweg eine andere Politik machen. Was wir brauchen, sind keine anderen Regeln, sondern einfach einen anderen Wirtschaftsminister.
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Vielen Dank, Katharina Dröge. – Schönen guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! – Der nächste Redner kann sich langsam auf den Weg machen. Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Dr. Matthias Heider.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir sind noch mitten in der Krise – das Feuer ist noch nicht gelöscht, der Rauch hat sich noch nicht verzogen –, da holt die FDP das Thema Bundesbeteiligung heraus und schlägt vor, dass der Bund sich von möglichst allen Unternehmensbeteiligungen trennt.
Philipp Rösler, einer der Vorgänger unseres heutigen Wirtschaftsministers Peter Altmaier, brachte wenigstens so viel Geduld auf, bis zum Ende der unmittelbaren Euro-Krise 2012 zu warten, ehe er versuchte, eine Expertenkommission einzuberufen, die sich mit der Veräußerung von Bundesbeteiligungen befassen sollte. Ich bin schon ein bisschen länger dabei; deshalb erinnere ich mich daran. Von „Tafelsilber“ ist damals die Rede gewesen. Sie wollen das jetzt schon machen oder es mit diesem Antrag wenigstens schon organisieren. Dabei wissen Sie doch, was Tafelsilber in einer Krise wert ist: Sie erzielen nicht die Unternehmenswerte, die Sie in guten Zeiten für ein Unternehmen oder eine Unternehmensbeteiligung bekommen.
Krise ist übrigens nicht gleich Krise, aber sicher ist doch: Um die Abwehr von Gesundheitsgefahren, denen unsere Bevölkerung ausgesetzt ist, müssen wir uns kümmern. Wir müssen auch eine Gefahrenabwehr für unsere Wirtschaft haben. Es braucht Überbrückungszuschüsse, Liquiditätshilfen, Kurzarbeit und, ja, eben auch vorübergehende Beteiligungen an Unternehmen, die für uns eine strategische Bedeutung haben. Am Ende der Krise gewinnt nicht, wer Beteiligungen verkauft, sondern wer wettbewerbsfähig ist: Wir wollen doch alle, dass zum Beispiel Lufthansa da wieder hinkommt und dass das Unternehmen für Deutschland eine strategische Bedeutung hat.
Die FDP hat auch das Etikett „Marktwirtschaft“ auf den Antrag geschrieben. Ob es ratsam ist, sich in einer Krisensituation auf die reine Lehre von Ludwig Erhard zu berufen, das will ich den Meister gleich mal selber beantworten lassen. Erhard hat in seinem Buch „Wohlstand für Alle“ zur Einsicht gemahnt. Ich zitiere:
Gleichwohl bin ich mir dabei natürlich im klaren, daß das Denkmodell eines reinen Wettbewerbs an dieser oder jener Stelle keine volle Gültigkeit besitzt.
Etwas weiter heißt es:
Ich bin nicht weltfremd genug, um nicht um mich herum tausend Beispiele zu sehen, aus denen sich ergibt, wie sehr das theoretische Schema des völlig freien Wettbewerbs mit anderen Elementen gemischt und dadurch verwässert ist.
Ende Zitat Erhard.
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Meine Damen und Herren, es ist doch klar, dass diese Krise durch ein Virus ausgelöst wurde und wir uns um Gefahrenabwehr bemühen müssen. Das ist eines von den „tausend Beispielen“, die dem damaligen Wirtschaftsminister vor Augen standen, und er konnte sicherlich auch auf Erfahrungen aus der Kriegszeit zurückgreifen, als später besondere Situationen in der Wirtschaft besondere Maßnahmen erforderten.
Lassen Sie mich noch ein paar Worte sagen, damit kein Missverständnis aufkommt. Wir als Unionsfraktion wenden uns ausdrücklich gegen überflüssige staatliche Eingriffe, ja. Das gilt zu Normalzeiten. Wir sind aber nicht in Normalzeiten, wir sind in einer Krisenzeit. Deshalb müssen wir über diese Maßnahmen nachdenken, damit unsere Wirtschaft am Ende dieser Krise wettbewerbsfähig ist.
Meine Damen und Herren, ich nenne noch mal das Beispiel Lufthansa: Sie ist die einzige große Airline, die wir hier in Deutschland haben. Ginge dieses Unternehmen pleite, verlören nicht nur mehrere Zehntausend Menschen ihren Job – unmittelbar bei der Lufthansa oder mittelbar –, sondern es würde uns auch ein weltweites Aushängeschild fehlen.
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Die Herren Wambach und Haucap von der Monopolkommission haben zu diesem Thema Folgendes gesagt – ich zitiere –: Der „Einstieg kann zur Rettung eines prinzipiell profitablen Unternehmens sinnvoll sein. Wichtig sind wettbewerbsfördernde flankierende Maßnahmen und eine Strategie für den Wiederausstieg des Staates.“ Ende Zitat Monopolkommission.
Meine Damen und Herren, genau so hat der Minister die Beteiligung an diesem Unternehmen angelegt. Am Beispiel CureVac kann man gut sehen, dass das, was für ein großes Verkehrsunternehmen gilt, auch für die Vorsorge, für den Schutz der Bevölkerung durch einen Impfstoff gilt, den wir noch herstellen müssen.
Es geht weiterhin um Gefahrenabwehr. Wir sind immer noch mitten in der Krise, und wir müssen alles dafür tun, dass wir da herauskommen.
Vielen Dank.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die soziale Marktwirtschaft lebt von Wettbewerb und staatlicher Rahmensetzung, verbunden mit entschlossenem Eingreifen, wenn diese Rahmensetzungen bedroht werden. Dazu gehört auch die staatliche Bereitschaft, Unternehmen zu gründen, zu übernehmen oder sich daran zu beteiligen, wenn die Situation das erforderlich macht. Das gilt insbesondere in Krisensituationen oder bei strategischen Zielen, sehr prominent etwa bei der staatlichen Beteiligung am Volkswagen-Konzern unter dem hier schon mehrfach zitierten Wirtschaftsminister Ludwig Erhard – offenkundig auch damals sehr gut vereinbar mit der sozialen Marktwirtschaft. Daran hat sich nichts geändert.
Es gibt keine signifikante Änderung in den Zielen der Beteiligungspolitik der Bundesregierung. Die vom FDP-Antrag postulierte „Rückkehr zur Normalität“ greift ins Leere. Was es aber gibt, sind neue Herausforderungen durch die Coronapandemie und ihre weltweiten Verwerfungen durch den drastischen Rückgang internationaler Handelsströme. Darauf hat die Bundesregierung in der Arbeitsmarkt-, Wirtschafts- und Industriepolitik entschlossen reagiert. Beteiligungen zur Abwehr von Schaden für unsere Volkswirtschaft und einzelne Unternehmen gehören dazu. Die Coronafolgen und der rapide Strukturwandel haben beispielsweise viele Unternehmen in der Automobilzulieferindustrie unter Druck gesetzt. Nicht nur in der Nahe-Region, aus der ich komme, ist das eine strategisch wichtige Industriesparte. In Bad Kreuznach, Bad Sobernheim oder Idar-Oberstein sorgt sie für eine gute Beschäftigung in hochqualifizierten Berufen, für viele Folgeaufträge in Handwerk und Dienstleistungen und dient als Träger für die Innovationen in die ganze Wirtschaft.
Diese vorwiegend mittelständisch strukturierte Branche müssen wir schützen und erhalten. Deswegen ist der Vorschlag des SPD-Vorsitzenden Norbert Walter-Borjans und der IG Metall, solchen Unternehmen einen Beteiligungsfonds an die Seite zu stellen, um eine feindliche Übernahme aus einer Kapital- und Liquiditätsschwäche heraus zu verhindern, völlig richtig.
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Dieser Vorschlag passt in unsere Zeit, weil er pragmatisch und effizient ist und den Unternehmen hilft.
Die Vorschläge der FDP zu dem Thema sind das Gegenteil: Sie sind ideologisch geprägt, umständlich und nützen am Ende niemandem. Es befremdet mich auch, wie wenig der Antrag der FDP auf die Interessen von mittelständischen Unternehmen eingeht. Das war mal eine von Ihnen heftig umworbene Klientel; heute ist sie Ihnen nicht mal mehr eine Erwähnung wert. Erstaunlich ist auch die Geringschätzung der öffentlichen Infrastruktur. Ausgerechnet jetzt die staatlichen Beteiligungen an Stromnetzen, an der Deutschen Bahn, an Post und Telekom infrage zu stellen, ist sachlich nicht begründbar. Im Gegenteil: Wenn nicht unter tatkräftiger Beteiligung der FDP der privatwirtschaftliche Ausbau der digitalen Netze forciert worden wäre, sondern wir beim Mobilfunk- und Glasfaserausbau mehr auf einen staatlich gelenkten Infrastrukturausbau gesetzt hätten, stünden wir heute besser da.
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Bei mehr Staat und weniger gewinnorientiertem Rosinenpicken wären insbesondere die ländlichen Regionen in unserem Land bei der Digitalversorgung in einer besseren Lage.
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Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, staatliche Beteiligungen an Unternehmen und Privatisierungen dürfen nie Selbstzweck sein. Deswegen sind die Forderungen der FDP, schon jetzt feste Vorgaben für Privatisierungen bis Ende 2022 zu machen und ohne Erkenntnis der Entwicklung der Märkte Anteile von Post, Telekom und Commerzbank zu verkaufen, wirtschaftspolitisch unausgegoren.
Nein, der Weg muss ein anderer sein. Es braucht erstens behutsame, an den Erfordernissen der Branche und den Unternehmen ausgerichtete Beteiligungen, zweitens die Entsendung qualifizierter Vertreterinnen und Vertreter in die Aufsichts- und Lenkungsgremien und drittens keine unmittelbare Einwirkung auf detaillierte betriebswirtschaftliche Entscheidungen der Unternehmen. Das stärkt unsere Marktwirtschaft; denn wir brauchen gerade jetzt ruhiges und pragmatisches Handeln und keine falschen Grundsatzdebatten. Deswegen lehnen wir den Antrag der FDP inhaltlich ab.
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Vielen Dank, Dr. Joe Weingarten. – Nächster Redner: für die Fraktion Die Linke Alexander Ulrich.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es liegt wirklich mal wieder ein abenteuerlicher Antrag der FDP vor. Man kann mittlerweile erkennen, warum euer Parteivorsitzender und Fraktionsvorsitzender dringend nach etwas Wirtschaftskompetenz sucht, die Generalsekretärin gemeuchelt hat und jetzt auf die Wunderwaffe Volker Wissing setzt; denn was heute hier und auch im Wirtschaftsausschuss von Ihnen gesagt worden ist, zeigt, dass Sie wirtschaftspolitisch in dieser Krise ein Totalausfall sind.
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Ginge es nach der FDP, hätten wir heute schon Hunderttausende Arbeitslose mehr. Sie kritisieren ganz offen und überall die Verlängerung der Bezugsdauer des Kurzarbeitergeldes. Wenn wir das nicht machen würden, würde das im Ergebnis dazu führen, dass wir amerikanische Verhältnisse hätten. Wir hätten heute wahrscheinlich 1 bis 2 Millionen Arbeitslose mehr, wenn direkt entlassen worden wäre. Sie sind auch gegen staatliche Beteiligungen, durch die ja hoffentlich auch Jobs gerettet werden. Die FDP ist mal wieder für die Aktionäre und für die Wohlhabenden, aber nicht für die Beschäftigung und für die Daseinsvorsorge des Staates.
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Deshalb kann man nur sagen: Ihr Antrag sollte möglichst schnell dahin, wo er hingehört, nämlich in den Mülleimer. Wir sollten uns im Wirtschaftsausschuss gar nicht mehr damit beschäftigen.
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Herr Altmaier, es ist schön, dass Sie heute hier sind. Ich fange mal ein bisschen positiv an. Sie haben mich diese Woche schon zweimal überrascht. Am Montag haben Sie bei „Hart aber fair“ erklärt, dass Sie gegen Sanktionen sind – wenn es um Nord Stream 2 geht, geben wir Ihnen sogar recht; aber dann frage ich mich, warum Sie in der Vergangenheit bei gewissen Staaten immer für Sanktionen waren –, und heute stellen Sie sich hierhin und sagen, Sie wären schon dafür, dass der Staat in der öffentlichen Daseinsvorsorge seine Rolle hat. Sie haben die FDP kritisiert, dass sie in ihrem Antrag von Ihnen abgeschrieben habe. Wenn Sie sich jetzt für die öffentliche Daseinsvorsorge in staatlicher Hand aussprechen, dann würde ich Ihnen nach der Debatte einen Auszug aus unserem Parteiprogramm geben; denn da machen wir gute Vorschläge, was alles in staatlicher Hand sein sollte.
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Da geht es – das kann ich dem Vorredner sagen – um Internetverbindungen, um Energieversorgung, es geht um Wasser, es geht aber auch um das Gesundheitswesen. Stellen Sie sich doch mal hierhin und sagen: Jedes Krankenhaus, das privatisiert worden ist, sollte wieder rückverlagert werden. Wir brauchen eine Rekommunalisierung der Krankenhäuser.
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Wir wollen kein Geschäft mit kranken Menschen, sondern wir wollen, dass der Mensch im Mittelpunkt steht. – Das wäre mal eine lohnenswerte Debatte.
Zum Thema Lufthansa sage ich Ihnen, Herr Altmaier: Da haben Sie vieles falsch gemacht. Wenn Sie 9 Milliarden Euro in die Hand nehmen – also viel mehr, als dieses Unternehmen an der Börse wert ist –, aber komplett darauf verzichten, ein Mitspracherecht auszuüben, dann tun Sie das Gegenteil von dem, was wir als Linke fordern: Wenn sich der Staat beteiligt, muss das mit Beschäftigungssicherung einhergehen und bei der Lufthansa auch mit klimagerechtem Arbeiten. Aber darauf verzichten Sie.
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Es hätte sich jetzt die Chance geboten, statt dass die Lufthansa 20 000 Arbeitsplätze abbauen will, darüber zu debattieren, mit staatlicher Unterstützung zum Beispiel zu einer Arbeitszeitverkürzung à la IG Metall – Viertagewoche für gewisse Branchen – zu kommen. Das wäre nicht nur bei der Lufthansa ein geeignetes Instrument, um Beschäftigung zu sichern.
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Nur: Wenn der Staat sich da rauszieht, dann hat man diese Einflussmöglichkeiten natürlich nicht.
Herr Altmaier, wir unterstützen Sie dann, wenn Sie Ihren Worten glaubhaft folgen wollen, dass wir in vielen Bereichen eine Rekommunalisierung brauchen. Dafür muss der Bund die Kommunen finanziell durch einen Altschuldenfonds entlasten, damit die Kommunen aktiv bleiben können. Dann hätten Sie auch uns auf Ihrer Seite. Aber ich glaube, das, was Sie heute gesagt haben, haben Sie nicht ernst gemeint.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Alexander Ulrich. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Dr. Andreas Lenz.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man liest ja Anträge für gewöhnlich immer, auch wenn sie von der Opposition kommen. Es ist schon so, dass man einen FDP-Antrag vielleicht sogar etwas offener liest. Aber um ehrlich zu sein: Überzeugt haben Sie von der FDP mich leider in keiner Weise. Ich glaube, dem Antrag mangelt es vor allem an Differenziertheit, die wir gerade jetzt aber brauchen.
Sie werfen beispielsweise die Beteiligung an der Commerzbank mit der Beteiligung an 50Hertz in einen Topf, und das ist grundfalsch. Sie differenzieren eben nicht, dass es sich bei 50Hertz um kritische Infrastruktur handelt. Hier liegt es im nationalen Interesse, dass ebendieser Bereich nicht in das außereuropäische Ausland geht. Dafür haben wir Sorge getragen.
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Deutschland kommt nach wie vor besser durch die Krise als andere Länder. Beispielsweise beträgt der Rückgang der Wirtschaftsleistung im zweiten Quartal im Vereinigten Königreich 20 Prozent, in Deutschland lediglich minus 10 Prozent. Das ist immer noch viel. Die Zahl der Menschen in Kurzarbeit geht zurück, und die Exporte steigen wieder kräftig. Jetzt will ich die Probleme in keiner Weise verhehlen – dem Minister wird häufig ein gewisser Überoptimismus vorgeworfen –, aber im Zweifel bin ich auch hier bei Ludwig Erhard; mit dem halten Sie von der FDP es ja auch. Er meinte einmal wörtlich – ich zitiere –: „Ich glaube, es ist immer noch besser, die Wirtschaft gesundzubeten, als sie totzureden.“
Dass nicht alles gut ist, wissen wir. Wir befinden uns, wirtschaftlich gesehen, in der schwierigsten Situation der Nachkriegsgeschichte. Aber gerade in so einer Situation müssen wir pragmatisch sein; wir dürfen nicht dogmatisch sein. Wir stehen fest auf den ordoliberalen Grundsätzen der sozialen Marktwirtschaft. Das sind unsere Leitplanken mehr denn je. Wer, wenn nicht die Union, sollte denn die soziale Marktwirtschaft in der heutigen Zeit verteidigen?
Wir müssen aber auch berücksichtigen, dass sich die Welt verändert hat. Bei der Plattformökonomie beispielsweise schafft der Markt selbst quasi globale Monopole. Die Welt dreht sich eben weiter, und man könnte fast meinen: Die FDP bleibt dabei leider stehen.
Durch die Krise drohen deutsche Unternehmen zu Übernahmekandidaten zum Schnäppchenpreis zu werden. Dagegen gehen wir mit dem WSF vor. Bei dieser Gelegenheit will ich auch betonen, dass das Instrument der Beteiligungen im Einklang mit dem EU-Wettbewerbsrecht steht. Die Kommission hat das Instrument genehmigt. Aber ganz klar, für uns gilt in Abwandlung eines Satzes von Herbert Wehner: Wer einsteigt, muss natürlich auch wieder aussteigen. Wir glauben nicht, dass der Staat der bessere Unternehmer ist. Das unterscheidet uns von der linken Seite des Parlaments. Ebenso ist es völlig fehl am Platze, jetzt der Staatswirtschaft das Wort zu reden. Sie wollen Staatswirtschaft oder Planwirtschaft. Wir wollen weiterhin unsere Marktwirtschaft.
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Wir werden auch nicht jeden und alles retten können. Das ist Teil der Wahrheit, die wir auch offen aussprechen müssen. Wir brauchen deshalb eine Kaskade des Rettens: Was retten wir, was retten wir nicht? Hierbei müssen wir ordnungspolitische Überlegungen genauso wie Gerechtigkeits- und Souveränitätsfragen in der Debatte berücksichtigen.
Der Ökonom Joseph Schumpeter spricht von der „schöpferischen Zerstörung“. Wir müssen aber aufpassen, dass es nicht nur Zerstörung gibt und die kreative Schöpfung woanders stattfindet. Darum haben wir im Konjunkturpaket ein Zukunftspaket mit verankert. Wir investieren gerade jetzt nachhaltig in Zukunftstechnologien. Wir bringen dabei Ökologie und Ökonomie zusammen. Als Beispiel sei die Wasserstoffstrategie genannt. Wir investieren aber auch in künstliche Intelligenz, in Quantentechnologie und in 5G-Netze. Der 10-Milliarden-Euro-Zukunftsfonds ist auch auf die Schiene gebracht.
Wir handeln also pragmatisch und nicht dogmatisch, auf Basis der sozialen Marktwirtschaft, und das ist genau richtig und zukunftsorientiert.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Dr. Andreas Lenz. – Nächster Redner: Uwe Kamann.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren Bundestagsabgeordnete! Verehrte Kollegen von der FDP, grundsätzlich haben Sie mit Ihrem Antrag recht. Wir brauchen keinen zu starken Protektionismus und schon gar keine Staatswirtschaft in Deutschland. Ich wende mich entschieden gegen alle Bestrebungen, die Coronapandemie zu missbrauchen, um einen noch größeren staatlichen Einfluss auf Wirtschaft und unternehmerische Entscheidungen voranzutreiben. Wir erleben schon länger und besonders aktuell eine einseitige Bevorzugung politisch gut vernetzter, global agierender Konzerne mit enormen Stützungsbeträgen. Einzelselbstständige, kleine und mittlere Unternehmen bleiben dagegen häufig auf der Strecke.
Für diese gefährliche Entwicklung steht maßgeblich neben der SPD ausgerechnet das CDU-geführte Wirtschaftsministerium. Die Politik, die im CDU-Wirtschaftsministerium gemacht wird, befördert die wachsende Abkehr von marktwirtschaftlichen Prinzipien hin zu mehr staatlich gelenkter Industriepolitik. Wer die Folgen dieses Irrwegs sehen will, muss nur zu unserem Nachbarn Frankreich blicken. Die Konzerne nehmen die staatliche Unterstützung natürlich gerne an, inklusive der Wettbewerbsvorteile gegenüber ihrer Konkurrenz. Gleichzeitig ist es weltfremd, anzunehmen, dass staatliche Beteiligung keine Auswirkungen hätte und nicht zumindest versucht würde, politischen Einfluss zu nehmen, wie uns bei der Lufthansa die Grünen und die Linken eindrucksvoll unter Beweis gestellt haben.
Der Irrglaube, dass staatliche Reglementierungen und politische Einflussnahme effizienter seien und die Bedürfnisse unserer Bürger besser befriedigen könnten als Wettbewerb und unternehmerisches Risiko, ist durch die Geschichte eindrucksvoll widerlegt. Marktwirtschaft, besonders soziale Marktwirtschaft, erzeugt Wohlstand; Staatswirtschaft erzeugt Elend und Armut.
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Ich bin vor Kurzem auch deshalb der Partei Liberal-Konservative Reformer beigetreten, um wieder mehr von dem Geist Ludwig Erhards in unsere politische Arbeit einzubringen, um unseren Mittelstand zu fördern und unsere Wirtschaft damit zu stärken. All das, was Sie schon lange nicht mehr ernsthaft vertreten, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP!
Mir geht es auch darum, den liberalkonservativen Motor für die Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland neu zu starten. Die Union hat diesen Motor durch immer mehr Regulierungen und durch immer mehr Eingreifen des Staates erheblich zum Stottern gebracht. Das dürfen wir nicht weiter zulassen. Wir können Ihren Antrag, liebe FDP, nicht unterstützen, weil die darin aufgeführten Maßnahmen wenig durchdacht und realitätsfern in der Umsetzung sind.
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Zusätzlich erlauben Sie mir, darauf hinzuweisen, dass auch Sie planwirtschaftliche Instrumente wie zum Beispiel das EEG mitgeschaffen haben. Auch bei Ihren Regierungsbeteiligungen in Bund und Ländern sind Sie kaum durch großen Widerspruchsgeist aufgefallen. Da hilft es wenig, nur auf der Oppositionsbank ein zu starkes Eingreifen des Staates zu beklagen. Am Ende sind Sie doch dabei.
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Aber mit einem haben Sie uneingeschränkt recht: Wir brauchen mehr Vorfahrt für die soziale Marktwirtschaft und keine Vorfahrt für Konzerne mit Staatsbeteiligung.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Uwe Kamann.
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Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Falko Mohrs.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Houben, wir sind ja in den letzten Jahren antragsmäßig und redemäßig auch von der FDP schon einiges gewohnt. Ich muss aber sagen: Das, womit Sie Ihren Antrag hier eingeleitet haben, war schon ziemlich unterste Schublade. Da schreiben Sie, dass wir Corona als Türöffner für Protektionismus und staatswirtschaftliche Politik nutzen würden.
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Sie unterstellen uns also tatsächlich, dass wir Corona ausnutzen für das, was wir wirtschaftlich und sozial tun und tun müssen. Das, Herr Houben, finde ich in Anbetracht dessen, was viele Menschen in diesem Land in den letzten Monaten erleben, und der Krise, durch die viele Unternehmen in den letzten Monaten gehen müssen, wirklich verachtenswert. Es tut mir leid.
Herr Houben, Sie standen ja gestern auf der Bühne vor vielen Tausend Menschen der Veranstaltungsbranche. Vielleicht sollten wir Sie noch mal daran erinnern: Sie könnten Ihre Rede hier im Deutschen Bundestag gar nicht halten, wenn es nicht Menschen aus der Veranstaltungsbranche gäbe, die für Sie oder für mich das Mikrofon einschalten oder sich um das Licht kümmern. Herr Houben, wie können Sie diesen Menschen ins Gesicht schauen? Diesen Menschen rinnt die zum Teil jahrzehntelange Arbeit durch die Finger, und das nur, weil ein Virus, Corona, auf ihr gesundes Unternehmen getroffen ist.
Ich finde es richtig und wichtig, dass die Bundesregierung und wir hier im Bundestag in großer Einheit Verantwortung übernehmen für die Menschen, die mit ihren Unternehmen in Schwierigkeiten geraten sind, und für die vielen Hunderttausend Menschen, denen ohne die staatlichen Hilfen die Arbeitslosigkeit drohen würde.
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Wenn Sie hier kritisieren, dass wir auch die Lufthansa stützen, dann frage ich mich wirklich, wie Sie den Kolleginnen und Kollegen bei der Lufthansa ins Gesicht schauen können, die bei Ihrem nächsten Flug für Ihre Sicherheit und für Ihren Service in den Maschinen unterwegs sind.
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Wenn Sie mal wieder zum Besten geben, dass Sie bei der Deutschen Post und bei der Telekom alle staatlichen Anteile verkaufen oder auch Teile der Bahn privatisieren wollen: Wie wollen Sie das den Kolleginnen und Kollegen eigentlich erklären? Beim nächsten Tagesordnungspunkt sprechen wir über die Missstände in der Fleischindustrie und über die Notwendigkeit, dort aktiv zu werden. Das, was wir dort unternehmen, haben Sie vor Kurzem übrigens noch als Symbolpolitik bezeichnet.
Herr Houben, wie können Sie diesen Menschen noch ins Gesicht schauen und sagen, es handele sich um Symbolpolitik, wenn wir deren dramatische Situation verändern und verbessern? Herr Houben, was Sie in diesem Antrag schreiben und was Sie in Ihrer Rede gesagt haben, das schockiert mich in der Tat.
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Sprechen wir noch über die Sache mit der staatlichen Stütze. Das ist ja kein Selbstzweck! Sie tun in Ihrem Antrag so, als sei das alles ein Selbstzweck, was wir hier machen. Wenn mit den staatlichen Stützen, auch mit den staatlichen Beteiligungen, eine Brücke gebaut wird für die Unternehmen, wenn mit der Verlängerung des Kurzarbeitergeldes eine stabile Brücke – die stabilste, die wir derzeit überhaupt haben – errichtet wird, um Beschäftigung zu sichern, dann, Herr Houben, ist das genau das, was der Staat in einer Krise tun muss.
Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Wir brauchen keine Beteiligungsbremse, so wie Ihnen das hier vorschwebt, sondern wir brauchen eine Antragsbremse für die FDP, Herr Houben. Das würde uns am meisten helfen.
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Zu guter Letzt möchte ich noch die Chance nutzen, einen Dank auszusprechen. In den letzten Monaten haben sehr viele Menschen aus dem Rettungswesen Verantwortung übernommen, und sie beteiligen sich auch an dem heutigen Warntag in Deutschland. Ich möchte ihnen allen noch einmal Danke sagen für das, was sie in den letzten Monaten für uns geleistet haben und auch weiterhin für uns leisten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Falko Mohrs. – Letzter Redner in dieser Debatte ist Mark Hauptmann für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Politik muss sich erklären, ganz besonders in Krisenzeiten. Peter Altmaier macht das wie kein anderer Wirtschaftsminister in einer schwierigen, wahrscheinlich in der schwierigsten Situation, in der sich Deutschland wirtschaftspolitisch in der Nachkriegsgeschichte jemals befunden hat.
Er erklärt und – ganz wichtig; das ist die zweite Aufgabe von Politik – er zeigt auch die Alternativen auf: Was sind die Alternativen, vor denen wir stehen? – Wir tragen natürlich Ludwig Erhard als den geistigen Vater der sozialen Marktwirtschaft in unseren Herzen, und wir schauen zugleich: Können wir diesem Anspruch, dass der Staat nicht der bessere Unternehmer ist, auch in der Praxis gerecht werden, wenn es darum geht, Deutschland durch eine Krise zu führen? Oder braucht es eine Anpassung zwischen Theorie und Praxis und ein ganz konkretes Handeln unter Zeitdruck, um dieses Land vor tiefgreifenden Verwerfungen, vor Massenarbeitslosigkeit und vor einer fehlenden strategischen Ausrichtung in der Zeit nach der Krise zu schützen?
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Dieser Verantwortung wird das Bundeswirtschaftsministerium mit Peter Altmaier an der Spitze sehr gut gerecht.
Die Pandemie, wie wir sie derzeit erleben, zwingt uns zum Umdenken. Sie offenbart uns die Schwierigkeiten, vor denen wir stehen; denn wir wollen natürlich nicht alles verstaatlichen. Dann wären wir bei der Linkspartei.
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Sie glauben wahrscheinlich, der Staat ist der bessere Unternehmer in diesem Land. Die große Mehrheit dieses Hauses glaubt das jedoch nicht.
Bei jeder einzelnen Entscheidung muss man sich immer darüber klar werden: Was sind die Alternativen? Gibt es eine Exit-Strategie? Ist dieses Geschäftsmodell zukunftsfähig? Kommt es zu großen Wettbewerbsverzerrungen? Wie sieht eigentlich ein Szenario ohne eine staatliche Beteiligung aus?
Ich möchte in dieser Debatte abschließend noch mal die wesentlichen kritischen Fragen differenziert darstellen und herausarbeiten, wo die Unterschiede in diesem Hause liegen. Als Partei mit Regierungsverantwortung für dieses Land sagen wir: Der Staat hat die elementare Aufgabe, die strategische Infrastruktur in diesem Land zu schützen, und zwar vor ausländischen Investoren, Stichwort: 50Hertz und China.
Wir sagen aber auch: Der Staat hat eine bestimmte Aufgabe, wenn es darum geht, als größte Exportnation in Europa und eine der größten Exportnationen in der Welt dafür zu sorgen, dass man eine große deutsche Airline erhält. Dabei geht es nicht nur um Hunderttausende Arbeitsplätze, sondern auch darum, ein gesundes Geschäftsmodell durch die Krise zu führen, um danach als Exportnation mit einer großen deutschen Airline wie der Lufthansa erfolgreich zu sein.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe, geschätzte Kollegen der FDP, schauen Sie sich doch bitte die Realität auf dem Airline-Markt an, bevor Sie von Wettbewerbsverzerrung seitens des Staates sprechen. Bei einem Großteil der Airlines weltweit handelt es sich um Staatsairlines. Das heißt, hier tritt nicht eine private Airline in Konkurrenz mit anderen privaten Airlines; vielmehr ist wegen der starken Subventionierung der Airlines in anderen Staaten dieses Wettbewerbsmodell schon längst verzerrt; dies war auch schon vor Corona so.
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Die Alternative, die Sie von der FDP und von der AfD aufzeigen, lautet: Liebe Lufthanseaten, liebe Mitarbeiter, mit uns verlieren Sie Ihren Job, weil wir nicht daran glauben, dass man dieses Unternehmen durch eine Krise in die Zukunft führen möchte; außerdem wollen wir in Zukunft keine globale deutsche Airline mehr haben.
Als weiterer Fall wurde noch CureVac angesprochen. Anfang dieses Jahres gab es Interessenbekundungen seitens der USA, hier einzugreifen. Die Antwort, die Sie von der FDP und von der AfD gegeben hätten, wäre gewesen: Liebe Mitarbeiter von CureVac, Sie können weiter am Impfstoff forschen. Aber Ihren Familienangehörigen in Deutschland kommt er nicht zugute; denn der wird exklusiv für die USA produziert.
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Herr Kollege.
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. – Da sagen wir Nein. Hier hat der Staat die Verantwortung, uns ganz besonders in der Krise an der Seite der deutschen Wirtschaft wettbewerbsfähig durch die Krise zu führen. Das macht deutlich, warum wir in der Regierung verantwortungsvoll für dieses Land handeln, Sie von der Opposition hingegen nicht.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Mark Hauptmann. – Damit schließe ich die Aussprache.
Intrafraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/22107 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Dazu gibt es keine weiteren Vorschläge. Dann verfahren wir genau so.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Stellen Sie sich vor: blutige Schweinekadaver im Akkord zerlegen, Schulter an Schulter mit Kollegen, ohne Schutz vor Corona, 12 Stunden am Stück malochen, manchmal aber auch 16, an sechs oder sieben Tagen in der Woche, am Abend eingepfercht in einen kleinen Bus ohne Schutz, dann Kasernierung in einer kleinen Bruchbude – und das Einzige, das du hast, ist eine schimmelige Matratze, die dich mehrere Hundert Euro im Monat kostet, und vielleicht noch ein Foto von deiner Familie, die tausend Kilometer entfernt lebt.
Das klingt wie eine finstere Beschreibung des Manchester-Kapitalismus im 19. Jahrhundert. Es ist aber, meine Damen und Herren, Realität im 21. Jahrhundert, leider auch mitten in Deutschland. Deshalb sage ich: Diese Ausbeutung ist eine Schande für unser Land.
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Wir werden damit aufräumen.
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Meine Damen und Herren, natürlich rede ich von Zuständen, die teilweise, aber in erheblichem Umfang in der deutschen Fleischindustrie herrschen. Das ist jetzt nicht ausgedacht. Das besagen Kontrollen der Arbeitsschutzbehörden des Landes Nordrhein-Westfalen; das besagen Kontrollen des Zolls, des Bundes. Hier arbeiten Menschen, überwiegend aus Mittel- und Osteuropa, deren Rechte und Würde mit Füßen getreten werden. Die Coronakrise hat diese Missstände schonungslos offengelegt. Ich muss einmal persönlich sagen: Es ist schlimm, dass es einer Pandemie bedurfte, damit das ins öffentliche Bewusstsein gelangt. Das war vorher schon nicht in Ordnung.
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Ich sage aber auch: Wann, wenn nicht jetzt, ist es Zeit, die Verhältnisse grundlegend zu ändern?
Mit dem Arbeitsschutzkontrollgesetz, das wir heute in erster Lesung im Deutschen Bundestag beraten, machen wir genau das.
Es geht erstens darum, im Kerngeschäft der Fleischindustrie Werkverträge und Leiharbeit zu verbieten. Wir wollen dafür sorgen, dass die Arbeiter in dieser Industrie direkt beim Unternehmen angestellt sind. Das gilt übrigens – bei allen Gerüchten – nicht für den Dorfmetzger, der seine eigene Schlachtung betreibt, sondern das gilt für die Fleischfabriken; denn da ist das Problem. Und nein, ich habe dem Grunde nach nichts gegen den Einsatz von Werkverträgen in unserer Wirtschaftsordnung. Wenn ein großes Unternehmen einen Handwerker beauftragt, eine Sicherheitsanlage einzubauen, ist das ein ganz normaler Werkvertrag. Aber wir haben in dieser Situation erlebt, dass Werkverträge und Fremdarbeit mit Ausbeutung verwechselt wurden. Wenn 80, 90 Prozent der Beschäftigten nicht mehr angestellt sind, dann geht es um organisierte Verantwortungslosigkeit von Unternehmen, dann geht es um Lohndrückerei, dann geht es um mangelnden Arbeitsschutz, und das müssen wir beenden.
({3})
Zweitens. Auf den Schlachthöfen gilt künftig eine elektronische Arbeitszeiterfassung, damit die Unternehmen bei der Arbeitszeit nicht länger tricksen und jede geleistete Stunde auch anständig bezahlt wird.
Herr Minister, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung vom Kollegen Dr. Dehm?
Nein, das können wir später miteinander klären. Ich würde gern im Zusammenhang vortragen. Aber wenn Sie eine Kurzintervention haben, bin ich gern bereit, darauf zu antworten, Herr Dehm.
Das genehmigen aber nicht Sie, sondern ich.
Das stimmt, die Präsidentin genehmigt. Ich wollte nur meine Bereitschaft signalisieren, Frau Präsidentin.
Dann schauen wir mal.
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Wer gegen Arbeitszeitregeln verstößt – das gehört zur Arbeitszeiterfassung dazu –, der wird auch deutlich stärker zur Kasse gebeten.
Drittens. Es wird in allen Branchen mehr Arbeitsschutzkontrollen geben, aber vor allen Dingen dort, wo Gefährdungspotenziale besonders hoch sind, wie beispielsweise in der Fleischindustrie. Noch mal: Die Kontrollquoten gelten für alle Unternehmen in Deutschland. Das ist auch notwendig, nachdem in den Bundesländern leider oft die Arbeitsschutzbehörden in den letzten Jahrzehnten kaputtgespart wurden. Wir brauchen das Personal. Denn unsere Erfahrung in dieser Branche ist: Wenn nicht hingesehen und kontrolliert wird, dann wird missbraucht.
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Viertens. Wir machen Schluss mit Gammelunterkünften. Künftig gelten Mindeststandards für die Unterbringung der Beschäftigten. Das gilt übrigens auch nicht nur für die Fleischbranche, sondern auch für andere Bereiche. Denn egal ob die Sammelunterkünfte in der Fleischbranche oder in der Landwirtschaft sind, sie müssen menschenwürdig sein.
Fünftens. Die Arbeitgeber müssen künftig genau dokumentieren, wo ihre ausländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eingesetzt und untergebracht werden, damit die Behörden das eben auch kontrollieren können.
Meine Damen und Herren, jeder Mensch, der in Deutschland arbeitet, egal wo er geboren ist und welche Sprache er spricht, jeder, der zum Erfolg dieses Landes beiträgt, jeder, der fleißig ist, hat ein Anrecht darauf, vernünftig und anständig behandelt zu werden. Egal ob er oder sie die deutsche Sprache spricht oder nicht: Jeder Mensch hat das gleiche Recht auf Würde. Es darf keine Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zweiter Klasse geben.
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Deshalb haben wir das Entsendegesetz geändert. Deshalb haben wir auf europäischer Ebene im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft eine Initiative zum Schutz von Saisonarbeitskräften gestartet. Deshalb haben wir als Koalition mit dem Projekt „Faire Mobilität“ dafür gesorgt, dass die Menschen in ihrer Muttersprache auch über ihre Rechte als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Bescheid wissen. Nun kommt das Arbeitsschutzkontrollgesetz, ein weiterer wichtiger Baustein auf diesem Weg.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich will das zum Schluss nicht verschweigen: Sie werden jetzt alle nach der ersten Lesung erleben – es hat ja schon angefangen –, dass eine Riesenmasse von Lobbyisten hier in Berlin versuchen wird, dieses scharfe Gesetz aufzuweichen. Wir werden erleben, dass Vertreter organisierter Konzerninteressen mit sehr, sehr viel Geld in einer milliardenschweren Branche Rechtsgutachten bestellen und Sie in Ihren Wahlkreisen aufsuchen werden. Meine Bitte ist: So wichtig wirtschaftlicher Erfolg in diesem Land ist, an dieser Stelle geht es um die Würde von Menschen und nicht die Interessen einiger Konzerne. Lassen Sie sich von diesem Lobbyismus im Verfahren nicht beeindrucken.
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Lassen Sie uns geschlossen für Gerechtigkeit und Menschenwürde eintreten. Ich bitte Sie um Zustimmung zum Arbeitsschutzkontrollgesetz und freue mich auf die weiteren Beratungen. Wir müssen dafür sorgen, dass diese Krise nicht missbraucht wird nach dem Motto „War ja nicht so schlimm; wir machen wieder Freiwilligkeit“. Dieses Katz-und-Maus-Spiel hat dieser Deutsche Bundestag zu oft mit dieser Branche erlebt. Deshalb ist meine Bitte, dass wir tatsächlich zur Verabschiedung dieses Gesetzes kommen. Wir müssen dafür sorgen, dass wir die Verhältnisse in diesem Bereich neu ordnen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Hubertus Heil. – Jetzt hat Dr. Dehm die Möglichkeit zu einer Kurzintervention. Herr Minister, wenn Sie wollen, können Sie von der Regierungsbank aus antworten.
Herr Minister, wenn Sie die Frage zugelassen hätten, dann hätte ich Sie gefragt – aber Sie haben ja jetzt die Gelegenheit, darauf anders zu antworten –, ob Sie die Schärfe Ihres Gesetzes nicht in einigen Punkten überschätzen. Ich glaube allerdings, dass auch schon weniger scharf formulierte Gesetze die Lobbyistentätigkeit so auslösen würden, wie Sie es beschrieben haben; deswegen haben auch einige von uns bei Ihrer Rede an einigen Stellen geklatscht, was völlig zutreffend war.
Aber können Sie mir mal erklären, warum die Fristen für das Verbot von Werkverträgen zum 1. Januar 2021 und für Leiharbeit zum 1. April 2021 so unterschiedlich gesetzt sind? Sie werden möglicherweise Anpassungsprobleme ins Feld führen; aber der Großteil der Beschäftigten ist doch bisher im Rahmen von Werkverträgen angestellt. Vom Bauerngut Bückeburg in Niedersachen, unserem gemeinsamen Land, weiß ich zum Beispiel, dass man alle Werkverträgler schon in Leiharbeiter umgewandelt hat, also weiter nicht fair bezahlt – aufgrund der unterschiedlichen Fristsetzung. Ich halte auch 30 000 bis 50 000 Euro Strafe nicht für etwas, was Tönnies sonderlich in die Knie zwingt, sondern für etwas, was ihm eher ein mildes Lächeln abringt. Tönnies gründet kleine Firmen mit bis zu 49 Beschäftigten aus, um unter der Kontrolle wegzutauchen. Wissen Sie also, welche Schlupflöcher für Kapitalwillkür bei diesem scharfen Gesetz weiterhin bestehen?
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Vielen Dank, Diether Dehm. – Hubertus Heil.
Sehr geehrter Herr Kollege Dehm, ich bin Ihnen sehr dankbar für diese Intervention, weil wir vor allen Dingen beim letzten Punkt, den Sie genannt haben, etwas klarstellen müssen. Tatsächlich haben wir erlebt, dass früher Gesetze durch neue Konstruktionen ausgehebelt wurden, beispielsweise als Andrea Nahles 2017 ein Gesetz durchgebracht hat, das die Nachunternehmerhaftung für Sozialversicherungsbeiträge geregelt hat; der Kollege Weiß erinnert sich. Ich will an dieser Stelle auch mal dem früheren Kollegen Schiewerling danken, der sich da sehr engagiert hat.
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Da haben wir tatsächlich erlebt, dass man sich mit großer Energie auf eine neue Rechtslage mit neuen Konstruktionen von Sub-Sub-Subunternehmern eingestellt hat, um bestehende Gesetze auszuhebeln. Das ist mir sehr bewusst.
Deshalb haben wir bei diesem Gesetz darauf geachtet, dass wir das Menschen- und rechtlich Mögliche tun, um einen solchen Missbrauch auszuschließen. Ich will das auch zu der Meldung von einem Unternehmen sagen, das jetzt Tochterfirmen gründet: Das wird denen an dieser Stelle nichts nutzen, weil bei der Schwelle von 50 Beschäftigten, die Sie angesprochen haben, zwei Prämissen bestehen: Es müssen wirtschaftlich selbstständige Einheiten sein, und es müssen Handwerksunternehmen sein.
Das Gesetz muss nicht in Bereichen greifen, wo wir kein Problem haben – das ist bei Dorfschlachtereien nicht der Fall –, sondern es geht um große Fabriken. Deshalb kann ich Sie an dieser Stelle nach allem, was wir wissen, Herr Dehm, beruhigen. Wir halten nach allem, was wir wissen, dieses Gesetz rechtlich für wasserdicht, wenn nicht in diesem parlamentarischen Verfahren Schlupflöcher reingeraten. Das war meine Botschaft, die ich vorhin gesetzt habe.
Zu dem anderen kann ich Ihnen eins sagen: Ab 1. Januar 2021 ist Schluss mit Werkverträgen. Das hat auch damit zu tun, dass dieses Gesetz jetzt in einem parlamentarischen Prozess ordentlich beraten und verabschiedet werden muss. Deshalb ist das Inkrafttreten dieser Regel zum 1. Januar 2021, glaube ich, parlamentarisch auch unstrittig.
Im Rahmen der Ressortabstimmung haben wir uns darauf verständigt, dass Arbeitnehmerüberlassung ab 1. April 2021 nicht mehr möglich ist. Ich halte das nicht für einen Missbrauchszeitraum. Aber darüber kann man diskutieren.
Wichtig ist doch eins, Herr Dehm: dass wir, wenn wir eine Lücke schließen – nämlich dadurch, dass wir bei Werkverträgen Schluss machen –, nicht zulassen, dass sich der Missbrauch wie Wasser einen neuen Weg über Arbeitnehmerüberlassungen sucht. Deshalb ist damit nach dem Gesetzentwurf der Koalition ab 1. April 2021 auch Schluss.
Vielen Dank, Herr Minister.
Einen letzten Satz, Herr Dehm:
Herr Minister.
Danke, dass Sie zur Sache gefragt haben und kein Coronalied gesungen haben. Das wollte ich Ihnen auch mal sagen.
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Danke schön, Hubertus Heil. – Nächster Redner in der Debatte: Uwe Witt für die AfD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Zuschauer an den TV-Geräten! Über Verbesserungen der Arbeitsbedingungen und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer in der Fleischindustrie haben wir bereits vor der Sommerpause diskutiert, und bereits da waren sich alle Fraktionen im Deutschen Bundestag einig, dass Missstände beseitigt werden müssen.
Der hier vorliegende Gesetzentwurf aus dem Hause Hubertus Heil soll nun die Lösung für die Beseitigung eines Beschäftigungskonstrukts bringen, das die Regierungsparteien mit ihrer Beteiligung an den Länderregierungen mitzuverantworten und jahrelang bewusst ignoriert haben. Erst die Coronafälle, unter anderem bei Tönnies im Landkreis Gütersloh, haben das Arbeitsministerium aus seinem Dornröschenschlaf gerissen.
Ob das Gesetz zur Verbesserung des Vollzugs im Arbeitsschutz die gewünschte Steigerung der Effizienz der Kontrollbehörden auf Landes- sowie Bundesebene herbeiführt, darf bezweifelt werden. Personalaufstockungen bei den örtlichen Gesundheitsämtern, bei den Gewerbeaufsichtsämtern sowie bei der Bundesbehörde Zoll für die Finanzkontrolle Schwarzarbeit wurden doch erst notwendig, weil seit Jahrzehnten gerade in diesen speziellen Abteilungen massiver Stellenabbau durch Bund und Kommunen erfolgt ist.
Die Folgen der Einsparungen sehen wir heute: Kontrollzyklen, bei denen man schon nicht mehr von „Zyklus“, also regelmäßiger Wiederkehr, sondern von „Zufall“ sprechen muss. Ihr Versäumnis, keine regelmäßigen Kontrollen, wie gesetzlich vorgeschrieben, durchzuführen, hat langfristig zu Tricksereien, Missbrauch und den Zuständen geführt, die Sie jetzt auf einmal beheben wollen.
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Die speziell für die Fleischindustrie kreierten Passagen des Arbeitsschutzgesetzes kommen einer Entmündigung der unternehmerischen Freiheit gleich.
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Ein völliges Verbot von Werkverträgen und Leiharbeitern im sogenannten Kerngeschäft der Fleischindustrie ist eine kurzsichtige und überzogene Reaktion auf die Coronafälle in der Branche. Statt bei der Schlachtung, der Zerlegung und der Fleischverarbeitung ausschließlich auf Festangestellte zu setzen, wäre es angemessener gewesen, eine Obergrenze für Leiharbeit und Werkverträge von 15 Prozent einzuführen,
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wie es die AfD und die Alternative Vereinigung der Arbeitnehmer seit Jahren fordern.
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Dieses hätte den Unternehmen einen Mindestspielraum für flexible Personalplanung garantiert und hätte ein Maximum an Arbeitsschutz und Arbeitnehmerrechten gewährleistet.
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Aber Sie sind ja zu Verbotsparteien geworden, nicht weil es sinnvoll ist, sondern weil es Ihnen Spaß macht, freie Bürger und Unternehmer zu gängeln.
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Herr Arbeitsminister, wieder einmal haben Sie eine gute Idee und eine hehre Absicht, die im Interesse aller Fraktionen des Deutschen Bundestages lag, durch unprofessionellen und dilettantischen Aktionismus, gepaart mit handwerklichem Unvermögen, zum Schaden sowohl der Arbeitgeber wie der Arbeitnehmer abgewickelt.
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Vielleicht hätten Sie sich Insiderinformationen von Ihrem Parteifreund Sigmar Gabriel geben lassen sollen, der ja für 10 000 Euro pro Monat noch in diesem Jahr beim Fleischriesen Tönnies beschäftigt war.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Uwe Witt. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Peter Weiß.
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Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Erlauben Sie mir, dass ich einfach mal mit einem Zitat anfange:
Die sich der Selbstverpflichtung anschließenden Unternehmen verpflichten sich, im Rahmen der rechtlichen Vorgaben, bis Juli 2016
– das ist schon ein bisschen her –
ihre Strukturen und Organisationen derart umzustellen, dass sich sämtliche in ihren Betrieben eingesetzte Beschäftigte in einem in Deutschland gemeldeten, sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis befinden …
Und dann geht es weiter:
Mit der Umstellung … ist beabsichtigt, die gesellschaftliche Integration der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und die vollständige und dauerhafte Integration … in den deutschen Arbeitsmarkt mit allen zugehörigen Rechten zu fördern und zu unterstützen.
Die Steigerung der nach deutschem (Sozialversicherungs‑)Recht beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer soll einen Beitrag zu mehr Transparenz bzgl. der Beschäftigtensituation und deren Kontrolle in der Deutschen Fleischwirtschaft leisten.
So der Text der Selbstverpflichtungserklärung der großen Unternehmen der deutschen Fleischwirtschaft im Jahr 2015.
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, toll, wenn diese Selbstverpflichtung von allen Unternehmen umgesetzt worden wäre; dann bräuchten wir heute kein Gesetz machen.
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Es ist vielleicht der Kern der sozialen Marktwirtschaft. In der Tat, „soziale Marktwirtschaft“ heißt für uns: Freiheit bei der Gestaltung der Arbeitswirklichkeit durch die Sozialpartner, Arbeitgeber und Gewerkschaften. Es wäre schön, wenn wir zum Beispiel in der Fleischwirtschaft das hätten, was die Verbände der Fleischwirtschaft jetzt kürzlich angeboten haben, nämlich einen Tarifvertrag abzuschließen, in dem nicht nur die Frage des Lohns, sondern auch die Frage der Arbeitsbedingungen, auch die Frage der Unterbringungen geregelt würde. Es wäre schön, wenn wir einen solchen Tarifvertrag schon längst hätten und er vielleicht auch für allgemeinverbindlich erklärt worden wäre. Das ist soziale Marktwirtschaft.
Aber wenn weder eine Selbstverpflichtung, die man eingegangen ist, eingelöst wird noch es bis zur Stunde einen solchen Tarifvertrag gibt, geschweige denn, dass Tarifvertragsverhandlungen erst mal begonnen hätten, dann heißt „soziale Marktwirtschaft“ auch, dass der Staat notfalls durch gesetzliche Regelungen reagieren muss, und genau das machen wir. Es ist ein marktwirtschaftlicher Weg, den wir gehen. Es wäre schöner, Selbstverpflichtungen und Tarifverträge würden das regeln, was wir jetzt durch ein Gesetz regeln müssen.
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, es geht darum, faire Arbeitsbedingungen zu schaffen und vor allen Dingen die Verantwortung zu klären. Gerade in einer Krise wie der Coronakrise kommt es dazu an, dass diejenigen, die handeln können, zu ihrer Verantwortung stehen und diese nicht an Sub-Sub-Subunternehmen delegieren. Freiheit in der sozialen Marktwirtschaft ist unbedingt verbunden mit dem Wahrnehmen von Verantwortung. Freiheit und Verantwortung gehören zusammen. Mit diesem Gesetz erinnern wir daran und verpflichten uns dazu, dass Freiheit und Verantwortung wirklich auch zusammen angesehen werden und nicht auseinanderfallen.
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Es geht um faire Bezahlung. Es geht um faire Arbeitsbedingungen. Es geht um anständige Unterbringung, die auch möglich sein muss. Deshalb machen wir dieses Gesetz, um in diesem Bereich im Grunde genommen das zu tun, was sich 2015 die großen Unternehmen der Fleischwirtschaft mit ihrer Selbstverpflichtung schon selber aufgeschrieben haben. Es ist nicht etwas Neues, was wir erfinden, sondern im Grunde genommen das, was die Fleischwirtschaft im Jahr 2015 schon mal selber für sich erkannt hat; das möchte ich gerne festhalten.
Uns als Union ist wichtig, dass wir aber auch klare Abgrenzungen vornehmen. Wichtig ist vor allem: Wir wollen, dass der normale Metzger‑, Fleischer‑ oder Handwerksbetrieb von diesen Regelungen nicht betroffen ist. Denn wir sind froh, dass wir Gott sei Dank in den meisten Städten und Gemeinden unseres Landes noch Metzger- und Fleischerbetriebe haben mit ihren Verkaufsfilialen, die dafür sorgen, dass wir, die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land, mit hervorragender Qualität, was Fleisch und Wurst anbelangt, versorgt werden. Wir wollen diesen Handwerksbereich nicht schwächen, sondern wir wollen ihn gerne weiter stärken. Wir freuen uns über die Metzger und Fleischer in unserem Land.
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Zweites Thema wird sein – wir werden uns noch mal darüber unterhalten müssen –, dass wir vor allen Dingen den Betrieben der Fleischveredelung – also denen, die dann die schönen Grillwürste und das Grillfleisch produzieren, das wir im Sommer reichlich konsumiert haben, weil ja dank Corona viele daheim waren und im Garten bei dem schönen Wetter der Grill erst recht angeschmissen worden ist – natürlich auch die Flexibilität, die sie brauchen, erhalten, um auf die unterschiedlichen Nachfragebedürfnisse unserer Bevölkerung reagieren zu können. Auch darüber werden wir uns noch mal gut unterhalten und dazu Ideen entwickeln müssen.
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, Arbeitsschutz halten wir für eine Selbstverständlichkeit. Wir wissen aber, dass Arbeitsschutz auch kontrolliert werden muss. Deswegen hat uns ja schon die Konferenz der Arbeits- und Sozialminister aller 16 Bundesländer einstimmig empfohlen, dass wir die Kontrolldichte in diesem Bereich verstärken. Ich glaube, Arbeitsschutz ist gut, aber Kontrolle muss eben auch sein. Auch das wollen wir mit diesem Gesetz gewährleisten. Wir haben eine wunderbare Bundesbehörde, die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, genannt BAuA. Ich glaube, es ist richtig, dass wir bei diesen Fachleuten, auf die wir uns auch in anderen Fragen stets verlassen können, eine eigene Fachstelle „Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit“ einrichten. Auch das ist Bestandteil dieses Gesetzentwurfes.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie gesagt: Mir wäre lieber, wir müssten heute kein Gesetz beraten, sondern Selbstverpflichtung und Tarifverträge wären realitätsgenau und präzise umgesetzt worden. Wir machen dieses Gesetz, weil das nicht der Fall ist. Es ist ein Gesetz, das den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft entspricht. Ich bin überzeugt, dass die deutsche Fleischwirtschaft, vor allen Dingen unsere Metzger- und Fleischerbetriebe auf Grundlage dieses Gesetzes weiterhin erfolgreich arbeiten können und insbesondere eines machen, was die Bürgerinnen und Bürger interessiert, nämlich qualitativ gutes Fleisch und gute Wurstwaren zu produzieren bei zugleich anständigen Arbeitsbedingungen. Dann isst man die Sachen auch mit gutem Gewissen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Peter Weiß. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Carl-Julius Cronenberg.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden heute über die Arbeitsbedingungen in der Fleischwirtschaft, weil wir im großen Konsens der Auffassung sind, dass die Missstände bei Arbeitsschutz, Unterbringung und Entlohnung endgültig beendet werden müssen. Tausende Beschäftigte erleben tagtäglich unhaltbare Zustände – Hubertus Heil hat es beschrieben –; Hunderte anständige Betriebe leiden unverschuldet unter Imageverlust.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, Arbeitsschutz gehört zur DNA der sozialen Marktwirtschaft. Davon profitieren wir alle: Beschäftigte, Unternehmen und Verbraucher. Schauen wir uns die Missstände und Kernelemente des Gesetzentwurfs näher an.
Die umfangreichen Kontrollen in NRW haben gezeigt: Die meisten Verstöße liegen gegen das Arbeitszeitgesetz vor. Hier greifen Sie den Vorschlag des FDP-Sozialministers Heiner Garg aus Schleswig-Holstein auf und verpflichten Betriebe zur elektronischen Zeiterfassung; das ist richtig und gut so.
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Das nächste große Problem ist die Unterbringung meist ausländischer Beschäftigter in Sammelunterkünften. Insbesondere im Umfeld der sehr großen Fabriken ist geradezu ein Missbrauchssumpf entstanden. Die Wohnverhältnisse sind jenseits aller Standards – der Minister hat es geschildert –, und dazu kommt Mietwucher. Aber hier liefert mir der Gesetzentwurf zu wenig. Niemand zieht nur deshalb um, weil er nicht mehr beim Werkvertragsunternehmer beschäftigt ist. Hier erwarten die Freien Demokraten mehr als eine Klarstellung.
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Praktisch alle Missstände in der Branche resultieren allerdings schon heute aus Verstößen gegen Recht und Gesetz. Die unhaltbaren Zustände sind Folge aus einem Mix von Weggucken und ebenso zahnlosen wie unzureichenden Kontrollen, und das schon seit Jahren, nicht erst seit Corona; das wurde erwähnt.
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Wir haben keinen Mangel an Regulierung, sondern einen Mangel an Rechtsdurchsetzung. Mit Verlaub: Auch bei ein paar mehr Kontrollen, wie sie heute laufen, werden die schwarzen Schafe in der Branche Ihnen immer einen Schritt vorausbleiben. Da reichen Ausschüsse und Bundesfachstellen in Berlin nicht aus. Bringen Sie Ordnung in den Zuständigkeitswirrwarr der Behörden, und vernetzen Sie effektiv die Kontrollbehörden in einer Taskforce Fleisch.
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Nächster Punkt: Verbot von Zeitarbeit. Sie wissen doch genau, dass Zeitarbeiter voll im betrieblichen Arbeitsschutz integriert sind und auch nach Tariflohn bezahlt werden. Es geht offensichtlich nicht mehr nur um Arbeitsschutz, sondern auch um das Verbot eines bewährten, aber bei Ihnen politisch ungeliebten arbeitspolitischen Instruments. Damit treffen Sie empfindlich Handwerk und Mittelstand.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CSU, wie wollen Sie den Herstellern von Nürnberger Rostbratwürstchen – das wurde gerade schon erwähnt – erklären, dass sie zur nächsten Grillsaison ihre Produktion nicht mehr hochfahren können?
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Wie können Sie von der CDU zulassen, dass der Wursthersteller aus dem Sauerland für die nächste Salamisonderaktion bei einer Lebensmittelkette kein Angebot mehr abgeben kann, weil er die Belegschaft nicht mehr vorübergehend aufstocken darf?
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So stärken Sie die Marktmacht der Fleischkonzerne. Das können Sie nicht ernsthaft wollen.
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Und kommen Sie nicht mit dem Argument: Der Dorfmetzger sei raus; das Gesetz gelte erst ab 50 Mitarbeitern. – Hunderte erfolgreiche und anständige Handwerksbetriebe und Fleischverarbeiter von Schleswig-Holstein bis ins Allgäu liegen über dem Schwellenwert. Denen müssen Sie dann erklären, warum Sie mit den Big Five der Fleischindustrie in einen Topf geworfen werden. Die Abgrenzung allein anhand der Mitarbeiterzahl trifft die Falschen. Hier werden Sie nachbessern müssen.
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Unverständlich bleibt, dass Sie nicht den Tarifpartnern die Chance geben, einen Flächentarif mit anschließender Allgemeinverbindlichkeit zu vereinbaren.
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Die Sozialpartner können verlorenes Vertrauen wiederherstellen und vor allem Rechtssicherheit schaffen. Nie war die Gelegenheit dazu günstiger als jetzt.
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Es geht um vollen Arbeitsschutz für alle Beschäftigten und fairen Wettbewerb für anständige Unternehmen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Carl-Julius Cronenberg. – Um was geht es?
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– Aber wer zu spät kommt, den bestraft die Präsidentin. Tut mir leid, er ist fertig. Vielleicht gibt es ja eine andere Möglichkeit.
Nächste Rednerin: Amira Mohamed Ali für die Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es ausdrücklich gut, dass sich des Themas nun endlich angenommen wird. Herr Minister, Sie haben die Missstände in Ihrem Beitrag ja auch sehr eindringlich beschrieben, besonders in den Großschlachtereien. Aber dass jetzt durch Ihren Gesetzentwurf mit diesen Missständen aufgeräumt wird, kann ich, offen gesagt, nicht erkennen, weil er an entscheidenden Stellen nach wie vor viel zu lasch ist.
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Damit komme ich auf die Kontrollintervalle zu sprechen. Es ist ja gut, dass das Thema, Kontrollintervalle festzulegen, überhaupt mal aufgegriffen wird. Aber die verbindlichen Kontrollintervalle für die Landesbehörden sehen vor, dass sie pro Jahr 5 Prozent der Betriebe verpflichtend kontrollieren müssen. Ja, es gibt die Möglichkeit, dass freiwillig mehr kontrolliert wird. Aber die Verpflichtung lautet: 5 Prozent der Betriebe. – Und das bedeutet, wenn man es mal ausrechnet, dass es im schlimmsten Fall 20 Jahre dauern kann, bis alle Betriebe einmal kontrolliert wurden. Und das reicht nicht, Herr Minister!
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Denn wir wissen ja, dass in den Großschlachtereien Rechtsverstöße gegen das Arbeitsschutzgesetz an der Tagesordnung sind. Allein bei den Schwerpunktprüfungen in Nordrhein-Westfalen zuletzt verstießen 87 Prozent der Großschlachtereien gegen das Arbeitsschutzgesetz. Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Das geht nicht; das wird einfach so nicht reichen.
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Was auch absolut nicht reichen wird, sind die laschen Bußgelder. Ja, Sie haben sie erhöht; aber es ist immer noch viel zu wenig. Maximal 30 000 Euro sind zu befürchten, wenn dann, alle 20 Jahre mal, ein Verstoß festgestellt wird. Ich kann förmlich sehen, wie der zweifache Milliardär Clemens Tönnies vor Angst schlottert im Angesicht dieser Regelung.
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Sie erwarten doch nicht ernsthaft von Leuten wie Clemens Tönnies freiwillige Rechtstreue. Hier braucht es dringend gute Gesetze, deren Einhaltung effektiv kontrolliert und auch durchgesetzt wird. Beides ist in Ihrem Gesetzentwurf leider nicht der Fall, Herr Minister.
Ich frage mich immer: Warum sind Sie eigentlich so nachgiebig mit diesen Leuten? Warum ist das eigentlich so? Könnte es vielleicht daran liegen, dass die Union in den letzten Jahren 158 000 Euro Spenden von Herrn Tönnies bekommen hat?
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Könnte es vielleicht daran liegen? Und könnte vielleicht auch ein Zusammenhang damit bestehen, dass ein ehemaliger Wirtschaftsminister und Vizekanzler der SPD in diesem Jahr mindestens 30 000 Euro für Beratertätigkeiten von Tönnies bekommen hat?
Ich muss sagen: Das geht so einfach nicht weiter! Es muss wirklich Schluss sein mit den skrupellosen Machenschaften in der Fleischindustrie, und der Kuschelkurs mit diesen Verbrechern muss endlich beendet werden.
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Hier werden wir als Linke weiter Druck machen; darauf können Sie sich verlassen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Amira Mohamed Ali. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Beate Müller-Gemmeke.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Die katastrophalen Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie sind schon lange bekannt. Die Bundesregierung hat das aber jahrelang ignoriert. Das Gesetz wird erst jetzt, aufgrund der Coronapandemie, auf den Weg gebracht. Das ist peinlich und ein Armutszeugnis.
({0})
Aber natürlich unterstützen wir Grünen den Gesetzentwurf. Wir begrüßen ganz ausdrücklich das Verbot von Werkverträgen; das fordern wir auch in einem eigenen Antrag. Denn bei diesen Werkverträgen geht es eben nicht um Belastungsspitzen, es geht auch nicht um Vorprodukte oder spezialisierte Tätigkeiten. Dafür sind Werkverträge ja eigentlich gedacht. In der Fleischindustrie werden Werkverträge stattdessen im Kernbereich eingesetzt, also beim Schlachten, beim Zerlegen und in der Fleischverarbeitung. Das ist Missbrauch von Werkverträgen. Damit stehlen sich die großen Schlachthöfe aus der Verantwortung – beim Arbeitsschutz und auch beim Lohn. Und das darf es nicht mehr geben!
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Und es ist auch richtig, dass es Leiharbeit im Kernbereich nicht mehr geben soll. Der Grund ist ganz einfach: Wenn Werkverträge verboten sind und Leiharbeit weiterhin erlaubt ist, dann werden die Werkvertragsfirmen ruck, zuck, ganz schnell, zu Verleihfirmen. Aber genau das kann ja nicht unser Ziel sein. Die Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie sollen deutlich besser werden. Die Beschäftigten sollen direkt angestellt werden – als Voraussetzung für mehr Lohn, für Mitbestimmung und vor allem auch für guten Arbeits- und Gesundheitsschutz.
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Wir begrüßen auch die Pflicht zur elektronischen Arbeitszeiterfassung. Wer Mindestlöhne umgehen will, der manipuliert in der Regel die Arbeitszeit; das ist bekannt. Und das geht dann eben nicht mehr so einfach.
Kritik aber haben auch wir – wie Die Linke – bei den Regelungen zum Arbeitsschutz. Geplant ist eine Mindestbesichtigungsquote von jährlich 5 Prozent, aber erst im Jahr 2026, also in rund sechs Jahren. Das ist definitiv zu spät und für so eine schwierige Branche vor allem auch zu wenig.
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Sehr geehrte Regierungsfraktionen, insbesondere sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Union, bisher sind gesetzliche Maßnahmen für die Fleischindustrie immer am Einfluss der Fleischlobby gescheitert. – Das sind die Worte von NRW-Arbeitsminister Laumann, einem CDU-Mann. Es muss jetzt endlich Schluss sein mit dem undurchsichtigen Geflecht von Werkverträgen und mit der systematischen Ausbeutung, insbesondere von Migrantinnen und Migranten aus Osteuropa.
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Deshalb appelliere ich heute an Sie: Bleiben Sie standhaft, weichen Sie das Gesetz nicht auf! Schaffen Sie keine Grauzonen und keine Schlupflöcher! Beschließen Sie das Gesetz, und zwar schnell und vor allem auch konsequent! Lassen Sie einfach mal die Fleischlobby ins Leere laufen!
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank, Beate Müller-Gemmeke. – Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Katja Mast.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wer der Bundesregierung mangelnden Kontrollwillen um die Ohren wirft, muss schon auch in Baden-Württemberg selbst liefern, liebe Beate Müller-Gemmeke,
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in Thüringen übrigens auch.
In der Fleischwirtschaft gibt und gab es in zu vielen Fabriken Coronainfizierte. Dort herrschen schlimme Arbeitsbedingungen. Ein schäbiges Geschäftsmodell. Und mit dem Gesetzentwurf gehen wir extrem weit. Kein einziges Unternehmen der Fleischindustrie kann zur Tagesordnung zurückkehren. Wir ändern die Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie fundamental wie in keiner anderen Branche in der Bundesrepublik Deutschland.
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Ich finde es gut, dass unser Bundesarbeitsminister Hubertus Heil das Gesetz nun vorgelegt hat, im Übrigen in einem politischen Tempo, das seinesgleichen sucht. Es geht darum: Erstens. Künftig sollen in der Fleischindustrie Festangestellte arbeiten – keine Werkverträge, keine Leiharbeit. Zweitens. Die Gemeinschaftsunterkünfte werden definiert und besser unter die Lupe genommen. Drittens. Die Arbeitszeiten werden elektronisch erfasst. Und viertens. Die unternehmerische Verantwortung wird gestärkt.
Uns geht es übrigens nicht um die Handwerkerinnen und Handwerker in der Branche, sondern uns geht es um die Industrie, um die Fabriken. Ich selbst habe auch gar nichts gegen das Produkt Fleisch. All das ist hier kein politischer Feldzug gegen die Wurst, sondern die Antwort darauf, dass Menschen und Tiere ausgebeutet werden. Ich freue mich jetzt schon auf die Initiative der Bundesregierung zum Thema Tierwohl, die ich mit Spannung erwarte.
Beim Arbeitsschutz werden wir massiv – auch ich persönlich – von der Bevölkerung unterstützt, gerade auch in meinem Wahlkreis in Pforzheim und im Enzkreis. Denn in meinem Wahlkreis trat um Ostern der erste Pandemiefall bei Müller Fleisch mit insgesamt 400 Infizierten auf.
Und ja, wir stehen nicht erst seit heute auf dem Platz, sondern sind schon lange an dem Thema dran. Zuletzt haben wir 2017 gemeinsam weitere Verschärfungen für die Fleischindustrie vorgenommen. Das war damals ein gemeinsames Verdienst von meinem CDU-Kollegen Karl Schiewerling und mir.
Aber wir sehen jedes Mal, dass in der Fleischindustrie alle möglichen Tricks angewendet werden. Deshalb hat es bisher nicht gereicht, und wir müssen weiter dranbleiben. Das Geschäftsmodell funktioniert nur deshalb, weil man Menschen, meistens aus Osteuropa, anwirbt, sie in Sammelunterkünften unterbringt, wo niemand von uns leben möchte, und sie eben nur befristet hier sind.
Frau Kollegin, kommen Sie zum Ende.
Ich komme zum Ende. – Um es ganz klar zu sagen: Es sind zu viele Konzerne in der Fleischindustrie, die Kasse durch Ausbeutung machen. Das müssen wir beenden.
Die Fleischindustrie versucht massiv, auf uns Einfluss zu nehmen. Jetzt geht es darum, Kurs zu halten. Die SPD ist dabei am Start.
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Vielen Dank, Katja Mast. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Stephan Protschka.
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Frau Präsidentin, habe die Ehre! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Grüß Gott, liebe Gäste hier im Hohen Haus und zu Hause vor den Fernsehern! Frau Ministerin Klöckner, Herr Minister Genosse Heil, wir debattieren ja heute über ein hausgemachtes Problem. Sie, sehr geehrte Damen und Herren von den Altparteien, waren es ja, die in der Vergangenheit mit einer Flut von bürokratischen Auflagen die Existenz der kleinen Metzgereien und Schlachtbetriebe zerstört haben.
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Sie sind für den Kostendruck und damit für die Konzentration in der Fleischbranche verantwortlich. Und Sie waren es auch, die mithilfe der EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit Deutschland zu einem Billiglohnland gemacht haben, unter Kanzler Schröder und Landwirtschaftsministerin Künast, meine Damen und Herren.
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Deshalb ist es pure Heuchelei, wenn Sie heute mit dem Finger auf die Schlachtbetriebe zeigen. Die Schlachthöfe haben sich ja nur an die von Ihnen vorgegebenen Spielregeln gehalten.
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Man gewinnt den Eindruck, dass Sie mit dem Gesetz jetzt noch die verbleibenden Schlachtbetriebe beseitigen wollen, Herr Minister Heil. Gut, von der SPD kann man ja mittlerweile nichts anderes mehr erwarten; aber dass ausgerechnet die CDU/CSU den mittelstandsfeindlichen Weg mitträgt, ist für mich unverständlich und unerträglich. Das ist ein Skandal!
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Und dann muss man sich mal die Begründung des Arbeitsschutzkontrollgesetzes –
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Jetzt ist der Herr Protschka dran.
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– danke schön, Frau Präsidentin – auf der Zunge zergehen lassen: Corona. Corona ist mittlerweile an allem schuld. Aber seien Sie mal ganz ehrlich: Das Einzige, was Sie damit wollen, ist, Panik unter der Bevölkerung zu verbreiten.
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Und ein jeder weiß, dass ein Arbeitsvertrag null Auswirkungen auf die Infektionsgefahr hat.
Sie haben gesagt, Herr Minister, den Menschen, den Saisonarbeitern würde es so schlecht gehen. Ich komme aus Mamming. Dort haben wir vor Kurzem miterleben dürfen, wie der Staat mit den Menschen umgeht. Die Menschen wurden eingesperrt, die Menschen wurden eingepfercht, ja richtig ihrer Freiheit beraubt, egal ob positiv oder negativ getestet, alle wurden eingezäunt, öffentlich, sodass die Presse noch fotografieren konnte. Coronatests wurden zum Teil ohne Übersetzer, ohne Zustimmung der Betroffenen durchgeführt. Das ist Körperverletzung, meine Damen und Herren, nichts anderes.
({1})
Am Wochenende des Vorfalls bei der Pressekonferenz mit unserem Ministerpräsidenten und Möchtegernkanzlerkandidaten Söder, Gesundheitsministerin Huml und unserem Landrat hieß es dann, das Hygienekonzept, welches übrigens vom Gesundheitsamt abgenommen wurde, hätte versagt.
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Auf meine schriftliche Anfrage im Landratsamt konnte mir dann aber nicht beantwortet werden, was versagt hat. Man wollte ja anderen Landwirten helfen, aber dafür hat es da dann keine Lösungen gegeben. Man wollte also wieder nur Angst in der Bevölkerung verbreiten.
Doch kommen wir noch einmal kurz zu Ihrem Arbeitsschutzgesetz.
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Sie wollen doch hauptsächlich den Einsatz von Werkvertrags- und Leiharbeitern verbieten. Die Fleischwirtschaft wird aber auch in Zukunft Leiharbeiter brauchen; sie bleibt angewiesen darauf, um Spitzen abzudecken und Nachfrageschwankungen abzudämpfen.
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Der Kollege hat es gesagt: 15 Prozent ist eine sehr gute Lösung dafür; damit kann man Spitzen abdecken und sonst etwas anregen.
Es wird wahrscheinlich passieren, dass die Fleischwirtschaft dann komplett ins Ausland absiedelt. Was haben wir dann noch? Dann haben wir keine demokratischen Mitbestimmungsrechte mehr bei Arbeitsschutz, Hygiene, Lohngerechtigkeit, Tierschutz usw. usf., nein, wir haben dann wieder Lebendtiertransporte. Wollen Sie das wirklich? Ich und die AfD wollen es nicht.
({5})
Nur mit der AfD sind Landwirtschaft, Umweltschutz und Tierschutz möglich.
Danke schön, meine Damen und Herren.
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Vielen Dank. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Uwe Schummer.
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Nach den Aussagen des Redners von der AfD wird eines nicht mit der AfD möglich sein: der Schutz vor dem Virus. Wir bekämpfen den Virus mit unseren Schutzgesetzen, und Sie bekämpfen die Schutzgesetze. Deshalb ist es gut, dass wir uns durchsetzen.
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Wir machen heute den dritten Anlauf, um die prekäre Situation der Beschäftigten in der industriellen Schlachterei zu beenden. 2015 die Selbstverpflichtung der großen Unternehmen, aus der Peter Weiß eben zitiert hat, aber auch die Generalunternehmerhaftung, die wir 2017 hier gemeinsam eingeführt haben. Wir sehen aber, dass mit Werkverträgen und Subunternehmen weiterhin faire Arbeit und fairer Wettbewerb in der Großschlachterei unterlaufen werden.
Werkverträge sind ein Instrument, das über 100 Jahre alt ist, ein Instrument für Spezialaufgaben, die nicht zum Kernbereich eines Unternehmens gehören, ein Instrument für Flexibilität innerhalb der Belegschaften. Aber diese Werkverträge werden eben nicht hierfür eingesetzt, sondern als Hebel, um Direktbeschäftigte zu ersetzen. So erodiert das klassische Arbeitsverhältnis, das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und direktbeschäftigtem Arbeitnehmer. Das wollen wir nicht.
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Einige der Subunternehmen verfügen über ein Dutzend weiterer GmbHs, in denen Beschäftigte hin und her geschoben werden, um Verantwortung zu verschleiern. Das Arbeitsschutzkontrollgesetz will eine höhere Kontrolldichte, höhere Strafzahlungen, digitale Zeiterfassung, aber auch Kontrolle und Zusammenfassung der Daten, die notwendig sind, am Arbeitsplatz und in der Unterkunft. So wird es sich auf die Beschäftigungsverhältnisse auswirken. Aber auch das Verbot von Werkverträgen im Kernbereich der Produktion von Großschlachtereien ist ein angemessenes Instrument, weil Werkverträge systematisch missbraucht worden und teilweise auch mit mafiösen Strukturen in den Herkunftsländern der angeworbenen Menschen verbunden sind.
Die Berufsgenossenschaft Nahrungsmittel und Gastgewerbe zeigt, dass Schlachten eine gefahrengeneigte Tätigkeit ist. So liegt die Zahl der Arbeitsunfälle nach deren Angaben in der industriellen Schlachtung um 65 Prozent höher als in allen anderen Branchen. Bei den Werkverträgen steigt dieser erhöhte Durchschnittswert von schweren Arbeitsunfällen auf über 100 Prozent.
Wir wissen, dass die in Rumänien und Bulgarien angeworbenen Arbeitnehmer auf deutsche Verhältnisse – soziale Marktwirtschaft und deutsches Recht – gesetzt haben. Oftmals werden sie jedoch in einem geschlossenen System von Arbeit und Freizeit kontrolliert, mit fingierten Vorauszahlungen, mit Strafzahlungen, wenn sie krank werden, beispielsweise auch mit einem Matratzengeld. Matratzengeld bedeutet: eine Wohnung, 6 Matratzen für 12 Personen, die darauf übernachten, und von jedem der 12 Personen 300 Euro Miete, so Berater der Fairen Mobilität. Das sind unwürdige Verhältnisse, mit denen nicht weiter gearbeitet werden darf. Damit werden wir Schluss machen.
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In der Pandemie potenziert sich diese gefahrengeneigte Tätigkeit. So konnten wir aufgrund aktueller Studien feststellen, dass an einem Arbeitsplatz mit klimatisierten Verhältnissen, wo runtergekühlt wird, die Infektion durch Aerosole über mehr als 8 Meter weitergegeben werden kann, begünstigt durch das, was in der Schlachtung geschieht: Akkord, schwere Schutzanzüge, permanente Überstunden. Das verschärft in der Pandemie die gefahrengeneigte Situation; deshalb muss hier auch eine besondere Regelung gelten.
Aufgrund der Werkverträge konnten von Tönnies nicht alle Adressen der dort beschäftigten Arbeitnehmer an den Landkreis weitergeleitet werden. Das hatte die sehr konkrete Konsequenz, dass in der Zwischenzeit mehr als 40 Beschäftigte in ihre Herkunftsländer zurückgewandert sind, ohne dass wir wissen, ob sie infiziert waren oder nicht. Es darf nicht passieren, dass eine solche Infektion durch Wanderarbeit in die Herkunftsländer der Arbeiter getragen wird, in marode Gesundheitssysteme. Denn im Sinne eines gemeinsamen Europas haben wir auch eine Verantwortung für die dort lebenden Menschen.
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Die Union steht zur unternehmerischen Freiheit. Das darf ich auch im Namen meines geschätzten Kollegen Axel Knoerig sagen. Wir von der Union stehen zur unternehmerischen Freiheit. Wir stehen aber auch zur unternehmerischen Verantwortung. Wenn aber Freiheit und Verantwortung auseinanderfallen, wenn Menschen und Wettbewerb gefährdet sind, dann ist der Gesetzgeber gefordert. Das ist soziale Marktwirtschaft, und danach handeln wir.
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Vielen Dank, Uwe Schummer. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Jens Beeck.
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Hochverehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Minister Hubertus Heil! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Lassen Sie mich gleich am Anfang noch einmal ganz deutlich sagen: Wir Freien Demokraten sind froh, jede Initiative zu unterstützen, die Arbeits- und Sozialstandards in Deutschland sichert. Deswegen haben wir uns, Herr Minister Heil, auch sehr über Ihre Initiative gefreut – und sind entsprechend enttäuscht und jetzt auch besorgt über das, was Sie heute vorlegen.
({0})
Denn schlechte, teilweise illegale Beschäftigung, wie Sie es in Ihrer eigenen Gesetzesbegründung selbst ausführen, ist eben schon heute illegal, und sie hängt nicht am Werkvertrag als Vertragsform. Der geht aufs Römische Recht zurück, ist seit dem 1. Januar 1900 bei uns im BGB enthalten und funktioniert an ganz vielen Stellen gut. Das heißt, das Verbot arbeitsteiliger Prozesse und das Verbot arbeitsrechtlicher Organisationsformen für sich bringt überhaupt keinen Gewinn für tatsächlich bessere Arbeit, tatsächlich bessere Sozialstandards. Im Gegenteil, die schwammigen Formulierungen in Ihrem Gesetz – ich bin seit vielen Jahren Jurist, habe jedoch nicht alles verstanden, was Sie damit meinen, viele andere auch nicht – führen zu weiterer Rechtsunsicherheit.
Herr Kollege, erlauben Sie jetzt eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung des Kollegen Klaus Ernst?
Das dauert dann länger als meine Redezeit. Aber immer gern.
Nee, da schaue ich schon drauf, keine Sorge! – Herr Ernst.
Herr Beeck, danke, dass Sie die Frage zulassen. Ich möchte Ihnen jetzt eine Frage stellen, weil Sie – aber auch die FDP insgesamt – sich so engagiert für Arbeitsverhältnisse einsetzen, die auf Leiharbeit oder Werkverträgen gründen. Ich habe ja Verständnis dafür, dass die FDP – Herr Cronenberg ist ja selber Unternehmer, wenn ich es richtig lese – sich einsetzt dafür, dass Unternehmer Menschen beschäftigen können. Das machen sie in der Regel dann, wenn der Mensch mehr bringt, als er kostet. Da haben Sie vollkommen recht; das ist unbestritten.
Aber warum setzen Sie sich für ein System ein, bei dem zwei Unternehmen an einem Menschen verdienen können? Das System heißt: Leiharbeit und Werkverträge. Das bedeutet, dass der einzelne Mensch zwei Arbeitgeber hat. Jeder will an ihm verdienen. Er ist deshalb aber nicht schneller und ist deshalb nicht aktiver, sondern er muss genauso arbeiten, als würde er für ein Unternehmen arbeiten. Ich verstehe das System nicht.
Wo ist Ihr Motiv, dass Sie sich insbesondere dafür einsetzen, dass an einem Menschen jeweils zwei Unternehmen – bei Sub-Sub-Subunternehmen vielleicht sogar drei oder vier – verdienen können? Können Sie sich vorstellen, dass die Menschen das vielleicht gar nicht so gut finden? Können Sie sich deshalb auch vorstellen, dass wir als Linke zusammen mit den Gewerkschaften sagen: „Es reicht, wenn ein Unternehmen an einem Menschen verdient. Es müssen nicht gleich zwei oder drei sein“?
({0})
Vielen Dank. – Jetzt haben Sie die Möglichkeit, zu antworten, Herr Beeck.
Sehr geehrter Herr Kollege Ernst, ich dachte immer, Sie wären im Wirtschaftsausschuss. Dann wüssten Sie doch, dass Arbeitsteiligkeit schon seit vielen Jahrzehnten nahezu zwingende Voraussetzung für Wettbewerbsfähigkeit ist. Ich wehre mich auch dagegen, dass Sie immer so tun
({0})
– Herr Dehm, stellen Sie doch die nächste Zwischenfrage, dann können wir das nacheinander abarbeiten –, als ob alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die in Leiharbeitsverhältnissen tätig sind, das nur tun, weil böse Arbeitgeber ihnen einen Doppelverdienst abringen wollen.
({1})
Es gibt ganz viele Menschen in diesem Land, die freiwillig in Zeitarbeit tätig sind und die dort übrigens in aller Regel gut verdienen.
({2})
Und es gibt eine Vielzahl von Unternehmen, nicht nur in der Industrie, sondern beispielsweise auch in der Pflege und an anderen Stellen, die nahezu darauf angewiesen sind, Spitzen in der Arbeit, die durch Krankheit oder andere Dinge entstehen, dadurch abzudecken.
Sie können jedes Instrument, jedes Arbeitsverhältnis nutzen, um Standards zu unterlaufen; da bin ich bei Ihnen. Aber es liegt nicht an der Form. Wir alle streiten gemeinschaftlich dafür – die Linken genauso wie die Freien Demokraten und alle anderen Fraktionen im Haus –, in diesem Land einen vernünftigen Konsens zwischen Arbeitgebern, Arbeitnehmern und gesamtgesellschaftlichen Interessen zu schaffen; und das hängt nicht an diesen Vertragsformulierungen. Wir haben ein gemeinsames Ziel. Daran lassen Sie uns gemeinsam arbeiten.
Kommen wir wieder zurück zum Gesetzentwurf.
({3})
– Ja, das ist so. Das können wir gerne heute Abend weiter besprechen.
Die schwammigen Formulierungen im Gesetzentwurf führen aber genau dazu, Herr Minister Heil, dass Sie wieder nicht Rechtssicherheit schaffen, dass Sie nicht ganz klarmachen, was Sie eigentlich genau meinen, was noch erlaubt ist und was nicht. Noch schlimmer ist: In Ihrem Gesetzentwurf legen Sie Hand an positive gesellschaftliche Entwicklungen, die wir alle wollen. Regionale hochwertige Produkte entstehen oft in kleineren, oft genossenschaftlichen Strukturen, die tatsächlich hohe Eigenverantwortung aller Beteiligten vom Landwirt bis zur Ladentheke verlangen. Diese Strukturen wollen Verbraucher auch und nehmen sie auch an. Genau diese positive Entwicklung erschwert Ihr Gesetzentwurf durch seine Formulierung oder macht sie sogar unmöglich. Kleine regionale Schlachthöfe vor Ort, deren Arbeitsbedingungen nicht das Problem sind,
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nicht die sind, die heute Grundlage unserer Diskussion sind, machen Sie möglicherweise kaputt. Jedenfalls erschweren Sie die derzeit bestehenden Modelle massiv. Im Ergebnis laufen Sie mit Ihrem heute vorgelegten Gesetzentwurf doch Gefahr, lange Transportwege zu großen Schlachtfabriken mit großer Marktmacht gegenüber den eigenverantwortlich wirtschaftenden Landwirten, gegenüber dem kleinen und mittelständischen Handel noch zu befördern, statt sie zu verhindern. Das ist schwierig und kontraproduktiv, Herr Minister.
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Deswegen lassen Sie mich zum Ende kommen. Wir teilen die hier gemeinschaftlich adressierten Ziele. Damit wir das am Ende gemeinschaftlich tun können, müssen Sie noch Arbeit leisten, Herr Minister. Der jetzige Gesetzentwurf schafft das nicht. Wir erwarten eine klare gesetzliche Regelung, die gezielt die Arbeits- und Sozialstandards in unserem Land verteidigt, aber ohne gleich die eigenverantwortlichen Landwirte, Metzger, Einzelhändler und die regionalen Strukturen mit abzuschießen. Wenn Sie das schaffen, Herr Minister, haben Sie uns an Ihrer Seite. Sie müssen dafür aber noch gute Arbeit nachlegen.
Frau Präsidentin, herzlichen Dank.
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Vizepräsidentin Claudia Roth:
Vielen Dank, Jens Beeck. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Jutta Krellmann.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Hubertus Heil! Seit 35 Jahren bin ich Gewerkschaftssekretärin in Niedersachsen und bekomme mit, was in der Fleischindustrie so abgeht. Alle wissen Bescheid, und trotzdem konnten die Fleischkonzerne jeden Skandal aussitzen. „Wildwestzustände in Deutschland“ – das haben 2005 dänische Gewerkschaftskollegen über die Situation in der Fleischindustrie gesagt. Durch skandalöse Niedriglöhne haben Fleischbarone deren Fleischindustrie gefährdet, nicht umgekehrt.
({0})
Und ein weiterer Skandal: Die Lobbyisten der Fleischindustrie konnten bisher noch jeden Gesetzentwurf verwässern. Die geniale Idee 2015 war: Selbstverpflichtung. Und jeder weiß: Das war, ist und bleibt eine Nullnummer.
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Auch dieses Mal versuchen die Fleischkonzerne, die Kurve in ihrem Interesse zu kriegen. So hat Bundeswirtschaftsminister Altmaier gestern im Wirtschaftsausschuss angekündigt – ich zitiere –: In den weiteren parlamentarischen Beratungen soll geprüft werden, ob zusätzliche Regelungen nötig sind, um Produktionsspitzen in den Unternehmen flexibel abbilden zu können. – Zitatende. Hallo? Das ist die Hintertür für die Leiharbeit, um sie wieder einführen zu können. Die Linke sagt dazu ganz klar Nein.
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Schon heute gibt es genügend andere Möglichkeiten, um Produktionsspitzen abzufedern. Sie als Unternehmer müssten doch eigentlich genau wissen, wie das geht: Arbeitszeitkonten, Befristungen, unterschiedliche Verteilung und Lage der Arbeitszeit. Genau das sind die Lösungen, die auch hier greifen müssen. Aber es gibt leider nicht nur wenige schwarze Schafe, die an der Stelle Missbrauch betreiben. Es ist die ganze Branche, die das systematisch betreibt. Subunternehmen scherten sich schon in der Vergangenheit einen Dreck um die Belange ihrer Beschäftigten. Warum soll sich das mit Leiharbeit ändern? Die Branche hat seit 20 Jahren gezeigt, dass sie jede Möglichkeit nutzt, um durch Ausbeutung der Beschäftigten die eigenen Gewinne zu vergrößern. Damit muss Schluss sein.
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Das Verbot von Werkverträgen im Kernbereich und das Verbot von Leiharbeit ist ein wichtiger erster Schritt in die richtige Richtung. Deshalb werden wir dem Gesetzentwurf zustimmen.
Jetzt heißt es, die nächsten Schritte auf den Weg zu bringen: einen Mietendeckel für die Unterkünfte der Beschäftigten, die Kopplung von Miet- und Arbeitsverhältnissen muss ausgeschlossen werden, um Abhängigkeiten zu verhindern, und stärkere betriebliche Mitbestimmung und gewerkschaftliche Organisation mit Tarifverträgen. Dann bekommen wir es auch hin, von guter Arbeit in der Fleischindustrie zu reden.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Jutta Krellmann. – Nächster Redner: für Bündnis 90/Die Grünen Friedrich Ostendorff.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Werkarbeiterinnen und Werkarbeiter in den Schlachthöfen direkt zu beschäftigen und elektronische Arbeitszeiterfassung sind sehr große, lange überfällige Schritte. Das Arbeitsschutzkontrollgesetz ist ein weiterer wichtiger, wesentlicher Schritt. Die menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen – täglich wiederkehrend bis zum Umfallen und keine Arbeitsspitzen – sind nur ein Übel, aber ein wichtiges im System Billigfleisch, neben den miserablen Unterkünften, in denen viele der Beschäftigten hausen müssen.
Verantwortliche für Arbeitsschutz zu etablieren, ist ein sehr guter Vorschlag. Wie soll er aber konkret aussehen? Hier muss das Gesetz noch klarere Mindeststandards, aber auch die Verantwortlichkeiten der Kontrollbehörden und der Bundesfachstelle unmissverständlich definieren. Es muss noch konkreter werden, wer wann wen wie oft mit welcher Strafbewehrung kontrolliert. Wie stellen Sie sicher, dass in Zukunft nicht wieder alle Kontrollmechanismen auf kommunaler Ebene, auf Landesebene hoffnungslos versagen und unterlaufen werden?
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Der Schlachtbetrieb, meine Damen und Herren, darf aber auch nicht mehr zusätzlichen Profit aus überteuerten Unterkünften ziehen. Die hemmungslose Ausbeutung von Menschen und Tieren in den Schlachthöfen muss endlich beendet werden. Wir brauchen einen radikalen Kurswechsel zu menschenwürdiger, fairer Arbeit.
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Wir brauchen eine Qualitätsoffensive, die zu vielfältigen, in einem fairen Wettbewerb stehenden Schlachthofstrukturen führt und bäuerlichen Betrieben den Rücken stärkt. Selbst die Bundeskanzlerin sprach sich in der Regierungsbefragung für die Dezentralisierung von Großschlachthöfen aus. Doch ein klarer Fahrplan von Ministerin Klöckner – Fehlanzeige! Wir brauchen mehr handwerkliche mittlere Schlachthöfe, jeder Kreis mindestens einen.
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Regionale Wertschöpfung muss gestärkt werden, damit in Zukunft nicht nur einer profitiert, sondern viele profitieren. Wir müssen dem Fachkräftemangel in dieser Branche entschlossen entgegenwirken, dabei Einwanderung als große Chance begreifen.
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Wir müssen Tierhaltung an die Flächen binden und Tiertransporte so kurz wie möglich halten.
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Frau Ministerin, nicht nur schöne Worte, sondern Förderung und Taten sind hier gefordert. Hier ist Ihr Engagement gefragt, hier müssen Sie Zeichen geben. Die Schlachtbranche braucht engagierte, kreative Köpfe, die kluge Alternativen finden und mutig neue Wege einschlagen, statt wie Ewiggestrige in den Antworten, wie sie so oft von Teilen der CDU/CSU kommen, zu verharren. Das werden wir gleich vom Kollegen Max Straubinger wieder ausgeführt bekommen.
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– Bayern ist weit weg. Da dauert es immer etwas länger, bis die Botschaften ankommen.
Vorsicht!
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„Vorsicht!“ werde ich von der Präsidentin gemahnt. Ich akzeptiere das, Frau Präsidentin. Ich gehe in Sack und Asche an diesem Punkt.
Wir Grünen reichen den Bäuerinnen und Bauern, den Metzgerinnen und Metzgern, der Gesellschaft die Hand, diesen Weg in die Zukunft gemeinsam zu gehen.
Danke schön.
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Vielen Dank, Friedrich Ostendorff. – Der Kollege Max Straubinger muss noch ein bisschen warten. Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Elvan Korkmaz-Emre.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich komme aus dem Kreis Gütersloh. Bisher hat man meine Heimat in Verbindung gebracht mit Global Playern wie Miele, Storck, Claas. Heute leider sind die Toptreffer: Corona-Hotspot, Lockdown, Fleischindustrie. Ich muss sagen: Die politisch Verantwortlichen vor Ort haben das Ihre dazu beigetragen. Laschet, Laumann, Adenauer: zu spät eingegriffen, schlechtes Krisenmanagement, hü und hott. Aber am Wochenende sind ja Kommunalwahlen in NRW, und da lässt sich das eine oder andere verändern.
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Aber nun zum Thema Fleisch. Die Missstände in der Fleischindustrie sind nichts Neues. Ich kämpfe seit vielen Jahren an der Seite von Kommunalpolitikern, Gewerkschaftern der NGG, des DGB-Projekts „Faire Mobilität“, von Sozialverbänden wie der Caritas, aber auch Bürgervereinigungen wie der „IG Werkverträge Fleisch“ dafür, etwas zu verändern. Es ist traurig genug, dass es einer Pandemie bedurfte, die die Situation so sehr verschärft hat, dass man jetzt nicht mehr weggucken kann, dass man erst dadurch sieht, dass man jetzt handeln muss, und dass es erst dadurch politische Mehrheiten dafür gibt. Wir müssen jetzt die Chance beim Schopfe packen und etwas verändern. Wir haben lange genug auf Selbstverpflichtungen gesetzt. Die sind kläglich gescheitert.
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Wenn jetzt auf Tarifverträge verwiesen wird, dann können wir nur darüber lachen. Mit uns wird es das nicht geben. Die Bürgerinnen und Bürger gucken ganz genau hin und erwarten von uns, dass wir durchgreifen, erwarten von uns, dass wir Verantwortung übernehmen. Genau das macht Hubertus Heil mit seinem Arbeitsschutzkontrollgesetz.
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Kein Zögern, kein Zaudern, keine politischen Floskeln von „Eindämmen“ oder „Nachjustieren“, sondern die ganz klare Aussage: Zum 1. Januar 2021 ist Schluss mit den Werkverträgen.
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Jetzt, meine Damen und Herren, liegt es an uns Parlamentariern, ein Gesetz zu verabschieden, das tatsächlich durchgreift, das Werkverträge verbietet und den Unternehmen keine Schlupflöcher für Tricksereien lässt. Lassen Sie uns da endlich zupacken und etwas verändern für die vielen Tausend Beschäftigten in der Fleischindustrie, für die Familien und die Kinder, die daran hängen!
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Elvan Korkmaz-Emre. Danke auch für die Punktlandung bei Ihrer Redezeit. Das war auf die Sekunde.
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– Das muss man auch einmal sagen. Es gibt sehr selektive Interpretationen von Redezeiten.
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Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Wilfried Oellers.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir beraten heute in erster Lesung den Entwurf des Arbeitsschutzkontrollgesetzes. Mit diesem Gesetz soll der Vollzug des Arbeitsschutzes in Deutschland verbessert werden.
Dieser Gesetzentwurf ist die Reaktion des Gesetzgebers auf die jüngsten Feststellungen in der Fleischindustrie. Ausländische Arbeitskräfte, die über die unterschiedlichsten rechtlichen Konstellationen ihre Arbeit verrichten, erfahren nicht das ihnen zustehende Recht. Die Beispiele wurden von Herrn Minister Heil bereits genannt. All dies sind Feststellungen, die mit unserem Verständnis von sozialer Marktwirtschaft, die mit Verantwortung und Fürsorge des Arbeitgebers gegenüber seinen Arbeitskräften nichts zu tun haben. Deshalb bewerten wir dies als Missbrauch, und der ist nicht zu tolerieren.
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Dies gilt umso mehr, wenn Arbeitskräfte aus dem Ausland nach Deutschland kommen, die der Sprache in der Regel nicht mächtig sind und vor allem nicht das deutsche Recht und die geltenden Regeln kennen.
Umso erschütternder sind die gemachten Feststellungen vor dem Hintergrund, dass wir in der letzten Legislaturperiode mit dem Gesetz zur Sicherung von Arbeitnehmerrechten in der Fleischwirtschaft, das vom damaligen arbeitsmarktpolitischen Sprecher unserer Fraktion, Karl Schiewerling, in Gang gebracht wurde, schon gesetzgeberisch tätig geworden sind. Darin ist bereits geregelt, dass Arbeitsmaterialien und Mietkosten eben nicht auf den Arbeitslohn angerechnet werden dürfen, zudem Arbeitszeitaufzeichnungen zwingend erfolgen müssen. Auch ist die Generalunternehmerhaftung für die Sozialversicherungsbeiträge eingeführt worden. Die Umsetzung der Arbeitnehmerentsenderichtlinie ist ein weiterer Baustein, mit dem die Rechte der Arbeitnehmer aus dem EU-Ausland klar geregelt werden, bis hin zum Arbeitsschutz und zu den Unterkünften.
Durch die Kontrollen in jüngster Vergangenheit sind jedoch die genannten Missstände wiederholt festgestellt worden. Insbesondere NRW-Arbeitsminister Laumann bin ich sehr dankbar dafür, dass er in NRW die Kontrollen intensiviert hat und damit die Gesetzesverstöße festgestellt werden konnten. Um das einmal klarzustellen, Frau Korkmaz-Emre: Das hat sein Vorgänger, der SPD-Arbeitsminister, nicht getan.
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Daher ist es richtig, dass das Arbeitsschutzkontrollgesetz Regelungen zu den Unterkünften ausländischer Arbeitnehmer vorsieht, damit den Arbeitgebern ihre Fürsorgepflicht und Verantwortung für diese Arbeitskräfte klar vor Augen geführt werden. Es ist ebenso richtig, dass die Kontrolldichte durch die Behörden intensiviert wird. Dazu brauchen die Behörden auch die entsprechenden kontrollierbaren Rahmenbedingungen, wie zum Beispiel die nun einzuführende digitale Arbeitszeitaufzeichnung in allen Branchen, und natürlich auch ausreichend Personal. Dass Bußgeldrahmen erhöht werden müssen, ist ebenso richtig.
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Zudem müssen die Vertragsverhältnisse der Arbeitnehmer auch eindeutig nachvollziehbar sein und die Verantwortlichkeiten ebenso klar geregelt sein. Auch wenn ich kein Freund von generellen Verboten bin, so scheint derzeit ein Verbot von Werkverträgen unausweichlich, zumal die Branche sich diesbezüglich auch selber erklärt hat.
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Allerdings gibt es auch Fragen, die im Rahmen des parlamentarischen Verfahrens noch erörtert werden müssen:
Warum soll ein Unternehmen künftig nur von einem Geschäftsführer geleitet werden können?
Warum wird der Anwendungsbereich des Gesetzes so weit gezogen, dass Teile der Branche umfasst werden, die mit den Missständen nichts zu tun haben? Bei den Metzgereien mit ihren Verkaufsstellen, in der Fleischverarbeitung, im Handwerk und im Mittelstand gibt es keine Feststellungen. Lediglich die großen Schlachtbetriebe sind aufgefallen.
Warum sollen keine Spezialisierung und keine Kooperation von Firmen mehr möglich sein, die spezielle Arbeitsschritte vornehmen? Schon Grundsätze der Hygiene und deren Vorgaben im Rahmen der Fleischverarbeitung verlangen dies bei bestimmten Tätigkeiten. Arbeitsteilungen sind hier durchaus sinnvoll.
Warum geht das Gesetz nicht auf die Meldepflicht ausländischer Arbeitnehmer ein und verlangt, dass eine Meldung, wie in Deutschland üblich, nach spätestens zwei Wochen erfolgen muss und nicht erst nach drei Monaten? Das würde den Behörden schneller Erkenntnisse über Wohnsituationen geben.
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Warum soll die Arbeitnehmerüberlassung verboten werden, wenn sie in der Fleischbranche einen geringen Anteil hat und in Deutschland ausgiebig geregelt ist?
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Ein Flexibilisierungsinstrument für Auftragsspitzen sollte weiterhin bestehen bleiben, weil diese nun einmal existieren. Neun Kommentatoren zum Arbeitnehmerüberlassungsgesetz – Wissenschaftler, Richter, Rechtsanwälte, parteiübergreifend übrigens – sprechen sich in einem Beitrag in der „NZA“ gegen dieses Verbot aus.
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All dies sind Fragen, die wir im parlamentarischen Verfahren erörtern und beantworten müssen.
Ziel des Gesetzes muss es sein, dass wir den Missbrauch und die unhaltbaren Zustände unterbinden, dass wir stärker sanktionieren und intensiver kontrollieren. Das gebieten nicht nur die Grundsätze der sozialen Marktwirtschaft, sondern auch die der Wettbewerbsgleichheit und Wettbewerbsgerechtigkeit.
Letzter Satz, Frau Präsidentin: Diese Regelungen müssen allerdings jetzt auch so gefasst sein, dass wir die schwarzen Schafe erwischen und nicht die Redlichen treffen.
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Ich wünsche uns zielführende Beratungen, freue mich heute Mittag auf die nächste Wurst und bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Wilfried Oellers. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Michael Gerdes.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben hier im Plenum bereits im Mai und Anfang Juni über die Fleischindustrie diskutiert – und das nicht nur vor dem Hintergrund der Coronaausbrüche in Schlachthöfen. Corona hat die ganze Situation noch mal ins Licht gesetzt.
Ich als Gewerkschafter, aber auch als Verbraucher bleibe bei der Erkenntnis: Es hat sich ein krankmachendes, unwürdiges System entwickelt, bei dem der Profit über die Ausbeutung von Mensch und Tier generiert wird, mit teilweise mafiösen Strukturen. Das kann und darf so nicht weitergehen.
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Meine Damen und Herren, im Übrigen sehen das die meisten Menschen draußen ebenso.
Die Inhalte des Entwurfs zum Arbeitsschutzkontrollgesetz wurden von meinen Kolleginnen und Kollegen hier bereits zitiert. Insofern gehe ich nicht mehr auf jede Einzelheit ein. Betonen möchte ich aber, dass wir mit dem Verbot von Leiharbeit und von Werkverträgen im Kerngeschäft der Schlachtbetriebe ein scharfes Schwert ziehen. Diese deutliche Sprache tut not, und Taten werden folgen, werden folgen müssen.
Man kann festhalten, dass die Fleischindustrie aktuell ihre schwerste Krise erlebt. Ja, die Coronapandemie hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Das politische und öffentliche Vertrauen ist endgültig verspielt, zumal die Probleme und Verfehlungen einzelner Betriebe nicht länger im Verborgenen bleiben. Wir mussten Teile der Bevölkerung, genauer gesagt: die Menschen in den Kreisen Gütersloh und Warendorf, zur Sicherheit in den Lockdown schicken. Die Nachbarn der Fleischindustrie befanden sich quasi in Geiselhaft.
Wir sehen, dass die Selbstverpflichtungen und die freiwilligen Schutzmaßnahmen in weiten Teilen der Schlachthöfe nicht helfen. Vertrauen ist grundsätzlich gut; ohne bessere und häufigere staatliche Kontrollen scheint es aber nicht zu gehen, sonst hätte es so ein perfides System nicht geben können; es hätte nicht so gedeihen können. Die Einführung einer Mindestbesichtigungsquote, also die Möglichkeit, Betriebe mit hohem Gefährdungspotenzial schwerpunktmäßig zu kontrollieren, halte ich für richtig.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir rühmen uns in Deutschland gerne hoher Standards, wenn es um den technischen Arbeitsschutz geht, und verzeichnen immer weniger Arbeitsunfälle. Wir müssen ergründen, warum es ausgerechnet in den Schlachthöfen so viele Coronainfizierte gibt – übrigens nicht nur in Deutschland, sondern überall in Europa und auch in den USA.
Sind es die unzureichenden Sammelunterkünfte? Ist es die hohe körperliche Anstrengung? Sind es die Verstöße gegen Mindestabstände oder die fehlende Schutzkleidung? Oder brauchen wir gar neue Standards, etwa bei den Belüftungs- und Klimaanlagen? Enge, Kälte, Feuchtigkeit sind eine scheinbar explosive Mischung. Wir brauchen hier mehr Erkenntnisse, um technische Lösungen zu finden. Die ersten Infizierten bei den Fleischproduzenten gab es bereits Anfang April. Hat die Branche ihre Hygienekonzepte seitdem angepasst und für mehr Sicherheit gesorgt?
So oder so: Arbeitgeber haben den Arbeits- und Gesundheitsschutz ihrer Mitarbeiter sicherzustellen; aus dieser Pflicht entlassen wir die Unternehmer nicht. Ich bin froh, dass wir nun mit Hochdruck gesetzlich gegen die unhaltbaren Arbeitsbedingungen in der Fleischbranche ankämpfen. Die Zeit ist reif. Minister Hubertus Heil hat einen sehr guten Gesetzentwurf vorgelegt. Stimmen Sie zu – zum Wohl der Beschäftigten in der Fleischindustrie! Ich freue mich auf die weiteren konstruktiven Beratungen. Das Gesetz braucht eine große Basis.
Herzlichen Dank. Glück auf!
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Vielen Dank, Michael Gerdes. – Jetzt kommt ein Teil Bayerns – ein Teil!
Letzter Redner in der Debatte: Max Straubinger für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir sind jetzt am Ende der Debatte zur ersten Lesung des Arbeitsschutzkontrollgesetzes. Es ist natürlich schon wichtig, dass wir auf die verschiedensten Bereiche eingehen. Ich glaube, es ist wichtig, mit heißem Herzen an eine Sache heranzugehen, dann aber doch mit großer Sachlichkeit die notwendigen Schlüsse aus Entwicklungen zu ziehen. Dass diese in einzelnen Bereichen mit großen Problemen verbunden und kritikwürdig sind, steht außer Frage. Aber genauso wichtig ist, dass wir dann auch die richtigen und die sachlich gebotenen Schlüsse daraus ziehen.
Bundesminister Hubertus Heil hat ja heute großartig dargestellt, welche Exzesse und dergleichen mehr es in der Fleischwirtschaft gibt. Ich bin der Meinung, dass das schon etwas übertrieben war, weil das nicht für die gesamte Fleischwirtschaft gilt, lieber Herr Bundesminister.
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In einzelnen Betrieben gab es Vorfälle, die hier zu verurteilen sind, nicht aber in allen 1 300 Betrieben, die in der Fleischwirtschaft tätig sind und die mit großem Einsatz und großer Vehemenz für die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eintreten und für gute und verlässliche Arbeitsplätze sorgen. Das sollte hier in einer solchen Debatte auch dargestellt werden.
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Corona kann es in jedem Betrieb geben. Das kann es in der Fleischwirtschaft geben. Wir mussten es in meinem Heimatlandkreis in einem Saisonbetrieb der Landwirtschaft miterleben – leider. Aber ich muss auch feststellen: 25 andere Betriebe hatten keinen Coronafall. Also, es ist unter Umständen auch unter hygienischen Gesichtspunkten zu betrachten.
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Ich bin dem Kollegen Gerdes sehr dankbar, dass er hier sehr sachlich dargestellt hat, dass es dafür technische Lösungen geben muss und dass die vertraglichen Grundlagen eines Arbeitsplatzes in keinster Weise mit Corona in Verbindung zu bringen sind. Vielmehr müssten meines Erachtens das Arbeitsumfeld und die technischen Lösungen verbessert werden.
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Herr Straubinger, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung von Diether Dehm?
Ja, gerne.
Kollege Straubinger, ich weiß natürlich, dass man nie alle kleinen Unternehmer, mittelständischen Unternehmer und Konzerne über einen Kamm scheren darf. Bei aller Wertschätzung, glauben Sie, dass die Mitgliedschaft in der CSU vor Sklavenarbeit schützt? Ich meine, der Volksmund kennt ja nicht umsonst das Wort „schwarze Schafe“ und nicht „rote Schafe“.
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Danke für diese Frage. – Herr Dr. Straubinger.
Lieber Herr Kollege, die CSU steht für die soziale Marktwirtschaft und in besonderer Weise auch für das „S“ im Parteinamen, nämlich die soziale Ausgestaltung der Lebensverhältnisse für die Menschen in unserem Land. Das hat der hohe soziale Standard in Bayern, den Sie in Niedersachsen nicht so erleben können, auf alle Fälle immer wieder bewiesen, lieber Herr Kollege Dehm.
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Also unter dem Gesichtspunkt sind wir führend. Das können Sie, wenn Sie nach Bayern ziehen, durchaus miterleben.
So, jetzt passt’s schon. Danke schön.
Wir sind da integrativ. Von daher gibt es da keine Probleme in Bayern.
Verehrte Damen und Herren, es ist aber mitentscheidend, dass wir auch weiterhin Flexibilität haben. Wenn die Fleischwirtschaft die Werkverträge in der Schlachtung und Zerlegung selbst aufgibt, ist das in Ordnung. Wenn wir sie verbieten, ist das möglicherweise auch in Ordnung. Grundsätzlich bin ich eigentlich gegen Verbote. Diese Verbotskultur, die dieses Gesetz letztendlich niederlegt, sehe ich kritisch. Dasselbe gilt insofern, als wir dann, wenn dies geschieht, die Verarbeitung nicht mit hineinnehmen; denn in der Verarbeitung brauchen wir mehr Flexibilität.
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Nicht nur die Grillsaison, sondern auch Weihnachten, Ostern und die Werbekampagnen des Lebensmitteleinzelhandels erfordern Flexibilität in den wurstherstellenden Betrieben. Das muss auch weiterhin möglich sein.
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Kollege Oellers hat ja dargelegt: Die Zeitarbeit ist der am stärksten regulierte Arbeitsmarkt, den es gibt.
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Hier gibt es Tarifverträge. Zeitarbeiter sind in die Arbeitsverhältnisse des Betriebes integriert. Sie sind in den Betriebsrat einer Firma integriert. Das zeigt doch sehr deutlich, dass Grundlage für den Einsatz von Zeitarbeitern nicht Lohndumping ist, sondern dass dies für mehr Flexibilität bei Auftragsspitzen sorgt. Ich habe mehrere Firmen besucht, zum Beispiel in Nürnberg. Dort arbeiten in der Grillsaison viele Menschen in der Fleischwirtschaft. Wenn die Grillsaison vorbei ist, arbeiten dieselben Menschen in der Lebkuchenproduktion. Das ist arbeitsteilige Wirtschaft, die wichtig ist für unser Land, die unser Land groß gemacht hat und für viele Arbeitsplätze gesorgt hat.
Frau Präsidentin, die Kollegin Müller-Gemmeke möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.
Der Herr Straubinger möchte gerne, dass es eine Zwischenfrage gibt.
Ich kann der Kollegin doch keinen Wunsch abschlagen.
Ja, das weiß ich doch. – Frau Kollegin, bitte.
Erstens. Noch mal zu dieser Aussage, dass es Auftragsspitzen gibt, die über die Leiharbeit abgedeckt werden müssen. Wie ich informiert bin, ist es in Rheda-Wiedenbrück bei Tönnies so, dass da täglich 25 000 Schweine geschlachtet werden. Täglich, also nicht im Sommer mehr und im Winter weniger, sondern täglich. Die Produkte der Fleischbranche gehen ja auch in den Export. Von daher ist es mit diesen Auftragsspitzen nicht mehr so kritisch. Was sagen Sie dazu?
Zweitens. Wenn es tatsächlich Spitzen gibt, dann sind die auch anders zu regeln. Dafür haben wir klassisch zum Beispiel die Möglichkeit, Beschäftigung befristet zu machen, also Befristung mit sachlichem Grund. Das ist genau das, wenn es um Auftragsspitzen geht.
Drittens. Ich gehe davon aus, dass viele der Werkvertragsunternehmen schon heute eine Erlaubnis für Arbeitnehmerüberlassung haben. Natürlich wird es so sein, dass ruck, zuck alle Werkvertragsunternehmen Leiharbeitsfirmen sind, und dann ist überhaupt nichts gewonnen. Und Sie wissen auch, dass das im Endeffekt die Lohnuntergrenze ist.
Frau Kollegin, ich glaube, die Fragen sind deutlich.
Die Lohnuntergrenze ist nur einen Tick oberhalb vom gesetzlichen Lohn. Also, so gut sind die Arbeitsbedingungen in der Leiharbeit nicht.
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Danke schön. – Herr Straubinger, bevor Sie diese Frage beantworten, nehme ich noch gleich eine Frage des Kollegen Spiering von der SPD mit dazu.
Ach so? – Dann muss ich mir das notieren.
Wollen Sie einen Stift?
Nein, habe ich selbst, Frau Präsidentin. Aber danke für das Angebot.
Verehrter Kollege Straubinger, da Sie sich in der Fleischverarbeitung sehr gut auskennen, werden Sie ja auch wissen, dass der größte Fleischverarbeiter in Deutschland die Firma Tönnies ist. Dann werden Sie auch wissen, dass die größten Mitverarbeiter die Firmen Westfleisch und Danish Crown sind. Ich würde von Ihnen gerne erklärt haben, wie Sie diese Differenzierung vornehmen wollen, wenn die größten Fleischverarbeiter nicht Familienbetriebe, sondern Konzerne wie Tönnies sind.
Ich verwahre mich grundsätzlich gegen die Aussage, dass Sie als Bayer meinen, Sie seien sozialer als wir Niedersachsen. Das ist nun wirklich ein absolutes Unding,
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und ich würde Sie bitten, das einmal geradezurücken.
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Danke schön.
Moment.
Nein, wir haben schon so viele Fragen, und Herr Straubinger muss in zwei Minuten antworten. – Bleiben Sie bitte stehen? Auch wenn Sie aus Niedersachsen sind.
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Herr Straubinger, bitte.
Lieber Kollege Spiering und liebe Kollegin Beate Müller-Gemmeke, offensichtlich haben Sie – möglicherweise noch mehr Kollegen als Sie beide – irgendwie einen Tönnies-Komplex.
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Wir machen aber ein Gesetz für 1 300 Betriebe,
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und die gehören nicht alle Tönnies.
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Alles nur auf der Plattform Tönnies abzuspielen, das ist meines Erachtens falsch.
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Das wird den Betrieben in Bayern, die ich besucht habe – sei es VION, sei es Wolf Fleisch oder auch Wiesenhof –, nicht gerecht. Also, nehmen Sie die Schranke einmal weg, die Sie vor Ihren Augen haben. Wir machen ein Gesetz für alle Betriebe.
Und dann gibt es sehr viele Betriebe, vor allen Dingen aus der Zeitarbeitsbranche, die höchste Auszeichnungen der zuständigen Berufsgenossenschaften bekommen haben, zum Beispiel die Firma Stiefvater in Nürnberg, die ich besucht habe und die ebendiese Menschen in der Zeitarbeit einsetzt, einmal in der Fleischindustrie und dann in der Lebkuchenproduktion.
Also, wir sollten davon abkommen, dass alle Unternehmer übel sind; denn diese sozial verantwortlichen Unternehmer sorgen letztendlich für gute Arbeitsplätze in unserem Land.
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An denen sollten wir unser Gesetz ausrichten und nicht nur an den Übeltätern. Die Übeltäter müssen natürlich bestraft werden. Das Übel muss abgeschafft werden. Aber ich muss feststellen, dass in der Vergangenheit die ehemalige rot-grüne Landesregierung in NRW überhaupt nicht kontrolliert hat.
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Erst Karl-Josef Laumann hat kontrolliert, wobei ich aber feststellen muss:
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Die festgestellten Verstöße sind mit dem jetzigen Gesetzesinstrumentarium bereits zu ahnden. Daher bräuchten wir in dem Sinne gar keine anderen Gesetze.
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– Nein, Frau Müller-Gemmeke, ich bin noch bei der Antwort.
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Die Umwandlung von Werkverträgen dann in Zeitarbeitsverträge mag es vielleicht geben, aber es ist dann möglicherweise für einzelne Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sogar eine Verbesserung, weil es bei den Zeitarbeitsunternehmen einen festen Tarifvertrag gibt. Es gibt den Lohnanspruch, es gibt die Integration in die Betriebe. – Ja, natürlich. Sie schütteln den Kopf. Das haben wir alles beschlossen.
Und es gibt eine Begrenztheit des Einsatzes, längstens 18 Monate im gleichen Betrieb – das muss man sehen –, und nach dem neunten Monat gilt Equal Pay. Dann muss der Lohn bezahlt werden, der dort in dem Betrieb üblich ist.
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Also, das ist eine Verbesserung.
Es ist ja so: Sie können die Großen jetzt bestrafen und sagen, wir verbieten alles. Wer aber auf der Strecke bleibt, ist der Mittelstand. Der Tönnies, den Sie als Schranke vor Augen haben, und Westfleisch schaffen es, ihre Arbeitnehmer aus Rumänien, aus Bulgarien und sonstigen Ländern zu rekrutieren, weil sie so groß sind. Aber der Mittelstand in der Fleischverarbeitung mit 200 oder 300 Mitarbeitern kann es sich nicht leisten, ein Büro in Rumänien, in Bukarest oder in sonstigen Städten aufzumachen, um Menschen als Arbeitskräfte zu rekrutieren. Auch das ist richtig: Leider Gottes stehen unsere Leute in Deutschland nicht unbedingt vor den Fleischbetrieben Schlange, um dort eine Arbeit aufzunehmen.
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Das ist letztendlich ja mit das Ergebnis.
Lieber Max Straubinger, die Fragen sind ausführlich beantwortet. Jetzt läuft wieder die Uhr.
Werte Kolleginnen und Kollegen, lasst uns streiten und lasst uns ein vernünftiges Gesetz machen. Dabei geht es auch darum: Was ist ein Handwerksbetrieb? Ein Handwerksbetrieb definiert sich, lieber Herr Minister, nicht über 49 Personen, die dort beschäftigt sind. Ein Handwerksbetrieb definiert sich darüber, dass der Inhaber das Metzgerhandwerk gelernt hat, und das hat nichts mit der Anzahl der beschäftigten Personen zu tun. Und deshalb muss das Handwerk hier auch herausgenommen werden.
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Zu den Verträgen muss ich auch sagen: Warum ist es möglich, in der Milchindustrie die Erzeugung der Verpackung sozusagen auszulagern, und zukünftig wäre es bei den Fleischbetrieben nicht mehr möglich? Das kann mir doch keiner erklären. Das gilt genauso für die Kuttelei, die letztendlich einen Sonderbetrieb darstellt, in dem die Därme verarbeitet werden. Ich war in einer Schlächterei bei VION. Die haben mir gesagt, sie werden das selbst nicht tun. Dann werden aus den Gedärmen keine Produkte hergestellt, sondern sie werden dann zu Tiermehl gemacht, und hinterher werden die Überreste verbrannt.
Es ist auch ethisch geboten, jedes Tier, das geschlachtet wird, für den Verzehrkreislauf der Menschen zu verwerten oder es dementsprechend für andere Nebenprodukte herzunehmen. Das ist auch ein ethisches Gebot.
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Da brauchen wir auch die Vielfaltsmöglichkeit in den Betrieben, und ich bitte darum, dass diese auch erhalten bleibt.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Nach dieser ausgiebigen Debatte gibt es keine weiteren Wortmeldungen. – Ich schließe die Aussprache.
Vielen Dank. – Sehr geehrter Herr Präsident! Geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Um ein Kind aufzuziehen, braucht es ein ganzes Dorf. – Dieses Sprichwort beschreibt ganz richtig, dass Kinder am besten in einem gesunden sozialen Gefüge mit unterschiedlichen Ansprechpersonen aufwachsen. Wie sehr es Eltern überfordern kann, wenn die Erziehung ihrer Kinder ausschließlich auf ihren Schultern ruht, haben viele Familien in den letzten Monaten schmerzhaft erfahren, verschärft noch dadurch, dass auch die meiste Bildungsarbeit in die Familien verlagert werden musste. Das Ergebnis ist – so zeigen es Studien –: erhebliche Lerndefizite quer durch alle Familien.
Besonders groß ist die Not in Familien, die ohnehin in schwierigen Umständen leben. Aber auch in normalen Zeiten gilt: Nirgendwo hängt der Bildungserfolg so stark vom Elternhaus ab wie bei uns. Diese Erkenntnis ist alt, nur ändert sich nichts. Die Bildungsforschung belegt, dass eine gute qualitativ hochwertige Ganztagsschule einen signifikanten Beitrag zur Chancengerechtigkeit leisten kann. Das zeigen im Übrigen auch die Länder, die bei Vergleichsstudien regelmäßig an der Spitze liegen: Finnland, Schweden, Estland.
Der Ganztag ermöglicht individuelle Förderung und verzahnt hervorragend formale und non-formale Bildung. Ein rhythmisierter Ganztag schafft Zeit für Schülerinnen und Schüler sowie Lehrkräfte, Bindungen zu stärken und zu kooperieren. Voraussetzung dafür ist, dass Lehrkräfte von Aufgaben entlastet werden, die mit guter Bildungs- und Erziehungsarbeit nichts zu tun haben: Verwaltung, Organisation – zum Beispiel die Zusammenarbeit mit Vereinen – oder gar die Installation und Wartung von IT. Das sind Tätigkeiten, für die Schulen nichtpädagogisches Fachpersonal brauchen.
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Beratung und Betreuung können von Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen geleistet werden. Erzieherinnen und Erzieher ergänzen dieses Angebot. Kurz: Eine gute Schule und damit auch ein gutes Ganztagsangebot bildet mit einem multiprofessionellen Personal das erwähnte Dorf, das den Kindern neben den Eltern das Rüstzeug für das Leben mitgibt.
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Die Betonung liegt auf guter Ganztag. Die Koalition hat ja den Rechtsanspruch verabredet. Leider ist dort von Qualität nicht die Rede. Welche Folge das haben kann, sehen wir beim sogenannten Gute-KiTa-Gesetz. Gut gemeint ist eben nicht gut gemacht.
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Das Geld des Bundes sei eben nicht an Qualitätskriterien gebunden, heißt es. Ergebnis: Die Qualität in den Kindertagesstätten hat sich – zumindest durch das Programm – kaum verbessert, wie es die Bertelsmann-Studie von vor 14 Tagen zeigt. Dieser Fehler darf sich beim längst überfälligen Ganztagsausbau nicht wiederholen. Deswegen beschreiben wir in unserem Antrag, wie ein gutes schulisches Ganztagsangebot aussehen muss. Neben pädagogischen Rahmenbedingungen gehören dazu auch die entsprechenden Räumlichkeiten: multifunktionale Räume, die unterschiedlichen Lernanforderungen genügen, funktionierende sanitäre Anlagen, Raum für Bewegung und Erholung.
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Die notwendigen Investitionen in Raum und Personal fordern sowohl Länder als auch Kommunen. Das Deutsche Jugendinstitut rechnet mit bis zu 7,5 Milliarden Euro an Investitionskosten und jährlich bis zu 4,5 Milliarden Euro für den Betrieb. Dazu kommt der aktuelle Investitionsrückstand an Schulen von jetzt schon 44 Milliarden Euro. Die Tatsache, dass infolge der Pandemie gerade auch die kommunalen Finanzen gewaltig unter Druck geraten sind, auch ohne die Daueraufgabe Digitalisierung der Schulen, macht offensichtlich, dass die Finanzierung der Bildung in der aktuellen Form nicht mehr tragfähig ist. Dies bestätigte jüngst auch das Bundesverfassungsgericht, wonach der Bund verpflichtet ist, die von ihm an Länder und Gemeinden delegierten Aufgaben auch auskömmlich zu finanzieren. Eigentlich logisch, weil fair.
Die Erfahrungen aus dem Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz waren aber völlig andere. Als Kommunalpolitikerin habe ich die ständig steigenden Beträge in unserem Gemeinde- und Kreishaushalt ohne entsprechenden Ausgleich mit Sorge verfolgt. Seit der Einführung des Rechtsanspruchs hat sich entgegen den Stimmen der Skeptiker der Bedarf auch im Bereich U3 und auch auf dem Land weit über die Prognosen hinaus erhöht, und die Eltern – auch bei mir im ländlich geprägten Raum – fragen zu Recht: Warum kann mein Kind den ganzen Tag in die Kita, aber nur den halben Tag in die Schule gehen?
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Warum muss ich den Familienalltag mit dem Schulkind komplett neu organisieren? Wie steht es um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf mit Schulkindern? Wo bleibt die Unterstützung für Alleinerziehende? Es wird Zeit, dass wir diesen Widerspruch auflösen und im Rahmen eines modernen Bildungsföderalismus über alle föderalen Ebenen hinweg für gute Bildung und Chancengerechtigkeit an einem Strang ziehen.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, das rot-grüne Ganztagsschulprogramm zu Beginn des Jahrtausends hat damals wichtige Impulse gesetzt. Seitdem hat sich der Bedarf an Ganztagsplätzen in den Schulen aus den unterschiedlichsten Gründen deutlich erhöht. Aber nicht einmal die Hälfte der Kinder hat einen Platz. Und bis heute bleibt uns die Koalition die versprochene Initiative dazu schuldig. Wenn wir Teilhabe, Chancengerechtigkeit, Vereinbarkeit von Familie und Beruf, aber auch die soziale Funktion der Schule ernst nehmen, brauchen wir viel mehr Ganztagsschulen, die den Ansprüchen an Schule mit Qualität gerecht werden.
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Unser Antrag formuliert die dafür notwendigen Schritte.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist der Kollege Marcus Weinberg.
Bevor Sie anfangen, Herr Weinberg, muss ich noch mal fragen: Ist jemand im Haus, der an der Wahl noch nicht teilgenommen hat? – Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich hiermit den Wahlgang.
Wir fahren fort mit der Debatte. – Herr Weinberg.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielen Dank auch den Grünen für diesen Antrag, ist es doch immer eine schöne Gelegenheit, beim Thema Ganztagsbetreuung konkret darauf zu schauen: Was wünschen Sie sich bei der Ganztagsbetreuung? Wie sind unsere Positionen? Es ist auch immer eine gute Gelegenheit, die Familien- und Bildungspolitik in der ganzen Breite aufzuzeigen. Denn dies ist ein Element der Familien- und Bildungspolitik; es gibt viele weitere. Und wenn Sie ehrlich sind: Eigentlich sind Sie doch ganz zufrieden mit unseren Geschichten
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und suchen ein wenig das Haar in der Suppe. Aber man sieht am Antragstext, dass Ihnen das nur sehr mühsam gelingt.
In dem Kontext ein Punkt zu Ihrem IZBB, also dem damaligen ersten Impuls. Das sollen Sie auch für sich beanspruchen, und dazu sage ich: Herzlichen Glückwunsch. – Aber es gibt schon einen Unterschied, wie man das Thema angeht. Was wir in der Großen Koalition jetzt gemacht haben, ist etwas völlig anderes.
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Wir haben einen Rechtsanspruch definiert auf einen Platz in der Ganztagsbetreuung.
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Wir setzen also nicht nur punktuelle Impulse, sondern wir haben mutig – sehr mutig – für das Jahr 2025 diesen Rechtsanspruch formuliert.
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Das entsprang durchaus der Erkenntnis, wie wichtig eine gute Ganztagsbetreuung ist.
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Wenn ich bei den Grundsätzen bin, dann sage ich immer sehr gerne: Das eine ist das Thema Infrastruktur – darüber reden wir jetzt –, das andere ist das Thema „finanzielle Sicherheit von Familien“. Denn Familien sind frei und sollen sich frei entscheiden, auch in der Frage der Betreuung, welche guten Angebote sie annehmen, aber auch, ob sie diese möglicherweise nicht annehmen.
Es gibt natürlich auch das Thema Zeitmanagement. Deswegen haben wir viele Maßnahmen in der Großen Koalition beschlossen, die die Familien in ihrer Entscheidungsfreiheit stärken. Ich will jetzt nicht noch einmal das Thema der finanziellen Sicherheit aufmachen; das haben wir bei anderen Debatten getan. Ich will nur sagen: Dahinter steht eine Grundkonzeption von Familie. Wir sagen: Wir geben den Familien die Freiheit, zu entscheiden, wie sie die Betreuung organisieren.
Nun gibt es extreme Positionen. Die einen sagen: So viel Staat wie möglich. – Die anderen sagen: Das ist alles nur Teufelszeug; das wollen wir gar nicht; wir wollen es wie 1955 haben. – Die Familien finden sich hier in der Mitte wieder. Denn sie sagen: Wir wollen die Angebote wahrnehmen. Über 70 Prozent sagen: Wir als Familie wollen Ganztagsangebote wahrnehmen. Davon sagen übrigens die meisten: Bis 14.30 Uhr. – Das heißt, wir müssen darauf reagieren, und wir haben als Bund etwas getan, was auch ein Paradigmenwechsel ist, nämlich das als nationale Aufgabe anzusehen. Es ist also die Aufgabe des Bundes, der Länder und der Kommunen, in der jeweiligen Verantwortung einen Teil dazu beizutragen.
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Auch ich bin Anhänger der Ganztagsbetreuung, weil es bildungspolitische und kultur- und integrationspolitische Gründe gibt, weil wir in einer Wissensgesellschaft, in einer Bildungsgesellschaft zusehen müssen, dass wir die Ressourcen stärken. Wir haben veränderte Milieus. Wir haben gerade in Städten, im urbanen Milieu einen hohen Anteil an Menschen mit einem anderen kulturellen Hintergrund. Diese integrationspolitische Herausforderung kann über eine gute Ganztagsbetreuung gemeistert werden. Es hat auch sozialpolitische Gründe. Wenn wir eine zusammenwachsende Gesellschaft sind, die der Radikalisierung entgegensteht, dann brauchen wir auch eine Gemeinschaft. Insofern kann eine gute Ganztagsbetreuung auch eine sozialpolitische Funktion übernehmen.
Zu guter Letzt gibt es auch arbeitsmarktpolitische Gründe – ich nenne das nur deshalb als letzten Punkt, weil wir Familien nicht als Ressourcen für den Arbeitsmarkt betrachten sollten –, die man sehr leicht nachlesen kann. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat es ausgerechnet: Wenn die Quote der Ganztagsbetreuung steigt, dann steigt die Quote der Erwerbstätigkeit um 2 bis 6 Prozent oder um 2,6 Wochenstunden. Das heißt, dass in der Folge die Rentenansprüche insbesondere der Frauen steigen, was auch nicht unwichtig ist. Außerdem steigen die Steuereinnahmen, und die Transferleistungen gehen zurück. Das heißt – auch das ist eine Erkenntnis –, dass eine gute Ganztagsbetreuung eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf ermöglicht und damit dafür sorgt, dass die Leistung des Staates in Teilen refinanziert wird. Deswegen sind wir und auch ich ganz persönlich Anhänger einer guten Ganztagsbetreuung als Angebot an die Familien, ich betone: als Angebot an die Familien.
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Jetzt kommt der entscheidende Punkt. Wir sollten nicht sagen: „Wir haben ein föderales System, und eigentlich sind die Länder zuständig, die aber nicht können, und die Kommunen sind sowieso am Ende der Fahnenstange“, sondern der Appell von diesem Hause aus muss sein: Wir wollen das Thema angehen, wir wollen einen Rechtsanspruch umsetzen.
Für mich gibt es drei wichtige Dinge:
Erstens. Es muss eine Vergleichbarkeit geben. Nun ist Thüringen anders als Hamburg, anders als Rostock und möglicherweise auch anders als der Taunus. Aber es muss eine Vergleichbarkeit für die Familien geben. Das heißt nicht, dass überall alles gleich ist. Die regionalen Besonderheiten können sich in der Frage der Ganztagsangebote widerspiegeln, weil die Situation in Hamburg, an der Elbe gelegen, anders ist als in München, nahe den Alpen. Aber das Angebot muss vergleichbar sein.
Zweitens: Qualität. Wir haben darüber im Zusammenhang mit dem Kitabereich lange diskutiert. Nur eine hochwertige Ganztagsbetreuung schafft Vertrauen bei den Eltern. „Satt und sauber“ und nur Betreuen reicht nicht. Sie haben Anspruch auf eine gute Bildung. Sie haben Anspruch auf professionelle Betreuung durch gute Fachkräfte. Das heißt, der Qualitätsaspekt muss auch in den Verhandlungen zwischen Bund und Ländern eine Hauptrolle spielen.
Herr Weinberg, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Frau von Storch?
Ja, auch wenn ich sie nicht sehe. – Jetzt sehe ich sie.
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– Herr Müller, da würde ich mir an Ihrer Stelle jetzt aber mal Gedanken machen.
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Ich bedanke mich sehr herzlich für die Erlaubnis, eine Zwischenfrage zu stellen.
Sie haben gerade von dem Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz bzw. auf Ganztagsbetreuung gesprochen. Wenn der Staat diesen Rechtsanspruch nicht erfüllen kann, hat dann derjenige, der den Anspruch geltend gemacht hat, einen Schadensersatzanspruch? Was für einen Anspruch hat er? Entsteht ein Schaden, wenn ich mein Kind zu Hause betreuen muss, weil der Staat den Anspruch nicht erfüllen kann?
Erstens. Wir haben eine politische Botschaft, indem wir sagen: Wir haben einen Rechtsanspruch, und der muss umgesetzt werden, und daran haben sich alle zu beteiligen.
Zweitens. Wir haben es bei den Rechtsansprüchen auf einen Kitabetreuungsplatz erlebt, dass es Klagen gab. Dann muss im Einzelfall entschieden werden, ob es möglicherweise einen Anspruch auf Entschädigung gibt und wie das zu regeln ist. Da gab es mehrere Verhandlungen und mehrere – ich sage das in Anführungszeichen – Vorgaben von Gerichten, die den Einzelfall zu prüfen haben.
Aber wir befinden uns in einer politischen Debatte, Frau Kollegin, wenn ich das sagen darf. Und Sie müssen mal sagen, ob Sie einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung mittragen können.
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– „Auf gar keinen Fall!“ Sehen Sie, da liegen wir politisch auseinander. Dann können wir aufgrund Ihrer Zwischenfrage das Ergebnis feststellen, dass zwischen Ihnen und uns große Unterschiede zu erkennen sind.
Ich komme zurück zum Thema Verantwortungsbereiche. Qualitativ hochwertige Ganztagsbetreuung, das ist es, was Eltern wollen. Sie prüfen genau, was die Schulen anbieten.
Ich möchte noch einmal appellieren – das ist der dritte Punkt, den ich ansprechen möchte –: Das ist eine gemeinsame Aufgabe. Es ist jetzt nicht die Zeit für Spiele, für ein Tauziehen, wer ein bisschen mehr und wer ein bisschen weniger geben muss. Ich glaube, da sind wir einer Meinung, gleich ob Grün, Schwarz, Gelb oder Rot. Alle haben sich gegenseitig tief in die Augen zu schauen und zu sagen: Wir können das bis 2025 hinbekommen.
Wir erleben in dieser Coronakrise, wie wichtig es ist, dass wir die Digitalisierung voranbringen. Es geht aber nicht nur darum. Wir müssen auch die sozialpädagogische Betreuung voranbringen und beim Sprachförderbedarf vorankommen. Das alles kann im Rahmen einer guten Ganztagsbetreuung gemeistert werden. Kinder, die einen sozial- oder sonderpädagogischen Bedarf haben, brauchen die Ganztagsbetreuung. Auch Kinder mit einem Sprachförderbedarf brauchen die Ganztagsbetreuung. Es gibt also eine Reihe von Gründen, hier voranzukommen.
Ich habe eine herzliche Bitte – heute, am 10. September, finden Gespräche zwischen dem Bund und den Ländern statt –, damit komme ich zum Schluss, Herr Präsident: Lassen Sie uns dieses Thema jetzt ernsthaft angehen. Wir können gemeinsam die Agenda setzen. Wir haben als Bund gesagt, auch wenn das nicht in unsere Kompetenz fällt – das ist das alte Spiel –: Uns ist das wichtig; das ist eine nationale Aufgabe. – Denken wir jetzt bitte ernsthaft darüber nach, wie wir das hinbekommen.
Eine Bemerkung noch zu den Kommunen. Es kann nicht sein, dass am Ende die Kommunen alleingelassen werden.
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Ich kenne, auch aus vielen Gesprächen mit Kolleginnen und Kollegen, die Situation in den Kommunen. Daher formuliere ich meine Forderung an die Länder deutlich: Bitte ernsthaft jetzt die Kommunen entlasten! Die Kommunen haben vieles zu bewältigen gehabt. Sie werden die Bildungsaufgabe auch in Zukunft in allen Bereichen bewältigen müssen. Das heißt: Geben wir ihnen die Möglichkeit dazu, entlasten wir sie, wo wir können. Lassen Sie uns bei den Themen Bildung und Ganztagsbetreuung gemeinsam vorgehen; die Ganztagsbetreuung soll ein Angebot für die Familien sein. Das wäre ein schönes Ergebnis. Gehen wir das in den nächsten Tagen und Wochen an. Ich glaube, das ist wichtig für unser Land und wichtig für die Familien und Kinder.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der AfD der Kollege Martin Reichardt.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir reden ja heute über den Antrag der Grünen, „Zeit für mehr – Recht auf gute Ganztagsbildung im Grundschulalter umsetzen“. In einer Zeit, in der das Kindeswohl, die Rechte von Eltern und Kindern aufgrund der Panikrhetorik der Regierung mit Füßen getreten werden, fällt es mir schwer, über einen Antrag zu sprechen, in dem „Recht“ und „Kinder“ in einem Atemzug genannt werden.
({0})
In Deutschland müssen Kinder stundenlang mit Maske im Unterricht sitzen, auf dem Schulweg und auf dem Pausenhof eine Maske tragen.
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Kinder werden in Schulen und Kindergärten mit Kaninchenzäunen und teilweise Absperrband daran gehindert, mit Freunden zu toben. Das sind alles reale Bilder. Politiker, Medien und Lehrer schüren hierbei leider oft die Urangst um das eigene Leben und um das Leben von Angehörigen.
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– Nein, die verbreite ich nicht.
Damit Eltern, Lehrer und alle Menschen in Deutschland wissen, wie diese Regierung mit unseren Kindern umgeht, zitiere ich mit Erlaubnis des Präsidenten aus dem Strategiepapier des Innenministeriums, wie wir mit Covid-19 umgehen und es unter Kontrolle bekommen. Zitat:
Um die gewünschte Schockwirkung zu erzielen, müssen die konkreten Auswirkungen einer Durchseuchung auf die menschliche Gesellschaft verdeutlicht werden:
…
Kinder werden sich leicht anstecken, selbst bei Ausgangsbeschränkungen, z. B. bei den Nachbarskindern. Wenn sie dann ihre Eltern anstecken, und einer davon qualvoll zu Hause stirbt
– haben sie das Gefühl –,
Schuld daran zu sein, weil sie z. B. vergessen haben, sich nach dem Spielen die Hände zu waschen …
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Kinder leben täglich mit solcher Rhetorik. Sie leben in Angst, ihr Leben ist davon geprägt, dass sie als Kinder eine Gefahr für sich und andere sind. Was das mit Kindern macht, kann sich jeder vorstellen.
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Herr Reichardt, gestatten Sie eine Zwischenfrage vonseiten der Grünen?
Nein. – Dabei kommt mir ein alter Liedtext in den Sinn:
Sind so kleine Seelen, offen und ganz freiDarf man niemals quälen, gehʼn kaputt dabei
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Die weitreichenden Folgen der Coronamaßnahmen für Kinder sind schon heute offensichtlich und werden als Kollateralschaden hingenommen. Es wird Zeit, dass dieses Hohe Haus aufsteht, aufsteht für unsere Kinder; denn es kann nicht sein, dass die am wenigsten gefährdete Gruppe das höchste Sonderopfer in dieser Gesellschaft zu tragen hat.
({1})
Ich komme jetzt zum Antrag. Ich selbst bin Vater von drei Kindern. Mein kleiner Sohn geht in eine Grundschule mit Nachmittagsbetreuung. Meine Frau und ich sind tatsächlich auch froh – gelegentlich –, dass unser Sohn dort mit Freunden nachmittags spielen kann.
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Die AfD steht daher dem Ausbau der Ganztagsbetreuung in Grundschulen offen gegenüber. Wir lehnen aber eine Überhöhung zum bildungspolitischen Allheilmittel entschieden ab.
({3})
Die Bundesregierung strebt einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in Grundschulen ab 2025 an; wir haben es gerade gehört. Die Grünen fordern in ihrem Antrag gar das Recht auf eine gute Ganztagsbildung.
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Beide Vorhaben sind letzten Endes Augenwischerei und unseriös; denn sie werden schon vor dem Hintergrund des heute bereits bekannten Personalmangels scheitern müssen. Das weiß bereits heute jeder.
Die Grünen behaupten außerdem in ihrem Antrag – und das wurde hier auch in der Rede ausgeführt –, dass Ganztagsangebote grundsätzlich einen positiven Einfluss auf die psychosoziale Entwicklung von Kindern haben und die Bildungsgerechtigkeit erhöhen. Das ist ein Märchen.
({5})
Die Wahrheit belegt die bundesweite StEG, die Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen: Für Jugendliche aus problematischen sozialen Verhältnissen oder mit Migrationshintergrund lässt sich über vier Jahre hinweg kein Effekt der reinen Ganztagsschulteilnahme auf ihre Schulleistungen nachweisen. Auch haben die Forscher festgestellt, dass sich trotz zusätzlicher Leseangebote an Ganztagsschulen die Lesekompetenz von Grundschülern nicht verbessert; so viel zur Bildungsgerechtigkeit, meine Damen und Herren.
({6})
Sie fordern weiterhin Milliarden für die Fremdbetreuung von Kindern, weil Sie das Original, nämlich die traditionelle Familie, unterminieren und ablehnen. Als Begründung dient dann immer diese Floskel von der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Außerhalb des politisch korrekten Sprachgebrauchs ist das eigentlich nichts anders als die permanente Forderung, dass junge Eltern möglichst schnell wieder dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen sollen.
({7})
All diese Projekte werden am Personalmangel scheitern. Kindergärten und Ganztagsschulen werden aufgrund dieses Mangels dann zu Parkplätzen für Kinder, und das wird dann hier als gute Bildung verkauft. Das ist einfach nicht richtig.
({8})
In diesem Hause wird viel über Kinderrechte und Kindeswohl gesprochen. Schauen wir uns aber an, was sich Kinder wünschen: Ihr größter Wunsch ist mehr Zeit mit Freunden und Familie. Die Hälfte der Kinder empfindet laut einer Umfrage des LBS-Kinderbarometers die Zeit in der Schule als zu lang. Kinder in Ganztagsschulen leben einen Erwachsenenrhythmus mit Schichten von 8 bis 16 Uhr. Kindsein bedeutet aber, Freizeit zu haben gemeinsam mit Freunden, die man sich selber aussucht, und das nicht unter der von Ihnen gewünschten sozialpädagogischen Daueranleitung. Die haben Sie nicht gebraucht, die habe ich nicht gebraucht, die brauchen Kinder generell nicht.
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Der Wunsch der Kinder deckt sich übrigens mit den Wünschen von Eltern. Umfragen zeigen, dass sich drei Viertel aller Eltern folgendes Modell wünschen: Ein Elternteil arbeitet in Vollzeit, eines in Teilzeit. Die Shell-Jugendstudie zeigt darüber hinaus, dass sich junge Menschen mehrheitlich wünschen, dass in den ersten Lebensjahren des Kindes ein Alleinverdienermodell vorherrscht; wobei – da müssen Sie von links jetzt ganz stark sein – der Mann hauptsächlich berufstätig und die Frau überwiegend zu Hause sein soll.
({10})
– Das sind die Aussagen der Shell-Studie. Die AfD ist insofern die einzige Partei, die sich für eine echte Wahlfreiheit in der Kinderbetreuung einsetzt. Das ist Fakt.
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Anstatt immer mehr in Fremdbetreuung zu investieren, muss eine Grundlage dafür geschaffen werden, dass besonders junge Eltern nicht mehr zur Arbeit und damit zur Fremdbetreuung aus wirtschaftlichen Gründen gezwungen sind, sondern frei wählen können. Der lockdownbedingte Ausfall der staatlichen Betreuung hat übrigens gezeigt, wie schnell das seit Jahrzehnten geförderte Fremdbetreuungsmodell zu einer Falle für Familien werden kann.
Der Lockdown hat übrigens auch gezeigt, wie schnell diese Regierung und dieser Staat die Familien im Stich lässt. Nur die AfD setzt sich dafür ein, dass sich Familien aus der linksideologischen Bevormundung durch den Staat befreien können. Dafür stehen wir.
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Zum Abschluss: Wir stehen für die Rechte von Eltern und Kindern, und – um noch einmal auf den Eingangsteil meiner Rede einzugehen – wir stehen für eine Kindheit ohne Maske und Abstand.
Vielen Dank.
({13})
Vielen Dank. – Als Nächste spricht für die Fraktion der SPD die Kollegin Ulrike Bahr.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Geehrte Kollegen und Kolleginnen! Es ist, denke ich, nicht mehr strittig, dass wir ausreichende Angebote für gute Ganztagsbildung in ganz Deutschland brauchen. Darum haben wir uns im Koalitionsvertrag darauf verständigt, einen Rechtsanspruch ab 2025 im SGB VIII zu verankern. Aber auf dem Weg dahin muss allen klar sein: Das ist eine Gemeinschaftsaufgabe, bei der Bund, Länder und Kommunen zusammenarbeiten müssen. Es geht nur miteinander.
Ein großer Teil des Geldes für die Investitionskosten ist schon bereitgestellt. 750 Millionen Euro aus dem Konjunkturprogramm sollen fließen, sobald sich Bund und Länder entsprechend verständigt haben. Das ist doch ein gewaltiger Anreiz, sich jetzt zügig auf Rahmenbedingungen zu verständigen; denn wir können uns hier viele schöne Anträge ausdenken – auch ich habe viele gute Ideen –, aber das bringt alles nichts, solange es keine verbindliche Einigung darüber gibt, wie es in Länderverantwortung umgesetzt werden soll. Auch die Länder mit grüner Regierungsbeteiligung sind hier sehr wohl gefragt.
({0})
Neben Investitionskosten in Höhe von insgesamt 3,5 Milliarden Euro in den Haushaltsjahren 2020 und 2021 hat unser SPD-Bundesfinanzminister Olaf Scholz ja auch bereits signalisiert, dass der Bund sich dauerhaft an den Betriebskosten beteiligen wird.
„Gemeinsam“ kann aber nicht heißen, dass die Länder ganz aus der Pflicht entlassen werden. Das wäre sehr ungerecht gegenüber denen, die bereits viel getan haben. In Hamburg, aber auch in Thüringen, Sachsen oder in Berlin ist der Bedarf an Ganztagsplätzen in Grundschulen weitgehend gedeckt. Hier geht es eher darum, das Angebot noch einmal zeitlich und qualitativ zu verbessern. Dagegen hinken besonders die südlichen Bundesländer leider sehr hinterher. Das grün regierte Baden-Württemberg findet sich bei der Ausstattung mit Ganztagsschulen auf dem letzten Platz, auf dem Platz 16.
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Die Ganztagsbetreuung und ‑bildung für Grundschüler und Grundschülerinnen ist wichtig für die Eltern, für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie und damit auch für die Wirtschaft, die dringend Fachkräfte braucht. Sie ist aber vor allem auch eine Chance für Kinder, wenn sie sich dem Dreiklang von Bildung, Erziehung und Betreuung stellt und den Kindern partnerschaftlich begegnet.
Ich wünsche mir Formate, die jedem Kind individuellen Raum für seine Entwicklung bieten, die neben der schulischen auch die sportliche und musische Bildung berücksichtigen und daneben Freiräume und Anregungen für die Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit bieten, wie es unser Kinder- und Jugendhilferecht als Leitbild vorgibt.
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Dazu brauchen wir zunächst einmal die Menschen, die das vor Ort umsetzen, also Fachkräfte: Lehrer und Lehrerinnen, Erzieher und Erzieherinnen, Sozialpädagogen und Sozialpädagoginnen, gut ausgebildet und fair bezahlt. Daran hängt alles, und vielfach ist das auch die größte Schwierigkeit für die Kommunen. Allerdings lässt sich auch hier die Zuständigkeit für die Aus- und Weiterbildung nahezu ausschließlich bei den Ländern verorten.
Bildungs- und Betreuungskonzepte im Ganztag dürfen den Kindern nicht einfach übergestülpt werden. Gerade wenn sie den größeren Teil des Tages in Institutionen zubringen, müssen Kinder beteiligt werden. Viele Schülerinnen und Schüler wissen auch mit sechs oder sieben Jahren schon erstaunlich gut, was sie wollen, was sie brauchen und was ihnen guttut. Zentral ist auch, dass die Zeit nach der Ganztagsschule dann wirklich Familienzeit sein kann und nicht darüber hinaus mit vielen Terminen und Pflichten belastet wird. Neben Angeboten an sportlicher und musischer Bildung ist es darum auch wünschenswert, dass zusätzliche Förderangebote in den Ablauf integriert werden. Schon lange klagen Eltern darüber, dass Kinder mit Teilleistungsstörungen von der Schule unzureichend gefördert werden und zusätzliche Angebote meist mühsam und teuer privat organisiert werden müssen. Im Bereich Ganztag gibt es nun endlich genug Zeit, auf Kinder mit Lernschwierigkeiten individuell einzugehen und auch Angebote in Kooperation mehrerer Schulen zu gestalten. Bei uns in Bayern hat zum Beispiel der Landkreis Eichstätt ein Programm in Zusammenarbeit von Schul- und Jugendamt aufgelegt, das erfolgreich Entlastung für die betroffenen Familien schafft. Solche Ansprüche lassen sich nur mit einem entsprechenden Raumangebot bedienen. Viele Kommunen müssen deshalb bauen und in kindgerechte Räume und Außenanlagen investieren, die einerseits das Lernen fördern, andererseits aber auch zu Kreativität, Spiel und Entspannung einladen. Es eilt darum mit der Einigung zwischen Bund und Ländern; denn erst dann kann das Geld fließen, und jedes Bauvorhaben braucht Zeit.
Die Länder haben bislang unterschiedliche Wege eingeschlagen, wenn es um die Organisation von Ganztagskonzepten geht: Offene und gebundene Ganztagsschulen stehen je nach Bundesland einer zum Teil sehr guten Hortinfrastruktur gegenüber.
Viele Wege führen zum Ziel. Bedingung ist für mich lediglich, dass Schule und Jugendhilfe sich auf Augenhöhe begegnen und verbindliche Kooperationen vereinbaren. Dafür müssen sich auch die Schulen öffnen und als Teil von Netzwerken begreifen, die gute Ideen und Engagement für Kinder zusammenbringen. Hier gibt es schon viele gute Beispiele. Ich halte es nämlich für sehr wichtig, dass Grundschulkinder nicht nur im schulischen Raum bleiben, sondern auch ihre Umwelt erkunden und erobern können. Ein Ganztagsangebot muss auch dafür Zeit und Gelegenheit bieten.
Angesichts der vielfältigen Aufgaben und Ansprüche sind mir zwei Dinge besonders wichtig:
Erstens. Wir brauchen klare Qualitätskriterien, wo es hingehen soll. Darum hoffe ich auf baldige Ergebnisse der Bund-Länder-Arbeitsgruppe und nachfolgend auf den Gesetzentwurf aus dem BMFSFJ.
Zweitens dürfen wir aber auch nicht Opfer der eigenen Perfektionsansprüche werden. 2025 ist nicht mehr weit weg. Eine große Menge Geld ist bereits im Haushalt eingestellt. Darum heißt es jetzt auch: Loslegen und dabei flexibel bleiben!
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In den beiden letzten Jahren habe ich Bürgermeister und Bürgermeisterinnen in Bayerisch-Schwaben besucht. Der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung macht ihnen Sorgen. Sie sehen aber auch die berechtigten Forderungen der Eltern, die Bedarfe der Kinder und die Wünsche der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber. Sie brauchen deshalb schnell Rechtssicherheit und Mittel für die anstehenden Investitionen. Ermutigend ist dabei: Wir haben fast überall gute Strukturen der Kinder- und Jugendarbeit, der Schulsozialarbeit, der kulturellen Kinder- und Jugendbildung. Dieses große Kapital der selbstorganisierten und ehrenamtlichen Arbeit darf nicht verloren gehen zugunsten einer 08/15-Betreuung ohne Fantasie und Mitsprache.
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Es wird eine große kommunale Herausforderung, hier mit Vernetzung und verlässlicher Finanzierung eine bunte Landschaft zu erhalten und auszubauen.
Schließlich: Den Anspruch von Kindern auf gutes Aufwachsen, Bildung, Förderung und Beteiligung können wir auch stärker machen, wenn wir ihn endlich in das Grundgesetz schreiben. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, auch damit können Sie unserem gemeinsamen Anliegen der guten Ganztagsbildung noch mehr Schwung geben.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion der FDP der Kollege Matthias Seestern-Pauly.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir Freien Demokraten wollen einen Rechtsanspruch auf qualitativ hochwertige Ganztagsbetreuung im Grundschulbereich. Ein solches Angebot ist für viele eine Chance auf Förderung, auf Vereinbarkeit von Familie und Beruf, auf Bildungs- und Lebenschancen. Jedoch geht es seit Monaten bei diesem Thema keinen Schritt voran. Mir drängt sich der Eindruck auf, dass bei Ihnen, Frau Ministerin, Werbung in eigener Sache vor der realistischen Umsetzung steht. Sie versprechen, was Sie nicht halten können. Sie werden Enttäuschung hervorrufen, weil Sie ein Ziel vorgeben, ohne einen Fahrplan zu haben. Sie haben im letzten Oktober einen Gesetzentwurf zum Rechtsanspruch für das erste Quartal 2020 versprochen. Das Problem ist: Er liegt bis heute nicht vor. Mehr als Ankündigung sehe ich bisher nicht. Deshalb frage ich ganz konkret: Wie ist denn der aktuelle Stand zum Gesetzentwurf? Wie sollen denn die konkreten Standards eigentlich aussehen, und mit welchem Personal wollen Sie einen Rechtsanspruch auf qualitativ hochwertige Ganztagsbildung im Grundschulbereich eigentlich umsetzen?
Wir alle wissen doch, dass diese Ankündigungen nur Makulatur sind; denn die Fachkräfte fehlen. Warum das so ist, haben Sie selbst mehrfach gesagt: schlechte Arbeitsbedingungen, schlechte Bezahlung, kaum Aufstiegsperspektiven. Trotzdem haben Sie es konsequent versäumt, zu handeln. Sie haben einmalig – einmalig! – 5 000 Ausbildungsplätze gefördert und es „Fachkräfteoffensive“ genannt. Dabei fehlen uns bereits heute Hunderttausende Fachkräfte. Das ist Realitätsverweigerung.
({0})
Schauen wir zum Beispiel nach Niedersachsen. Dort hat ihr SPD-Parteigenosse, Kultusminister Tonne, die Einführung einer dritten Fachkraft in der Kinderbetreuung um fünf Jahre verschoben. Er nennt auch den Grund. Ich zitiere aus einer Unterrichtung der Landesregierung vom 5. Juni 2020 – Zitat –:
Aufgrund des bestehenden Fachkräftebedarfs wird es für die Träger der Kindertageseinrichtungen immer schwieriger, hierfür geeignete Fachkräfte auf dem Arbeitsmarkt zu finden.
Die benötigten Fachkräfte gibt es schlicht und einfach nicht, Frau Ministerin. Ich frage mich, wie Sie unter diesen Umständen den Rechtsanspruch auf hochwertige Ganztagsbetreuung erfüllen wollen. Dabei sind motivierte und gut ausgebildete Fachkräfte das Fundament für weltbeste Bildung. Wir Freien Demokraten wollen dieses Fundament legen und nicht wie Sie den vierten vor dem ersten Schritt gehen.
Wir wollen eine echte Fachkräfteoffensive, um das Ziel zu erreichen: für mehr Qualität in den Kitas, mehr Chancen und einen Rechtsanspruch auf hochwertige Ganztagsbildung in der Grundschule. Genau deshalb fordern wir eine vergütete Ausbildung mit Inhalten des 21. Jahrhunderts. Genau deshalb wollen wir durch Fort- und Weiterbildung Karriereperspektiven aufzeigen. Genau deshalb wollen wir Fachkräfte von fachfremden Aufgaben entlasten, damit sie endlich wieder pädagogisch arbeiten können.
({1})
Von Ihnen höre ich hierzu nichts.
Was mir bleibt, ist das Gefühl, dass sich die Geschichte des gescheiterten Kitagesetzes wiederholt. Ich fürchte, dass sich Ihre Politik mal wieder in Ankündigungen und Versprechungen erschöpft. Frau Ministerin, wer ein Ziel vorgibt, muss auch realistisch sagen, wie dieses Ziel erreicht werden kann. Wenn Sie das nicht können, dann nehmen Sie zumindest unsere konstruktiven Vorschläge auf. Kommen Sie endlich weg von Ihren leeren Versprechungen. Machen Sie Politik für Eltern, für die Fachkräfte und für unsere Kinder.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Birke Bull-Bischoff für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ganztagsbildung ist – genau wie im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen beschrieben – moderne, ganzheitliche Bildung für alle Schülerinnen und Schüler. Es ist erst in zweiter Hinsicht auch eine gute Sache für Frauen und Männer, die Eltern sind – keine Frage – und die Beruf, Familie und Ehrenamt vereinbaren möchten. Es geht darum, Bildung in ganz unterschiedlichen Settings möglich zu machen: in Arbeitsgemeinschaften, in der Gruppe, als Projekt. Es geht darum, den Interessen von Schülerinnen und Schülern zu folgen, anstatt nach einem engen Plan zu arbeiten. Es geht darum, fächerübergreifend zu arbeiten und eben nicht im 45-Minuten-Abstand die Fächer zu wechseln. Es geht um demokratische Mitbestimmung, gemeinsam über Themen zu entscheiden. Es geht um die Perspektive von Kindern und Jugendlichen; da schwächelt Ihr Antrag ein wenig. Es geht darum, Praxis zu erkunden: Wie macht das ein Handwerker? Wie funktioniert Wissenschaft? Wie machen das Journalistinnen und Journalisten? Es geht darum, auf Bildung im Gleichschritt zu verzichten, Flexibilität zu ermöglichen, Praxis in Schule stattfinden zu lassen.
Ich will ganz klar sagen: Ganztagsbildung ist keine Benachteiligtenförderung in Brennpunktschulen, sondern es ist gute Bildung für alle.
({0})
Ja, sie kann Schülerinnen und Schülern in schwierigen Lebensumständen helfen, zu kompensieren, keine Frage.
Meine Damen und Herren, lange hat es gedauert – ich muss noch einmal ein wenig sticheln –, bis diese Form der modernen Bildung auch in der Vorstellungskraft der Konservativen vorkam, bis es eben kein Teufelszeug mehr war. Rechtsaußen ist da eher unerheblich für die übergroße Mehrheit in unserem Land. Aber der Fortschritt in dieser Frage ist hierzulande eine Schnecke. Meine Damen und Herren, woran liegt es? Ich habe vorgestern eine erfolgreiche Schulleiterin einer Ganztagsschule gefragt, welche Steine sie auf dem Weg vorfindet. Meine Damen und Herren, es sind die üblichen Verdächtigen: zu wenige Lehrkräfte für Ganztagsbildung. Gerade in Sachsen-Anhalt steuern wir zielgenau auf eine Katastrophe zu. Es fehlen Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter, es fehlen Psychologen, es fehlen Expertinnen und Experten aus anderen Bereichen. Es geht ja nicht um ein Dorf voller Lehrerinnen und Lehrer, sondern um multiprofessionelle Teams. Es fehlt Geld bei Schulträgern, für Honorare, für Material, für Ausrüstung, und es fehlt auch an guten Schulgebäuden. Wir haben zu viele Schulgebäude, die nicht wirklich Lust machen, dort den ganzen Tag zu verbringen.
Sie haben in den letzten Monaten so viel Geld ausgegeben für alles Mögliche, für viel Nützliches, aber auch für absurde Sachen, so zum Beispiel 10 Milliarden Euro – das sind 10 000 Millionen Euro – für ein Konjunkturpaket für die Rüstungsindustrie, meine Damen und Herren. Bildung ist dagegen nach wie vor auf Sparflamme unterwegs. Das Bildungsministerium muss man permanent zum Jagen tragen. Geld fließt nicht ab. Jetzt ist etwas Geld da. Es fehlt Qualität, es fehlt Personal. Meine Damen und Herren, so wird das nichts mit der Bildungsrepublik Deutschland. Der Antrag der Grünen trifft durchaus viele, wenn auch nicht alle Nägel auf den Kopf und geht in die richtige Richtung. Wir sind freudig gestimmt.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Maik Beermann.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Man denkt oftmals darüber nach, ob man auf die Ausführungen der AfD eingehen sollte.
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Aber es bringt auch nichts, wenn hier einfach Unwahrheiten verbreitet werden. Darauf muss man an der einen oder anderen Stelle hinweisen.
Ich persönlich kenne nicht eine einzige Grundschule hier bei uns im Land, in der eine Maskenpflicht herrscht.
({1})
Herr Reichardt behauptet aber genau das. Er spricht im gleichen Zusammenhang davon, dass die Kinder einer besonderen Angst und Gefahr ausgesetzt seien. Auch das ist meiner Meinung nach Quatsch.
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Herr Reichardt, ich sage Ihnen: Kinder, die sexuellem Missbrauch ausgesetzt sind, die misshandelt und geschlagen werden, Kinder, die in den Schulen oder in den sozialen Netzwerken gemobbt werden, Kinder, die nicht so friedlich leben können wie die Kinder hier bei uns in Deutschland, leben in Angst und Gefahr, aber nicht die Kinder, die bei uns auf dem Weg zur Schule im Schulbus vielleicht eine Maske tragen müssen. Das sollte hier mal erwähnt werden.
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Auf Seite 11 unseres Koalitionsvertrags steht ein für die Familien in unserem Land zentrales Vorhaben, und wie meine Vorredner aus der Koalition bereits gesagt haben, wollen wir dieses Vorhaben auch angehen. Wir richten einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder ab dem Jahre 2025 ein, mit allen Herausforderungen, die damit verbunden sind. Dieser Herausforderungen sind wir uns bewusst.
Wir wollen und wir werden diesen Betreuungsbruch, der beim Übergang von der Kitazeit auf die Grundschulzeit in vielen Bundesländern besteht, beenden. Der Antrag der Grünen – das darf ich so sagen, Frau Kollegin Stumpp – enthält viele gute Punkte. Diese haben wir im Blick, und wir werden sicherlich einiges davon im Gesetzentwurf wiederfinden.
Als Regierungskoalition halten wir den Schritt, den wir jetzt gehen wollen, für notwendig und für folgerichtig. Nach dem Ausbau der U-3-Kindertagesbetreuung in den letzten Jahren kommt nun auch der Ausbau der Ganztagsbetreuung an den Grundschulen. Es passt einfach nicht mehr in unsere Zeit, dass die Kinder bis zum Nachmittag im Kindergarten bleiben können, in der Grundschule jedoch im schlechtesten Fall schon am Mittag nach Hause geschickt werden. Das dient nicht der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Diesen Herausforderungen müssen wir gerecht werden.
Ich sage aber auch ganz deutlich: Wir dürfen nicht immer nur die Eltern in den Vordergrund stellen, sondern wir müssen diese Fragestellung auch mal aus Sicht der Kinder denken. Das ist ein ganz wichtiger Punkt.
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Um Familie und Beruf besser zu vereinbaren, möchten wir denen, die sich für ein Ganztagsangebot im Grundschulalter entschieden haben, die Möglichkeit einräumen, dies auch zu nutzen. Auch wenn dies die originäre Aufgabe der Kommunen und der Länder ist, greift ihnen der Bund auch hier wieder mit einer Milliardenhilfe unter die Arme.
Wir haben bereits Hilfen in Höhe von 2 Milliarden Euro beschlossen, und jetzt kommen nochmals 1,5 Milliarden Euro aus dem Konjunkturpaket dazu. Insgesamt reden wir schon über 3,5 Milliarden Euro. Ich kann nur hoffen, dass die Länder diese Mittel zum Ausbau der Ganztagsbetreuungsstrukturen wirklich an die Kommunen weiterleiten und keine klebrigen Finger bekommen. Das wäre nicht Sinn der Sache.
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Ich will aber nicht verhehlen, dass diese Herausforderung selbstverständlich eine gewaltige ist; auch einige meiner Vorredner sind schon darauf eingegangen. Dabei denke ich an die großen finanziellen Hürden. Es wird nicht nur um bauliche Investitionen gehen, sondern auch um laufende Kosten, um Personal- und Betriebskosten. Das alles kostet je nach Szenario zur Ausgestaltung des Ganztagsangebots zwischen 5 Milliarden Euro und 7,5 Milliarden Euro pro Jahr.
Auch die Fachkräftegewinnung und die Qualifizierung werden nur mit einem enormen Kraftakt gelingen; das müssen wir uns im Vorfeld klarmachen. Wir müssen uns zudem klarmachen, dass wir beim Ausbau ein ganz unterschiedliches Niveau haben und dass die Bundesländer sehr unterschiedliche Ansätze vertreten. Der Bedarf ist zudem regional unterschiedlich.
Entscheidend ist für uns als Unionsfraktion die Qualität der Betreuung. Ganztagsschulen sollen keine Verwahranstalten werden, deshalb gilt: Qualität vor Tempo. So vielfältig und unterschiedlich unsere Kinder sind, so vielfältig und unterschiedlich müssen auch die Nachmittagsangebote in den Grundschulen sein.
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Ich möchte zum Abschluss noch einmal die wichtigsten Punkte zusammenfassen: Qualität vor Quantität, größtmögliche Vielfalt, größtmögliche Vereinbarkeit und größtmögliche Verlässlichkeit. Das ist unser Anspruch, das ist unser Grundsatz. Dem werden wir uns als Unionsfraktion treu bleiben.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der FDP der Kollege Peter Heidt.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mein Kollege Matthias Seestern-Pauly hat bereits auf einige Probleme hingewiesen, die dieses zentrale Vorhaben mit sich bringt. Für viele berufstätige Eltern in Deutschland bricht das oft sehr mühsam austarierte System von Kinderbetreuung und Beruf zusammen, sobald das Kind in die Grundschule kommt.
Der Unterricht endet meistens bereits mittags, und so werden die Eltern vor das Problem gestellt, wer dann die Betreuung des Kindes übernimmt. Insbesondere Alleinerziehende stellt diese Situation vor eine echte Herausforderung. Für die Kinder bedeutet dieses Problem möglicherweise einen Bruch in der frühkindlichen Bildung. Vorwiegend alleinerziehende Mütter müssen von einer Vollzeitstelle in Teilzeit wechseln und geraten damit in ein Armutsrisiko.
Zur Verbesserung des Übergangs von frühkindlicher Bildung zur Grundschule müssen bedarfsgerecht qualitativ hochwertige Ganztagsangebote für Kinder im Grundschulalter entstehen.
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Durch Ganztagsangebote wird die Vereinbarkeit von Familie und Beruf endlich auch nach der Einschulung des Kindes umgesetzt. Hier gibt es keine Pflicht, sondern das ist ein Angebot, liebe AfD. Das müsst ihr endlich mal verstehen!
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Darüber hinaus sollte nach Ansicht der FDP der reine Betreuungsauftrag durch einen Bildungsauftrag ersetzt werden, sodass Kinder auch nach dem regulären Unterricht gefördert werden.
Sympathien, liebe Grüne, hegen wir als FDP natürlich für die Forderung nach einer Aufhebung des Kooperationsverbotes. Dies fordern wir schon lange.
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So vernünftig es ist, dass Bund und Länder im Bereich der Hochschulen zusammenarbeiten, so absurd ist es, dass diese Zusammenarbeit im Schulbereich weiter verboten bleiben soll. Wer wie die FDP weltbeste Bildung für alle will, braucht ein Kooperationsgebot, damit Bund und Länder in zentralen Fragen zusammenarbeiten können.
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Ich besuche derzeit sehr viele Schulen, und was ich dort sehe, ist mitunter wirklich schrecklich: Gerade im Schulbereich gibt es einen massiven Investitionsstau, und auch die Digitalisierung der Schulen geschieht viel zu langsam. Der Digitalpakt muss jetzt radikal entbürokratisiert werden, damit das zur Verfügung gestellte Geld endlich fließen kann.
Als Bad Nauheimer Stadtverordneter weiß ich sehr genau, wie teuer gute Betreuung ist. Die Kommunen können diese Aufgabe nicht alleine stemmen. Dafür fehlt ihnen einfach das Geld; das muss man zur Kenntnis nehmen. Um den Bedarf zu decken, müssen nach einer Studie der Bertelsmann-Stiftung mindestens 1,1 Millionen Ganztagsplätze zusätzlich geschaffen werden, was jährlich 4,5 Milliarden Euro Personalkosten verursacht.
Die Freien Demokraten teilen insoweit die Bedenken bezüglich der tatsächlichen Umsetzung des Vorhabens. Aber, liebe Grünen, in Ihrem Antrag erweitern Sie die Pläne der Regierung noch. Ihr Antrag mutet an wie ein Wunschkonzert. Da ist bereits im Vorwort die Rede von modernen Toiletten,
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vielfältigen Freizeitangeboten, gutem Essen, mindestens neun Stunden Betreuung usw.
Das sind alles schöne Forderungen – keine Frage-, aber die eigentliche Stoßrichtung, nämlich der dringend erforderliche bedarfsgerechte Ausbau von Ganztagsschulen, geht dabei völlig verloren. Die Antwort auf die Frage, woher Sie die Erzieherinnen und Erzieher sowie das Geld nehmen wollen, geben Sie nicht.
Die Freien Demokraten sind für ein realistisches Konzept, damit im Jahr 2025 der Rechtsanspruch auf Ganztagsbildung auch tatsächlich verwirklicht werden kann. Allein darauf sollten wir uns konzentrieren.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion der SPD die Kollegin Marja-Liisa Völlers.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im März dieses Jahres haben wir hier im Plenum das letzte Mal über Ganztagsbetreuung im Grundschulalter gesprochen. Seitdem ist bekanntlich viel passiert. Corona hat unser aller Leben verändert.
Unser Vorhaben, allen Grundschulkindern eine gute Ganztagsbetreuung zu ermöglichen, ist dringlicher denn je. Deshalb begrüße ich es, dass die Kolleginnen und Kollegen der Grünenfraktion heute dieses Thema mit ihrem Antrag auf die Tagesordnung gesetzt haben.
Für viele ist der Lernort Schule gerade zu Beginn der Pandemie fast ersatzlos weggebrochen. Nicht alle hatten das Glück, zu Hause Vokabeln abgefragt zu werden und Antworten zu den Physikaufgaben zu bekommen. Nicht alle hatten das Glück, dass überhaupt jemand zu Hause war. Hier sind Lernrückstände entstanden, die schon unter normalen schulischen Bedingungen schwer aufzuholen sind. Das ist vor allem für Kinder und Jugendliche mit besonderem Förderbedarf ein riesiges Problem.
Der Bedarf an einer guten ganztägigen Lernumwelt ist wahnsinnig groß. Ich bekomme ganz oft Zuschriften von Eltern aus meinem Wahlkreis dazu. Faire Chancen auf gute Bildung dürfen aber nichts mit Glück zu tun haben. Nicht der Geldbeutel der Eltern, die Herkunft oder der Wohnort dürfen ausschlaggebend dafür sein, welches Kind später einen guten Ausbildungsplatz bekommt und studiert und welches eben prekär beschäftigt ist. Es ist unser aller Aufgabe, Strukturen zu schaffen, die allen Kindern von Beginn an die gleichen Chancen eröffnen.
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Der Rechtsanspruch auf eine gute Ganztagsbetreuung für jedes Kind im Grundschulalter muss kommen. Da sind wir uns hoffentlich alle, bis auf die eine Fraktion, sehr einig.
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Für mich als Bildungspolitikerin und ausgebildete Lehrerin ist natürlich klar: Es geht nicht darum, Kinder acht Stunden lang Unterrichtsstoff pauken zu lassen. Es geht darum, Kindern Raum zur individuellen Entwicklung zu geben. Neben der schulischen Bildung muss es auch Möglichkeiten geben, ein Musikinstrument auszuprobieren oder eine neue Sportart auszuüben. Dafür müssen Schulen, Horte, Kinder- und Jugendhilfe, Sport- und Musikvereine auf Augenhöhe und gut miteinander arbeiten können.
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Natürlich müssen unsere Ganztagsschulen auch gut digital aufgestellt sein. Gerade bei den Grundschulen sehen wir hier noch großen Nachholbedarf. Wir haben hier in den letzten Monaten einige Maßnahmen gemeinsam auf den Weg gebracht, um unsere Schulen besser und vor allem schneller digital auszustatten. Als Lehrerin, die jahrelang an einer integrierten Gesamtschule unterrichtet hat, liegt mir dabei eine Maßnahme besonders am Herzen: die Unterstützung der Lehrkräfte bei Wartung und Einsatz der IT. Aus meiner persönlichen Erfahrung heraus weiß ich, wie sehr sich Lehrkräfte hierbei Unterstützung wünschen. Nicht dass sie selber nicht in der Lage wären, das zu tun. Aber in der Praxis fehlt schlicht die Zeit dafür.
Technische Ausstattung, Datenschutz, Entwicklung digitaler Unterrichtsmaterialien und deren pädagogisch wertvoller Einsatz – all das lässt sich nicht einfach so aus dem Ärmel schütteln, gerade nicht an unseren Grundschulen.
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Deshalb haben wir vom Bund mit dem Konjunkturpaket dafür gesorgt, dass zusätzlich 500 Millionen Euro in die Hand genommen werden. Bund und Länder beraten gerade noch die Details. Für uns als SPD steht fest: Es darf nicht nur um administrative Fragen gehen. Wir wollen an jeder Schule Bildungstechnologen haben, die sowohl bei technischen als auch bei medienpädagogischen Fragen helfen können.
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Sehr geehrte Damen und Herren, eine gute Ganztagsbetreuung schafft nicht nur gerechtere Chancen für alle Kinder. Mit ihr schaffen wir auch ein Angebot für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Nicht alle wollen Teilzeit arbeiten, um halbtags ihr Kind zu betreuen. Nicht alle können Teilzeit arbeiten und am Ende des Monats noch die Rechnungen bezahlen.
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Insbesondere Alleinerziehende – das ist mir persönlich ganz, ganz wichtig – sind auf eine gute Betreuungssituation angewiesen.
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Die Zahlen sprechen für sich: Über 70 Prozent der Eltern wünschen sich ein ganztägiges Betreuungsangebot für ihre Kinder; aber nur etwa die Hälfte, etwa 50 Prozent, finden einen Platz. Diese Lücke müssen wir schließen. Der Arbeitsmarkt benötigt die Fachkräfte; gleichzeitig machen wir einen großen Schritt hin zu mehr Gleichstellung.
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Denn Corona hat ja leider eine Sache deutlich gezeigt: Es sind am Ende wieder die Frauen, die beruflich zurückstecken und die Betreuung übernehmen. Die Lohn- und Rentenlücke gibt es dann perspektivisch gleich mit auf den Weg.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein guter Ganztag hat so viel Potenzial: gerechtere Bildungschancen, eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie, mehr Fachkräfte auf dem Arbeitsmarkt und eben mehr Gleichstellung. Er ist zu Recht ein Kernanliegen unserer Großen Koalition und zu Recht ein Herzensthema der SPD. 2 Milliarden Euro hatten wir dafür im Koalitionsvertrag vereinbart. Anderthalb Milliarden Euro packen wir jetzt im Rahmen des Konjunkturpakets noch obendrauf.
Wir wissen, dass die Zeit drängt. Deshalb sollen 750 Millionen Euro der zusätzlichen Mittel noch in diesem Jahr an die Länder gehen. Auch die Länder werden ihren Beitrag leisten müssen. Da blicke ich vor allem in die Reihen der Kolleginnen und Kollegen vom Bündnis 90/Die Grünen; denn es sind vor allem Ihre Bundesländer, in denen Sie die Regierung anführen oder daran beteiligt sind, die sich beim Rechtsanspruch eher ein bisschen querstellen und insbesondere beim Ganztagsausbau hinterherhinken. Ulrike Bahr hat es eben schon ausgeführt. Bitte bringen Sie Ihre Minister, insbesondere Ministerpräsident Kretschmann, endlich auf die richtige Spur!
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Damit die Umsetzung des Rechtsanspruchs gelingt, brauchen wir alle: Bund, Länder, Kommunen und natürlich auch Schulleitungen und Lehrkräfte. Wenn diese Strukturen erst einmal geschaffen sind, dann können wir als SPD es uns perspektivisch auch gut vorstellen, dieses Angebot auf die fünften und sechsten Klassen zu erweitern.
Herzlichen Dank.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich ganz kurz zurückschauen: Der Ausbau der Kinderbetreuung ist seit fast 25 Jahren ein Kernanliegen der Union. 1996 führte die Union den Rechtsanspruch auf Kitabetreuung ab vier Jahren ein, 2013 folgte der Rechtsanspruch auf Betreuung für unter Dreijährige. Da ist es folgerichtig, dass sich Union und SPD auf das Anschlussstück sozusagen, die Ganztagsbetreuung im Grundschulalter, geeinigt haben. Das sind erst mal die Realitäten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünenfraktion, in Ihrem Antrag sieht man vieles, was aus meiner Sicht schon auf den Weg gebracht wurde. Insofern ist es ja auch schön, zu erleben, dass die Opposition sich viel nicht nur mit Themen, sondern wirklich auch mit Inhalten nicht nur befasst, sondern auch noch etwas niedergeschrieben hat, was schon mit dem übereinstimmt, was wir, denke ich, gut auf den Weg gebracht haben. Trotzdem gibt es natürlich für den Ausbau der Ganztagsbetreuung noch substanziell vieles, was zu tun ist. Da brauchen wir uns gar nichts vorzumachen; meine Vorredner haben dazu bereits gesprochen. Deshalb sind wir wieder in der Situation, dass sich der Bund entschieden hat, einzugreifen, auch wenn das nicht die Aufgabe des Bundes ist.
Sie kennen den Stand: Das Ganztagsfinanzierungsgesetz befindet sich bereits im parlamentarischen Prozess. Die zuständigen Ministerien, Bildung und Familie, gehen hier finanziell schon über den Koalitionsvertrag hinaus. Sie sind nämlich bereit – das ist vielfach betont worden –, für die Jahre 2020 und 2021 3,5 Milliarden Euro zu tragen. Würden wir in die Zukunft schauen, in die nächste Legislatur, und könnten wir heute vielleicht alle mal einen Wunsch äußern, dann obliegt es uns auch ein Stück weit, zu sagen: Wir schreiben das fort. Denn wir wissen: Die Investitionskosten sind um ein Vielfaches höher. Die Situation der Kommunen und zum Teil auch der Länder ist schon schwierig; sie bedürfen sicherlich der Unterstützung.
Wir meinen es wirklich ernst mit der Umsetzung des Rechtsanspruches. Das Ganztagsförderungsgesetz ist in der Ressortabstimmung genauso wie die Verwaltungsvereinbarung zwischen Bund und Ländern. Das, was wir zu tun haben, haben wir auf den Weg gebracht. Wenn ich jetzt mal zum Bildungsministerium schaue und zu den Kollegen aus der SPD, die wir für die Themen Berichterstatter sind, kann ich im Hinblick auf die Zusammenarbeit auf dem Gebiet nur sagen: Wir kommen gut voran und sind uns da auch relativ einig.
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Die Vorschläge in dem Antrag der Grünen sind schon sehr interessant. Ich denke, es sollte selbstverständlich Ziel sein – das haben wir alle hier schon gehört –, dass es um einen qualitativen Ausbau geht und nicht einfach nur um eine Aufbewahrung, darum, Zeiten zur Verfügung zu stellen, in denen die Kinder nicht nach Hause gehen müssen. Ich halte es für richtig, dass es die Wahl gibt, dass Eltern mit den Kindern entscheiden können: Wollen wir die Ganztagsbetreuung, oder wollen wir ein Stückchen mehr Familienleben haben? Auch das ist an der Stelle noch mal wichtig hervorzuheben.
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Das Deutsche Jugendinstitut hat sehr deutlich gemacht, wie hoch die Investitionskosten sind, aber auch, was als Nächstes folgt, die Betriebskosten. Wenn wir über qualitativen Ausbau sprechen: Das Deutsche Jugendinstitut hat bereits über die Öffnung von fünf Tagen die Woche und acht Stunden pro Tag in den Schulferien gesprochen. Auch das ist also finanziell schon eingepreist.
Wenn wir Qualität wollen, dann muss klar sein, dass wir auf Augenhöhe arbeiten, im Zusammenwirken mit Eltern, Schule, Kinder- und Jugendhilfe, aber auch – das ist aus meiner Sicht ganz wichtig hervorzuheben – im Zusammenwirken mit Vereinen und Verbänden, die diese Ganztagsbetreuung gut unterstützen können; denn das darf nicht zulasten der Arbeit in den Vereinen gehen.
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Deshalb bin ich froh, dass wir diese Anliegen zu einem großen Teil in dem Antrag wiederfinden.
Auch ganz wichtig und schon vielfach angesprochen ist die Qualifizierungsoffensive für pädagogisches Fachpersonal. Wir alle wissen: Ohne gut qualifiziertes Personal kann das Ganze nicht umgesetzt werden. Themen wie Schulgeld und Fragen der Finanzierung der Ausbildungsberufe sind nun mal Aufgabe der Bundesländer. Es ist wichtig, dass das angepackt wird; sonst können wir die Vervielfachung der Zahl derer, die in diesen Aufgaben tätig sein sollen, wahrscheinlich gar nicht umsetzen.
Praxisintegrierte Ausbildung ist eine gute Voraussetzung, um Jugendliche zu gewinnen. Da haben wir ja das große Glück, ein schönes Beispiel aus Baden-Württemberg zu haben. Der Pakt für gute Bildung und Betreuung hat Schwung in genau dieses Anliegen gebracht. Die Ministerin heißt Susanne Eisenmann, wie uns aus der Union bekannt ist.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich denke, es ist wichtig, dass wir uns einig sind, Ganztagsbetreuung qualitativ umzusetzen, mit den entsprechenden Erfordernissen. Aber es ist natürlich auch wichtig, dass wir das nicht immer nur wiederholen, sondern auch endlich in die Umsetzung gehen; das betrachte ich so. Insofern ist der Antrag nicht unbedingt erforderlich, um uns zu sagen, wo wir hinwollen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Norbert Müller für die Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Den Grünen gebührt der Dank, heute diesen Antrag hier vorgelegt zu haben; da will ich mich von meiner Vorrednerin klar abgrenzen. Ich finde vieles in dem Antrag der Grünen zum Rechtsanspruch auf Ganztag im Grundschulalter gut und richtig. Aber – aber! – was wir in dieser Debatte eigentlich gar nicht mehr gebrauchen können und was ich echt auch nur noch schwer aushalte, sind Sonntagsreden der Redner der Koalition darüber, wie man den Ganztag jetzt mal machen müsste.
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Werte Bundesregierung, liebe Koalitionsfraktionen, es ist euer Job, hier einen Rechtsanspruch zu schaffen. Wir warten seit drei Jahren, dass das endlich ins Verfahren kommt, nachdem im Koalitionsvertrag Anfang 2018 geregelt wurde – ich lese Ihnen das gerne noch mal vor –:
Wir werden einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung im Grundschulalter schaffen.
Ich bin eigentlich davon ausgegangen, dass das der Koalitionsvertrag für die 19. und nicht für eine x-beliebige spätere Wahlperiode ist.
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Nun hat die Bundesregierung vor fast einem Jahr das Sondervermögen für den Ganztagsausbau aufs Gleis gehoben und inzwischen sogar noch mal Geld nachgeschoben. Aber woran hängt es denn nun, dass der Rechtsanspruch heute hier nicht vorliegt? Der Kollege Matthias Seestern-Pauly von der FDP hat gesagt: Man muss aufpassen, dass man aus den Fehlern lernt, die beim Kitaausbau gemacht worden sind. – Ich würde das umdrehen, lieber Matthias. Ich würde sagen: Die Bundesregierung hat aus dem gelernt, was beim Kitaausbau passiert ist. Die haben das nur nicht als Fehler verstanden. Sie haben den Rechtsanspruch beschlossen, sich dafür kräftig auf die Schultern klopfen lassen, schöne Sonntagsreden gehalten, aber die Kohle im Wesentlichen nicht mitgegeben, mit der Konsequenz, dass den Kitaausbau bezahlen durften: Länder, Kommunen, Eltern – über zum Teil völlig überteuerte Elternbeiträge – und die Erzieherinnen und Erzieher in den Einrichtungen mit schlechten Arbeitsbedingungen und viel zu geringen Gehältern. Die haben den Kitaausbau bezahlt. Wenn der Plan ist, dass das beim Ganztagsausbau, beim Rechtsanspruch auf Ganztag im Grundschulbereich, genauso laufen wird, Frau Ministerin, dann werden die Länder das nicht mitmachen. Ich verstehe an der Stelle, ehrlich gesagt, auch, dass sie nicht bereit sind, dieselbe Nummer noch mal mitzumachen.
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Wenn der Rechtsanspruch auf Ganztag nun kommt und Sie sich verständigen können, dann eben nur, wenn die Bundesregierung tiefer in die Tasche greift. Das wird aus den genannten Gründen anders gar nicht gehen. Abgesehen davon wissen wir, wie die Pandemie insbesondere in die kommunalen Haushalte reinhaut. Das heißt, der Bund kann sich eben nicht damit begnügen, weniger als 50 Prozent der Investitionskosten für die baulichen Maßnahmen, für die Umsetzung des Ganztages zur Verfügung zu stellen; da wird deutlich mehr fließen müssen. Und ja, wir müssen auch über Betriebskosten und Personal reden, aber nicht nur darüber reden. Am Ende werden Sie das Geld dafür mitliefern müssen, damit das Ganze kommt.
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Was brauchen wir? Erstens. Wir brauchen – das habe ich jetzt ausführlich beschrieben – endlich Ihren Vorschlag für die Umsetzung des Rechtsanspruches, damit wir von den Sonntagsreden wegkommen. Zweitens. Wir brauchen verbindliche Qualitätsstandards, damit nicht das Gleiche passiert wie beim Kitaausbau, das heißt eine Verbindlichkeit bei der Fachlichkeit, das heißt gesetzliche Regelungen, wie viele Fachkräfte pro Kind oder wie viele Kinder pro Fachkräfte. Das heißt, wir müssen die Beitragsfreiheit von vornherein mitdiskutieren. Und das heißt: Wir brauchen ausreichend Fachkräfte. Selbst die Koalition hat im Koalitionsvertrag ja schon festgeschrieben, dass die Herausforderungen beim Ganztag nur umsetzbar sein werden, wenn ausreichend Fachkräfte zur Verfügung stehen; das steht wenige Absätze davor. Ich hoffe, das ist nicht die Hintertür, um am Ende zu sagen: Der Rechtsanspruch kommt nicht.
Herr Präsident, ich komme zum Schluss. Was in der Debatte fehlt, ist die Perspektive der offenen Kinder- und Jugendarbeit – das hat hier noch niemand gesagt –
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der Jugendverbände, der Sportverbände. Wir müssen aufpassen, dass die am Ende beim Ganztag nicht hinten runterfallen. Deswegen sage ich: Guter Ganztag heißt auch, dass offene Kinder- und Jugendarbeit in den Kommunen am Ende nicht hinten runterfallen darf. Die Arbeit der Jugendverbände, der Sportvereine usw. usf. muss weiter ermöglicht werden. Aber als Allererstes brauchen wir Ihren konkreten Vorschlag, wie das Ganze gehen soll, damit wir konkreter weiterdiskutieren können.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Letzte Rednerin in der Debatte für die Fraktion der CDU/CSU ist die Kollegin Dr. Silke Leunert.
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Launert! Wenn man es sich nicht merken kann: Wie die gute Laune, sage ich immer. Dann merkt man es sich leichter. Ich sage das nur, weil Sie das jetzt schon zweimal, glaube ich, falsch gesagt haben.
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Also: „gute Laune“.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Woran denken Sie, wenn Sie sich an Ihre Schulzeit zurückerinnern?
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Möglicherweise an Ihre Mitschüler, geschlossene Freundschaften, Lehrer, die eine oder andere vielleicht nicht optimale Klassenarbeit. Ja, Schule war und ist nicht nur ein Ort, an dem Bildung vermittelt wird. Schule war und ist auch ein Ort der persönlichen Weiterentwicklung, ein Ort der Gemeinschaft, ein Ort der einen vielleicht das ganze Leben prägt. Und das gilt erst recht in der heutigen Zeit – da ist Ihr Antrag natürlich völlig berechtigt –, wenn die Kinder einen großen Teil des Tages in Schule oder Hort verbringen. Die Eltern müssen ein gutes Gefühl haben, ihre Kinder dort hinzugeben. Nur dann können sie guten Gewissens Arbeit, Familie und Kinder vereinbaren.
Sie von den Grünen wissen, dass uns das Thema Ganztagsbetreuung zu Recht beschäftigt. Ich sage jetzt nicht, dass es seit Jahrzehnten die erste Forderung der CSU war; das war es nicht. Wir von der Frauenunion haben vor einigen Jahrzehnten massiv dafür gekämpft. Aber in den letzten Jahren ist ein Durchbruch erfolgt. Warum? Eine Volkspartei will die Menschen vertreten. Die Einstellung von Müttern, von Frauen, von Familien zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf hat sich in allen Schichten verändert. Das ist natürlich etwas, was uns umtreibt. Ich möchte, dass alle Frauen die Chance haben, Kinder zu bekommen und trotzdem einen Beruf zu haben. So wie das Elterngeld geholfen hat, dass mehr und mehr Frauen nach der Ausbildung den Mut hatten, Kinder zu bekommen, so hilft eine gute Ganztagsbetreuung natürlich, die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen. Deshalb ist diese Ganztagsbetreuung unverzichtbar.
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Es ist schon angesprochen worden: Es ist nicht erklärbar, dass für ein Kind im Kindergarten die Möglichkeit besteht, ganztags betreut zu werden, und kaum sind die Kinder in der Grundschule, muss die Mutter die Arbeitszeit reduzieren oder der Vater; aber zugegeben: Meistens sind es die Frauen. Sie verzichten nicht nur auf Einkommen, sie verzichten auf Rentenanspruch, sie verzichten oft auf berufliche Weiterentwicklung. Das können wir den Frauen nicht antun. Das kann sich aber auch unsere Wirtschaft, unsere Gesellschaft insgesamt nicht leisten.
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Der Rechtsanspruch ist erst recht wichtig für Alleinerziehende; auch das ist mehrfach angesprochen worden. Unmöglich! Wie sollen sie das sonst machen? Sie können nicht nur halbtags arbeiten; davon werden sie in der Regel nicht leben können. Wir können diesen Frauen, deren Anteil immer größer wird, nicht sagen: Lebt von Hartz IV! Der Staat finanziert euch. – Damit würden wir ihnen ein Modell vorgeben, das wir ihnen nicht geben wollen. Ich möchte nicht, dass Frauen in Armut fallen, nur weil wir sagen: Nein, wir sind nicht bereit, ein gutes Nachmittagsangebot anzubieten.
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Deshalb ist jetzt die Frage: Wie machen wir es? – Ich glaube, wenn selbst die AfD plötzlich sagt, sie habe nichts gegen Ganztagsbetreuung, dann lautet die Frage: Wie schaffen wir das?
Ich möchte noch ganz kurz etwas zur AfD sagen. Es ist kein Märchen mit der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Es beschäftigt ganz viele Frauen, bestimmt auch einige Männer. Ich weiß, dass sich ganz viele Frauen schon relativ früh, schon zu Abiturzeiten, schon im Studium Gedanken machen: Wie kriege ich das alles auf die Reihe? – Spätestens wenn sie Kinder haben, beschäftigen sie sich damit. Der Angriff auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist für jede Frau, die das jeden Tag irgendwie stemmen muss, zutiefst beleidigend. Das ist keine Floskel, das ist keine Phrase. Das ist für ganz viele Frauen in diesem Land elementar.
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Wir haben den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung im Koalitionsvertrag stehen. Ich weiß, Herr Müller, Sie sind sehr ungeduldig. Herr Müller? – Er hört gar nicht zu. Macht nichts; deshalb hat er vorhin auch nicht mitbekommen, dass die Arbeit der Sportvereine schon von anderen Kollegen angesprochen wurde.
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Mein Sohn nutzt dieses Angebot der Sportvereine.
Lassen Sie mich trotzdem eine Sache ergänzen. Ganz so einfach ist das nämlich nicht. Warum? Weil gerade die ehrenamtlichen Sportvereine auf ehrenamtliche Helfer angewiesen sind, die in der Regel nachmittags keine Freizeit haben. Das ist in der Theorie immer ein bisschen einfacher als in der Praxis. Deshalb finde ich den einen oder anderen Angriff auf die Ministerin unfair. Sie plant das in Abstimmung mit allen Beteiligten, mit den Kommunen, mit den Ländern. Es ist nicht allein Finanzierungssache des Bundes; mitnichten. Wir machen Druck mit diesem Rechtsanspruch. Ich weiß nicht, was man daran kritisieren kann. Ohne Druck – sagen Sie doch selbst immer – funktioniert es nicht. Jetzt wird Druck gemacht. Die Ministerin plant das Schritt für Schritt. Natürlich geht es dem einen oder anderen nicht schnell genug. Aber ich bin mir ganz sicher, dass der Rechtsanspruch kommen wird. Seit Jahren laufen die Vorgespräche. Wenn es so einfach wäre, dann wäre es, glauben Sie mir, sicher schon geschafft und wir hätten mit Sicherheit eine schöne Pressekonferenz gehabt.
Ich will zu dem Angriff der FDP sagen: Ja, die Ministerin kann Marketing gut. Ich beneide sie immer, weil sie das so gut kann. Aber sie arbeitet auch, sie macht auch etwas.
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Auch bei dem Thema Ganztagsbetreuung geht sie voran. Wir werden es sehen: Der Anspruch kommt. Ich freue mich drauf. Es wird allerhöchste Zeit. Es ist toll, dass wir alle inzwischen fast dieselbe Meinung haben. Ich hoffe, dass er dann auch durch den Bundesrat, die Länderebene, geht. Wir müssen es endlich machen für all unsere Frauen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Launert. Ich habe Ihren Namen nicht richtig ausgesprochen; aber dafür durften Sie jetzt eine Minute länger reden. Wir sind also quitt.
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Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in den letzten Jahren schmerzhaft feststellen müssen: Demokratie und Freiheit sind keine Selbstverständlichkeiten. Wir müssen uns vielmehr täglich für sie einsetzen. Dies geschieht in diesem Hohen Haus; denn offener Meinungsstreit und das Ringen um Meinung und Mehrheit sind für unseren freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat existenzielle Voraussetzungen. Aber so notwendig und richtig der leidenschaftliche politische Streit auch ist: Im Kampf gegen Extremisten sollten sich alle Demokraten stets einig sein.
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Deshalb ist es eine demokratische Minderleistung, wenn Gewalttaten und extremistische Vorfälle dann jeweils nur von denjenigen instrumentalisiert oder angeprangert werden, in deren politische Agenda das gerade hineinpasst. Haben wir es mit einem rechtsextremistischen Vorfall zu tun: dröhnendes Schweigen von rechts, Beschwichtigungen und Relativierungen von rechts, vereinzelt gar Rechtfertigung der Taten, hingegen Reaktionen von Unterstellungen bis hin zu Untergangsszenarien von links. Haben wir es mit einem linksextremistischen Vorfall zu tun, erleben wir das oft spiegelbildlich: die gleichen Beschwichtigungen von links und wilde Beschimpfungen von rechts.
Meine Damen und Herren, ich finde, das ist dann auch keine gute Idee, wenn diejenigen, die zumindest partiell Verständnis für extremistische Taten und extremistische Ränder haben, Verantwortung für die Sicherheit unseres Landes tragen würden.
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Doch Demokratie muss nicht nur in diesem Hohen Haus verteidigt und gelebt werden, vielmehr müssen wir sie im ganzen Land gegen Extremisten verteidigen. Die Gesetze, die wir uns geben, müssen eingehalten, Rechte anderer geschützt werden. Den Respekt vor Recht und Gesetz, ja, den fordern wir natürlich von jedermann ein in diesem Land, aber ihre Durchsetzung im Konfliktfall ist letzten Endes Aufgabe der Polizei und Sicherheitsbehörden sowie der Justiz in Ländern und Bund. Und ihnen, den Mitarbeitern dort, gilt mein besonderer Dank dafür, dass sie jeden Tag ihren Kopf zum Schutz unserer demokratischen Grundordnung hinhalten.
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Unsere Strafverfolgungsbehörden verfolgen die Straftaten objektiv und neutral, und unsere Sicherheitsbehörden lassen sich nicht ideologisch instrumentalisieren. Deswegen möchte ich an dieser Stelle für die gesamte Bundesregierung noch einmal betonen: Wir sind auf keinem Auge blind, wir verfolgen Rechtsextremismus, Antisemitismus, Linksextremismus und Islamismus gleichermaßen und schon seit Langem mit der gebotenen Härte und Konsequenz. Wir vernachlässigen keinen Bereich, auch wenn aufgrund eines Vorfalls dann gerade ein anderer Bereich im Mittelpunkt der politischen Debatte steht. Wir nehmen die Feinde der Demokratie mit einem 360-Grad-Blick ins Visier.
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Die jüngsten Beispiele liefern die erschreckenden Vorfälle in Leipzig am vergangenen Wochenende und die Ausschreitungen bei den Coronademonstrationen in Berlin am vorvergangenen Wochenende. Auf beide möchte ich kurz eingehen.
In Leipzig gab es mehrtägige Straßenschlachten von Linksextremisten: dreizehn Polizeibeamte wurden verletzt, sieben Einsatzfahrzeuge beschädigt, die Piloten eines Polizeihubschraubers wurden mit einem Laser geblendet, und wir wissen, wie gefährlich so etwas sein kann. Bei den Krawallen in Leipzig handelt es sich nicht etwa um ein Einzelphänomen. Im Bereich der „politisch motivierten Kriminalität – links“ mussten wir zuletzt auch eine deutliche Steigerung feststellen, von knapp 8 000 Straftaten 2018 auf knapp 10 000 im Jahre 2019. Wir beobachten eine lebensbedrohende Gewaltbereitschaft, die Bestandteil politischer Agitation ist. Die Straftaten der autonomen Szene sind geprägt durch gut vorbereitete, konspirativ durchgeführte Überraschungsangriffe. Mit steigender Gewaltbereitschaft werden Menschen, die nicht dem eigenen Weltbild entsprechen, geradezu gejagt und angegriffen. Betroffen sind der politische Gegner, Polizeibeamte, staatliche Einrichtungen, inzwischen auch Privatpersonen und Mitarbeiter von Unternehmen. Zudem werden immer häufiger Sachbeschädigungen in Millionenhöhe verursacht. Die Bundesregierung verurteilt dies aufs Schärfste; bei Gewalt gibt es keine Toleranz.
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Ein sicherlich anders gelagertes Bedrohungsszenario haben wir am vorvergangenen Wochenende in Berlin erlebt: Eine unheilvolle Mischung von Demonstranten überwand die Absperrgitter zu diesem Hohen Haus, um zumindest das Portal des Reichstagsgebäudes einzunehmen. Das äußere Erscheinungsbild dieses Aufmarsches war unter anderem von schwarz-weiß-roten Reichsflaggen und Reichskriegsflaggen gekennzeichnet. Reichsbürger und Rechtsextremisten waren in Berlin prominent vertreten.
Meine Damen und Herren, dieses Haus ist Zentrum der Demokratie, es repräsentiert das ganze Volk. Es steht keiner noch so lautstarken Minderheit – ich betone: keiner noch so lautstarken Minderheit – zu, dieses Gebäude symbolisch für sich zu vereinnahmen oder als Werbefläche zu missbrauchen.
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Eine Demokratie muss auch ihre Symbole verteidigen. Bilder, die die Würde dieses Hauses verletzen, schaden dem Ansehen unseres Landes insgesamt. Das ist nicht hinnehmbar. Wir wollen und werden das zukünftig verhindern. Ich halte daher die begonnene Überprüfung des räumlichen Schutzes des Deutschen Bundestages für richtig und für geboten.
Für die Bewertung der Demonstrationen gegen die Coronamaßnahmen insgesamt gilt: Sowohl Verharmlosung als auch Dramatisierung verbieten sich natürlich. Es ist selbstverständlich legal, auch legitim, gegen staatliche Maßnahmen zu protestieren – selbst wenn das auf der Basis von Verschwörungsmythen oder sonstigem Unsinn geschieht, meine Damen und Herren.
Aber Verfassungsschutz und Polizei beobachten sehr genau, dass Rechtsextremisten und Reichsbürger bei diesem Thema ihre Chance sehen, für ihre üblen Ideologien zu werben. Und auch diejenigen, die selbst nicht extremistisch sind, haben ganz offenkundig ein echtes Demokratieproblem, wenn sie nichts dabei finden, Seite an Seite mit erkennbaren Demokratiefeinden aufzutreten.
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Denn der Rechtsextremismus als Gesamtphänomen wird zu einer immer ernsteren Gefahr. Die Zahl der „politisch motivierten Straftaten – rechts“ stieg von 20 431 im Jahr 2018 auf 22 342 im Jahr 2019. Und die Taten, die Bluttaten von Kassel, Hanau und Halle, stehen für die zunehmende Brutalität und Menschenverachtung dieser Form des Extremismus.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch einmal auf das Thema Corona zurückkommen. Unabhängig von jeglichem Demonstrationsgeschehen ist für mich klar und wichtig, dass wir sowohl der kleinen Minderheit von Maßnahmengegnern als auch der großen Mehrheit der Befürworter der ergriffenen Schutzvorkehrungen jeden Tag unsere Maßnahmen erklären und begründen müssen. Viele andere Staaten mögen erheblich tiefere Eingriffe in die Freiheitssphäre ihrer Bürger ergreifen, als wir das tun. Aber auch die deutsche Politik zur Pandemiebekämpfung müssen wir immer wieder aufs Neue auf ihre Verhältnismäßigkeit prüfen und nötigenfalls dann auch im Einzelnen anpassen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, unsere Antwort auf alle extremistischen Bedrohungen muss lauten: Stärken wir unsere Demokratie, und stärken wir unsere Sicherheitsbehörden, versetzen wir sie in die Lage, den Gefahren wirksam zu begegnen! Ganz konkret heißt das auch – denn die Wahrheit ist immer konkret –: Statten wir etwa den Verfassungsschutz so aus, dass er auch in der digitalen Welt seine Aufgabe als Frühwarnsystem unserer Demokratie effektiv ausüben kann.
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Die Anpassung des Verfassungsschutzgesetzes etwa muss deshalb nun zügig erfolgen.
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Wer demokratiefeindliche Bestrebungen beklagt, muss den Sicherheitsbehörden die erforderlichen Kompetenzen geben, um sie eben auch zu bekämpfen. Genauso nötig ist übrigens eine enge Kooperation zwischen Sicherheitsbehörden und den zivilgesellschaftlichen Initiativen für Prävention.
Meine Damen und Herren, mein Appell richtet sich daher an alle Demokraten: Seien wir konsequent im Kampf gegen gewalttätige und extremistische Bestrebungen gegen unseren Rechtsstaat! Das heißt: Keine Toleranz für die Feinde der Demokratie – egal aus welcher Ecke sie kommen!
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Vielen Dank. – Nächster Redner für die Fraktion der AfD ist der Kollege Dr. Gottfried Curio.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was sind Fake News? Zum Beispiel, einen Fototermin auf der Reichstagstreppe samt Schwenken internationaler Fahnen zum Sturm auf den Reichstag aufzublasen. Was war es wirklich? O-Ton: Wir gehen da hoch und setzen uns friedlich auf die Treppe und zeigen Präsident Trump, dass wir den Weltfrieden wollen.
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Absperrungen zu durchbrechen, ist natürlich inakzeptabel, aber nicht minder, das zum Putsch von Extremisten hochzustilisieren, nur um nicht genehme Protestler per Kontaktschuld einzuschüchtern. Bei „Black Lives Matter“ hörte man nichts von Infektionen. Solch zweierlei Maß macht Sie unglaubwürdig. Hunderttausende Mitbürger sind besorgt um den Bestand der Grundrechte unter dieser Regierung. Diese Menschen, die Sie als rechtsextrem diffamieren, die wollen nur ihr Leben zurück.
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Diese Fahne gibt nämlich nichts her, Schwarz-Weiß-Rot ist nicht einmal eine Ordnungswidrigkeit. Bei der Treppe, die dann bleibt, da ist die künstliche Erregung eine ganz neuentdeckte Empfindlichkeit. 2010 stürmen Hunderte Atomkraftgegner die Reichstagstreppe – die Polizei lässt sie gewähren.
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Diesen Juni stürmt „Extinction Rebellion“ in den Reichstag, wirft Flugblätter – keine Reaktion.
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Tags darauf klettert Greenpeace auf den Reichstag, lässt sich abseilen, um ein Banner zu enthüllen – alles eitel Wohlgefallen. Aber diese Treppenselfietruppe als Quasiputschisten hinzustellen, das ist doch Heuchelei vom Feinsten. Keiner versuchte, gewaltsam in das Gebäude einzudringen, nicht eine Scheibe ging zu Bruch. Dieses Belügen der Bevölkerung muss ein Ende haben! Der „Sturm auf den Reichstag“ war nur ein Sturm im Wasserglas.
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Aber es gibt eine sichere Methode, den Rechtsstaat zu zerstören: die alltägliche Straßengewalt gegen Recht und Ordnung zu bagatellisieren. Da wird die Ordnungsmacht des Staates bekämpft: in Stuttgart, Frankfurt, Leipzig. Jeder Flaschen- und Steinwurf geschieht mit bedingtem Tötungsvorsatz. Da wird der Staat in seiner Polizei diffamiert – mit einer unangemessenen, herbeigezerrten Polizeiproblem-Debatte. Das eine, die angebliche Bedrohung des Reichstags, ein totaler Fake,
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das andere, das ist die tatsächliche Verachtung des Rechtsstaats, mit angeheizt von Politik und Medien.
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Tagelanger Straßenkrieg in Leipzig – seit Jahren geduldet von der CDU. Die SPD-Vorsitzende Esken sieht sich an der Seite dieser antidemokratischen Faschisten, kurz Antifa.
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Vom Bundespräsidenten keine Einladung der Polizisten, die da für den Staat ihre Knochen hinhalten – das ist ja auch der Bundespräsident, der eine gewaltverherrlichende Punkband empfiehlt, mit O-Ton: „Die Bullenhelme, die sollen fliegen. Eure Knüppel kriegt ihr in die Fresse rein!“
Nicht der Reichstag braucht einen Graben,
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sondern unsere Polizei braucht Schutz – gegen Straßenterror und Medienhetze.
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Bei der „taz“-Äußerung – Polizisten auf den Abfall, unter ihresgleichen – stand die Kanzlerin aufseiten der Antipolizeihetzler. Straftaten anzeigen kostet nämlich linke Stimmen, also lieber Hände weg. Das war Rückendeckung für die linken Schläger von Stuttgart und Frankfurt.
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Und das ist nur der linke Terror. In Berlin gab es gerade wieder einen islamistischen Anschlag. Wieder ein abgelehnter Asylbewerber. Rückführung ins Erstzutrittsland Finnland? Fehlanzeige! In den Irak? Auch nicht. Obwohl der „Islamische Staat“ dort besiegt ist. Der will mit einem Wagen auf der Autobahn Leute totfahren, alles mit „Allahu akbar“ und Gebetsteppich. Ohne seriöse Prüfung wird er schnell in Richtung Klapse entsorgt – nur nicht auseinandersetzen mit dem Hintergrund, den gewalttätigen Überlegenheitsfantasien des koranischen Scharia-Islam! Salafisten und Muslimbruderschaft unterwandern Moscheen und Vereine, und obwohl der Verfassungsschutz den größten Teilverband des Zentralrats der Muslime den rechtsextremistischen Grauen Wölfen zurechnet, will der Innenminister weiter mit denen kuscheln – Verharmlosen ist wichtiger.
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Dabei hatte im letzten Jahr der Generalbundesanwalt 60 Prozent der Verfahren im islamistischen Bereich, Hunderte Gefährder werden einfach nicht abgeschoben, müssen millionenteuer überwacht werden. Ein einzelner Syrer kostet jetzt schon 5 Millionen Euro. Sein Haftbefehl wird nicht ausgeführt. Er läuft draußen herum.
Noch einmal: Gefährder sind die Personen, denen jederzeit eine schwere Gewalttat bis hin zum Terroranschlag zugetraut wird. Abschiebehaft? Pustekuchen. Ausweisung? In Berlin doch nicht. Das sind Hunderte. Diese Regierung gefährdet fahrlässig das Leben unserer Bürger, meine Damen und Herren.
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Was für eine Heuchelei:
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Ein paar Leute auf den Reichstagstreppen sind eine Staatskrise, aber drei Tage Bürgerkrieg gegen die Polizei sind diesen Regierenden kein Wort wert, und Hunderte Zeitbomben auf den Straßen lässt man einfach herumlaufen.
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Aber Menschen, die statt überzogener Maulkorbedikte faktenbasierte Maßnahmen mit Augenmaß wollen, sollen kriminalisiert werden.
Nein, meine Damen und Herren, eine Regierung, die ihre Kritiker zu Staatsfeinden erklärt, die ist selbst eine Gefahr für die Demokratie.
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Nächste Rednerin ist für die Bundesregierung die Bundesministerin der Justiz.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Helmut Schmidt hat einmal gesagt: „Charakter zeigt sich in der Krise.“ Unsere Demokratie hat sich in der Coronakrise sehr charakterfest gezeigt.
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Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik mussten wir die Freiheit von so vielen Menschen so schmerzlich einschränken. Doch unsere Demokratie hat diese gewaltige Herausforderung gemeistert: ruhig, besonnen und mit Augenmaß, allein zum Schutz von Leben und Gesundheit. Unser demokratisches Gemeinwesen war lernfähig. Gab es neue wissenschaftliche Erkenntnisse, haben wir die Maßnahmen angepasst. Die gerichtliche Kontrolle hat durchgehend funktioniert. Die Maßnahmen wurden überwiegend von den Gerichten bestätigt. Wenn ausnahmsweise einmal nicht, dann wurden sie korrigiert. Und die demokratische Debatte? Sie war so lebhaft wie selten. Wann können wir die Maßnahmen endlich lockern? Brauchen wir eine Maskenpflicht? Wenn ja, wo? Was bedeutet die Kontaktbeschränkung für die Familien? All das und vieles mehr wurde ausgiebig und energisch diskutiert: in Zeitungen, in Kneipen, im Internet und auf Demos, zustimmend und kritisch. Wir können mit Fug und Recht stolz sein auf diese Demokratie, meine Damen und Herren.
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Eines kann ich Ihnen versichern: Wir sind stärker als der Hass und die Hetze von irgendwelchen Extremisten;
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denn auch unsere Gesellschaft hat sich in dieser Krise sehr charakterfest gezeigt. Wir erleben eine beeindruckende gesellschaftliche Solidarität. Die Menschen haben ihre Gewohnheiten aus Einsicht geändert. Sie haben sich aus Überzeugung eingeschränkt, und zwar, um sich gegenseitig vor dem gefährlichen Virus zu schützen.
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Neun von zehn Menschen stehen hinter den Maßnahmen zum Schutz vor Corona. Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung zeigt: Unser gesellschaftlicher Zusammenhalt ist in dieser Krise sogar noch gewachsen. – Die Menschen müssen wegen der Pandemie große Opfer bringen. Umso beeindruckender finde ich diese Solidarität, diesen Zusammenhalt in diesen schwierigen Zeiten.
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Deswegen, verehrte Bürgerinnen und Bürger, aus tiefstem Herzen: Danke für diese Solidarität.
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Meine Damen und Herren, diese solidarische Mehrheit ist nicht laut und aggressiv, sie ist rücksichtsvoll und friedliebend. Diese solidarische Mehrheit schafft es daher nur selten auf die Titelseiten. Von ihr gehen auch keine aufwühlenden Bilder um die Welt. Heute möchte ich diese solidarische Mehrheit würdigen; denn ich bin es leid, ich bin es wirklich leid, dass eine extremistische Minderheit so viel Aufmerksamkeit auf sich zieht.
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Wer ist denn diese solidarische Mehrheit? Es sind die neun von zehn Menschen in Deutschland, die sich zu unserem Grundgesetz bekennen: zu Menschenwürde, Demokratie und Rechtsstaat. Es sind die Menschen, die, wie es der Bundespräsident auf den Punkt gebracht hat, die Probleme nicht nur benennen und mit dem Finger auf andere zeigen, sondern die sich auf die Problemlösung konzentrieren, die mit anderen gemeinsam die Dinge zum Besseren verändern wollen. Das ist diese solidarische Mehrheit. Es sind die Eltern, die ihre Kinder zu Toleranz, Mitmenschlichkeit und Respekt erziehen, und alle, die sich tagein, tagaus bemühen, einen konstruktiven Beitrag – einen konstruktiven Beitrag! -
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zu leisten. Ich kann all diejenigen nicht hier aufzählen.
Diese solidarische Mehrheit ist keineswegs homogen, meine Damen und Herren. Sie ist bunt, und sie ist vielfältig, nicht nur in ihren politischen, in ihren gesellschaftlichen und religiösen Überzeugungen. Sie ringt um den richtigen Weg, und sie streitet, und zwar lebhaft. Aber in einem ist sich diese solidarische Mehrheit einig: Es gibt keine Toleranz für Hass, Hetze und Menschenfeindlichkeit. Es gibt null Toleranz gegenüber Extremisten.
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Daher steht diese solidarische Mehrheit auch geschlossen hinter den Menschen, die im wahrsten Sinne des Wortes ihren Kopf hinhalten, um unsere Freiheit, unsere Sicherheit, unsere Demokratie gegen Extremisten zu verteidigen, nämlich hinter den Polizistinnen und Polizisten, die sich einer aufgestachelten Meute mutig und entschlossen entgegenstellen, vor dem Reichstag und auch auf den Straßen von Connewitz oder sonst wo, meine Damen und Herren.
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Und deswegen, verehrte Polizistinnen und Polizisten, auch dafür ein herzliches Dankeschön.
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Meine Damen und Herren, unsere Demokratie und unsere Gesellschaft sind stark und charakterfest. Aber wenn Rechtsextremisten vor dem Reichstag den Aufstand proben,
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wenn krude Verschwörungstheorien zu Corona Hand in Hand gehen mit antisemitischer und rassistischer Hetze, dann müssen wir alarmiert sein. Denn zu oft mussten wir erleben, wie dieser Hass zum Nährboden für schreckliche Gewalttaten wurde: der Terror des NSU, der Mord an Walter Lübcke, die Anschläge von Halle und Hanau. Seit der Wiedervereinigung haben Rechtsextremisten mehr als 200 Menschen getötet. Das ist unerträglich, meine Damen und Herren.
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Im Juni haben wir hier im Bundestag das Gesetzespaket gegen Rechtsextremismus und Hasskriminalität beschlossen. Damit können Polizei und Justiz konsequent gegen Gewalthetze vorgehen. Das Bundeskriminalamt rüsten wir personell in diesem Kampf auf, und zwar deutlich. Mit dem Pakt für den Rechtsstaat werden in dieser Legislaturperiode 2 000 Stellen für Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte geschaffen. So stärken wir Polizei und Justiz. Und so stärken wir die Menschen, die tagein tagaus ihren Kopf hinhalten, um unsere Freiheit, unsere Sicherheit, unsere Demokratie zu verteidigen, meine Damen und Herren.
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Mein Kollege Krings hat eben aufgefordert, konkret zu werden, und gefragt, was wir denn tun können. Dabei ist ihm der Verfassungsschutz eingefallen. Ich glaube, wir müssen auch noch einen anderen Blick auf die Dinge haben. Wir müssen nämlich dafür sorgen, dass die Menschen in diesem Land gar nicht erst in die Fänge von Extremisten, Rassisten und Antisemiten geraten.
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Das geht nur mit zivilgesellschaftlichem Engagement, mit Aufklärungs-, Bildungs- und Erziehungsarbeit. Daher brauchen wir – da werde ich jetzt sehr konkret –jetzt das Demokratiefördergesetz, meine Damen und Herren.
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Ich bin überzeugt: Eine stetige, verlässliche Demokratieförderung ist auf lange Sicht die stärkste Waffe im Kampf gegen Hass, Hetze und extremistische Gewalt; für eine solidarische Gesellschaft und für eine charakterfeste Demokratie, auch in Zukunft.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion der FDP die Kollegin Linda Teuteberg.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kurt Tucholsky wird der Satz zugeschrieben: „Toleranz ist der Verdacht, der andere könnte recht haben.“ Ich finde, im Umgang miteinander, im ganz normalen zwischenmenschlichen Umgang und auch im täglichen Meinungsstreit in der Politik, ist es eine gute Devise, davon auszugehen, auch der andere könnte recht haben. Aber wenn wir heute eine Aktuelle Stunde haben zum Thema „Null Toleranz gegenüber den Feinden der Demokratie“, dann ist auch klar: Dieser Verdacht, der andere könnte recht haben, gilt natürlich nicht gegenüber Extremisten, nicht gegenüber denen, die die Grundlagen unserer Demokratie infrage stellen.
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Unser demokratischer Rechtsstaat, der darf auf keinem Auge blind sein. Er muss diesen 360-Grad-Blick haben: nach rechts, nach links, auch zum religiös motivierten Extremismus. Jede Form des Extremismus ist ein Problem und ist – das bedarf leider keiner Aufbauschung – eine ernste Gefährdung für unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung. Es kann nicht oft genug gesagt werden in diesen Tagen: Es gibt keine ethische Überlegenheit irgendeiner Variante des gewaltbereiten Extremismus.
Unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung beinhaltet und gewährleistet gleichzeitig, dass jeder und jede seine bzw. ihre politischen Ziele allein mit rechtmäßigen und friedlichen Mitteln verfolgen kann und zu verfolgen hat. Daran ist man gebunden, aber es stellt vor allem eine Möglichkeit dar. Das unterscheidet uns von Diktaturen oder autoritären Systemen.
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Wir können in diesen Tagen einige Beispiele dafür sehen. Die freiheitlich-demokratische Grundordnung, sie braucht es eben nicht, dass politische Gegner im Sinne normaler Opposition kriminalisiert werden, im Gegenteil. Aber das bedeutet natürlich auch die Verpflichtung aus unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung für jeden und jede, diese friedlichen Mittel, die zur Verfügung stehen, zu nutzen, um das politische Anliegen deutlich zu machen, sehr geehrte Damen und Herren.
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Deshalb ist es so wichtig, immer wieder zu fragen: Gibt es ein taktisches oder ein ganz grundsätzliches Verhältnis zum Thema Gewaltfreiheit? Das ist eine sehr grundsätzliche Frage. Die Gewaltfreiheit, sie steht in der Demokratie über all unseren Meinungsverschiedenheiten.
Deshalb gibt es auch kein Anliegen, das es rechtfertigen würde, das Gewaltmonopol des Staates und die Durchsetzung des Rechts infrage zu stellen. Dass allein der Staat zwingen darf – das ist unser rechtsstaatliches Gewaltmonopol –, das wird leider immer wieder infrage gestellt. Ich habe an dieser Stelle vor den Ereignissen von Stuttgart schon einmal gesagt, dass immer wieder betont werden muss, welcher Fortschritt es ist, dass bei uns nur der Rechtsstaat Menschen gegen ihren Willen zwingen kann und Recht und Gesetz durchsetzen darf. Der Fortschritt in unserem Rechtsstaat ist gerade, dass jede Bürgerin, jeder Bürger die Möglichkeit hat, polizeiliches Handeln vor unabhängigen Verwaltungsgerichten auch überprüfen lassen zu können.
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Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unserer Justiz und unserer Sicherheitsbehörden, die dürfen wir weiterhin nicht unter Generalverdacht stellen, sondern wir sollten denen, die für unseren Rechtsstaat die Knochen hinhalten, die einen schwierigen Dienst versehen, den Rücken stärken, Wertschätzung entgegenbringen und mit unserem Verhalten, unseren Stellungnahmen die Arbeit nicht noch schwerer machen. Sie sichern in unser aller Namen die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung, ohne die eine freiheitliche Gesellschaft gar nicht existieren kann. Sie verdienen keine Vorurteile, keine Pauschalurteile und keine Schlaumeiereien aus der Ferne; denn sie müssen oft unter schwierigen Situationen vorab entscheiden, was später leicht zu beurteilen ist, ob es rechtmäßig war oder nicht. Das wurde auf den Treppen dieses Hauses an dem Samstag mit den drei Polizisten ganz besonders sichtbar, aber es findet jeden Tag statt, dass Polizistinnen und Polizisten in schwierigen Situationen besonnen agieren müssen, ohne vorher immer wissen zu können, ob sich das im Nachhinein als rechtmäßig herausstellt.
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Deshalb braucht es für die Verteidigung unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung Menschen, die ebenso besonnen wie entschlossen sind. Es sind zwei Tugenden, die ich beim Berliner Innensenator im Vorfeld dieses Versammlungsgeschehens vermisst habe, nämlich einerseits besonnen zu sein und ganz genau aufzupassen, Versammlungsverbote in unserem freiheitlichen Rechtsstaat nur mit nachvollziehbaren Gefahreneinschätzungen zu begründen und nicht mit Inhalten von Meinungsäußerungen und mit politischen Anliegen von Versammlungen.
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Damit schützt man das Vertrauen, dass es in unserem Rechtsstaat bei Versammlungsverboten nicht nach der Meinung geht, sondern nach wirklichen objektiven Gefahreneinschätzungen. Und andererseits entschlossen genug zu sein, die nötigen Vorkehrungen zu treffen, wenn absehbar ist, dass es zu schwierigen Situationen kommt, dass also genügend Beamtinnen und Beamte vor Ort sind und die Vorkehrungen und die Ausrüstung da sind, um angemessen agieren zu können. Denn nur wenn wir dieses Vertrauen stärken – und das ist übrigens auch im Systemwettbewerb mit autoritären Systemen in unserer Nachbarschaft ein wichtiges Thema –, dass bei uns zum Beispiel das Versammlungsrecht eine Ordnung im Sinne der Freiheit, ja im Dienste der Freiheit und nicht gegen die Freiheit ist, nur dann beweisen wir die Glaubwürdigkeit unserer freiheitlichen Demokratie.
Erneut zeigt sich: Gegen andere Antidemokraten zu sein, macht einen selbst noch nicht zum Demokraten. Dazu gehört mehr. Nämlich entschieden für das einzutreten, was unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung positiv ausmacht. Gewaltfrei seine eigene Meinung zu vertreten und übrigens kriminelles Handeln nicht als Aktivismus zu verharmlosen.
Vielen Dank.
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Für die Fraktion Die Linke hat das Wort der Kollege Sören Pellmann.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen: Darin liegt der Kern dessen, was wir zu sagen haben.
Das sagte der Autor und Holocaustüberlebende Primo Levi in seinen warnenden Worten, als er mahnte, eine schleichende Wiederkehr von Nazismus, Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus schon im Aufkommen zu verhindern. Gewiss, Geschichte wiederholt sich nicht eins zu eins, doch fest steht: Über das Anfangsstadium sind Neonazismus und Rechtsradikalismus in unserem Lande weit hinaus.
Frech und anmaßend schickten sich unter den Fahnen des Kaiserreichs, die ja traditionell in der rechten Szene nur die Ersatzsymbole verbotener nazistischer Symbole sind, Rechtsradikale an, gar die Stufen des Bundestages und mithin der parlamentarischen Demokratie der Bundesrepublik zu stürmen. Damit haben sie nicht nur symbolisch eine neue Stufe der Herausforderung der Ordnung der Bundesrepublik erreicht. Sie nutzten in gefährlicher Weise die Demonstrationen gegen die Pandemiemaßnahmen, um darin ihren Ungeist zu verbreiten, und viele – viele – sahen weg oder machten sich gar mit ihnen gemein. Das ist die neue Qualität dieser Bedrohung.
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Das Gebäude, in dem wir uns hier befinden, war ein Symbol für die Demokratie Weimars, aber auch für deren Zerstörung. Die Bilder des 29. August 2020 müssen ein Weckruf für alle Demokratinnen und Demokraten in unserem Land sein.
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Ja, wir haben auch weitere Probleme politisch motivierter Gewalt in unserem Land. Diese müssen wir – da werden wir uns nicht scheuen – ausgiebig thematisieren. Nie jedoch werden wir deshalb die größte Bedrohung des Friedens in unserem Lande relativieren lassen: Was zum NSU-Terror, zu den Verbrechen von Hanau, Halle und München führte und, nicht zu vergessen, schon lange zuvor zu den Taten von Mölln und Solingen, zu über 200 Todesopfern seit 1990, das sind Rechtsradikalismus und Neonazismus.
Jetzt könnten wir das Problem weiter erörtern, aber der Titel dieser Aktuellen Stunde ist anders gewählt – und das ganz bewusst, und das empfinde ich als Problem. Bereits wenige Tage nach dem Bewusstwerden der rechten Bedrohung auf den Stufen des Bundestages, dieses Hohen Hauses, lag der bundesweite mediale Fokus auf den sogenannten Krawallnächten in meiner Heimatstadt und meinem Wahlkreis Leipzig. Dort wurde im Leipziger Osten in der Ludwigstraße 71 – sie befindet sich übrigens nicht in Connewitz – ein Haus besetzt, welches trotz drückender Wohnungsknappheit und Mangel an bezahlbarem Wohnraum über 20 Jahre leer stand.
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Die Folgen sind Ihnen bekannt: Räumung, drei Tage Proteste, beginnend im Leipziger Osten, hin nach Connewitz, inklusive gewalttägiger Auseinandersetzungen gegenüber der Polizei und Sachbeschädigungen. Die Ereignisse in diesen Tagen habe ich persönlich erlebt.
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Ich möchte an dieser Stelle den Einsatzkräften vor Ort – hören Sie gut zu! – für ihr Handeln ausdrücklich meinen Dank aussprechen.
Auch an dieser Stelle wiederhole ich klar – und da gibt es keine zwei Meinungen –: Die Linke ringt um gesellschaftliche Mehrheiten für eine soziale, eine friedliche und eine demokratische Politik. Diese Gewaltexzesse behindern, dass wir unsere Ziele erreichen. Sie haben in einem demokratischen Staat nichts verloren!
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Wer sich hierzu hinreißen lässt, kann nicht an unserer Seite für diese Ziele streiten.
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Bei der Einschätzung der Ursachen für die Gewalt in Leipzig und die notwendigen Schlussfolgerungen gehen die Meinungen allerdings auseinander. Konservative fordern nach jeglichen Krawallen sehr schnell reflexhaft mehr Polizei und Justiz und sparen bei der Brandmarkung insbesondere des Stadtteils Connewitz nicht mit bürgerkriegsähnlichen Berichten. Betrachten wir die konkrete Politik der CDU in Sachsen, dann sehen wir: In den letzten Jahren wurde die Spar-Axt insbesondere bei Polizei und Justiz angesetzt. Die Forderungen der Aktuellen Stunde heute können wir insbesondere für Sachsen teilen und erwarten insbesondere Handeln der Regierung in Dresden.
Bleiben wir beim Abgleich von medialem Postulat und den Meinungen einzelner Vertreterinnen hier im Haus mit der Realität. Ich halte die direkte und indirekte Gleichmacherei von Autonomen und der übergroßen Mehrheit von politisch links gesinnten Menschen innerhalb und außerhalb auch meiner Partei, die grundlegend friedlich sind und auch friedlich agieren, für einen schweren Fehler.
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Verallgemeinerungen, Pauschalisierungen, Auslassungen sowie Kriminalisierung ganzer Stadteile helfen uns nicht weiter. Vielmehr müssen Gewalt, Aggression und Steinwürfe gegen Polizeibeamte eher als Symptom denn als Ursache verstanden werden.
Ich will an dieser Stelle insbesondere auf das Thema Wohnen – es gibt hier einen Zusammenhang – eingehen; es zumindest benennen. Der Bestand der Sozialwohnungen befindet sich auf einem historischen Tiefstand – das war ein Mitauslöser für diese Situation –, obwohl Sozialwohnungen gerade angesichts der Mietenexplosion dringend gebraucht werden. Hier haben wir ein Problem in den Großstädten, und auch hier stiehlt sich der Bund immer mehr aus der Verantwortung.
Abschließend noch ein kleiner persönlicher Einblick. Leipzig ist eine stolze Bürgerstadt. Das Gewandhaus, die Leipziger Messe sind weltbekannt. Unsere Sportvereine, aber auch der Stadtteil Connewitz gehören zu Leipzig wie Johann Sebastian Bach. Gern lade ich Sie alle nach Leipzig und nach Connewitz ein, um es gemeinsam anzusehen und sich eine persönliche Meinung zu bilden. Sie werden sehen und erleben, dass die hier geführten Debatten nicht selten an der Realität vorbeigehen.
Vielen Dank.
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Der Kollege Dr. Konstantin von Notz hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Vorfälle und Bilder, die uns jüngst aus Berlin und Leipzig, aber davor auch aus anderen Städten erreichten, sind verstörend und zeugen davon, wie sehr sich unsere Demokratie und unser Rechtsstaat in diesen Tagen bewähren müssen.
Lassen Sie mich das unmissverständlich klarstellen: Es geht nicht um unsinnige Gleichsetzung von Dingen, die nicht gleichzusetzen sind, schon gar nicht sicherheitspolitisch. Es geht hier ganz bestimmt nicht um die abwegige und längst wissenschaftlich widerlegte Hufeisentheorie, sondern in diesen bewegten Tagen einer Pandemie und massiver Anfeindungen, Verhetzungen und Verächtlichmachungen von Personen und Symbolen unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung geht es um die grundsätzliche Haltung und ein glasklares Bekenntnis zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und eben Gewaltfreiheit. Das muss jede Demokratin und jeder Demokrat spätestens jetzt verstanden haben, meine Damen und Herren.
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Das Gewaltmonopol in unserem Land liegt beim Staat. Punkt! Wer das relativiert und damit versucht, seine Gewalt zu legitimieren, ob nun mit vermeintlich hehren und edlen politischen Motiven oder mit den abwegigsten Verschwörungsideologien oder durch Herbeischwadronieren eines irgendwie gearteten Notstandes, der untergräbt vorsätzlich unsere Verfassung, unsere Freiheit und unsere Demokratie, meine Damen und Herren.
({1})
Wer Polizeibeamte verletzt, Fahrzeuge demoliert oder anzündet, Landfriedensbruch begeht und gewalttätig in Parlamente einzudringen versucht, der handelt nicht revolutionär und schon gar nicht patriotisch, sondern schlicht kriminell.
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In Deutschland, meine Damen und Herren, gilt die Versammlungsfreiheit. Unabhängige Gerichte prüfen und korrigieren behördliche Entscheidungen. Das gilt sogar für Versammlungen von Menschen, die behaupten, in einer Diktatur zu leben, oder die sich völlig offen eine solche herbeiwünschen; auch für die gilt das. Diese Versammlungsfreiheit in unserem Land entbindet aber niemanden – niemanden! – von der demokratischen Pflicht, sich von den Antisemiten, Neonazis und Reichsbürgern, die zu Tausenden hier in Berlin vor Ort waren, deutlich zu distanzieren, und zwar sprachlich wie räumlich.
({3})
Herr Curio, nichts von Ihnen dazu. Nichts! Im Gegenteil: Verletzte Polizisten hier in Berlin, Landfriedensbruch, der dokumentierte Versuch mehrerer Hundert Menschen, mit Gewalt in dieses Gebäude vorzudringen
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aus einer Demo heraus, zu der Sie ganz massiv mobilisiert haben, wo Ihre Leute aus Ihrer Fraktion vor Ort waren, und Sie distanzieren sich nicht.
({5})
Sie haben sich gestern als einzige Fraktion hier im Saal nicht für die drei Polizeibeamten erhoben, die mit ihrer Gesundheit und ihrem Rückgrat an einem Wochenende für dieses Haus gestritten haben. Sie diskreditieren sich auch noch parlamentarisch in jeder Art und Weise, meine Damen und Herren.
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Es ist wichtig, ernst zu nehmen, was die Vertreter der Sicherheitsbehörden, Herr Curio,
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mit zunehmender Dramatik jeden Tag sagen: Die größte extremistische Gefahr in der Bundesrepublik geht derzeit eindeutig von rechts aus.
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– Das sagen die Sicherheitsbehörden. Das sagen die Polizeien, zu deren Anwalt Sie sich gerne machen würden. Und da lachen Sie. Ja, so abstrus ist es. Da lachen Sie.
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Wem das nicht über die Lippen geht, was die Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten und deren Präsidenten sowie die Nachrichtendienste in aller Klarheit sagen, und wer das mit „Hufeisen made in Connewitz“ zu konterkarieren versucht, der macht sich schlicht unglaubwürdig, und der dokumentiert, dass er selbst Teil des Problems ist, meine Damen und Herren.
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Niemand versucht – die Ministerin hat es eben gesagt –, über diese Argumentation irgendwelche Diskurse plattzumachen oder Meinungen zu unterdrücken, auch keine kritische Auseinandersetzung mit Coronamaßnahmen; im Gegenteil. Ob in unseren Fraktionen – in Ihrer hoffentlich auch – hier im Hohen Haus selbst, gerne auf der Straße des 17. Juni, in den Medien, den öffentlich-rechtlichen und den privaten, zu Hause bei uns allen, am Arbeitsplatz: Das ganze Land diskutiert über Pro und Kontra dieser Coronamaßnahmen – jeden Tag, den Gott gibt, und das ist gut so.
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Wir sind ein freies Land. Es ist ein Popanz, wenn behauptet wird, dass solche Diskussion nicht stattfinden könnten und nicht stattfinden würden, meine Damen und Herren.
({12})
Schließen möchte ich mit den gestrigen Worten unseres Präsidenten Wolfgang Schäuble – ich zitiere –:
... jeder politischen Seite muss klar sein: Die Gewaltfreiheit
– die Gewaltfreiheit! -
steht in der Demokratie über allen Meinungsverschiedenheiten.
Herzlichen Dank.
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Ich erteile das Wort dem Kollegen Thorsten Frei, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die besondere Herausforderung, mit der unser Land gegenwärtig konfrontiert ist, ist, dass wir es mit einer Gleichzeitigkeit extremistischer Bedrohungen zu tun haben,
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wie wir es in der Vergangenheit in diesem Maße nicht hatten: tödlicher Rechtsextremismus, tödlicher islamistischer Extremismus, aber eben auch militanter Linksextremismus, wie wir es in der vergangenen Woche erleben mussten. All das gleichzeitig bedroht unsere demokratische und freiheitliche Ordnung in Deutschland. Und deswegen brauchen wir darauf eine klare und entschiedene Antwort.
Es ist unbestritten und es fällt überhaupt nicht schwer, klar zu sagen, dass derzeit die größte Gefahr für unseren Staat vom Rechtsextremismus ausgeht. Ich will das nur an zwei Punkten festmachen. Wir haben verschiedene Dinge erlebt. Im vergangenen Jahr wurde ein Repräsentant dieses Staates von Rechtsextremisten hingerichtet. Und wir haben die besondere, auch einmalige Situation, dass mit der AfD eine Partei, die hier im Bundestag sitzt und die in allen Länderparlamenten vertreten ist, vom Verfassungsschutz als Verdachtsfall eingeschätzt wird.
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Das ist das, womit wir konfrontiert sind und was deutlich macht, dass rechtsextremistisches Denken auf dem Vormarsch ist und wir darauf natürlich eine klare und entschiedene Antwort brauchen.
Und die haben wir gegeben mit der Verabschiedung des Gesetzes zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität vor wenigen Wochen hier in diesem Hause, aber auch indem wir im vergangenen Herbst 600 zusätzliche Stellen bei Verfassungsschutz und Polizeibehörden ausschließlich zur Bekämpfung des Rechtsextremismus bereitgestellt haben.
Aber richtig ist eben auch, dass man nicht nur auf dem rechten Auge nicht blind sein darf, sondern man sollte auch mit dem linken Auge scharf sehen können. Und ich fand es schon bemerkenswert, was Staatssekretär Krings in seiner Eingangsrede hier quasi vorausgesagt hat, dass nämlich Rechte rechtsextremistische Gewalt relativieren und Linke linksextremistische Gewalt relativieren. Genau das haben wir in dieser Debatte erlebt – hier und dort.
Lieber Herr Pellmann, Rechtsstaat bedeutet, dass nicht nur die Gesetze gelten, die einem passen. Das ist der entscheidende Unterschied. Das, was Sie gemacht haben, war im Grunde genommen das Gleiche wie das, was die AfD gemacht hat, nämlich Gewalt zu legitimieren.
({2})
Das haben Sie in Ihrer Rede gemacht, und das ist nicht akzeptabel.
({3})
Womit wir natürlich schon konfrontiert sind, ist, dass wir ganz offensichtlich weniger über das Thema Linksextremismus sprechen. Ich möchte nur eines zu den Fakten sagen: Wer beispielsweise die Berichte des Bundesamtes für Verfassungsschutz liest, der sieht, dass das linksextremistische Personenpotenzial genauso groß ist wie das rechtsextremistische.
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– Ja, 33 400 Personen. Und deshalb ist es entscheidend, sich das genau anzugucken. Auch die Militanz ist enorm.
({5})
Und vor diesem Hintergrund ist es ganz entscheidend, auch die Probleme klar zu benennen und sie auch im öffentlichen Diskurs nicht zu relativieren. Das passiert nämlich, wenn man beispielsweise der Polizei latenten Rassismus unterstellt.
({6})
Das passiert beispielsweise, wenn man nicht nur unsägliche Artikel in der „taz“ darüber schreibt, dass Polizisten auf den Sondermüll gehören, sondern ich finde es, ehrlich gesagt, fast noch schlimmer, wenn der Presserat sagt, wie vorgestern geschehen, Polizisten als Müll zu bezeichnen, sei eine Geschmacksfrage.
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Wer so etwas sagt, meine sehr verehrten Damen und Herren, der disqualifiziert sich im demokratischen Diskurs.
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Und da muss man auch sagen: Das ist ebenfalls eine Form von Menschenfeindlichkeit.
Wir stehen hinter unserer Polizei, nicht nur, wenn sie hier draußen auf der Treppe den Bundestag schützt. Wir stehen zu unserer Polizei – jederzeit. Und deshalb, glaube ich, muss man das auch an verschiedenen Punkten deutlich machen.
Für uns ist zum Beispiel entscheidend, dass tätliche Angriffe auf Polizisten mit einer Mindeststrafe von sechs Monaten, also einer verdoppelten Mindeststrafe, belegt werden. Wir müssen uns den Tatbestand des Landfriedensbruchs noch einmal anschauen. Und ich glaube, es ist ganz entscheidend, dass wir auch bei Ausstattung und rechtlichen Möglichkeiten von Polizei und Sicherheitsbehörden deutlich machen, dass wir ihnen die Instrumente geben wollen, die sie brauchen, und dafür brauchen wir auch ein effektives Verfassungsschutzgesetz. Wer das verweigert, der ist selber Teil eines Sicherheitsrisikos bei uns im Land.
Herzlichen Dank.
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Für die Fraktion der AfD hat das Wort die Kollegin Beatrix von Storch.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Linksextremisten zünden bengalische Feuer an, werfen Brandsätze, die Polizei muss mit Hubschraubern und Hundertschaften eingreifen. Das waren Bilder wie aus einem Bürgerkrieg mitten im Herzen Deutschlands.
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Die CDU hat jetzt die Aktuelle Stunde mit beantragt. Da wollen Sie wohl über Ihr eigenes Versagen diskutieren. Denn: Wer regiert denn in Sachsen seit 1990 ohne Unterbrechung und jetzt auch zusammen mit Grünen und SPD, weil Sie mit der AfD nicht wollen? – Genau, die CDU.
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Sie sind doch auf dem linken Auge genauso blind wie die anderen und verweigern sich der Realität. Das haben Sie gestern im Innenausschuss eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Um den angeblichen Sturm auf den Reichstag zu stoppen,
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reichten drei Polizisten. Das und nur das haben Sie neben dem ganz kurz angesprochenen Punkt Corona gestern als einziges Thema stundenlang debattiert. In Leipzig reichten 1 300 Beamte nicht, 20 wurden verletzt. Das war Ihnen gestern im Ausschuss keine Silbe wert, nicht eine.
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Was Sie gestern im Ausschuss abgezogen haben, das war eine Sabotage unserer parlamentarischen Demokratie.
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Linke Gewaltexzesse in Sachsen sind nicht erst seit dem Wochenende ein Problem, sondern seit Jahren. Die Polizeiwache in Leipzig-Plagwitz, die Staatsanwaltschaft, die Ausländerbehörde, das Bundesverwaltungsgericht, die Südvorstadt, mal 2 und mal 50 Polizeifahrzeuge,
({5})
5 Bundeswehr-Lkw, 8 Behördenfahrzeuge, 3 Baukräne: alles abgefackelt oder beschädigt, mit Steinen, Böllern, brennenden Barrikaden, mal 200 000 Euro Schaden, mal Millionen, mal „nur“ ein Dutzend verletzte Polizisten, mal knapp 70 und im Januar 2020 dann versuchter Mord. Ich könnte mit dem gesamten Rest meiner Redezeit diese Liste nicht abschließen: Sie ist zu lang!
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Und die umbenannte SED steht heute als Die Linke bei alldem natürlich freudig Pate. Ja, Herr Pellmann, es war Ihre Linksjugend, die am Rande der Gewaltexzesse Aufkleber mit dem Aufdruck „Advent, Advent, ein Bulle brennt“ verteilt hat. Das wiederum ist der Slogan der Punkband „Harlekins“. Zu dieser Band gehörte Katja Meier von den Grünen, die nun Justizministerin in Sachsen ist und dort mit der CDU regiert.
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Wen könnten diese linksextremen Gewaltexzesse eigentlich noch wundern, wenn die Ministerin, die Linksextremismus von Amts wegen bekämpfen soll, linksextrem ist?
({8})
Und die Linkenabgeordnete Juliane Nagel, Herr Pellmann, findet die Gewalt natürlich auch schwer in Ordnung, weil die Linken eben – ich darf zitieren –
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„lebenskulturelle Angst“ vor dem Zuzug von – ich darf wieder zitieren – „andersdenkenden Menschen“ in ihrem Stadtteil Connewitz haben. Dieselben Menschen, die sonst immer „No border, no nation“ und „Kein Mensch ist illegal“ brüllen,
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schmeißen jetzt Gehwegplatten auf Menschen aus Düsseldorf, weil sie die in ihren Kiezen nicht haben wollen, weil die anders sind und anders denken.
Diese linksextreme Gewalt unterscheidet sich in rein gar nichts von rechtsextremer Gewalt. Linke sind Heuchler, und Sie alle hier gehören dazu.
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Der Andersdenkende ist für die Linken ein Feind, der mit allen Mitteln bekämpft werden muss, und Andersdenkender ist jeder, der gegen Enteignung, gegen Masseneinwanderung, gegen die Auflösung des Nationalstaates ist.
Also, liebe Frau von Storch, das geht nicht, dass Sie hier die Kollegen so generell als Heuchler bezeichnen.
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Bitte entschuldigen Sie sich dafür. Nehmen Sie das bitte zurück!
Was soll ich zurücknehmen?
Hier die Kollegen als Heuchler zu bezeichnen.
({0})
Nein, das nehme ich nicht zurück.
Dann erteile ich Ihnen einen Ordnungsruf.
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Das können Sie gerne tun. – Andersdenkender ist jeder, der gegen Enteignung, gegen Masseneinwanderung und gegen die Auflösung des Nationalstaates ist
({0})
und für den Rechtsstaat, für Familie, für Marktwirtschaft und vor allem für Meinungsfreiheit eintritt, also jeder Mensch, der dem globalen Kommunismus im Weg steht.
Kurt Schumacher – vor Esken und Borjans hatte die SPD wirklich große Vorsitzende – sagte:
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Kommunisten sind rotlackierte Faschisten. – Ja, diese Autonomen sind Faschisten. Die linken Parteien sind ihr politischer Arm und die Journalisten, die das als „Mietenproteste“ beschönigen, ihr publizistischer Arm. Die „taz“ bezeichnete bekanntlich die Polizisten als Abfall, ARD und ZDF als Mörder; der „Tagesspiegel“ titelt: „Danke, liebe Antifa!“ Das ist kein Journalismus; das ist linksextreme Hetze.
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Deutschland und Sachsen brauchen einen Politikwechsel und scheitern nicht an uns. Wenn die AfD in Sachsen an die Regierung kommt,
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werden wir den linksextremen Sumpf trockenlegen. Das machen wir in den ersten 100 Tagen. Aber solange die CDU lieber mit linksextremen Polizeihassern regiert, die Polizisten am liebsten brennen sehen wollen, wie Katja Meier von den Grünen, statt mit Polizeioberkommissaren wie Sebastian Wippel von der AfD, so lange ist die CDU nicht Teil der Lösung, so lange ist die CDU Teil des Problems.
Vielen Dank.
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Der nächste Redner ist für die Fraktion der SPD der Kollege Uli Grötsch.
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Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das ist nicht die Debatte, in der man abwägen oder darüber diskutieren muss, was jetzt hier schlimmer ist, Linksextremismus oder Rechtsextremismus. Aber einen Satz erlauben Sie mir, Frau von Storch: Der größte Unterschied zwischen der Gewalt von links und der Gewalt von rechts ist der, dass die Gewalt von rechts seit der Wiedervereinigung in Deutschland knapp 200 Menschenleben gefordert hat.
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Aber darum soll es mir jetzt nicht gehen, sondern um Folgendes: Das vorletzte Wochenende hier draußen vor dem Reichstag gab einen Einblick in die Traumwelt von Demokratiefeinden. Sie ergötzen sich an den Bildern, aber ich muss Sie enttäuschen: Zu keinem Zeitpunkt bestand letztendlich die Gefahr, dass irgendjemand den Reichstag stürmen könnte, und garantiert – dieser Überzeugung bin ich – passieren diese Szenen so auch nie wieder.
90 Prozent der Bürgerinnen und Bürger halten so wie ich und viele andere hier die Coronamaßnahmen für notwendig. Allen anderen Menschen, seien es Hippies, Impfgegner, Stuttgart-21-Gegner oder wer auch immer, die da mitmarschieren, Seite an Seite mit der AfD, mit Reichsbürgern, Rechtsextremisten und Verschwörungstheoretikern, sage ich: Wer sich nicht eindeutig abgrenzt, ist Teil der braunen Soße.
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Diese Demos sind ein gefundenes Fressen für Rechtsextremisten. Wir wissen, dass seit Ende April bundesweit mehr als 90 Kundgebungen gegen Coronamaßnahmen stattgefunden haben, bei denen Rechtsextremisten den Ton angaben. Anticoronademos sind von Rechtsextremisten unterwandert, und so war das nach allem, was wir wissen und bisher gesehen haben, eben auch am 28. August 2020 vor dem Reichstag.
Aber ich möchte nicht nur über Feinde der Demokratie draußen reden, sondern auch hier im Bundestag und in Länderparlamenten.
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Die AfD duldet Rechtsextreme und Faschisten in ihren Reihen. Einige werden vom Verfassungsschutz beobachtet. Ihren rechtsextremen Flügel mussten Sie wenigstens formal auflösen. Ihre Jugendorganisation wird vom Verfassungsschutz beobachtet. Die AfD selber ist als Partei ein Prüffall.
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Sie gehören nicht in dieses Hohe Haus.
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Sie gehören in kein Parlament auf dieser Welt.
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Aber wir bekämpfen Extremismus nicht nur vor dem Hohen Haus und in diesem Hohen Haus. Wir wollen die schwarzen Schafe auch aus den Sicherheitsbehörden vertreiben. Für die Bekämpfung rechtsextremistischer Umtriebe im öffentlichen Dienst hat das Bundesamt für Verfassungsschutz eine eigene Abteilung, und ich danke von dieser Stelle aus für diesen richtigen und auch wichtigen Schwerpunkt.
Auch in der digitalen Welt und in den sozialen Netzwerken wird die Luft eng für Extremisten und Hetzer. Unserer Bundesjustizministerin haben wir es zu verdanken, dass Facebook und Co strafbare Inhalte nicht nur löschen müssen, sondern dass sie von unseren Strafverfolgungsbehörden auch konsequent geahndet werden. Dafür haben wir 300 Stellen allein im Bundeskriminalamt geschaffen.
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Wir haben ein großes Netz an Präventionsprogrammen in Deutschland aufgespannt, wo Bundesprogramme wie „Demokratie leben!“ und die jeweiligen Länderprogramme ineinandergreifen. Das werden wir weiter ausbauen; denn die Nachfrage ist hoch, die Notwendigkeit sogar noch höher, auch – die Bundesjustizministerin hat das eben deutlich gemacht – die Notwendigkeit für ein Demokratiefördergesetz in Zeiten wie diesen.
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Die Bundesfamilienministerin fordert richtigerweise einen auf Dauer angelegten Sachverständigenrat, der sich dem Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung widmen und Strategien im Umgang mit extremistischen Tendenzen und den Feinden der Demokratie entwickeln soll. Wir bekämpfen Extremismus auf allen Ebenen. Verfassungsfeinde und rechte Netzwerke genießen gerade bei uns, bei der SPD, höchste Priorität, schon immer und gewissermaßen aus unserer DNA heraus, aber heute eben ganz besonders.
Ich betone das, weil gestern vor 20 Jahren Enver Simsek vom NSU-Terrortrio mit fünf Schüssen in den Kopf hingerichtet wurde. Seitdem haben wir fast 100 weitere Opfer rechten Terrors zu beklagen. Wir werden die Opfer niemals vergessen. Ich hätte Enver Simseks Angehörigen hier gerne gesagt, dass heute alles besser ist und dass wir den Rechtsextremismus unter Kontrolle haben. Leider kann ich das nicht. Einige sitzen heute sogar in Parlamenten. Wir zählen über 32 000 Rechte, so viele wie noch nie. Sie begehen immer mehr Straftaten, und sie sind immer gewalttätiger und brutaler. Aber ich glaube, wir alle können den Angehörigen von Enver Simsek und allen Opfern rechtsextremistischer Gewalt versprechen, dass wir wachsam sind und dass wir unser Bestes geben, um dieses Kapitel zu überwinden.
Vielen Dank.
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Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Mathias Middelberg, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist jetzt schon viel Richtiges gesagt worden in dieser Debatte; dafür möchte ich mich auch mal bedanken. Es haben sich einige kluge Redner geäußert.
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– Sie waren ausdrücklich nicht gemeint, Frau von Storch.
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Ich habe aber von unserer Bundesjustizministerin, von unserem Staatssekretär Dr. Krings und auch gerade von Frau Teuteberg viel Kluges und Treffendes, finde ich, zur Analyse der Sachverhalte gehört, auch von meinem Kollegen Thorsten Frei, dem ich mich ausdrücklich anschließe. Dazu, was die Bewertung und Analyse der Ereignisse rund um die Demonstrationen, die Anticoronademos, hier in Berlin angeht, ist viel Zutreffendes gesagt worden, ebenso dazu, was die Vorgänge in Leipzig angeht.
Ich will an einen Punkt, der mir besonders wichtig ist, erinnern. Zu den Vorgängen in Berlin hat sich gestern ausdrücklich auch der Bundestagspräsident geäußert und einen zentralen Punkt angesprochen: die Frage des Reichstages als Symbol unserer freiheitlichen Demokratie und dass dieser sakrosankt sein muss. Wir dürfen deshalb nicht zulassen, hat Wolfgang Schäuble gestern gesagt, dass er als bloße Kulisse missbraucht wird, und das gilt ausnahmslos für alle Versuche, das Haus plakativ zu instrumentalisieren. Ob mit Fahnen, Flugschriften oder Transparenten: Wer hier nach Inhalten – das ist der entscheidende Punkt – unterscheiden will, macht sich unglaubwürdig und schadet uns allen.
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Es kommt überhaupt nicht darauf an, ob man persönlich, ob der eine oder andere von uns diese Inhalte als positiv oder negativ oder gut oder schlecht oder wie auch immer bewertet. Dieses Haus darf nicht, schon gar nicht für extremistische, aber auch nicht für parteipolitische oder sonstige irgendwie positionierte Zwecke, missbraucht werden. Es ist das Symbol der Demokratie, unserer Republik, unseres ganzen Volkes. Das muss es sein, und insofern ist es sakrosankt.
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– Davon haben Sie sich eben nicht klar distanziert, Frau von Storch.
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Deswegen habe ich den Punkt hier extra noch mal angesprochen.
Wir haben vor einigen Jahren auch andere Inanspruchnahmen dieses Hauses von anderer politischer Seite gehabt. Ich möchte daran erinnern, dass es auch solche politischen Inanspruchnahmen nicht geben darf. Wir hatten Antiatomkraftdemos und andere. Da sind die Leute auch durch die Absperrungen gelaufen, haben sich auch auf die Treppe gesetzt, haben gelbe Antiatomkraftdemofahnen geschwenkt und anderes. Auch das hat da nichts verloren.
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– Das ist ja alles erwähnt worden, und deswegen war es mir wichtig, das deutlich zu machen. Sie haben, glaube ich, immer noch nicht begriffen, dass der Inhalt ja eben gerade keine Rolle spielt, sondern wir uns in jedem Fall von diesen Vorgängen distanzieren.
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Das muss der Konsens in diesem Haus sein.
Es ist auch das Richtige gesagt worden zu den Vorgängen in Leipzig. Ich hätte mir, Herr Pellmann, von Ihnen noch etwas klarere Worte gewünscht; das muss ich ehrlicherweise zugeben. Aber immerhin: Es gibt auch Vorgänge, wo die Linksjugend Sticker verteilt hat mit dem Satz: „Advent, Advent, ein Bulle brennt“. Ich sage ganz ehrlich: Ich kenne die Hintergründe dieses Liedes und was da im Einzelnen dahintersteckt, gar nicht. Ich finde nur: Dieser Satz an sich beinhaltet schon etwas Menschenverachtendes.
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Ein Bulle soll da brennen. Die Polizeibeamten werden entmenschlicht.
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Das ist schon der Beginn einer jeden Radikalisierung. Ich kann nur sagen: Ich wünsche mir in Zukunft – ich sage das ganz freundlich –, dass Sie sich von solchen Vorgängen sofort und ganz entschieden distanzieren. Das würde ich mir wirklich wünschen.
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Da ist jede Grenze überschritten. Stellen Sie sich mal vor, da würde irgendeine andere Jugend Sticker verteilen mit der Aufschrift: „Advent, Advent, ein Flüchtling brennt“. Dann wären wir, glaube ich, alle hier im Haus einer Meinung:
Das ist widerlich. Das ist ekelhaft. Das darf es auf keinen Fall in diesem Lande geben.
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Mein letzter Punkt ist ein ganz allgemeiner Gedanke, den ich aussprechen möchte, und zwar geht es mir um folgenden Punkt: Wir erleben die Radikalisierung von links und von rechts. Ich glaube, wir erleben auch einen Verlust – das vermute ich jedenfalls dahinter – der Wertschätzung gegenüber unserem Land, gegenüber den Werten dieses Landes, gegenüber unserer Demokratie, dem Rechtsstaat und der Freiheit. Vielleicht haben hier einige nach über 70 Jahren in Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit es nicht mehr so ganz im Film, dass diese Dinge wirklich was wert sind.
Fragen wir vielleicht mal die Menschen in Minsk, die da jetzt auf den Straßen unterwegs sind und für ihre Rechte kämpfen. Die kämpfen nämlich dafür, dass sie überhaupt frei ihre Meinung sagen dürfen. Die kämpfen dafür, dass sie demnächst frei wählen dürfen. Die kämpfen für die Werte und die Rechte, die diesen Staat ausmachen. Das gilt genauso für die jungen Menschen, die in Hongkong auf der Straße sind, jetzt von Polizisten verhaftet werden, Angst haben und sich fragen müssen: Kann ich überhaupt auf die Straße gehen, oder werde ich demnächst für viele Jahre eingebuchtet?
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Wir können noch andere Standorte nennen, aber darauf kommt es gar nicht an.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende.
Ich komme sofort zum Schluss, Herr Präsident. – Der Gedanke, den ich dabei habe, ist folgender: Unsere freiheitlichen Rechte – Demokratie, Rechtsstaat, Freiheitlichkeit – werden geschützt von unseren Polizeibeamten, von unseren Kräften in der Justiz, aber auch von vielen anderen, die da im staatlichen Dienst tätig sind. Deren Dienst sollten wir wirklich hochachten, und wir sollten uns davor hüten, diese Gruppen, auch gerade die Polizei, in irgendeiner Weise kollektiv zu verunglimpfen. Das ist in meinen Augen ein wichtiges Anliegen.
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Für die Fraktion der SPD hat das Wort die Kollegin Susann Rüthrich.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schwarz, Weiß und Rot – im Märchen „Schneewittchen“ stehen diese drei Farben für die Schönheit des Kindes. Auf Fahnen stehen sie dagegen für ein längst überwundenes, ein hässliches Deutschland. Ich habe diese Farben oft gesehen: seit Jahrzehnten bei der NPD, seit Jahren montags in Dresden, vor zwei Jahren in Chemnitz, seit Wochen sonntags an der B 96 in der Lausitz und zuletzt auf den Stufen des Reichstagsgebäudes. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Farben der beiden Flaggen hinter mir stehen für freiheitliche Demokratie. Wer Deutschland dagegen in Schwarz-Weiß-Rot malt, zeigt damit: Er oder sie lehnt unsere Demokratie ab. Diese aktiv überwinden zu wollen, das nennen wir für gewöhnlich „extremistisch“.
Deswegen, sehr geehrte Demonstrierende: Wir hören von Ihnen oft, Sie wollen „das System“ überwinden, stürzen. Zusammen mit Rechtextremen? Im Ernst? Bitte, dann seien Sie doch jetzt mal so ehrlich und sagen mir: Was kommt denn dann? Welches System halten Sie denn für erstrebenswert, wenn es unseres nicht ist?
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Wünschen Sie sich die Welt vom schönen Schneewittchen, wo es noch Kaiser und Könige gab, oder doch das Deutschland, das sich für tausendjährig hielt und einen Führer hatte? Wenn Sie das jetzt empört von sich weisen, liebe Demonstrierende, dann hören Sie auf, den Umsturz herbeibrüllen zu wollen. Denn wenn Sie ganz ehrlich sind, dann geben Sie zu, dass Sie in Wahrheit Tausende Einzelne sind, die sich nie auf ein anderes, wie auch immer geartetes staatliches System einigen könnten.
Sie stehen da also neben den Reichsfahnen. Müssen wir jetzt ernsthaft darüber reden, dass diese Fahne für alles andere als die Demokratie steht? „Ist doch nicht verboten“, sagen Sie. Anstand und demokratisches Miteinander machen sich aber nicht allein am Strafgesetzbuch fest. Es ist ein großer zivilisatorischer Fortschritt, dass wir verantwortlich mit der eigenen Geschichte umgehen, dass wir mit Respekt miteinander umgehen, egal welcher Gruppe das Gegenüber angehört, ob Mehrheit oder Minderheit, dass wir uns zu einer Wahl stellen dürfen, ohne danach das Land verlassen zu müssen, dass wir unsere Meinung offen sagen dürfen, auch hart die Regierung kritisieren, ohne dafür vergiftet, erschossen, eingesperrt zu werden.
Meinungsfreiheit missverstehen aber viele von Ihnen, liebe Demonstrierende, als das Recht, ihre Meinung unwidersprochen sagen zu dürfen. Nee, nee, Sie können schon alles sagen – fast alles –, aber ich eben auch. Sie können gerne weiter starke Thesen äußern; Sie haben dann aber auch meinen Widerspruch auszuhalten. Erst dann ist es Meinungsfreiheit.
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Es ist Ihnen auch unbenommen, gegen alles und jeden auf die Straße zu gehen. Geehrte Demonstrierende, ich bitte Sie aber, sich ein paar Fragen zu stellen: Wird auf Ihrer Demo jemand anderes zum Sündenbock gemacht, während Sie eigentlich nur Kritik an bestimmten Entscheidungen hatten? Werden Beschimpfungen und Beleidigungen geäußert, obwohl Sie eigentlich wissen, dass sich das nicht gehört? Werden Flaggen geschwenkt von Ländern, die ihre Kritiker umbringen, während Sie doch für Meinungsfreiheit sind? Ist da eine Gegendemonstration von Menschen überwiegend im Alter Ihrer Kinder, obwohl Sie doch angeblich für die Zukunft unserer Kinder auf die Straße gehen?
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Oder noch eindeutiger: Tragen da Menschen neben Ihnen einen Judenstern am Mantel, während Sie ja wissen, dass keine Menschen mehr fabrikmäßig ermordet werden? Und werden auf Ihrer Demo Menschen, die nicht so sind wie Sie, Journalistinnen und Journalisten oder Politikerinnen und Politiker, als „Maden“ bezeichnet wie letzte Woche in Dresden, obwohl Ihnen doch angeblich die Menschenwürde so wichtig ist? Sind schwarz-weiß-rote Fahnen zu sehen und wird dazu „Deutschland“ gesagt, obwohl Sie doch die Demokratie eigentlich ganz in Ordnung finden? – Dann, sehr geehrte Demonstrierende, nutzen Sie Ihr Demonstrationsrecht – aber anderswo! Denn mit Nazis demonstriert man nicht; man wählt sie übrigens auch nicht.
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Wenn Sie dableiben, dann liegt es mehr an Ihnen als an der Gesellschaft, wenn Sie in der rechten Ecke stehen. Sie haben sich da hingestellt. Dann wundern Sie sich bitte auch nicht so empört darüber.
Wir schenken Ihnen jetzt viel Aufmerksamkeit, aber eigentlich gehört die Aufmerksamkeit denen, die nicht in das rechte Weltbild passen. Daher möchte ich nur noch eines sagen, geehrte Demonstrierende: Dass jede und jeder wählen und gewählt werden kann, das zeichnet unser System aus. Dafür haben wir lange gekämpft; das sage ich Ihnen gerade als Sozialdemokratin. Dieses Haus hier, das stürmt man nicht, in das wird man gewählt!
Danke.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Christoph Bernstiel.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wer unsere Polizei angreift, der greift uns alle an. Es sind die Polizei und die Sicherheitsbehörden, die unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung jeden Tag aufs Neue verteidigen. Ihnen gebührt unser Dank.
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So weit sind sich in diesem Haus fast alle einig, doch nicht alle; dies hat die AfD-Fraktion gestern eindrucksvoll bewiesen. Nach der Ansprache von Wolfgang Schäuble gab es hier Standing Ovations im ganzen Saal.
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Nur eine Fraktion blieb sitzen: die selbsternannten Verteidiger des Rechtsstaats und die Rückenstärker der Polizei, die AfD-Fraktion. Deutlicher geht es ja wohl nicht.
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Aber was heißt „Polizei und Justiz stärken, Extremismus konsequent bekämpfen“ eigentlich? Für uns gehören dazu mehrere Dinge: zum einen natürlich eine moderne Ausstattung mit Einsatzmitteln, ausreichend Personal, ausreichend Befugnisse, aber auch politische Unterstützung – und an der mangelt es manchmal bei verschiedenen Parteien.
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Liebe AfD, eigentlich entlarven Sie sich ja immer wieder selbst mit Ihren Kommentaren, aber jetzt muss man doch vielleicht mal zwei Dinge aufrollen. Herr Curio, Sie haben von einem Fototermin hier vor dem Reichstag gesprochen und gesagt, das wäre ja nicht schlimm. Wissen Sie, nach offiziellen Angaben hatten wir am Wochenende 38 000 Demonstrierende hier in Berlin. Davon war der überwiegende Teil friedlich, wenn auch mit eigenartigen Ansichten, die ich bei Weitem nicht teile. Sie solidarisieren sich aber ausgerechnet mit den paar Hundert, die gewalttätig geworden sind, die Absperrungen durchdrungen haben.
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– Jetzt hören Sie mal zu; jetzt rede ich. – Einer davon war einer Ihrer Parteikollegen. Der stand vor den Fernsehkameras und schrie – ich zitiere –: „Heute wird Geschichte geschrieben, korrupte Verbrecher müssen festgenommen werden!“ Also, wenn das „Verabreden zum Fototermin“ heißt, dann müssen Sie wirklich mal erklären, in welcher Reihe Sie sich dahinstellen.
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Es geht ja noch weiter. Frau von Storch, ich kann ja durchaus verstehen, dass Sie frustriert sind, dass die CDU/CSU mit der AfD keine Koalition eingehen will; wir sind ein attraktiver Koalitionspartner.
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Eine Zusammenarbeit wird Ihnen aber auch noch lange verwehrt bleiben – wenn es nach mir geht, für immer. Aber wenn Sie dann das ganze Parlament hier als „Heuchler“ bezeichnen, dann geht das ein Stück zu weit, und es wird auch der Definition nicht gerecht. Ich sage Ihnen, was heuchlerisch ist: Heuchlerisch ist, wenn Sie sich hierhinstellen und den Linksextremismus kritisieren – zu Recht –, aber kein Wort über den Rechtsextremismus verlieren und sich gleichzeitig noch mit Rechtsextremisten gemein machen. Das ist heuchlerisch, das passt nicht ins Bild. Darüber sollten Sie sich mal Gedanken machen.
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Aber ich habe ja von der politischen Unterstützung gesprochen. Die beginnt auch mit der Sprache. Unsere Polizei ist kein Spielball. Sie ist auch kein Prellbock für politische Auseinandersetzungen. Umso trauriger ist, was wir – wenig überraschend – nach den schrecklichen Ereignissen in der Silvesternacht in Leipzig von der Linkspartei hören. Da gibt es eine Abgeordnete – ich will ihren Namen nicht nennen –, die von „ekelhafter Polizeigewalt“ und „kalkulierter Provokation“ spricht.
Wir haben leider auch die SPD-Parteichefin, die sich nicht immer eindeutig äußert und davon spricht, dass die Einsatztaktik der Polizei zu hinterfragen ist und dass es einen latenten Rechtsextremismus innerhalb der Polizei gibt.
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Oder nehmen wir die Miri-Gesetze, liebe Frau Justizministerin. Das sind dringend notwendige Gesetze, die unsere Polizeibehörden gefordert haben. Wir bzw. das BMI haben einen Riesenkatalog vorgelegt; davon ist fast nichts übrig geblieben. Auch das ist mangelnde Unterstützung unserer Polizei.
Dann zu Frau Mihalic; sie ist heute nicht da. Ich schätze sie sehr,
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doch kürzlich äußerte sie sich in einem Interview in der „FAZ“ und sagte: „Wir Grüne mussten erst lernen, dass die Polizei ein positiver Faktor ist.“ Manchmal fragt man sich: Haben es denn schon alle Grünen verstanden, oder dauert es noch ein bisschen?
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Und auch bei der lieben FDP: Wenn es zum Schwur kommt, haben wir das Problem, nämlich wenn es um Einsatzmittel und um unsere Verfassungsschutznovelle geht.
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Der Kollege Strasser bezeichnete kürzlich das Verfassungsschutzgesetz der Großen Koalition als „absoluten Fehlgriff“.
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Wenn es um so dringend notwendige Befugnisse geht wie die Quellen-TKÜ, die Onlinedurchsuchung und die Telekommunikationsüberwachung, dann sperren sich doch fast alle Parteien in diesem Haus, mit wenigen Ausnahmen. Das ist etwas, was ich nicht nachvollziehen kann. Wenn man sich hierhinstellt und davon spricht, Polizei und Justiz zu stärken, dann muss man das auch mit konkreten Taten unterlegen und darf nicht immer nur schöne Sonntagsreden halten, meine Damen und Herren.
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Wenn wir von „Stärken der Polizei“ sprechen, dann meinen wir das konkret, auch zusammen mit unserem Koalitionspartner, indem wir 2 000 Richter und Staatsanwälte neu einstellen, 15 000 neue Polizisten für Bund und Länder, 64 Millionen Euro für geschützte Fahrzeuge bereitstellen, 650 neue Stellen beim Zoll, 3 900 Stellen im Zuständigkeitsbereich des BMI und der nachgeordneten Behörden.
Aber wir wollen noch mehr – lieber Herr Präsident, bitte geben Sie mir noch die 30 Sekunden –: Wir wollen das Gesetz weiter verschärfen, vor allen Dingen mit Fokus auf den Linksextremismus. Dort gibt es nämlich auch Feindeslisten. Die wollen wir in Zukunft unter Gefängnisstrafe stellen, wir wollen, dass Blockaden mit bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe geahndet werden können, und wir wollen, dass Widerstand und Angriffe gegen die Polizei mit drei bzw. sechs Monaten Freiheitsstrafe geahndet werden können. Das sind wir unseren Polizistinnen und Polizisten schuldig. Wir werden uns dafür einsetzen. Ich hoffe, dass wir uns dabei auf die breite Mehrheit des ganzen Hauses stützen können.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
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Für die Fraktion der SPD hat das Wort der Kollege Helge Lindh.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Dr. Curio war so frei, uns – wenn ich mich recht erinnere – die Kosten syrischer Gefährder und anderes aufzurechnen. Ich bin so frei, an dieser Stelle eine Rechnung in Auftrag zu geben, aus der hervorgeht, was Gefährderinnen und Gefährder der AfD in sämtlichen Parlamenten und Stadträten dieses Landes an Kosten verursachen.
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Ich bin gespannt auf das Gesamtergebnis.
Lassen Sie uns also über Freiheit und von Freiheit reden. Es gibt nicht nur die Freiheit von Unterdrückung und Gewalt, sondern es gibt eben auch die Freiheit zu etwas, zum Beispiel die Freiheit, zu demonstrieren. Ich glaube, nicht wenige, die hier, aber auch anderswo, auch in Leipzig, gewalttätig demonstriert haben, haben die damit einhergehende Verantwortung der Freiheit zu etwas nicht wirklich begriffen. Deshalb halte ich es für sinnvoll, mit den Begrifflichkeiten vorsichtig umzugehen, und rate der AfD und vielen anderen, die sich so mitfühlend über die Demonstranten hier in Berlin äußern, einen gewissen Perspektivenblick zu entwickeln.
Jüngst sprach ich mit Holger Fach – ihn kennen sicher einige –, dem ehemaligen Fußballnationalspieler. Er schilderte mir die Situation seiner Mutter. Sie ist hochbetagt, hat den Zweiten Weltkrieg erlebt und lebt jetzt isoliert in einer Alteneinrichtung. Sie hätte allen Grund, über ihre Freiheitsrechte zu sprechen; denn sie ist eine besonders Leidtragende der Maßnahmen aufgrund von Corona. Aber sie ist in voller Demut und hochdankbar dafür, in diesem Land leben zu können; denn sie weiß, was eine echte Diktatur gewesen ist und was Freiheit bedeutet. Sie findet es zutiefst zynisch, angesichts des derzeitigen Zustands die Frechheit zu besitzen, in diesem Land von einer „Coronadiktatur“ zu sprechen.
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– Ja, da kann man ruhig klatschen.
Ich erinnere an Syrer und Syrerinnen, mit denen ich vor ein paar Tagen gesprochen habe, die hier Unterschlupf gefunden haben und immer wieder dafür danken, dass sie hier in Freiheit leben können; denn sie haben vorher in einem Staat gelebt – dessen Führung unter Herrn Assad die AfD ja durchaus sehr schätzt –, in dem es so etwas wie Demonstrationsfreiheit, Freiheit der Meinungsäußerung oder Pressefreiheit nicht gab. Sie sind dankbar und stolz darauf, hier leben zu können. Sie hätten Grund, zu demonstrieren gegen das, was in ihrem Land und ihren Angehörigen passiert.
Ich erinnere in diesem Moment an jemand Drittes, der eigentlich jeden Tag Grund hätte, zu demonstrieren. Es handelt sich um eine 16-jährige Frau, die ich gestern interviewen durfte und die aufgrund dessen, dass sie Kopftuch trägt, schlimmste Diskriminierung bei der Praktikumssuche und vielem anderen erfährt und deren Leben überschattet ist von den Ereignissen des NSU und von Hanau. Sie ist stolz auf dieses Land und stolz auf diese Demokratie, und sie läuft nicht auf die Straße und behauptet, dieses Parlament sei Ausdruck von Unterdrückung, obwohl sie genug Grund hätte, sich über dieses Land aufzuregen. – Ich glaube, diese Perspektiven sind wichtig, um den Gesamtzusammenhang zu begreifen.
Ich bin auch der Meinung, dass wir sehr wohl die Pflicht haben, jede einzelne Maßnahme zur Einschränkung von Freiheits- und Bürgerrechten gut zu begründen, dass wir Fehler einsehen müssen, dass wir mehr als bisher klarstellen müssen, warum welche Entscheidungen gefällt werden, warum wir vielleicht auch Fehler gemacht haben und manchmal auch unsicher sind bei gesundheitspolitischen und sonstigen Maßnahmen. Aus der Perspektive einer selbstbewussten Demokratie bedeutet das aber auch, dass es eben nicht nur Bürgerrechte gibt, sondern auch Bürgerpflichten.
Ich finde es doch sehr erstaunlich, wie viele, die sich sonst aufregen, dass man mit Kriminellen so viel Mitgefühl hat, jetzt Tausende von Argumenten finden, warum die Personen, die hier in Berlin demonstriert haben, das Recht hätten, sich entsprechend zu äußern. Ich sage aber deutlich: Wer neben Leuten mit Reichsflaggen, neben Identitären, neben Völkischen, neben Hildmann und Co demonstriert, der betreibt Integrationspolitik für Nazis, und der macht Nazis in diesem Land hoffähig.
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Es gibt dafür keinerlei Rechtfertigung und auch keinerlei Entschuldigung. Es bringt überhaupt nichts, mimosenhaft Mitgefühl mit diesen Personen zu haben. Wer da läuft, weiß, was er tut und muss sich dafür verantworten.
Unser Maßstab kann nicht sein, zu sagen: Das ist nicht strafbar. Wenn wir uns immer nur an der Linie der Nichtstrafbarkeit bewegen würden, könnten wir diese Demokratie zumachen. Nein, jeder Einzelne hat eine Verantwortung, und die Debatte darüber vermisse ich. Der Skandal ist doch nicht allein, dass Hunderte oder Tausende Nazis demonstriert haben. Der Skandal ist, dass da Zehntausende mitdemonstriert haben, egal welcher weltanschaulicher Orientierung, und kein Problem damit hatten, das neben Reichsflaggen, Reichskriegsflaggen und Nazis zu tun. Das ist das Problem. Dafür brauchen wir einen Aufschrei.
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Denn es bedeutet, dass sich eine krude Mischung – ich nenne es: ein toxisches Gebräu – inmitten unserer Gesellschaft entwickelt.
Die heutige Aktuelle Stunde mit dem Titel „Keine Toleranz für die Feinde der Demokratie“ müsste eigentlich „Keine Toleranz für die Mitläufer der Feinde der Demokratie“ heißen; denn sie sind das eigentliche Problem. Wir müssen uns viel mehr als bisher diesen zuwenden und deutlich machen, dass sie verantwortungslos mit ihrer Freiheit umgehen.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am Ende der Aktuellen Stunde sind zwei Einsichten entscheidend: zum einen, dass in unserem Staat das Gewaltmonopol beim Staat liegt und dass Gewaltfreiheit die Grundlage jedes politischen Diskurses ist. Wer Gewaltfreiheit leugnet und wer versucht, mit Gewalt seine Meinung durchzusetzen, der stellt sich außerhalb der möglichen Diskursformen in unserer Demokratie, und das muss klar so benannt werden.
({0})
Und zum Zweiten: Wir müssen jeden Extremismus bekämpfen, gleich welcher Art und gleich welcher Herkunft. Extremismus gibt es in unterschiedlicher Form – Rechtsextremismus, Linksextremismus, Antisemitismus und Islamismus –, aber alle eint, dass sie Pluralismus verleugnen, die Freiheit negieren, die Demokratie abschaffen wollen und die Würde des Einzelnen angehen. Auch wenn im Augenblick der Rechtsextremismus die stärkste Bedrohung darstellt, so darf ein wehrhafter Rechtsstaat auch alle anderen Formen des Extremismus nicht vergessen, sondern er muss jede Form des Extremismus adressieren und bekämpfen, nachdrücklich und mit Energie.
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Ich will davor warnen, dass man sich im Diskurs immer nur auf eine Art von Extremismus konzentriert. Wenn wir über Linksextremismus sprechen, müssen wir über Linksextremismus sprechen und dürfen nicht mit dem Rechtsextremismus ablenken, und auch nicht umgekehrt. Wir dürfen auf keinem Auge blind sein für die Feinde unseres Landes.
Deswegen noch ein Satz zu Leipzig. Was in Leipzig passiert ist, war keine Form der akzeptablen Auseinandersetzung in unserem Staat.
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Wer aus einer Menge heraus mit Steinen auf Polizisten wirft, ist kein Aktivist und kein Demonstrant, sondern ein Gewalttäter, der vor Gericht gestellt werden muss. Keine andere Deutung ist möglich.
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Deswegen ist es gerade auch die Pflicht der Linken, sich eindeutig von diesen Gewaltexzessen zu distanzieren und dafür zu sorgen, dass im vorpolitischen Raum in Leipzig keine Melange entsteht, in der diese Art von Gewalt gedeihen kann.
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Wichtig ist ebenso – das sage ich den Kollegen der AfD –, dass das, was Sie hier vorgebracht haben, erschreckend und entlarvend zugleich war. Sie haben versucht, die Vorkommnisse auf der Treppe des Reichstagsgebäudes – der Kollege Curio hat von „Fake News“ gesprochen – zu einem Fototermin umzustilisieren. Frau Kollegin von Storch hat die Presse und die Kollegen hier im Deutschen Bundestag beschimpft. Dieser ganze Zusammenhang macht klar und deutlich, wo Sie stehen.
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Sie verteidigen Demonstranten mit einer Reichsflagge. Die Reichsflagge war schon in der Weimarer Zeit das Signal der antidemokratischen Rechten. Das Deutsche Reich, das Dritte Reich, der Beginn der Nazidiktatur, hat von 1933 bis 1945 die Reichsflagge zur Nationalflagge gemacht.
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Wenn Sie die Menschen verteidigen, die eine Reichsflagge vor dem Bundestag wehen lassen, wenn Sie die Presse beschimpfen und wenn Sie sich antiparlamentarisch verhalten, dann stellen Sie sich in die Tradition der Menschen, die bereits 1932 und 1933 die Demokratie bekämpft haben.
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Wir brauchen Wachsamkeit gegen Extremismus jeglicher Art. Das beginnt bei jedem Einzelnen. Das beginnt mit Respekt vor unserer Polizei. Das beginnt mit Respekt im demokratischen Diskurs. Das beginnt mit Prävention und Aufklärung in der Schule und letztlich mit der gemeinsamen Haltung, dass unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung, die Würde des Einzelnen, der Pluralismus, die Freiheit des anderen, unsere Demokratie ein hohes Gut sind, das wir verteidigen müssen gegen jede Form von Extremismus. Diese Geisteshaltung müssen wir jeden Tag erneut verteidigen.
Herzlichen Dank.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Aktuelle Stunde ist beendet.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ihnen liegt der Entwurf eines Zweiten Familienentlastungsgesetzes zur ersten Lesung vor, um – wie in unserem Koalitionsvertrag vereinbart – Familien weiter zu stärken, aber auch um Bürgerinnen und Bürger mit mittleren und unteren Einkommen finanziell besserzustellen. Dieser Gesetzentwurf enthält ein ganzes Bündel an Maßnahmen, die allesamt wichtige Impulse für das kommende Jahr setzen werden und zur Entlastung von rund 11,8 Milliarden Euro jährlich führen werden. Dazu gehört eine erneute Erhöhung des Kindergeldes. Wir haben es zum Sommer letzten Jahres bereits um 10 Euro pro Kind erhöht, und setzen das jetzt fort mit einer Erhöhung – wie versprochen – um 15 Euro pro Kind und Monat ab 1. Januar 2021.
({0})
Dazu gehört natürlich auch, dass der steuerliche Kinderfreibetrag um 576 Euro je Kind erhöht wird und dass der Einkommensteuertarif aktualisiert wird.
Eine weitere Aufgabe aus unserer Legislaturperiode, der wir uns gemeinsam verpflichtet fühlen, ist es aber auch, die Anpassung der pauschalen Steuerfreibeträge für Menschen mit Behinderung zu prüfen. Das Ergebnis legen wir Ihnen jetzt mit diesem Gesetzentwurf vor. Die Bundesregierung schlägt eine Erhöhung des Behinderten-Pauschbetrages vor, genau genommen eine Verdoppelung des Behinderten-Pauschbetrags, und das – man mag es sich kaum vorstellen – das erste Mal seit 45 Jahren.
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– Stimmt.
Dieser Vorschlag umfasst nicht nur die Verdoppelung der Behinderten-Pauschbeträge und die Verbesserung beim Pflege-Pauschbetrag, sondern auch ein Maßnahmebündel, um Bürgerinnen und Bürger mit Behinderung zu entlasten, die Verfahrensabläufe zu vereinfachen – „Entbürokratisierung“ ist ein Stichwort, das mir dazu einfällt –, damit die steuerliche Anerkennung insgesamt besser wird. Für mich und die Bundesregierung sind das allesamt Maßnahmen, die ein Signal des Respekts setzen.
({2})
Die vorliegenden Gesetzesvorhaben enthalten über das hinaus, was ich schon erwähnt habe, folgende Maßnahmen: Der Einkommensteuertarif wird für 2021 und 2022 überarbeitet, um die steuerliche Freistellung des Existenzminimums der steuerpflichtigen Bürgerinnen und Bürger sicherzustellen und darüber hinaus die Auswirkungen der sogenannten kalten Progression auszugleichen. Diese Maßnahmen berücksichtigen gleichzeitig die voraussichtlichen Ergebnisse des 13. Existenzminimumberichts und des Vierten Steuerprogressionsberichtes, die noch rechtzeitig vor Ende der parlamentarischen Beratungen und Gesetzgebungsverfahren vorliegen werden.
Die aus der Umsetzung der Berichtsvorgaben resultierenden Steuersenkungen werden damit im nächsten Jahr fällig und können damit sofort greifen. Der Gesetzentwurf wurde ausnahmsweise als besonders eilbedürftig im Sinne des Artikels 76 Absatz 2 Satz 4 des Grundgesetzes erklärt, um im Hinblick auf die erforderlichen IT-technischen Anpassungen – das Problem kennen wir ja bei unseren Gesetzesvorhaben – einen rechtzeitigen Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens noch in diesem Jahr gewährleisten zu können.
Meine Redezeit für die Regierung geht zu Ende. Ich bin sicher, dass in der nun folgenden Debatte der ersten Lesung alle Kollegen noch die Chance nutzen werden, um die Details auszuführen und um vor allen Dingen in einer guten konstruktiven Beratung ein, wie wir als Regierung finden, gutes Gesetz möglicherweise noch etwas besser zu machen.
Ich danke Ihnen allen für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. – Die nächste Rednerin ist für die Fraktion der AfD die Kollegin Franziska Gminder.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Die Frau Ministerin ist leider nicht mehr präsent. Meine Damen und Herren! Heute beraten wir das sogenannte Zweite Familienentlastungsgesetz. Es geht um die Anhebung des Kindergeldes und der Kinderfreibeträge zum 1. Januar 2021. Zur Erinnerung: Artikel 6 unseres Grundgesetzes besagt: „Ehe und Familien stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.“ Die Familie, bestehend aus Vater, Mutter und Kindern, ist die Keimzelle unseres Staates.
({0})
Leider vollziehen sich in Deutschland bereits seit Jahren eine Aufweichung dieses Artikels und ein Wandel des Familienbegriffes.
({1})
– Damals gab es gar keinen anderen Familienbegriff.
Der geplanten Anhebung des monatlichen Kindergeldes um 15 Euro stimmen wir zu, halten dies aber für ein Nasenwasser angesichts der Probleme, mit denen eine Familie mit Kindern heute konfrontiert ist. Im Gesetzestext erkenne ich nicht wirklich einen Abbau der kalten Progression. Von einer möglichen Anhebung der Existenzminima für steuerpflichtige Personen und ihre Kinder wird zwar gesprochen, jedoch schlägt bei einem Jahreseinkommen ab circa 56 000 Euro der Spitzensteuersatz mit 42 Prozent immer noch zu. Warum wird dieser Betrag nicht angehoben? Seit Jahren unverändert – ein Skandal!
({2})
Welche Maßnahmen können familienfördernd wirken? Zur Bekämpfung der demografischen Katastrophe muss die Familie ihre wirtschaftliche Einheit zurückgewinnen. Auch ein Alleinverdiener sollte eine Mehrkindfamilie mit seinem Einkommen versorgen können. Damit entfiele in vielen Fällen der Zwang, schon Kleinstkinder in Krippen quasi gleich nach der Geburt abzugeben. Die überwiegende Mehrheit der Mütter möchte ihre Kinder bis zum Alter von drei Jahren zu Hause selbst betreuen.
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Bedauerlicherweise wird dies sehr oft aus finanziellen Gründen verhindert. Berechnungen haben ergeben, dass die Kosten eines Krippen- bzw. Kindergartenplatzes für die Allgemeinheit bei circa 1 100 Euro pro Monat liegen.
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Das wäre gut investiertes Geld bei einer Mutter, die ihr Kind zu Hause selbst betreut.
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Die AfD setzt sich seit ihrem Bestehen für die Einführung eines Familiensplittings statt eines Ehegattensplittings ein. Die Eltern von heute sorgen gemäß Generationenvertrag für die Beitragszahler von morgen. Leider wächst die Zahl der Kinderlosen.
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– Könnten Sie mich ausreden lassen? Das wäre sehr nett.
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Sonst fragen Sie doch, ob Sie eine – –
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Liebe Kollegen, lassen Sie bitte Frau Gminder aussprechen.
Leider wächst die Zahl der Kinderlosen besonders unter Akademikerinnen, und dies schwächt die Zukunftsaussichten. Die Beitragsbemessung für Kranken-, Renten- und Pflegeversicherung sollte zu einer direkten Entlastung bei Familien mit Kindern führen; denn diese tragen überproportional zur Versicherung von Kinderlosen bei. Seit zehn Jahren liegen Elternklagen zu diesem Thema beim Bundessozialgericht in Kassel. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an Aussagen von Professor Jürgen Borchert, Sozialrichter aus Darmstadt; ich hoffe, er ist Ihnen bekannt.
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Die häusliche, durch die Familie getragene Fürsorge verdient als Familienarbeit sowohl für Kinder als auch für die Pflege der eigenen alten Eltern gesellschaftliche und sozialpolitische Anerkennung und Absicherung. Eine Anrechnungsfreistellung bei der Grundsicherung oder Wohneigentum tragen besonders zur Alterssicherheit bei. Die östlichen und baltischen Länder liegen hier mit einer Quote von 78 bis 96 Prozent an der Spitze. Deutschland mit circa 51,5 Prozent ist Vorletzter vor dem Schlusslicht, der Schweiz, wo es mit 42 Prozent noch schlechter um die Sache bestellt ist.
({1})
Ein Mittel zur Förderung von Wohneigentum war die Eigenheimzulage, die im Jahr 2006 leider abgeschafft wurde. Auch § 27b UStG – der Abschreibungsparagraf – fällt unter Tempi passati. Das Baukindergeld, beantragbar bei der KfW, das 2018 eingeführt wurde, war eine Entscheidung in die richtige Richtung.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende.
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Es kann aber auch keine Wunder bewirken.
Wir fordern die lineare Absenkung der Grunderwerbsteuer für Familien mit Kindern beim Immobilienkauf zur Selbstnutzung. Ab drei Kindern sollte sie ganz entfallen. Auch zinsbegünstigte Kredite zu diesem Zweck wären erwägenswert.
Frau Kollegin, bitte kommen Sie zum Ende – letzter Satz!
Die Unterbrechung wurde nicht gezählt, oder?
Die Zeit ist abgelaufen.
Bitte?
Die Zeit ist jetzt abgelaufen. Sie hatten vier Minuten.
Aber wenn ich doch immer unterbrochen werde. – Also, ich möchte einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz auf Produkte und Dienstleistungen des Kinderbedarfs und eine Absenkung des Steueranteils bei den Stromkosten für alle Beteiligten.
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So, Frau Kollegin, jetzt reicht’s!
Es gibt noch viel zu tun, um unseren Familien zu mehr Rechten zu verhelfen.
Vielen Dank.
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Die nächste Rednerin: für die CDU/CSU-Fraktion die Kollegin Antje Tillmann.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer! Liebe Zuhörer! Diese Legislaturperiode steht unter dem großen Themenschwerpunkt „Familienentlastung". Neben Investitionen in die Infrastruktur wie Kindergärten und Schulen haben wir uns vorgenommen, Familien auch finanziell deutlich zu entlasten. Einen wesentlichen Teil davon haben wir auch schon geschafft. Mit dem Starke-Familien-Gesetz haben wir 1 Milliarde Euro in den Kinderzuschlag gesteckt. Wir haben ihn auf 185 Euro pro Kind erhöht, und ab 2021 wird er jährlich angepasst. Deutlich mehr Alleinerziehende als früher erhalten nun den Kinderzuschlag, und das, obwohl die AfD Alleinerziehende nicht für Familien hält. Frau Gminder, seien Sie gewiss: Meine Tochter und ich sind eine glückliche Familie, und wir sind zufrieden mit unserer Situation.
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In der Coronakrise haben wir den Kinderzuschlag noch mal verbessert und die Zugangsvoraussetzungen noch mal erleichtert, sodass mittlerweile 2 Millionen Kinder Anspruch darauf haben. Das ist eine gute Entlastung für Familien. Damit aber nicht genug: Wir haben auch das Bildungs- und Teilhabepaket angepasst. Wir haben die Pauschale für den Schulbedarf noch einmal erhöht. Zu Beginn des Schuljahres konnten Eltern nunmehr auf 150 Euro für zusätzlichen Schulbedarf zurückgreifen. Wir haben es Kindern ermöglicht, für 15 Euro pro Monat zusätzlich Sport- und Kultureinrichtungen zu besuchen. Wir haben den Eigenanteil bei der Mittagsverpflegung und bei der Beförderung von Schul- und Kindergartenkindern wegfallen lassen. Zudem haben wir den Anspruch auf Lernförderung – das war zugegebenermaßen schon längst fällig – schon da angesetzt, wo Kinder Schwierigkeiten haben und nicht erst bei Versetzungsgefährdung.
Homeschooling hat dazu geführt, dass wir festgestellt haben, dass es Nachholbedarfe bei Kindern gibt, in deren Elternhäusern nicht ohne Weiteres ein Laptop aufgestellt wird. Wir geben 500 Millionen Euro aus, um auch diesen Kindern das Homeschooling zu ermöglichen. Aktuell wird der Kinderbonus ausgezahlt: zunächst 200 Euro und dann im Oktober noch mal 100 Euro. Das sind insgesamt 300 Euro pro Kind, die wir mit dem Investitionspaket des Corona-Steuerhilfegesetzes auf den Weg gebracht haben.
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Heute machen wir weiter mit dem Zweiten Familienentlastungsgesetz. Ich gebe zu: Die Namen der Gesetze werden weniger kreativ. Nach dem Starke-Familien-Gesetz und dem Gute-Kita-Gesetz sind wir jetzt bei dem bürokratisch klingenden Zweiten Familienentlastungsgesetz. Inhaltlich kann es sich jedoch sehen lassen: Wir geben 12 Milliarden Euro an die Familien zurück. Dabei hat das Kindergeld mit einer Erhöhung um 15 Euro pro Monat zum 1. Januar 2021 den größten Anteil. Das sind weitere 15 Euro, nachdem wir zum 1. Juli 2019 das Kindergeld schon mal um 10 Euro pro Monat erhöht hatten. Es steigt also für das erste Kind auf 219 Euro und ab dem vierten Kind sogar auf 250 Euro. Der Kinderfreibetrag wird entsprechend angepasst.
Ich weiß, dass die Opposition zum Kinderbonus gesagt hat, er habe nur Auswirkungen für Familien mit geringem Einkommen. Beim Kinderfreibetrag wird der andere Teil der Opposition gleich sagen, dieser begünstige die reicheren Familien. Daran können Sie erkennen, dass das Gesamtkonzept gerecht ist. Wir versuchen, alle Familien entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit zu unterstützen.
Ich habe sehr viel Verständnis für eine Debatte über einen Kindergrundbetrag. Das halte ich für eine charmante Diskussion. Ich beschäftige mich seit Jahren damit, weil ich es sehr gerne sähe, dass wir alle familienpolitischen Leistungen, die wir den Familien gegenüber erbringen, in einer Summe ausweisen und so den Familien sagen können, in welcher Größenordnung sie die Unterstützung der Gesellschaft erhalten.
Aber: Der Satz „Jedes Kind muss dem Staat gleich viel wert sein“ ist beim Kindergrundbetrag nicht zutreffend; das ist auch nicht gewollt. Denn natürlich soll es einen einheitlichen Kindergrundbetrag geben; aber dieser soll bei Familien mit höherem Einkommen abgeschmolzen werden. Das würde aber zu einem erheblichen bürokratischen Aufwand führen und ebenso dazu, dass es bei getrenntlebenden Eltern neben möglichen Erziehungsproblemen zu weiteren Streitigkeiten kommen kann.
Deshalb werden wir zunächst mit der Situation leben müssen, dass das Kindergeld und der Kinderfreibetrag als Entlastung für Kinder ganz wesentlich sind. Ich kann Ihnen versichern: Diese beiden miteinander zu vergleichen und zu dem Ergebnis zu kommen, dass bei gutverdienenden Eltern die Kinder mehr gefördert werden, ist einfach unredlich; denn Kinder mit gering verdienenden Eltern bekommen neben Regelsatz und Wohngeld das Kindergeld, den Kinderzuschlag, den Kinderbonus, den kostenlosen Kindergartenplatz und das Bildungs- und Teilhabepaket. Sie werden also durch die Gesellschaft deutlich stärker unterstützt als Kinder von Eltern, die sich durch eigenes Einkommen finanzieren können. Deshalb, glaube ich, können im Gesamtkonzept alle Seiten mit diesem Gesetz leben.
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Gleichzeitig werden wir den Behinderten-Pauschbetrag erhöhen. Erwerbstätige Behinderte haben schon lange darauf gewartet. Wir sind froh über jeden Menschen mit Beeinträchtigung, der einen Arbeitsplatz findet, und wir unterstützen das sehr. Aber natürlich kommen zusätzliche Kosten auf diese Menschen zu. Deshalb ist es gut, dass wir die Behinderten-Pauschbeträge auf 7 400 Euro verdoppeln, die Fahrkosten-Pauschbeträge einführen und die Situation im Falle der häuslichen Pflege verbessern werden. Auch das ist guter Teil dieses Gesetzes. Ich bin froh, dass es uns endlich gelungen ist, diese Entlastung herbeizuführen.
Abschließend möchte ich noch sagen: Das Existenzminimum und der Grundfreibetrag werden erneut erhöht. 2,4 Milliarden Euro geben wir den Menschen zurück. Das tun wir nun seit 2014 alle zwei Jahre, und wir werden es wieder tun. Die kalte Progression, also die schleichende Inflation beim Lohn, gibt es nicht mehr. Wir neutralisieren sie. Auch das wird mit diesem Gesetz gemacht.
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Alles in allem geben wir trotz der Coronasituation erhebliche Beträge aus Steuereinnahmen an die Bürgerinnen und Bürger weiter; denn wir sind der Meinung, dass es sinnvoll ist, das Geld bei den Menschen zu belassen. Sie wissen am besten, was sie damit machen, wie sie Investitionen anregen oder wie sie ihre Kinder unterstützen.
Es ist gut, dass wir das tun. Steuererhöhungsdebatten, die sich der eine oder andere im Moment ausdenkt, sind nicht unser Programm; das ist mit uns nicht zu machen. Wir bleiben weiter auf dem Weg der Entlastung der Bürgerinnen und Bürger und fangen heute mit den Familien an.
Danke.
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Für die FDP-Fraktion hat das Wort der Kollege Markus Herbrand.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Alle zwei Jahre erfreut sich die Koalition an einem Familienentlastungsgesetz, und alle zwei Jahre sieht die FDP das kritisch. Wir können uns da nicht so mitfreuen. Warum? Es handelt sich im Kern um minimalinvasive Eingriffe in unser Steuerrecht, die mit geringsten Entlastungen versehen sind und verfassungsmäßig im Grunde genommen schon geboten sind.
Wirtschafts- und finanzpolitisch wäre was ganz anderes geboten. Wir brauchen spürbare Entlastungen für kleine und mittlere Einkommen und eine Entrümpelung dieses überbürokratisierten Steuersystems.
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Ihnen fehlen einfach der Mut und auch der Wille zu diesen Entlastungen. Ich glaube, auch da weiß ich, warum: Sie benötigen einfach das Geld für immer weitere neue Ausgaben.
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Die SPD spricht sogar von Steuererhöhungen; die Kollegin sprach es an.
Zu den beiden Gesetzen:
Das Familienentlastungsgesetz beinhaltet die obligatorische Kindergelderhöhung, mit einer progressiven Entlastungswirkung versehen. Die Details dazu sind erläutert worden. Wir haben im Prinzip schon vor einem Jahr einen eigenen Antrag zur Entlastung von Familien im Steuerrecht hier eingereicht. Den werden wir an dieses Gesetz koppeln. Er ist etwas weiter gehend. Sie können sich ihn noch zu eigen machen.
Zur Erhöhung der Pauschbeträge für Behinderte. Da nehmen Sie eine alte Forderung der FDP mit auf; wir sind dabei. Die Verdopplung reicht natürlich im Kern gar nicht aus. Seit 1974 sind diese Pauschbeträge nicht mehr angepasst worden. Bei dem, was die Inflation sozusagen aufgefressen hat, reicht selbst die Verdopplung noch nicht aus. Aber es ist natürlich besser als nichts. Positiv bewerte ich auch, dass der Versuch unternommen wird, hier tatsächlich auch mal Bürokratie abzubauen.
Mein Fazit ist: Im Prinzip ist es Flickschusterei. Ihnen fehlt da ein Gesamtkonzept, was sowohl Entlastung als auch die Entbürokratisierung angeht. Diese Mutlosigkeit im Steuerrecht zieht sich wie ein roter Faden durch die Politik dieser Legislaturperiode.
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– Die FDP macht immer Alternativvorschläge zur Steuerpolitik. Ich kann Ihnen dazu einige Beispiele nennen. Das prominenteste betrifft sicherlich den Solidaritätszuschlag. Sie wollen davon gar nichts hören. Sie würden es ja gerne machen, und wir schlagen es permanent vor.
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Das Zweite ist die dringend notwendige Unternehmensteuerreform. Sie wollen davon gar nichts hören. Sie würden sie gerne machen. Wir haben sie schon längst vorgeschlagen.
Das Dritte. Sie haben sich entschieden, zur Bekämpfung der Pandemie eine temporäre Umsatzsteuerreduzierung einzuführen. Wir haben als Alternative eine dauerhafte strukturelle Entlastung durch die Abschaffung des Mittelstandsbauchs vorgeschlagen. Das ist wesentlich unbürokratischer. Man kann uns also nicht vorwerfen, dass wir nicht auch eigene Vorschläge einbringen. Das machen wir immer.
Wir werden die Beratungen zu diesem Gesetz selbstverständlich positiv begleiten. Wir freuen uns auf die Debatten im Ausschuss.
Herzlichen Dank.
({4})
Die Kollegin Katrin Werner hat das Wort für die Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Gesetz soll das Kindergeld ab 2021 um 15 Euro, also auf 219 Euro, erhöht werden. Sicherlich, das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Aber wissen Sie, dieser Schritt ist wieder viel zu klein, und leider geht er an den Kindern und Familien vorbei, die es am dringendsten benötigen. 2,8 Millionen Kinder in Deutschland wachsen in Armut auf, also jedes fünfte Kind. Kinderarmut ist in Deutschland ein Riesenproblem. Die derzeitige Krise wird diese Armut auch verschärfen.
Die Kindergelderhöhung ist daher wieder nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Wenn man auf die letzten 18 Jahre guckt: Da gab es eine Erhöhung um 50 Euro. Jahrelang verpennt die Politik, Familien und Kinder zu stärken. Jetzt feiert sie sich hier ganz groß. Da hilft es auch nichts, Frau Tillmann, wenn der Gesetzesname nicht mehr so ausschweifend ist, sondern jetzt vielleicht ein bisschen langweiliger wirkt. Auf den Inhalt kommt es an. Ganz ehrlich gesagt: Da muss eben weitaus mehr passieren als so eine kleine Erhöhung.
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Sie sprachen die kalte Progression an. Ja, die Kinderfreibeträge sollen angehoben werden, und die kalte Progression soll durch eine Rechtsverschiebung des Einkommensteuertarifs ausgeglichen werden. Das Ergebnis? Spitzenverdienerinnen und Spitzenverdiener mit oder ohne Kinder werden durch das Gesetz am meisten entlastet. Mit der Entlastung der Familien, die es am meisten benötigen, und dem Kampf gegen Kinderarmut hat das aber, sorry, nichts zu tun.
Die Tage war es wieder ein ganz großes Thema, und wir haben ja gerade auch über den Kinderbonus gesprochen. Für ärmere Familien ist er eben auch nur ein Trostpflaster. Bei Alleinerziehenden, die Unterhalt beziehen, kommt nur die Hälfte des Bonus an. Ich bitte Sie, das immer mit zu erwähnen. Man kann sich gerne feiern für Erfolge. Aber erwähnen Sie eben auch, was nicht passiert, und erwähnen Sie bitte auch, dass bei vielen Alleinerziehenden das eben nicht ankommt. Sie und ich sind in der super Lage, hier im Bundestag zu sein: Ja, wir profitieren auch von vielen Sachen. Aber für die Mehrheit der Alleinerziehenden da draußen sind 300 Euro oder zweimal 150 Euro Kinderbonus noch nicht mal ein Ausgleich für das, was in den letzten Monaten auf sie zukam.
Wir haben hier darüber gesprochen: Die Menschen haben Angst um ihre Jobs. Die Menschen können viele Dinge nicht bezahlen. Es gibt Tafeln, die nicht mehr geöffnet haben. Da reichen keine 300 Euro oder zweimal 150 Euro Kinderbonus und 15 Euro Kindergelderhöhung. Erhöhen Sie das Kindergeld endlich sofort auf 328 Euro. Dann tun Sie was für Kinder, dann tun Sie auch was für Familien, und so können Sie auch der Kinderarmut entgegenwirken.
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Um das auch noch zu erwähnen: Bei Hartz IV gibt es ja immer eine Anrechnung. Die kleine, minimale Erhöhung der Hartz-IV-Sätze hilft da auch nicht. Also, wenn Sie wirklich für Familien und gegen Armut etwas tun wollen, dann machen Sie den großen Wurf, und gehen Sie nicht so kleine Schritte. Es wurde irgendwann mal gesagt: „Wumms.“
Vielleicht ganz kurz noch ein paar Worte zum zweiten hier vorliegenden Gesetzentwurf.
Frau Kollegin, sehr kurz.
Die Erhöhung der Pauschbeträge für Menschen mit Behinderung haben nicht nur einige Fraktionen hier gefordert. Das haben Verbände, Organisationen jahrelang gefordert. Auch das ist wieder nur ein kleiner Schritt. Machen Sie die Tage einfach den nächsten Schritt, und schlagen Sie eine einkommens- und vermögensunabhängige persönliche Assistenz vor! Denn das wäre für viele Menschen mit Behinderung ein guter Anfang.
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Der Kollege Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Entlastung von Familien ist sehr richtig; aber man muss das sozial gerecht und richtig machen. Es ist in der Tat in diesem Gesetz wieder so wie üblich bei der Großen Koalition: Wir als Bundestagsabgeordnete werden stärker entlastet als Normalverdiener; Leute, die noch mehr verdienen, werden noch stärker entlastet; und wer am meisten verdient, wird am meisten entlastet.
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Das ist sozial ungerecht, und das könnte man besser machen.
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Wir haben dazu schon lange einen Vorschlag gemacht: die Kindergrundsicherung. Das funktioniert so, dass wir sagen: Der Kinderfreibetrag soll in einen Auszahlbetrag umgewandelt werden. Dieser Auszahlbetrag soll an die Kinder ausgezahlt werden, nicht mehr an die Eltern. Das wäre sozial gerecht und würde dazu führen, dass Menschen mit mittlerem Einkommen endlich so viel kriegen wie die Reichsten. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, um die Gerechtigkeitslücke an der Stelle endlich zu verkleinern.
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Zu der Kindergrundsicherung gehört dann auch, dass im unteren Bereich ein GarantiePlus-Betrag, wie wir ihn genannt haben, dazugehört, der einkommensabhängig ist, der aber automatisch ausgezahlt wird und nicht wie der jetzige Kinderzuschlag mit einem riesigen bürokratischen Brimborium an den meisten, die einen Anspruch darauf haben, vorbeigeht. Deswegen: automatische Auszahlung für die Menschen mit geringem Einkommen. Das würde nachhaltig auch Kinderarmut stärker verringern. So würde man Kinder und Familien am besten entlasten: mit einer Kindergrundsicherung, mit einem Garantiebetrag, mit dem wir sagen: „Jedes Kind ist uns gleich viel wert“, und mit einer stärkeren Unterstützung für untere Einkommen.
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Dass es geht, haben Sie bei dem Kinderbonus ja gezeigt; da erfolgt eine Verrechnung mit dem Kinderfreibetrag. Bei Hartz-IV-Beziehern wird der Kinderbonus nicht angerechnet. Da haben Sie was Richtiges gemacht. Aber – Frau Tillmann hat es ja eben schon gesagt – das war anscheinend ein Ausrutscher;
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jetzt wird es wieder ausgeglichen. Die Reichen kriegen jetzt wieder mehr, und die Armen kriegen nichts. Liebe SPD, sozialer Ausgleich geht anders als so, wie Sie das jetzt hier machen.
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Zum Schluss noch zwei Sätze zu dem zweiten Gesetzentwurf, der hier vorliegt: Verdopplung des Behinderten-Pauschbetrags – das klingt gut, ist auch erst mal gut. Aber – es ist schon gesagt worden – das erste Mal angepasst seit 1974, das ist definitiv zu wenig. Also, wenn die FDP schon sagt: „Das ist zu wenig“, dann ist das wohl sehr, sehr überzeugend.
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Es ist trotzdem richtig, ihn zu verdoppeln; das werden wir auch unterstützen. Aber auch hier gibt es natürlich die gleiche Schieflage: Wer mehr verdient, hat mehr von diesem Pauschbetrag. Deswegen wäre es mindestens sinnvoll, das als Abzugsbetrag von der Steuerlast zu implementieren oder – das wäre noch besser – endlich ein Teilhabegeld einzuführen, wie wir Grünen das schon seit Langem fordern.
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Also: Es gibt bessere Alternativen zu den Gesetzentwürfen, die vorliegen, und diese besseren Alternativen sind grün.
Vielen Dank.
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Für die SPD-Fraktion spricht nun die Kollegin Dr. Wiebke Esdar.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir bringen heute zwei Gesetze ein, mit denen wir alle Menschen, die Einkommensteuer zahlen, entlasten. Wir wollen uns aber darüber hinaus auf drei besondere Zielgruppen fokussieren:
Erstens wird das Zweite Familienentlastungsgesetz rund 12 Milliarden Euro Entlastung für Familien bringen.
Zweitens wollen wir mit dem Behinderten-Pauschbetragsgesetz die rund 10 Millionen Menschen in Deutschland mit Behinderungen entlasten.
Drittens werden wir auch ihre Angehörigen, die pflegenden Angehörigen, mit dem Behinderten-Pauschbetragsgesetz entlasten.
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Konkrete Beispiele aus dem Gesetz: Wir werden durch die Anhebung des steuerlichen Grundfreibetrages alle Menschen, die Einkommensteuer zahlen, in zwei Stufen bis 2022 entlasten, und wir werden mit der Eckwerteverschiebung die kalte Progression wieder vollkommen ausgleichen, sodass die Lohnsteigerungen, die es gibt, auch wirklich im Portemonnaie der Menschen ankommen.
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Für Familien werden wir jetzt in einem zweiten Schritt das Kindergeld um weitere 15 Euro erhöhen – das sind dann insgesamt die 25 Euro, die wir im Koalitionsvertrag versprochen haben –, und wir werden auch den Kinderfreibetrag entsprechend anpassen.
Für Menschen mit Behinderungen werden wir – das muss man eingestehen –, nachdem sie lange, vielleicht zu lange darauf gewartet haben – das können wir selbstkritisch sagen –, den Behinderten-Pauschbetrag verdoppeln. Wir werden zudem einen neuen behinderungsbedingten Fahrtkostenpauschbetrag einführen, der das komplizierte Belegesammeln beendet.
Als Drittes werden wir die pflegenden Angehörigen in den Blick nehmen, und wir werden den Pflege-Pauschbetrag für diejenigen, die Personen des Grades 4 und 5 pflegen, nahezu verdoppeln. Wir führen neu ein, dass es einen Pauschbetrag für Pflegende bei den Graden 2 und 3 gibt. Das ist ein Punkt, der mir besonders wichtig ist, weil wir diese Menschen, die Enormes leisten, wirklich in den Blick nehmen müssen.
Wir feiern in dieser Woche in Bielefeld zum fünften Mal die „Woche der pflegenden Angehörigen“. Da geht es darum, für das Thema „häusliche Pflege“ zu sensibilisieren. Da geht es darum, dass wir dort Wertschätzung ausdrücken. Sie bekommen in dieser Woche – coronabedingt etwas anders – ein Galadinner; es gibt Überraschungspakete, auch Wellnessangebote.
Aber Politik muss Wertschätzung auch finanziell abbilden, wir müssen Wertschätzung auch finanziell ausdrücken. Das tut dieses Gesetz, und darum ist es enorm wichtig für die Menschen. Wir haben mit dem Gesetz auch im Blick, dass diese Menschen zeitlich stark belastet sind, und darum werden wir sie bei der Bürokratie auch weiter entlasten.
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So haben wir heute in erster Lesung zwei Gesetze vorliegen, die wir jetzt zügig beraten werden. Darum freue ich mich auf den Austausch in den Anhörungen und im Ausschuss.
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Johannes Steiniger, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den letzten Wochen und Monaten haben die Menschen in Deutschland gesehen, auf wen sie sich, wenn es drauf ankommt, verlassen können, wer, wenn es drauf ankommt, in der Krise seriöse Politik macht: Das ist diese Große Koalition. Die Menschen merken, dass wir bisher gut durch diese Krise, in der wir ja immer noch drin sind, gekommen sind – einerseits im gesundheitlichen Bereich, aber auch im wirtschaftlichen Bereich.
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Aber das ist nicht nur in der Krise so, sondern die Menschen in Deutschland können sich auch im politischen Tagesgeschäft auf uns verlassen. Auch da ist Verlässlichkeit ein Kennzeichen unserer Koalition. Man muss die Große Koalition nicht lieben – auch ich tue das nicht. Aber wenn man sich mal anschaut, was wir uns im Koalitionsvertrag vorgenommen haben und was wir jetzt sehr seriös hier im Deutschen Bundestag miteinander verabreden und abarbeiten, dann kann man sagen: Die Menschen in Deutschland können sich auf uns verlassen.
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Versprechen einzuhalten, das ist relativ einfach jenseits schwieriger Zeiten. Aber wenn es in die Krise geht, dann zeigt sich der Charakter von Politik. Wir sagen ganz klar: Unsere Prioritäten bleiben gleich. Das ist das Thema Familie, und das ist das Thema Entlastung. Wir haben im Koalitionsvertrag versprochen, dass wir das Kindergeld um 25 Euro pro Monat erhöhen. Wir erfüllen das Versprechen mit diesem Gesetz. Wir haben im Koalitionsvertrag versprochen, dass wir die kalte Progression ausgleichen. Das machen wir mit diesem Gesetz. Wir haben im Koalitionsvertrag noch etwas passiv gesagt: Den Behinderten-Pauschbetrag wollen wir anpassen. Jetzt – ich finde das gut – machen wir das in einer enormen Art und Weise.
Ich möchte schon mal sagen: Bei einem Entlastungsvolumen von mehr als 12 Milliarden Euro von „minimalinvasiv“ zu sprechen, lieber Kollege Herbrand, das trifft die Sache natürlich nicht. Das ist ja mehr als das, was Sie von uns an Entlastung im Bereich des Solidaritätszuschlags fordern.
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Unsere Sprecherin Antje Tillmann hat vorhin gesagt: Der Name des Gesetzes wäre nicht so schön, wie das vielleicht sonst an anderer Stelle ist. – Finde ich eigentlich gar nicht. Ich finde, der Name „Familienentlastungsgesetz“ zeigt genau die Prioritäten, die wir als CDU/CSU-Fraktion, aber auch innerhalb der Großen Koalition haben. Denn wir wollen Familien in den Fokus stellen, Priorität für Familien und Priorität für Entlastung.
Im Nachhinein muss man schon sagen: In den Monaten, in denen wir große Einschränkungen hatten – Kitas zu, Schulen zu –, da waren Familien die Leidtragenden. Ich lese Ihnen mal eine WhatsApp-Nachricht vor, die mich Mitte April nachts um 1.20 Uhr erreicht hat, wo mir eine verzweifelte Mutter schreibt: Lieber Johannes, es ist 1.20 Uhr nachts. Ich habe hier bis eben gearbeitet, morgen ab 7 Uhr bis 14 Uhr betreue ich dann die Kinder, und dann arbeite ich weiter bis 20.00 Uhr.
Wir müssen schon, wenn wir dann in ein paar Monaten auf die Krise zurückschauen, evaluieren: „Was war gut, was war schlecht?“, und werden dann feststellen: Die Kitas und die Schulen in Deutschland waren zu lange zu. Und egal was in den nächsten Monaten auch in Richtung Winter passiert: Wir wollen die Schulen und die Kitas in Deutschland nicht mehr flächendeckend zumachen.
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Beim Jonglieren zwischen Homeoffice auf der einen Seite, Betreuung auf der anderen Seite, verbunden mit dem Thema „finanzielle Sorgen“, Stichwort „Kurzarbeitergeld“, da haben Familien in Deutschland Übermenschliches geleistet.
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Deswegen setzen wir hier eine Priorität, indem wir sagen: Die erste Stufe der Entlastung war der Kinderbonus in Höhe von 300 Euro, die ab jetzt ausgezahlt werden; richtig gut, 4,3 Milliarden Euro Entlastung. Und wir zünden jetzt die zweite Entlastungsstufe, indem wir sagen: Das Kindergeld wird noch einmal um 15 Euro erhöht, der Kinderfreibetrag entsprechend auch.
Jetzt hätte ich gerne der Frau Gminder erklärt, was die kalte Progression ist,
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weil sie ja gesagt hat, sie kann das in diesem Gesetz nicht sehen. Jetzt ist die Frau Gminder gar nicht mehr da, und zwar schon seit 25 Minuten nicht. Ich muss ich Ihnen sagen, meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen: Hierherzukommen, seine Rede abzulesen, dann abzuhauen, hat mit Bürgerlichkeit an keinster Stelle etwas zu tun.
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Zum zweiten Punkt: Entlastung. Es fragen uns ja viele Menschen: Wie kommen wir jetzt aus der Krise? Aus meiner Sicht nicht dadurch, dass wir sagen: „Höhere Steuern, mehr Schulden, mehr Vorschriften“,
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sondern indem wir sagen: Entlastung für die Bürgerinnen und Bürger.
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Wir haben hier als Unionsfraktion einige Vorschläge unterbreitet – das Thema Unternehmensteuerreform ist beispielsweise eines –,
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weil wir sagen müssen: Wir wollen die Wachstumskräfte in Deutschland entfesseln.
Vielleicht ein Hinweis an die Kolleginnen und Kollegen aus dem Finanzausschuss: Wir sollten diese Seriosität, mit der wir arbeiten, auch in die nächsten zwölf Monate mit reinbringen, keinen Wahlkampf machen, sondern für die Menschen in Deutschland und für Entlastung in Deutschland arbeiten.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kollegen! Drei Tage lang konnten Linksextremisten in Leipzig-Connewitz ihre Gewaltexzesse zelebrieren. Drei Tage lang beschädigten sie Gebäude mit Steinen und Brandsätzen, lockten Polizeibeamte in Hinterhalte und bewarfen sie mit Flaschen und Steinen. 20 Beamte wurden dabei verletzt. Für dieses Wochenende erwarten die Behörden weitere Ausschreitungen. Die Verantwortlichen sind nicht in der Lage, diesen mehrtägigen linken Gewaltexzessen Einhalt zu gebieten. Das ist eines Rechtsstaates unwürdig.
({0})
Dabei ist schon lange bekannt, dass Leipzig ein enormes Linksextremismusproblem hat. In Connewitz greifen Linksextremisten regelmäßig Polizisten an und verwüsten den Polizeiposten.
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Sie verüben Brandanschläge und sind sogar in die Privatwohnung einer Immobilienmanagerin eingedrungen, um die Frau anzugreifen. Seit 2014 Woche für Woche linksextremistische Gewalttaten und keine wirksame Gegenreaktion des Staates! Das ist staatliches Totalversagen, und die AfD ist nicht bereit, das weiter hinzunehmen.
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Die Eskalationen finden ja nicht nur in Sachsen statt. In Stuttgart haben Linksextremisten einen Mordanschlag auf einen Coronademonstranten verübt. Erst nach Monaten ist der Mann mit bleibenden Schäden aus dem Koma erwacht. Der Verfassungsschutz Baden-Württemberg sieht in solchen gezielten Attacken eine neue Qualität linker Gewalt. Laut Bundesamt für Verfassungsschutz sind ähnliche „Radikalisierungstendenzen“ in der linken Szene „bundesweit erkennbar“. In Leipzig besteht durchaus – ich zitiere hier das BfV – „die Gefahr der Herausbildung terroristischer Strukturen“.
Diese Entwicklung ist verheerend für unsere Demokratie, für unsere Polizisten, die das Hauptziel linksextremistischer Attacken darstellen, aber auch für jeden Bürger in unserem Land. Deshalb müssen wir jetzt endlich entschlossen handeln und den Linksextremismus in unserem Lande stoppen. Wir dürfen nicht zulassen, dass Linksextremismus im ganzen Land zu Linksterrorismus wird.
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Aber die Fraktionen in diesem Hause tun genau das Gegenteil.
SPD-Chefin Esken macht sich auf Twitter offen mit der gewalttätigen Antifa gemein. Renate Künast von den Grünen fordert im Bundestag für diese Gewalttäter sogar „eine verlässliche Finanzierung“.
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Die Linkspartei unterstützt linksextreme Strukturen in Leipzig. Ihre parteinahe Stiftung fördert einen Jugendkongress der Antifa, und ihre Parteijugend verteilt zu den Ausschreitungen in Leipzig Flyer, auf denen steht: „Advent, Advent … ein Bulle brennt!“. Diese menschenverachtende Hetze ist eine Schande. Sie sind Feinde unserer Polizei. Sie sind Feinde unserer Demokratie, und Sie gehören nicht in dieses Parlament.
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Sehr geehrte Damen und Herren von der Union, Sie haben in Mecklenburg-Vorpommern eine Linksextremistin zur Verfassungsrichterin gemacht, und in Thüringen haben Sie der Rechtsnachfolgerin der Mauermörderpartei sogar mit demokratisch fragwürdigen Mitteln an die Regierung verholfen.
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Das zeigt jedem Bürger ganz klar: Selbst die Union unterstützt Linksextremisten, wenn es ihr opportun erscheint und ihrem eigenen Vorteil dient. Konrad Adenauer dreht sich im Grabe um!
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Die Polizisten, die tagtäglich Ihr Politikversagen ausbaden müssen, sind gezwungen, sich aus diesem Hohen Haus ständig völlig halt- und substanzlose Rassismusvorwürfe anzuhören. Glauben Sie mir: Das wird kein Polizist vergessen.
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Schenken Sie sich Ihre heuchlerische Symbolpolitik wie am gestrigen Tage. Schöne Worte haben die Kollegen genug gehört. Was die Kollegen brauchen, ist ein klares Bekenntnis zu klaren Taten, die auch Wirkung zeigen, Taten, die Linksextremismus endlich wirksam bekämpfen. Genau dazu dient unser Antrag.
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Deeskalation ist bei gewalttätigen Extremisten völlig fehl am Platz. Wir brauchen endlich bundesweit eine klare Null-Toleranz-Vorgabe an alle Sicherheitskräfte. Gewaltexzesse wie in Leipzig sind mit robustem Zwangsmitteleinsatz schnell und konsequent zu beenden. Schluss mit dem Kuschelkurs gegenüber Linksextremisten. Wir müssen linke No-go-Areas auflösen. Alle besetzten Häuser sind unverzüglich zu räumen und Ausweichbewegungen zu unterbinden. Wir dürfen nicht länger zulassen, dass Linksextremisten mit staatlichen Geldern finanziert werden, sondern müssen diesen Sumpf trockenlegen. Es muss endlich Schluss sein mit der Schieflage bei der Extremismusbekämpfung.
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Dieser Staat, verehrte Kollegen, steht am Scheideweg: Wird er weiter zulassen, dass sich Linksextremisten nahezu ungehindert ausbreiten und unsere Demokratie zerstören, oder schafft er es, diese Staatsfeinde endlich ein für alle Mal in ihre Schranken zu weisen? Wählen Sie den zweiten, wählen Sie den demokratischen Weg! Stimmen Sie unserem Antrag zu.
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Das Wort hat der Kollege Christoph Bernstiel für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ja, auch ein blindes Huhn findet mal ein Korn. Insofern wundert es mich nicht, dass es auch der AfD mal gelungen ist, tatsächlich ein paar Dinge anzusprechen, die in unserem Land verkehrt laufen.
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Das Thema Linksextremismus beschäftigt uns nicht erst, seitdem es die AfD hier im Deutschen Bundestag gibt. Nein, wir beschäftigen uns schon sehr lange damit.
({1})
Es ist natürlich ein Problem, wenn wir in Leipzig marodierende Banden haben, autonome Linksextremisten, wenn die Polizei angegriffen wird. Da gibt es nichts schönzureden, und wir gehen auch dagegen vor.
Allerdings kommt man nicht umhin, zu sagen, lieber Herr Hess: Aktuell ist es in unserem Land nun mal der Rechtsextremismus, der die größte Gefahr für unsere Demokratie ist. Es ist richtig, nicht das eine mit dem anderen zu vergleichen.
({2})
Aber es ist auch falsch, wenn man immer nur auf den Linksextremismus schaut und nie die gleiche Initiative ergreift hinsichtlich des Rechtsextremismus Ihrer Partei.
({3})
Für uns als CDU beziehungsweise als Union – ich begrüße meine CSU-Kollegen – ist es natürlich wichtig, alle Phänomenbereiche im Blick zu haben. Das wurde heute in den Debatten schon deutlich. Das bedeutet: Nur weil wir noch keine linksextreme Bewegung haben, die mordend durch die Lande zieht, heißt das noch lange nicht, dass diese Gefahr nicht existiert; denn der aktuelle Verfassungsschutzbericht zeichnet ein ganz klares Bild.
({4})
Schauen wir uns die Zahl der Gewalttaten an: Die Gewalttaten der Linksextremisten und der Rechtsextremisten sind leider fast auf gleicher Höhe. Wir haben auch eine zunehmende Tendenz bei den Tötungsversuchen in den letzten vier Jahren: 33 im Bereich des Rechtsextremismus, 11 im Bereich des Linksextremismus. Das ist etwas, was wir nicht ignorieren können.
Meine Damen und Herren, wir können auch nicht warten, bis sich eine zweite RAF gebildet hat,
({5})
und wir können auch nicht warten, bis sich das, was auf dem Breitscheidplatz passiert ist, wiederholt. Als verantwortliche Demokraten und als Mittler der Sicherheitsbehörden muss es unser Interesse sein, alle Extremismusformen gleichermaßen zu bekämpfen, und dazu gehört der schon häufig genannte 360-Grad-Blick. Da brauchen wir von Ihnen tatsächlich keine Belehrungsversuche.
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Einen Punkt möchte ich noch ansprechen. Wenn es um das Phänomen des Linksextremismus geht, dann müssen wir auch über das gesellschaftliche Klima reden, in dem er blüht. Denn leider ist auch eine Wahrheit: Wenn es rechtsextremistische Ausfälle gibt, dann gibt es ein breites Spektrum in der Bevölkerung, auch in den Medien, das ganz klar, deutlich und teilweise auch vorschnell verurteilt und sich mit neuen Forderungen überbietet. Gibt es linksextreme Gewalt, vermisse ich die eindeutige Verurteilung dieser Gewalt, dieser Angriffe auf Polizisten, auch auf Gegenstände, auf einzelne Personen. Ich vermisse auch ein gesellschaftliches Klima, das ganz klar diesen Linksextremismus ächtet und auch mal Ross und Reiter benennt. Da gibt es tatsächlich noch eine Baustelle.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, Sie wissen, wenn es um Linksextremismus geht, dann müssen Sie natürlich auch erwähnt werden.
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Insofern finde ich es ein wenig schwierig, dass Ihre neue Bewerberin um den Parteivorsitz, die Frau Hennig-Wellsow, erst kürzlich ausgetreten ist aus den vom Verfassungsschutz beobachteten Plattformen marx21 und „Sozialistische Linke“.
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Sie sagt selbst, dass sie in diesen strittigen und zum Teil linksextremen Plattformen nicht länger mitarbeiten kann, wenn sie sich für ein höheres Amt bewirbt und mit diesem Amt auch rechnet.
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Es ist doch kein klares Zeichen, wenn selbst Ihre designierte Parteivorsitzende den Plattformen, die Sie noch mit unterstützen, die demokratische Legitimation abspricht.
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Also bitte, denken Sie doch mal darüber nach, und helfen Sie mit, den Linksextremismus endlich genauso zu verurteilen wie jede Form von menschenverachtender Ideologie bzw. einer Ideologie, die Gewaltbereitschaft gegenüber unserem Staat rechtfertigt.
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Zum Abschluss noch ein kurzer Satz. Herr Hess, Ihr Antrag beschäftigt sich ja auch mit den sogenannten Distanz-Elektroimpulsgeräten, besser bekannt als Taser. Ich komme nicht umhin, ich muss das einfach mal vorlesen. Sie haben ja zwei Anträge gestellt. Der erste Antrag heißt: „Null Toleranz statt Deeskalation“, darin sprechen sie von – ich zitiere – „Entschlossenheit zu einer konsequenten und robusten Durchsetzung von Recht und Ordnung“, unter anderem durch Anpassung des Zwangsmittels. So. Und gleichzeitig fordern Sie Taser. Machen Sie es das nächste Mal doch ein bisschen einfacher und transparenter, schreiben Sie doch einfach, dass Sie Linksextremisten tasern wollen und dass das Ihr Verständnis von rechtsstaatlichem Schutz unserer Demokratie ist.
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Dann haben wir es hier ein bisschen einfacher und sparen uns auch kostbare Debattenzeit.
Vielen herzlichen Dank.
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Die nächste Rednerin ist für die Fraktion der FDP die Kollegin Linda Teuteberg.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben es vorhin in der Aktuellen Stunde schon ausführlicher besprochen: Unser freiheitlicher Rechtsstaat darf auf keinem Auge blind sein; er muss mit jedem Auge scharf sehen, den 360-Grad-Blick auf jede Form des Extremismus haben, und so natürlich auch auf den Linksextremismus.
Nun ist allerdings der Titel dieses Antrages schon verstörend: „Null Toleranz statt Deeskalation“. Deeskalation ist natürlich immer insofern richtig, als es gilt, Verletzte zu vermeiden, möglichst wenig Schaden zu haben. Aber klar ist auch: Das Recht darf dem Unrecht nicht weichen. Und wenn es verhältnismäßig ist, dann muss und darf die Polizei auch Gewalt einsetzen, um Recht durchzusetzen. Also, das ist ein falscher Gegensatz, den Sie hier in Ihrem Antrag aufmachen. Die Polizei muss sich an Recht und Gesetz halten, aber zu deren Durchsetzung darf sie eben auch das staatliche Gewaltmonopol ausüben. Darum geht es in dieser Debatte.
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Gleichzeitig ist es allerdings noch einmal wichtig, zu betonen, dass es eben keine ethische Überlegenheit irgendeiner Variante des gewaltbereiten Extremismus gibt, auch nicht des Extremismus von links. Niemand in unserem Land darf sich Gewalt bedienen, um seine politischen Ziele durchzusetzen. Das gilt es, immer wieder zu verteidigen bzw. zu betonen. Deshalb ist es natürlich notwendig, dass wir dafür sorgen, dass niemand, der zum Beispiel öffentlich gefördert den einen Extremismus bekämpft, zugleich den anderen fördert. Wir müssen genau in Augenschein nehmen und prüfen, wofür öffentliche Gelder eingesetzt werden.
Und wir brauchen vor allem eine gute Ausstattung unserer Polizistinnen und Polizisten, die unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung verteidigen, und müssen ihnen den Rücken stärken.
({1})
Ich bin mir sicher, dass sie dabei keine Unterstützung von falscher Seite wollen, sondern einfach wollen, dass wir als Politik ihnen in entscheidenden Situationen nicht von außen Ratschläge erteilen, sondern das Vertrauen in sie stärken, dass sie nach Recht und Gesetz handeln.
Wir brauchen allerdings auch eine Debatte darüber, dass unsere Verfassung als Ganzes gilt. In der Debatte um Extremismus oder um falsche Toleranz für manche kriminellen Handlungen wird gerne mal so getan, als sei zum Beispiel die Eigentumsgarantie unseres Grundgesetzes nicht auch Teil der Grundrechte unseres Grundgesetzes. Insofern möchte ich sagen: Wer sich als Verfassungspatriot sieht, muss auch alle Grundrechte unseres Grundgesetzes verteidigen; dazu gehören zum Beispiel auch Eigentums- und Berufsfreiheit.
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Da darf es insofern keine Rosinenpickerei geben. Vielmehr muss die freiheitlich-demokratische Grundordnung als Ganzes verteidigt werden. Das gilt nach allen Seiten. Dafür werden wir weiter streiten.
Vielen Dank.
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Der nächste Redner ist für die Fraktion der SPD der Kollege Uli Grötsch.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Und täglich grüßt das Murmeltier“,
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das habe ich mir gedacht, als ich Ihren Antrag diese Woche dann noch bekommen habe. Wir wissen ja, dass Sie sich gerne einen bürgerlichen Anstrich geben, und so eben auch in diesem vorliegenden Antrag. Aber Ihre Fassade bröckelt, und ich erkläre Ihnen gerne, wie ich zu dieser Annahme komme.
Erstens. Sie geben vor, auf der Seite der Polizei zu stehen, aber Ihr Respekt für unsere Polizei geht offenbar nicht so weit, dass Sie während der gestrigen Ehrung der drei Polizeibeamten wie alle anderen Abgeordneten von Ihren Plätzen aufstehen.
({1})
Ich sage Ihnen: Das ist einfach nur schäbig und unverschämt.
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Sie wollen für Recht und Ordnung eintreten, aber bei Ihnen gibt es überdurchschnittlich viele strafrechtliche und dienstrechtliche Ermittlungen.
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Fast jeder zehnte AfD-Abgeordnete – merken Sie sich diese Zahl: fast jeder zehnte AfD-Abgeordnete! – ist selbst polizeibekannt. Die Bandbreite reicht von Betrug, Untreue, Meineid, Steuerhinterziehung, sexueller Nötigung – ich brauche noch eine Hand, zum Weiterzählen –, Beihilfe zur gefährlichen Körperverletzung, Volksverhetzung, Beleidigung. „Wer im Glashaus sitzt …“, sage ich Ihnen nur.
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Zweitens. Sie sagen, Sie wollen, dass Linksextremismus, Rechtsextremismus und Islamismus von unseren Sicherheitsbehörden gleich behandelt werden. Dennoch arbeiten Sie sich fast ausschließlich in Ihren Anträgen am Linksextremismus und Islamismus ab. Unser größtes Programm zur Extremismusbekämpfung „Demokratie leben!“ wollen Sie sogar abschaffen. Dabei schreiben Sie selbst: Gewalt bleibt Gewalt, egal aus welcher Richtung. – Wenn Sie das so meinen, wo ist denn Ihr Antrag zur Bekämpfung des Rechtsextremismus? Die Wahrheit ist nämlich: Nach dem Terroranschlag von Hanau wollte der AfD-Vizepräsident im Brandenburger Parlament sogar eine Aktuelle Stunde zu diesem Terroranschlag verhindern.
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Wir haben laut Verfassungsschutzbericht 2019 so viele bekannte Rechtsextremisten in Deutschland wie noch nie. Und alle hier im Haus sind sich doch einig, dass vom Rechtsextremismus die größte Gefahr ausgeht – nur die AfD nicht! Sie ist offenbar auf dem rechten Auge total blind.
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Drittens. Sie sagen, Sie wollen, dass sich jeder in diesem Land an Recht und Ordnung hält – das wollen wir doch alle –, aber selber beschäftigen Sie eine ganze Reihe verurteilter Straftäter vom Geld der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in Ihren Reihen, in Ihrer Fraktion, in Ihren Büros. Und apropos Geld der Steuerzahler: Sie haben mehrfach illegale Wahlkampfspenden aus dem Ausland angenommen, aus dunklen Kanälen, woher auch immer und weigern sich, Ihre Spender zu nennen.
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Ich nenne das Doppelmoral. Von wegen Recht und Ordnung!
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Viertens und letztens, Herr Präsident. Sie richten den Scheinwerfer gerade auf Migranten und Flüchtlinge. Weder der Antisemitismus noch Messerattacken sind importierte Probleme. Fast alle antisemitischen Straftaten wurden von Rechtsextremisten begangen, und die Messerstecher, von denen Sie gerne berichten, haben deutsche Vornamen. Wollen Sie raten? Michael ist der häufigste. Das haben Sie im Saarland selber nachgefragt, weil Sie sich eine andere Antwort erhofft haben.
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Ihr Freitaler AfD-Stadtrat wurde vor einigen Wochen verurteilt; er war natürlich schon dutzendfach vorbestraft, unter anderem wegen Zuhälterei. Diesmal wurde er verurteilt, weil er behauptet hatte, mehrfach von Ausländern überfallen worden zu sein. Das stimmte natürlich gar nicht. Das wird Sie nicht überraschen.
Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.
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Und ich komme zum Ende und sage: Alles frei erfunden. In Brandenburg bekam die AfD sogar Schützenhilfe von einem rechten Verein, der im Wahlkampf Überfälle durch Migranten erfand, was dann im Nachhinein korrigiert werden musste. Sie lügen, dass sich die Balken biegen, –
So, jetzt ist’s gut.
– auch in Ihrem Antrag.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Für die Fraktion Die Linke hat das Wort der Kollege Dr. André Hahn.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gewalt darf in unserem Land kein Mittel der politischen Auseinandersetzung sein, und dabei spielt es überhaupt keine Rolle, von welchem politischen Spektrum sie ausgeht.
({0})
Und wenn nun allerdings die AfD das Thema Linksextremismus auf die Tagesordnung setzt, dann versucht sie vor allem, die Gefahr von rechts zu relativieren.
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Rechtsextreme bedrohen engagierte Bürgerinnen und Bürger sowie Politikerinnen und Politiker, nicht zuletzt aus den Reihen meiner Partei. Rechtsextremisten rütteln an den Grundfesten unserer Gesellschaft sowie unseres demokratischen Miteinanders, und zwar in einem Maße wie wahrscheinlich noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik. Der ehemalige Bundesinnenminister Gerhard Baum hat leider recht, wenn er im „Tagesspiegel“ schreibt, dass ein Hauch von Weimar über dem Land liegt.
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Und deshalb ist es von entscheidender Bedeutung, dass jetzt alle Demokratinnen und Demokraten dies erkennen und klare Kante gegen Rassismus und Rechtsextremismus zeigen.
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Von daher habe ich überhaupt kein Verständnis dafür, wenn der Ostbeauftragte der Bundesregierung, der CDU-Abgeordnete Marco Wanderwitz, gegenüber dem RedaktionsNetzwerk Deutschland Links- und Rechtsextremismus ebenso gleichsetzt wie meine Partei, Die Linke, mit der AfD.
({4})
Dies ist nach den rassistischen Morden in Hanau, nach dem Anschlag von Halle, nach dem Mord an Walter Lübcke, nach der Mordserie des NSU, nach über 200 Todesopfern rechtsextremer Gewalt seit 1990 eine unglaubliche Entgleisung, die sich Herr Wanderwitz dort geleistet hat.
({5})
Wer so argumentiert, handelt verantwortungslos, verkennt die realen Gefahren der Gegenwart und spielt letztlich nur den Rechten in die Hände.
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Die AfD will mit ihrem Antrag zugleich von der eigenen Verstrickung mit dem organisierten Rechtsextremismus, von den vielfältigen inhaltlichen und personellen Überschneidungen ablenken. Kollege Grötsch hat darauf hingewiesen: Allein hier im Bundestag beschäftigen AfD-Abgeordnete, wie „Zeit Online“ recherchiert hat,
({7})
Dutzende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit rechtsextremem Hintergrund,
({8})
angefangen von Anhängern der NPD, der Neonazi-Organisation „Heimattreue Deutsche Jugend“ bis hin zur Aktivisten der Identitären Bewegung. Von dieser braunen Truppe braucht unser Parlament keinerlei Belehrungen.
({9})
Die AfD fordert in ihrem zweiten Antrag ohne jede Rechtsgrundlage die Zulassung von Elektroschockern bei Polizeieinsätzen. Eine Studie aus Finnland zeigt, dass dies eben nicht zum Rückgang von Schusswaffengebrauch geführt hat,
({10})
sondern wie das Pfefferspray eher zu einem alltäglichen Einsatzmittel der Polizei wird. Die AfD hat offenbar den Wunsch nach Zuständen wie aktuell in den USA, mit brennenden Städten und einer eskalierenden Gewalt.
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Wir als Linke wollen das nicht!
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Deshalb – letzter Satz – werden wir uns der AfD überall entgegenstellen: hier, auf den Straßen, friedlich, aber mit aller Entschiedenheit.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Irene Mihalic, Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die linksextremen Ausschreitungen von Leipzig sind schockierend und selbstverständlich ohne Wenn und Aber scharf zu verurteilen.
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Solche Gewaltexzesse widersprechen den Grundsätzen unseres demokratischen Rechtsstaats. Hinzu kommt, dass diese Gewalttäter nicht nur die Polizei und andere Bürgerinnen und Bürger massiv gefährden, sie schaden auch all denjenigen, die sich in der Sache und mit demokratischen Mitteln jeden Tag für bezahlbaren Wohnraum einsetzen, und auch der überwiegenden Mehrheit der Menschen, die in Connewitz leben und Gewalt strikt ablehnen.
({1})
Gewalt als politische Methode ist letztlich auch immer ein Ausdruck eines autoritären, illiberalen und undemokratischen Politikverständnisses. Apropos autoritär, illiberal und undemokratisch: Das bringt mich ohne Umschweife zu dem Antrag der AfD. Es lässt tief blicken, wenn Sie mit Ihrem Antrag schon in der Überschrift sagen, dass Sie Deeskalation ablehnen. Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen!
({2})
Aber es stimmt ja: Sie sind klar gegen Deeskalation und für Krawall, für Hetze und für Aufwiegelung, Sie wollen das Chaos, aber eben von rechts.
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In Ihrem Antrag schreiben Sie mit Blick auf die Gewalt:
Echte Demokraten schweigen dazu nicht und praktizieren auch keine selektive Solidarität.
Tja, eigentlich haben Sie damit sogar ungewollt recht: Echte Demokraten schweigen nicht selektiv zu Gewalt und Eskalation, Sie aber schon.
({4})
Das sieht man zum Beispiel an Ihrer Haltung zu den Coronademos, an denen Sie ja auch selbst mit vielen Abgeordneten teilgenommen haben. Das Ergebnis waren Chaos, Gewalt und Angriffe auf Polizisten und das Parlament, die AfD Arm in Arm mit Reichsbürgern, gewaltbereiten Nazis und Rechtsextremen.
({5})
All das ist schlimm genug. Aber hinzu kommt, dass die von Ihnen unterstützten Aktionen die Sicherheitskräfte vor massive Herausforderungen stellen. Einerseits lassen Sie keine Gelegenheit aus, sich bei der Polizei so richtig einzuschleimen,
({6})
andererseits verlieren Sie keinen einzigen Ton zu 54 verletzten Einsatzkräften – Entschuldigung, ich glaube, es waren sogar 59 Einsatzkräfte –, die bei diesen Ausschreitungen verletzt wurden, und fordern sogar Eskalation statt Deeskalation.
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Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage – –
Würde man Ihre Forderungen umsetzen, dann würde dies Leib und Leben der Einsatzkräfte massiv gefährden, meine Damen und Herren.
({0})
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hess?
Nein, ich erlaube die Zwischenfrage nicht. – Was ich noch sagen will: Diese Haltung, diese doppelzüngige Haltung gegenüber der Polizei und gegenüber verletzten Einsatzkräften offenbart Ihre ganze Scheinheiligkeit, mit der Sie hier unterwegs sind. Wir finden, dass die Polizei insgesamt einen hervorragenden Job macht. Den Einsatzkräften, die das Parlament so tapfer vor den Angriffen verteidigt haben, kann man gar nicht genug danken.
({0})
Aber Sie bleiben ja lieber sitzen, während sich alle Demokraten hier im Haus zur Anerkennung erhoben haben – das spricht Bände.
({1})
Vielen Dank, Frau Kollegin Mihalic. – Der Kollege Hess bzw. die AfD-Fraktion hat mich um eine Kurzintervention gebeten, die ich zulasse. Herr Kollege Hess, Sie haben das Wort.
({0})
Herr Präsident, vielen Dank. – Kollegin Mihalic, ich finde es bemerkenswert, dass Sie hier diese Tausende, Zehntausende von Demonstranten in Mithaftung nehmen für ein paar Menschen, für Leute, die sich inakzeptabel verhalten haben,
({0})
die, zugegeben, zum Betreten der Treppe nicht berechtigt waren. Aber das, was Sie hier verlangen, nämlich die entsprechende Distanzierung von Zehntausenden, weil ein paar Hundert sich falsch verhalten haben, das ist wirklich ein Demokratieverständnis, das in keinster Weise nachvollziehbar ist.
({1})
Ich will eine Frage an Sie stellen: Wo ist denn diese gleiche Distanzierung, wenn die Antifa Seit’ an Seit’
({2})
bei Demonstrationen Ihrer Partei, der Partei der SPD, der Partei der Linken vorne mit marschiert?
({3})
Wo ist denn Ihre Distanzierung von diesen gewaltbereiten Antifatruppen, die dann Polizeibeamte angreifen und schwer verletzen? Da höre ich solche Distanzierungen nie, da marschieren Sie gerne mit. Das ist doch genau das Problem.
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Wenn Sie von anderen Distanzierung verlangen, sich selbst aber so verhalten, dann zeigen Sie selbst, wes Geistes Kind Sie sind.
({5})
In Wahrheit bedarf es einer Distanzierung von der Antifa, von dieser Gewaltgruppe, die Polizisten massiv angreift und verletzt; das ist der springende Punkt.
({6})
Frau Kollegin Mihalic, Sie haben die Chance, zu antworten oder auch ein Statement abzugeben. – Bitte, Sie haben das Wort.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Also, Herr Hess, ich kann Ihnen nur empfehlen, dass Sie vielleicht noch mal im Protokoll nachlesen – wirklich mal genau darauf achten –, was ich eben in meiner Rede zum Thema Linksextremismus und zum Thema Gewalt gegen Polizeibeamte ausgeführt habe. Aber vielleicht lesen Sie sich in allererster Linie den Antrag, den Sie hier gestellt haben, noch einmal genau durch. Mit dem, was Sie da fordern, gefährden Sie das Leben von Einsatzkräften massiv. Ja, Sie fordern Eskalation,
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Sie fordern im Kern Krawall, Sie fordern die Aufwiegelung, Sie fordern den Gewaltexzess auf der Straße – aber eben von rechts. Sie wollen das Chaos. Und was für ein Chaos Sie wollen und mit wem Sie da Seite an Seite marschieren, das konnten wir hier alle beobachten.
({1})
Und um dem Ganzen noch die Krone aufzusetzen, erheben Sie sich noch nicht einmal zum Dank für die Einsatzkräfte, die unser Parlament vor den massiven Angriffen verteidigt haben.
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Das ist schändlich und offenbart das gespaltene Verhältnis, das Sie selber zum demokratischen Rechtsstaat und auch zu unseren Sicherheitsbehörden haben. Sie feiern sich immer selber und sagen: Ja, die Polizei, das ist immer alles ganz toll. – Aber wenn hier bei so einem Einsatz 59 Polizisten und Polizistinnen verletzt werden, weil sie von Ihresgleichen attackiert werden,
({3})
Herr Hess, dann schweigen Sie, dann verlieren Sie dazu keinen Ton.
({4})
Das ist einfach nur schändlich. Vielleicht denken Sie darüber einmal nach!
Ganz herzlichen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Michael Brand, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gleich vorweg: Taser sind bei der Bundespolizei bereits in der Erprobung. Der AfD-Antrag ist reine Show. Die Wahrheit ist: Die Ausstattung der Bundespolizei hat sich deutlich verbessert, und sie verbessert sich weiter dank erheblicher Investitionen und auch massivem Personalaufwuchs.
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Die Polizei kann sich auf den Bundestag, die Bundesregierung und auch auf die CDU/CSU-Fraktion verlassen. Wir alle stehen zu unserer Polizei, zu ihrem Einsatz für Recht und Ordnung und gegen Extremismus und Gewalt von links und rechts. Ein herzliches Dankeschön an unsere Sicherheitsbehörden!
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Die Herausforderungen an die innere Sicherheit sind in den letzten Jahren weiter gestiegen. Wir alle haben die Gewaltexzesse rund um den G-20-Gipfel in Hamburg noch im Kopf, gewaltsame Ausschreitungen aktuell in Leipzig vor Augen. Vorkommnisse im Dannenröder Forst in Hessen zeigen, dass Extremisten, die zuvor im Hambacher Forst in Nordrhein-Westfalen waren, nun dort Position beziehen, um friedliche Proteste in gewaltsame Exzesse zu verwandeln.
Ja, es ist ein Alarmsignal im aktuellen Verfassungsschutzbericht: Von über 33 000 Personen im linksextremistischen Bereich ist jeder Vierte gewaltbereit. Das sind über 9 000 Gewaltbereite. Die Hemmschwelle sinkt, selbst Gewalt gegen Personen, vor allem gegen die Polizei, steigt massiv. Der Staat, liebe Kolleginnen und Kollegen, darf das nicht akzeptieren.
Es gibt allerdings ebenso steigende Gewaltbereitschaft von Rechtsextremisten, Reichsbürgern, Exzesse am Rande von Demonstrationen. Hinzu kommen steigende Gewaltbereitschaft und Waffenfunde, sogar Tötungsdelikte. Der Rechtsextremismus stand jüngst auf den Stufen des Reichstages, und er sitzt – hoffentlich nicht mehr lange – auch hier im Deutschen Bundestag.
({2})
Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Herr Haldenwang, hat völlig zu Recht Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus als die „größte Bedrohung für die Sicherheit und Demokratie in Deutschland“ bezeichnet. Bezüglich Neuer Rechte, Junger Alternative und Flügel der AfD spricht er von „Superspreader von Hass, Radikalisierung und Gewalt“.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, umso mehr werden wir Extremismus von rechts und links, der unsere Freiheit und unsere Polizei gefährdet, energisch bekämpfen. Wir stehen als Deutscher Bundestag gemeinsam mit der überwältigenden Mehrheit der Menschen unseres Landes gegen jeden Extremismus. Und deshalb werden wir schon gar nicht zulassen, dass die AfD hier den Biedermann gibt, obwohl jeder weiß, dass sie Brandstifter ist.
Der AfD-Antrag zeigt, wie Radikale sich bürgerlich tarnen. Im Antrag fordern Sie einen „Aktionsplan“ gegen linksextremistische Gewalt und Terror. Nur: Das alles läuft schon, aus gutem Grund. Wenn die AfD den bekannten Satz „Die wehrhafte Demokratie darf keine Toleranz gegenüber der Intoleranz zeigen“ zitiert, dann bedeutet das für uns Demokraten auch: keine Toleranz gegenüber Extremisten von der AfD.
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Die Alternativen für Deutschland sind ganz klar: Rechtsstaat oder Extremisten. So einfach ist es hier, so eindeutig und so klar.
Die AfD schreibt an anderer Stelle: „Echte Demokraten schweigen dazu nicht und praktizieren auch keine selektive Solidarität.“
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, die AfD will das „Bild stellen“, dass nur die „echte Demokraten“ wären, die Solidarität mit der AfD üben.
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Was für ein mieser und durchsichtiger Trick. Natürlich kann es keine Solidarität mit Extremisten geben; das wäre ja noch schöner.
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Echte Demokraten kämpfen gegen Feinde der Demokratie, so sieht die Alternative aus: gegen Linksextremismus, gegen Islamismus und gegen Rechtsextremismus.
Natürlich gilt: Jede Straftat muss verfolgt werden, egal gegen wen sie sich richtet. Das heißt aber nicht, Extremisten nicht mehr „Extremisten“ zu nennen, nur weil sie Opfer anderer Extremisten sind.
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Nicht nur ich werde nicht vergessen, dass die Hetze der AfD zu politischen Morden beigetragen hat: von Walter Lübcke bis zu den neun Opfern von Hanau, von Halle und anderen Anschlägen.
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Deshalb ist es wichtig, dass wir in diesem Parlament immer wieder über Extremismus debattieren, entschlossen handeln und keinen Spalt lassen für die Feinde unserer Demokratie.
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Vielen Dank, Herr Kollege Brand. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Susanne Mittag, SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kollegen! Meine Kollege Uli Grötsch hat zum Aktionsplan schon sehr fundiert argumentiert und einige andere Kollegen auch. Dafür bin ich sehr dankbar. Deswegen ist mein Thema der Antrag zur Förderung einer schnellstmöglichen Beschaffung von Distanz-Elektroimpulsgeräten, umgangssprachlich auch Taser genannt.
Wie hält man einen Menschen auf, der für sich selbst oder für andere eine Gefahr darstellt? Das ist eine Frage, vor der Polizeibeamte immer wieder stehen und die sie oft in Sekunden entscheiden müssen. Man muss einen Menschen in einer absoluten Ausnahmesituation aufhalten und will so wenig Zwang anwenden wie möglich, aber so viel wie nötig. Momentan stehen Polizeibeamten dazu unter anderem folgende Mittel – es ist keine abschließende Aufzählung – zur Verfügung: Das erste Mittel ist Runterreden – das Wort ist sehr hilfreich –, dann kommen körperlicher Zwang – geht auch –, Einsatzstab, Pfefferspray, Diensthunde oder als letztes und zum Glück sehr selten angewandtes Mittel die Schusswaffe.
In Ihrem Antrag fordern Sie nun, der Bundespolizei als eine weitere Waffe den Taser schnellstmöglich zur Verfügung zu stellen, sozusagen als Brücke zwischen Pfefferspray und Schusswaffe – auch eine interessante Formulierung. Doch bei jeder weiteren Waffe, die wir Polizisten an ihren bereits sehr üppig bestückten Gürtel hängen, müssen wir uns fragen: Ist das denn wirklich ein probates Mittel? Hilft sie den Polizistinnen und Polizisten im Einsatz? Geht sie möglichst schonend mit den Betroffenen um? Geht ihr Einsatz nicht auf Kosten anderer deeskalierender Maßnahmen? Erst wenn wir feststellen – und das nicht durch eine Werbebehauptung einer lobbyierenden Firma –,
({0})
dass Polizisten damit geschützt werden und dass der oder die Getroffene keine langfristigen gesundheitlichen Schäden davonträgt, erst dann könnte der Taser als Teil der Polizeiausrüstung eingeführt werden.
Um genau das sicherzustellen, haben Länderpolizeien – konkret hier in Berlin, aber auch in Hessen und Rheinland-Pfalz – den Taser als Einsatzmittel getestet bzw. testen ihn immer noch. Auch die Bundespolizei hat gerade ein einjähriges Pilotprojekt gestartet, bei dem 30 Elektroschockwaffen probeweise zum Einsatz kommen werden. Wir sind also längst dabei, den Taser zu prüfen. In Hessen sind zwei Menschen nach dem Einsatz von Tasern verstorben. Und es ist auch noch nicht hinlänglich geklärt, ob der Elektroschock unter Umständen die Ursache dafür war. Der Hinweis im Antrag, dass Tasern in den USA gang und gäbe ist, ist eher erschreckend. Die nutzen sogar Kriegswaffen. Und deren polizeiliche Ausbildung und Ausrüstung ist nicht ansatzweise vergleichbar mit der der deutschen Polizei. Das wollen wir nicht. Wir sind da viel, viel besser.
({1})
Also erproben wir gerade den Einsatz von Tasern, und wir entscheiden, wenn wir Ergebnisse haben. Auch bei Fachleuten gibt es sehr unterschiedliche Auffassungen. Ein solcher Antrag ersetzt keine gründliche Prüfung, er beschleunigt nicht, er unterstützt das Thema nicht, er wird abgelehnt.
Herzlichen Dank.
({2})
Vielen Dank, Frau Kollegin Mittag. – Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Michael Kuffer, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte hat ja schon zutage gefördert, dass der Antrag der AfD in weiten Teilen überflüssig ist, beispielsweise weil die Taser bei der Bundespolizei schon in der Erprobung sind. Vieles, was gefordert wird, ist schlicht kontraproduktiv. Die wenigen Dinge, die brauchbar sind, die haben Sie abgeschrieben, und zwar aus einem Beschlusspapier der CSU-Landesgruppe vom letzten Donnerstag,
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in dem wir dafür eintreten, dass Angriffe gegen Polizisten härter bestraft werden, dass die Mindeststrafen bei einem tätlichen Angriff angehoben werden, dass Fälle einbezogen werden, in denen Polizisten nicht nur bei einer Diensthandlung, sondern wegen einer Diensthandlung angegriffen werden,
({1})
dass wir das Errichten von Barrikaden und Blockaden als gefährliche Form des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte qualifizieren. Wir wollen den Anwendungsbereich des Landfriedensbruchs ausweiten und § 305a StGB dahin gehend ausweiten, dass die Einsatzmittel von Polizei, Feuerwehr und Rettungsdienst noch besser geschützt werden. Wir schützen damit unsere Städte, die Bürger und deren Hab und Gut, und wir senden damit ein klares Zeichen an die Polizei, indem wir denjenigen den Rücken stärken, die für uns den Kopf hinhalten.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen von der AfD, in diesem Zusammenhang wäre es wirklich besser, wenn Sie mit dieser unerträglichen Heuchelei aufhören würden. Sie unternehmen auch noch den Versuch, die Leute da draußen und die Polizei für dumm zu verkaufen.
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Herr Kollege Brandner, wenn Sie gerne die Sitzungsleitung übernehmen wollen, dann räume ich den Stuhl,
({0})
allerdings nicht für Sie. Das entscheidet der Präsident bislang immer noch selbst. Der Begriff „Heuchelei“ in einer Debatte – Sie können sich wieder hinsetzen – ist aus meiner Sicht heraus nicht ordnungsrufwürdig.
({1})
– Auf Ihre Provokationen gehe ich nicht mehr ein. Ich habe Ihnen das schon einmal gesagt. Provokation ist Ihr Geschäftsmodell, darauf gehe ich nicht ein. – Herr Kollege, Sie haben das Wort.
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Als der Bundestagpräsident gestern den auf der Tribüne anwesenden Polizisten gedankt hat, die am vorletzten Wochenende den Reichstag und damit das Symbol unserer Demokratie geschützt haben, und als sich danach alle Kolleginnen und Kollegen des Hauses als Zeichen des Respekts vor diesen Beamtinnen und Beamten erhoben haben, sind die Flegel von der AfD als Einzige sitzen geblieben.
({0})
Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Mich überrascht das nicht; denn es ist hinlänglich bekannt, dass Extremisten mit den Sicherheitsbehörden fremdeln.
({1})
– Das mögen Sie so sehen. Vielleicht sind Sie auch deshalb nicht aufgestanden, weil der eine oder andere von Ihnen, der am vorletzten Wochenende dabei gewesen ist, erkannt worden wäre.
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Ich sage Ihnen noch mal: Hören Sie einfach mit dieser Heuchelei auf! Wenn Sie sich von der Polizei abgrenzen wollen, dann tun Sie das – das spielt keine Rolle –, aber hören Sie auf, die Polizisten und die Leute da draußen zu veräppeln.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank, Herr Kollege. – Damit schließe ich die Aussprache.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, diese Pandemiesituation im letzten halben Jahr hat zwei Dinge aufgezeigt: Zum einen hat diese Situation aufgezeigt, dass wir leistungsfähige Krankenhäuser in Deutschland haben, auf die wir uns verlassen konnten und können – insbesondere im Vergleich mit anderen Nationen. Zum anderen hat sie aber auch gezeigt, dass es notwendig ist, Aufgaben, die schon vor dieser Pandemie anstanden – Herausforderungen im Bereich der Digitalisierung –, nun noch konsequenter als bisher anzugehen.
Wir wissen, dass für die Investitionen im Krankenhausbereich – das gilt selbstverständlich auch für die Digitalisierung – eigentlich nicht der Bund zuständig ist, sondern zu 100 Prozent die Bundesländer. Ich denke aber, dass die Krankenhäuser nun schon zu lange auf diese Investitionsmittel für die Digitalisierung warten
({0})
und dass es richtig ist, dass wir mit diesem Zukunftsprogramm, das jetzt auf dem Tisch liegt, das Heft selber in die Hand nehmen.
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Das mag den Buchstaben des Krankenhausfinanzierungsgesetzes widersprechen, aber ich bin sicher: Das ist im Sinne der Krankenhäuser, und das ist insbesondere im Sinne der Patientinnen und Patienten.
Worum geht es? Es geht zum Beispiel um die digitale Verzahnung des stationären Bereichs mit dem ambulanten Bereich. Gerade diese Verzahnung war in der Pandemiezeit wichtig. Wir wissen, dass für sechs von sieben Patienten im Wesentlichen im ambulanten Bereich die Diagnostik vorgenommen wurde und dass die Patienten mit schweren und schwersten Verläufen hervorragend in den Krankenhäusern versorgt wurden. Dies können wir noch besser machen, indem die Verbindung durch die Digitalisierung noch weiter optimiert wird.
Es geht daneben auch um ein digitales Entlassmanagement – auch dies ist eine, ich möchte schon fast sagen, alte Baustelle –, also die Versorgung im Anschluss an den Krankenhausaufenthalt durch niedergelassene Ärzte, Physiotherapie, Apotheken, Pflegeheime – was auch immer. Auch die elektronische Patientenakte spielt hier natürlich eine Rolle. An dieser Stelle jetzt deutlich weiterzukommen, ist elementar.
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Ein wichtiger Punkt ist auch die Datensicherheit. 15 Prozent aller Ausgaben, die aus diesem Programm heraus getätigt werden, müssen in die Datensicherheit fließen.
Vor wenigen Wochen habe ich an einer virtuellen Podiumsdiskussion teilgenommen. Es waren Wissenschaftler, Krankenhauspraktiker, IT-Leute und die Politik vertreten. Da wurde gesagt: Wir brauchen 3 Milliarden Euro, um da voranzukommen. – Und siehe da – ich weiß nicht, ob das Zufall ist oder nicht –: 3 Milliarden Euro stehen in diesem Zukunftsprogramm. Ich freue mich, Herr Minister. Zu diesen 3 Milliarden Euro kommen 1,3 Milliarden Euro – das sind 30 Prozent der Gesamtsumme –, die die Länder obendrauf legen müssen, ohne dass sie das an anderer Stelle bei den Krankenhausinvestitionen einsparen dürfen. Das macht insgesamt 4,3 Milliarden Euro. Ich glaube, das kann man jetzt wirklich als großen Wurf und als wirkliches Zukunftsprogramm für die Krankenhäuser bezeichnen.
Auch im laufenden Betrieb wird in Bezug auf die Ausfälle bei den Krankenhäusern noch mal nachgebessert. All die Krankenhäuser, die davon ausgehen müssen, dass sie über die Pauschalen zu wenig bekommen haben, können vor Ort noch einmal verhandeln. Ich glaube, mehr kann man an dieser Stelle nicht tun. Das ist notwendig, wenn wir eine gute Krankenhausversorgung in Deutschland auch in Zukunft haben wollen.
Deswegen bitte ich Sie im weiteren Verfahren herzlich um Ihre Unterstützung für diesen Gesetzentwurf.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Robby Schlund, AfD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kollegen! Liebe Fernsehzuschauer! Die Fraktion der AfD unterstützt die Bemühungen, die Krankenhäuser in Deutschland zu stärken, aber wir haben mit unserem beigestellten Antrag zwei wesentliche Verbesserungsvorschläge gemacht und bitten um Unterstützung zum Wohle der Patienten. Dabei geht es einerseits um die Erhaltung von Krankenhäusern in der Fläche und andererseits um eine angemessene Beteiligung der Länder.
Mit 3 Milliarden Euro aus Bundesmitteln – das sind ungefähr 70 Prozent – plus der Finanzierungsbeteiligung der Länder in Höhe von 30 Prozent belaufen sich die Gesamtkosten aller Länder auf 1,3 Milliarden Euro. Für die durch Corona ohnehin schon belasteten Länder stellt sich dies als ein massives Problem dar. Das generelle Problem der mangelnden Investitionsförderung durch die Bundesländer bleibt darüber hinaus ungelöst. Insofern ist für uns eine höhere Gewichtung der Bundesmittel unerlässlich.
Der zweite wesentliche Verbesserungsvorschlag zielt darauf ab, den strukturschwachen Gebieten in Deutschland eine vernünftige, flächendeckende Versorgung zu garantieren. Wir brauchen hier Solidarität mit den schwächeren Krankenhäusern.
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Die Verlautbarungen des Bundesgesundheitsministers klingen viel zu rund, als ob jetzt alles geregelt wäre. Wir wollen die Krankenhauslandschaft aber nachhaltig verbessern, modernisieren und für die Zukunft der Menschen besser aufstellen. Deutschlands Krankenhäuser sollen die besten der Welt sein!
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Dafür reichen weder 4 Milliarden Euro noch einschläfernde Allgemeinsätze. Detailarbeit und konsequente Unterstützung der Krankenhäuser sind gefragt. Ich vermisse hier das entsprechende Engagement in Ihrem Gesetzentwurf. In diesem scheint es auch zu einer Überschneidung mit dem bereits bestehenden Krankenhausstrukturfonds zu kommen, was die Gefahr einer Mehrfachförderung in sich birgt.
Was unsere Fraktion auch mit Sorge erfüllt, ist nicht der Versuch der Stärkung der Digitalisierung im Regierungsentwurf, sondern die nicht ausreichende qualitative Verbesserung und Umsetzung. Nicht alleine die Modernität zählt, sondern vor allem der Nutzen für die Patienten, und die Ärzte müssen von täglichen Bürokratie-Papierbergen und endlosem Kodieren entlastet werden.
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Wir brauchen hier einen deutlich höheren Bürokratieabbau und mehr Patienteneffizienz.
Die Anzahl der in den Krankenhäusern zur Verfügung stehenden IT-Mitarbeiter ist begrenzt, sodass bei der geplanten Erhöhung des Digitalisierungsgrades der entsprechende Personalbedarf in ausreichendem Maße berücksichtigt werden muss. Andernfalls würde es zu Querfinanzierungen innerhalb des Krankenhauses zulasten der Patientenversorgung kommen.
Letztendlich geht es aber um die Zukunftsfähigkeit unserer Krankenhäuser. Sie muss geprägt sein von einer umfassenden Reform der Finanzierung der stationären Versorgung in Verbindung mit der Abschaffung des DRG-Systems.
Wir stimmen dem Überweisungsvorschlag zu.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Edgar Franke, SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Milliarden für moderne Kliniken – so oder ähnlich waren Presseberichte zum Krankenhauszukunftsgesetz überall überschrieben. In der Tat – wir haben es eben gehört –: 4,3 Milliarden Euro sollen in die Kliniken, in Digitalisierung, IT-Infrastruktur und auch in die Modernisierung der Notfallversorgung, investiert werden.
Wir wissen aber alle – Lothar Riebsamen hat es eben gesagt –: Eigentlich sind die Länder zuständig. Sie haben viele Krankenhausstandorte, aber sie sind nicht immer in der Lage – und ich will es mal so sagen: sie wollen auch manchmal nicht –, ihrer Investitionspflicht nachzukommen. Deshalb ist es ausdrücklich zu begrüßen, Herr Minister, dass diese Koalition sich der Sache angenommen hat und dass wir 70 Prozent der 4,3 Milliarden Euro bereitstellen. 3 Milliarden Euro vom Bund sollen in die Modernisierung unserer Kliniken fließen. Das ist ein großer politischer Erfolg; das kann man wirklich einmal sagen, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Unsere medizinische Versorgung ist weitaus besser, als immer gesagt wird. Das haben wir, glaube ich, auch in der Coronapandemie gelernt. Wir sind gut gerüstet. Durch die große Anzahl von Betten, insbesondere auch durch die Ausweitung der Anzahl der Intensivbetten sind wir sehr gut durch die Pandemie gekommen. Die Krankenhäuser und deren Mitarbeiter, die Ärztinnen und Ärzte und die Pfleger, haben vorbildlich mitgeholfen, dass wir die schrecklichen Bilder, die wir in Frankreich und in Italien gesehen haben, nicht auch in Deutschland sehen mussten, was auch deshalb möglich war, weil wir gehandelt haben, indem wir frühzeitig versucht haben, mit einer Zahlung von 560 Euro pro Tag Betten freizuhalten.
Es ist allerdings so – das muss man auch kritisch sagen –: Die kleinen Häuser haben von dieser Pauschale profitiert, die großen eher ein Minusgeschäft gemacht. Den pauschalen Rettungsschirm wird es sicherlich künftig nicht mehr in dem Maße geben, aber die Kliniken können sich pandemiebedingte Mehrausgaben und Erlösrückgänge ausgleichen lassen.
Darüber hinaus stellt sich beim Krankenhauszukunftsgesetz auch die Frage: Wohin geht es mit unserer Krankenhausversorgung? Wie geht es mit unserer Versorgung weiter? Aktuell wird gerade angesichts der Coronapandemie immer diskutiert, inwieweit wir ökonomische Anreize im Krankenhaus abschaffen sollten. Es wird diskutiert, inwieweit ökonomische Prinzipien und auch Renditeerwartungen von privaten Krankenhausbetreibern im Vordergrund stehen und nicht das Wohl der Patienten. Doch wenn es keine ökonomischen Anreize gibt, werden diese durch andere Maßstäbe ersetzt; das wissen wir natürlich. Schon bei den tagesbezogenen Pflegesätzen gab es immer den Anreiz, eine medizinisch nicht notwendige und damit unwirtschaftliche Ausdehnung der Verweildauer zu erzielen.
Dagegen bewirkt ein Wettbewerb um Qualität, dass Menschen die bestmögliche Versorgung bekommen. Aus meiner Sicht ist es sogar eine ethische und moralische Verpflichtung, die verfügbaren Mittel gerade wirtschaftlich zu verwenden mit dem Ziel, dass eben alle die bestmögliche Versorgung erhalten. Allerdings – das sage ich auch –: Das Streben nach Rendite hat sich bei verschiedenen DRGs in der Vergangenheit auch negativ auf die Versorgung ausgewirkt. Hier gibt es viele Praktikerinnen und Praktiker, die das bestätigen können.
Deshalb müssen wir das Fallpauschalensystem grundsätzlich weiterentwickeln. Wir haben bereits den Bereich der Pflege aus den Fallpauschalen herausgenommen. Nun lohnt es sich nicht mehr, auf Kosten der Pflege zu sparen. Das war, meine sehr verehrten Damen und Herren, ein großer Fortschritt, den wir als Sozialdemokraten durchgesetzt haben.
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Aber damit haben wir das grundlegende Problem der Finanzierung von Krankenhäusern nicht gelöst. Im Gegenteil: Krankenhäuser sind weiterhin gezwungen, Investitionen aus den Betriebserlösen zu finanzieren. Gerade diese Investitionen müssen endlich auskömmlich sein. Deswegen kann man hier vom Bundestag nur an die Länder appellieren, dass sie ihre Hausaufgaben gerade bei der Neu- und Umstrukturierung der Krankenhausversorgung machen und endlich mehr investieren. Auch in diesem Jahr werden rund 3 Milliarden Euro fehlen.
Der Bund hat aber nicht nur hier im Krankenhauszukunftsgesetz, sondern auch in anderen Bereichen Schritte unternommen, zum Beispiel um bedarfsnotwendige Kliniken in strukturschwachen Regionen finanziell besser auszustatten. Es gibt einen Bundeszuschuss von 400 000 Euro. Davon profitieren allein 100 Krankenhäuser. Diese Krankenhäuser bekommen das Geld, weil sie bedarfsnotwendig für die Versorgung sind. „Bedarfsnotwendig“ sind sie, weil sie erstens in dünn besiedelten Regionen liegen und zweitens der Weg ins nächste Krankenhaus zu weit wäre. Wir brauchen diese Krankenhäuser, obwohl sie wenige Operationen durchführen, obwohl sie weniger Diagnosen stellen und damit weniger Einnahmen haben, weil gerade viele ambulant tätige Ärzte aus der Fläche verschwinden und wir Gesundheitsversorgung immer sektorenübergreifend ansehen.
Nun ist es aber so: Mich als Berichterstatter haben viele Abgeordnete angesprochen, dass in ihrem Bereich ländliche Krankenhäuser einzelne Sicherstellungskriterien, die der Maßstab für die Bundesförderung waren, nicht erfüllen, aber trotzdem eine große Bedeutung für die Region haben. Mich haben in begründeten Einzelfällen viele Leute angesprochen. Ich glaube, wir sollten darüber nachdenken, Herr Minister, ob wir in Ausnahmefällen Öffnungsklauseln schaffen, ähnlich wie bei der Notfallversorgung und in Abstimmung mit den Ländern, um dort, wo es versorgungspolitisch wirklich notwendig ist, einzelnen Krankenhäusern mit Bundesmitteln finanziell zu helfen. Denn abstrakte Kriterien entsprechen oftmals nicht der Lebenswirklichkeit vor Ort. Das ist auch aus meiner Sicht ein wichtiger Punkt.
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Es ist auch ein Wert an sich, dass wir Häuser im Bedarfsfall als Anlaufstelle zur Verfügung haben. Das ist Daseinsvorsorge im besten Sinne des Wortes. Deswegen brauchen wir unabhängig von der Vergütung einzelner Pfeiler in Zukunft auch eine gewisse Basisfinanzierung der Krankenhäuser. Das heißt, in Zukunft sollten wir auch notwendige Vorhaltekosten unabhängig von der tatsächlichen Auslastung finanzieren, wenn es sachlich geboten ist. Ich glaube, das ist eine Diskussion, die wir als Sozialdemokraten führen wollen und auch führen müssen.
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So könnten wir zum Beispiel auch die Finanzierung der Versorgung von Kindern und Jugendlichen durch eine bessere Basisfinanzierung der Fachabteilungen stärken. Das ist auch unsere politische Aufgabe für die Zukunft; denn Gesundheitsversorgung für alle bedeutet: unabhängig vom Wohnort, unabhängig vom Alter, unabhängig vom Geldbeutel der Versicherten die bestmögliche Versorgung.
Dazu gehört immer auch die gute Pflege. Wir haben uns immer dafür eingesetzt, dass gerade die pflegenden Angehörigen, die in der Coronakrise besonders hart getroffen sind, nicht vergessen werden.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
70 Prozent der Menschen werden zu Hause gepflegt. Deswegen erweitern wir mit diesem Gesetz das Pflegeunterstützungsgeld. Das war uns besonders wichtig. Meine Kollegin Heike Baehrens hat sich sehr dafür eingesetzt.
Herr Kollege, bitte kommen Sie zum Schluss.
Damit stärken wir die pflegenden Angehörigen. Damit stärken wir die Pflegebedürftigen. Denn gesundheitliche Versorgung muss immer aus Patientensicht gedacht werden. Das war und ist der rote Faden sozialdemokratischer Gesundheitspolitik.
Danke schön.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte doch darum, auf die Redezeiten zu achten – auch Sie, Herr Kollege Dr. Franke –, weil wir jetzt schon zeitlich bei einem Sitzungsende gegen Mitternacht sind. Wenn das so weitergeht, werden wir bis 1 Uhr hier sitzen, etwas, was wir vermeiden wollten. Also: Ich werde mit wachsender Zeitdauer der Sitzung auch etwas weniger geduldig.
Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Andrew Ullmann, FDP-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als ich vor drei Jahren in den Bundestag gewählt wurde und mich von meiner Station in der Uniklinik in Würzburg verabschiedet habe, kam die Stationsschwester zu mir und sagte: Wenn du nach Berlin gehst, vergiss uns bitte nicht! Vergiss diese Hamsterräder nicht! Vergiss nicht die tägliche Frustration, die wir im Krankenhaus haben! Vergiss nicht, wie wenig Zeit wir haben, um unsere Patienten zu versorgen! – Eigentlich ist es beschämend, auch für mich, dass wir Patienten im Krankenhaus abarbeiten, statt sie adäquat mit Medizin und Menschlichkeit zu versorgen. Vielleicht kennen Sie diese Realität: als Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter oder als Angehörige. Da stellt sich hoffentlich uns allen die gleiche Frage: Was läuft schief? Was können wir eigentlich dagegen tun? Es ist nicht die Schuld der Ärzte oder des Pflegepersonals oder die der Physiotherapeuten oder gar der Verwaltung. Nein, meine Damen und Herren, die Probleme sind durch eine fehlgeleitete Politik verursacht.
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Die drei Zentralpunkte sind: erstens das Versagen der Länder in der dualen Finanzierung der Krankenhäuser, zweitens die überbordende, nicht moderne und uneinheitliche Bürokratie und drittens das Aufrechterhalten einer seit Jahrzehnten überholten Krankenhauslandschaft.
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Herr Spahn, keines dieser Probleme gehen Sie mit diesem Gesetz an. Ich frage mich, wo das Gesetz jetzt hingeht: zurück in die Vergangenheit oder voran in die Zukunft; ich weiß es nicht genau.
Wir als Freie Demokraten wollen eine hochwertige und flächendeckende stationäre Versorgung. Dafür brauchen wir einen Mix aus maximal versorgenden und spezialisierten Krankenhäusern: nicht zum Wohle der Krankenhäuser, sondern zum Wohle der Patientinnen und Patienten und all derer, die in diesen Krankenhäusern auch arbeiten. Krankenhäuser, meine Damen und Herren, müssen modern, menschlich und leistungsfähig sein. Digitalisierung dient dabei als sinnvolles Werkzeug und war längst überfällig.
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So geht Krankenhaus.
Lieber Herr Minister Spahn, körperlich sind Sie ja groß, der Titel des Gesetzentwurfs ist sogar noch größer, aber der Inhalt ist leider sehr, sehr klein. Weil es inhaltlich so wenig ist, können wir in großen Teilen sogar zustimmen. Aber bitte machen Sie weiter so! Trauen Sie sich! Gehen Sie an die Arbeit! Machen Sie unsere Krankenhäuser wirklich fit für die Zukunft! Wir helfen Ihnen gerne dabei. Die Stärkung der digitalen Struktur in den Krankenhäusern kann nur ein erster Schritt sein.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Ullmann. – Nächster Redner ist der Kollege Harald Weinberg, Fraktion Die Linke.
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Vielen herzlichen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Konstruktion des Krankenhauszukunftsfonds sehen wir ja durchaus positiv. Es ist gut, dass sich der Bund am Abbau des Investitionsstaus in den Krankenhäusern beteiligt und dabei auch für die Länder Anreize schafft, ihre Investitionen zu erhöhen. Diese Forderungen bringen wir selber seit über zehn Jahren in die Haushaltsberatungen ein; bisher haben wir dafür leider keine Mehrheiten bekommen.
Ein gravierender Mangel dieses Zukunftsfonds ist allerdings seine Einmaligkeit. Damit wird er den Problemen in den Krankenhäusern nicht gerecht. Im März haben die Deutsche Krankenhausgesellschaft und der Spitzenverband der Krankenversicherungen darauf hingewiesen, dass in den Krankenhäusern in diesem Jahr mindestens 3 Milliarden Euro für bestandserhaltende Investitionen fehlen, also nicht für etwas Neues, sondern für bestandserhaltende Investitionen. Das Problem des Investitionsstaus von inzwischen über 50 Milliarden Euro wird mit der einmaligen Beteiligung des Bundes nicht behoben.
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Es ist wohlfeil, an dieser Stelle die alleinige Verantwortung für die Investitionsmisere den Ländern zuzuschieben. Unsere Forderung als Linke ist eine dauerhafte jährliche Beteiligung des Bundes an den Investitionskosten der Krankenhäuser. Trotzdem sehen wir den Krankenhauszukunftsfonds als richtigen Schritt in diese Richtung und stellen fest – wenn auch manchmal mit großem Zeitverzug und mit großen Umwegen –: Links wirkt!
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Gleichzeitig fragen wir uns, warum eine solche Finanzierung auf Krankenhäuser beschränkt ist und warum im gesamten Konjunkturprogramm kein Cent für die stationäre Pflege vorgesehen ist. In den Pflegeeinrichtungen werden die Investitionskosten zum größten Teil den Bewohnerinnen und Bewohnern aufgebürdet. Eine himmelschreiende Ungerechtigkeit! Wir fordern, dass der Bund sich auch an den Investitionskosten der Pflegeeinrichtungen beteiligt
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und damit nicht nur die Länder und die Träger, sondern ganz unmittelbar auch die Pflegebedürftigen unterstützt, deren Eigenanteile ansonsten durch die Decke gehen.
In diesem Gesetz, liebe Kolleginnen und Kollegen, steckt auch eine Regelung für die coronabedingten Einnahmeausfälle der Krankenhäuser. Auf Grundlage der Erlöse des Vorjahres können Krankenhäuser mit den Kassen vor Ort über weitere Ausgleichszahlungen verhandeln. Es ist aus unserer Sicht falsch, die Erlöse zur Grundlage dieser Verhandlungen zu machen. Sie stärken damit die Krankenhäuser, die im letzten Jahr Gewinne mit Versichertengeldern gemacht haben. Das ist ein Zukunftsversprechen für wirtschaftlich starke Kliniken, die in der Regel von privaten, auf Profit orientierten Krankenhauskonzernen betrieben werden. Kliniken, die im letzten Jahr Verluste gemacht haben, werden weiter geschwächt, unabhängig davon, wie wichtig sie für die stationäre Versorgung in der Region sind. Diese Regelung muss korrigiert werden.
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Der richtige Weg aus unserer Sicht wäre es, die tatsächlichen Kosten des Jahres zur Grundlage zu machen. Dafür allerdings müssten die Fallpauschalen für die Zeit der Pandemie ausgesetzt werden. Andernfalls wird es unter den Krankenhäusern Krisengewinner und Krisenverlierer geben. Dafür tragen Sie mit der falschen Fixierung auf Erlöse und Fallpauschalen die Verantwortung.
Es ist aber ohnehin an der Zeit für einen Systemwechsel in der Krankenhausfinanzierung,
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der sich am Gemeinwohl orientiert und den ökonomischen Druck von den Krankenhäusern nimmt. Dafür streiten wir Linke zusammen mit den Beschäftigten in den Krankenhäusern und ihrer Gewerkschaft Verdi, die für die Entlastung, eine bessere Versorgung, eine andere Finanzierung und ebenfalls für die Abschaffung der Fallpauschalen kämpfen –
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zusammen mit den Bürgerinnen und Bürgern, die vor Ort für den Erhalt der Krankenhäuser eintreten.
Da ist in den letzten Jahren viel an Bewegung und Druck entstanden. Der Druck wird weiter wachsen. Das bisherige System der Krankenhausfinanzierung wird keinen Bestand haben. Die Linke wird diesen Druck weiter ins Parlament tragen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Maria Klein-Schmeink, Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! In unserer Debatte geht es um das Krankenhauszukunftsgesetz – großer Titel, großer Anspruch. Wir müssen leider sagen – der Verlauf der Debatte hat das sehr, sehr deutlich gezeigt –: Diesem Anspruch wird dieses Gesetz nicht gerecht.
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Zentral müssen doch die Fragen sein: Wie gehen wir in Zukunft stationäre Versorgung und insgesamt die Gesundheitsversorgung an? Wie stellen wir sie in Zeiten des demografischen Wandels auf? Wie kriegen wir den Spagat zwischen einer guten, verlässlichen Versorgung – überall, ganz unabhängig vom Wohnort – und dem Fachkräftemangel und den auch endlichen Ressourcen hin? Das ist doch die große Aufgabe, die zu stemmen ist. Unbestritten hat darin die Digitalisierung ihren Platz. Aber es ist verkehrt, genau die wichtigen Strukturprobleme nicht anzugehen und weiter zu vertagen.
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Genau das passiert. Angesprochen wurde schon der Mangel an Investitionen und die mangelhafte Finanzierung der Krankenhäuser durch die Länder – 3 Milliarden Euro nur bei der normalen Regelausstattung, ganz unabhängig von der Digitalisierung –, weiterhin eine völlig inadäquate Krankenhausplanung, die auch gesetzlich nicht den Rahmen und die Kompetenz hat, sektorübergreifend zu handeln, also ambulant und stationär zusammen.
Dann haben wir ein Entgeltsystem, das sozusagen Menge und Fälle bestellt, statt danach zu gucken: Wie bekomme ich eine Sicherstellung der Vorhaltekosten hin? Das ist gerade wichtig für die Primärversorgung, gerade wichtig für die pädiatrischen Abteilungen, gerade wichtig für die Geburtshilfe.
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Das ist auch insgesamt wichtig für das Empfinden der Menschen, ganz egal, wo sie leben, damit sie wissen: Ja, für meine Versorgung ist gesorgt. – Das, meine Damen und Herren, kann nicht nur am Wettbewerb festgemacht werden, kann nicht nur an betriebswirtschaftlicher Krankenhausfinanzierung hängen, sondern wir brauchen einen ganz klaren Plan: Wie kriegen wir die Aufgabe der Daseinsvorsorge hin? Wie kriegen wir sie auch in Zukunft sichergestellt? Was müssen wir tun, und welche Stellschrauben müssen wir drehen, damit wir tatsächlich zu einer Reform kommen?
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Da reicht es nicht, an kleinen Schräubchen zu drehen; das tun wir seit zehn Jahren. Wir müssen weiter feststellen, dass die Defizite ja nicht behoben werden und dass auch die Menschen nicht das Gefühl haben, dass die Defizite behoben werden, weder die Patientinnen und Patienten noch die Beschäftigten im Krankenhaus. Genau das muss sich ändern, und dafür brauchen wir eine Aufstellung.
Ich muss leider sagen: Die Chance, diese Aufstellung hinzukriegen, ist vertan worden. Wir geben viel Geld aus – in den Schwerpunkten auch durchaus richtig –, aber nicht eingebettet in eine tatsächliche Reform der Krankenhausversorgung. Das hätten wir eigentlich in dieser Wahlperiode dringend hinkriegen müssen.
Ich hoffe sehr, dass wir nicht nur über dieses Zukunftsgesetz reden, sondern dass noch in dieser Wahlperiode ein Zukunftsgesetz Nummer zwei folgt, in dem wir genau diese wichtigen Fragen gemeinsam mit den Ländern und auch als Kraftanstrengung mit den Ländern angehen.
Danke schön.
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Vielen Dank. – Als nächstem Redner erteile ich das Wort Herrn Bundesminister Jens Spahn.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass Deutschland bis hierhin so gut durch diese Pandemie, durch diese schwierige Situation gekommen ist, hat vor allem auch mit einem leistungsfähigen, einem robusten Gesundheitswesen zu tun. „Gesundheitswesen“ klingt immer so neutral. Das sind am Ende die vielen Hundertausenden Beschäftigten, die Ärztinnen und Ärzte, die Pflegekräfte, die vielen weiteren Beschäftigten auch in den Krankenhäusern – nicht nur, aber auch –, die täglich und nächtlich ihre Arbeit tun, die nicht Homeoffice machen konnten in den letzten Monaten, die in dieser schwierigen Lage immer vor Ort präsent waren. Ich finde, zu einer solchen Debatte in der Pandemie gehört es auch, ihnen allen Danke zu sagen für das, was sie dort leisten.
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Ja, wir sind gut durchgekommen, auch dank der guten Strukturen und Ausstattung in den Krankenhäusern. Wir haben Stand heute mehr freie Intensivbetten, als Frankreich und Italien zusammen überhaupt haben. Das ist ein Beispiel dafür, wie stark und leistungsfähig – übrigens auch in der Fläche, nicht nur in den großen Städten – unser Gesundheitswesen ist.
Ja, es ist nicht alles perfekt. Es hat an vielen Stellen geruckelt, auch im Alltag. Wir haben in unsicherer Lage jeden Tag dazugelernt und auch immer wieder Dinge anpassen müssen. Aber gerade mit Blick auf unser Gesundheitswesen und gerade auch mit Blick darauf, was das Gesundheitswesen jeden Tag leistet, auch in den Krankenhäusern, frage ich mich angesichts von Äußerungen mancher Kritiker, in welchem Land sie in dieser Pandemie eigentlich lieber wären als in Deutschland. Auch das, finde ich, gehört zu dieser Debatte dazu. Ja, es ist nicht alles perfekt. Aber alles in allem kann man schon auch ein Stück stolz und dankbar dafür sein – demütig, aber dankbar –, in dieser Zeit in Deutschland zu sein.
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So gut alles funktioniert, so geht es aber auch noch besser. Herr Ullmann, Frau Klein-Schmeink und viele andere haben ja einige Themen angesprochen. Ja, es geht nicht nur um Digitalisierung in der Krankenhausstruktur und im Gesundheitswesen. Aber das ist ein wichtiger Baustein, und um den geht es zumindest in diesem Gesetzentwurf.
Wir haben es doch schmerzhaft erlebt: Es sind immer noch Faxe, die in dieser Pandemie von den Laboren an die Gesundheitsämter gehen, um die Meldungen zu machen. In diesem Bereich holen wir übrigens gerade im Schnellprogramm an Digitalisierung das nach, was in 20 Jahren wegen Blockaden aller Art nicht gelungen ist. Wir haben gesehen und gespürt, wie gut es wäre, jetzt schon eine elektronische Patientenakte zu haben. Das hätte auch manches im Informationsfluss beschleunigt. Sie wird am 1. Januar 2021 kommen.
Ja, wir haben auch erlebt, dass es eine bessere digitale Ausstattung in den Krankenhäusern geben muss. Es darf vor allem nicht nur eine Insellösung sein und nur ein Haus umfassen. Es braucht Schnittstellen und Möglichkeiten, um mit anderen Krankenhäusern, mit anderen Teilen des Gesundheitssystems eng zu kommunizieren und Daten auszutauschen. Wir haben gesehen, dass das in einer Pandemie und natürlich auch im normalen Betrieb einen wichtigen Unterschied macht und machen kann.
Herr Kollege Weinberg, dass der Bund in der Krise zum ersten Mal seit Jahrzehnten – das muss man sagen – aus Bundeshaushaltsmitteln die Mittel der Länder um 3 Milliarden Euro erhöht und so die Mittel für die Krankenhäuser auf über 4 Milliarden Euro steigen, ist ein deutliches Zeichen. Dass die Koalition sich dazu entschieden hat, zum ersten Mal gerade mit dem Schwerpunkt Digitalisierung wieder in Krankenhäuser zu investieren, ist eben ein klares Bekenntnis dazu, dass Digitalisierung in der Gesundheit für die Patientinnen und Patienten, gerade in den Krankenhäusern, einen Unterschied machen kann. Das drücken wir damit aus, und deswegen ist es ein Zukunftsgesetz für die 20er-Jahre und legt die Basis für die 20er-Jahre in den Krankenhäusern.
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Dazu gehören auch Investitionen in die IT-Sicherheit, in Patientenportale, in die elektronische Dokumentation von Pflegebehandlungsleistungen, in Medikationsmanagement und in viele, viele andere Bereiche. Das gilt auch für telemedizinische sektorübergreifende Projekte, die gefördert werden können. Das ist übrigens auch ein Schnellprogramm. Wir wollen kein Konjunkturprogramm wie manches andere, das erst in drei oder fünf Jahren wirkt. Wir haben ja manchmal schon erlebt, dass die Ausgaben erst richtig getätigt werden, wenn die Konjunkturlage schon wieder eine andere ist.
Es geht also darum, schnell, schon im nächsten Jahr, zu Investitionen zu kommen; so sind auch die Fristen. Es geht hier nicht darum, langwierige Bauanträge zu stellen, sondern darum, schnell Investitionen in Geräte, in Ausstattung, in leichte bauliche Veränderungen tätigen zu können. Wir sind sehr zuversichtlich, dass diese 3 Milliarden Euro tatsächlich auch schnell abfließen und einen Unterschied machen.
Ich sage noch einmal: Es ist natürlich nicht ein abschließender und ein allumfassender Baustein, eine allumfassende Lösung für die Strukturfrage der deutschen Krankenhauslandschaft. Aber gerade mit Blick darauf, dass wir aus dieser Pandemie in die 20er-Jahre gehen, wo das Digitale in allen anderen Lebensbereichen wie selbstverständlich dazugehört, ist es wichtig, dass wir endlich auch in den Krankenhäusern einen Unterschied machen, und das wollen wir mit diesem Gesetz tun.
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Vielen Dank, Herr Minister. – Herr Kollege Irlstorfer, ich möchte es Ihnen jetzt nicht zumuten, Ihre Rede innerhalb von zwei Minuten zu halten. Insofern müssen Sie das fraktionsintern klären. Ich bin heute großzügig.
Als letzter Redner hat der Kollege Erich Irlstorfer, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Dieses Krankhauszukunftsgesetz ist der Anfang,
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um die Krankenhauslandschaft in Deutschland zu verändern. Der Bereich Digitalisierung hat bei uns, glaube ich, jetzt schon den notwendigen Stellenwert eingenommen. Das zeigt, dass er enorm wichtig und auch ausschlaggebend dafür ist, die Menschen besser versorgen zu können. Deshalb investieren wir. Deshalb führen wir auch nicht lange Debatten, in denen wir uns fragen, wer denn eigentlich zuständig ist, sondern wir handeln. Wir sind handlungsfähig und in der Lage, in einer solchen Pandemie Entscheidungen zu treffen, die einen großen Vorteil für die Menschen in unserem Land bedeuten.
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Es ist uns vollkommen klar, dass die Umsetzung der Digitalisierung natürlich auch vorsichtig angegangen werden muss und wir mit den Daten ordentlich umgehen müssen. Aber erlauben Sie mir schon auch den Hinweis, dass keiner der betroffenen Patienten mich in den letzten Monaten gefragt hat: Was ist denn mit der Datensicherheit? Es kamen eher Fragen wie: Könnt ihr mir helfen? Das ist doch der entscheidende Punkt, der uns hier in unserer Arbeit treibt, meine sehr geehrten Damen und Herren.
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Ich möchte natürlich nicht verschweigen, dass uns vollkommen klar ist, dass das nur der Anfang sein kann. Wir müssen uns verändern und die Krankenhauslandschaft im Gesamten sehen. Die Zahlen sprechen doch dafür: 2018 hatten wir in Deutschland 1 925 Kliniken mit rund 498 000 Betten, 1991 waren es noch 2 400 Kliniken. Das ist eine Veränderung, die uns vor neue Aufgaben stellt. All dies und auch das Thema „Blutige Entlassungen und Rehafähigkeit“ müssen wir besprechen. Vielleicht gibt es auch ganz neue Themen, die wir aufgreifen müssen. Das ist ein langer Prozess, den man angehen muss, und wir gehen mit diesem Krankenhauszukunftsgesetz jetzt in die richtige Richtung.
Wir sind uns einig, dass es hier einen großen Handlungsbedarf gibt. Aber ich glaube, wir sind uns auch darin einig: Die Pandemie hat uns gezeigt, dass die Menschen in Deutschland gut und ordentlich versorgt werden. Wir stehen im Vergleich mit den anderen europäischen Ländern an der Spitze. Wir sind leistungsfähig. Menschen in den Krankenhäusern, ob sie als Ärzte, Pfleger oder in der Verwaltung arbeiten, sind in der Aus- und Weiterbildung. Wir müssen erkennen, dass dieses System nicht krank, sondern gesund ist, dass wir uns natürlich aber auch weiterentwickeln müssen. Deshalb, Herr Minister, danke für diesen Mut.
Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.
Danke aber auch, dass Sie explizit erwähnt haben, dass unsere Krankenhauslandschaft nur dann so gut sein kann, wenn die Menschen, die dort arbeiten, uns unterstützen und wir das gemeinsam angehen. Von daher: ein herzliches Dankeschön, auch für die Zeit, Herr Präsident.
Danke.
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Vielen Dank, Herr Kollege Irlstorfer. Ich hatte Ihnen eine Minute Redezeit nicht abgezogen, ich hatte Ihnen keine Minute dazugegeben.
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Ich bitte, das beim nächsten Mal zu beachten.
Damit ist die Aussprache beendet.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf den Tribünen! Die Freiheitsentziehung ist sicherlich der heftigste und intensivste Eingriff, den der Staat gegenüber einem Bürger vornehmen kann. Deshalb ist es richtig und wichtig, dass, wenn Staatsorgane Fehler machen, insbesondere unsere Gerichte, und Bürgerinnen und Bürger zu Unrecht inhaftiert werden, eine staatliche Entschädigung gezahlt wird. Und das darf kein Almosen sein. Deshalb ist es gut, dass wir heute die Haftentschädigung pro Tag verdreifachen, von 25 auf 75 Euro.
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Es zeichnet einen starken Rechtsstaat aus, dass Justizfehler, die zum Glück nur sehr selten vorkommen, nicht nur korrigiert werden, sondern Bürger, die zu Unrecht inhaftiert wurden, auch eine ordentliche Entschädigung bekommen. Hält man sich vor Augen, was Haft für einen Bürger bedeutet, dann ist klar, dass wir hier tätig werden müssen: Ein Bürger, der inhaftiert wird, verliert möglicherweise seinen Arbeitsplatz, möglicherweise seine Wohnung, vor allem aber wird er aus seinem Umfeld herausgerissen und ist stigmatisiert durch die gerichtliche Entscheidung, die eine Straftat oder zumindest den Verdacht einer solchen bestätigt. Hält man sich diese schwerwiegenden Folgen einer Inhaftierung vor Augen, dann ist klar, dass die Entschädigung einen wirklichen Wert haben muss, wenn dieses erlittene Unrecht angemessen ausgeglichen werden soll. Auch deswegen müssen wir diesen Gesetzentwurf heute beschließen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Justizfehler, also Inhaftierungen, die zu Unrecht erfolgen, passieren zum Glück nicht allzu oft. Dennoch müssen wir davon ausgehen, dass etwa 400 Bürger in Deutschland pro Jahr zu Unrecht inhaftiert werden. Heute bekommen sie – um mal die konkreten Zahlen zu nennen – für einen Monat 775 Euro. Auf Basis des Gesetzentwurfs des Bundesrates werden es 2 325 Euro sein. Das ist eine deutliche Steigerung, die wir heute auf jeden Fall hier so beschließen sollten.
Auf der Tagesordnung bleibt – das ist nicht Teil dieses Gesetzentwurfs –, dass wir uns unbedingt darum kümmern müssen, dass diese Entschädigung tatsächlich bei den zu Unrecht Inhaftierten ankommt. Kollege Müller hat hierzu gute Vorschläge im Rechtsausschuss vorgetragen, etwa die Beiordnung eines Rechtsanwalts. Das bleibt weiter auf der Tagesordnung, auch wenn wir das mit diesem Gesetzentwurf heute noch nicht regeln.
Ja, natürlich hätte man sich eine höhere Entschädigung als 75 Euro vorstellen können. Auch darüber haben wir natürlich beraten. Von den Oppositionsfraktionen wird ja eine Versechsfachung auf 150 Euro pro Tag vorgeschlagen. Dagegen spricht, dass das mit den Ländern nicht abgesprochen ist. Wenn wir heute hier etwas beschließen würden, was nicht mit den Ländern abgesprochen ist, dann liefen wir Gefahr, dass diese Regelung überhaupt nicht kommt. Also gehen wir doch diesen ordentlichen Schritt in die richtige Richtung. Eine Verdreifachung kann sich wirklich sehen lassen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Wenn der Staat einen Fehler macht, dann sollte dieser Fehler nicht nur korrigiert, sondern auch entschädigt werden; dafür sollten wir sorgen. Stimmen wir also diesem guten Gesetzentwurf zu.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Fechner. – Nächster Redner ist der Kollege Stephan Brandner, AfD-Fraktion.
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Hochverehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir reden heute über nichts weniger als den Wert der Freiheit. Das ist brandaktuell; denn wir leben in einer Zeit, die geprägt ist von Grundrechtseingriffen, Freiheitsbeschränkungen und Einschränkungen der freien Gesellschaft an nahezu allen Ecken und Enden. Wir leben in einer Zeit, in der die Erosion des Rechtsstaats eine völlig neue Qualität erreicht hat und der Krampf gegen rechts und die Coronahysterie bei Ihnen von den Altparteien sämtliche Hemmungen haben fallen lassen, was Grundrechtsverstöße und Rechtsbrüche angeht.
Daher müssen wir uns in sämtlichen Bereichen die Frage stellen: Was ist die Freiheit des Menschen wert? Diese Frage haben wir uns als AfD gestellt, und zwar auch mit Blick auf Menschen, die unschuldig in Haft sitzen; um diese geht es ja bei diesem Tagesordnungspunkt.
Bisher erhalten solche Justizopfer pro Tag zum Ausgleich des immateriellen Schadens eine Pauschale von lächerlichen 25 Euro, von der auch noch ein Ausgleich für „Vorteile“, die man dadurch hatte, in Haft zu sitzen – also Knast und Kost –, abgezogen wird. Meine Damen und Herren, es ist kaum zu glauben: Die Altparteien haben das jahrzehntelang so akzeptiert. Die Freiheit des Menschen war ihnen 750 Euro im Monat abzüglich Kost im Knast wert. Niemanden aus den Altparteien hat diese extreme Schräglage gestört, bis die AfD das Problem aufgegriffen hat.
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Gucken Sie auf unseren Gesetzentwurf, datiert auf Dezember 2019. Und siehe da: Bundesrat und Altparteien wurden tätig, der Bundesrat mit Gesetzentwurf vom 5. Februar 2020, Linke und FDP mit Anträgen vom 11. Februar und 10. März 2020 – Anträge, wohlgemerkt; für Gesetzentwürfe hat es da offenbar nicht gereicht –, und die Grünen haben das Ganze fast bis zum Ende verschlafen. Die kamen dann vorgestern mit einem halbseitigen Antrag und haben lapidar irgendwelche Zahlen genannt.
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Es hat mich sehr gewundert, Herr Fechner, dass Sie hier diesen Redereigen eröffnet haben; denn interessanterweise haben SPD und CDU/CSU bisher gar nichts vorgelegt. Ihnen scheint es offenbar scheißegal zu sein, wie es den Justizopfern in Deutschland geht.
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Herr Fechner, ich wundere mich sehr, warum Sie sich dann hier vorn hinstellen und eine Bundesratsinitiative vertreten; das ist schon sehr interessant.
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Meine Damen und Herren, genau so funktioniert AfD-Politik in den Ländern und im Bund: Wir analysieren eine Situation, wir machen gute Vorschläge, wir legen Gesetzentwürfe und Anträge vor und bringen Sie von den Altparteien richtig auf Trab.
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Das ist politisches Jagen im besten Sinne. Deshalb wird es auch keinen überraschen, dass unser Gesetzentwurf das Problem am besten und umfassend löst.
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Wie gesagt: Gesetzentwürfe von Linken, FDP und Grünen gibt es ja überhaupt nicht, das sind irgendwelche heruntergerotzten Anträge. Von uns gibt es einen Gesetzentwurf, der nicht nur das Problem der Tagesentschädigung löst – wir sagen: 100 Euro pro Tag für das erste zu Unrecht erlittene Haftjahr, 200 Euro pro Tag ab dem ersten Tag im zweiten Haftjahr. Und was ganz entscheidend für uns ist: keine Abzüge mehr für Kost im Knast. Das ist eine erbärmliche, pingelige, kleinkarierte Art und Weise, die Justizopfer noch einmal nachträglich zu drangsalieren. Wir sagen vor allem: Nachversicherung in der Rentenversicherung. – Das sind ganz klare Dinge, die geregelt werden müssen,
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an die weder Sie mit Ihren komischen Anträgen gedacht haben noch der Bundesrat, und, wie gesagt, CDU/CSU und SPD haben sich darum bisher noch gar nicht gekümmert.
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Meine Damen und Herren, dass Sie von den Altparteien für die Bedeutung der Freiheit in diesem Land nicht nur kein Händchen mehr haben, sondern wahrscheinlich sogar schon beide Hände verloren haben, überrascht von den Zuschauern draußen wahrscheinlich keinen. Uns von der AfD ist natürlich klar, dass jede Entschädigung, egal in welcher Höhe, nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist. Aber wir packen das System an der Wurzel: Wir wollen ordentliche Entschädigungshöhen, wir wollen keine Abzüge mehr, und wir wollen eine Nachversicherung in der Rentenversicherung.
Ich denke, wenn Sie mal in sich gehen, werden auch Sie erkennen, dass das mit Abstand der beste Gesetzentwurf ist, der vorliegt, sodass einer Zustimmung Ihrerseits nichts mehr im Wege stehen dürfte.
Vielen Dank – auch Ihnen, Herr Präsident.
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Vielen Dank, Herr Brandner. – Nächster Redner ist der Kollege Axel Müller, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zurück zum eigentlichen Kernthema. Bevor ich Mitglied des Bundestages geworden bin, war ich fast zwei Jahrzehnte als Strafrichter in unterschiedlichen Verwendungen tätig. Ich habe selbst viele Hundert Urteile gefällt oder war an ihrem Zustandekommen maßgeblich beteiligt. Ich gebe zu: Die allermeisten sind mir nicht mehr im Gedächtnis.
Im Gedächtnis verhaftet geblieben ist mir jedoch, dass ich in einem Fall dafür verantwortlich war, dass ein Mensch über mehrere Wochen, bis zu seinem Prozessbeginn, zu Unrecht in Untersuchungshaft gesessen hat. Erst im Laufe der Hauptverhandlung, in der ihm der Vorwurf des sexuellen Missbrauchs zum Nachteil seiner beiden Kinder gemacht wurde, stellte sich heraus, dass er das Opfer eines Aussagekomplotts gewesen war, dem auch ich aufgesessen bin – im Grunde unverzeihlich.
Um diese Fälle von Justizunrecht geht es im Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen, kurz StrEG. Dieses Gesetz wollen wir heute ändern. Das StrEG bildet die Grundlage für die Entschädigung von zu Unrecht erfahrenen Urteilsfolgen, also zum Beispiel, wenn jemand zu Unrecht im Gefängnis gesessen hat und dadurch einen immateriellen Schaden erfahren hat, wie es im Gesetz steht. Erfasst werden aber auch materielle Schäden aus Ermittlungsverfahren, die beispielsweise aufgrund einer geschäftsschädigenden, zu Unrecht erfolgten Durchsuchung oder einer zu Unrecht erhobenen Anklage entstanden sind.
In der Praxis spielt das StrEG zahlenmäßig Gott sei Dank keine große Rolle, da Staatsanwaltschaften und Gerichte sehr sorgfältig arbeiten. Es spielt auch deshalb keine große Rolle, weil unser Rechtsstaat so gut funktioniert, dass er fehlerhafte Entscheidungen aus sich selbst heraus in den dafür vorgesehen rechtsstaatlichen Verfahren und Institutionen zu korrigieren in der Lage ist, bevor ein zu entschädigendes Unrecht geschieht. Wenn aber ein Entschädigungsfall eintritt, so muss die Entschädigung angemessen sein.
Seit 2009 – das ist sicherlich ein Missstand – wurden im StrEG die darin festgelegten Sätze zur Entschädigung für zu Unrecht erlittene Haft nicht mehr angehoben. Die Landesjustizminister haben sich daher auf ihrer Justizministerkonferenz im November 2017 – Herr Brandner, hören Sie bitte zu –, also lange bevor Sie auf dieses Thema gestoßen sind,
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darauf verständigt, die Entschädigung von 25 Euro auf 75 Euro für jeden zu Unrecht erlittenen Hafttag zu erhöhen. Allerdings liegt die Gesetzgebungskompetenz beim Bund. Daher haben sie den Bund aufgefordert, dass er die Sätze bitte entsprechend anpassen möge. Genau das machen wir heute auf der Grundlage des vorgelegten Gesetzentwurfs, indem wir den Betrag von 25 Euro auf 75 Euro anheben und damit auf einen Schlag verdreifachen. Bedenkt man – zugegebenermaßen erst auf Antrag –, dass dann auch noch die Rentenversicherungsbeiträge nachentrichtet werden, stellt man fest, dass dies insgesamt angemessen und ausreichend ist.
Kurz noch zum Überbietungswettbewerb bei den Anträgen der Oppositionsfraktionen. Die Grünen und die FDP fordern in ihren Anträgen jeweils 150 Euro Entschädigung pro Tag, die Linken und die AfD wollen in einem gestaffelten Verfahren mit bis zu 200 Euro pro Tag entschädigen.
Die weitergehenden Forderungen von FDP und Linke im StrEG, eine sozialarbeiterisch betreute Wiedereingliederungshilfe zu institutionalisieren, sind meines Erachtens mit Blick auf die wenigen Fälle nicht praxisgerecht. Das kann man in den bestehenden sozialstaatlichen Strukturen lösen.
Man muss die Bearbeitung auch nicht, wie es die Linken fordern, aus den Strafverfolgungsbehörden auslagern, die dafür zuständig sind, insbesondere die Staatsanwaltschaften; denn sie haben darauf reagiert und Spezialzuständigkeiten der einzelnen Entschädigungsdezernate begründet. Der vormals mit dem Fall befasste Staatsanwalt bleibt daher im Verfahren.
Über ihre Ansprüche und Möglichkeiten – das gebe ich zu – müssen betroffene Personen jedoch besser und umfassender belehrt werden. Für die notwendige Transparenz zu sorgen, ist allerdings Ländersache. Das kann beispielsweise in den entsprechenden Beratungsvorschriften auf Länderebene geregelt werden. Verbesserungen bei der Rechtsberatung – Kollege Fechner hat es gesagt – sind meines Erachtens wünschenswert. Hier lässt man die Betroffenen in der Praxis in der Regel etwas im Regen stehen. Es folgt eine kurze rechtliche Beratung und die Aushändigung eines Formulars und oftmals die Hoffnung, der Verteidiger möge es schon richten.
Die Vorschläge der Opposition berücksichtigen allesamt nicht, dass die Justiz in der Hand der Länder liegt. Diese zahlen am Ende die Zeche hierfür. Sie haben uns die Prokura für eine Erhöhung der Entschädigung auf 75 Euro erteilt, und wir können nicht einfach nachträglich die Preisschilder austauschen und die Leistungen erweitern und die damit verbundene Belastung den Ländern aufbürden. Die Grünen regieren in zehn Bundesländern mit. Umso verwunderlicher ist es, dass Sie sich hier wieder einmal janusköpfig zeigen und die Interessen der Länder einfach ausblenden. Dies widerspricht einer guten Partnerschaft von Bund und Ländern und trägt nicht gerade zur Vertrauensbildung auf der Bund-Länder-Ebene bei.
Wir sollten auch nicht dem Irrglauben unterliegen, dass mit Geld oder neuen Institutionen den Justizopfern ausreichend Gerechtigkeit widerfahren kann. In meinem eingangs geschilderten Fall habe ich den Angeklagten in öffentlicher Hauptverhandlung um Entschuldigung gebeten, und er hat sie mir gewährt. Das war uns beiden sehr wichtig. Auf eine Entschädigung hat er nachträglich sogar verzichtet, ein Verzicht, den die Linken eigentlich abschaffen wollen.
Ich schließe mit den Worten unseres Parlamentspräsidenten Dr. Wolfgang Schäuble von gestern: „Auf einen starken Rechtsstaat kommt es an“. Und ich füge hinzu: Ein starker Rechtsstaat zeichnet sich auch dadurch aus, dass er und seine Repräsentanten die Fähigkeit besitzen, Fehler zuzugeben und dafür zu sorgen, dass Justizopfer die erforderliche Wiedergutmachung erfahren. Das tun wir mit der heutigen Novellierung des StrEG, weshalb ich für eine breite Zustimmung werbe.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Jürgen Martens, FDP-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der heute vorliegende Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Entschädigungsgesetzes bei strafrechtlichen Maßnahmen – das möchte ich klarstellen – befasst sich nicht mit dem Ausgleich eingetretener materieller Schäden – sie werden gesondert erfasst; um das auch für die Zuhörer klarzustellen –, sondern hier geht es um den Ausgleich immaterieller Schäden, sprich – es ist schon gesagt worden –: um den Wert der Freiheit.
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– Ja, eine Frage kann man stellen, aber sie wird nicht immer zutreffend beantwortet. Für die Freiheit in diesem Land sind doch eher die Liberalen zuständig. Bei ihnen ist sie besser aufgehoben als bei denjenigen, die hier behaupten, die Freiheit zu schützen, sie aber in Wirklichkeit bei jeder Gelegenheit nur verächtlich machen.
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Meine Damen und Herren, wir waren und sind uns sicherlich einig, dass der bisherige Betrag von 25 Euro je Tag erlittener Freiheitsentziehung unangemessen gering ist; er ist schäbig gering. Deswegen wird seit Längerem über eine Erhöhung der Entschädigungssätze diskutiert. Die Länder haben in einem Gesetzentwurf gefordert, die Entschädigungssumme auf 75 Euro pro Tag festzusetzen. Das erscheint uns allerdings zu gering; denn es gibt viele Aufwendungen und Kosten, die auf den zu Unrecht Inhaftierten zukommen, die mit dem normalen Schadensersatz erst gar nicht erfasst werden. Im Regelfall gehen bei einer Inhaftierung Arbeitsplatz und Wohnung verloren, und zwar nach relativ kurzer Zeit. Eine neue Wohnung wird sich im Regelfall nicht mehr zum alten Mietsatz besorgen lassen. Einen Ausgleich hierfür kann der Betroffene auf normalem Wege nicht erlangen. Das Finden eines neuen Arbeitsplatzes mit gleichen Bedingungen ist schwierig und gelingt nur in wenigen Fällen. Die Aufwendungen der Angehörigen für Besuche oder auch für andere Arbeiten werden im normalen Entschädigungsrecht ebenfalls nicht berücksichtigt. Deswegen glauben wir, dass ein Satz von 150 Euro je Tag erlittener Freiheitsentziehung angemessen ist, und zwar über die gesamte Dauer der Freiheitsentziehung. Wir unterscheiden bei der Höhe des Betrages nicht nach der Dauer der Freiheitsentziehung.
Noch etwas ist uns wichtig und deswegen in unserem Antrag aufgeführt: Die Betroffenen brauchen Unterstützung bei der Wiedereingliederung in ihr Leben, das vom Staat erheblich gestört und bisweilen in seinen Grundfesten erschüttert, ja sogar zerstört worden ist. Deswegen ist es nur gerecht, wenn im Gesetz vorgesehen wird, dass die Unterstützung von einem Sozialdienst oder von einer sozialdienstähnlichen Begleitung geleistet wird. Anders als der Kollege Müller bin ich nicht der Auffassung, dass das im Rahmen der bestehenden Strukturen möglich ist. Sie werden dort ganz schnell erleben, dass jeder, den Sie fragen, sich für unzuständig erklärt. Auch das sollte geändert werden.
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Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Martens. – Nächster Redner ist der Kollege Friedrich Straetmanns, Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren und Kollegen! Wir beraten heute über mehrere Vorlagen zum Thema „Entschädigung für zu Unrecht erlittene Strafverfolgungsmaßnahmen“ oder einfacher gesprochen: zur Haftentschädigung. Wir begrüßen, dass der Bundesrat die Entschädigungsleistungen erhöhen möchte. Dies geht uns jedoch nicht weit genug, weswegen wir Linken einen eigenen Antrag vorlegen.
Wir beantragen, die Situation von Menschen zu verbessern, die zu Unrecht in Haft saßen. Wir fordern eine gestaffelte Entschädigung, die bei 150 Euro pro Tag beginnt und auf bis zu 250 Euro pro Tag steigt.
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Diese Staffelung ist uns wichtig, weil die psychischen und physischen Schäden bei längerer Haft meist deutlich höher sind. Eine Inhaftierung hat einen schwerwiegenden Einfluss auf das Leben eines Menschen, egal ob sie rechtmäßig oder rechtswidrig ist. Auch wer zu Unrecht in Haft saß, ist oft sein Leben lang Vorurteilen ausgesetzt, verliert Arbeit und soziale Kontakte.
Das Problem zeigt sich besonders drastisch an dem folgenden Fall: Monika de Montgazon wurde 2005 wegen Mordes an ihrem Vater vom Landgericht Berlin mit Feststellung der besonderen Schwere der Schuld verurteilt. Das Gericht ging davon aus, dass sie ihren Vater durch Brandstiftung umgebracht hatte. Hierbei stützte es sich auf ein Gutachten des Landeskriminalamts. Der Bundesgerichtshof hob das Urteil – einstimmig und ohne Verhandlung – auf. Aufhebungsgrund war die unzureichende tatrichterliche Würdigung von widersprüchlichen Gutachten; denn das LKA-Gutachten erwies sich als fehlerhaft. Das muss man sich mal vor Augen führen: von der Feststellung der besonderen Schwere der Schuld zur Aufhebung ohne Verhandlung. So einfach geht das manchmal. Insgesamt saß Frau de Montgazon durch dieses Fehlurteil fast 900 Tage in Haft. Nach dem Urteil konnte sie nicht mehr als Arzthelferin weiterarbeiten. Sie versuchte, eine Diskothek zu betreiben, und scheiterte. Ich zitiere aus der Wochenzeitung „Die Zeit“:
Kurz nach Silvester 2016 wurde die 61-Jährige tot in ihrer völlig verwahrlosten Wohnung gefunden. Es war kein gewaltsamer Tod. Niemand hatte sie erschlagen, erwürgt oder vergiftet. Sie war nur – aufgrund systematischer Schlamperei und Arroganz – aus ihrem sozialen Gefüge katapultiert worden.
Ein drastisches Beispiel, aber solche Fälle gibt es tatsächlich, und das ist eines sozialen Rechtsstaats nicht würdig.
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Daher – so finden meine Fraktion und ich – müssen solche Fehlentscheidungen auch Konsequenzen nach sich ziehen, die für Justiz und Verwaltung spürbar sind und dadurch zu einer sorgfältigeren Entscheidungsfindung zwingen.
Darüber hinaus schlagen wir die Einrichtung von Anlaufstellen vor, vergleichbar mit Bewährungshelferinnen und Bewährungshelfern.
Neben der materiellen Entschädigung fordern wir eine Pflicht zur offiziellen staatlichen Entschuldigung, die auf Wunsch zu veröffentlichen ist. Das ist angesichts des Stigmas einer zu Unrecht verbüßten Freiheitsstrafe das Mindeste, was wir als Staat tun sollten.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Canan Bayram, Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Die Freiheit der Person ist unverletzlich“, sagt unser Grundgesetz. Wenn Menschen zu Unrecht die Freiheit entzogen wird, ist das ein rechtsstaatlicher und menschenrechtlicher Super-GAU. Der durch den Freiheitsentzug erlittene Rechtsverlust ist nicht mehr zu ersetzen. Er bleibt absolut. Man kann die Justizopfer nur entschädigen. Teil dieser Entschädigung ist die seit 2009 unveränderte Pauschale für den Ersatz immateriellen Schadens bei unrechtmäßiger Freiheitsentziehung. Dank der Initiative der Bundesländer Hamburg und Thüringen soll diese Pauschale nun von 25 auf 75 Euro pro Tag unrechtmäßiger Haft erhöht werden. Das ist unangemessen wenig, meine Damen und Herren, und wird dem Anspruch, den ein humaner Rechtsstaat an sich selbst stellen muss, nicht gerecht.
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Man denke nur an den zivilrechtlichen Entschädigungsanspruch bei einem vertanen Urlaubstag. Wie unverhältnismäßig ist das denn, bitte schön?
Die Bundesregierung und die Koalition haben trotz der Verhandlungsmacht des Bundes gegenüber den Ländern seit mehr als einem Jahrzehnt nichts für eine angemessene Erhöhung der Entschädigungsansprüche getan. Zu Unrecht inhaftierte Menschen haben wohl keine Lobby und finden erst recht keine Unterstützung bei der Bundesregierung oder dieser Koalition. Dabei brauchte es weitere Verbesserungen, meine Damen und Herren.
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Dazu gehört die Rentenversicherungsnachversicherung von Amts wegen für infolge der Haft nicht geleistete Beiträge mit Beitragshöhe entsprechend fiktivem Arbeitsentgelt in Freiheit.
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Dazu gehören Beweiserleichterungen bei der Geltendmachung von Vermögensschäden. Dazu gehört, dass endlich der skandalös-zynische sogenannte Vorteilsausgleich für Kost und Logis
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für die unrechtmäßige Haftzeit abgeschafft wird.
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Schließlich braucht es Hilfe bei der Reintegration zu Unrecht inhaftierter Menschen. Die Ankündigung aus der Koalition bei der Beratung dieses Gesetzentwurfs, zukünftig endlich tätig zu werden, darf nicht unverbindliche Ankündigung bleiben. Da nehme ich Sie beim Wort, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Zwei Dinge aber können wir sofort beschließen: erstens die Pauschale von 75 Euro auf 150 Euro pro Hafttag zu erhöhen und zweitens das Gesetz rückwirkend zum 1. Januar 2020 in Kraft zu setzen. Beratungsverzögerungen aufgrund von Inaktivität der Koalition und wegen der Covid-19-Pandemie verschobener öffentlicher Anhörungen dürfen nicht zulasten der Betroffenen gehen, meine Damen und Herren. Deshalb bitten wir Sie um Zustimmung zu unserem Antrag.
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Danke schön.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Bayram. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Karl-Heinz Brunner, SPD-Fraktion.
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Sehr verehrter Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Haft – ob Untersuchungshaft oder Strafhaft –, die zu Unrecht erlitten wurde, ist das Schlimmste, was einem Menschen in einem Staat geschehen kann. Ein schlimmeres Vergehen an Menschen durch einen Staat kann ich mir nicht vorstellen: Stigmatisierung nicht nur dadurch, in Haft zu sein, den Arbeitsplatz zu verlieren, das Stigma der Bevölkerung und der Nachbarschaft zu haben und gleichzeitig soziale Kontakte zu verlieren und zu wissen, dass man eigentlich allein ist. Deshalb bin ich dankbar dafür, dass der Bundesrat die Kraft gefunden hat, die kleine Zahl zwei durch die Zahl sieben zu ersetzen; denn mehr steht in dem Gesetz auch nicht. Die Entschädigung pro Tag soll von 25 Euro auf 75 Euro für zu Unrecht erlittene Haft erhöht werden. Das ist richtig so. Das ist gut so. Aber das ist nur ein Teil der Wahrheit, und das ist nur ein Teil dessen, was die Menschen erlitten haben.
Ich glaube, mit dieser Erhöhung gehen wir nur einen ersten Schritt. Wenn man den Mond besteigen würde wie Neil Armstrong, würde man sagen: Ein kleiner Schritt für den Menschen, ein großer Schritt für die Menschheit, wenn die Entschädigung von 25 auf 75 Euro angehoben wird. Aber wir sollten in den nächsten Wochen und Monaten darüber diskutieren – ich glaube, das ist den Schweiß der Edlen wert –, wo wir nachbessern können. Der Kollege Müller hat zu Recht angesprochen, dass die rechtsbeistandliche Vertretung eine notwendige Maßnahme ist, für die wir uns alle einsetzen sollten. Wir sollten aber auch darüber nachdenken, ob die derzeitigen Regelungen in §§ 4 und 5 des StrEG wirklich der Realität entsprechen. Dort heißt es – ich verkürze das –, dass der Strafgefangene, der im Ermittlungsverfahren lügt, damit rechnen muss, eingesperrt zu werden. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wer Angst davor hat, zu Unrecht verurteilt zu werden, wird auf Teufel komm raus lügen und alles machen, um der Haft zu entgehen. Das ist menschlich, das ist normal, und ein sozialer Rechtsstaat muss die Größe haben, damit umzugehen, dass seine Bürgerinnen und Bürger in der Stunde der bittersten Not vor Behörden lügen. Verabschieden wir uns von dem obrigkeitsstaatlichen Denken, dass jeder Bürger im Ermittlungsverfahren aktiv mitarbeiten muss. Nicht jeder ist Jurist und weiß, was auf ihn zukommt. Versuchen wir, den Menschen nicht nur Hoffnung zu geben, sondern als Staat auch die entsprechende Größe zu zeigen, zu entschädigen und Regelungen dafür zu schaffen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Brunner. – Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Paul Lehrieder, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich möchte anfangen mit einem Zitat von Konrad Adenauer: „Die persönliche Freiheit ist und bleibt das höchste Gut des Menschen.“ Für die Mehrheit von uns ist es geradezu unvorstellbar, dass ihre persönliche Freiheit – womöglich zu Unrecht – eingeschränkt sein könnte. Doch kein System ist unfehlbar, weswegen wir uns heute mit dem vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen auseinandersetzen. Ich möchte hier betonen, um Missverständnisse aufseiten der AfD vorzubeugen: Lieber Herr Brandner, es handelt sich nicht um die selbst gewählte Freiheitsaufgabe in einer ICE-Toilette. Das wurde schon früher nicht bezahlt und wird auch in Zukunft nicht bezahlt werden.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, zu Unrecht inhaftierte Menschen haben keine allzu starke Lobby, die sich für ihre Interessen einsetzt. Daher begrüße ich den vorliegenden Gesetzentwurf des Bundesrates ausdrücklich. Diesem liegt ein einstimmiger Beschluss der Justizministerkonferenz zugrunde, dass die bisherige Höhe der Entschädigung von 25 Euro pro Hafttag zu gering sei und dringend erhöht werden müsse. Die Entschädigung erfasst – hierauf hat der Kollege Martens von der FDP bereits hingewiesen – darüber hinaus auch den Ersatz des Vermögensschadens; auch das gehört zur Information. Wir reden hier und jetzt über einen Betrag zur Anerkennung eines zusätzlichen immateriellen Schadens. Der Anerkennungsbetrag für den immateriellen Schaden, die bereits genannten 25 Euro pro Tag, soll nun im Zuge dieses Gesetzes auf 75 Euro angehoben und damit verdreifacht werden.
Ich möchte kurz auf die Historie zurückkommen: In den Jahren 1988 bis 2009 lag dieser Betrag zunächst bei 20 D-Mark, dann bei umgerechnet 11 Euro. Ab 2009 lag er bei 25 Euro, und jetzt, 2020, wird er auf 75 Euro erhöht. Das heißt, dass dieser Betrag, wenn man die Jahre von 2009 bis heute betrachtet, innerhalb von elf Jahren von 11 Euro auf 75 Euro gestiegen ist. Das sind immerhin knapp 700 Prozent. Wir haben hier also eine Inflationsrate von 60 Prozent pro Jahr. Das ist nicht schäbig. Für viele ist es möglicherweise nicht ausreichend – wir werden immer wieder darüber nachdenken müssen –; aber es ist zumindest eine bessere, eine angemessene Entschädigung und durchaus nicht kleinzureden, wie es einige Redner der Opposition vorhin leider wieder getan haben.
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– Ja, bitte, Herr Frieser. Ich warte so lange, bis Sie geklatscht haben.
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Selbstverständlich gibt es unterschiedliche Auffassungen darüber, ob die jetzt vorgenommene Erhöhung angemessen ist, Herr Straetmanns; das haben auch die durchgeführten Anhörungen mehr als deutlich gemacht. Aber lässt sich der Wert der Freiheit überhaupt durch Geldleistungen abbilden? Geht es hier nicht vielmehr um symbolische Wiedergutmachung, um Genugtuung für das Opfer des unrechtmäßigen Freiheitsentzugs? Ich halte die Verdreifachung des Betrags für ein recht deutliches Zeichen der Wiedergutmachung – auf die Beträge habe ich schon hingewiesen – und für im Moment angemessen. Sie ist auch nicht in Stein gemeißelt. Verhältnismäßig finde ich darüber hinaus auch, dass wir den Vorschlag der Bundesländer zur Anpassung der Zahlungen ernst nehmen; denn schließlich haben diese die Entschädigungszahlungen am Ende zu leisten.
Lieber Herr Straetmanns, lieber Kollege Birkwald, jetzt muss ich noch einmal auf die Linken zurückkommen. Im Bundesrat sagt Ihr Ministerpräsident – der einzige Ministerpräsident der Linken – Ramelow, 50 Euro würden ausreichen. Hier im Bundestag fordern Sie aber 150 Euro, das heißt dreimal so viel, wie es Ihr eigener Ministerpräsident für angemessen und richtig hält. Das lässt sich leicht tun, wenn im Rahmen des Förderalismus der Bundestag bestimmt, was die Länder zahlen müssen. Ich stelle wieder einmal fest, dass der Spruch gilt: Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein.
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Hier im Bundestag 150 Euro fordern, aber Ihr eigener Ministerpräsident sagt, 50 Euro würden ausreichen! Vielleicht stimmen Sie das mal unter sich in der Partei ab, und dann schauen wir, wie es in Zukunft weitergeht.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Lehrieder. Ich war vorhin gnädig bei Ihren Kollegen; die Zeit haben Sie jetzt wieder aufgeholt. – Ich schließe die Aussprache.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Linksfraktion legt Ihnen heute Vorschläge für gute Arbeit in der Plattformökonomie vor. Unter Plattformarbeit verstehen wir alle Dienstleistungen, die über das Internet vermittelt und erbracht werden. Dabei werden die Beschäftigten digital koordiniert und kontrolliert.
Viele Plattformbetreiber machen ihre Beschäftigten zu Selbstständigen und erklären sich selbst zu reinen Vermittlern. Damit entledigen sie sich ihrer Verantwortung als Arbeitgeber. Sie müssen sich nicht um Arbeitnehmerrechte scheren, nicht um Arbeitsmittel, nicht um Mindest- oder Tariflöhne. Mitbestimmung – Fehlanzeige! Genau das ist nicht länger hinnehmbar!
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Bei vielen Plattformen frage ich mich, ob das Geschäftsmodell wirklich die großartige Dienstleistung ist oder nicht eher die krasse Ausbeutung der Beschäftigten. Dieser Verdacht drängt sich geradezu auf, wenn Plattformen wie Uber und Lyft, wie jetzt in Kalifornien, damit drohen, ihr Geschäft einzustellen, falls sie ihre Fahrerinnen und Fahrer wie Arbeitnehmer behandeln müssen; denn dann würde sich ihr Geschäftsmodell nicht mehr lohnen.
Die Linke sagt klipp und klar: Ausbeutung darf kein Geschäftsmodell sein.
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Die Politik muss diese negativen Auswüchse der Plattformökonomie abstellen, damit die positiven Seiten wie Flexibilität, Selbstbestimmung und leichter Einstieg in den Arbeitsmarkt sich überhaupt entfalten können. Deshalb müssen die Gesetze endlich so modernisiert werden, dass auch Plattformarbeit gute Arbeit sein kann.
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Bei der ortsgebundenen Plattformarbeit, der Gigwork, handelt es sich um Dienstleistungen, die lokal erbracht werden, zum Beispiel um Fahr- und Lieferdienste wie Lieferando oder Reinigungsdienste wie Helpling. Nach vielen Gesprächen mit Beschäftigten, mit Wissenschaftlern und Vertretern von Gewerkschaften sind wir der Auffassung, dass Gigworker grundsätzlich als Arbeitnehmer einzustufen sind.
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Sie müssen deshalb auch Anspruch auf eine vom Arbeitgeber mitfinanzierte Sozialversicherung, auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und auf Urlaub haben. Es kann doch nicht angehen, dass man hier auch noch die Tür für Lohndumping und für soziale Entsicherung aufhält.
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Differenzierter müssen wir bei der ortsunabhängigen Plattformarbeit, der Crowdwork, vorgehen. Die Arbeit in der Crowd wird ausschließlich online erbracht. Zum Teil finden sich hier hochqualifizierte und auch richtig gut bezahlte Tätigkeiten wie Programmierung, Architektur, Rechtsberatung und Design. Selbstständigkeit ist hier völlig in Ordnung. Aber der weit größere Teil der Crowdworker verrichtet kleinteilige und einfache Tätigkeiten; zum Beispiel geht es um das Abtippen von Listen oder das Schreiben von Katalogtexten. Das wird sehr schlecht und oft weit unterhalb des Mindestlohns bezahlt. Zwar sind diese Beschäftigten keine Arbeitnehmer im klassischen Sinn. Sie sind aber von den Plattformen wirtschaftlich abhängig und werden durch deren Technik und AGBs fremdbestimmt. Das werten wir als arbeitnehmerähnlich.
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Das heißt: Diese prekären Selbstständigen müssen wir deutlich besser schützen.
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Für sie will Die Linke ein Mindestentgelt ähnlich dem gesetzlichen Mindestlohn einführen. Wir wollen, dass sie gemeinsam über ihre Entlohnung und ihre Arbeitsbedingungen mit den Plattformbetreibern verhandeln können, und wir wollen, dass Arbeitsschutzrechte auch in der Crowd gelten. Das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit, um das hier mal in aller Deutlichkeit zu sagen.
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Werte Kolleginnen und Kollegen, Die Linke schlägt ein wohlüberlegtes Vorgehen vor. Wir wollen nicht die Plattformen plattmachen, sondern unredliche Geschäftsmodelle, damit verantwortungsvolle Plattformunternehmen wachsen können.
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Der Wettbewerb darf nicht weiter auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen werden.
Frau Staatssekretärin Griese, richten Sie Minister Heil von uns aus: Er kündigt jetzt seit drei Jahren an, gesetzliche Regelungen zur Plattformökonomie einzubringen. Regieren heißt aber mehr als ankündigen. Während schon Kanzlerkandidaten gekürt werden, ist immer noch nichts passiert. Der Minister steht hier weiter im Wort, zu handeln.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner ist der Kollege Thomas Heilmann, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Frau Tatti! Liebe Zuschauer, wenige auf der Tribüne, wahrscheinlich mehr an den digitalen Endgeräten! Um die, die vor den digitalen Endgeräten sitzen, geht es ja jetzt auch irgendwie. Ich habe beim ersten Lesen Ihres Antrages, Frau Tatti, gesagt: Na ja, immerhin ist es ein wirklich wichtiges Thema. Gut, dass Sie sich damit beschäftigen, und auch gut, dass Sie uns als Regierungskoalition da treiben. – Umso länger ich mich dann mit den Details beschäftigt habe, je mehr Haare habe ich in der Suppe gefunden. Das wird uns in den Ausschüssen noch eine Menge Arbeit verursachen, wenn wir das wirklich wollen.
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Es wird vernünftig zu analysieren und festzustellen sein, worum es geht. Sie haben gerade gesagt, es sei wohlüberlegt. Dieses Kompliment kann ich Ihnen leider nicht machen. Ich will Ihnen auch gerne begründen, warum das so ist.
Vorweg noch mal: Ja, es gibt gerade bei Gigwork, weniger bei Crowdwork unredliche Geschäftsmodelle. Wir sind uns einig: In einer sozialen Marktwirtschaft haben die nichts zu suchen. Dagegen müssen wir etwas tun.
Fangen wir mit Ihrem Zahlenwerk an. Sie sagen selber, 80 Prozent täten es im Nebenerwerb. Nach den Zahlen, die ich nachgelesen habe, sind es eher 99 Prozent. Ich weiß nicht, woher Sie die 80 Prozent haben. Ich finde, die erste Forderung, die wir als Parlament vielleicht gemeinsam erheben sollten, ist, dass wir das Thema Plattformarbeit in den Mikrozensus aufnehmen, um mal wirklich belastbare Zahlen zu haben, wie es denn eigentlich aussieht.
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Dass wir uns hier streiten, ob es jetzt 80 oder 99 Prozent sind, ist ja relativ unproduktiv, wenn man ehrlich ist.
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Das Zweite ist: Sie zeichnen hier ein Bild, nach dem die unredlichen Geschäftsmodelle hier dominieren. Auch das kann ich nicht so darstellen. Wenn Sie die Leute fragen, warum sie das machen, dann nennen über 90 Prozent der Leute, die das überwiegend im Nebenerwerb machen, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, weitere Aufträge, interessantes Zubrot. Keine 10 Prozent sagen, sie würden sich geldlich gezwungen fühlen, das zu tun. Auch das ist ja ein Indiz.
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Ich hatte ja schon gesagt: Bei Gigwork ist das Problem sicher größer. Deswegen sollte man damit auch anfangen. Da sind es natürlich vor allen Dingen die Fahrer und die Zustellbranche, bei denen man schwere Bedenken haben kann, ob es eigentlich sinnvoll ist, wie das jetzt organisiert wird. Bei allen anderen, glaube ich, können wir nicht annehmen, dass das Arbeitnehmer sind, weil das nicht der Charakter ihrer Tätigkeit ist, weil es systematisch nicht so ist; das Problem ist auch nicht groß genug.
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– Na ja, Sie sagen natürlich schon, dass bei Gigwork grundsätzlich anzunehmen sei, dass das Arbeitnehmer sind. Das halte ich nicht für sinnvoll.
Sie verschweigen auch, dass die Plattformer auch systematisch in einer Marktwirtschaft große Vorteile bringen. Sie nennen selber Helpling. Eine Plattform wie diese führt eben dazu, dass Putzhilfen usw. nicht überwiegend im Schwarzarbeitsbereich tätig sind, sondern sozusagen ans Licht gezogen werden und auch mal transparenter wird, was da stattfindet, was ich persönlich für einen großen Vorteil halte. Es wird auch mehr nach dieser Arbeit nachgefragt, gerade auch im B2C-Bereich, also von Privathaushalten. Auch das halte ich, ehrlich gesagt, für einen Vorteil, weil es die Arbeitsmenge vergrößert.
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Ich halte Ihren Vorschlag – um auch etwas Positives zu sagen –, wir müssten uns mal diese AGBs angucken und überlegen: „Welche AGBs lassen wir zu, und welche lassen wir nicht zu?“, für sehr bedenkenswert. Dem kann ich deutlich mehr abgewinnen als Ihren übrigen Vorschlägen.
Beim Thema Crowdwork vergessen Sie komplett den internationalen Aspekt;
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denn nicht nur die Plattformen können im Ausland sein, sondern auch die anderen Anbieter. Selbst der Katalogtextschreiber kann sehr wohl im Ausland sein. Das ist, glaube ich, die erste Wirkung, die wir haben. Wenn Sie sozusagen mit der Bombe auf diese Geschäftsmodelle zugehen, dann ist meine Vermutung, dass das vor allen Dingen international stattfinden wird,
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so wie Sie das ja zum Beispiel in der Callcenterbranche schon vielfach erleben.
Abschließend würde ich allerdings auch das Bundesarbeitsministerium bitten, zu sagen: Wir müssen noch in dieser Legislaturperiode vorankommen. – Das betrifft auch das Thema Soloselbstständige und deren Absicherung, die bei Gig- und Crowdwork sozusagen nur teilweise gegeben ist. Was wir auch auf jeden Fall hinbekommen sollten, ist, dass wir das Thema in dieser Legislaturperiode in den Mikrozensus aufnehmen; denn genauere Daten bedeuten, glaube ich, für alle Seiten eine Versachlichung der Debatte.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Heilmann. – Nächster Redner ist der Kollege Uwe Witt, AfD-Fraktion.
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Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer an den TV-Geräten!
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Wir diskutieren hier zwei Anträge der Fraktion Die Linke zu den Themen Crowd- und Gigworking. Lassen Sie uns kurz den tatsächlichen Istzustand umreißen.
Im Jahr 2019 lag die Zahl der Crowdworker in Deutschland bei knapp über 1 Million. Von dieser 1 Million Crowdworkern waren allerdings nur 25 Prozent tatsächlich aktiv. Die für Crowdworker über das Internet zur Verfügung stehenden Jobs können, wie Sie wissen, ganz unterschiedlicher Art sein, und auch der Schwierigkeitsgrad differiert stark.
Wer Mikrojobs im Internet übernimmt, tut dies meist, um sein derzeitiges Einkommen ein wenig aufzubessern; denn 39 Prozent der Crowdworker gehen in erster Linie einer abhängigen Beschäftigung nach, 31 Prozent befinden sich in Ausbildung oder im Studium, lediglich 8 Prozent aller Crowdworker sind selbstständig, weitere 7 Prozent arbeitslos. Ungefähr die Hälfte aller Mikroaufträge dauern zwischen 5 und 15 Minuten. 65 Prozent der Crowdworker erhalten pro Auftrag ein durchschnittliches Nettoeinkommen von 1,99 Euro.
Da es meistens nur zu einer sporadischen und auf einzelne Aufträge beschränkten Zusammenarbeit kommt, hat das Arbeitsgericht München bereits im vergangenen Jahr eindeutig festgelegt, dass es sich bei Crowdworkern um Selbstständige im Sinne des § 84 Absatz 1 Satz 2 HGB handelt. Das bedeutet: Sie arbeiten nach eigenem Ermessen mit eigenem Arbeitswerkzeug auf eigene Rechnung an einem Ort ihrer Wahl. Sie sind dem Auftraggeber nicht weisungsgebunden.
Sie fordern die Einführung eines Mindestentgeltes. Das ist ein sehr starker staatlicher Eingriff in den Markt. Am Ende haben wir eine staatliche Preisbindung und ein Bürokratiemonster, also die digitalisierte Ausgabe der DDR.
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Zu Ihrem Antrag „Gigworking“. Statt einen Arbeitnehmer direkt im Unternehmen zu beschäftigen, wird seine Leistung eingekauft. Gigworker gelten somit auch als Selbstständige. Zustande kommt der Kontakt, wie Sie wissen, zwischen beiden Parteien über eine Internetplattform, oftmals bereits über Handyapps. Nennen wir hier beispielhaft Uber, die Sie gerade schon erwähnt haben, oder auch MyHammer. Der Gigworker stellt nicht nur seine Arbeitskraft, sondern auch seine Infrastruktur zur Verfügung. Man geht in Deutschland von circa 2 Millionen Gigworkern aus, darunter vor allem Studierende und Rentner. Die Mehrheit der Beschäftigten sieht in dieser Tätigkeit einen Nebenjob. Diejenigen, die ihn in Vollzeit ausüben, arbeiten nur vorübergehend in der Gig Economy, meist zur Überbrückung einer Arbeitslosigkeit und im Schnitt nicht länger als eineinhalb Jahre.
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– Dazu kommen wir, lieber Kollege Birkwald.
Nimmt man nun die Anträge der Linkenfraktion genauer unter die Lupe, so findet man ein Konvolut an Plänen und Forderungen, die die Freiheit der Judikative – sprich: die Entscheidungen der Arbeitsgerichte – legislativ einschränken wollen. Ich sage sogar: Die Linken wollen geltende Rechtsprechung umgehen.
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Die Linke möchte also wieder einmal das Prinzip der freien und sozialen Marktwirtschaft gegen von oben angeordnete Verstaatlichung austauschen, wie so oft unter dem Deckmantel angeblicher Arbeitnehmerrechte.
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Doch wo deutsche Arbeitsgerichte kein Arbeitnehmer-Arbeitgeber-Verhältnis sehen, kann auch nicht die Fraktion der Linken eines konstruieren. Daher werden wir Ihren Antrag natürlich ablehnen.
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Danke schön.
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Vielen Dank, Kollege Witt. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Martin Rosemann, SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Normalerweise gehe ich ja nicht auf Vorredner der AfD ein. Aber ich finde schon, Herr Witt, dass es eine der vornehmsten Aufgaben des deutschen Parlaments in einer sozialen Marktwirtschaft ist, die Regeln der sozialen Marktwirtschaft, zu denen auch der Schutz von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gehört, umzusetzen. Das ist die Aufgabe des Parlaments; dafür sind wir gewählt.
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Meine Damen und Herren, die Digitalisierung bringt neue Erwerbsformen und neue Geschäftsmodelle hervor. Dazu gehört auch die Plattformarbeit. Plattformen bringen Angebot und Nachfrage von Tätigkeiten zusammen, in den Bereichen Reinigung, Essensauslieferung bis hin zur Programmierung, also ganz unterschiedliche Bereiche. Bisher ist Plattformarbeit in ihren unterschiedlichen Facetten ja kein Massenphänomen; aber Plattformarbeit nimmt zu, auch durch Corona.
Es ist wie so oft: Es gibt Licht und Schatten. Plattformarbeit hat Potenziale. Sie bietet neue Erwerbsmöglichkeiten. Sie hilft Anbietern, neue Kunden zu gewinnen, einfach und ohne große Kosten. Und sie erhöht auf der anderen Seite für die Kundinnen und Kunden die Markttransparenz. Aber Plattformarbeit hat eben auch Nachteile. Sie ist in vielen Fällen ein Einfallstor für Scheinselbstständigkeit. Sie wird genutzt für schlechte Arbeitsbedingungen bis hin zur Ausbeutung. Das, meine Damen und Herren, wollen und können wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten nicht akzeptieren.
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Deshalb sehen wir Regulierungsbedarf. Bundesminister Heil wird im Herbst diesen Jahres Vorschläge dazu vorlegen.
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Einiges, was Die Linke in ihrem Antrag aufgeschrieben hat, ist sicherlich diskussionswürdig. Aber es gibt halt auch Vorschläge, die grundsätzlich falsch sind. Dazu gehört Ihr Vorschlag, Plattformarbeiter generell zu abhängig Beschäftigten zu erklären.
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– Ja, auch wenn Sie es nur auf Gigworker konzentrieren wollen, bleibt es falsch. Denn es wird weder den Erwartungen der Betroffenen noch den Besonderheiten der Plattformökonomie, auch bei den Gigworkern, gerecht.
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Stattdessen brauchen wir vor allem drei Dinge: erstens einen besseren arbeitsrechtlichen Schutz – dazu ist es notwendig, die arbeitsrechtliche Statusklärung für Plattformtätige anzupassen, damit bestehendes Recht auch durchgesetzt werden kann –, zweitens ein einfacheres sozialrechtliches Statusfeststellungsverfahren, damit wir allen Beteiligten Sicherheit geben, und drittens die generelle Absicherung von Selbstständigen durch unsere sozialen Sicherungssysteme.
Meine Damen und Herren, wir merken doch jetzt in der Coronakrise nicht nur bei Plattformarbeit, dass eines der großen Probleme in unserer Gesellschaft ist, dass Selbstständige nur unzureichend sozial abgesichert sind. Viele Selbstständige kommen und sagen: Warum kriege ich eigentlich kein Kurzarbeitergeld?
Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.
Die Antwort ist einfach: Weil sie nicht in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt haben. Deswegen brauchen wir eine umfassende soziale Absicherung von Selbstständigen in unseren sozialen Sicherungssystemen.
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Wir werden bei der Rente damit anfangen, ganz konkret. Aber meine Überzeugung ist, dass wir dabei nicht stehen bleiben können.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Rosemann. – Nächster Redner ist der Kollege Matthias Nölke, FDP-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese beiden Anträge der Linken dokumentieren wieder mal ein tiefsitzendes Misstrauen in die Mündigkeit der Menschen und in das Streben von vielen nach Eigenverantwortung und Selbstverwirklichung. Sie wollen selbstständige Crowd- und Gigworker faktisch in Arbeitnehmer umwidmen.
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Damit legen Sie die Axt an die Selbstständigkeit. Heute sind es die Crowdworker, morgen die nächste Branche, und übermorgen fällen Sie den Baum des freien Unternehmertums.
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Als Hüter der sozialen Marktwirtschaft aber sagen wir Freie Demokraten Ihnen: Dieser Baum bleibt stehen.
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Gründung und Selbstständigkeit sind Ausdruck von Freiheits- und Gestaltungswillen, von Entschlossenheit und der Bereitschaft, auch einen steinigen Weg zu beschreiten, weil man eben vom Ziel überzeugt ist. Und seien wir mal ehrlich: Ihr Bild von Plattformarbeit hat mit der Realität in Deutschland kaum etwas zu tun.
Die Studie „Plattformarbeit in Deutschland“ der Bertelsmann-Stiftung zeichnet ein völlig anderes Bild als Ihre Anträge. So stellt sie beispielsweise fest, dass es sich bei Plattformarbeit in Deutschland zu 99 Prozent um einen Nebenerwerb handelt, der eine Haupttätigkeit zeitlich und finanziell ergänzt. Auch ist der Plattformarbeiter in Deutschland – Zitat – „eher überdurchschnittlich qualifiziert und finanziell bessergestellt“. Zusammenfassend sagt die Studie – ich zitiere –:
Plattformarbeit in Deutschland ist daher mitnichten ein Bereich pauschal prekär arbeitender Clickworker …
Deshalb ist es auch falsch, sie wie klassische Arbeiter des Industriezeitalters zu behandeln.
Für die Linkspartei
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– wenn es Ihnen besser gefällt: für Die Linke –, so scheint es, ist Selbstständigkeit ein Makel, ein Lebensweg zweiter Wahl. Sie verkennen den Wunsch der Menschen, selbstbestimmt ihren eigenen Lebensentwurf zu verfolgen und aus eigener Kraft etwas Neues aufzubauen.
Wir Freie Demokraten dagegen respektieren und unterstützen diesen Wunsch ausdrücklich. Wir wünschen uns eine bessere Gründerkultur, und wir begreifen die Vielfalt der Lebensentwürfe auch in der Arbeitswelt als Bereicherung unserer Gesellschaft.
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Wir Freie Demokraten fordern daher rechtssichere Rahmenbedingungen, die Selbstständigen das Leben erleichtern und es nicht erschweren. Soloselbstständige wie Arbeitnehmer zu regulieren, Start‑ups mit immer neuer Bürokratie zu belasten, ist ein Irrweg, selbst wenn er gut gemeint ist, meine Damen und Herren.
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Deshalb kann man nur sagen: Gönnen Sie den Menschen ihre Freiheit!
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Fördern Sie eine Kultur des Mutes und der Eigenverantwortung; denn das braucht Deutschland mehr denn je.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Nölke. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Beate Müller-Gemmeke, Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, dass die Fraktion Die Linke, liebe Jessica Tatti, dieses Thema heute auf die Tagesordnung gesetzt hat; denn es braucht auf den Plattformen natürlich auch Regeln und Standards. Die Rechte der Beschäftigten müssen gestärkt werden. Auch auf den Plattformen muss es fair und gerecht zugehen.
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Wenn Gigworker zu Soloselbstständigen gemacht werden, also ohne Rechte, ohne Schutz und ohne soziale Absicherung sind, dann ist das in keiner Weise akzeptabel. Deshalb will die Fraktion Die Linke gesetzlich klarstellen, dass es bei der Gig-Ökonomie immer um sozialversicherungspflichtige Beschäftigung geht. Die Motivation kann ich nachvollziehen. Die Fahrradkuriere von den Essenslieferdiensten sind aus meiner Sicht ganz klar Angestellte,
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und das Gleiche gilt auch für die Taxifahrerinnen von Uber.
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Und doch ist das zu pauschal; denn es gibt eben auch andere Plattformen, die beispielsweise handwerkliche Dienstleistungen vermitteln. Deshalb plädieren wir für einen anderen Weg. Wir wollen von Fall zu Fall, von Branche zu Branche mit dem Statusfeststellungsverfahren prüfen, ob es sich um selbstständige oder um abhängige Beschäftigung handelt.
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Bei den Kriterien der Statusfeststellung sehen wir aber großen Handlungsbedarf. Sie müssen geschärft und praxistauglich ausgestaltet werden. Hier ist die Bundesregierung längst in der Pflicht.
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Dann gibt es noch die anderen Plattformen; sie sind schon angesprochen worden. Hier programmieren Crowdworker einmal betriebsintern, einmal in weltweiter Konkurrenz. Es gibt auch die Clickworker, die kleinteilige Arbeitsaufträge am PC erledigen. Diese Arbeit ist ortsungebunden, und genau hier wird es richtig kompliziert. Hier brauchen wir auf jeden Fall klare Regelungen bei den Allgemeinen Geschäftsbedingungen. Notwendig ist die soziale Absicherung von Soloselbstständigen. Und was wir schon lange fordern, ist irgendeine Form von Mindesthonorar; denn auch hier braucht es unbedingt eine faire Untergrenze bei der Bezahlung.
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Wenn es um die Plattformen geht, dann ist uns auch das Thema Mitbestimmung wichtig. Wir haben bereits Anfang dieses Jahres gefordert, dass die Mitbestimmung auf arbeitnehmerähnliche Personen und auch auf Erwerbstätige auf Plattformen ausgeweitet wird; denn auch sie sollen die Möglichkeit erhalten, dass sie sich einmischen, mitreden und aktiv ihre Arbeitswelt mitgestalten können.
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Das Thema ist also vielfältig, und vor allem ist es wichtig. Es ist aber auch kompliziert. Ich freue mich auf die Debatte im Ausschuss. Es wird bestimmt kontrovers und damit auch spannend.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Der nächste Redner: für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Tobias Zech.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegen! Fast als Schlussredner will ich die Debatte ein bisschen schärfen und das, was wir diskutiert haben, in die richtige Richtung lenken. Ich glaube, wir müssen eines verstehen: In diesem Land – egal ob ich selbstständig tätig oder abhängig beschäftigt bin – werden Ausbeutung und prekäre Arbeitsverhältnisse nicht toleriert. Deshalb ist der Gesetzgeber aufgefordert, Mängel zu erkennen und abzustellen. Dafür sind wir heute hier, und das diskutieren wir auch.
In dieser Diskussion, die wir aufgerufen haben, gibt es zwei unterschiedliche Definitionen. Der Crowdworker ist in der Regel gut ausbildet. Der Crowdworker arbeitet in der Regel in einem globalen Wettbewerb, also nicht zwischen Köln und Düsseldorf, sondern zwischen Köln und Taipeh oder zwischen Köln und Marseille.
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– Das stimmt. Ich bin mir auch nicht sicher, ob der kulturelle Unterschied zwischen Köln und Düsseldorf nicht größer ist als zwischen Köln und Taipeh.
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Unabhängig davon ist beim Crowdworker ein ganz klares unternehmerisches Handeln erkennbar. Hier agiert die Plattform als Vertriebskanal, als Kanal, der Angebot und Nachfrage zusammenbringt.
Davon zu differenzieren ist der Gigworker, der in der Regel einfachere Tätigkeiten verrichtet und der auf einem lokalen Markt agiert. – Matthias, wieder Köln und Düsseldorf.
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Hier agiert die Plattform in einem anderen und viel tieferen und viel weiter gehenden Feld. Es geht nämlich nicht nur um das reine Zusammenbringen von Angebot und Nachfrage, sondern um die Abrechnung, den Einsatz bis hin zum Inkasso. Dennoch gibt es auch hier selbstständige Beschäftigung. Beim Crowdworker sehe ich am wenigsten Handlungsbedarf.
Der Antrag, den ihr formuliert habt, führt dazu, dass man pauschal alle Plattformen zum Arbeitgeber erklärt.
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Er führt dazu, dass ich Gigworker in die Schwarzarbeit treibe, und er führt dazu, dass ich Crowdworking-Plattformen, die nämlich nicht im lokalen, sondern im internationalen Wettbewerb stehen, ins Ausland treibe. Der Antrag, den Sie gestellt haben
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– oder die beiden Anträge –, hat nicht den Menschen im Fokus, sondern Strukturen.
Ich bin ein Fan von betrieblicher Mitbestimmung. Ich habe mich hier immer für die Tarifeinheit eingesetzt, ich habe mich hier immer für Mitbestimmung eingesetzt. Aber dass man jetzt Crowdworking-Plattformen in den Regelungsraum des Betriebsverfassungsgesetzes stellen will, führt am Ziel vorbei. Sie haben nicht den Menschen im Blick, Sie haben Strukturen im Blick. Somit kann man beide Anträge nur ablehnen.
Aber: Das Thema ist wichtig. Wenn wir in die Zukunft blicken, dann werden wir einen immer weiter sich dynamisierenden Arbeitsmarkt erleben. Wir müssen dem, was wir bei Gigworking, Crowdworking und anderen sich neu entwickelnden Arbeits-, Beschäftigungs- und Selbstständigkeitsverhältnissen erleben, Rechnung tragen. Dabei gibt es zwei Ziele.
Für mich Ziel Nummer eins: Wir brauchen Rechtssicherheit, und zwar Rechtssicherheit für alle am Prozess Beteiligten, für die Kunden, die eine Dienstleistung entgegennehmen, für die Dienstleister, die sie erbringen – natürlich haben sie das Recht, sich als selbstständig anzusehen und selbstständig tätig zu werden –, aber wir brauchen diese Rechtssicherheit auch für die Plattformbetreiber.
Deshalb müssen wir uns – das haben wir heute schon zweimal gehört – mit der Statusfeststellung beschäftigen. Wir brauchen mehr Flexibilität bei der Statusfeststellung. Auch das Ministerium braucht mehr Flexibilität bei der Statusfeststellung, ohne dass wir § 7 SGB IV aufweichen. Wir müssen uns überlegen, ob wir das, was wir in der Vergangenheit gemacht haben – bei der Statusfeststellung auf den Auftrag zu schauen –, auf die Tätigkeit ausdehnen und die Tätigkeiten bewerten. Wir geben den Tätigkeiten das Plazet und somit auch das Gütesiegel einer Selbstständigkeit. Und wir brauchen mehr Fachkompetenz bei der Clearingstelle der Rentenversicherung. Ich denke, wir brauchen ein Expertengremium aus Crowdworkern, Gigworkern, aber auch aus Plattformbetreibern, die diese Dynamik des Arbeitsmarktes bei der Statusfeststellung einbringen.
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Das zweite Ziel ist viel wichtiger: Wir brauchen eine soziale Absicherung, und zwar für jeden Arbeitenden in diesem Land:
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für die abhängig Beschäftigten, aber auch für die Selbstständigen, für die Gigworker, für die Crowdworker. Wir brauchen eine Absicherung, um kein System zu schaffen, in dem man sein Leben lang als Crowdworker, Gigworker oder als sonstig Selbstständiger arbeitet und dann in der Altersarmut landet. Wir müssen diesen Menschen ein Hilfsmittel an die Hand geben und sie in die soziale Sicherung bringen. Wir brauchen die Selbstständigkeit, den Mittelstand, die Unternehmen in diesem Land; aber wir brauchen auch eine soziale Absicherung.
Ich kann mir vorstellen, dass wir mit dieser Debatte auch eine Debatte über die Sozialversicherung oder die Alterssicherung von Soloselbstständigen anstoßen. Wir müssen entsprechende Regelungen dafür treffen, aber nicht festgelegt auf eine der Säulen. Vielmehr sollen die Soloselbstständigen frei in der Wahl der Absicherung sein, egal ob betrieblich, privat oder gesetzlich. Aber Vorsorge muss sein.
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Dann haben wir ein Zukunftskonzept, dann haben wir ein Konzept, das die Dynamik des Arbeitsmarktes abbildet. Das stellt den Menschen in den Mittelpunkt und nicht die Struktur.
Herzlichen Dank.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man die Debatte zusammenfasst, dann kann man sehen, dass bis auf zwei Parteien hier in diesem Haus alle erkannt haben, dass diese relativ junge Ökonomie, diese digitalisierte Arbeitswelt nicht zügellos oder ohne Regeln bleiben kann, sondern dass man genau hinschauen und einen Schutz für die Beschäftigten in dieser Branche schaffen muss, aber auch faire Wettbewerbsbedingungen herstellen muss. Das ist unser Job; das ist unsere Aufgabe. Deswegen war es gut, dass Sie von den Linken diese Anträge heute eingebracht haben.
Fünf von hundert Menschen – das habe ich gelesen – sind bereits in dieser Branche beschäftigt: Gigworking, Crowdworking, Clickworking, Mikrotasking und was es da alles so gibt. Diese Branche wächst immer stärker. Ich habe mich mit einer Fahrradkurierin getroffen. Sie hat 10 000 Kolleginnen und Kollegen; das ist also keine kleine Branche. Sie fahren mit dem Fahrrad Essen aus, entweder in großen Rucksäcken, die sie umgeschnallt haben, oder in riesigen Behältern. Dieses Geschäft wird über eine Plattform organisiert.
Diese 10 000 Beschäftigten wollten sich über die interne Kommunikationsplattform vernetzen und haben dann – nach vielen Schwierigkeiten – auch einen Betriebsrat gegründet. Alle 10 000 Beschäftigten hatten aber nur befristete Arbeitsverträge. Die Arbeitsverträge der Betriebsratsmitglieder sind ausgelaufen; somit war auch der Betriebsrat wieder weg. Das kann nicht sein. Das ist eine Umgehung der Mitbestimmung. Mir liegt sehr am Herzen, dass die Mitbestimmung gestärkt wird. Es geht darum, dass wir neu definieren, was ein Betrieb ist. Den gibt es so nicht mehr, wie man es aus dem Fabrikwesen oder vielleicht aus eigener Erfahrung kennt. Das Zutrittsrecht für Gewerkschaften muss geregelt werden, eine bessere Kommunikation muss möglich sein. Das sind alles Dinge, die zu klären sind, und zwar von uns.
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Aber auch die Arbeitgebenden hier im Land – auch wenn sie aus Amerika kommen und das vielleicht nicht so kennen – müssen wissen, dass Mitbestimmung gelebte Demokratie ist. Mitbestimmung ist eine Schule der Demokratie im Arbeitsleben. Das hilft der Demokratie insgesamt in unserem Land; denn Demokratie muss gestärkt werden, sie muss geschützt werden. Wer Arbeit erledigt haben will, wie auch immer, durch einen 40-Stunden-Job, einen 35-Stunden-Job oder durch Multitasking, das vier Sekunden dauert, und das zwanzigmal am Tag, muss dafür auch ordentlich bezahlen und die Beschäftigten schützen.
Ich freue mich auf die Debatte im Ausschuss.
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Vielen Dank, Kollege Rützel. – Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf den Tribünen! Unverschämte Aufforderungen zu allen möglichen Unterlassungserklärungen, horrende Forderungen von Anwaltsgebühren, Drohungen mit einem Schufa-Eintrag und Ähnliches, all das kennen wir aus unseren Bürgersprechstunden und aus den Briefen von Unternehmen, wenn sie von windigen Anwaltskanzleien unverschämte und vor allem missbräuchliche Abmahnungen bekommen. Das wollen wir stoppen; denn es kann nicht sein – und zwar gerade jetzt in der Coronazeit –, dass sich unsere Unternehmen mit diesen missbräuchlichen Abmahnungen herumschlagen müssen, die nur zum Ziel haben, die Unternehmen abzuzocken. Genau das stoppen wir mit diesem Gesetz: Wir verhindern, wir verbieten missbräuchliche Abmahnungen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Dabei ist, um es klar zu sagen, die befürchtete große Abmahnwelle durch die Datenschutz-Grundverordnung ausgeblieben; aber es gibt eben doch noch genügend Fälle und vor allem auch genügend windige Anwaltskanzleien, die missbräuchlich abmahnen und nur aus Gewinninteresse unsere Unternehmen abzocken. Da können wir nicht zuschauen, und deswegen ist das ein wichtiges Gesetz. Herzlichen Dank an das Justizministerium für die gute Zusammenarbeit.
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Das entscheidende Mittel ist, dass wir die finanziellen Anreize für diese Abzocke einschränken. Gerade weil sich bei kleineren Firmen, etwa bei Onlineshops oder Start-ups, schnell einmal ein kleiner Fehler einschleicht, wollen wir dort die Erstattung von Anwaltskosten bei Abmahnungen wegen Verstößen gegen Informations- und Kennzeichnungspflichten abschaffen.
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Das ist ein ganz wichtiger Schritt, weil es gerade bei diesen Kleinunternehmen und Start-ups schnell passieren kann, dass ein noch unerfahrener Geschäftsführer loslegt, eben nicht die strengen Vorschriften einhält und dann mit den erheblichen Folgen zu leben hat. Das werden wir verhindern, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Genauso schließen wir die Erstattung von Abmahnkosten wegen Datenschutzverstößen aus. Die Grenze ziehen wir hier bei Unternehmen mit weniger als 100 Mitarbeitern; das ist immer noch eine recht stattliche Größe. Ganz wichtig war uns auch, dass gemeinnützige Vereine, wenn sie die Datenschutz-Grundverordnung auf ihren Internetseiten nicht einhalten, nicht abgemahnt werden können. Es gab bei vielen Sportvereinen, bei vielen Vereinen die Sorge, dass es hier zu hohen Abmahnkosten kommt. Auch das werden wir mit diesem Gesetz verhindern, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Wir verhindern ausdrücklich missbräuchliche Abmahnungen und haben im Gesetz ganz präzise definiert, wann wir eine Abmahnung als missbräuchlich ansehen. Also, wenn ein Unternehmen etwa sehr viele Abmahnungen gegenüber einem Mitbewerber ausspricht, obwohl es selber kaum wirtschaftlich tätig ist, oder wenn der Gegenstandswert für die Berechnungen der Abmahnkosten exorbitant hoch ist: Das sind alles Anzeichen für missbräuchliche Abmahnungen, und die werden wir verbieten.
Sie sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch wenn erfreulicherweise die von vielen befürchtete Abmahnwelle durch die Datenschutz-Grundverordnung ausgeblieben ist: Es gibt nach wie vor noch hohes Missbrauchspotenzial. Deswegen werden wir hier entsprechende Regelungen treffen. Es mag sein, dass manche Abmahnung vor Gericht sicherlich gar keinen Bestand hätte; aber wir wollen schon mit einer klaren Rechtslage verhindern, dass es überhaupt zum Ausspruch und zum Versand von solchen missbräuchlichen Abmahnungen kommt.
Dazu gehört dann auch, dass wir den sogenannten fliegenden Gerichtsstand einschränken. Denn es kann nicht sein, dass Unternehmen, weil sie die Abmahnung vor einem weit entfernten Gericht anfechten müssen, sagen: „Ich erspare mir den Ärger, ich erspare mir die Reise- und die Anwaltskosten“, und dann zahlen, obwohl sie eigentlich im Recht gewesen wären.
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Deswegen werden wir auch hier Einschränkungen vornehmen; auch das ist ein ganz wichtiger Teil von diesem Gesetz.
Alles in allem: ein wichtiges Gesetz gegen Abzocke mit Abmahnungen. Stimmen wir deshalb diesem Gesetz zu!
Vielen Dank.
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Für die AfD-Fraktion hat das Wort der Kollege Fabian Jacobi.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor knapp einem Jahr haben wir hier das erste Mal den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Eindämmung von missbräuchlichen Abmahnungen behandelt. Damals habe ich drei Punkte angesprochen, die wir als Schwächen des Regierungsentwurfs ansehen und die uns veranlasst haben, einen eigenen Gesetzentwurf zum selben Gegenstand vorzulegen, über den hier heute ebenfalls abgestimmt wird.
Die Regierungsfraktionen haben unsere Kritik, vielleicht auch als Ergebnis der durchgeführten Expertenanhörung, offenbar als berechtigt erkannt, jedenfalls haben sie in den von mir seinerzeit genannten Punkten versucht nachzubessern und haben den Regierungsentwurf geringfügig abgeändert. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Das Bemühen ist anzuerkennen; aber uns überzeugt das Ergebnis nicht in dem Maße, dass wir dem veränderten Regierungsentwurf heute zustimmen würden.
Punkt eins: der Gerichtsstand am Ort der Rechtsverletzung, der sogenannte fliegende Gerichtsstand, der dadurch, dass die Rechtsverfolgung, zum Beispiel von Verstößen im Internet, bei allen Gerichten in Deutschland möglich ist, die sinnvolle Bildung spezialisierter Gerichte ermöglicht hat. Er sollte zunächst abgeschafft werden. Der geänderte Regierungsentwurf macht hier nun einen halben Schritt zurück und will ihn nur noch teilweise abschaffen. Unser eigener Gesetzentwurf ist da konsequenter und lässt ihn einfach bestehen.
Punkt zwei: Abmahnungen wegen Verstößen gegen Informationspflichten im Internet. Diese bilden den Schwerpunkt missbräuchlicher Abmahnungen. Der Regierungsentwurf will hierauf reagieren, indem in diesem Bereich der Anspruch gegen den Abgemahnten auf den Ersatz von Rechtsanwaltskosten entfallen soll. Das deckt sich insoweit mit unserem Entwurf. Wir wollen aber darüber hinaus auch vorsehen, dass bei einer ersten Abmahnung, wenn sie denn berechtigt ist, zwar eine Unterlassungserklärung abzugeben ist, diese aber nicht strafbewehrt sein muss, dass also auf ein Vertragsstrafeversprechen des Abgemahnten insoweit verzichtet werden kann. Dadurch soll in dem genannten Bereich auch dieser weitere Anreiz zu missbräuchlichen Abmahnungen entfallen. Auch in diesem Punkt ist unser Entwurf also konsequenter.
Ferner bleibt der Regierungsentwurf dort hinter unserem zurück, wo es um Abmahnungen wegen Verstößen gegen die DSGVO geht. Während der Regierungsentwurf auch insoweit lediglich den Anspruch auf Erstattung von Rechtsanwaltskosten entfallen lassen will, und auch das nur bei bestimmten Unternehmen, sieht unser Entwurf vor, Verstöße gegen die DSGVO gänzlich aus dem Anwendungsbereich der Abmahnungen nach dem Wettbewerbsrecht herauszunehmen.
Schließlich Punkt drei: der missglückte Versuch, die Generalklausel zu missbräuchlichen Abmahnungen durch Beispiele zu konkretisieren. Hier hieß es ursprünglich, ein Missbrauch liege insbesondere vor, wenn eine erheblich überhöhte Vertragsstrafe gefordert werde. Jetzt heißt es stattdessen, der Missbrauch sei im Zweifel anzunehmen, wenn die Vertragsstrafe offensichtlich überhöht sei. Gewonnen ist dadurch nicht wirklich viel. Nach wie vor besteht für den Abgemahnten erhebliche Unsicherheit, ob er nun die Abmahnung gefahrlos zurückweisen kann oder nicht. Das aber ist für die Betroffenen gerade der wichtigste Punkt. Auch insoweit überzeugt uns also der Regierungsentwurf auch in seiner nachgebesserten Form nicht. Wir werden ihn daher ablehnen und stellen anheim, stattdessen unserem Gesetzentwurf zuzustimmen.
Vielen Dank.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat als Nächster das Wort der Kollege Ingmar Jung.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin froh, dass wir heute hier die zweite und dritte Lesung zu diesem Gesetzentwurf noch haben.
Ich will, weil wir alle die ganze Zeit über „Abmahnmissbrauch“ sprechen – das war auch beim letzten Mal schon so –, vorweg eines klarstellen: Unser System im Lauterkeitsrecht, das wir hier haben, ist so: Wenn sich jemand auf illegale Weise Wettbewerbsvorteile verschafft – durch Schleichwerbung, durch Irreführung, durch illegale Nachahmungen und Ähnliches –, geben wir bewusst gesetzgeberisch dem, der verletzt ist, dem ein Wettbewerbsnachteil widerfährt, mit der Abmahnung ein recht scharfes Schwert in die Hand. Das ist ein System, das Wettbewerbsgleichheit in diesem Bereich wiederherstellt, in einem Verfahren zwischen Wettbewerbern. Daran wollen wir nichts ändern, weil sich das bei uns sehr bewährt hat; das wollen wir auch beibehalten.
Wir wollen nur die Fälle erfassen und sanktionieren, in denen genau dieses Recht ausgenutzt wird. Denn – da darf man sich auch nichts vormachen – es gibt Fälle, in denen Wettbewerbsverstöße oder scheinbare Wettbewerbsverstöße ausgenutzt werden, um in ein Abmahnrecht oder ein scheinbares Abmahnrecht hineinzukommen. Wenn am Ende eine Abmahnung ausgesprochen wird, nicht um einen Wettbewerbsnachteil auszugleichen, sondern nur deshalb, um bestimmte Kosten zu generieren – weil man dort ein Geschäftsmodell entwickelt hat –, dann ist der Sinn des Lauterkeitsrechts auf den Kopf gestellt; denn dann wird der zu Unrecht Abgemahnte am Ende einem Wettbewerbsnachteil ausgesetzt. Genau das soll das Lauterkeitsrecht gerade nicht herstellen. Deswegen wollen wir diesen echten rechtsmissbräuchlichen Abmahnungen einen Riegel vorschieben. Ich denke, das gelingt mit diesem Gesetz, und ich bin froh, dass wir das noch zum Abschluss bringen, meine Damen und Herren.
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Lassen Sie mich auf ein paar Punkte eingehen, über die wir durchaus länger diskutiert haben. Natürlich ist die Abgrenzung zwischen diesen beiden Fällen, die ich eben geschildert habe, gar nicht so unmittelbar leicht zu treffen. Deswegen haben wir versucht, uns auch vorzustellen: Wo passiert denn dieser Rechtsmissbrauch am meisten? Nach der Sachverständigenanhörung mussten wir – gemeinsam, glaube ich – feststellen: Die größte Gefahr besteht doch dann, wenn jemand, der diesen Missbrauch vorhat, möglicherweise kleine Verstöße gegen Wettbewerbsrechte in einer Vielzahl geltend machen kann. Das passiert üblicherweise bei Informations- und Kennzeichnungspflichten im elektronischen Rechtsverkehr, also im Internet.
Genau für diese Fälle schaffen wir jetzt das ab, was der große Anreiz ist, nämlich der sogenannte Aufwendungsersatzanspruch, also die teilweise recht hohen Anwaltskosten. Die sind im Einzelfall bei Abmahnungen gerechtfertigt; das ist gar keine Frage. Wenn es aber eine Vielzahl von Abmahnungen betrifft, dann entsteht eine Höhe, die am Ende rechtsmissbräuchlich werden kann. Die Verstöße können weiterhin geltend gemacht werden. Aber den Anreiz über diesen hohen Aufwendungsersatz schaffen wir jetzt ab. Deswegen glaube ich, dass wir die richtige Trennlinie dort gezogen haben.
Ich weiß, Frau Kollegin Rottmann, Sie haben bedeutende Dinge dagegengesetzt. Wir werden uns dann mal unterhalten, vielleicht wenn das Gesetz in Kraft ist. Aber ich glaube, wir haben genau die richtige Trennlinie gezogen, um hier Missbrauch von gerechtfertigter Geltendmachung von Abmahnungen zu trennen. Ich glaube, das ist der richtige Weg.
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Lassen Sie mich vielleicht noch zwei, drei Sachen sagen, die sich geändert haben. Wir haben hier bei der ersten Lesung gestanden – die ist schon ein bisschen her – und haben von unserer Fraktion aus durchaus damals schon gesagt: Es gibt den einen oder anderen Punkt, bei dem wir noch einmal hinschauen müssen und vielleicht auch etwas ändern müssen. Das haben wir nach der Sachverständigenanhörung jetzt auch gemacht.
Wir haben zum einen bei den Wirtschaftsverbänden den Grad der Betroffenheit noch ein Stück weit erhöht, dass dort auch nur der eine Abmahnung geltend machen kann, der tatsächlich berechtigt ist, dessen Mitglieder tatsächlich in kritischer Weise betroffen sind. Wir haben die Innungsverbände, die üblicherweise privatrechtlich organisiert sind, noch in den Kreis der Abmahnberechtigten aufgenommen; ich glaube, da waren wir uns am Ende auch sehr einig.
Und wir haben beim fliegenden Gerichtsstand in der Tat eine Änderung vorgenommen. Da – gebe ich zu – bin auch ich im Rahmen der Anhörung schlauer geworden. Ich war am Anfang auch der Auffassung, dass man den fliegenden Gerichtsstand für diese Fälle ganz abschaffen könnte. Aber ich habe mich von denen, die praktisch sehr viel damit arbeiten, durchaus überzeugen lassen, dass es viele Fälle gibt – bei großen wettbewerbsrechtlichen Verstößen, bei Unternehmen, die typischerweise damit zu tun haben –, dass sogar beide Seiten ein Interesse daran haben können, vor ein fachlich spezialisiertes Gericht zu kommen.
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Deswegen glaube ich, dass wir für diese Fälle es richtig gemacht haben, dort den fliegenden Gerichtsstand nicht abzuschaffen.
Aber die Fälle, von denen wir eben gesprochen haben, die Informations- und Kennzeichnungspflichten, das, was typischerweise, vielfach im Internet passiert, da wollen wir eben dem, der nur darauf aus ist, Aufwendungsersatzansprüche, möglicherweise Vertragsstrafen auszulösen, das Abmahnrecht zu missbrauchen, nicht mehr die Möglichkeit geben, ein Gericht sich auszusuchen, das möglicherweise einmal anders entschieden hat als viele andere, und somit das Recht wieder zu missbrauchen. Deswegen glaube ich, dass wir auch da genau die richtige Trennlinie gefunden haben: den fliegenden Gerichtsstand dort erhalten, wo es Sinn macht, aber dort nicht erhalten, wo der Missbrauch stattfindet.
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Letztlich haben wir noch zwei Dinge gemacht: Wir haben die Fallgruppen konkretisiert, bei denen wir Abmahnungen für missbräuchlich halten. Der Vorschlag kam ursprünglich einmal von den Grünen – nicht von der AfD, wie wir eben gehört haben. Beides hat uns aber nicht alleine veranlasst, darüber nachzudenken, sondern vielmehr das, was wir in der Sachverständigenanhörung gehört haben.
Wenn ich jetzt noch Zeit hätte, würde ich Ihnen etwas zur Reparaturklausel erzählen. Die Zeit habe ich aber nicht, und da es heute eh lange genug dauert, will ich nicht überziehen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Kollege Jung, auch dafür, dass Sie sich an die Zeit gehalten haben. – Der Kollege Roman Müller-Böhm hat das Wort für die FDP-Fraktion.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Was lange währt, wird endlich gut“, ich glaube, so oder so ähnlich muss die Bundesregierung gedacht haben. Immerhin sind nun zwei Jahre vergangen, nachdem Sie aufgefordert wurden, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der den Abmahnmissbrauch in unserem Land angeht. Nur, wissen Sie, würde ich meine Redezeit von drei Minuten ähnlich verschwenderisch nutzen wie Sie die letzten zwei Jahre, ich dürfte eigentlich nur die letzten zehn Sekunden etwas sagen. Das ist ziemlich peinlich für diese Bundesregierung.
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Denn es währte lange, wurde aber nie gut. Insbesondere seitdem Sie im Sommer einige Änderungen vorgelegt haben, wurde deutlich, dass der Gesetzentwurf in dieser Form nach wie vor Schwächen hat und sogar neue Probleme verursachen kann. Es droht eine Verschlimmbesserung. Ich will Ihnen das an zwei kurzen Beispielen deutlich machen.
Erstes Beispiel: der Aufwendungsersatz. Abmahnungen – das wurde hier bereits ausgeführt – sollen eigentlich im Interesse eines ehrlichen Wettbewerbs bzw. zur Durchsetzung von Verbraucherrechten erfolgen und nicht zur Generierung von Aufwendungsersatz und Vertragsstrafen. Die von der Bundesregierung neu vorgeschlagene Systematik zur Unterscheidung von berechtigten und unberechtigten Ansprüchen könnte jedoch dazu führen, dass berechtigte Abmahnungen unterbleiben, weil nämlich die Gefahr zukünftig besteht, dass die Abmahnung relativ leicht als missbräuchlich gewertet wird und der Abmahnende daher nicht zur Sache durchdringt bzw. sogar noch das Risiko trägt, hinterher Gegenansprüchen des Anspruchsgegners ausgesetzt zu sein.
Das zweite Beispiel – das wurde auch schon in der Anhörung dazu relativ deutlich –: Wir haben die unbestimmten Rechtsbegriffe, insbesondere im Artikel 1 in § 8b Absatz 2 Nummern 3 und 4. Hier handelt es sich um die Begriffe „unangemessen hoch“ und „erheblich überhöht“. Die beiden Begrifflichkeiten sind nicht näher bestimmt und werden wahrscheinlich wohl eher für eine Beschäftigungstherapie für Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte sorgen, als dass sie wirklich eine Erleichterung in der Praxis bedeuten. Auch das kritisieren wir deutlich.
Ich will Ihnen aber nicht nur Kritik entgegenbringen, sondern wir wollen auch Lösungen aufzeigen. Das tun wir als Freie Demokraten nicht erst seit heute, sondern seit zwei Jahren. Ich empfehle die Lektüre unseres Antrages. Insbesondere möchte ich Sie auf das „Notice and take down“-Verfahren verweisen, welches unkompliziert und sehr einfach die Verhältnismäßigkeit bei Abmahnungen wahren würde. Man würde nämlich erst einmal verwarnen müssen, bevor man formell abmahnen kann. Das wäre ein Instrument, von dem wir denken, dass es in der Sache deutlich geeigneter wäre. Ich empfehle Ihnen, das auf jeden Fall noch einmal nachzulesen.
Im Ergebnis sehen wir im Gesetzentwurf positive Tendenzen, sehen aber nicht die wahren Lösungen der Probleme. Deswegen werden wir uns zum Gesetzentwurf der Bundesregierung enthalten und empfehlen die Zustimmung zu unserem Antrag.
Herzlichen Dank.
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Der nächste Redner: für die Fraktion Die Linke der Kollege Thomas Lutze.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es wird Zeit, dass den Wildwestmethoden bei den gewerbsmäßigen Abmahnungen endlich Einhalt geboten wird.
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Dass sich Agenturen und Kanzleien darauf spezialisiert haben, ganz normale Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen mit kostenpflichtigen Abmahnungen zu belegen, hat nichts mit dem Schutz der Rechtsstaatlichkeit zu tun. Es ist ein perverses Geschäftsmodell und reine Abzocke.
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Daher ist es positiv, wenn die Bundesregierung dem nun einen Riegel vorschieben will. Zukünftig muss zum Beispiel eine Abmahnbefugnis vorliegen, die es so bislang nicht gab. Es müssen auch qualifizierte Verbände sein, die beim Justizministerium registriert sein müssen, wenn sie gegen eventuelle Rechtsvergehen vorgehen wollen. Das sind nur zwei einer ganzen Reihe von Verschärfungen und Konkretisierungen, mit denen das Gesetz endlich verändert und verbessert wird.
Aber bei allem Lob findet eine Oppositionsfraktion auch immer wieder etwas zum Kritisieren. Es ist leider nicht nur das Haar in der Suppe, sondern ein handfestes Problem. Ich meine das sogenannte Unterlassungsklagerecht. Hier werden, wie der Name schon sagt, juristische oder natürliche Personen aufgefordert, Dinge zu unterlassen, zum Beispiel, wenn Rechte Dritter verletzt werden.
Die Verbraucherschutzverbände, die bislang eine sehr ordentliche und notwendige Arbeit geleistet haben und leisten, sind bei einer Verschärfung dummerweise auch betroffen. In einer Anhörung im Oktober 2019, also vor fast einem Jahr, ist dies bereits thematisiert worden. Liebe Entwurfsverfasser von der Bundesregierung, es wäre genügend Zeit gewesen, eine Sonderregelung für diese Verbraucherschutzverbände zu finden. Das wollten Sie aber nicht.
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Fazit, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wir unterstützen die Novelle des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb, aber nicht die Novelle des Unterlassungsklagerechts. Ich glaube, wir wären gut beraten, wenn der Bundestag diese Gesetze nach der Bundestagswahl noch einmal aufruft und die Wirkung gründlich überprüft.
Ich hoffe trotzdem sehr, dass es mit der heutigen Gesetzesänderung gelingt, dass unbescholtene Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen nicht weiter mit Mahn- und Unterlassungsschreiben traktiert werden. Das Problem an diesen Schreiben sind ja nicht die Verweise auf mögliche Rechtsverstöße; es sind die damit verbundenen Gebührenforderungen der Abmahnenden. Vielleicht sollte man auch mal darüber nachdenken, dass eine erste Abmahnung, ganz gleich, wer sie stellt, grundsätzlich kostenfrei sein muss. Das würde dafür sorgen, dass sich die schwarzen Schafe in dieser Branche endlich ein neues Hobby suchen müssen.
Vielen Dank. Glück auf!
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Die nächste Rednerin ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Dr. Manuela Rottmann.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Gerne hätte ich heute den 25 000 Unterstützerinnen und Unterstützern der Petition gegen Abmahnmissbrauch mitgeteilt, dass sich ihr Einsatz gelohnt hat. Leider ist Ihr Gesetz sicher gut gemeint, aber es ist nicht gut gemacht.
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Die Aufgabe war, die Vorteile der Abmahnung zu erhalten und gleichzeitig Abmahnmissbrauch zu verhindern. Das ist nicht einfach. Aber das, was Sie jetzt tun, ist in beide Richtungen schlecht.
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Den seriösen Verbänden nehmen Sie in weiten Teilen den Aufwendungsersatz. Kleine Branchenverbände werden als Korrektiv völlig ausfallen, weil Sie Mindesthürden eingezogen haben. Die wenigen schwarzen Schafe unter den Verbänden werden die von Ihnen aufgestellten Hürden mühelos überspringen. Für große Onlineunternehmen mit großen Rechtsabteilungen machen Sie es noch billiger, Informationsrechte der Verbraucherinnen und Verbraucher zu ignorieren. Das schwächt die Rechtsdurchsetzung in Deutschland, und es schwächt den Wettbewerb zulasten kleiner Unternehmen.
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Denjenigen, die von unseriösen Abmahnern unter Druck gesetzt und abgezockt werden, helfen Sie aber nicht wirklich weiter. Opfer von Abmahnmissbrauch sind vor allem Rechtslaien, die Rechtsberatung und Gerichtsverfahren scheuen. Sie lassen sich von gewerbsmäßigen Abmahnern mit Gewinninteressen leicht unter Druck setzen. Dann geben sie Unterlassungserklärungen mit hohen Strafversprechen ab, aus Angst vor einer gerichtlichen Auseinandersetzung.
Noch mehr unbestimmte Rechtsbegriffe sind die falsche Antwort auf dieses Machtgefälle.
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Wie soll denn eine kleine Onlinehändlerin einschätzen, ob – ich zitiere aus Ihrem Entwurf – der Gegenstandswert für eine Abmahnung „unangemessen hoch“ oder eine Vertragsstrafe „erheblich überhöht“ ist? Wie soll sie das einschätzen? Nützlich wären öffentlich verfügbare Informationen über missbräuchliche Abmahnpraktiken und ein Recht, sich im Nachhinein leichter von einer Unterlassungserklärung zu lösen, die auf einer missbräuchlichen Abmahnung beruht. Wir brauchen auch eine Klarstellung, dass bereits gezahlte Abmahngebühren und gezahlte Vertragsstrafen zurückgefordert werden können, wenn ein anderer Betroffener im Nachhinein gerichtlich klären lässt, dass es sich um eine missbräuchliche Abmahnwelle handelt.
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Nützlich wäre auch die von uns seit Jahren geforderte Gruppenklage. All das würde das Machtgefälle wirklich verringern.
Wir haben als Grüne sehr frühzeitig auf diesen völlig anderen Weg hingewiesen, ihn vorgeschlagen. Ich habe auch heute kein triftiges Argument dagegen gehört. Das zeigt für mich, dass dieses Gesetzgebungsverfahren wirklich nicht optimal gelaufen ist.
Noch ein letzter Satz zur Aufhebung des Designschutzes für Ersatzteile. Das finden wir gut, das fördert den Wettbewerb. Aber für bereits eingetragene Kfz-Modelle greift Ihre Regelung erst in 25 Jahren, also wenn ich schon sehr, sehr alt bin.
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Mit dieser Mogelpackung blamieren Sie sich. Hätten Sie unserem Änderungsantrag wenigstens hier zugestimmt, dann hätten Sie sich wenigstens diese Blamage erspart.
Vielen Dank.
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Nächste Rednerin: die Kollegin Mechthild Rawert, SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauende! Es ist gut, dass das Gesetz zur Stärkung des fairen Wettbewerbs jetzt kommt. Dass es kommt, ist der Beharrlichkeit der SPD zu verdanken.
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Damit geben wir auch eine Antwort auf die vielen Petentinnen und Petenten. Wer schon den vorherigen Tagesordnungspunkt mitbekommen hat: Wir geben auch eine Antwort für viele Bereiche, die schlicht und ergreifend mehr Schutz und fairen Wettbewerb verdienen.
Wir schützen mit diesem Gesetz insbesondere kleinere Unternehmen vor missbräuchlichen Abmahnungen. Wir schützen zum Beispiel die vielen Händler, die jetzt in der Coronazeit Masken selber nähen und online verkaufen. Für sie ist es ein echtes Problem, wenn sie plötzlich von einer Abmahnung betroffen sind.
Natürlich ist es richtig und wichtig für den freien Wettbewerb, dass Abmahnungen möglich sind, zum Beispiel, wenn gesetzliche Informationspflichten missachtet werden. Aber der Schutz vor missbräuchlichen Abmahnungen ist ebenso wichtig; denn nicht selten hängt davon die Existenz von Unternehmen ab.
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Es ist schon beschrieben worden: Die Masche ist billig. Abzocker durchsuchen Webseiten automatisiert nach Minimalverstößen und versenden dann eine Vielzahl an Abmahnungen qua Serienbrief – möglichst viele Abmahnungen mit möglichst wenig Aufwand. Sie tun das nicht, um fairen Wettbewerb sicherzustellen, sondern um Kostenerstattungen und Vertragsstrafen zu kassieren. Damit machen wir Schluss, und das ist gut so.
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Jetzt noch eines zur Reparaturklausel – sie war schon angekündigt –: Wir haben uns schon seit Längerem für die Neuregelung der Reparaturklausel im Designrecht eingesetzt; denn damit wird der Markt für sichtbare Ersatzteile künftig geöffnet.
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Die Monopolstellung der Hersteller für Kotflügel, Scheinwerfer und Co wird endlich aufgebrochen. Das gilt für alle Designs, die nach dem Inkrafttreten des Gesetzes angemeldet werden.
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Ich stimme allen zu, die aufgrund dieses Punktes Trauer tragen; denn leider hat es unser Koalitionspartner abgelehnt, dass diese Regelung auch auf ältere Fahrzeuge anzuwenden ist.
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Leidtragende sind viele Autofahrerinnen und Autofahrer, aber auch die Wirtschaft und vor allen Dingen kommunale Unternehmen. Für die Verkehrsbetriebe oder die Stadtreinigung etwa heißt das: weiter hohe Kosten.
Deswegen werden wir als SPD uns weiterhin dafür einsetzen, dass die Regelung auch auf den Bestandsmarkt ausgeweitet wird; denn nur so kann sie umfassend und schnell Wirkung entfalten, und das ist im Interesse der Kommunen, der Wirtschaft und der Verbraucher sowie der Verbraucherinnen. Das wäre im Interesse von uns allen.
Danke.
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Es erhebt sich der Schlussredner zu diesem Tagesordnungspunkt, der Kollege Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn Sie sich mit Unternehmensgründern oder mit Inhabern kleiner Handwerksbetriebe unterhalten und fragen, was bei der Erstellung eines Onlinebusiness die größte Sorge ist, dann antworten sie, dass die Frage nach dem Absatz die eine und die Frage, ob man das Impressum richtig geschrieben hat, die andere große Sorge ist, und zwar vor allen Dingen deswegen, weil sich kleine und mittelständische Unternehmen zu Recht fürchten, wegen eines kleinen Fehlers im Impressum abgemahnt und mit hohen Kosten überzogen zu werden.
Das hat mit dem Schutz des Wettbewerbs im Grunde genommen wenig zu tun, sondern ist ein Geschäftsmodell, das aus den Fugen geraten ist, und mit diesem Geschäftsmodell machen wir heute Schluss, meine Damen und Herren.
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Es geht nicht darum, dass wir die Abmahnung als Rechtsinstrument infrage stellen. Gerade die Selbstregulierung des Marktes über Abmahnungen hat einen ökonomischen Nutzen, weil sich die Wettbewerber in der Tat selber ins Benehmen setzen müssen, ob ein Wettbewerbsverstoß vorliegt oder nicht. Aber die Grenze ist dort erreicht, wo es nicht mehr darum geht, einen gravierenden Wettbewerbsverstoß aus der Welt zu schaffen, sondern wo allein das ökonomische Interesse an den Abmahngebühren im Vordergrund steht. Das ist etwas, was weder dem Wettbewerb noch den Interessen der kleinen Gewerbetreibenden nützt.
Entscheidend ist, dass die Abmahnung auch zukünftig möglich ist; aber sie wird aufgrund des Wegfalls des Aufwendungsersatzes nicht mehr diese ökonomische Dimension haben, und ich glaube, das ist jetzt ein guter Kompromiss, der auch die Fehler aus der Welt schafft, die das Gesetz aus dem Jahr 2013, das gut gemeint war, nicht beheben konnte.
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Wir wollen auch mit mehr Transparenzpflichten und einer höheren Darlegungslast für den Abmahnenden verhindern, dass er von vornherein eine Abmahnung auch aus Gründen eines fehlgeleiteten Wettbewerbsbegriffes in die Welt setzt.
Klar ist auch, dass wir denjenigen zukünftig helfen, die von einer missbräuchlichen Abmahnung betroffen sind. Sie haben zukünftig nämlich die Möglichkeit, Aufwendungsersatz für ihre eigenen Rechtsverfolgungskosten vom Abmahner zu verlangen. Ich glaube, das ist ein guter Interessenausgleich, der die Kleinen schützt und trotzdem das Instrument der Abmahnung in der Welt lässt.
Deswegen ist es auch richtig, dass wir beim fliegenden Gerichtsstand eine Zweiteilung vorgenommen haben. Gerade wenn es um strukturelle Ungleichheit zwischen Großen und Kleinen geht, kann es nicht sein, dass der Große den Gerichtsstand bestimmt und der Kleine bezahlt, weil er zum Beispiel aus Augsburg nicht nach Hamburg möchte, um dort ein Verfahren zu führen. Das ist ganz selbstverständlich. Aber wenn sich zwei Wettbewerber auf Augenhöhe begegnen, dann, glaube ich, ist es nach wie vor angemessen, dass beide den Gerichtsstand auch eigenverantwortlich bestimmen können. Deswegen haben wir auch in dieser Frage des Gerichtsstands einen guten Kompromiss gefunden.
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Wichtig ist auch, dass wir bei Abmahnungen zum Thema Datenschutz-Grundverordnung sicherstellen, dass sich das Ehrenamt nicht fürchten muss, betroffen zu sein. Wir wollen nicht regeln, ob die Datenschutz-Grundverordnung eine marktrelevante Tatsache ist oder nicht – das sollen die Gerichte entscheiden –; wir wollen aber deutlich machen, dass diejenigen, die sich ehrenamtlich engagieren, zukünftig nicht auch noch Abmahnungen wegen der Datenschutz-Grundverordnung befürchten müssen. Das ist also auch ein Gesetz, welches denen hilft, die sich tatsächlich engagieren.
Zum Schluss jetzt noch eine kurze Bemerkung zum Thema „Designschutz und Reparaturklausel“. Ich glaube, es ist richtig, dass wir eine Unterscheidung zwischen den Bauteilen, die ab sofort hergestellt werden, und denjenigen, Frau Kollegin Rawert, die bereits produziert werden, getroffen haben.
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Warum? Weil es um den Schutz geistigen Eigentums geht. Wir müssen hier einen Kompromiss finden bezogen auf die Bauteile, die neu hergestellt werden und bei denen die Hersteller wissen, dass sie keinen Designschutz mehr haben, und die Bauteile, die im Vertrauen darauf produziert worden sind, dass es einen Rechtsschutz gibt.
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Der Schutz des geistigen Eigentums ist auch aus dem Eigentumsgrundrecht des Grundgesetzes heraus ein abwägungsrelevanter Belang. Deswegen haben wir hier diesen Kompromiss gefunden.
Ich glaube insgesamt, mit dieser Änderung wird deutlich, dass wir bereits jetzt, aber auch mittel- und langfristig im Bereich der Automobilreparatur vielen helfen werden. Deswegen gibt es diesen Kompromiss.
Das Gesetz ist ein guter Kompromiss. Es beseitigt das Abmahnunwesen. Deshalb bitte ich Sie um Zustimmung.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon dreist, wie FDP und AfD in ähnlicher Weise heute Abend wieder einmal versuchen, den Landwirten Sand in die Augen zu streuen
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und ihnen weiszumachen, dass die Düngeverordnung in irgendeiner Weise zurückgedreht werden kann. Sie ist beschlossen, und sie gilt. Und mir muss auch keiner erzählen, was diese Düngeverordnung den Landwirten abverlangt. Das ist mir sehr wohl bekannt.
Ich weiß aber auch, wie groß der Druck aus Brüssel gewesen ist, die Düngeverordnung im Zuge der Umsetzung der Nitratrichtlinie zu verschärfen. Eine Geldstrafe, die drohte, hat mir nicht die meisten Sorgen gemacht. Meine größere Sorge war, dass uns die Brüsseler selber die Düngeverordnung vorschreiben würden,
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und die wäre dann so scharf geworden, wie es sich einige von den Grünen, von den NGOs und von den Wasserwirtschaftlern gewünscht hätten.
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Es ist ein sehr durchsichtiges Manöver, Herr Hocker und Herr Protschka, wie Sie sich hier als Retter der Bauern aufblasen. Gleich geht es dann mit der namentlichen Abstimmung weiter, und morgen kommt wieder die Entrüstung in den sozialen Medien. Das haben Sie ja schon öfter geübt.
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Was mich auch ärgert, ist, dass Sie, AfD und FDP, die Arbeit meiner Kollegen in unserer Arbeitsgruppe so geringschätzen. Wir haben nämlich mit Albert Stegemann, Artur Auernhammer, Hermann Färber, Hans von der Marwitz, Kees de Vries und noch vielen mehr echte Fachleute in unserer Arbeitsgruppe,
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echte Bauern, die ihr Handwerk verstehen, die aber auch Fachwissen haben, und das ist in der Politik angesichts der komplizierten Düngeverordnung ja nicht falsch. Mit ihnen kann man über Pflanzenernährung, über Bodenverbesserung reden, sie kennen das Gesetz des Minimums, die Liebig’sche Tonne, sie wissen, was eine Weender Analyse ist, sie sind Fachleute. Und Sie sind Schaumschläger.
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Sie unterschlagen auch den enormen Einsatz von Gitta Connemann und unserer Ministerin Julia Klöckner, die mit ihrer Mannschaft in Brüssel für uns gekämpft haben. Mehr war nicht drin.
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Jetzt muss die Düngeverordnung umgesetzt werden. In Kürze wird der Bundesrat beschließen, dies einheitlich zu machen
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und auch Einträge aus anderen diffusen Quellen in die Gewässer und das Grundwasser miteinzubeziehen.
Das Messstellennetz – und dabei bleibe ich – muss über jeden Zweifel erhaben sein.
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Auch die Binnendifferenzierung ist demnächst Pflicht und muss umgesetzt werden, so wie es in hervorragender Weise unsere Ministerin Ulla Heinen-Esser in Nordrhein-Westfalen macht.
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Meine Damen und Herren, Mut macht mir auch, wie viele Landwirte dieses Thema beherzt anpacken und investieren. Zum Beispiel haben sich in meinem Wahlkreis 90 Landwirte aufgemacht und investieren 17 Millionen Euro in eine Anlage, die aus Gülle erst mal regenerative Energie und dann auch noch wertvollen organischen Dünger gewinnt.
Es gibt viele dezentrale Projekte. Zum Beispiel möchte ich Projekte erwähnen, bei denen es darum geht, aus Gärresten und Gülleresten Torfersatz zu machen. Das hilft dem Moor, vermeidet Emissionen und hilft den Betrieben bei der Verarbeitung von Dünger ganz enorm.
Diese Initiativen gilt es zu unterstützen. Landwirte, die zusätzlichen Lagerraum schaffen, die in die Gülle- und Gärrestverarbeitung, in neue Ausbringtechniken investieren, aber auch Wasserkooperationen mit den Wasserwerken eingehen, gilt es auch finanziell zu unterstützen. Das ist CDU/CSU-Politik. Falsche Versprechungen, Herr Hocker, helfen den Bauern einfach nicht.
Vielen Dank fürs Zuhören.
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Für die Fraktion der AfD hat das Wort der Kollege Stephan Protschka.
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Habe die Ehre, Herr Präsident! Servus, liebe Kolleginnen und Kollegen! Gott zum Gruße, liebe Gäste hier im Hohen Haus und zu Hause am TV-Gerät! Weil große Teile der Anwesenden scheinbar immer noch Probleme mit den naturwissenschaftlichen Zusammenhängen haben, beginne ich mit dem kleinen Einmaleins der Düngung:
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Nach der Ernte werden mit dem Erntegut auch die darin enthaltenen Pflanzennährstoffe abtransportiert.
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Damit der Boden aber nicht verarmt und die neu gepflanzten Pflanzen über ausreichend Nährstoffe verfügen, müssen die dem Boden entzogenen Nährstoffe wieder ergänzt werden. Genau aus diesem Grund wird gedüngt.
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Unsere heimischen Landwirte sind absolute Experten in dem Bereich und benötigen hierbei weder Belehrungen durch Berufspolitiker noch pauschale Düngeverordnungen vom grünen Reißbrett, die die regionalen Bodenbesonderheiten ja gar nicht berücksichtigen können.
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Die von Ihnen verabschiedeten neuen Verschärfungen in der Düngeverordnung sind grundgesetzwidrig und widersprechen diesem einfachen Düngeprinzip. Beispielsweise sollen landwirtschaftliche Flächen, die angeblich zu sehr mit Nitrat belastet sind, ab nächstem Jahr nur noch mit 80 Prozent der benötigten Pflanzennährstoffe gedüngt werden dürfen. Das wäre gerade so, als würden Sie mit dem Auto von Berlin nach München fahren – eine Fahrstrecke von circa 600 Kilometern –, aber Sprit für nur 480 Kilometer kaufen würden. Gut, die Grünen würden mit dem E-Auto fahren – die kämen nie an.
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Aber Sie kämen auch nicht an, weil Ihnen der Sprit ausginge.
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Mit diesen Auflagen zerstören Sie langfristig die Bodenfruchtbarkeit und verhindern jeglichen Humusaufbau. Das ist umweltschädlich und nicht umweltfreundlich, meine Damen und Herren. Der Anbau von Brotweizen und Gemüse wird ebenfalls unmöglich. In Folge werden wir also noch mehr Lebensmittel aus Ländern importieren müssen, die deutlich niedrigere Produktionsstandards haben als wir; gar nicht zu reden von den wirtschaftlichen Folgen für die kleinen und mittleren landwirtschaftlichen Familienbetriebe. Sie haben einige Kollegen genannt, Herr Röring. Das sind ja alles Großgrundbesitzer; Sie sprechen ja nicht von kleinen Landwirten.
Allein die neuen verfassungswidrigen Auflagen belasten die Landwirtschaft mit Kosten von jährlich mindestens 299 Millionen Euro. Sie zerstören Existenzen. Sie zerstören Familien, meine Damen und Herren.
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Ich weiß ganz genau – ich meine, Herr Röring hat damit schon begonnen –, dass Sie jetzt gleich mit der Leier anfangen: Ja, die Verschärfung der Düngeverordnung war alternativlos – das ist das Lieblingswort der Regierungspartei und der Frau Merkel –, weil die EU-Kommission Deutschland sonst zu hohen Strafzahlungen verdonnern wird. – Dabei wissen Sie ganz genau, dass das falsch ist. Jahrelang haben die zuständigen Ministerien getrickst und völlig überhöhte Nitratwerte aus einem nicht repräsentativen Messnetz an die EU gemeldet. Es ist also kein Wunder, dass die EU-Kommission aufgrund der falschen Datengrundlage falsche Schlüsse ziehen muss.
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Bei einer grundlegenden Überprüfung der Nitratwerte würden wir feststellen, dass wir in Deutschland keine Nitratprobleme haben;
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denn 99 Prozent unseres Grundwassers sind sauber. Deshalb brauchen wir uns vor einer Verurteilung des Europäischen Gerichtshofes nicht zu fürchten.
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Darum appelliere ich an jeden anständigen bürgerlichen Abgeordneten, also von der Mitte bis zur rechten Seite des Hauses, sich unserer Normenkontrolle anzuschließen und dadurch dafür zu sorgen, die verfassungswidrigen Verschärfungen der Düngeverordnung rückgängig zu machen. Jeder Einzelne von Ihnen hat jetzt noch mal die Chance, die Existenz Zehntausender kleiner und mittlerer deutscher Familienbetriebe zu schützen, die ansonsten unwiederbringlich ihre Hoftore schließen müssen.
Bitte helfen Sie uns dabei, die bäuerliche Landwirtschaft in Deutschland zu erhalten; denn spätestens in der übernächsten Wahlperiode, wenn ich unter einem AfD-Kanzler Landwirtschaftsminister bin,
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gibt es vernünftige Politik für Umwelt, Landwirtschaft und Tierschutz.
Danke schön, meine Damen und Herren.
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Für die Fraktion der SPD hat der Kollege Rainer Spiering das Wort.
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Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, Herr Protschka, Sie sollten Ihren eigenen Antrag mal lesen.
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Sie haben uns ja jetzt ziemlich viel von den bäuerlichen Existenzen erzählt. Ich habe gelernt, dass alle Kolleginnen und Kollegen von der CDU und CSU Großgrundbesitzer sind; das lasse ich mal so im Raum stehen. Ich glaube aber, das ist nicht der Fall.
Viel schlimmer, Herr Protschka, ist etwas völlig anderes. Sie streben ein Normenkontrollverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht an.
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Jetzt machen Sie Folgendes – ich will Ihnen das gerne mal vorlesen, wenn Sie Ihren eigenen Antrag nicht kennen –: Sie behaupten, die Änderung der Düngeverordnung schränke die Berufsausübungsfreiheit und die Eigentumsgarantie in unverhältnismäßiger Weise ein. Aus Ihrem Redebeitrag ist dazu ja nichts herausgekommen. Da Sie sich jetzt auch als naturwissenschaftlicher Experte darstellen, würde ich an beidem große Zweifel äußern.
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Jetzt wird es aber noch viel schlimmer – und da wird der Antrag der AfD meiner Ansicht nach hochgradig gefährlich –:
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– Nein, für die Landwirtschaft. – Gesetzt den Fall, wir wären so bekloppt und würden Ihnen heute folgen, dann würden Sie das Bundesverfassungsgericht zwingen, zwischen Ihren vermeintlichen Eigentumsrechten und einem wesentlich höheren Gut abzuwägen, nämlich der Unversehrtheit von Boden, Luft und Wasser.
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Wenn Sie das Bundesverfassungsgericht dazu zwingen würden, diese Abwägung zu treffen, dann wäre das Urteil klar. Und wissen Sie, wen Sie dann an den Pranger stellen würden? Die Landwirte.
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Das wäre völlig unverhältnismäßig, völlig ungerecht und – ich sage Ihnen das mal auch im Zusammenhang mit den Landwirten – eine Mordsschweinerei.
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Ich sage Ihnen aus siebenjähriger Erfahrung: Es gibt Anträge, die sind überflüssig. Einige sind nicht zeitgemäß, einige oder viele von der AfD sind nicht europarechtskonform, und es gibt Schaufensteranträge. Ihren Antrag würde ich heute unter „Nepper, Schlepper, Bauernfänger“ fassen. Deswegen werden wir ihn ablehnen.
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Die FDP schreibt: Es gibt „Regionen mit zu hohem Gülleaufkommen“. – Erst mal herzlichen Dank für die Erkenntnis. Jetzt kommt die Antwort der FDP darauf: Sie wollen den Wirtschaftsdünger auf die Straße bringen; das steht ja in Ihrem Antrag.
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Bei uns heißt so etwas: Gülletourismus.
Jetzt komme ich ja aus einer Region, die wirtschaftlich stark ist – Albert Stegemann ist auch einer ihrer Vertreter –, mit einer allgemein starken Veredelungswirtschaft. Wir haben aber anliegende Regionen – die kennt man vielleicht in Rheinland-Pfalz nicht so – wie das wunderschöne Weserbergland, den Hochsauerlandkreis, die Nordsee, Ostfriesland, und was glauben Sie, mit welcher Begeisterung die applaudieren, wenn wir genau den von Ihnen vorgeschlagenen Gülletourismus einführen? Deswegen lehnen wir Ihren Antrag natürlich auch ab.
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Ich bekenne für die SPD ganz eindeutig: Wir wollen Landwirtschaft. Wir wollen Landwirtschaft in Deutschland, und zwar aus vielen Gründen: um eine Struktur zu erhalten, die über viele Jahrhunderte gewachsen ist, mit eigenständigen Landwirtinnen und Landwirten; um unserer Kulturlandwirtschaft willen, die wir unbedingt brauchen. Das hat auch etwas mit unserem Gefühl für unsere Regionen zu tun, wo wir tief verankert sind.
Aber wir brauchen auch die Güter, die unser Leben ausmachen: Boden, Luft, Wasser. Deswegen glaube ich auch, dass wir neben dem, was Europa uns androht – Geldzahlungen und, und, und –, vor allen Dingen die Verantwortung für die nachfolgenden Generationen haben, damit sie das mitbekommen, was wir auch mitbekommen haben, nämlich die Unversehrtheit unserer natürlichen Umgebung und eine Perspektive, auch in Zukunft gute Böden, saubere Luft und reines Wasser zu haben.
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Die Frage, die Sie hier aufwerfen – die hat Johannes Röring eben aufgeworfen –, ist die der Messnetze. Da macht sich natürlich dann auch eine etwas klüngelige Politik in Deutschland bemerkbar. Als man sich vor 30 Jahren entschlossen hat, die Messnetze zu nutzen, da waren das natürlich Immissionsmessnetze. Es gab noch gar nicht die Möglichkeit, diese mit Emissionsmessnetzen zu koppeln.
Wenn wir mit den Landwirtinnen und Landwirten und auch mit unserer Bevölkerung gut umgehen wollen, dann nutzen wir das, was dieses Deutschland kann, nämlich die Digitalisierung, um Daten zu erheben, um das alles überprüfen zu können. Wir müssen ein Immissionsmessnetz mit einem Emissionsmessnetz koppeln, wie es die Universität Gießen vorgeschlagen hat.
Ich sage Ihnen: Wir können das. Dann können wir in der Tat auch nach dem Verursacherprinzip vorgehen, und dann können wir Ross und Reiter nennen. Wir werden feststellen, dass ein Großteil der Landwirte sich ordnungsgemäß verhält. Und einige sind eben nicht so ordentlich; denen können wir dann auf die Finger klopfen.
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Mir geht es aber noch um einen anderen Begriff, und der heißt Respekt: Respekt vor den Menschen, die in diesem Wirtschaftsbereich arbeiten; dazu hat der Sozialminister heute einen Gesetzentwurf vorgelegt. Wir müssen sie alle mitnehmen, alle, die in diesem Prozess arbeiten. Sie müssen alle das Gefühl haben, dass sie anständig behandelt werden: der Fleischer, die Fleischerin, die Fleischereiverkäuferin und der Fleischereiverkäufer, die Leute, die an den Arbeitsbändern stehen, die Leute, die in diesem Land unter teilweise miserablen Umständen leben.
Wenn wir uns mit dem System der Fleischwirtschaft in Deutschland auseinandersetzen, dann müssen wir die Kette von A bis Z durchleuchten. Dann werden wir auch den Landwirtinnen und Landwirten und unserer Bevölkerung gerecht werden. Aber wir müssen das in einem Kreislauf sehen und Respekt für alle Menschen haben, die in diesem Bereich arbeiten.
Herzlichen Dank fürs Zuhören.
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Die Kollegin Carina Konrad hat das Wort für die Fraktion der FDP.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Antrag der AfD heißt es, der Deutsche Bundestag begrüßt, wenn sich Abgeordnete in ausreichender Zahl zusammenfinden, um beim Bundesverfassungsgericht gegen die Düngeverordnung zu klagen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße auch vieles. Ich hätte es auch begrüßt, wenn sich genug Abgeordnete zusammengefunden hätten, um die Düngeverordnung erst mal praxisgerecht zu formulieren. Ich hätte es auch begrüßt, wenn sich genug Abgeordnete zusammengefunden hätten, um die Düngeverordnung sachgerecht zu überarbeiten. Aber das ist unrealistisch, und das haben die letzten Monate hier gezeigt. Das haben CDU, CSU und SPD gemeinsam hier in diesem Haus bewiesen. Das haben sie letztendlich auch mit ihrer Entscheidung im Bundesrat bewiesen. Da waren es ausschließlich die Länder mit Regierungsbeteiligung der Freien Demokraten, die diesem Unsinn nicht zugestimmt haben.
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Mit Ihrem Antrag zum Normenkontrollverfahren halten Sie den Landwirten eine Möhre vor die Nase, die unerreichbar ist, und das wissen Sie.
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Statt sich jetzt sachlich einzubringen – das hat Ihr Beitrag hier eben deutlich gezeigt –, krakeelen Sie lauthals. Das führt garantiert nicht zum Ziel, sondern es kostet Zeit, und – das wurde hier auch schon gesagt – das ist Zeit, die die Landwirte nicht haben. Denn die Investitionen, die benötigt werden, um diese Verordnung, die jetzt verabschiedet wurde, umzusetzen, müssen jetzt getätigt werden.
Mit der AVV zur Ausweisung der roten Gebiete wurde von der Bundesregierung eine Lücke geschaffen, um die Schwachstellen der Düngeverordnung zu schließen. Wir Freien Demokraten fordern die Bundesregierung jetzt auch direkt auf, die Düngeverordnung an den Stellen zu überarbeiten, die unpraktikabel sind. Es muss darum gehen, die Gewässerqualität, Rainer Spiering, dort zu verbessern, wo Probleme bestehen. Das geht auch, ohne Existenzen zu ruinieren; da sind wir uns ganz sicher.
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Unser Antrag, um darauf einzugehen, fordert im Wesentlichen zwei Dinge – wenn Sie ihn gelesen hätten, Johannes Röring, hätten Sie das gesehen –: Wir fordern einen verursachergerechten Ansatz. Wer nachweislich keine problematischen Nitratemissionen verursacht, für den muss es Ausnahmen von einer strengen Regulierung geben. Mit der AVV zur Ausweisung scheint die Bundesregierung diesen Weg jetzt endlich zu gehen, und das begrüßen wir ausdrücklich; das will ich hier auch sagen. Mittels des Modellansatzes AGRUM soll jetzt endlich eine echte Binnendifferenzierung stattfinden können, eine Binnendifferenzierung, die wir übrigens schon seit Beginn dieses Prozesses fordern.
Aber wir begrüßen nicht alles; das möchte ich hier auch ausdrücklich sagen. Es besteht immer noch großer Nachbesserungsbedarf bei der Verordnung. Da sind wir beim Thema Phosphor. Es kann nicht sein, dass Landwirte für schlechte Gewässer verantwortlich gemacht werden, wenn 80 Prozent der Phosphateinträge nachweislich aus nichtlandwirtschaftlichen Ursachen stammen. Wer so reguliert, macht sich nicht nur fachlich lächerlich, der macht auch den Bock zum Gärtner und eine ganze Branche zum Sündenbock.
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Es ist doch klar, dass alle Verursacher in den Blick genommen werden müssen. Im letzten Jahr bei einem Starkregenereignis in Berlin sind 45 000 Kubikmeter Abwasser ungeklärt in die Spree eingeleitet worden. Da braucht man doch keine feine Nase, wenn man durch die Straßen geht, um zu riechen, dass hier etwas gewaltig stinkt.
Wir fordern noch eine zweite Sache in unserem Antrag. Rainer Spiering, wir fordern Vorfahrt für organische Dünger. Denn Gülle und Mist sind wertvolle Wirtschaftsdünger. Wer organische statt mineralische Düngemittel einsetzt, der schont nicht nur die Klimabilanz, der tut auch etwas für die Bodenfruchtbarkeit. Deshalb ist es so wichtig, organische Dünger einzusetzen und dadurch auch mineralische Dünger einzusparen. Die letzten drei Jahre haben doch deutlich gezeigt, wo die Dürre zugenommen hat. Es zeigt doch, wie wichtig in Zukunft ein vernünftiges Wasser- und Nährstoffmanagement sein wird.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende.
Herr Präsident, ich komme zum Ende. – Ohne Organe gibt es keinen Humus, und ohne Humus gibt es auch keine Steigerung von Wasser- und Nährstoffspeichervermögen. Das war der fachliche Teil, vielleicht auch für die Kollegen der AfD-Fraktion.
Vielen Dank Herr Präsident.
Der Kollege Ralph Lenkert hat das Wort für die Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Bei der Nitratrichtlinie geht es um sauberes Trinkwasser für alle Menschen, auch in Deutschland, und es ist schon empörend, wie AfD und FDP dies in ihren Anträgen ignorieren. 27 Prozent der Grundwasserkörper in Deutschland enthalten zu viel Nitrat. Die Wasserwerke im Kreis Ludwigsburg nördlich von Stuttgart zum Beispiel müssen ihr Wasser mit Wasser aus dem Bodensee mischen, der 100 Kilometer entfernt ist, nur um die Grenzwerte einhalten zu können. Deutschlandweit werden Trinkwasserbrunnen stillgelegt, weil Nitratwerte zu hoch sind, und regional warnen Behörden vor der Nutzung von Wasser aus privaten Brunnen, weil dies für Babys und Kleinkinder schädlich ist. Wie ignorant muss man sein, diese Trinkwasserprobleme auszublenden?
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Die Trockenheit verschärft die Probleme. Daher ist es besser, diese nicht optimale Düngemittelverordnung für den Trinkwasserschutz zu haben, als sie nicht zu haben. Denn sauberes Wasser ist ein Menschenrecht und für Die Linke nicht verhandelbar.
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Das meiste Nitrat stammt aus der Landwirtschaft. Durch eine falsche Agrarförderung, ausgerichtet auf höchste Erträge, auf Exportüberschüsse und auf einen Wettbewerb mit Dumpingpreisen für Landwirtschaftsprodukte, haben die unionsgeführten Landwirtschaftsministerien ein Zusammengehen von Landwirtschafts- und Trinkwasserschutz verhindert. Dieses Dilemma muss aufgelöst werden.
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Die Linke will eine andere Landwirtschaftspolitik. Wir wollen maximale Viehbestände von 1,5 Großvieheinheiten je Hektar. Wir wollen eine bessere Förderung von Umweltdienstleistungen und natürlich auch einen Ausgleich von Verlusten für Landwirtinnen und Landwirte, die durch Umweltmaßnahmen entstehen.
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1991 erließ die EU die Nitratrichtlinie. Alle Bundesregierungen verdrängten das Problem, egal ob mit Union, SPD, FDP oder Grünen besetzt, und die Nitratwerte in vielen Trinkwasserbrunnen stiegen. 2014 veranlasste die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland. Aber erst 2017 handelte die Bundesregierung mit einer unzureichenden Verordnung. Und erst als eine Strafzahlung von bis zu 850 000 Euro pro Tag drohte, wurde die Verordnung im März 2020 – 29 Jahre nach Verabschiedung der EU-Nitratrichtlinie – verabschiedet.
Ob unter Zeitdruck oder aus Dummheit die CDU-Regierung Fehler machte, ist uns nicht bekannt. Aber jetzt droht durch die Fehler bei der Verabschiedung der Richtlinie eine juristische Blockade beim Trinkwasserschutz. Liebe Bürgerinnen und Bürger, ein solch unverantwortliches Handeln der Bundesregierung gefährdet unser Trinkwasser, und es ist bedauerlich, dass erst die EU die Regierung an ihre Pflicht zum Schutz der Gesundheit erinnern musste.
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Die Koalition muss dringend ihre Fehler korrigieren. Ich wiederhole: Trinkwasser ist ein Menschenrecht und keine Spielwiese für politische Spielchen.
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Den AfD-Antrag, der nichts weiter bewirkt als eine weitere Blockade beim Trinkwasserschutz und der die Gesundheit unserer Bürgerinnen und Bürger gefährdet, lehnen wir ab.
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Der Kollege Friedrich Ostendorff hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Machen wir kein langes Federlesen: Was wir heute wieder mal von Rechtsaußen vorgesetzt bekommen, soll eine Vorführung des Parlaments, des Parlamentarismus, eine Verhöhnung des Rechtsstaates, eine Verhöhnung unserer Demokratie sein, nicht mehr und nicht weniger. Ihnen geht es doch überhaupt nicht um eine sachliche Klärung der Düngeverordnung; das ist doch alles vorgeschoben. Sie missbrauchen unsere demokratischen Instrumente für Ihre undemokratischen Interessen.
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Was Sie uns heute wieder aufbürden, ist an Absurdität überhaupt nicht zu überbieten.
Ja, Kolleginnen und Kollegen, die abstrakte Normenkontrollklage ist ein wichtiges Rechtsmittel für individuelle Freiheits- und Grundrechte. Aber die konstruierte Einschränkung der Eigentums- und Berufsfreiheit durch die neue Düngeverordnung, die die AfD konstruiert, ist doch schlicht absurd. Das ist eine offensichtliche gefährliche Irreführung der Allgemeinheit. Es ist billiger Populismus, nicht mehr und nicht weniger.
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Die Rechtsauffassung der AfD ist doch: Jeder hat das Recht, die Umwelt aus Eigennutz auf Kosten und zum Nachteil aller zu verschmutzen. Sie demaskieren sich doch selbst, wenn Sie meinen, die uneingeschränkte Nutzung des Privateigentums stehe höher als öffentliche Gemeingüter. Dahinter steht bei Ihnen ein gänzlich asozialer, ultraliberaler, gemeinschaftsschädlicher Freiheitsbegriff.
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Mit über 50 Jahren Berufserfahrung als Bauer und nicht als Großgrundbesitzer, Herr Protschka, fühle ich mich dem Erbe, das mir mitgegeben wurde, dem Gemeinwohl und den Interessen zukünftiger Generationen tief verpflichtet.
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Die Gemeinwohlverpflichtung des Eigentums, Herr Protschka, der Erhalt unserer natürlichen Lebensgrundlage und der bäuerlichen Landwirtschaft sind wichtige Gemeingüter, die wir zu schützen haben.
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Dieses Denken in Generationen, das wir Bauernkinder mitbekommen haben – Gemeinwohl- und Bodenverbundenheit –, ist Ihnen doch vollkommen abhandengekommen und fremd.
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Ihnen geht es um Polarisierung, um Spaltung der Gesellschaft.
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Sie wollen die Demokratie vorführen und zerschlagen. Dafür werden wir Ihnen hier keine Bühne bieten, auch nicht für solche Anträge. Wir lehnen deshalb Ihren Antrag entschieden ab.
Übrigens, ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass Sie von der FDP nicht in der Lage sind, sich zu solch einem unmöglichen Antrag klar zu positionieren. Das nehmen wir mit großem Bedauern zur Kenntnis.
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Aber auch Ihren eigenen populistischen Antrag in dem vordergründigen Bemühen, dumpfe Stimmungen zu bedienen,
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lehnen wir als Grüne ab. So werden wir das Problem mit dem Nitrat nicht lösen.
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Der nächste und letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Artur Auernhammer, CDU/CSU-Fraktion.
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Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit gestern Abend diskutiert die deutsche Landwirtschaft über ein ganz anderes Thema. Gerade unsere Schweinehalter blicken mit Sorge auf die Entwicklung bei der Afrikanischen Schweinepest. Ich bin in diesen Stunden und Tagen dankbar dafür, dass wir im Bundeslandwirtschaftsministerium sehr gut vorbereitet sind und dieser großen Herausforderung für unsere heimische Landwirtschaft begegnen und sie auch meistern können.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, so war es auch bei der Düngeverordnung. Wir haben hier in diesem Hause lange gestritten, wir haben lange diskutiert, und wir haben einen Kompromiss erreicht. Es wäre hilfreich gewesen, wenn die FDP heute hier nicht wieder versucht hätte, die Regierungskoalition vorzuführen, wo doch die FDP-Landesminister im Bundesrat ganz anders entscheiden.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, die AfD-Fraktion will Verfassungsklage erheben, weil sie die Eigentumsgarantie gefährdet sieht. Es geht hier aber auch um das Recht auf eine saubere Umwelt; das müssen wir abwägen. Der Kollege Spiering hat es ausgeführt. Dieser Schuss kann so was von nach hinten losgehen; aber das ist Ihnen ja egal. Fachlich sind Sie ja gar nicht gut aufgestellt; das haben wir mitbekommen.
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Meine Damen und Herren, jeder Landwirt, der nach guter fachlicher Praxis arbeitet, weiß, dass er auch eine Verantwortung für die Umwelt hat. Das haben uns viele Landwirte in den letzten Wochen und Monaten gesagt. So arbeiten viele Landwirte seit Generationen in unserem Land.
Zu dem Antrag der FDP, nach dem die Gülle quer durch Deutschland transportiert werden soll, sage ich: Mir reicht es schon, dass wir Tiere ewig weit transportieren. Auch das gefällt mir nicht. Sollen wir jetzt auch noch die Gülle auf die Straße bringen? – Nein, wir brauchen lösungsorientierte Ansätze, und die Grundlage dafür ist jetzt mit der Düngeverordnung gelegt.
Auch ich weiß, wir müssen an der einen oder anderen Stelle noch nachjustieren. In den sogenannten grünen Gebieten, die nicht belastet sind, wo die Niederschläge sehr stark sind, sind 170 Kilogramm Stickstoff pro Hektar einfach zu wenig; da können wir noch mehr düngen. Auf der anderen Seite sind die roten Gebiete eine große Herausforderung für die Betriebe; die müssen dementsprechend reagieren. Wir als Regierungskoalition haben uns darauf verständigt, diese Betriebe zu unterstützen und ihnen Lösungsansätze zu bieten. Diese Unterstützung wird natürlich auch im Bereich der Digitalisierung erfolgen. Es gibt moderne Techniken, es gibt umweltfreundliche Techniken. Wer, wenn nicht Deutschland, könnte sie einsetzen? Wer, wenn nicht wir in der deutschen Landwirtschaft?
Ich sage ganz offen: Mich schreibt auch der eine oder andere Biobauer an, der ebenfalls Probleme mit den hohen Auflagen hat. Auch diese Betriebe werden wir unterstützen.
Mir ist es ein großes Bedürfnis, heute auf eines hinzuweisen: In den letzten Wochen und Monaten wurde oft über eine sogenannte Radikalisierung innerhalb der Landwirtschaft diskutiert. Meine Damen und Herren, die Landwirtschaft radikalisiert sich nicht. Es gibt Einzelne, die über die Stränge schlagen. Einzelne haben zum Beispiel bei der Kabinettssitzung am Herrenchiemsee politisch Verantwortliche – auch das sind Menschen – als „Totengräber“ bezeichnet. Ich finde das unmöglich. Und als die europäischen Landwirtschaftsminister in Koblenz zusammenkamen, waren es wieder Einzelne, die politisch Verantwortliche in unserem Land als „Henker der Landwirtschaft“ bezeichnet haben. Meine sehr verehrten Damen und Herren, das geht zu weit. Davon müssen wir uns deutlich distanzieren.
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Die Anträge der AfD und der FDP – ich mache zwischen den beiden keinen Unterschied mehr –
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tragen nicht dazu bei, dass man die Probleme objektiv angeht und löst. Das ist Polarisierung in höchstem Maße, und das müssen wir verurteilen.
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Es hat jetzt zum ersten Mal die sogenannte Zukunftskommission Landwirtschaft im Bundeskanzleramt getagt, auf Einladung der Bundeskanzlerin. Ich bin zuversichtlich; denn hier sitzen alle wichtigen Akteure am Tisch, und auch alle, die dazukommen wollen, sind zu den Arbeitsgruppen eingeladen. Sie werden über Zukunftsthemen der Landwirtschaft diskutieren. Das ist kein Thema, das man für billigen Populismus missbrauchen sollte, weil man nur auf die nächste Wahl schielt, sondern das ist ein generationenübergreifendes Thema. Deshalb hat es mich sehr gefreut, dass sich die Landjugend an dieser Diskussion beteiligt und sich einbringt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, gerade in diesen Tagen, in denen viele Schweinehalter nicht wissen, wie sie nächste Woche ihre Schweine verkaufen können, in denen viele Zuchtsauenbetriebe nicht wissen, wer ihnen ihre Ferkel noch abkauft, sollten wir wirklich abrüsten. Wir sollten nicht polarisieren, sondern bei landwirtschaftlichen Themen zum gesunden, normalen Menschenverstand zurückkommen. Den vermisse ich bei den Anträgen von AfD und FDP.
Danke schön.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Auch wenn aus nachvollziehbaren Gründen nach wie vor die Coronapandemie die öffentliche Wahrnehmung beherrscht, müssen wir klar sehen: Es gibt auch andere Themen, die unsere Zukunft in Deutschland, aber auch darüber hinaus nachhaltig beeinflussen werden und die deshalb ein entschiedenes Handeln des Gesetzgebers erfordern.
Zu diesen Themen gehört der Brexit, der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union, der, wie Sie wissen, zum 1. Februar dieses Jahres stattgefunden hat – demokratisch legitimiert mit dem Referendum aus dem Jahr 2016, aber – das möchte ich an der Stelle festhalten, zumindest für den Großteil dieses Hohen Hauses – mit großem Bedauern zur Kenntnis genommen wurde. Aber wir müssen uns mit der Realität abfinden. Es ist ausweislich des Austrittsabkommens fest vereinbart, dass bis Ende dieses Jahres aller Voraussicht nach die Briten die Rechte und die Pflichten verlieren, die sie bisher hatten. Aber zum 1. Januar des kommenden Jahres wird es eine Änderung geben.
Gegenstand des Austrittsabkommens ist, die Frage zu klären, wie wir mit den britischen Staatsangehörigen umgehen, die sich derzeit in Deutschland aufhalten. Unsere Herangehensweise als Bundesregierung ist die, dass wir möglichst unbürokratisch und vor allem auch möglichst offen und human vorgehen. Es wird also so aussehen, dass die britischen Staatsangehörigen und ihre Familienangehörigen, aber auch nahestehende Personen, die sich bis zum 31. Dezember dieses Jahres in Deutschland aufhalten, Bestandschutz erfahren.
Das Gleiche gilt für sogenannte Grenzpendler, also britische Staatsangehörige, die in den Niederlanden oder in Österreich leben und in Deutschland arbeiten. Diese Regelung gilt jetzt schon nicht mehr für den Umzug innerhalb der Europäischen Union und auch nicht für Personen, die ab dem 1. Januar 2021 nach Deutschland einreisen. Es wird also in Zukunft klar differenziert zwischen den britischen Staatsangehörigen, die Bestandschutz genießen, und denen, die ab dem 1. Januar 2021 nach Deutschland einreisen. Für sie gilt dann der Bestandschutz nicht mehr, und sie werden wie EU-Drittstaatsangehörige behandelt.
Das Austrittsabkommen, das zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU verhandelt wurde, ist unmittelbar geltendes europäisches Recht, und es verlangt den Vertragspartnern und auch den EU-Mitgliedstaaten die Erfüllung gewisser Pflichten ab. Zu diesen Pflichten gehört, dass wir die Statusrechte für britische Staatsangehörige regeln. Wir haben die Wahlfreiheit, ob wir kraft Gesetzes den Status festschreiben oder ob wir eine Antragsmöglichkeit eröffnen. Die Bundesregierung hat sich aus pragmatischen Gründen für eine Regelung kraft Gesetzes entschieden, vor allem auch, um missliche Fälle zu vermeiden, beispielsweise dass jemand die Antragsfrist versäumt.
Der Gesetzentwurf, den das Kabinett am 20. Mai dieses Jahres verabschiedet hat, sieht daher vor, dass britische Staatsangehörige bis einschließlich 30. Juni nächsten Jahres, mittels Pass oder mittels eines Nachweises, dass sie in Deutschland leben, die Möglichkeit haben, bei ihrer zuständigen Ausländerbehörde die EU-rechtlich vorgesehene Karte zu erwirken. Die Gebühren, die dafür verlangt werden, entsprechen den Gebühren, die deutsche Staatsangehörige für den Personalausweis zu entrichten haben. Ich bin der festen Überzeugung, dass damit eine sehr pragmatische und vor allem auch eine sehr faire Lösung gefunden wurde.
Darüber hinaus sieht der Gesetzentwurf noch zwei Regelungspunkte vor. Im Sozialgesetzbuch III wird für deutsche Studenten, die in Großbritannien oder in Nordirland studieren, festgeschrieben, dass sie auch weiterhin für den gesamten Ausbildungsabschnitt, also für ihr weiteres Studium, BAföG-bezugsberechtigt sind.
Ein letzter Punkt, der behandelt wird – es geht um ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs aus dem Jahr 2012 –, betrifft eine Regelungslücke aus der EU-Freizügigkeitsrichtlinie, die im EU-Freizügigkeitsgesetz schnell umgesetzt werden soll, vor allem um ein mögliches Vertragsverletzungsverfahren der EU-Kommission zu vermeiden. Es geht dabei darum, dass auf Antrag vor der Ermessensentscheidung und nach der Einzelprüfung die Möglichkeit gegeben wird, dass EU-Drittstaatsangehörige zu freizügigkeitsberechtigten Unionsangehörigen nach Deutschland reisen können. Hier geht es zum einen um die Personengruppe der Pflegekinder und zum anderen um die Personengruppe der langjährig nichtehelichen Lebenspartner.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, es handelt sich aus meiner Sicht bei dem in erster Lesung zur Beratung anstehenden Gesetzentwurf um einen sehr wichtigen Gesetzentwurf. Ich bitte vor dem Hintergrund der Eilbedürftigkeit um eine umsichtige, aber vor allem auch um eine zügige Beratung des Gesetzentwurfes, insbesondere um den in Deutschland lebenden britischen Staatsangehörigen möglichst rasch Rechtssicherheit angedeihen zu lassen, was die Zukunft ihres Aufenthaltsstatus anbelangt.
Ich danke ganz herzlich für die Aufmerksamkeit.
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Für die Fraktion der AfD hat das Wort der Kollege Dr. Christian Wirth.
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Herr Präsident! Werte Kollegen! Liebe Mitbürger! Ein Satiriker sagte vor nicht langer Zeit: In 20 Jahren wird es nur noch zwei Staaten in der EU geben, die Engländer, weil sie nicht rauskommen, und die Deutschen, weil sie an die EU glauben. In Ersterem hat er sich geirrt. Es bleibt also noch etwas Hoffnung.
Wieder gibt es Bewegung beim Thema Freizügigkeit und Nachzug, wieder einmal in die falsche Richtung. Aus der EU kommt nie etwas, das auch nur das kleinste bisschen Bremse an die Migration legt. Aus der EU wird auch nie etwas kommen, das auch nur den kleinsten Unterschied zwischen den Nationalstaaten respektiert und anerkennt. Nicht zuletzt aus diesen Gründen hat das britische Volk sich dafür entschieden, sich der europäischen Zwangsjacke zu entledigen. Nicht zum ersten Mal in dieser Legislaturperiode passen wir deshalb unsere Gesetzgebung an. Es geht um Anpassungen, die nicht nötig gewesen wären, wenn die Bundesregierung ihr politisches Gewicht nicht in falscher Arroganz dazu eingesetzt hätte, den Briten jede Reform in der EU zu verweigern, Anpassungen, die wir schon lange hinter uns hätten, wenn es nicht die Strategie der EU gewesen wäre, die Briten für ihre Volksabstimmung zu bestrafen, statt auf eine Zukunft in Partnerschaft und Freundschaft hinzuarbeiten.
Natürlich ist Rechtssicherheit nun, wo die Briten frei sind, wichtig. Deswegen kann man den diesbezüglichen Regelungen auch durchaus zustimmen. Aber es wäre nicht die Bundesregierung, wenn sie nicht in vorauseilendem Gehorsam im Rahmen der Freizügigkeit ein Trojanisches Pferd in diesen Gesetzentwurf eingebaut hätten. Sie führen einen neuen Begriff in das Freizügigkeitsgesetz ein, den das Gesetz in Deutschland so noch nicht kennt, nämlich den der „nahestehenden Person“. Nicht mehr nur Verwandtschaft, Ehe und eingetragene Lebensgemeinschaften sollen aufenthaltsberechtigt sein, nein, ausreichend ist nach Absatz 4a jegliche Verwandtschaft, ohne im Sinne von § 1589 BGB in gerader oder Seitenlinie verwandt und somit Familienangehöriger zu sein, und nach Absatz 4c jede Person, die irgendwie bescheinigen kann, mit einem Aufenthaltsberechtigten zusammengelebt zu haben. Sie geben sich zwar in der Einleitung des Gesetzentwurfs bemüht: Natürlich sei es wichtig, eine zusätzliche „Belastung der Sozialsysteme“ zu vermeiden, und natürlich wollen Sie keine „verstärkte Zuwanderung“. Aber wenn Sie das nicht wollen, dann lassen Sie den Unsinn, den Sie ins Gesetz geschrieben haben.
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Sie haben sich in der Euro-Krise und in der Flüchtlingskrise, bei den Maastricht-Kriterien und jetzt bei der Coronakrise über europäisches Recht hinweggesetzt. Jetzt buckeln Sie wieder und freuen sich klammheimlich, dass man Ihnen von der EU wieder vorschreibt, wie man Deutschland schaden kann. Mit der Definition einer nahestehenden Person, direkt im Unterpunkt a, erweitern Sie den Begriff auf alle und jeden, mit dem man irgendeine gemeinsame Abstammung nachweisen kann. Sie haben keinerlei Beschränkungen nach oben oder unten, weder in Ihrem Gesetz noch im Bürgerlichen Gesetzbuch, auf das Sie sich berufen. Wenn man irgendwo einen gemeinsamen Vorfahren im 18. Jahrhundert findet, ist man nahestehende Person. Das ist dogmatisch unsauber, rechtlich unsinnig und tatsächlich eine Katastrophe, wenn man an die Migration denkt.
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In Punkt c verlangen Sie eine „ordnungsgemäß bescheinigte … Gemeinschaft“. Das könnte schwammiger kaum formuliert sein, vor allem da so eine Gemeinschaft ja vor allem im Ausland bestanden haben soll. Schon jetzt hat man mit allerlei gefälschten amtlichen Dokumenten aus dem Ausland zu kämpfen. Was soll jetzt noch auf Echtheit geprüft werden: eine gemeinsame Stromrechnung aus dem Libanon? – Nein, Sie vermischen in Ihrem Antrag zu viel. Sie erlauben keine ausreichende Debatte über diese sehr grundsätzliche Ausweitung des Begriffs der nahestehenden Person. Trennen Sie die Teile in Ihrem Antrag; dann können wir zumindest über den Brexit-Teil reden. So ist diese merkwürdige Schimäre schon jetzt inakzeptabel und schlimmstenfalls ein ganz bewusst so vermengtes Trojanisches Pferd.
Vielen Dank.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Werte Zuschauende! Der vorliegende Regierungsentwurf belegt, wie schnell gesetzliche Rahmenbedingungen angepasst werden können, wenn beispielsweise infolge des Brexits aufgrund der mit Jahresende auslaufenden Übergangsfrist die Zeit brennt. Der Regierungsentwurf belegt aber auch, wie lange sich ein Vorgang hinziehen kann – wie hier eine adäquate Umsetzung der EU-Freizügigkeitsrichtlinie, welche den Nachzug bestimmter nahestehender Personen regelt.
Zügig – was ich selbstverständlich begrüße – wurden BAföG-Regelungen angepasst. Auch 2021 können Studierende aus Deutschland ein zuvor im Vereinigten Königreich begonnenes Studium noch geregelt abschließen. Heute in Deutschland lebende Britinnen und Briten erhalten nach Ablauf der Übergangsfrist unbürokratisch einen Aufenthaltstitel.
Mit dem über Jahre anhängigen Vertragsverletzungsverfahren stehe ich bescheiden und demütig vor Ihnen, ist doch die Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union eine der wichtigsten Errungenschaften des europäischen Einigungsprozesses und einer der sichtbarsten Vorzüge für die Bürgerinnen und Bürger. Es ist gut und richtig, die Kritik der EU-Kommission endlich aufzugreifen und die Einreise sowie den Aufenthalt von Lebenspartnerinnen und ‑partnern und weiteren Familienangehörigen von Unionsbürgerinnen und ‑bürgern zu erleichtern. Zukünftig soll die Antragstellung auch nahestehenden Personen ermöglicht und nicht allein auf den Verwandtschaftsgrad abgestellt werden. Die Entscheidung fällt auf Basis von individuellen Prüfungen der Gesamtumstände.
Ein Erfolg ist, dass das Anpassungsgesetz den unionsrechtlichen Vorgaben einer Erleichterung entspricht. Leicht machen es die restriktiven Bedingungen für eine Antragstellung auf Einreise und Aufenthalt den Antragstellenden jedoch nicht, was einzelne migrationspolitische Verbände wie zum Beispiel „Der Paritätische“ kritisieren. Einige Kritikpunkte aus den zu diesem Anpassungsgesetz vorliegenden Stellungnahmen sind im Gesetzentwurf bereits übernommen worden. Das sind beispielsweise die Aufnahme der Lebenspartnerinnen und ‑partner oder die Streichung der Voraussetzung einer besonderen Härte.
Hervorheben möchte ich die Stellungnahme des Bundesrates. Er fordert die Beibehaltung der fiktiven Prüfung des Aufenthaltsrechts bei der Beantragung von Sozialleistungen. Das scheint mir sozialpolitisch plausibel zu sein. Der Wegfall dieser Praxis würde dazu führen, dass viele Personen, die einen objektiven Aufenthaltsgrund erfüllen, von existenzsichernden Sozialleistungen ausgeschlossen würden. Natürlich ist mir bewusst: Freizügigkeit kann nur in vorgegebenen Strukturen mit klaren rechtlichen Normen umgesetzt werden.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus der Fraktion der Grünen?
Ich möchte zu Ende sprechen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dennoch sollten wir uns noch einmal fragen, ob wir wirklich wollen, dass diese europäisch verordnete Erleichterung in der strengstmöglichen aller Umsetzungen das Licht der Welt erblickt.
Mit der bereits beschriebenen Demut und Bescheidenheit danke ich Ihnen.
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Nächster Redner: der Kollege Konstantin Kuhle, FDP-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sprechen heute Abend über eine Reform des EU-Freizügigkeitsrechts. Der erste Anlass für diese Reform ist der Brexit. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der Regierung soll für jene britischen Staatsbürger, die sich bis zum Ende der Übergangszeit am 31. Dezember dieses Jahres in Deutschland aufhalten, im Freizügigkeitsrecht ein starkes Aufenthaltsrecht geschaffen werden. Das ist der richtige Weg; denn die Bürgerinnen und Bürger des Vereinigten Königreichs, die außerhalb ihres Landes in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union leben wollen, dürfen nicht die Leidtragenden des Brexit sein.
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Wir haben, meine Damen und Herren, weitere Schritte, die mit diesem Gesetzesvorschlag der Regierung unternommen werden. Unter anderem wird eine Regelung eingeführt, die es deutschen Studierenden ermöglicht, einfacher BAföG zu empfangen, wenn sie eine gewisse Zeit das Erasmus-Programm im Vereinigten Königreich nutzen. Ich meine, dass wir in den Beratungen im Ausschuss überlegen sollten, wie man es in Zukunft für britische Studierende vereinfachen kann, in Deutschland tätig zu sein, in Deutschland zu arbeiten, in Deutschland zu studieren. Es darf nicht die junge Generation sein, die unter dem Brexit leidet; denn die junge Generation im Vereinigten Königreich hat sich ja gerade gegen den Brexit ausgesprochen. Deswegen sollte die Reform des Freizügigkeitsrechts gleichsam eine Einladung an die junge Generation des Vereinigten Königreichs sein, auch nach Deutschland zu kommen.
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Meine Damen und Herren, ich will ganz kurz darauf eingehen, dass es ja schon bemerkenswert ist, dass der Bundestag ausgerechnet in einer Woche das Austrittsabkommen umsetzt, in der der britische Premierminister Johnson ganz offen im Parlament bekennt, das Austrittsabkommen verletzen zu wollen. Das zeigt einmal mehr: Der Brexit ist ein populistisches Wahnsinnsprojekt zulasten des Friedens in Irland, zulasten der europäischen Idee und zulasten der Bürgerinnen und Bürger.
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Meine Damen und Herren, der zweite Anlass für die Reform des Freizügigkeitsrechts, über die wir heute in erster Lesung beraten, ist die Verbindung aus vielgestaltigen Familienkonstellationen, die es heutzutage gibt, und aus dem Zuzug von Drittstaatsangehörigen zu Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern. Da gibt es ein offenes Vertragsverletzungsverfahren, da gibt es ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs, und all das hat zur Folge, dass klar ist: Deutschland setzt die EU-Freizügigkeitsrichtlinie bisher nicht hinreichend um. Deswegen ist es gut, dass wir miteinander darüber diskutieren, wie man diese Vertragsverletzung aus der Welt schaffen kann.
Weil wir aber an der Schnittstelle von Unionsrecht und dem Zuzug von Drittstaatsangehörigen zu Unionsbürgern tätig sind, will ich die Gelegenheit nutzen, um eine andere Schnittstelle dieser Rechtskreise anzusprechen. Das sind die Regeln, die aktuell verhindern, dass sich binationale Paare, die nicht verheiratet sind, in dieser Coronazeit auf vernünftige Weise sehen können. Es ist absolut in Ordnung, dass man in Coronazeiten auf Reiserestriktionen setzt. Aber es ist nicht in Ordnung, dass diese Bundesregierung, dass die Große Koalition die Ausnahmen, die die EU doch zulässt, in so bornierter, in so weltfremder Weise umsetzt, dass man sich einmal in Deutschland getroffen haben muss oder einen gemeinsamen Wohnsitz gehabt haben muss, um diese Ausnahmen in Anspruch zu nehmen. Meine Damen und Herren, Tourismus muss in Coronazeiten limitiert werden. Das ist schlimm genug. Aber Liebe ist kein Tourismus.
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Binationale Paare, die nicht verheiratet sind, brauchen ein stärkeres Recht der Freizügigkeit. Diese Paare haben sich seit Monaten nicht gesehen, und die Bundesregierung und die Große Koalition verschleppen eine vernünftige, unbürokratische Ausnahme zugunsten dieser Paare, obwohl die EU es längst zulässt. Werden Sie hier tätig, und dann sind wir da auf einem guten Weg.
Vielen Dank.
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Für die Fraktion Die Linke hat das Wort die Kollegin Ulla Jelpke.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dem letzten Punkt, den Herrn Kuhle eben angesprochen hat, kann ich mich nur anschließen. Auch ich finde, dass Drittstaatsangehörige, die sich lieben, jederzeit zusammenkommen dürfen müssen und dass es unglaublich bürokratisch gehandhabt wird. Das ist wirklich abzulehnen.
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Meine Damen und Herren, wir beraten hier verschiedene Änderungen des Freizügigkeitsgesetzes, das die Einreise und den Aufenthalt von Unionsbürgerinnen und ‑bürgern regelt. Vorgesehen ist, dass der Anspruch auf Familiennachzug zu Unionsbürgern auf Personen außerhalb der Kernfamilie ausgeweitet wird, zum Beispiel auf Geschwister, Pflegekinder oder unverheiratete Lebenspartnerinnen und ‑partner.
Das hört sich erst mal gut an; allerdings muss man hier ganz klar sagen, dass der Europäische Gerichtshof dies bereits 2012 in einem Urteil vorgegeben hat. Ich finde es schon äußerst peinlich, dass man hier so tut, als würde man eine migrationspolitische Großtat vollbringen, wenn man fast ein ganzes Jahrzehnt lang den Betroffenen den Familiennachzug verweigert hat. Das ist wirklich ein Skandal.
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Bei einem weiteren Punkt im Gesetzentwurf geht es um die Aufenthaltsrechte britischer Staatsangehöriger nach dem Brexit. Die Bundesregierung hat mehrfach betont, dass Unionsbürgerinnen und ‑bürger aus Großbritannien, die in Deutschland leben, durch den Brexit keine Nachteile erleiden sollen.
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Staatssekretär Mayer hat noch im Frühjahr dieses Jahres im Innenausschuss bestätigt, das es für diese Gruppe keinen Ausweisungsschutz gibt. Aber jetzt lesen wir auf einmal im Gesetzentwurf, dass die Ausweisregelungen, die für Drittstaatsangehörige gelten, auch auf sogenannte Altbriten angewendet werden sollen. Meine Damen und Herren, das ist ein ganz klarer Wortbruch, den man nicht akzeptieren kann.
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Schließlich nutzt die Bundesregierung den Gesetzentwurf, um klammheimlich weitere Leistungsausschlüsse für Unionsbürgerinnen und ‑bürger durchzusetzen. Eine positive Rechtsprechung der Sozialgerichte, bei der geprüft wird, ob Unionsbürgerinnen und ‑bürger Anspruch auf Leistungen nach dem Aufenthaltsgesetz haben, soll künftig nicht mehr möglich sein. In der Folge würden Jobcenter in noch mehr Fällen als bisher Leistungen ablehnen.
Liebe Frau Kollegin Lehmann, betroffen wären beispielsweise unverheiratete Elternpaare mit Kindern, Schwangere vor der Geburt des Kindes, Menschen mit schweren Erkrankungen und andere Härtefälle. All diese besonders schutzbedürftigen Gruppen will die Bundesregierung künftig von existenzsichernden Leistungen ausschließen. Ich halte das für extrem unsozial und unsolidarisch den europäischen Unionsbürgerinnen und ‑bürgern gegenüber.
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Das sollten wir auf jeden Fall im Ausschuss diskutieren.
Danke.
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Die nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Filiz Polat.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Parlamentarischer Staatssekretär Mayer, mit dem vorliegenden Gesetzentwurf packt die Bundesregierung endlich ein Problem an, dem sie sich mehr als 15 Jahre verweigert hat.
Es geht um nicht weniger als um das Familienleben von Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern; das haben meine Kolleginnen sehr schön erläutert. Nach der Unionsbürgerrichtlinie haben alle EU-Bürgerinnen und ‑bürger, die freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen das Recht, in einem anderen Mitgliedstaat zu leben, zu arbeiten und zu wohnen. Die Richtlinie ermöglicht die Familieneinheit auch dann, wenn Familienmitglieder selbst keine Unionsbürgerinnen und ‑bürger sind. Das gilt unter bestimmten Voraussetzungen zum Beispiel für Pflegekinder, Lebenspartnerinnen und Lebenspartner, Geschwister – das hat die Kollegin Jelpke gesagt –, Tanten und Onkel. Das wird unter dem kühlen, unscheinbaren Begriff „nahestehende Personen“ subsumiert. Aus unserer Sicht ist das ganz zweifellos „Familie“.
Da die Bundesregierung die Unionsbürgerrichtlinie jedoch nie umgesetzt hat, konnten diese nahestehenden Familienmitglieder über Jahre hinweg ihre Rechte nicht in Anspruch nehmen. Trotz mehrfacher Rügen – das hat der Parlamentarische Staatssekretär wohl irgendwie vergessen zu sagen – durch die Europäische Kommission, trotz eines Vertragsverletzungsverfahrens und einer eindeutigen Rechtsprechung des EuGH ist nichts passiert.
Das ist ein Armutszeugnis für den starken Rechtsstaat, aber vor allem ist es eine Tragödie für all die Familien, deren gemeinsames Leben in Deutschland zu Unrecht verkompliziert, wenn nicht sogar unmöglich gemacht wurde. Mit der Neuregelung werden nun zwar endlich die zu Unrecht bestehenden Barrieren für die Familien abgebaut; leider bleibt die Ausgestaltung aber viel zu restriktiv. Das ist bereits erläutert worden.
Wir sollten im Ausschuss in Ruhe darüber beraten und entsprechend nachbessern. Ich habe Sie, Frau Lehmann, so verstanden, dass Sie da durchaus offen sind. Ein wichtiger Punkt ist die fortschreitende Beschneidung der Leistungsrechte. Wer sind diese Menschen, die nicht mehr Teil unserer Fürsorgegemeinschaft sein sollen? Frau Jelpke hat es bereits aufgezählt.
Wen trifft das vor allem? Das trifft ausschließlich Frauen in bestimmten Konstellationen: Frauen mit Kindern. Die Sozialrechtsprechung wurde bereits erwähnt. Es trifft die nichterwerbstätige Frau während des Mutterschutzes. Es trifft die Pflegekinder einer alleinstehenden Arbeitnehmerin. Oder es trifft auch die Mutter eines deutschen Kindes, die bislang keine Aufenthaltserlaubnis von der Ausländerbehörde erhalten hat.
Ich möchte Sie alle noch mal auffordern, die heute eingegangene Stellungnahme vom Bundesweiten Koordinierungskreis gegen Menschenhandel zu lesen. Darin steht, dass von dieser unscheinbaren Regelung vor allem die von Menschenhandel betroffenen Frauen aus anderen EU-Mitgliedstaaten betroffen sind. Deshalb fordern wir, die Leistungsausschlüsse von Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern endlich zu beseitigen und die soziale Entrechtung unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger zu beenden.
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Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Das Recht auf Freizügigkeit in der EU ist für uns eine Selbstverständlichkeit. Das war in früheren Generationen noch nicht so. Nach dem Brexit merken jetzt auch die Briten, dass es keine Selbstverständlichkeit ist. Die britische Regierung will offensichtlich die Brücken zur EU komplett einreißen, koste es, was es wolle. Es wurde schon angesprochen: In dieser Woche ist man sogar bereit, internationales Recht vorsätzlich zu brechen.
Wir wollen dies nicht. Wir wollen vor allem rechtstreu bleiben, was die bisherigen Vereinbarungen mit Großbritannien anbelangt. Wir wollen das auch nicht auf dem Rücken der bereits in Deutschland lebenden britischen Staatsbürger austragen; deswegen werden wir hier ein relativ unkompliziertes, einfaches Verfahren wählen, damit diese Personen in Deutschland bleiben können.
Ein weiterer Punkt, den wir in diesem Gesetz zu gegebener Zeit, also nicht ganz zeitnah, regeln, betrifft eine Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, wonach nahestehende Verwandte von EU-Bürgern, die selbst nicht EU-Bürger sind, eine Möglichkeit haben, nach Deutschland zu kommen und in Deutschland zu bleiben.
Eine Korrektur muss ich hier anbringen: Es ist nicht so, dass es diese Möglichkeit bislang überhaupt nicht gegeben hätte; vielmehr hatte Deutschland dies im Freizügigkeitsgesetz bislang nicht ausdrücklich geregelt. Das holen wir jetzt mit klaren Regeln und Pflichten nach.
Ein großzügiges Recht auf Freizügigkeit müssen wir verteidigen. Überall da, wo es großzügige Rechte gibt, gibt es auch Missbrauch, und das bereits heute. Deswegen möchte ich noch einen Punkt ansprechen, der zwar im Referentenentwurf stand, der aber keinen Eingang in den Gesetzentwurf gefunden hat: die Bekämpfung von Schleuserbanden, von Personen aus dem Bereich organisierte Kriminalität, die dafür sorgen, dass ein EU-Bürger, zumeist aus Osteuropa, angeworben wird und dass dieser dann über Scheinehen bzw. Heiratsurkunden andere Personen nach Deutschland holt.
Für das bandenmäßige und gewerbsmäßige Schleusen ohne Beteiligung eines EU-Bürgers und ohne Ausnutzung der EU-Freizügigkeit sieht bereits das Aufenthaltsgesetz eine Strafverschärfung vor. Damit einher gehen wichtige Ermittlungsbefugnisse der Polizei, beispielsweise Telekommunikationsüberwachung. Bereits heute ermittelt die Bundespolizei in über 800 Fällen im Zusammenhang mit dem Freizügigkeitsrecht von EU-Bürgern. Es gibt, glaube ich, überhaupt keinen sachlichen Grund – da schaue ich insbesondere die Kolleginnen und Kollegen der SPD an –, diese bandenmäßige Ausnutzung der EU-Freizügigkeit nicht genauso zu behandeln wie die kriminellen Aktivitäten im normalen Aufenthaltsrecht.
Wir sind in der ersten Lesung. Daher sollten wir durchaus nochmals darüber nachdenken, ob wir nicht tatsächlich gegen die Schleuser, gegen die Kriminellen härter vorgehen und der Bundespolizei andere Möglichkeiten geben. Denn niemand will ja wohl die Schleuserbanden schützen und schonen. Insofern freue ich mich auf die Beratungen im Parlament und im Ausschuss.
Herzlichen Dank.
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Sehr geehrte Herren Präsidenten! Meine Damen und Herren! Sie alle hier kennen die Zeitungsberichte über SARS-CoV-2-Laboruntersuchungen, die schieflaufen. Die einen nennen es eine kleine Panne. Andere und ich nennen das skandalös. Ergebnisse werden zu langsam oder gar nicht übermittelt. Es wird hier zu viel, da zu wenig getestet. In Bayern haben wir ein wildes Massentesten. Das ist nicht der richtige Weg. Denn spätestens bei der zweiten Infektionswelle im Herbst oder Winter wird es bei den Testressourcen eng werden. Die bestehende Teststrategie funktioniert nicht.
Meine Damen und Herren, wer verantwortlich handeln will, muss gezielt und klug testen. Deshalb legen wir eine intelligente und praxistaugliche Teststrategie vor, als erste Fraktion hier im Bundestag. Sie ermöglicht schnelles, digitales und gezielteres Testen.
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Sie schützt die Risikogruppen und das Gesundheitssystem. Eine sinnvolle, durchführbare und nachhaltige Teststrategie muss einer zwingenden Logik folgen. Die Basis muss der aktuelle Stand der Wissenschaft sein. Die Strategie muss im Angesicht des sich entwickelnden Wissens agil auf Veränderungen reagieren. Es muss für die Bevölkerung auch nachvollziehbar sein, nach welchen Kriterien getestet werden kann.
({1})
– Wenn Sie Fragen haben, fragen Sie ruhig. Ich freue mich darauf.
Von unseren Vorschlägen möchte ich drei Punkte herausheben, die für eine nationale Teststrategie unerlässlich sind:
Erstens. Informationen müssen fließen. Geschwindigkeit ist Pflicht. Menschen wollen und müssen rechtzeitig wissen, was das Testergebnis ist, um so später verantwortungsvoll handeln zu können. Deshalb, meine Damen und Herren, müssen sie das Ergebnis der Untersuchung innerhalb von 24 Stunden erfahren.
({2})
Ohne Ergebnisse sind unnötige Quarantäne und Menschengefährdungen die Folge. Das ist ein unerträglicher Zustand.
Zweitens. Die Menschen müssen Teststationen regional und lokal vor Ort kennen. Viele klagen zu Recht darüber, dass sie gar nicht wissen, wo, wann, wohin, unter welchen Umständen sie sich testen lassen müssen. Sie werden von A nach B geschickt und sind eher irritiert, als sich unterstützt zu fühlen. Die Teststationen müssen auf verschiedenen Kommunikationswegen bekannt gemacht werden: Fernsehen, Radio, Zeitung, Internet usw. Wichtig dabei ist: Niederschwellig muss die Information erhältlich sein.
({3})
Dabei ist auch zu beachten, dass die alltägliche medizinische Versorgung dadurch nicht beeinträchtigt wird oder gar weitere Patienten oder Personal gefährdet werden.
Dritter Punkt. Es müssen ausreichende Testkapazitäten und Testverfahren vorgehalten werden. Wenn es mit den Testkapazitäten eng wird, müssen wir offen sein für alternative Lösungen auch außerhalb der humanmedizinischen Laboratorien.
({4})
So, meine Damen und Herren, sollte eine nationale Teststrategie aussehen; denn so schützt sie uns und unsere Freiheit. Ich freue mich sehr auf die Diskussionen im Ausschuss.
Herzlichen Dank.
({5})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Mit Blick auf unsere nationale Teststrategie befinden wir uns in der Tat in einer wichtigen Woche. Morgen enden auch im letzten Bundesland, nämlich in Baden-Württemberg, die Sommerferien. Das Ende der Reisezeit und der nahende Herbst erfordern natürlich eine erneute Weiterentwicklung unserer Teststrategie. Insofern danke ich der FDP-Fraktion,
({0})
dass sie uns heute Gelegenheit verschafft, hier die Beschlüsse, die die Bundeskanzlerin mit den Ministerpräsidenten getroffen hat, zum Ende der Sommerferien und zum Herbstbeginn zu reflektieren. Denn am 27. August haben sich die Kanzlerin und die Länderchefs auf ein Update der Strategie verständigt.
Dieses Update erhielt ja auch die Zustimmung von drei Landesregierungen, an denen die FDP beteiligt ist, in Schleswig-Holstein sogar mit dem Gesundheitsminister, Herrn Garg.
({1})
Insofern werden Sie ja auch zustimmen, dass diese Einigung vom 27. August einige intelligente Anpassungen angesichts der jüngsten Praxiserfahrungen umfasst.
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Eine davon wird bereits in der kommenden Woche in Kraft treten, wie das Gesundheitsministerium sie derzeit vorbereitet: Die kostenlose Testung für Einreisende aus Nichtrisikogebieten endet. Die Zahl der festgestellten Infektionen war zum Glück sehr gering. Der Beschlusstext zur Telefonschaltkonferenz formuliert das so:
Bei den freiwilligen Testungen von Rückreisenden aus Nicht-Risikogebieten war die Zahl der festgestellten Infektionen dagegen außerordentlich gering. Deshalb endet die Möglichkeit zur kostenlosen Testung für Einreisende aus Nicht-Risikogebieten am Ende der Sommerferien aller Bundesländer mit dem 15.09.2020.
Zugleich zeigen aber die aktuellen Entwicklungen in Frankreich, in Spanien, in Italien,
({3})
wie zerbrechlich alle Zwischenerfolge sein können und dass internationale Mobilität weiterhin besonderer Aufmerksamkeit bedarf. In diesem Kontext begrüße ich den Bund-Länder-Beschluss, zum 1. Oktober die Regeln für Reisende aus Risikogebieten anzupassen – dies auch im Licht der Verfügbarkeit von Testkapazitäten. Die Anpassung – Test ab dem fünften Tag – verdeutlicht, wie wichtig eine enge Verzahnung von neuem Wissen, Laboren und Kapazitäten des Öffentlichen Gesundheitsdienstes ist.
Bei der Priorisierung von Kapazitäten sind wir uns alle einig, dass symptomatische Verdachtsfälle enger Kontaktpersonen zu nachgewiesenen Infizierten immer Vorrang haben müssen. In der kalten Jahreszeit mit saisonalen Atemwegserkrankungen müssen wir aber auch Kapazitäten für Einrichtungen vorhalten, in denen sich besonders vulnerable Gruppen aufhalten oder Kinder ihr Recht auf Bildung wahrnehmen. Deshalb freut mich auch die Meldung aus Nordrhein-Westfalen, dass das Land unter der Ägide von Ministerpräsident Laschet, Gesundheitsminister Laumann, Wirtschaftsminister Pinkwart den Ausbau von Corona-Labordiagnostik bei der Firma Qiagen in Hilden mit 18,3 Millionen Euro fördert.
({4})
In den letzten Tagen ist viel über neue Testmethoden und deren mögliche Vorteile im Vergleich zum PCR-Test gesprochen worden. Schnelltests sind natürlich eine sehr verlockende Sehnsucht. Aber wir dürfen uns in der medizinischen Realität und der politischen Debatte nicht zu allzu einfachen Antworten verleiten lassen. Alle Testmethoden haben spezifische Vor- und Nachteile. Sie bleiben bis auf Weiteres im Einzelfall interpretationsbedürftig.
Zum Schluss: Das Herbstupdate für Anfang Oktober ist in Arbeit. Die Union unterstützt das Plädoyer der FDP für zielgerichtetes Testen und agile Veränderungen. Das hat unsere fachliche Unterstützung.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Damit identifizieren wir uns. Der Antrag ist aber angesichts des laufenden Updates entbehrlich.
({0})
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({1})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Praxistaugliche und intelligente Covid-19-Teststrategie – so das Thema. Der Antrag kritisiert zu Recht, dass in hohem Maß und nicht zielgerichtet getestet wird; da sind wir uns bestimmt einig. Zum PCR-Test muss man aber feststellen: Die übliche Handhabung der Tests auf das neue Coronavirus, auch von einigen Drosten-Test genannt, ist untauglich, um ausreichend sichere Ergebnisse und Aussagen zur Verbreitung von SARS-CoV-2 zu liefern.
({0})
Es entsteht, meine Damen und Herren, eine mathematisch-statistisch begründete Fehlinterpretation der Lage durch hohe Anzahl von Testungen im Zusammenhang mit der Fehlerhaftigkeit im Bereich der falsch positiven Testergebnisse.
({1})
Einem dpa-Artikel vom 2. September ist zu entnehmen, dass die Vorsitzende des Deutschen Netzwerkes Evidenzbasierte Medizin, Frau Lühmann, die hohe Anzahl durchgeführter Tests im Verdacht hat, uns ein falsches Bild zu vermitteln. Müssen Sie mal mit ihr reden; das hat sie so gesagt. Kurz gesagt: Bei einer geringen Infektionsrate in der Bevölkerung wie derzeit fallen falsch positive Testergebnisse so stark ins Gewicht, dass mit den dann gemeldeten Infektionszahlen ein stark verzerrtes Bild gezeichnet wird.
({2})
– So ist es nun mal. – Es entsteht so der Eindruck einer Pandemielage, was nicht haltbar ist. Wir haben keine Pandemie, meine Damen und Herren!
({3})
Auch Minister Jens Spahn hat am 14. Juni im sogenannten „Nach-Bericht aus Berlin“ auf die Gefahr falsch positiver Tests hingewiesen.
({4})
Positive Testergebnisse müssten immer durch weitere Tests der positiv getesteten Personen und genauere Testverfahren überprüft werden, was auch die Hersteller der Tests erklären, aber in der Praxis offenbar nicht durchgeführt wird oder nicht durchgeführt werden kann. Dies geht aus demselben Artikel hervor.
({5})
In einem Medienbericht heißt es derzeit: In vielen Ländern der Welt verwendete PCR-Tests auf aktive Viren liefern ungenaue Ergebnisse, und wenn man die Daten aus der Fachliteratur zusammenfasst, muss mit einer falsch positiven Rate von circa 1 Prozent gerechnet werden. Je mehr getestet wird, desto mehr kann es also den Anschein haben, dass es viele Infizierte gibt, obwohl das gar nicht zutrifft.
({6})
Leuchtet Ihnen vielleicht nicht ein, ist mathematisch aber so. Die PCR-Testkits sollten nicht als direkte Evidenz für klinische Diagnosen benutzt werden können.
Und jetzt ein paar Worte zu den Todesfällen, den Sterbestatistiken, die wir ja auch immer mit anführen. Laut EuroMOMO – ist Ihnen ja bekannt; die beschäftigen sich mit der Übersterblichkeit – kann man insbesondere für die Zeit ab der 34. Kalenderwoche erkennen, dass die Sterberaten in zahlreichen europäischen Ländern derzeit niedrig sind
({7})
und in einigen Ländern in fast allen Altersgruppen einen Tiefstand über den Zeitraum der letzten drei Jahre erreicht haben.
Die Annahme einer derzeitig hohen Infektionsrate mit gleichzeitig hoher Gefährlichkeit des SARS-CoV-2 kann nicht aus der Sterbestatistik entnommen werden – ganz im Gegenteil, meine Damen und Herren!
({8})
In zahlreichen Ländern war im Frühjahr/Sommer 2020 keine erhöhte Sterberate zu verzeichnen, laut EuroMOMO – so heißen sie ja – beispielsweise in Österreich, Dänemark, Estland, Finnland, Griechenland und noch einigen mehr. In manchen Ländern Europas liegen die Sterbezahlen deutlich unter dem Durchschnitt, zum Beispiel in Großbritannien, Frankreich, Irland und auch weiteren Staaten. Insgesamt betrachtet verursacht das Virus keine so dramatische Lage, wie sie derzeit von einigen Leitmedien gezeichnet wird. Aber wir kennen das ja: Nur die schlechte Nachricht ist die gute Nachricht.
Meine Damen und Herren, wir hatten in den Jahren 1995/96 circa 25 000 Grippetote, 2012/13 und 2017/18 jeweils mehr als 20 000 Grippetote. Man muss die Lage und die Ausbreitung dieses Virus natürlich im Auge behalten. Aber von einer Epidemie oder Pandemie können wir und sollten wir nicht sprechen und nicht unverantwortlich Hysterie verbreiten.
({9})
Massentests sind absolut zu vermeiden.
Kommen Sie zum Schluss, bitte.
Viele Tests mit einem ungenauen PCR-Test verschaffen Unklarheit und Verwirrung. Damit werden auch die Weichen für falsche politische Entscheidungen gestellt. Wir lehnen den Antrag ab –
Kommen Sie bitte zum Schluss.
– letzter Satz; danke sehr –, weil auch die FDP davon ausgeht, bei besserer Handhabung könnten akzeptable Ergebnisse erreicht werden. Die genannte Problematik falscher Ergebnisse, die wir damit haben, wird bei dem Antrag nicht berücksichtigt.
Vielen Dank
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Sabine Dittmar, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Ansatz der AfD „Wir testen nicht, dann haben wir auch keine Pandemie mehr“ ist schon ein sehr spannender.
({0})
Kolleginnen und Kollegen, liest man den Antrag der FDP-Fraktion, stellt sich schon die Frage, ob sich die Verfasser mit den Tatsachen der Epidemiebekämpfung in den zurückliegenden Wochen und Monaten wirklich auseinandergesetzt haben.
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Selbstverständlich haben wir eine praxistaugliche und intelligente Teststrategie,
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die an dem jeweiligen aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand über das Virus ausgerichtet war und ist.
Selbstverständlich wird jede Person, die mit typischen Symptomen zu einem Arzt oder zu einer Ärztin geht, getestet. Es wurde und wird auch getestet, wer beispielsweise als Kontaktperson ein erhöhtes Risiko für SARS-CoV-2-Infektionen hat.
Per Rechtsverordnung wurde bereits im Juni die rechtliche Grundlage – und das war eine ganz wichtige Entscheidung – dafür geschaffen, dass auch asymptomatische Personen, die zum Beispiel in Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen, Kitas, Schulen und anderen Gemeinschaftseinrichtungen arbeiten oder darin gepflegt, betreut, behandelt werden, kostenlos und regelmäßig getestet werden.
({3})
Richtig ist aber auch, dass die Möglichkeiten dieser Rechtsverordnung von Region zu Region, von Gesundheitsamt zu Gesundheitsamt sehr unterschiedlich ausgelegt worden sind. Das ist wirklich ein Ärgernis, und deswegen ist es richtig, wenn das Bundesgesundheitsministerium hier noch mal, wie angekündigt, nachschärft. Denn die genannten Personen und Berufsgruppen haben Priorität bei der Testung.
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Mit der Teststrategie verfolgen wir das Ziel, konkrete Ausbrüche zu bekämpfen und die Weiterverbreitung des Virus in Deutschland zu bremsen. Ich denke, meine Damen und Herren, die Entwicklung zeigt ganz deutlich, dass wir hier bislang sehr erfolgreich unterwegs waren.
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Der Erfolg der Strategie gründet auch darauf, dass sie weitgehend von den Bundesländern mitgetragen wurde. Ich sage hier deshalb auch: Bedauerlich und im Grunde auch kontraproduktiv war der Vorstoß des bayerischen Ministerpräsidenten zur Durchführung von Massentests für jedermann und die Dynamik, die das mit Blick auf die Reiserückkehrer ausgelöst hat.
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Diese Massentests sind nicht nur medizinisch fragwürdig, sie sind mit Blick auf den Infektionsschutz auch nahezu wirkungslos und, wie sich gezeigt hat, auch überhaupt nicht praktikabel. Das war ein echter Bärendienst, den Herr Söder uns da erwiesen hat.
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Meine Damen und Herren, die Kapazität von 1,4 Millionen Testdosen in der Woche ist enorm. Und auch die Strategie „Testen, testen, testen“ ist richtig – das Ganze zielgerichtet, planvoll und nachhaltig.
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Denn alles andere wäre eine nicht verantwortbare Verschwendung von Ressourcen, sowohl der Materialien als auch der Leistungsfähigkeit der Labore, die in den letzten Wochen an ihre Leistungsgrenzen geführt wurden.
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Und natürlich werden wir auch die Antigen-Schnelltests, sobald sie validiert und für die Fläche anwendbar sind, mit in die Strategie einbeziehen. Gerade bei Reihentestungen in Gemeinschaftseinrichtungen oder auch für eine zügige Differenzialdiagnostik zwischen Influenza und Covid-19 können sie zu einer erheblichen Entlastung der sehr spezifischen und aufwendigen PCR-Tests beitragen. Deshalb bin ich froh, dass Bund und Länder nun wieder an einem Strang ziehen. Die angekündigte Anpassung der Teststrategie und der Quarantäneregelungen ist richtig und notwendig.
Es war eine richtige Entscheidung, dass wir Rückkehrer aus Risikogebieten unmittelbar in die Quarantäne schicken und erst nach fünf Tagen die Möglichkeit der Freitestung schaffen.
({10})
Beim unmittelbaren Test nach Einreise ist das Risiko schlicht und ergreifend zu hoch, dass ein positiver Befund übersehen wird, weil der Test noch nicht anschlägt. Das RKI hat uns dies eindrucksvoll belegt. Deswegen, Kolleginnen und Kollegen der FDP, verwundert es mich schon sehr, dass Ihre Fraktion weiterhin an der Testung unmittelbar bei Einreise festhalten will. Ihr Gesundheitsminister in Schleswig-Holstein ist da in seinen Erkenntnissen und Forderungen schon sehr viel weiter.
Natürlich werden wir, wenn die wissenschaftlichen Erkenntnisse es zulassen, sowohl die Quarantänezeit von 14 Tagen bei Personen, die sich in der Inkubationsphase befinden, als auch die Isolationszeit von Infizierten, die aktuell 10 Tage beträgt, verkürzen. Aber das werden wir nicht politisch oder medial getrieben entscheiden, sondern auf Grundlage von wissenschaftlich basierten Erkenntnissen.
({11})
Ganz entscheidend ist, dass die Quarantäneregeln beachtet und kontrolliert und eine Missachtung auch sanktioniert wird. Dafür muss der Öffentliche Gesundheitsdienst die notwendigen Kapazitäten haben. Es ist gut, dass sich Bund und Länder mit dem Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst auf ganz konkrete Maßnahmen zur personellen und digitalen Verstärkung der Gesundheitsämter verständigt haben.
({12})
Der ÖGD wird in den kommenden Jahren mit 4 Milliarden Euro unterstützt. Allerdings werden diese Maßnahmen sicher in diesem Herbst noch nicht greifen. Deshalb müssen wir uns weitere Möglichkeiten überlegen, wie wir den ÖGD kurzfristig personell stärken können. Ich persönlich finde den Vorschlag vom Bundesverband der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes, ein bundesweites Freiwilligenregister zu initiieren, sehr überzeugend. Hier würde ich mir wünschen, Frau Staatssekretärin, dass sich auch Ihr Haus mit dem Vorschlag konstruktiv auseinandersetzt. Hier sind Flexibilität und Kreativität gefragt.
({13})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine effiziente Teststrategie ist notwendig, um weiterhin gut durch das Pandemiegeschehen zu kommen, um gezielt gefährdete Personen und Berufsgruppen zu schützen und um die Testkapazitäten generell klug einzusetzen. Deshalb sind wir heute schon sehr viel weiter, als es der FDP-Antrag suggeriert.
({14})
Zum Abschluss noch der Hinweis:
Nein, Frau Kollegin, die Redezeit ist zu Ende.
Lassen Sie sich impfen!
({0})
Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Dr. Achim Kessler, Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Über ein halbes Jahr nach Ausbruch der Pandemie hat die Bundesregierung noch immer keine schlüssige Teststrategie. Das ist der gesundheitspolitische Offenbarungseid der Bundesregierung und ihres überaus ehrgeizigen Gesundheitsministers.
({0})
Die Maßnahmen, die die FDP in ihrem Antrag vorschlägt, halte ich im Großen und Ganzen für richtig.
({1})
Denn solange es keine Impfung gibt, sind Tests eine wirksame Methode zur Bekämpfung der Pandemie. Die FDP schlägt beispielsweise vor, Kolleginnen und Kollegen in der Altenpflege alle 14 Tage zu testen. Das ist eine richtige Forderung; denn in Pflegeheimen sind Coronaausbrüche besonders verheerend. Wir wissen das alle.
Aber wie die Bundesregierung hat auch die FDP keinen realistischen Vorschlag zur Durchführung; und darauf kommt es an.
({2})
In Deutschland arbeiten rund 1 Million Kolleginnen und Kollegen in der Altenpflege. Sie alle zwei Wochen zu testen, bedeutet 500 000 Tests pro Woche. Das ist knapp die Hälfte der Testkapazitäten, die wir im Moment zur Verfügung haben. Die andere Hälfte müsste dann ausreichen für Krankenhauspersonal, für Lehrkräfte, für Schülerinnen und Schüler, für Arztpraxen, für Physiotherapeuten, nicht zu vergessen für die über 4 Millionen Menschen mit Pflegebedarf.
({3})
Das Konzept, wie diese Lücke zu schließen ist, bleibt die FDP schuldig. Der Antrag der FDP klingt gut, ist aber vollkommen wirkungslos.
({4})
Sehr geehrte Damen und Herren, es ist an der Zeit, Nägel mit Köpfen zu machen und tatsächlich die Alternativen zu benennen. Antigentests müssen so schnell wie möglich in die Teststrategie integriert werden, doch die Bundesregierung ignoriert das Potenzial, das in den Antigentests liegt. Und das, meine Damen und Herren, ist vollkommen verantwortungslos.
({5})
Am Montag hat die Bundesregierung, Frau Staatssekretärin, auf meine Frage nach der Genauigkeit dieser Tests völlig desinteressiert geantwortet, ihr sei dazu nichts bekannt.
({6})
Dabei waren schon vor einem Monat 29 solcher Tests in einer globalen Datenbank aufgelistet, wohlgemerkt mitsamt den Daten zu ihrer Zuverlässigkeit. Diese Ignoranz des Gesundheitsministeriums ist gefährlich und muss beendet werden.
({7})
Die Bundesregierung verlässt sich derzeit vollkommen auf PCR-Tests.
({8})
Dabei sind diese Tests teuer. Es dauert mindestens zwei Tage, bis die Ergebnisse übermittelt werden können. Außerdem ist die Verfügbarkeit sehr begrenzt. Die Antigentests hingegen sind billig, in riesiger Anzahl produzierbar und sehr einfach in der Anwendung. Und sie liefern innerhalb weniger Minuten Ergebnisse.
({9})
17 Antigentests sind in der EU inzwischen zugelassen. Doch ich habe noch nichts davon gehört, liebe Bundesregierung, dass Sie sich auch nur bemüht hätten, solche Tests in den Pflegeheimen anzuwenden. Selbst wenn diese Tests nur 90 oder 60 Prozent der Infektionen erkennen, dann ist das doch wesentlich besser als die 0 Prozent, die wir im Moment haben.
({10})
Sorgen Sie dafür, dass die Antigentests in ausreichender Zahl hergestellt werden! Wir brauchen endlich eine fundierte und eine wirksame Teststrategie, –
Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.
– insbesondere für Menschen mit besonderen Risiken.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Kessler. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Kordula Schulz-Asche, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Spätestens seit dem bayerischen Testdebakel, das wir erleben mussten, dürfte auch vermeintlich vorbildlichen Krisenmanagern klar sein, dass es im weiteren Verlauf dieser Pandemie nicht um „härter, schneller, weiter“ geht, sondern dass wir zu einer stabilen Kontrolle des Infektionsgeschehens kommen, und dafür müssen wir testen, testen, testen.
({0})
Und zwar viel testen, aber eben auch zielgerichtet testen. Das ist das Entscheidende; denn die Testkapazitäten sind beschränkt, und das bezieht sich nicht nur auf das Material, sondern der größte Engpass besteht, wie wir wissen, im Bereich des Personals. Bis es da zu Änderungen kommt, brauchen wir eine praxistaugliche und intelligente Covid-19-Teststrategie, wie auch der Titel des FDP-Antrags lautet, der übrigens sehr viele gute Forderungen enthält.
({1})
Zwei Punkte liegen mir besonders am Herzen:
Erster Punkt. Die Teststrategie muss ausgerichtet sein an bestimmten Gruppen in der Bevölkerung, also an denen, die ein besonders hohes Risiko der Infektion haben und/oder die ein hohes Risiko von Komplikationen haben. Das sind zum Beispiel Kranke und Pflegebedürftige, aber natürlich auch Angehörige sowie Personen, die im Bereich der ambulanten und stationären Langzeitpflege oder im Krankenhaus arbeiten. Meine Damen und Herren, natürlich müssen auch andere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, wo ein besonderes Risiko besteht, in diese spezifischen Teststrategien für die genannten Gruppen einbezogen werden.
Der zweite Punkt, der mir am Herzen liegt: Wenn eine solche Teststrategie für Menschen gilt, die besonderen Risiken ausgesetzt sind, dann muss auch sichergestellt sein, dass die Kosten nicht zulasten des Öffentlichen Gesundheitsdienstes oder der gesetzlichen Versicherungen gehen. Der Bund darf sich an dieser Stelle nicht aus seiner finanziellen Verantwortung verabschieden.
({2})
Ein umfassender Infektionsschutz ist auch eine Aufgabe des Bundes.
({3})
Meine Damen und Herren, Pflegefachkräfte und Mitarbeitende in Gesundheitseinrichtungen und Kliniken haben durch ihren Einsatz dazu beigetragen, dass wir gut durch die erste Phase von Covid-19 gekommen sind. Wir alle miteinander – und ich betone: alle – müssen uns dafür einsetzen, dass diese Gruppe keine finanziellen Nachteile durch regelmäßige Testungen haben wird.
({4})
Die Pandemie ist nicht vorbei, meine Damen und Herren. Wir brauchen ein kluges, wissenschaftlich basiertes Vorgehen, damit wir auch in der Lage sind, auf dynamische Lagen im Herbst und im Winter zu reagieren. Dafür brauchen wir eine intelligente Teststrategie; das ist von großer Bedeutung.
Lassen Sie mich abschließend zusammenfassen: Das ist ein guter Antrag; er könnte fast von uns sein. Ich freue mich auf die Debatte im Ausschuss.
Danke schön.
({5})
Der Kollege Dr. Roy Kühne, CDU/CSU-Fraktion, hat seine Rede zu Protokoll gegeben.
({0})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Erich Irlstorfer, CDU/CSU-Fraktion, den ich daran erinnere, dass es ein Drei-Minuten-Beitrag sein wird.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich nehme mir diese Worte sehr zu Herzen. Zu dem vorliegenden Antrag kann ich nur eins sagen: Ich habe schon ein bisschen das Gefühl, dass man hier im Wesentlichen Dinge aus den Vorhaben der Bundesregierung kopiert, sie dann verpackt und hier neu präsentiert hat.
({0})
Ich kann nur sagen, meine sehr geehrten Damen und Herren, wir sind doch alle daran interessiert, Lösungen zu finden, und die Menschen so testen, wie es richtig ist, sodass wir sie im Endeffekt schützen. Das ist das, was zählt.
Sehr geehrte Kollegin Schulz-Asche, Sie reden hier von einem bayerischen Testdebakel. Es ist ja klar, dass man als Opposition diese Chance nutzt, um Kritik zu üben; aber ich kann Ihnen nur sagen: Uns leitet hierbei nicht der olympische Gedanke – härter, schneller, weiter –, vielmehr geht es um mehr Testungen, es geht um Probetestungen,
({1})
und vor allem geht es darum, dass sie passgenau sind. Wir möchten Risikogruppen schützen. Diese Tests sind ein Mittel, das uns eine gewisse Sicherheit gibt und nicht nur Sicherheit vorgaukelt. Ich glaube, das ist das Entscheidende.
Ich glaube auch, meine sehr geehrten Damen und Herren, dass uns die Pandemie leider noch länger begleiten wird, als wir es uns vorstellen können. Gerade in der Wissenschaft und in der Forschung – Sie haben das Thema Antigentests und dergleichen angesprochen – werden wir immer dazulernen, egal in welcher Konstellation, ob auf Landes- oder auf Bundesebene. Wir lernen doch täglich, damit zu leben. Wir sind in Wissenschaft und Forschung aktiv. Und dieses Wissen gibt uns doch auch die Möglichkeit zur Veränderung. Das ist doch eine Stärke, wenn man entsprechend reagieren kann.
Daran halten wir fest, und wir werden natürlich auch immer wieder neue Programme auflegen. Wir nehmen viel Geld in die Hand, und wir sind der Überzeugung und der Meinung, dass eine Erhöhung der Menge an Tests deutliche Verbesserungen bringt, dass Menschen dadurch geschützt und vor Leid bewahrt werden und somit auch Leben gerettet werden. Das ist unser Ziel, und das treibt uns an.
Herzlichen Dank.
({2})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung legt Ihnen heute einen Gesetzentwurf zur Stärkung der Sicherheit im Pass- und Ausweiswesen vor, der in den letzten Monaten für einige Aufmerksamkeit gesorgt hat. Im Fokus steht dabei, dass Passbilder aus Sicherheitsgründen ausschließlich digital von privaten Dienstleistern oder in der Behörde erstellt werden sollen. Wichtig ist mir, festzuhalten, dass es möglich bleibt, dass private Fotografen diese Bilder den Behörden zuliefern.
Klar ist aber auch, dass es sich bei Ausweisen, bei Pässen um äußerst wichtige sicherheitskritische Dokumente handelt. Viele private und staatliche Stellen und nicht zuletzt unsere Sicherheitsbehörden sind dringend darauf angewiesen, dass sie sich auf die Echtheit, die Wahrheit solcher Dokumente verlassen können. Aus diesem Grunde hat man sich vor vielen Jahren nicht nur in Deutschland dazu entschlossen – toller Fortschritt –, Lichtbilder in Pässe zu kleben, inzwischen sogar biometrische Lichtbilder. Das alles waren damals, zu jener Zeit, als man es eingeführt hat, Sicherheitsfortschritte.
Das Problem ist nur: Auch die Kriminellen bleiben nicht inaktiv, sie überlegen sich auch neue Dinge; für ihre sinisteren Zwecke nutzen auch sie den technischen Fortschritt. So ist bei der digitalen Bildbearbeitung inzwischen das sogenannte Morphing möglich geworden. Mit einer entsprechenden Software können so zwei oder sogar bis zu sieben Passbilder zu einem einzigen Gesamtbild verschmolzen werden. Das neue Bild wird so konfiguriert, dass es die biometrischen Merkmale beider oder eben mehrerer Personen enthält. Somit kann nicht nur die Passinhaberin, der Passinhaber, sondern eben auch eine andere Person, deren Gesichtszüge dann biometrisch dem Passbild entsprechen, den Pass beispielsweise für den Grenzübertritt nutzen.
Dazu bedarf es leider nicht einmal eines besonderen technischen Spezialwissens. Man kann sehr einfach an die entsprechende Software gelangen; sie wird intensiv und offensiv im Internet beworben. Als Ziel wird offen propagiert – Zitat –: staatliche Datenbanken mit Fehlinformationen zu fluten. – Eine Überprüfung, Detektion von Lichtbildern auf derartige Bearbeitung ist nach dem gegenwärtigen Stand der Technik noch sehr schwierig und wäre wohl auf Dauer unmöglich, wenn Lichtbilder wie bisher erst ausgedruckt und später wieder eingescannt werden; der Medienbruch ist hier offensichtlich.
Die Funktion von Pässen und Personalausweisen als Dokumente zur Identitätskontrolle ist dadurch natürlich im Kern bedroht. Wir reagieren auf diese Bedrohung mit diesem Gesetzentwurf. Künftig soll daher das Passbild entweder unmittelbar in der Behörde aufgenommen oder ausschließlich von registrierten privaten Dienstleistern der Behörde digital übermittelt werden.
Der Gesetzentwurf stärkt aber auch an anderer Stelle die Authentizität des Ausweisdokumentes. Ich will nur einen Punkt herausgreifen, den wir aufgenommen haben in Umsetzung der europäischen Verordnung zur Erhöhung der Sicherheit der Personalausweise von Unionsbürgern: Erstmals werden für die Europäische Union einheitliche Sicherheitsstandards für Personalausweise verbindlich festgelegt. Das ist eine gute Sache und belastet uns nicht wesentlich, weil deutsche Ausweisdokumente diese dort festgelegten Vorgaben bereits ganz überwiegend erfüllen. Verpflichtend wird nun jedoch die Speicherung des Fingerabdrucks im Chip des Personalausweises vorgeschrieben. Das Personalausweisgesetz wollen wir an diese Vorgaben anpassen, weil europäisches Recht natürlich national anzupassen ist.
Meine Damen und Herren, meine Redezeit reicht unter der gestrengen Amtsführung des Bundestagspräsidenten natürlich nicht aus, um jetzt die übrigen Punkte des Gesetzentwurfes ebenfalls vorzustellen. Ich lade Sie daher ganz herzlich zum Selbststudium dieser Punkte ein und bitte den Bundestag um intensive Beratung und zügige Verabschiedung des Gesetzentwurfes.
Vielen Dank.
({0})
Herr Staatssekretär, herzlichen Dank für diese wirklich bemerkenswerten Worte. Ich möchte den Kollegen Schnieder darauf hinweisen, dass es mit Sicherheit nicht am Redner gelegen hat, dass die Präsenzstärke der Union so ist, wie sie ist. Also, ich fand die Rede sachangemessen.
({0})
Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Bernd Baumann, AfD-Fraktion, das Wort.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vergangene Woche nahm die Polizei bei Routinekontrollen einen Mann fest. Eingereist als Flüchtling hatte er 35 verschiedene Identitäten.
({0})
Auch zwei Haftbefehle lagen gegen den Mann vor. Meine Damen und Herren, 35-mal den deutschen Staat betrogen, vielleicht 35-mal Sozialhilfe abgezockt – das ist kein Einzelfall, das ist Alltag in Deutschland, und den haben Sie zu verantworten, meine Damen und Herren.
({1})
Allein seit der Grenzöffnung 2015 kamen rund 2 Millionen angebliche Flüchtlinge ins Land, davon über 1 Million ohne Papiere, ohne jedweden Pass. Das ist unfassbar.
({2})
Ein solches Chaos hätte vor der Merkelzeit noch als völlig unvorstellbarer Ausnahmezustand gegolten. An unseren Grenzen spielen sich unglaubliche Szenen ab. Schon 2015 berichteten Beamte an der bayerischen Grenzstation, dass alle paar Stunden Klempner die Toiletten auspumpen müssten, weil sie mit unzähligen Pässen verstopft waren.
({3})
Was hier ins Klo gespült wird, sind nicht nur irgendwelche Pässe. Was hier im Dreck der Kanalisation versackt, ist unsere Sicherheit, ist unsere Ordnung und das letzte bisschen Respekt vor unserem Rechtsstaat, meine Damen und Herren.
({4})
Wir sehen, Deutschland hat gigantische Probleme.
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Aber mit dem heutigen Gesetz geht es der Regierung nicht um deren Lösung, sondern um die Regelung – wir haben es gerade gehört – winziger Details und um den üblichen linksgrünen Unsinn. Eine Kostprobe: Merkels neues Gesetz soll an der Grenze Genderdiskriminierung verhindern. In Dokumenten kann jetzt statt Mann oder Frau ein drittes Geschlecht eingetragen werden,
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um, so wörtlich, „mögliche … Diskriminierung beim Grenzübertritt zu unterbinden“. Da kann man angesichts der Masse nur sagen: Wahnsinn!
Die Regierung will außerdem das sogenannte Morphing verhindern. Dabei wird aus Porträtfotos zweier Menschen durch Bildbearbeitung ein Bild gemacht, das beiden ähnelt. So können zwei Personen einen Pass benutzen. Aber ist das unser Hauptproblem? Was bringt es denn, wenn Pässe etwas fälschungssicherer sind,
({7})
aber an unseren Grenzen niemand einen Pass braucht? Tausende strömen unkontrolliert ins Land, immer noch, jeden Monat, trotz Corona. Das weit größere Problem als Passfälschung ist Merkels Verzicht auf jede Form von Passkontrolle, millionenfach. Das muss aufhören, meine Damen und Herren!
({8})
Fehlende Pässe verhindern auch die meisten Abschiebungen. 250 000 Ausreisepflichtige werden vor allem deshalb nicht abgeschoben. Die Folgen zeigen sich täglich, wie jetzt gerade in Berlin, wo ein abgelehnter Asylbewerber auf der Autobahn zig Fahrzeuge rammte und viele Menschen schwer verletzte. Wegen nicht geklärter Identität wurde er nicht abgeschoben – seit drei Jahren. Was muten Sie den Bürgern zu!
({9})
Sie verwandeln unseren demokratischen Nationalstaat in eine Art totalen Einwanderungsstaat mit Denkverboten gegen jedes vernünftige Argument. Das sehen wir auch heute wieder hier, meine Damen und Herren.
({10})
Was wir brauchen, was wir wirklich brauchen,
({11})
ist eine systematische Ermittlung aller Identitäten. Vorbilder dafür gibt es. Nur ein Beispiel: die Ermittlungsgruppe Identität des Berliner Landeskriminalamts. Da klärte eine winzige Truppe in kurzer Zeit Hunderte Identitäten, Asyltäuscher konnten abgeschoben werden.
({12})
Das müssen wir massiv ausbauen, in Bund und Ländern. Meine Damen und Herren, wir müssen endlich damit beginnen, falsche Identitäten umfassend aufzuklären.
({13})
Die AfD hat dazu einen eigenen Vorschlag eingebracht. Wer aber Ihr Gesetz liest, bekommt den Eindruck, die Grünen wären längst an der Macht.
({14})
Deren Gendergaga macht Deutschland aber – das müssen wir deutlich sagen – nicht sicherer.
({15})
Deutschland braucht weniger Grün, auch auf der Regierungsbank, Deutschland braucht mehr Blau.
({16})
Nun hat das Wort der Kollege Helge Lindh, SPD-Fraktion.
({0})
Ah, die Fans von der AfD wieder; ich freue mich.
({0})
Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will jetzt auch ein Lächeln in Ihr Gesicht zaubern, noch mehr Lächeln; denn ich möchte eigentlich die sieben Minuten nicht ausschöpfen.
({1})
Ich werde es auch nicht tun – wobei ich nach der Rede von Herrn Baumann versucht wäre, es zu tun.
Bei Ihrem Vortrag kommt mir in den Sinn: Die Idee ist ja, dem Morphing Herr zu werden, um zu verhindern, dass Identitätstäuschung sich vollzieht. Ihr Antlitz könnte man noch so sehr morphen, es wird an der falschen Gesinnung immer erkennbar bleiben.
({2})
Insofern ist die AfD fälschungssicher; das zumindest ist Ihnen gelungen. Das kann ich Ihnen nicht ersparen, da Sie ja zur Thematik nicht geredet haben, es sich offensichtlich auch erspart haben, sich den Gesetzentwurf anzuschauen. Gleichwohl haben Sie uns eindrucksvoll bewiesen, dass Sie offensichtlich einen Merkel-Komplex haben – so oft, wie Sie Frau Merkel erwähnt haben. Offensichtlich muss die Kanzlerin – das muss ich auch als Sozialdemokrat jetzt sagen – etwas richtig gemacht haben. Sie haben sich auch nicht entblödet, von Gendergaga oder links-grünem Gendergaga zu sprechen. Auch da scheinen irgendwelche traumatischen Erlebnisse in der Vergangenheit zu liegen.
({3})
Ich konzentriere mich jetzt aber nicht auf die Traumata der AfD – das machen wir demnächst wieder, morgen zum Beispiel –, sondern kurz auf drei Themen, die diesen Gesetzentwurf betreffen, drei kritische Punkte.
Punkt eins – es wurde schon geschildert – ist die Digitalisierung infolge der Gefährdung durch Morphing. Eine große Debatte – und das ist eigentlich ein Lehrbeispiel dafür, wie Politik und Zivilgesellschaft um gute Lösungen ringen – wurde geführt über die Grundidee, dies komplett in die Verantwortung der Behörde zu übergeben, Lichtbildaufnahmen nur dort behördlich durchführen zu lassen. Das würde aber bedeuten, dass die Fotobranche in eine echte Bredouille käme; denn zwei Drittel der Unternehmen in diesem Bereich sind heutzutage weitestgehend noch von Lichtbildaufnahmen abhängig. Deshalb ist der Vorschlag, wie er Ihnen zur Entscheidung – erst zur Beratung im Ausschuss – vorliegt, ein durchaus salomonischer; denn beide Möglichkeiten werden eröffnet. Die digitale Übermittlung durch den privaten Dienstleister ist wichtig, weil wir, erst recht unter den jetzigen Bedingungen, diese Branche nicht einfach zusammenbrechen lassen können. Die Branche ist in der Lage, Sicherheitsstandards einzuhalten.
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– Ist alles in Ordnung mit Ihnen, Herr Hemmelgarn? Ich hoffe sehr.
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Dass ich jemanden mit meiner Rede so in Unruhe versetze, hätte ich jetzt nicht gedacht bei dem Thema; aber es gelingt offensichtlich.
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– Das tue ich ja die ganze Zeit. Sie haben ja nur über Frau Merkel und ihren Genderkomplex gesprochen, ich spreche zum Thema.
Die andere Möglichkeit ist eben, Lichtbildaufnahmen in der Behörde zu machen, entweder über Selbstbedienungsautomaten oder eben mit Kamerasystem unter behördlicher Betreuung. Diese Option ist sinnvoll, sie berücksichtigt auch weitere Aspekte, etwa dass Menschen mit Behinderung so bessere Möglichkeiten haben, und sie ist auch unbürokratisch; denn wenn Zweifel an Qualität oder Sicherheit bestehen, kann kurzfristig in der Behörde mit dem Kamerasystem ein Bild gemacht werden. Punkt eins wäre damit sinnvoll gelöst.
Kommen wir zu Punkt zwei. Herr Professor Krings erwähnte schon die Frage der Fingerabdrücke. Sie wird heiß diskutiert und wird in den kommenden Wochen und Monaten – eher Wochen – sicher noch eine Rolle spielen. Aber wir setzen da nicht einfach etwas um, weil es uns Spaß macht, sondern weil die EU-Verordnung dies vorsieht. Angesichts der datenschutzrechtlichen Standards der EU scheint uns das nicht nur geboten, sondern auch verantwortbar und sinnvoll. Aber wir wissen – man kennt die Kritik von Digitalcourage –, es ist ein strittiges Thema.
Kommen wir zum dritten spannenden Aspekt, der sicher noch für einige Diskussionen sorgen wird: Um die Behörden entsprechend mit Lichtbildapparaten auszustatten, sieht der jetzige Vorschlag des BMI vor, dass die Bundesdruckerei dies machen wird. Die meisten, die sich mit dem Thema – anders als Herr Baumann – wirklich befasst haben, wissen, dass es daran erhebliche Kritik aus der Biometriebranche gibt, weil man Zweifel hat, dass diese Standards allein von der Bundesdruckerei sichergestellt werden können, und weil es letztlich auch ein wirtschaftliches Problem ist. Unsere Aufgabe als Parlament, im Ausschuss und letztlich hier bei der Entscheidung, wird sein, zwischen Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen abzuwägen, uns – das finde ich notwendig – die Argumente der Biometriebranche ganz genau anzuhören und dann eine vernünftige Entscheidung auf Grundlage von Datenschutz, Sicherheit und wirtschaftlichen Erwägungen zu treffen.
Insgesamt also ein sehr sinnvoller, sachlicher, jenseits von vermeintlichem Gendergaga und Merkel-Komplexen notwendiger Vorschlag, der sogar noch sicherstellt, dass Strafgefangene künftig besser gesellschaftlich integriert werden; denn sie müssen spätestens drei Monate vor ihrer Entlassung aus der Haft einen Personalausweis bekommen. Das ist klug, eine Anpassung an die Realität und ein Beitrag zur Resozialisierung. So muss Gesetzgebung gehen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. Ich bin eindeutig unter sieben Minuten geblieben. Meine Parlamentarische Geschäftsführerin lächelt genauso wie Herr Kubicki – ein schöner Abend.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Lindh. Vielleicht kann ich hier auch ein Lächeln auf Ihr Gesicht zaubern, wenn ich sage: Sie haben nicht nur in der AfD-Fraktion Fans.
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– Ich spreche auch von mir.
Nächster Redner ist der Kollege Manuel Höferlin, FDP-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Bei dem Gesetzentwurf der Bundesregierung geht es im Kern – das hat der Staatssekretär ausgeführt – um das Thema Morphing, das digitale Verändern von Bildern. Das ist ein wichtiges Thema bei der Fälschungssicherheit von Ausweispapieren. Sie haben das super erklärt. Da muss man nichts mehr hinzufügen.
Ich stehe hier und kann nicht anders, als die Bundesregierung tatsächlich zu loben. Sie haben ein bisschen dafür gesorgt, bei digitalen Lösungen eines analogen Problems voranzugehen, und Sie haben Ihren Standpunkt beim Thema Passbilder innerhalb eines halben Jahres komplett geändert. Kurzer Rückblick auf Januar: Ihr erster Entwurf sah ein Verfahren vor, bei dem die Menschen ihr Bild an einem Automaten in der Ausweisstelle selbst machen sollten, während ein Mitarbeiter dabei steht und dies beaufsichtigt, sozusagen betreutes Selbstportrait. Das haben Sie jetzt abgeschafft. Das finde ich einen guten Weg.
Sie hätten es auch fast geschafft, zweimal ein und dieselbe Branche zu brüskieren. Die Fotografen waren schon bei der verkorksten Umsetzung der DSGVO auf der Palme. Aber auch da haben Sie vielleicht jetzt noch die Kurve bekommen.
Aber – Sie ahnen es – meinem kleinen Lob folgt natürlich auch ein Aber. Auch wenn die Bundesregierung einige Änderungen an dem ersten Entwurf geschafft hat, den wir jetzt weiter verhandeln werden, trauen Sie sich nicht wirklich, den Erstellungsprozess der Ausweisdokumente digital zu transformieren. Schade. Es wäre so schön gewesen. Stellen Sie sich einmal vor: Jeder von uns hat einen Personalausweis mit einer eID. Wenn es eine App gäbe, bei der ich mich sicher identifizieren könnte, einen Antrag ausfüllen könnte, mein eigenes Bild machen könnte, es zur Behörde schicken könnte, dann müsste ich nur noch einmal zum Amt gehen, um den Personalausweis abzuholen. Das wäre ein digital transformierter Vorgang eines Verfahrensweges in der Verwaltung, der dringend angemessen gewesen wäre. Leider haben Sie sich nicht getraut, wirklich digital zu transformieren. Das wäre schön gewesen.
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Ich hoffe, Sie schaffen es noch, im weiteren Verfahren noch etwas Mut zu fassen. Es ist ein bisschen so, als ob Sie im Schwimmbad auf die Leiter gestiegen wären, auf dem 10-Meter-Brett fast angekommen wären, sich aber noch nicht richtig trauen, zu springen. Vielleicht liegt es auch daran, dass die Verwaltung doch noch nicht ganz digital transformiert ist, was sichere Übertragungswege angeht. Wir werden es sehen.
Zum Schluss eine letzte Bemerkung – der Kollege Lindh hat es schon angemerkt –: Ich gehe fest davon aus, dass wir im weiteren Verfahren nicht die Formulierung stehen lassen werden, dass es einen Fotoautomaten, ein Produkt geben wird. Es ist, glaube ich, völlig undenkbar, dass der Innenminister per Verordnung vorgibt, ein Produkt in alle Verwaltungen zu stellen. Das ist auch völlig unnötig. Es gibt viele am Markt, die es genauso gut können. Sie können ja den Rahmen vorgeben. Dann kann man es ausschreiben. Ich glaube, das ist ein richtiger Weg. Darüber werden wir uns im weiteren Verfahren unterhalten müssen.
Vielen Dank.
({1})
Herzlichen Dank, lieber Kollege Höferlin. – Die Kolleginnen Ulla Jelpke, Fraktion Die Linke, und Filiz Polat, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, haben Ihre Reden zu Protokoll gegeben.
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Josef Oster, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten zu später Stunde ein, wie ich finde, gutes Gesetz. Es geht um unseren guten alten Personalausweis, der ein bisschen in die Jahre gekommen ist. Es geht darum, ihn sicherheitstechnisch nachzuschärfen. Für uns, die Unionsfraktion, ist klar: Die Sicherheit unseres Personalausweises hat für uns höchste Priorität. Es geht letzten Endes um die Eintrittskarte in unser Land. Es geht für mich aber noch um mehr. Es geht in Zukunft immer stärker auch darum, dass der Personalausweis zur Eintrittskarte zu nahezu allen staatlichen Dienstleistungen wird. Wir wollen nahezu jede Dienstleistung der öffentlichen Verwaltung in Deutschland digital zugänglich machen. Dabei wird der Personalausweis eine zentrale Rolle spielen.
Herr Höferlin, ich bin ganz bei Ihnen. Das, was wir heute machen, kann nur ein Schritt sein auf dem Weg hin zu einem vollständig digitalisierten Personalausweis. Das muss das Ziel sein. Aber er muss dann auch sicher sein, und dazu tragen wir heute einen wichtigen Teil bei.
Es geht in diesem Zusammenhang aber nicht nur um Sicherheit – ich will das hier auch betonen –, es geht schlicht und ergreifend auch um eine Erleichterung für die Bürgerinnen und Bürger in unserem Lande: auf der einen Seite mehr Sicherheit, auf der anderen Seite eine Erleichterung. Ich muss, wenn ich einen neuen Personalausweis brauche, nicht mehr zwingend vorher ins Fotostudio. Diesen Gang kann ich mir ersparen. Ich muss ihn mir nicht ersparen, aber ich kann ihn mir ersparen. Also: eine Erleichterung, mehr Sicherheit, mehr Komfort. Ich würde fast sagen: Es ist ein nahezu perfekter Gesetzentwurf.
Ich bin froh, dass wir für das Fotostudio – es ist angesprochen worden – eine Lösung gefunden haben und wir beide Varianten möglich machen. Wer also in Zukunft ein künstlerisch anspruchsvolles Passfoto haben möchte, der kann weiterhin zum Experten gehen und dort das Foto machen lassen. Er muss das nicht in der Behörde machen. Dort wird es sicherlich eher ein Standardfoto werden.
Noch etwas möchte ich in diesem Zusammenhang erwähnen: Ich war jahrelang Bürgermeister und habe deshalb natürlich, Herr Staatssekretär, auch die kommunalen Verwaltungen vor Ort im Blick. Wir werden schon genau darauf achten müssen, wie die zusätzliche Belastung in den Meldeämtern unserer Städte und Gemeinden aussieht. Es wird sicherlich einen höheren Zeitaufwand bedeuten, dieses Verfahren dort anzuwenden. Dort werde ich natürlich auf einen fairen Ausgleich achten, und – das ist auch vom Kollegen Lindh angesprochen worden – ich werde auch gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen im Innenausschuss noch einmal sehr genau den Blick darauf werfen, wie wir mit den Herstellern der Fotoautomaten umgehen. Da, glaube ich, ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.
Meine Damen, meine Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, alles in allem, finde ich, sind das gute und notwendige Verbesserungen, die in diesem Gesetzentwurf stehen. Es sind sinnvolle Nachschärfungen bezüglich der Sicherheit unseres Personalausweises. Ich sage es abschließend noch einmal: mehr Sicherheit für die Bürgerinnen und Bürger, mehr Komfort für die Bürgerinnen und Bürger. Damit ist das ein nahezu perfekter Gesetzentwurf.
Vielen Dank.
({0})
Vielen Dank. – Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Covid-19 hat uns nicht nur vor große Herausforderungen, sondern auch unsere Geduld auf eine extreme Probe gestellt. Wir – bis hinauf zum Parlament – haben, wie selten in der Geschichte dieses Landes, in einer Geschwindigkeit lernen müssen: Wie geht man mit so etwas um?
Die Bürgerinnen und Bürger haben das Ihre getan, haben sich diszipliniert und zurückgehalten. Das ist der Grund, warum Deutschland im Augenblick so dasteht, wie es dasteht, nämlich gut.
Aber im Ergebnis läuft es darauf hinaus, dass wir als Parlament feststellen mussten: Eigentlich ist nur der Verteidigungsfall wirklich geregelt. Deshalb gilt es, für die Herausforderungen, die auf unsere Demokratie zukommen – nicht nur im Falle einer Pandemie, sondern auch in anderen, wesentlichen Krisen –, einen Weg zu finden, wie man etwas ganz Grundsätzliches erhält, nämlich die Grundprinzipien der Demokratie. Worauf fußen die? Das Grundgesetz macht nicht umsonst ein solches Aufheben um die Organisation dieser Demokratie, weil es um etwas ganz Wesentliches geht, nämlich um den Grundsatz der Macht auf Zeit. Macht auf Zeit heißt Periodizität. In bestimmten Abständen müssen Wahlen durchgeführt werden, um die Macht dem Souverän, den Bürgerinnen und Bürgern, wieder zurückzugeben.
Was machen sie, wenn Versammlungen in diesem Land nicht mehr möglich sind? Ich glaube, dass ich in meinem lauschigen Mittelfranken von Flutkatastrophen relativ verschont bleibe, andere Ecken in diesem Land vielleicht nicht. Was ist im Falle einer Pandemie, wenn sich Menschen nicht mehr versammeln können? Genau darum geht es. Bei der Änderung des Bundeswahlgesetzes geht es darum, die Handlungsfähigkeit zu erhalten. Die Funktionalität wird nun mal über uns und über viele Tausende von Mandatsträgern in diesem Land sichergestellt.
Deshalb geht es darum: Wie schaffen wir es, dass die Übertragung dieser Macht auf Zeit auch in Fällen des großen Drucks, der großen Herausforderungen gewährleistet werden kann? Das wollen wir nicht einfach delegieren, indem wir sagen: „Liebes Bundesministerium des Innern, mach, was du willst“ – Kollege Krings, nehmen Sie mich nicht so ernst –, sondern wir wollen, dass die Gewaltenteilung an dieser Stelle erhalten bleibt, dass das Parlament mit einbezogen ist.
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Schon jetzt hat das Bundesinnenministerium, was das Thema „Wahlen und ihre Organisation“ anbetrifft, extreme Möglichkeiten, gerade über den Verordnungsweg. Hier geht es aber darum, dass wir – das Parlament, der Souverän – feststellen müssen, wann eine solche Situation tatsächlich eingetreten ist, wann am Ende des Tages in diesem Land eine Bundestagswahl mit Blick auf unsere normalen Empfindungen und Ansprüche also nicht mehr organisierbar ist.
Deshalb kann über den Weg dahin sehr wohl debattiert und gestritten werden; das ist auch gut so. Wir machen den Vorschlag, dass das Bundesministerium des Innern nur dann diese Organisation über eine Verordnung regeln kann, wenn auch das Parlament den entsprechenden Zustand feststellt.
Jetzt kann man sagen: Der Bundestag müsste sich dazu versammeln. Was ist aber, wenn er sich nicht mehr versammeln kann? Also machen wir das über den Wahlprüfungsausschuss, der gemeinhin nicht nur über eine besondere Legitimation verfügt, sondern eben auch ein sehr viel kleinerer Spiegel dieses Parlamentes ist.
Deshalb glauben wir, dass es an dieser Stelle wirklich das mildeste Mittel des Eingriffs ist, dass wir die Gewaltenteilung – das Einbeziehen des Parlaments – aufrechterhalten, aber dann die organisatorischen, formalen Wege beim Bundesinnenministerium verorten. Der Punkt ist, die Parteien in ihrer Eigenständigkeit, in ihrer Organisationsselbstständigkeit zu unterstützen, damit sie flexibel auf diese Situation reagieren, flexibel – auch übrigens in den Regionen flexibel – von ihrer Satzung Gebrauch machen und weiterhin die Demokratie von unten nach oben organisieren können.
Deshalb glaube ich: Wir haben wirklich viel gelernt – auch in dieser Krise –, bis hin zu einem wirklich digitalen Schub. Es gilt, auch darüber nachzudenken, wie wir über diesen Zeithorizont und natürlich auch über die Frage hinaus, wie wir einen solchen Krisenfall meistern können – natürlich sind Parteien auch Vereine; deshalb müssen wir sie auch gleichbehandeln –, in Zukunft mit digitalen Parteitagen umgehen und wie in Zukunft die Meinungsbildung von unten nach oben möglichst barrierefrei funktionieren kann.
Es ist ein Anfang, diesen Schub zu verwenden, um uns auch dafür zu wappnen, diese unsere so wichtige Demokratie, die sich als schlagkräftig erwiesen hat, auch in Zukunft in Krisen und bei Herausforderungen aufrechtzuerhalten und zu verteidigen.
Vielen Dank.
({1})
Herzlichen Dank, Herr Kollege Frieser. – Nächster Redner ist für die AfD-Fraktion der Kollege Jochen Haug.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine Bemerkung vorab, Herr Frieser: Ich bin jetzt schon ein bisschen erstaunt. Sie sprechen hier an, es werde nichts an das Bundesinnenministerium delegiert und der Gewaltenteilungsgrundsatz sei gewahrt. Es ist natürlich genau das Problem, dass das hier in keiner Weise der Fall ist; aber darauf werde ich gleich in meiner Rede eingehen.
Meine Damen und Herren, Demokratie lebt von Präsenz, von der Zusammenkunft zur selben Zeit am selben Ort, sei es in einer Versammlung der Bürger, sei es in einer Versammlung der Abgeordneten im Parlament oder in einer Versammlung der Partei. Hier werden die gemeinsamen Angelegenheiten beraten und entschieden. Folgerichtig schreibt auch das Bundeswahlgesetz vor, dass Kandidaten zur Bundestagswahl in Versammlungen bestimmt werden müssen. Die Koalitionsfraktionen legen nun im Zuge der Coronakrise einen Gesetzentwurf vor, der die Möglichkeit der Abweichung hiervon schaffen will.
Was genau steht in diesem Gesetzentwurf? Das Bundesinnenministerium soll im Falle einer Naturkatastrophe oder eines ähnlichen Ereignisses – wir alle wissen: es ist an Corona gedacht – ermächtigt werden, durch Rechtsverordnung Regelungen zur Benennung von Wahlbewerbern ohne Versammlungen zu treffen. Voraussetzung soll die Feststellung des Wahlprüfungsausschusses des Deutschen Bundestages sein, dass die Durchführung von Versammlungen ganz oder teilweise unmöglich sei.
Nun ist sicherlich nichts dagegen einzuwenden, für Krisensituationen Notfallregelungen zu treffen. Was Sie hier heute aber vorlegen, ist verfassungswidrig.
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Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts muss der parlamentarische Gesetzgeber alle wesentlichen Entscheidungen selber treffen. Er darf sie nicht anderen Normgebern oder der Exekutive überlassen. Die Delegation wesentlicher Entscheidungen käme einem Akt der Selbstentmachtung gleich.
Eine Neuregelung des Wahlrechts, genauer gesagt: der Kandidatenaufstellung – und hier geht es um eine Neuregelung –, ist ein Paradebeispiel für die Wesentlichkeit unter Grundrechts- und Demokratieaspekten. Es ist eine Operation am Herzen der Demokratie. Sie muss vom parlamentarischen Gesetzgeber selbst verantwortet werden. Keinesfalls darf sie der freien Rechtsschöpfung durch die Exekutive überlassen werden. Somit scheidet eine Regelung durch Verordnungsermächtigung, wie sie hier von Ihnen vorgesehen ist, bereits grundsätzlich aus.
({1})
Nun könnte man die Prüfung des Gesetzentwurfs an dieser Stelle beenden, wenn er nicht auch noch in sonstiger Weise völlig missraten wäre. Er verstößt nämlich auch gegen den Bestimmtheitsgrundsatz.
Nur einmal angenommen, eine Regelung durch Rechtsverordnung wäre hier rechtlich zulässig. Dann müssten nach Artikel 80 Grundgesetz Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung im Gesetz bestimmt werden. Mit anderen Worten: Der parlamentarische Gesetzgeber müsste der Verwaltung ein Programm vorgeben. Daran fehlt es hier völlig. Der Gesetzestext selbst verliert kein einziges Wort darüber, auf welchem Wege die notwendigen Aufstellungsversammlungen ersetzt werden sollen. Lediglich in einem kurzen Absatz der Begründung sind Alternativen vage angedeutet, etwa eine Vorstellung der Kandidaten auf schriftlichem oder elektronischem Wege mit anschließender Briefwahl. Über die Praktikabilität ähnlicher Dinge: kein Wort. Dies kann dem Bestimmtheitsgrundsatz selbstverständlich nicht Genüge leisten.
Man muss sich das im Übrigen vor Augen führen: Sie wollen hier die Möglichkeit der Abweichung von demokratischen Spielregeln einführen, die sich über Jahrzehnte herausgebildet haben, und dann sagen Sie im Gesetzestext nicht einmal näherungsweise, wie Sie sich ein Aufstellungsverfahren ohne Präsenzveranstaltung vorstellen. Das ist grotesk.
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Was bleibt abschließend zu sagen? Der vorliegende Gesetzentwurf enthält in einem der sensibelsten Bereiche der Demokratie quasi eine Blankovollmacht für das Bundesinnenministerium. Er verstößt gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz und das Demokratieprinzip.
Wir lehnen ihn selbstredend ab.
Danke schön.
({3})
Herzlichen Dank, Herr Kollege Haug. – Nächster Redner ist der Kollege Mahmut Özdemir, SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zum Inhalt des Gesetzentwurfs wurde schon einiges gesagt, und abermals dazu vorzutragen, halte ich nicht für notwendig.
({0})
Deshalb möchte ich Ihnen lieber die Beweggründe meiner SPD-Bundestagsfraktion mitteilen, warum wir dieses Änderungsgesetz einbringen.
Die Covid-19-Pandemie hat dazu geführt, dass wir in vielen Lebensbereichen unsere Gewohnheiten ändern mussten, und sie hat das öffentliche Leben teilweise zum Erliegen gebracht. Wir haben Entscheidungen in diesem Hause allerdings immer ohne Unterbrechungen und auch ohne nennenswerte Brüche treffen können. Die Parteiendemokratie war immer intakt, und Wahlen dürfen ebenfalls unter keinen Umständen beschränkt werden. Vielmehr ist es auch unsere Aufgabe als Hort der Demokratie, hier die entsprechenden sicheren Lösungen dafür zu finden.
({1})
Ich finde, wir haben gelernt, dass die Durchführung größerer Versammlungen, wie zum Beispiel Mitgliederversammlungen oder Parteitage, durch die derzeitige Situation und insbesondere auch durch die Verordnungen in den Ländern zu Versammlungen einerseits organisatorisch, andererseits aber natürlich auch gesetzlich und finanziell unmöglich wird bzw. vor schwierigste Herausforderungen gestellt ist. Die Verfassung kennt solche Lagen als Naturkatastrophen oder Ereignisse von ähnlich höherer Gewalt.
Diese Änderung des Bundeswahlgesetzes ist jetzt der Versuch, einen pragmatischen Lückenschluss zu finden, um mehr Rechtssicherheit hinzukriegen, und Rechtssicherheit für die Bundestagswahlen und auch für deren Vorbereitung ist unsere vornehmste Pflicht hier in diesem Haus.
Ich finde, wir müssen für 2021 – und das ist das oberste Gebot – gucken: Was regelt das Bundeswahlgesetz eigentlich? Das Bundeswahlgesetz regelt, wann wir Bewerberinnen und Bewerber aufstellen dürfen, wann wir Vertreterinnen und Vertreter wählen dürfen, um die Versammlungen zu bevölkern, die sie wählen sollen, und wann diese Versammlungen frühestens stattfinden können.
Herr Haug, Sie haben gerade davon gesprochen, dass das nicht hinreichend bestimmt sei. Ich weiß nicht, ob Sie das Grundgesetz nicht gelesen und das System von Gesetz und Verordnungsermächtigung nicht verstanden haben.
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Aber in § 52 Bundeswahlgesetz steht die Verordnungsermächtigung, und diese sorgt dafür, dass technische Anweisungen zum formellen Wahlrecht auch vom Bundesinnenministerium getroffen werden können.
Mit diesem Änderungsgesetz verfeinern wir das Regelungsgefüge, und wir bauen zusätzlich eine demokratische Absicherung ein – und das Ganze eben für den Fall, dass ganz oder teilweise eine Unmöglichkeit besteht, solche Versammlungen bzw. Veranstaltungen durchführen zu können. Derartige Unmöglichkeiten dürfen Parteien nicht der Möglichkeit berauben, Bewerberinnen und Bewerber aufzustellen.
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Wenn Versammlungen von Anwesenden nicht möglich sind – beispielsweise aus Gründen des Gesundheitsschutzes –, müssen wir hier neue Wege einräumen und auch gehen. Viel mehr noch: Wir müssen in jeder Situation und in jeder Lage die Parteiendemokratie, die Willensbildung innerhalb der Parteien, angepasst ermöglichen.
({4})
Ich finde, der neue Absatz 4 genügt diesen Ansprüchen, die ich gerade formuliert habe und die die SPD-Bundestagsfraktion mitträgt.
Wir haben die Regelung auf die Aufstellung von Wahlbewerberinnen und Wahlbewerbern begrenzt und sind im Rahmen eines gestuften Verfahrens auch gerne dazu bereit, den Bundestag anstelle des Wahlprüfungsausschusses einzusetzen bzw. den Wahlprüfungsausschuss nachgelagert vorzusehen.
({5})
Das alles sind Einlassungen und Diskussionsentwürfe im Rahmen der ersten Lesung. Kein Gesetzentwurf verlässt dieses Haus so, wie er reingekommen ist. Das ist die Struck’sche Regel, und daran halten wir Sozialdemokraten uns natürlich diszipliniert.
({6})
Wir wollen eine bundeseinheitliche Regelung schaffen, damit in allen Bundesländern die gleichen Vorschriften gelten, aber wir wollen nicht, dass aufgrund von Coronaverordnungen irgendwelche Versammlungen in einem Bundesland möglich, aber woanders nicht möglich sind oder Parteien zu kreativen Regelungen greifen müssen. Was beispielsweise in Nordrhein-Westfalen jetzt durch eine Anpassung der Coronaregelungen möglich geworden ist, war in anderen Bundesländern nicht möglich, und das darf nicht sein. Wenn wir unsere Demokratie bundeseinheitlich zu jeder Zeit ins Werk setzen wollen, müssen wir hier als Bundesgesetzgeber auch tätig werden.
Gesetze sind keine Satzungen der Parteien. Es wäre geradezu widersinnig, wenn wir hier ein Gesetz machten und am Ende des Tages sich Parteien wieder zusammensetzen müssten, um ihre Satzungen anzupassen, um von dem, was im Gesetz steht, Gebrauch machen zu können.
Wer diesen zwei Sätzen gerade folgen konnte, dem möchte ich noch sagen: Eine Partei kann in einer Notlage – und nichts anderes als einen Notmechanismus wollen wir herstellen – vom Gesetz direkt Gebrauch machen. Die leitenden Gremien einer Partei müssen von diesen gesetzlichen Grundlagen unmittelbar Gebrauch machen dürfen.
Das ist ein Gesetzentwurf zur Gesetzesänderung, der Lehren aus der aktuellen Covid-19-Pandemie zieht.
({7})
– Humor am Abend,
({8})
auch wenn es schwarzer Humor ist!
({9})
– „Brauner“ Humor. Ich finde, das ist einfach die Verneinung von Wahrheiten; das muss man hier in diesem Haus, glaube ich, auch mal öffentlich machen. Das, was diese Kolleginnen und Kollegen hier machen, ist einfach die Verneinung der Wahrheit.
({10})
Ich hoffe inständig, dass wir von diesem Änderungsgesetz und von diesen Regelungen nie Gebrauch machen müssen.
({11})
– Ich würde meine Rede gerne fortsetzen.
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Sie können gleich gerne weiterpöbeln, aber ich würde gerne meine Rede halten, und Sie können sich dem demokratischen Diskurs im Ausschuss gerne stellen.
Das ist ein Notmechanismus. Er hat enge Voraussetzungen, einen begrenzten Anwendungsbereich und eine demokratische Absicherung durch den Wahlprüfungsausschuss, damit er eben nicht zweckentfremdet werden kann.
Die erste Lesung ist zugleich immer auch ein erster Aufruf des Themas, und weitere Themen liegen weiterhin auf dem Tisch. Ich spreche nur mal an, dass vereinsrechtliche Regelungen und Anpassungen insbesondere für Parteien weiterhin notwendig sind, insbesondere im Hinblick auf die Digitalisierung. Ich sehe, dass auch die Selbstvergrößerung des Deutschen Bundestages nach der jüngsten Einigung im Koalitionsausschuss als ein weiteres Thema für diesen Regelungskomplex auf dem Verhandlungstisch liegt,
({13})
und ich sehe auch, dass wir Lücken im Parteienrecht – und das wird die AfD-Fraktion sicherlich besonders interessieren – zu schließen haben und schließen wollen, insbesondere was den Missbrauch von Wahlwerbung, Unterstützung durch Dritte und Finanzierung durch Dritte betrifft. Bei diesem Thema würde ich mir von der AfD den gleichen Eifer wünschen, den Sie heute gezeigt haben, und dass Sie in Sachen Transparenz im Parteienrecht eng an unserer Seite in diesem Haus streiten.
Ich finde, wir haben über Parteigrenzen hinweg sehr gute überparteiliche Gespräche zu diesem Thema angestoßen. Dass sich eine bestimmte Partei nicht sachdienlich an diesem Diskurs beteiligen will, weil sie Wahrheiten verneint, nehme ich hier zur Kenntnis.
Herr Kollege.
Ansonsten bitte ich um konstruktive Diskussionen im Ausschuss. Ich freue mich bereits jetzt auf die zweite und die dritte Lesung und bedanke mich beim Präsidenten, dass er mir 25 Sekunden zusätzlich gewährt hat.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Jetzt waren es 30 Sekunden, aber das ist völlig egal. – Vielen Dank, dass Sie zum Ende gekommen sind, Herr Kollege Özdemir.
Als nächster Redner erhält von mir der hellwache Kollege Konstantin Kuhle, FDP-Fraktion, das Wort.
({0})
Sehr geehrter, lieber Herr Präsident!
({0})
Wir sprechen heute über das 25. Änderungsgesetz zum Bundeswahlgesetz, und es gibt innerhalb der politischen Parteien und zwischen den politischen Parteien sowie den Fraktionen hier im Haus ja eine sehr ausgiebige Debatte über den Zusammenhang zwischen politischen Prozessen und Digitalisierung. Das war vor Corona richtig, und das ist während Corona richtig. Es ist auch nach Corona weiter erforderlich, dass politische Prozesse an die Digitalisierung angepasst werden.
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Wir müssen über digitale Parteitage sprechen, wir müssen über eine digitale Kandidatenaufstellung sprechen. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber es gab bei mir in den letzten Monaten durchaus die eine oder andere Sitzung, die digital stattgefunden hat und etwas kürzer ausgefallen ist. Manche sind sogar ganz ausgefallen, und man muss sagen: Die Digitalisierung hat hier durchaus eine segensreiche Wirkung auf den einen oder anderen politischen Prozess, und wir sollten diesen Weg deswegen weitergehen. Wir sind daher als Freie Demokraten auch offen, darüber zu diskutieren.
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Hier geht es heute aber um Personenwahlen. Es geht hier um die Aufstellung von Bewerberinnen und Bewerbern zum Deutschen Bundestag, und ich finde, bei der Aufstellung von Personen – innerparteilich, aber vor allem, wenn es um Parlamentswahlen geht – müssen wir besonders vorsichtig sein; denn diesen besonderen Charakter einer Personenwahl – wenn man sich ein Bild von einer Person machen will, wenn man vielleicht zwei oder drei Personen zur Auswahl hat, denen Fragen stellen und sie nebeneinander vergleichen will – hat man in dieser Form eben nur in einer Präsenzveranstaltung, und es bedarf sehr guter Gründe, das durch eine digitale Veranstaltung zu ersetzen. Ich finde, wir müssen sehr vorsichtig und sehr behutsam sein, wenn wir so was durch eine Kombination aus Onlinevorstellung und Briefwahl – so ist es hier ja gedacht – ersetzen wollen.
Dafür gibt es auch ein rechtliches Argument, nämlich den Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl. Es gibt ja die Wahlrechtsgrundsätze im Grundgesetz, und es gibt den Grundsatz der Öffentlichkeit, der durch das Bundesverfassungsgericht festgeschrieben wurde und besagt, dass die Öffentlichkeit wahrnehmen muss, wie der Willensbildungsprozess bei einer Wahl vonstattengeht. Dazu gehört, dass man sämtliche Teilelemente einer Wahl nachvollziehen kann. Wenn das Ganze nur online und per Briefwahl erfolgt, dann muss man besonders achtsam sein, wie man so was ausgestaltet. Das ist ein besonders sensibler Vorschlag.
Es mag in Zeiten einer Pandemie richtig sein, darüber zu diskutieren. Was aber jedenfalls nicht geht – und damit bin ich beim formellen Argument –, ist, das dann im Wege einer Rechtsverordnung zu machen. Das kann nicht sein.
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Wir können bei einem so gravierenden Eingriff in die Öffentlichkeit der Wahl das Ganze nicht bloß auf dem Rechtsverordnungswege regeln.
Lieber Kollege Mahmut Özdemir, diese Parlamentsbeteiligung, die hier im Gesetzentwurf der Bundesregierung vorgesehen ist, ist das Papier nicht wert, auf dem sie geschrieben steht; denn das ist nur auf die Tatbestandsseite bezogen.
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Der Wahlprüfungsausschuss beschließt: „Es gibt eine Pandemie oder eine Naturkatastrophe“, und dann macht das Bundesministerium des Innern irgendwas. – So steht es in Ihrer Vorlage, und das ist zu kurz gesprungen; das wird dem Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahlen und auch den anderen Wahlrechtsgrundsätzen nicht gerecht.
Deswegen ist das ein weiterer Schritt, mit dem das Parlament seiner Domäne, dem Wahlrecht, durch eine übergriffige Exekutive beraubt wird,
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wie wir es übrigens auch bei der Diskussion über das Wahlrecht erleben, wo es um die Verkleinerung des Bundestages geht, und wie wir es in der Pandemie auch bei der Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite erleben, wo auch ein antizipierter Notzustand aufrechterhalten wird, obwohl die rechtlichen Voraussetzungen nicht mehr gegeben sind.
Herr Kollege Kuhle, mir bricht das Herz, aber Sie müssen aufhören.
Diese Befürchtung haben wir auch im Zusammenhang mit dem hier vorliegenden Gesetzentwurf, und deswegen muss das deutlich von der Exekutive auf das Parlament verlagert werden. Dann kann man über alles reden.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Kuhle. – Nächster Redner ist der Kollege Friedrich Straetmanns, Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Das aktive und das passive Wahlrecht müssen gerade auch in Zeiten einer Pandemie gewahrt bleiben und deshalb angepasst werden. Hierin sind wir uns völlig einig. Doch wie Sie hier an dieses Problem herangehen, ist absolut inakzeptabel.
Seit Beginn der Krise sind wir als Parlament immer wieder den Versuchen der Regierung ausgesetzt, Kompetenzen an sich zu reißen. Ich erinnere mich noch an eine Woche im März, als der Vorschlag eines Notparlaments im Raum stand, der erst nach massiver Kritik wieder zurückgenommen wurde. Genau so eine Selbstbeschneidung versuchen Sie uns jetzt wieder unterzujubeln. Da machen wir als Linke nicht mit.
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Die ganze Zeit galt der Grundsatz, dass das Wahlrecht Sache des Parlaments und seiner Gremien ist. Damit haben Sie vor Kurzem gebrochen, als Sie Ihr Pseudo-Wahlrechtsreförmchen im Koalitionsausschuss beschlossen haben. Ja, Ihnen reicht die absolute Mehrheit für eine Wahlrechtsreform. Aber bei diesem hochsensiblen Thema, der Ausgestaltung unserer parlamentarischen Demokratie, war es bisher gute Sitte, möglichst alle Fraktionen zu beteiligen.
Mit diesem Gesetzentwurf gehen Sie nun noch einmal einen Schritt weiter. Sie wollen den Freibrief dafür, als Exekutive an der Kandidatenaufstellung herumschrauben zu dürfen. Das Wahlrecht ist aber Sache des Parlaments, und das wissen Sie. Wir sind absolut offen dafür, Vorkehrungen für die Kandidatenaufstellung in Pandemiezeiten zu treffen. Dabei muss es sich aber um klare gesetzliche Festlegungen handeln, in welchem Rahmen sich die Kandidatenaufstellung zu bewegen hat. Ihre blumigen Sätze, wie die Aufstellungen denn aussehen könnten, sind nichts als Nebelkerzen, wenn keinerlei Verbindlichkeit besteht.
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Die Entscheidung, wie die Kandidatinnen und Kandidaten für das Parlament bestimmt werden, hat eben nichts in den Händen der Exekutive verloren.
Mir ist auch gar nicht klar, für welche Notsituationen Sie hier eigentlich vorsorgen wollen. Wenn sich die Situation derart verschärft, dass wir als Parlament nicht mehr in der Lage sind, ein Gesetz zu verabschieden: Glauben Sie ernsthaft, dass in einem solchen Fall reguläre Wahlen abgehalten werden könnten? Ich bin mir sehr sicher: Für diesen Fall müsste eigentlich wesentlich mehr nachjustiert werden als nur bei der Kandidatenaufstellung.
Mir scheint es, als ginge es Ihnen noch um etwas anderes. Sie wollen nicht nur die Mitsprache des Bundestages beschneiden, sondern ganz besonders auch die des Bundesrates. Man hört aus den Reihen der Regierung ja immer wieder, wie genervt Sie vom Austausch mit den Ministerpräsidenten und ‑präsidentinnen sind. Föderalismus kann anstrengend sein, aber ich halte es für eine absolut richtige Lehre aus dem nationalsozialistischen Staatsaufbau, dass wir ein föderales System haben, in dem sich verschiedene Ebenen untereinander kontrollieren und austarieren.
Deswegen müssen wir Ihren Gesetzentwurf in der vorliegenden Form ablehnen; denn es ist selten eine gute Idee, wenn Entscheidungen, die normalerweise ausdiskutiert und von vielen Menschen gemeinsam getroffen werden, plötzlich von einer Person alleine getroffen werden sollen, erst recht, wenn diese Person Horst Seehofer ist.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Straetmanns. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Britta Haßelmann, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Vielen Dank. – Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Absicht, in der Zeit der Coronakrise und in besonders dramatischen Notlagen wie dieser Pandemie für Aufstellungsversammlungen und vielleicht auch für Parteitage etwas regeln zu wollen, kann ich begrüßen. Ich weiß, dass in den Parteien darüber nachgedacht wird, ich weiß, dass in den Fraktionen darüber nachgedacht wird. Das kann man natürlich unterstützen; das tut auch unsere Partei. – So weit, so gut.
Nun aber zum Gesetzentwurf von Union und SPD: Der Gesetzentwurf ist ein Beispiel dafür, wie man es wirklich nicht machen kann.
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Er ist total unbestimmt, und wir können in einer so sensiblen Frage doch nicht mit völlig unbestimmten Pauschalverordnungen arbeiten. Ich versuche seit Tagen, das deutlich zu machen. Das Parlament hat relevante Entscheidungen zu treffen – und nicht ein Ministerium.
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Ich bitte auch CDU/CSU und SPD, jetzt endlich mal die Argumente zu hören. Wir können an dieser Stelle nicht einfach Fehler wiederholen, die wir an anderer Stelle gemacht haben.
Ich sage Ihnen ganz eindeutig: In § 5 Absatz 2 des Infektionsschutzgesetzes geht es um einen verfassungsrechtlichen Ausnahmezustand, wie ihn ein Staatsrechtler bezeichnete.
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Inzwischen tun das auch Staatsrechtlerinnen und Staatsrechtler, die Ihnen nahestehen. Lassen Sie uns also mal darüber nachdenken, was zu tun ist, und zwar gemeinsam, was Sie ja immer einfordern. Ich fände das gut.
Diesem Gesetzentwurf fehlt es an Bestimmtheit, diesem Gesetzentwurf fehlt eine Klarheit in Bezug auf Befugnisse, dieser Gesetzentwurf enthält eine unfassbare Weite der Verordnungsermächtigung des BMI, und das ist in einer so zentralen Frage wie dem Bundeswahlgesetz nicht in Ordnung und nicht tragbar.
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Dieser Gesetzentwurf soll nicht nur eine Vorschrift für die Coronapandemie sein. Nein, davon bin ich auch nicht ausgegangen, als die Parteien gesagt haben – öffentlich war das ja zu lesen; Herr Ziemiak, Sie sind heute ja hier; ich weiß das auch von unserem Bundesgeschäftsführer –: Lasst uns eine Regelung für die wirkliche Ausnahmesituation einer Pandemie finden. – Dem kann man sich ja gar nicht verschließen. Aber plötzlich gilt diese Regelung, diese Verordnungsermächtigung, auch für Naturkatastrophen und ähnliche Ereignisse. In Klammern frage ich mal: Wo ist denn die Bestimmtheit von „ähnlichen Ereignissen“? Für was alles wollen Sie denn das BMI ermächtigen, über Ausnahmen zu entscheiden? So geht das nicht.
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Um beim Beispiel von Herrn Frieser zu bleiben: Wenn in Franken eine Naturkatastrophe passiert, dann ist das schlimm für Franken und für Bayern, aber das hat mit Nordrhein-Westfalen und mit der pandemischen Lage dort nichts zu tun. Hier braucht es jetzt endlich Präzision. Wir brauchen Klarheit darüber, und die Entscheidung muss beim Bundestag, beim Parlament, liegen.
An der Bestimmtheit muss gearbeitet werden, und die Befugnisse müssen sich ändern. Dann sind wir gerne bereit, mit Ihnen darüber zu reden und zu einer gemeinsamen Auffassung zu kommen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Haßelmann. – Das letzte Wort in dieser Debatte hat der Kollege Philipp Amthor, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben heute Abend gesehen, dass es ganz unterschiedliche Wege gibt, wie man aus der Sommerpause in diese Debatte zurückkommen kann.
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Man kann es so machen wie die AfD und einfach undifferenziert drauflospoltern. Das ist schlecht, aber auch nicht überraschend. Man kann es so machen, wie wir es heute bei anderen Rednern gehört haben: Man kann unseren Vorschlag kritisieren, aber keinen eigenen vorlegen. Wir haben von Ihnen nicht gehört, wie es denn alternativ gehen könnte. Man kann es aber auch so machen wie unsere Regierungskoalition: Man kann seine Sacharbeit ordentlich machen und einen vernünftigen Vorschlag für das Wahlrecht vorlegen. Das haben wir heute gemacht.
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Wir werden schon in der nächsten Woche intensiv darüber reden, wie wir die notwendige Verkleinerung des Bundestages hinbekommen. Wir werden uns aber in dem Zusammenhang auch die Frage stellen, wie wir in der Pandemiefestigkeit vorankommen können.
Es ist natürlich so, dass wir in der aktuellen Lage noch körperlich zusammenkommen können – unter den besonderen Hygienebedingungen der Pandemie. Deswegen wurden bisher auch schon viele Nominierungsveranstaltungen für den Bundestag durchgeführt, und sie werden auch weiter durchgeführt werden. Wir wollen nur einen Notmechanismus für den nicht zu wünschenden noch härteren Krisenfall schaffen. Deswegen ist es wichtig, dass wir hier eine Alternativlösung vorlegen, die eben nicht nur für Corona vorgesehen ist, sondern die eine Flexibilisierung des Wahlrechts im Krisenfall ermöglicht, die wir bisher so nicht hatten.
Ich will es noch einmal deutlich sagen: Hier wird kritisiert, dass wir das Mittel einer Rechtsverordnung wählen. Im Ausgangspunkt ist für uns wichtig: Es wird bei dem jetzigen Infektionsgeschehen dabei bleiben, dass die Nominierungen für den Bundestag weiter als Präsenzveranstaltungen durchgeführt werden. Und das ist auch richtig so.
Wir müssen aber für den Krisenfall vorsorgen, und wir als Parlament sind eben Herr der Lage, was das Beurteilen des Krisengeschehens angeht. Denn nicht der Bundesinnenminister, nicht die Regierung wird darüber entscheiden, wann diese Verordnungsermächtigung greift, sondern wir werden darüber entscheiden.
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Wir haben vorgesehen, dass das der Wahlprüfungsausschuss tut. Und ich glaube, das ist auch folgerichtig.
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Denn das Gremium, das die Wahl als Ganzes prüft, kann natürlich auch seine Beurteilung bei der Nominierung abgeben.
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Es ist für uns wichtig, dass wir sagen: Ja, wenn die Tatbestandsvoraussetzungen vorliegen, wenn wir als Parlament feststellen: „Ja, von dieser Verordnungsermächtigung soll Gebrauch gemacht werden“,
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dann ist es eben nicht so, wie Konstantin Kuhle gesagt hat, dass dann irgendetwas passiert, sondern dann passiert das, was wir von unserem Bundesinnenministerium gewohnt sind und wie wir es kennen:
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Dann kommt verfassungsgemäßes Handeln, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Die Rechtsbindung des Bundesinnenministeriums liegt natürlich vor. Deswegen habe ich keinen Zweifel daran,
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dass wir hier auch die Wahlrechtsgrundsätze berücksichtigen werden. – So viel zur Technik.
Frau Haßelmann, ehe Sie sich ärgern, wollen wir noch mal was Versöhnliches sagen; denn Sie haben völlig recht mit dem, was Sie gesagt haben:
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Ja, wir müssen im parlamentarischen Verfahren sicherlich auch noch mal gucken, ob wir am Großen und Ganzen noch die eine oder andere Anpassung vornehmen können.
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Ich habe schon im Zusammenhang mit der Digitalisierung des Planungsverfahrens gesagt: Es ist richtig, wenn wir aus der Not von Corona auch die Tugenden der Digitalisierung ziehen. – Deswegen finde ich es wichtig, dass wir im Rahmen der weiteren parlamentarischen Beratungen noch mal darüber reden, wie wir die Digitalisierung der Parteiarbeit, des Wahlrechts voranbringen können.
Ich finde es vor allem wichtig, dass wir nicht nur über das Wahlrecht reden, sondern auch über das Parteienrecht, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Aus meiner Parteienfamilie hat es die CSU schon vorgemacht; die Junge Union Deutschlands wird mit einem digitalen Deutschlandtag nachziehen.
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Und wir zeigen: Wenn es nötig ist, dann sind digitale Parteitage auch in Zeiten der Pandemie ein probates Mittel. Ich finde, wir sollten darüber reden, wie wir für den Notfall eine Rechtsgrundlage schaffen können, damit auch die Parteien an dem teilhaben können, was für Vereine heute schon durch unser Coronaübergangsregime möglich ist.
Ich will Ihnen das etwas metaphorisch sagen: Wenn einem die Möglichkeiten des Internets zur Verfügung stehen, sollte man sich nicht auf die Gedankenwelt des Faxgeräts beschränken.
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In diesem Geiste werden wir mit Ihnen beraten.
Herzlichen Dank.
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Mit diesen Worten beende ich die Aussprache.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Helmut Schmidt hat einmal gesagt: „Charakter zeigt sich in der Krise.“ Ich bin davon überzeugt: Unsere Gesellschaft hat sich in der Krise sehr charakterfest gezeigt. Wir erleben eine beeindruckende gesellschaftliche Solidarität. Die Menschen haben ihre Gewohnheiten aus Einsicht geändert, sie haben sich aus Überzeugung eingeschränkt, und zwar, um sich gegenseitig vor dem gefährlichen Virus zu schützen. Neun von zehn Menschen stehen hinter den Maßnahmen zum Schutz vor Corona.
Nach einer Studie der Bertelsmann-Stiftung ist unser gesellschaftlicher Zusammenhalt in der Krise sogar gewachsen. Wir setzen deshalb, meine Damen und Herren, alles daran, diese Solidarität und diesen Zusammenhalt zu bewahren, ja ihn zu stärken. Denn viele Menschen – das wissen wir – müssen in der Krise große Opfer bringen.
Vizekanzler Olaf Scholz hat das größte Hilfspaket in der bundesdeutschen Geschichte geschnürt, ein Hilfspaket mit deutlich verlängertem Kurzarbeitergeld, mit Zuschüssen für Selbstständige und Kleinbetriebe, mit einem Bonus für Familien – kurzum ein Hilfspaket, das all den Menschen hilft, die am stärksten von der Krise betroffen sind: den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern.
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Heute, meine Damen und Herren, werbe ich dafür, dass diese Solidarität und dieser gesellschaftliche Zusammenhalt weiter stark bleiben. Wir dürfen nicht zulassen, dass die Pandemie wirtschaftliche Strukturen kaputtmacht, die eigentlich lebensfähig sind. Wir dürfen nicht zulassen, dass gute Arbeitsplätze verloren gehen, die eigentlich gerettet werden können.
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Gleich zu Beginn der Pandemie haben wir beschlossen: Unternehmen müssen keine Insolvenz anmelden, wenn sie wegen der Pandemie in Schwierigkeiten geraten. So konnten sie die Zeit überbrücken, bis die staatlichen Hilfen ausbezahlt waren, und so haben wir viele Unternehmen retten können.
Inzwischen hat sich die Lage leicht entspannt. An vielen Orten gibt es freilich eine Art Krisenroutine. Doch die Pandemie ist noch nicht überwunden; das wissen wir alle. Daher schlagen wir Ihnen zwei Punkte vor:
Erstens. Lassen Sie uns einen Schritt zurück in die Normalität gehen. Für Unternehmen, die trotz aller Hilfen akut zahlungsunfähig sind, sollen wieder die normalen Regeln gelten: Sie müssen Insolvenz anmelden. Für die betroffenen Unternehmen ist das natürlich eine bittere Pille. Für die gesunden Unternehmen ist der Schritt jedoch wichtig; denn ihre Geschäftspartner müssen wissen, woran sie sind, damit sie ihnen weiterhin vertrauen können.
Und ja, unser Insolvenzrecht ist modern und leistungsfähig. Es hat vielen kranken Unternehmen wieder auf die Beine geholfen. Außerdem arbeiten wir daran, die Möglichkeiten, ein Unternehmen zu sanieren, weiter zu verbessern, Stichwort: präventiver Restrukturierungsrahmen. Den Gesetzentwurf dazu werden wir noch in diesem Jahr vorlegen.
Zweitens. Lassen Sie uns den Unternehmen mehr Zeit geben, die zwar überschuldet sind, aber nicht akut zahlungsunfähig. Sie haben die Chance, die Insolvenz dauerhaft abzuwenden. Diese Chance wollen wir ergreifen. Dafür soll für sie die Pflicht, Insolvenz anzumelden, bis zum Jahresende ausgesetzt bleiben.
Wir wollen also Arbeitsplätze erhalten, wir wollen bestehende Strukturen erhalten, und wir wollen die Solidarität und den Zusammenhalt stärken. Deshalb bitte ich Sie um Unterstützung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Nächster Redner ist der Kollege Fabian Jacobi, AfD-Fraktion.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am 25. März haben wir hier das COVID‑19-Insolvenzaussetzungsgesetz beschlossen, um die gesetzliche Pflicht zur Stellung eines Insolvenzantrags für Unternehmen, die durch die staatlichen Coronamaßnahmen zahlungsunfähig oder überschuldet werden, für sechs Monate auszusetzen. Wir als AfD-Fraktion haben diesem Gesetz damals zugestimmt. Die Begründung dafür ist auch rückblickend richtig – Zitat –:
Wer in dieser völlig unübersehbaren Lage um sein Unternehmen und um die Arbeitsplätze seiner Mitarbeiter kämpft, der soll bis auf Weiteres nicht auch noch mit der strafbewehrten Pflicht zur Stellung eines Insolvenzantrags zusätzlich belastet werden.
Zwei Dinge sind hier wichtig: zuerst einmal die seinerzeit in der Tat völlig unübersehbare Lage. Niemand konnte im März die weitere Entwicklung absehen: welche Formen und Ausmaße das Geschehen annehmen würde, welche Maßnahmen erforderlich werden würden, welche Folgen diese Maßnahmen für Unternehmen haben würden und welche staatlichen Hilfen es geben würde, um diese Folgen abzumildern. In dieser Situation größter Ungewissheit und wegen dieser Ungewissheit war die vorübergehende Aussetzung der Insolvenzantragspflicht richtig.
Damit sind wir beim zweiten wichtigen Aspekt meiner damaligen Begründung: die Worte „bis auf Weiteres“. Für uns jedenfalls war schon damals klar, dass die Suspendierung einer für eine Marktwirtschaft so elementaren Regel wie der Insolvenzantragspflicht nur unter extremen Bedingungen erfolgen kann und dass sie zu enden hat, sobald diese extremen Bedingungen nicht mehr vorliegen.
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Das ist heute unseres Erachtens eindeutig der Fall.
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Die geschilderte Situation größter Ungewissheit, wie wir sie im März hatten, besteht schlicht nicht mehr. Das Geschehen hat seinen Lauf genommen, die ergriffenen Maßnahmen sind bekannt, ihre Auswirkungen sind bekannt, die zur Verfügung stehenden staatlichen Hilfen sind bekannt.
Und nun kommen die Regierungsfraktionen und möchten die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht verlängern – nicht in Gänze, aber für den Insolvenzgrund der Überschuldung. Die nachzulesende Begründung des Gesetzentwurfs ist kurz, lapidar und oberflächlich: Es wird schlicht statuiert, eine Überschuldungsprüfung sei wegen der vermeintlich fortbestehenden Ungewissheiten gar nicht möglich, da könne man diesen Insolvenzgrund auch weiter unberücksichtigt lassen. – Das überzeugt uns nicht.
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Zum einen bleibt die pauschale Behauptung allgemeiner und fundamentaler Ungewissheiten ebendies: eine bloße Behauptung. Zum anderen wird die Begründung der Bedeutung des Insolvenzgrunds der Überschuldung nicht gerecht. Seine weitere Aussetzung liefe darauf hinaus, Unternehmen, deren Vermögen bereits heute ihre Verbindlichkeiten nicht mehr decken, weiter wirtschaften zu lassen und damit andere, die in Geschäftsverbindung mit diesen Unternehmen stehen oder noch treten, der Gefahr auszusetzen, bei einer später doch eintretenden Insolvenz mit in den Abgrund gezogen zu werden.
Wenn die Regierungsfraktionen also nicht noch erheblich bessere Gründe für ihren Vorschlag liefern sollten als die, die man in dieser rudimentären Begründung bisher nachlesen kann, dann werden wir diesen Vorschlag voraussichtlich ablehnen. Schauen wir mal!
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Heribert Hirte, CDU/CSU-Fraktion.
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– Ja, ich weiß, dass der Kollege Hirte Professor ist. Aber wir haben uns darauf verständigt, dass die Professoren nur mit Doktor angeredet werden wollen.
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Vielen Dank für die Erklärung der Bescheidenheit. – Guten Abend, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden heute – das geht Schlag auf Schlag – zum zweiten Mal über Insolvenzrecht. Gestern Abend haben wir über den Gesetzentwurf zur weiteren Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens geredet; da ging es um Privatinsolvenzen. Heute geht es um Unternehmensinsolvenzen. Beides sind wichtige Themen, gerade nach und in der Coronakrise.
Unternehmensinsolvenzen sind ein Thema, das die mir bekannten Unternehmen auch in Köln sehr umtreibt, weil sie immer wieder, wenn sie in der Krise vor der Frage stehen: „Muss ich einen Insolvenzantrag stellen?“, nicht wissen, wie sie weiter vorgehen sollen: Antrag stellen, keinen Antrag stellen, öffentliche Mittel beantragen. Deshalb ist es ein ganz wichtiger Punkt, dass wir hier – wir haben es gerade gehört – im März, als sich die Coronakrise abzeichnete, Klarheit geschaffen haben.
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Diese Klarheit hat den Unternehmen durch die Krise geholfen. Wir haben die Insolvenzantragspflicht wegen Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung suspendiert.
Was machen wir jetzt? Wir sehen, dass die Krise einem Ende entgegengeht, dass sich die Lage stabilisiert. Und wir schlagen Ihnen hier eine differenzierte Lösung vor: Wir wiederbeleben auf der einen Seite die Insolvenzantragspflicht wegen Zahlungsunfähigkeit – das sind die Unternehmen, die wirklich kein Geld mehr haben –, weil die betroffenen Unternehmen sonst ihren Gläubigern vorspiegeln könnten, sie wären noch zahlungsfähig. Das ist ein wichtiges Signal, weil sich sonst eine Blase von Unternehmen bilden könnte, die nicht zahlen können, wodurch letztlich die Wirtschaft insgesamt in einen Abwärtsstrudel gezogen werden könnte.
Auf der anderen Seite – Herr Jacobi hat es angesprochen – setzen wir die Insolvenzantragspflicht wegen Überschuldung weiter aus. Und das tun wir – das ist die Begründung, die Ihnen fehlt – auch deshalb, weil wir uns im Koalitionsvertrag die Frage gestellt haben, ob dieser Insolvenzantragsgrund überhaupt gerechtfertigt ist. Denn wir wissen seit Jahren, dass es viele, viele rechnerisch überschuldete Unternehmen gibt, die zwar wahrscheinlich auch insolvenzrechtlich überschuldet sind, aber keinen Antrag stellen oder bei denen anschließend, im Verfahren der Insolvenzeröffnung, herauskommt, dass sie schon überschuldet waren.
Das heißt nichts anderes, als dass dieser Antragsgrund nicht wirklich funktioniert. Theoretisch mag er funktionieren. Er funktioniert für all die Berater, die dann große Gutachten schreiben müssen, aber für die Praxis der kleinen und mittelständischen Unternehmen funktioniert er nicht. Deshalb – das kann ich aus voller Überzeugung sagen – ist dies ein erster Schritt in eine vollständige Abschaffung dieses Insolvenzantragsgrundes, über die wir demnächst – und damit komme ich zur Zukunft – noch weiter zu beraten haben.
Demnächst – auch das ist die Zukunft; nichts anderes ist gestern Abend schon angesprochen worden – haben wir die Restrukturierungsrichtlinie der Europäischen Union umzusetzen. Einen Teil haben wir gestern schon in unsere Arbeit übernommen, was die Privatinsolvenzen angeht, und der präventive Restrukturierungsrahmen – ein präventives Instrument zur Insolvenzvermeidung – wird als großer Block in den nächsten Monaten kommen. Ich habe gerade aus dem Justizministerium gehört, dass die Vorbereitung sehr weit fortgeschritten ist. Wir werden das bekommen, was eigentlich wichtig ist, nämlich die Möglichkeit, Unternehmen, die in der Krise sind, wieder auf die Füße zu stellen. Das ist das, was wir eigentlich wollen. Daran können wir dann arbeiten und haben eine Möglichkeit, aus der Krisenzeit herauszugehen, mit präventiven Sanierungsinstrumenten, die wir in den nächsten Wochen auch hier werden beraten können. – Insofern ist dies ein wichtiger Zwischenschritt. Ich hätte mir bei dieser Gelegenheit auch die eine oder andere Reform des normalen Insolvenzrechts gewünscht. Darüber werden wir vielleicht doch noch einen Moment nachzudenken haben.
Vielleicht ein technischer Hinweis, weil das aus der Praxis an uns herangetragen wurde: Wir haben in dieser etwas komplexen Norm auch eine Privilegierung von KfW-Darlehen. Bei diesen KfW-Darlehen ändert sich nichts an der Privilegierung. Der zeitliche Anwendungsbereich für diese Privilegierung bleibt bestehen. Wir ändern das Recht für die Zukunft.
Ein letzter Punkt. Mit demselben Gesetzespaket, das auch das COVID-19-Insolvenzaussetzungsgesetz beinhaltet – es war das erste Gesetzespaket, das wir im Zivilrecht als Antwort auf die Coronakrise beschlossen haben –, haben wir auch über die virtuellen Hauptversammlungen beschlossen, über die Antwort im Gesellschaftsrecht auf das Insolvenzrecht. Wir wissen, dass das Justizministerium im Moment darüber nachdenkt, auch da die entsprechenden Normen zu verlängern – ein ähnlicher Problemkreis, wie wir es eben in der Debatte zum Wahlrecht schon gehört haben. Ich will nur eines sagen: Da gibt es schon Punkte, bei denen man darüber nachdenken muss, ob es wirklich noch angemessen ist, von der Verordnungsermächtigung Gebrauch zu machen. Das betrifft – erstens – tatsächlich die Interaktion der Aktionäre auf der Hauptversammlung untereinander, die sich im Augenblick virtuell nicht in der gleichen Weise verwirklichen lässt. Es betrifft – zweitens – die Fristen, die aus Coronagründen verkürzt wurden. Wenn das Ministerium die entsprechende Verordnungsermächtigung verlängern sollte, dann müsste man über die Frage nachdenken, ob man die Fristen nicht wieder an das Normalmaß anpasst. Auch insoweit gehen wir in die Normalität zurück, und das sollten wir berücksichtigen.
Im Übrigen wünsche ich mir eine gute Beratung und hoffe, dass Sie dem Gesetz am Ende zustimmen.
Herzlichen Dank und gute Nacht.
({1})
Herr Professor Hirte, vielen Dank für den Wunsch, aber so weit ist es noch nicht.
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– Sie werden hierbleiben, bis die Beratung zu diesem Tagesordnungspunkt zu Ende ist.
({1})
Darauf werde ich jetzt besonders achten.
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Nächster Redner ist der Kollege Stephan Thomae, FDP-Fraktion.
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Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen! Verehrte Kollegen! Lieber Kollege Professor Hirte, es lohnt sich in der Tat für Sie, noch ein bisschen zu bleiben. Es wäre eigentlich richtig gewesen, die Maßnahmen, die Sie für die Zukunft angekündigt haben, schon heute hier zu präsentieren. Das wäre nämlich möglich gewesen: Sie hätten nur den Antrag der FDP-Fraktion, der am 2. Juli dieses Jahres hier eingebracht wurde, verwenden müssen, um sich davon inspirieren zu lassen, wenn nicht gar davon abzuschreiben.
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In der Tat ist unser Land gesundheitlich weniger hart in Bedrängnis geraten – wir hatten weniger Todesopfer zu beklagen – als viele andere, vergleichbare Länder. Aber die Maßnahmen, die wir ergriffen haben, haben im Bildungsbereich und bei Unternehmern schon ihre Spuren hinterlassen – bei manchen Branchen mehr, bei anderen weniger. Ich denke da nur an die Veranstaltungsbranche, Kunst und Kultur, die gestern hier in Berlin demonstriert haben. Bei den Messebauern, im Gastronomiebereich, bei den Hotels und in vielen anderen Bereichen gibt es schon viele Unternehmen, die pandemiebedingt an den Rand der Überschuldung, der Zahlungsunfähigkeit geraten sind.
Was die Regierung gemacht hat, sind namentlich zwei Maßnahmen: Zum einen hat sie Stützungsmaßnahmen ergriffen – mit dem Nachteil, dass künftige Generationen als Steuerzahler die Kosten dafür zu begleichen haben; das sind Generationenlasten. Zum anderen hat sie ebendiese Instrumente der Aussetzung der Insolvenzantragspflicht geschaffen. Aber auch das hat eben eine Kehrseite: Dadurch wird das Gift des Misstrauens sozusagen in die Blutbahnen der Wirtschaft injiziert; denn man weiß nicht mehr genau, ob der Vertragspartner wirklich solvent ist oder ob er eigentlich ein Geschäftsmodell hat, das nicht mehr tragfähig ist. Es ist ein echtes Problem, dass das Misstrauen hier Einkehr hält und sich dadurch eine Bugwelle von Schulden, eine Bugwelle eigentlich insolventer Unternehmen immer weiter aufbaut, irgendwann bricht und auch andere Unternehmen ins Verderben reißen kann. Das ist ein echtes Problem, das man lösen muss. Das ist eben die Kehrseite der Instrumente, die Sie geschaffen haben, verehrte Damen und Herren von der Regierung.
Deswegen – jetzt komme ich auf das zu sprechen, was Sie, Herr Kollege Professor Hirte, ausgeführt haben – wäre es richtig gewesen, diese Maßnahmen jetzt schon zu ergreifen, es Unternehmen zu ermöglichen, sich aus eigener Kraft zu regenerieren, zu rekonstruieren und zu restaurieren. Das sind eben Instrumente der Restrukturierung, die uns auch durch die europäische Richtlinie auferlegt werden. Die Schaffung dieser Instrumente vorzuziehen und sie schon in diesem Jahr zu implementieren, wäre richtig.
Insofern freue ich mich auf das, was da noch kommt, was Sie angekündigt haben; denn es ist genau das Richtige, einen Schutzschirm aufzuspannen, ein Gläubigerschutzverfahren zu ermöglichen, damit die Unternehmen aus eigener Kraft wieder auf die Beine kommen können. Das wäre richtig, das wäre notwendig, und das muss jetzt kommen. Ich empfehle Ihnen die Lektüre unseres am 2. Juli dieses Jahres eingebrachten Antrages.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Thomae. – Die Kollegin Gökay Akbulut, Fraktion Die Linke, hat ihre Rede zu Protokoll gegeben.
Nächste Rednerin – und damit folgt die letzte Wortmeldung zu diesem Tagesordnungspunkt – ist die Kollegin Dr. Manuela Rottmann, Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben den Unternehmen mit der Aussetzung der Insolvenzantragspflicht tatsächlich eine Atempause verschafft, wir haben die Uhr angehalten. Ich will Ihnen aber sagen, dass ich seither trotzdem ganz schlecht geschlafen habe. Das hat folgenden Grund: Es gab ja Vorbilder für die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht, aber das waren ja immer lokal begrenzte Ereignisse; das war anlässlich des Hochwassers in Sachsen-Anhalt und solcher Dinge. Wir haben jetzt eine Krise, für die es kein Vorbild gibt, die sich weder auf Regionen beschränkt noch auf bestimmte Branchen, sondern die fast alle Branchen erfasst hat.
Es ist richtig: Unverschuldete Insolvenzen sind ein volkswirtschaftlicher Schaden, sie sind ein Verlust; denn damit gehen nicht nur Unternehmen und Arbeitsplätze verloren, sondern es geht auch Wissen, Innovationsfähigkeit und Wettbewerb in Deutschland verloren.
Das andere Problem ist, dass die flächendeckende Aussetzung der Insolvenzantragspflicht in ganz Deutschland nicht nur das Risiko einer Bugwelle mit sich bringt. Meine größte Befürchtung ist, dass sie auch Misstrauen und Angst auslöst, dass das Vertrauen, das Wirtschaftskreisläufe – sozusagen der Blutkreislauf – brauchen, damit sie funktionieren, verloren geht, dass das Vertrauen von Lieferanten, dass sie für ihre Lieferung bezahlt werden, das Vertrauen von Dienstleistern, dass sie für ihre Dienstleistung bezahlt werden, verloren geht.
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Deswegen finde ich es richtig, dass wir ab dem 1. Oktober wieder zum bisherigen Insolvenzrecht bei Zahlungsunfähigkeit zurückkehren. Ich finde es angesichts des hohen Anteils kreditförmiger Staatshilfen, auch angesichts des hohen Anteils privater Darlehen, den wir gerade haben, noch richtig, die Ausnahme für überschuldete Unternehmen beizubehalten. Ich brauche aber auf Dauer noch etwas mehr Überzeugung, als ich sie heute gehört habe. Gerade wegen der Kombination mit der Privilegierung der Gesellschafterdarlehen, die wir mit diesem Coronagesetz auch vorgenommen haben, mache ich mir da noch ein bisschen Sorgen. Aber Sie haben ja die Chance, mich zu überzeugen.
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Ich will auch ausdrücklich loben, dass das Bundesjustizministerium hier einen verfassungsrechtlich sauberen Weg gegangen ist: nicht über die Verordnung, sondern über den Gesetzgeber.
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Es ist wichtig, dass Sie das tun; denn Sie zeigen, dass man auch in der Pandemie die Regeln der Verfassung einhalten kann. Das ist eine Lehre, die andere Mitglieder im Kabinett vielleicht ernster nehmen sollten: Eine Pandemie ist nicht die Zeit, in der man mit der Verfassung schlampig umgeht, sondern die Zeit, in der man sie im Gegenteil sehr, sehr ernst nimmt.
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Wir müssen dringend weitere Fragen bearbeiten. Beim präventiven Restrukturierungsrahmen habe ich das Gefühl: Wir sind mit den Debatten ein bisschen hintendran. Aber das will ich dem Ministerium gar nicht zum Vorwurf machen, weil es kompliziert ist.
Ich habe aber auch noch einen Wunsch: Ich erwarte vom Bundeswirtschaftsminister, dass er nicht nur denjenigen hilft – so ist momentan mein Eindruck –, die jahrelange Übung in der Beantragung von Staatshilfen haben,
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deren Lobbykanäle ins Wirtschaftsministerium funktionieren, sondern dass er sich mit allen Branchen an einen Tisch setzt, auch mit denen, die bislang keine Lobby haben.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Rottmann. – Die Kollegen Dr. Karl-Heinz Brunner, SPD-Fraktion, und Alexander Hoffmann, CDU/CSU-Fraktion, haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.
Mit dieser Feststellung beende ich die Aussprache.