Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 7/3/2020

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Peter Altmaier (Minister:in)

Politiker ID: 11002617

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist noch keine zehn Jahre her – ziemlich genau neun Jahre –, dass der Bundestag mit großer und breiter Mehrheit im Juni 2011 den endgültigen Ausstieg aus der Nutzung der Kernkraft bis 2022 beschlossen hat. Diesen Beschluss haben wir entgegen mancher Zweifel umgesetzt. Wir werden pünktlich wie vorgesehen das letzte Kernkraftwerk abschalten. ({0}) Heute, weniger als ein Jahrzehnt später, beenden wir mit den vorliegenden Gesetzen die Kohleverstromung in Deutschland – rechtssicher, wirtschaftlich vernünftig, sozial ausgewogen und verträglich. Das fossile Zeitalter in Deutschland geht mit dieser Entscheidung unwiderruflich zu Ende. Ich weiß, dass diese Entscheidung uns und vielen von Ihnen nicht leichtgefallen ist. Weil wir ganz unterschiedliche Interessen und Gesichtspunkte unter einen Hut bringen mussten. Es ist ein Generationenprojekt. Es wurde hart gerungen. Noch immer sind nicht alle mit jedem einzelnen Punkt unserer Entscheidungen einverstanden. Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, vergegenwärtigen Sie sich einmal, was wir in den zehn Jahren seit dem Ausstiegsbeschluss aus der Kernenergie geleistet haben – in den meisten Fällen übrigens in einem fraktionsübergreifenden Konsens. Asse-Gesetz, Endlagersuchgesetz, Übertragung der Rückstellungen der Kernkraftwerke, lieber Jürgen Trittin, um sie für künftige Generationen für die Endlagerung zu sichern, völlige Neuorganisation des EEG, Neuorganisation des Baus der Stromleitungen und jetzt ebendieses Generationenprojekt. Wir tun das nicht aus Daffke, wir tun das, weil wir wollen, dass Wohlstand und wirtschaftliche Stärke unseres Landes einhergehen mit klimapolitischer Verträglichkeit, mit Nachhaltigkeit. Das ist unser Ziel, und diesem Ziel kommen wir heute einen großen Schritt näher. Wir wissen, dass sich viele Menschen Sorgen machen, dass eine Entscheidung, die sie klimapolitisch nachvollziehen können, am Ende die Lebensgrundlagen ihrer Familien und ihre Arbeitsplätze gefährden könnte. Deshalb ist uns etwas historisch Einmaliges gelungen: Zum allerersten Mal in der langen Geschichte des Strukturwandels in der Bundesrepublik Deutschland – Beendigung der Steinkohleförderung, Restrukturierung der Stahlindustrie in den 80er-Jahren – federn wir diesen Strukturwandel so ab, dass wir neue Arbeitsplätze schaffen, bevor die alten Arbeitsplätze alle wegfallen. Wir werden bis zu 40 Milliarden Euro investieren, um den Menschen in den Braunkohlerevieren, in der Lausitz, im Mitteldeutschen Revier, im Rheinischen Revier eine Zukunftsperspektive zu geben. Wir werden öffentliche Arbeitsplätze in die Regionen verlagern; die ersten Hunderte von Arbeitsplätzen sind bereits in den letzten Monaten entstanden. Und wir werden transparent und nachvollziehbar festlegen und vertraglich absichern, wann welches Kraftwerk vom Netz geht. Ich weiß, dass sich einige von Ihnen einen schnelleren Kohleausstieg gewünscht hätten. Wir haben vorgesehen, dass das Zeitalter der Kohleverstromung spätestens 2038, vielleicht sogar schon 2035 zu Ende gehen wird. Wenn es durch die Marktkräfte dazu kommen sollte, dass der Ausstieg früher geschehen kann, dann werden wir die Marktkräfte nicht behindern. Aber wir haben die Garantie gegeben, wann es spätestens so weit ist. Das, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist für die Befriedung der Diskussion wichtig; denn wir sind das einzige Industrieland dieser Größe, das gleichzeitig aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie und dann 15 Jahre später aus der Nutzung der Kohleverstromung aussteigt. ({1}) Das sind die historischen Aufgaben und die Leistung, die wir zu vollbringen haben. Zu der Kritik an der einen oder anderen Maßnahme – einige meinen, wir hätten ein oder zwei Jahre früher aussteigen können – sage ich: Wir fühlen uns genau wie alle anderen dem Anliegen des Klimaschutzes und der Dekarbonisierung verpflichtet. ({2}) Aber wir fühlen uns auch der Notwendigkeit und dem Auftrag einer jederzeit sicheren Stromversorgung verpflichtet, egal wie die Wind- und Wetterverhältnisse sind, egal wie die Produktionsverhältnisse sind, egal wie die wirtschaftliche Situation ist. Auch wollen wir – das haben wir mit dem Konjunkturprogramm der Bundesregierung klargemacht – dafür sorgen, dass der Strom in Deutschland bezahlbar bleibt. ({3}) Wir haben heute mit die höchsten Strompreise für private Haushalte, für Mittelständler und für die Industrie. Wir wollen erreichen, dass die Strompreise in Deutschland im Laufe des nächsten Jahrzehnts wieder auf ein europäisches Durchschnittsniveau zurückgeführt werden können – in die richtige Richtung, Schritt für Schritt. Dafür stellen wir im Konjunkturprogramm 11 Milliarden Euro zusätzlich zur Verfügung. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte gerne an Sie alle appellieren, dieses Gesetz nicht kleinzureden, sondern die positiven Errungenschaften in den Vordergrund zu stellen, an denen so viele mitgewirkt haben – natürlich die Umweltbewegung, aber ganz sicher auch die deutsche Wirtschaft und die Gewerkschaften, natürlich auch diejenigen, die für erneuerbare Energien kämpfen, aber ganz sicher auch die Beschäftigten in den Braun- und Steinkohlekraftwerken, die am Ende ihre eigenen Interessen eingebracht haben in einen Gesamtkompromiss, der ihnen neue Zukunftsperspektiven gibt. Dieser Kohleausstieg, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist auf europäischer Ebene – und wir haben ja seit vorgestern die Präsidentschaft der Europäischen Union inne – mit großem Beifall und mit großer Anerkennung bedacht worden. Wir haben eine gute Balance gefunden. Als wir entschieden, aus der Nutzung der Kernkraft auszusteigen, lag der Anteil erneuerbarer Energien an der Stromversorgung bei 20 Prozent – eher darunter als darüber. In diesem Halbjahr – leider Gottes auch mitbeeinflusst durch die Coronapandemie – lag der Anteil der erneuerbaren Energien am Stromverbrauch bei über 50 Prozent . ({4}) In weniger als einem Jahrzehnt haben wir diesen Anteil mehr als verdoppelt, und das, meine Damen und Herren, ohne Blackout, ohne Störung der Stromversorgung, ohne große Krisen. Wir sind, was unsere Energieversorger angeht, weltweit führend, was die geringe Zahl der Fehlstunden betrifft, was die geringe Zahl der Unterbrechungen der Stromversorgung angeht. Auch dafür möchte ich den Übertragungsnetzbetreibern, den Verteilnetzbetreibern, allen Beschäftigten in der Energiebranche ein herzliches Dankeschön und meine Anerkennung aussprechen. ({5}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bedanke mich bei allen, die daran mitgewirkt haben – auch bei den Fraktionen des Deutschen Bundestages, bei meiner eigenen Fraktion und bei der Koalitionsfraktion –, die es ermöglicht haben, dieses Gesetz vor der Sommerpause zu verabschieden. Lassen Sie uns diesen Weg auch in Zukunft weitergehen! Er ist wirtschaftlich und klimapolitisch im Interesse unseres Landes. Vielen Dank. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Tino Chrupalla, AfD. ({0})

Tino Chrupalla (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004695, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Landsleute! Die AfD hat ihre Haltung zum Kohleausstieg nicht geändert. Wir haben unsere Kritik hier schon mehrfach zur Sprache gebracht. Eine entscheidende Frage, die wir hier immer wieder gestellt haben, ist: Wo soll eigentlich der neue Strom herkommen? Wenn Sie hier jetzt eine volldigitalisierte Gesellschaft mit künstlicher Intelligenz und Elektroautos aufbauen wollen, dann werden Sie sehr, sehr viel Strom benötigen. Die Windkraft wird das nicht stemmen können. Die Windkraft hat das schon in der Vergangenheit nicht stemmen können. Selbst wenn Sie jetzt auch noch unsere Nachbarländer mit Windrädern zupflastern, wird es nicht reichen. In Nordschweden sollte ja schon eines der letzten unberührten Naturparadiese einem Windpark weichen, um Strom für Deutschland zu generieren. Dem Ansehen Deutschlands in der Welt sind solche Aktionen sicherlich nicht zuträglich, auch wenn Sie sich selbst hier ständig als Ökostromstreber feiern. ({0}) Darüber hinaus kritisieren wir auch die Kurzfristigkeit des geplanten Kohleausstiegs. Das Ziel 2038 erscheint uns übereilt und absolut überhastet. ({1}) Wir plädieren stattdessen für die Verlängerung der Frist bis 2050, so wie es im Übrigen auch die Industrie und die Energieversorger fordern. ({2}) Sonst sieht es nämlich so aus, als würde die Bundesregierung mutwillig entscheidende Wirtschafts- und Erwerbszweige zunichtemachen, und zwar ohne vorher Ersatzkonzepte zu Ende gedacht zu haben. Dies bestätigt im Übrigen auch das ifo-Institut. Eine solche Politik ist verantwortungslos, vor allem gegenüber der ansässigen Bevölkerung, deren Arbeitsplätze und Lebenskonzepte davon abhängen, ob tragfähige Strukturen vorhanden sind oder eben nicht, ({3}) aber auch gegenüber den Energieversorgern und den Unternehmen, die nicht wissen, was auf sie zukommt, und deshalb keine Planungssicherheit haben. Die Bevölkerung fürchtet zu Recht den Verlust gutbezahlter Industriearbeitsplätze, für die es eben keinen Ersatz geben wird. Wir reden hier nicht nur von 8 000 Leuten im Bergbau, sondern auch von 16 000 Zulieferfirmen und Handwerksbetrieben. Die sächsischen Handwerkskammern haben die Regierung aufgefordert, neue Wertschöpfungsketten noch vor dem Ausstieg zu erschließen. Wir haben noch keinen einzigen neuen Arbeitsplatz geschaffen, Herr Altmaier. ({4}) Außerdem unterstützen wir die Forderung nach Strukturhilfen für das Handwerk sowie die Errichtung einer Sonderwirtschaftszone in der Lausitz. Das sage ich schon seit vier Jahren. Herr Kretschmer, Sie können sich erinnern. 2017 haben Sie mich für diesen Vorschlag ausgelacht. Jetzt fordern Sie es selbst. Ich staune. Auch die FDP ist jetzt auf einmal für die Einrichtung einer Sonderwirtschaftszone. ({5}) Auf der polnischen Seite funktioniert das übrigens wunderbar. Es würde auch die wirtschaftliche Entwicklung in der Lausitz wesentlich vorantreiben. Die Abwanderung der jungen Generation findet bereits statt, Herr Altmaier, jetzt schon. Das liegt unter anderem daran, dass keine tragfähigen Konzepte vorliegen, die die Jugend motivieren, vor Ort zu bleiben und ihre Visionen mit einzubringen. Auch auf diese Gruppe könnte eine Sonderwirtschaftszone motivierend wirken und sie dazu veranlassen, tragfähige, zukunftsfähige Projekte selbst zu entwickeln und das große Potenzial der Region auszuschöpfen. Wenn schon Test- und Modellregion, dann sollen sich die jungen Leute hier verwirklichen und ausprobieren können und nicht irgendwelche internationalen Hightechmegakonzerne. Wirklich nachhaltige Strukturen müssen von unten wachsen. Sie können nicht von oben aufgezwungen werden. ({6}) Wie gesagt, mich würde interessieren, woher der viele Strom für das anvisierte Silicon Valley in Sachsen und der Lausitz kommen soll, insbesondere jetzt, wo die einheimische Stromerzeugung durch Braunkohle abgewickelt wird. Außerdem vermisse ich die Berücksichtigung der Landwirtschaft in den Überlegungen zum sogenannten Strukturwandel. Es geht hier immerhin größtenteils um den ländlichen Raum. Landwirtschaft und Handwerk passen besser zusammen als Handwerk und KI. Es muss schließlich auch darum gehen, die vielen toten Dörfer wiederzubeleben, die durch die Landwirtschaftspolitik der DDR und der BRD großen Schaden erlitten haben. Bitte, benutzen Sie Ihren gesunden Menschenverstand, ({7}) und fördern Sie bestehende Strukturen. Weltfremde Zukunftsutopien und Testlabore will und braucht in der Lausitz niemand. Das hatten wir schon mal. Vielen Dank. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Matthias Miersch, SPD. ({0})

Dr. Matthias Miersch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003809, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute auch ganz besonders: Liebe Zuschauer! Das haben wir eben von der einen Seite gehört: alles zu schnell etc. Gestern ist die Parteizentrale, in der mein Wahlkreisbüro ist, beschmiert worden. Heute werde ich auf einem Plakat in Hannover als Klimagegner dargestellt. Das tut jemandem, der seit 15 Jahren in diesem Haus versucht, gute Klimapolitik zu machen, ein bisschen weh. Aber es zeigt auch, wie diskutiert wird. Ich sage ganz bewusst: Wir müssen aufeinander aufpassen; denn solch ein gesellschaftspolitisches Großprojekt geht nur miteinander, nicht gegeneinander. ({0}) All die Argumente, die gerade im Netz ausgetauscht werden, sind legitim; man kann sie in der Demokratie alle vorbringen. Ich möchte aber auf Folgendes hinweisen: Wenn ein Wissenschaftler beispielsweise sagt, man solle den Kohleausstieg hier mit der Situation in Frankreich vergleichen, dann ist das, als würde man Äpfel mit Birnen vergleichen. ({1}) Denn Frankreich setzt auf Atomkraft. Das, was wir da draußen machen können, ist, unsere Meinung ganz, ganz stark zu vertreten. Aber damit kriege ich noch kein Gesetz. Damit kriege ich keine Transformation. Damit kriege ich keine Sicherheit. Diese kriege ich nur, wenn ich in diesem Haus tatsächlich eine Mehrheit zustande bekomme. Das haben wir geschafft, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({2}) Die Grünen sind mit Jamaika an genau dieser Frage hinsichtlich der ersten Jahre gescheitert. ({3}) Deswegen sage ich: Es ist ein Riesenerfolg, dass wir hier heute den Kohleausstieg beschließen. Das erste Mal wird in einem hochindustrialisierten Land der Kohle- und Atomausstieg gesetzlich fixiert. ({4}) Es ist ein Riesenerfolg, dass wir es nicht dem Markt überlassen, sondern den Regionen 40 Milliarden Euro in den nächsten 20 Jahren zur Verfügung stellen, damit Zukunft gestaltet werden kann. ({5}) Es ist ein Erfolg, dass wir die Betroffenen in den Kraftwerken nicht alleine lassen, sondern sie auffangen durch das Geld, was wir geben; auch soziale Härten werden durch das Anpassungsgeld abgefedert. ({6}) Es ist auch ein Riesenerfolg, dass dieses Gesetz natürlich nichts zementiert. Vielmehr werden wir 2022, 2026, 2029 und 2032 jeweils überprüfen, wie weit wir sind. Auch das ist Flexibilität, die ein solches Gesetz braucht. ({7}) Ich will noch einmal sagen: Der Weg der SPD ist immer das Gemeinsame. Vor über 150 Jahren haben sich Leute zusammengetan, weil sie wussten: Die großen Herausforderungen kann man nicht alleine bewerkstelligen. – Deswegen war es richtig, die Kohlekommission aus ganz unterschiedlichen Gruppen zu bilden: mit Greenpeace, mit den Gewerkschaften, mit der Industrie. ({8}) Jetzt sage ich, Oliver Krischer: Gucken wir uns mal an, was wir heute beschließen. ({9}) Zu den Punkten, die die Kommission vorgelegt hat: Die Abschaltquoten für 2022 werden eingehalten, die für 2030 werden eingehalten. ({10}) Auch die Kommission hat gesagt – in einem schwierigen Kompromiss; aber mit der Zustimmung aller, bis auf eine Region –, dass der späteste Ausstieg 2038 sein soll. Natürlich gibt es die Option, vorzeitig auszusteigen, im Braunkohlebereich sogar drei Jahre früher entschädigungsfrei. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist die Umsetzung des Grundgedankens dieser Kommission. ({11}) Das 65-Prozent-Ziel hinsichtlich der erneuerbaren Energien verankern wir das erste Mal gesetzlich. Richtig ist, dass wir zwischen 2022 und 2030 noch nachbessern müssen. ({12}) Das Innovationsprojekt, das vielen wichtig war, fehlt. Aber ich bin sehr guten Mutes, dass wir beispielsweise mit Moorburg ein Pilotprojekt schaffen, um Wasserstoff als eine Energie der Zukunft Mitte der 20er-Jahre zum Leben zu erwecken. Dann hätten wir genau diesen Pfad tatsächlich gewährleistet. ({13}) Ich sage ganz bewusst an diejenigen, die jetzt gleich sagen werden, das wäre durch einen CO2-Preis alles billiger gewesen: Gucken Sie sich mal an, wie sich der Emissionshandel in den letzten zehn Jahren entwickelt hat. ({14}) Das war alles andere als sicher. Der größte Batzen, den wir heute aufwenden, ist für die Region und für die Menschen, nicht für die Konzerne. ({15}) Ich sage Ihnen: Große Transformation geht nur, wenn wir einen starken Staat haben, der diese Entwicklung auch mit auffängt. Insofern, glaube ich, gehen wir heute einen historischen Schritt. Aber die Arbeit beginnt jetzt erst; ({16}) denn dieser ganze Ausstiegspfad kann nur gelingen, wenn wir gleichzeitig das erneuerbare Zeitalter noch viel stärker voranbringen. ({17}) Insofern: Wir können uns überhaupt nicht zurücklehnen; es geht weiter. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit. Dies ist ein Erfolg dieser Großen Koalition. ({18})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort der Kollege Dr. Martin Neumann, FDP. ({0})

Prof. Dr. Martin Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004120, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Guten Morgen, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um eines gleich klarzustellen: Wir sind für den Kohleausstieg, schon weil es bestehende Revierkonzepte gibt. Wir sind auch für eine nachhaltige Strukturentwicklung in den Kohleregionen. Aber, liebe Bundesregierung, in Ihr Boot steigen wir nicht. Wir lehnen Ihren Weg ab. ({0}) Jetzt liegt ein Gesetzespaket vor, es kommt viel zu spät, aber es gibt dieses Paket. Positiv ist die Tatsache, dass Geld in die Strukturentwicklung in den betroffenen Regionen fließen soll. Das ist aber gleichzeitig auch der erste negative Punkt, den ich hier heute ansprechen möchte. Von den versprochenen 40 Milliarden Euro sind nur etwa 14 Milliarden zusätzliche Mittel. Der Rest soll im Umfang des jeweiligen Haushaltgesetzes bereitstehen. Liebe Koalition, ist Ihnen aufgefallen, dass es einen Widerspruch gibt zwischen den geplanten Finanzhilfen für Kommunen nach Artikel 104 des Grundgesetzes und dem Ausschluss direkter Förderung privater Investitionen? Anreize für private Investitionen? Klare Fehlanzeige! Der Änderungsantrag der Koalition, im Ausschuss vorgelegt, umfasst fast 60 Seiten. Außerdem gibt es noch einen Entschließungsantrag, ebenfalls im Ausschuss vorgelegt, in dem Sie private Investitionen und Sonderabschreibungen fordern. Genau das fordern wir auch. Aber warum schreiben Sie das nicht gleich ins Gesetz? ({1}) Es geht um die Verantwortung für die Menschen, für die Beschäftigten, für die Unternehmen und für die Kommunen in den Regionen. Ihnen muss eine echte Perspektive geboten werden, indem Arbeitsplätze geschaffen werden. Die Liste an Dingen, meine Damen und Herren, die in beiden Gesetzen falsch angegangen werden, ist endlos. Ich nenne als Beispiel die Hängepartie bei den Entschädigungen. Wir wissen – das ist nicht neu –: Immer wenn Politik in Wirtschaft eingreift, kostet das. Trotzdem schafft die Bundesregierung – das will ich hervorheben – mit den Gesetzen keine Rechtssicherheit, sondern einen planwirtschaftlichen Irrgarten. ({2}) Es bleiben Diskriminierungen der jungen Steinkohlekraftwerke und der Kraftwerke in Süd- und Ostdeutschland. Der staatliche Eingriff seitens der Bundesregierung zieht immer weitere Tatbestände nach sich. Auf der einen Seite wird gegen Entschädigungen in Milliardenhöhe abgeschaltet, und auf der anderen Seite fließen Milliarden Subventionen in Alternativen über das EEG und das KWKG. Und am Ende muss der Steuerzahler die daraus resultierenden Strompreise bezahlen. Dabei ist aber auch allen hier im Saal klar, dass eine robuste und wettbewerbsfähige Wirtschaft günstige Strompreise braucht. ({3}) Wir geraten in der Energiepolitik immer tiefer in ein staatliches Mikromanagement zulasten der Versorgungssicherheit sowie der Bezahlbarkeit von Energie. ({4}) Für Versorgungssicherheit und geordnete Strukturentwicklung spielen nicht nur Garzweiler, sondern auch die ostdeutschen Kraftwerke eine große Rolle. Die Bundesregierung betreibt hier, offenkundig getrieben durch die „Ideologitis“ der Grünen, eine teure Symbolpolitik. Bisher schalten wir nur ab. Wo befinden sich die Einschalter? ({5}) Ein durchgehendes Gesamtkonzept, liebe Bundesregierung, ist hier nicht erkennbar. Wir brauchen deutlich mehr Marktwirtschaft und einen Wettbewerb emissionsarmer Energieträger, ({6}) eine intelligente Kombination aus erneuerbaren Energien, innovativen Energiespeichern, Entbürokratisierung, Netzausbau und Digitalisierung. ({7}) Zum Schluss möchte ich noch ganz kurz auf eine Passage im Entschließungsantrag der Grünen eingehen. Dort steht: Wir lehnen Straßenbauprojekte ab. – Da frage ich mich ganz ehrlich: Auf welchen Straßen dürfen denn dann in Zukunft die batteriebetriebenen Elektrofahrzeuge fahren? ({8}) Ich fasse zusammen: Wir brauchen erstens einen starken Emissionshandel. ({9}) Wir brauchen zweitens einen Wettbewerb emissionsarmer Energieträger. Wir brauchen drittens Versorgungssicherheit und ein Energiemonitoring. Und wir brauchen viertens Wirtschaftswachstum, Innovationen, Entbürokratisierung und private Investitionen. Kurz gesagt: Erinnern Sie sich an die drei V! Die Menschen brauchen Vertrauen, Verbindlichkeit und Verantwortung. Herzlichen Dank. ({10})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Lorenz Gösta Beutin, Die Linke. ({0})

Lorenz Gösta Beutin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004672, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Klimabewegung hat unser Land verändert. Die Klimabewegung – Extinction Rebellion, Fridays for Future, Ende Gelände – hat die Kräfteverhältnisse in diesem Land grundlegend verändert. Deshalb und nicht, weil diese Bundesregierung so klug ist, diskutieren wir heute über dieses Kohleausstiegsgesetz und werden den Kohleausstieg verabschieden. Dafür sagen wir: Danke. ({0}) Aber das Problem mit diesem Kohleausstiegsgesetz ist: Es ist eben ein Kohleverlängerungsgesetz. Es verlängert ohne Not die Kohleverstromung bis 2038. Und es bindet durch öffentlich-rechtliche Verträge auch zukünftige Bundesregierungen an diese Kohleverstromung und macht es ihnen schwerer, früher aus der Kohle auszusteigen. Auch das ist ein grundlegendes Problem. Deshalb sagen wir: Heute ist ein schwarzer Tag für den Klimaschutz in der Bundesrepublik. ({1}) Und wir sagen: Das ist auch ein Verrat an den Menschen hier bei uns im Land; denn der Gesetzentwurf sieht Milliardenentschädigungen für die Kohleindustrie vor, Milliardenentschädigungen für entgangene Gewinne. Diese Bundesregierung macht leider eine Politik für die Konzerne, keine Politik für die Mehrheit der Menschen. Wir brauchen aber eine Politik für die Mehrheit der Menschen in diesem Land. ({2}) Es ist der Bruch des Pariser Klimaabkommens – bewusst und mit Ansage! Ich glaube, ein Teil hier im Hohen Hause, auch aus der Großen Koalition, weiß das. Wir haben Ihnen als Linke durchbuchstabiert, was in dieser Situation notwendig wäre. Ich wiederhole es: Wir brauchen den Kohleausstieg spätestens 2030. Wir können jetzt die 20 dreckigsten Kohlemeiler abschalten. Das wäre nicht nur gut für Deutschland, sondern auch gut für Europa. ({3}) Und als Linke sagen wir: Der Hambacher Forst muss vollständig ökologisch erhalten bleiben. Es darf kein einziges Dorf mehr abgebaggert werden für die Kohle. Es dürfen keine weiteren Enteignungen mehr stattfinden. ({4}) Und wir sagen auch: Wir müssen es verbieten, dass Kohlekonzerne weiterhin ihre dreckige Kohletechnik in andere Staaten exportieren und dort den Klimawandel anreizen. Wir sagen: Wir wollen nicht, dass Konzerne diese Politik bestimmen. Wir wollen, dass die Menschen diese Politik bestimmen. Wir machen Druck, gemeinsam mit der Klimabewegung. Wenn diese Konzerne gegen die Mehrheit der Menschen handeln, dann müssen wir darüber sprechen, ob wir diese Konzerne nicht besser vergesellschaften sollten. ({5}) Dieses Kohleausstiegsgesetz ist ein Angriff auf die Mehrheit der Bevölkerung. Es ist ein Angriff auf die Klimabewegung. Wir werden nicht müde werden, den Protest und unsere richtigen Vorschläge hier ins Parlament einzubringen. Wir werden nicht müde werden, für Klimagerechtigkeit hier entschieden einzutreten ({6}) und das zu tun, was notwendig ist. Vielen Dank. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Annalena Baerbock, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Annalena Baerbock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004245, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Sie hätten die Chance gehabt, heute hier etwas wirklich Historisches zu schaffen – etwas Historisches für die gesamte Gesellschaft. Einige von Ihnen wollten das nicht; nein. ({0}) Es wäre etwas Historisches gewesen, etwas, das Hunderttausende Menschen auf der Straße erstritten haben. Deswegen ist dieser Tag ein Tag, der uns alle bewegt – nicht nur Sie, lieber Matthias Miersch. Es wäre die Gelegenheit gewesen, die Klimakrise mit der gleichen Verve und Entschlossenheit zu bekämpfen wie die Coronakrise. Aber das machen Sie nicht. ({1}) Stattdessen legen Sie de facto ein 18 Jahre langes finanzielles Kohleabsicherungsgesetz heute hier vor. ({2}) Wissen Sie was? Das liegt daran, dass Sie nicht erkannt haben, dass sich in den anderthalb Jahren seit dem Bericht der Kohlekommission die Welt weitergedreht hat. Der Markt für die Kohle ist regelrecht zusammengebrochen. Sie hätten in diesem Lichte die Chance gehabt, klimapolitisch das Notwendige zu tun, bis 2030 auszusteigen. Aber Sie haben diesen Kompromiss, der zwischen den Gewerkschaften, den Umweltverbänden, den Industrievertretern und den Wissenschaftlern gefunden wurde, einseitig aufgehoben. ({3}) Das ist es, was wir heute hier klar und deutlich kritisieren. ({4}) Wissen Sie, was Sie damit tun? Sie verhindern damit, den Kern dieses ganzen Kompromisses möglich zu machen. Er wurde gefunden, indem da was eingebaut war, nämlich dass man immer wieder, im Lichte der Klimapolitik, den Ausstieg überprüfen kann.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Kollegin Baerbock, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus der SPD?

Annalena Baerbock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004245, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege. – Ich konnte Sie mit der Gesichtsmaske nicht erkennen.

Klaus Mindrup (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004354, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kollegin Baerbock, wir beide waren als Bundestagsabgeordnete in Paris, als das historische Klimaabkommen beschlossen wurde. Deswegen wissen Sie genauso wie ich, dass nicht nur die Bundesrepublik, sondern vor allen Dingen die Europäische Union Vertragspartner des Paris-Abkommens ist und dass unsere Klimaziele in Deutschland, was die Kraftwerke, den Flugverkehr und die Industrie angeht, europäisch geregelt sind und dass die große Schwierigkeit war: Wie kriegen wir die nationale Politik und die europäische Politik zusammen? Sie wissen ferner, dass der Schlüssel, um von einer reinen Symbolpolitik wegzukommen, die Löschung der Zertifikate der Kohlekraftwerke ist, sodass wirklich weniger emittiert wird und es keine Verschiebung in andere Länder gibt, liebe Kollegin. Das ist der entscheidende Punkt: Wir reduzieren jetzt an dieser Stelle wirklich die Emissionen. In den Verträgen steht auch drin, dass wir das weiter tun können. Das ignorieren Sie. Sie sagen weiterhin, dass wir die Ergebnisse der Kohlekommission nicht umsetzen; deswegen würden Sie dem nicht zustimmen. Die Kohlekommission hat gesagt: 2038 oder 2035. Jetzt sagen Sie: 2030. Die Kohlekommission hat gesagt: vertragliche Lösungen. Sie haben heute Morgen im Radio gesagt: Ordnungsrecht. Und dann sagen Sie, Sie stimmen hier dem Kohleausstieg nicht zu; aber Sie wollen dem Strukturfördergesetz zustimmen. Das heißt, was Sie gerade machen, ist politisches Rosinenpicken.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege.

Klaus Mindrup (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004354, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie picken politisch Rosinen. Ich finde das unverantwortlich, was Sie hier gerade machen. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Baerbock, Ihre Redezeit ist immer noch angehalten. Sie dürfen die Frage beantworten. Das wird nicht auf die Redezeit angerechnet. Aber irgendwann müssen wir wieder in die vorgesehene Redezeit kommen. – Und Zwischenfragen sollten kurz sein; das war an der Grenze. Frau Kollegin Baerbock, jetzt haben Sie das Wort.

Annalena Baerbock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004245, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Da die Frage sehr lang war und wir beide Experten in diesem Bereich sind, gehe ich auf ein paar Punkte ein. Ich hätte Ihnen einige Details in meiner Rede gerne erspart; aber wenn Sie jetzt schon so anfangen, gehe ich auf ein paar Punkte ein, die Sie herausgegriffen haben. Es macht halt einen großen Unterschied, ob man groß etwas obendrüber schreibt und dann Hebel einbaut, die das Ganze konterkarieren. ({0}) – Matthias Miersch, also: Wollt ihr jetzt eine Antwort hören, oder nicht? Ja? – Dann bitte zuhören! ({1}) Ich weiß, was im Pariser Klimavertrag drinsteht, in Artikel 4 Absatz 9: Alle fünf Jahre wird überprüft, ob die Klimaziele dem Pariser Klimavertrag entsprechen. – Um das eins zu eins umzusetzen – und dabei hat nicht nur die EU eine Verantwortung, sondern jedes einzelne Land; das nennt man „Burden Sharing“; ich kenne mich in diesen Verträgen auch aus –, bedeutet das, dass wir regelmäßig überprüfen müssen, wann wir das tun können. Unglücklicherweise streicht ihr – das hast du, lieber Matthias Miersch, als du die Revisionsklauseln für 2026 und 2029 genannt hast, leider vergessen zu sagen – mit diesem Gesetz die Revisionsklausel für 2023. Es ist problematisch, 2026 zu überprüfen, was wir in Deutschland tun, wenn ihr uns nicht die Möglichkeit gebt, unsere Kohlestrommenge 2023 zu reduzieren. Genau das ist unser Kritikpunkt. ({2}) Sie haben das Gesetz an den entscheidenden Stellen so aufgeweicht, dass Sie damit zukünftigen Regierungen Steine in den Weg legen – ja, das kann man auch als Ehre nehmen; aber ich stehe hier als Klimapolitikerin –, wenn es darum geht, das Pariser Klimaabkommen zu erfüllen. ({3}) Und da ist die Revisionsklausel nur ein Punkt; das ist ja das Problem. Das Problem ist auch: Wenn man sich eben nicht so auskennt wie Sie und ich, dann sieht man das gar nicht. Deswegen müssen wir in die Details dieses Gesetzes schauen. Ja, deswegen picken wir uns die Stellen dieses Gesetzes raus, die richtig problematisch sind. Meinen Sie etwa, mir fällt das heute leicht, einfach so zu sagen: „Ich stimme gegen ein Kohleausstiegsgesetz“? Ich habe mich, seitdem ich im Bundestag bin, seit 2013, an diesem Pult beschimpfen lassen, wie verrückt wir sind, dass wir das Wort „Kohleausstieg“ überhaupt in den Mund nehmen. Jetzt wäre der Tag gekommen, an dem wir hier gemeinsam ein Kohleausstiegsgesetz für die Zukunft beschließen könnten; aber leider machen Sie es nicht möglich, dem zuzustimmen, weil es zukunftsvergessen ist, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Und jetzt läuft die Redezeit weiter.

Annalena Baerbock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004245, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Da sind noch ein paar andere Dinge drin, die man nicht auf den ersten Blick sieht, neben der Revisionsklausel für 2023, die gestrichen wird: Das ist die energiepolitische Notwendigkeit für Garzweiler. Damit schreiben Sie mit diesem Gesetz den Tagebau Garzweiler fest und machen es in Zukunft wahnsinnig schwierig, einfach zu sagen: Wir beenden das früher. Das Gleiche passiert mit Datteln 4. Auch da weichen Sie, wenn auch nur mit einem Halbsatz, von dem Beschluss der Kohlekommission ab. Dort steht: Kein neues Kohlekraftwerk. – Sie haben leider, Herr Altmaier, anderthalb Jahre gebraucht, um dieses Gesetz zu formulieren, und haben in dieser Zeit Datteln 4 ans Netz gehen lassen. Das ist ein Bruch mit dem Beschluss der Kohlekommission, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({0}) Ich möchte, lieber Matthias Miersch, auf das eingehen, was du gesagt hast. Du hast gesagt: Bei der Zeitspanne erfüllen wir die Kriterien des Abschaltens genau. – Dazu sage ich zum einen, weil du uns ja so nebenbei mal einen mitgeben willst: Hätten wir 2017  7 Gigawatt abgeschaltet, dann wären wir schon ein ganzes Stück weiter in dieser Republik; aber das hat leider die FDP verhindert. ({1}) Zum anderen: Die Kanzlerin war in ihrer Antwort auf die Frage meines Kollegen Krischer da einfach ehrlicher. Sie hat zumindest zugegeben, dass wir in den 20-ern so einen kleinen Hänger haben. Auch da weicht dieses Kohleausstiegsgesetz entscheidend von dem Kohlekompromiss ab. ({2}) Der letzte Punkt betrifft die öffentlich-rechtlichen Verträge. Wir fragen uns, warum 4,3 Milliarden Euro an die Konzerne gezahlt werden. Liebe FDP, ich kenne die Lausitz sehr genau, ich kenne auch diesen Konzern dort vor Ort sehr genau. ({3}) Ich weiß auch, was die 2017 im Revierkonzept an Abschaltungen schon angemeldet haben. Dass wir diese angemeldeten Abschaltungen jetzt auch noch finanziell entschädigen, das sollte Sie beschäftigen, wo Sie an dieser Stelle auf die Steuergelder schauen. ({4}) Es macht es auch nicht besser, dass Sie auch noch Ernst & Young beauftragt haben, einen Wirtschaftsprüferbericht vorzulegen, weil Sie selber nicht so sicher sind, ob die Milliarden richtig sind. Dieser wurde gestern vorgelegt. Und was steht da drin? Ja, die Summe stimmt schon, wenn wir berücksichtigen, was die Absichten des Kohlekonzerns waren, wenn wir berücksichtigen, was die noch machen wollten. Aber wir entschädigen doch nicht das, was die Konzerne an Kohle noch zu verstromen beabsichtigten, sondern das, was genehmigt ist. Das heißt, Ihr eigener Bericht unterstreicht noch, dass das absolut unverhältnismäßig ist. ({5}) Zum Schluss. Es trifft mich ins Mark, dass ich diesem Kohleausstiegsgesetz heute nicht zustimmen kann. Hier wurde gesagt: Aber dem Strukturstärkungsgesetz stimmt ihr zu. – Ja, das tun wir, weil wir nicht zulassen, dass durch dieses Kohleausstiegsgesetz, das den zukünftigen Generationen leider nicht gerecht wird, jetzt auch noch die Beschäftigten bestraft werden. Wir stimmen sehr bewusst hier und heute dem Strukturstärkungsgesetz und dem APG zu. Das halten wir mit Blick auf die Beschäftigten für richtig. Denn Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit sind keine Gegensätze. ({6}) Für den Klimaschutz werden wir als Bündnis /Die Grünen weiter kämpfen. Herzlichen Dank. Schade, dass wir heute nicht gemeinsam hier feiern können. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer, CDU/CSU. ({0})

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Also, wenn man sich hier so anhört, was von linker, was von grüner Seite, leider zum Teil auch von der FDP behauptet wird – marktschreierisch, so nach dem Motto: wer schaltet planlos, konzeptlos am schnellsten ab, ({0}) ohne eine Balance zu wahren zwischen anderen Zielen –, dann finde ich das schon bedauerlich. Und wenn Sie sich dann ganz offensichtlich nicht mal die Mühe gemacht haben, zu lesen, was in den parlamentarischen Beratungen an Änderungen erzielt wurde, sowohl im Strukturgesetz als auch bei den Ausstiegsfragen, wo wir Instrumente implementieren, wo klug, sogar schneller Emissionen reduziert werden, als es vorher der Fall war, dann muss ich sagen: Es ist, ehrlich gesagt, ziemlich bedauerlich und politisch ziemlich unverantwortlich, wie Sie hier agieren. Das möchte ich eingangs schon mal sagen. ({1}) Natürlich geht es um Klimaschutz, und mit dem, was wir hier vorlegen, übererfüllen wir sogar die vorgegebenen Klimaziele, die wir europäisch vereinbart haben. Aber es geht auch darum, dass wir die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes und die Bezahlbarkeit von Strompreisen gewährleisten; denn ohne energieintensive Unternehmen, ohne Stahl, ohne Aluminium, ohne Kupfer gibt es keinen ICE, kein Windrad, keine erneuerbaren Energien. Und wir wollen, dass sie in Deutschland produziert werden. ({2}) Es geht um energiewirtschaftliche Fragen, es geht um Versorgungssicherheit. Es geht auch um Akzeptanz, um Schaffung verlässlicher Zukunftsperspektiven in den Regionen, die betroffen sind. Dort wollen wir zukunftsträchtige Arbeitsplätze schaffen und erhalten. Und da sind wir es als Union und mit uns zusammen der Koalitionspartner, die diese Balance schaffen; wir fokussieren uns nicht nur auf eines dieser Ziele. Im Hinblick auf die Strukturstärkung verankern wir die Mittel so im Haushalt, dass die 40 Milliarden Euro auch wirklich zur Verfügung stehen, auch schneller zur Verfügung stehen, planbar. Wir haben Wort gehalten gegenüber den Regionen, Herr Ministerpräsident Kretschmer; das sage ich auch an die anderen Bundesländer gerichtet. Die Union hat Wort gehalten dabei. Für die stromintensiven Unternehmen, denen ausstiegsbedingt Mehrkosten entstehen, werden wir in diesem Jahr einen Mechanismus vorlegen, wie wir die ausgleichen wollen; denn wir wollen kein Carbon Leakage, wir wollen, dass diese Wertschöpfung, diese Arbeitsplätze in Deutschland bleiben. Das heißt, aus dem bisherigen „Kann“ wird ein „Soll“ gemacht. Wir werden einen Zuschuss für die Übertragungsnetzentgelte ab 2023 gewähren; auch da haben wir im Gesetz, auch wenn es der SPD schwergefallen ist, aus dem „Kann“ ein „Soll“ gemacht. Und diese Senkung der Übertragungsnetzentgelte hilft allen Stromverbrauchern und verbessert die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts. Auch hier haben wir Wort gehalten gegenüber der Wirtschaft und mit Blick auf die Arbeitsplätze. Und wir haben zwei intelligente Förderprogramme aufgesetzt, mit denen wir auf der einen Seite erneuerbare Wärme und auf der anderen Seite Brennstoffwechsel fördern. Was heißt das? Ich nehme mal ein Beispiel, um es zu erklären. Erneuerbare Wärme: Wir bauen ein noch junges Steinkohlekraftwerk oder KWK-Kraftwerk um, an einem Standort, der akzeptiert ist. Dort ermöglichen wir mit dem Instrument einen schnelleren Umstieg, beispielsweise auf Biomasse; das haben wir nämlich auch verankert.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege, der Kollege Beutin würde gerne eine Zwischenfrage stellen. Gestatten Sie sie?

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Bitte?

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dann halte ich die Uhr an.

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das wäre schön. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Deswegen müssen Sie antworten. – Herr Beutin.

Lorenz Gösta Beutin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004672, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Pfeiffer, Sie haben eben erklärt, wir würden die Klimaziele und den Beitrag zum Pariser Klimaabkommen übererfüllen. Nun haben wir die Bundesregierung gefragt, ob sie uns denn berechnen könnte, wie hoch der faire Beitrag zum Pariser Klimaabkommen für das 1,5-Grad-Ziel wäre. Die Antwort der Bundesregierung war, sie könne keine Berechnungsgrundlage liefern. Deswegen haben wir heute den Antrag eingebracht, der fordert, dass genau diese Berechnung angestellt wird und dass das auf einer fairen Grundlage berechnet wird. Das heißt, einerseits sagt diese Bundesregierung, sie könne das nicht genau berechnen, andererseits behaupten Sie hier das Gegenteil. Was ist denn jetzt richtig? ({0})

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Also, wir sind ja im parlamentarischen Verfahren, ({0}) und ich war gerade dabei, zu erläutern, was wir gegenüber dem bereits befriedigenden Entwurf der Bundesregierung im parlamentarischen Verfahren noch verbessert haben. Genau in dem von Ihnen angesprochenen Punkt kommen wir zu Verbesserungen, weil wir nämlich mit dem Förderprogramm für erneuerbare Wärme und mit dem Förderprogramm für den Brennstoffwechsel jeweils 1 Milliarde Euro zur Verfügung gestellt haben. ({1}) Damit ermöglichen wir, dass an bestehenden Standorten, zum Beispiel an einem Steinkohle-KWK-Standort jetzt eine Umrüstung erfolgen kann, beispielsweise auf Biomasse – Wasserstoff wurde vorher erwähnt – oder auch Gas. Damit werden diese Steinkohleanlagen nicht in die Reserve geschoben, was Geld kostet, die Strompreise erhöht und die Emissionen nicht senkt, sondern es werden CO2-neutrale Standorte, die akzeptiert sind, umgerüstet; somit kommen wir sogar schneller zu CO2-Einsparungen. ({2}) Herr Neumann, da lagen auch Sie falsch: Wir haben diese Benachteiligung im Süden aufgehoben, mit den Instrumenten, die wir jetzt im parlamentarischen Verfahren angelegt haben. Deshalb finde ich es, wie gesagt, schade, dass Sie sich nicht die Mühe gemacht haben, zu lesen, was wir dort verbessert haben, oder Sie haben es nicht verstanden; deshalb erkläre ich es gerne noch mal. Beim Brennstoffwechsel ist es ähnlich: Wir wollen Kondensationskraftwerke im Süden und auch im Norden – da müssen wir uns natürlich anschauen, wie es mit der Netzverträglichkeit aussieht – zu einem Brennstoffwechsel animieren, damit sie schneller wegkommen von der Steinkohle. ({3}) Aber dafür müssen sie investieren. Und sie konnten bisher ihre Abschreibungen noch nicht erwirtschaften.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Pfeiffer, auch der Kollege Dr. Neumann würde noch gerne eine Zwischenfrage stellen. – Die lassen Sie auch noch zu. Und irgendwann müssen Sie dann auch noch den Rest Ihrer Rede absolvieren.

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich habe heute Vormittag nichts mehr vor. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Aber der Rest des Hauses ist noch bis heute Abend verplant.

Prof. Dr. Martin Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004120, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Kollege Pfeiffer, dass Sie die Frage zulassen. – Sie waren ja im Wirtschaftsausschuss dabei, als ich genau danach gefragt habe. Sie haben jetzt eine Antwort gegeben, die offensichtlich quasi über Nacht ausgedacht wurde. Wie ist es tatsächlich mit diesem Ersatzbonus, wie wird das zusammengestellt? Ich habe den Eindruck gewonnen, dass hier irgendwelche Dinge hin und her geschoben werden, die dann vielleicht gar nicht stimmen. Wie kommen Sie zu dieser Behauptung? Das würde mich interessieren.

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Kollege Neumann, ich versuche gerne, es noch mal zu erläutern. Es gibt nun diese zwei Förderprogramme, die ich gerade erläutert habe; die gab es vorher nicht. Des Weiteren haben wir im KWK-Gesetz Änderungen gegenüber dem Regierungsentwurf oder dem Kabinettsbeschluss vorgenommen, indem wir den Kohleersatzbonus erhöht und angepasst haben. Denn wir haben ja im Süden das Problem, dass, solange die Übertragungsnetze, die vom Norden in den Süden Wechselstrom oder auch Gleichstrom übertragen sollen, nicht fertig sind, sich die Südanlagen nicht an den Ausschreibungen im Steinkohlebereich beteiligen können, auch nicht im KWK-Bereich. Deshalb schaffen wir jetzt Anreize, bereits in diesen Zeitraum, um zu einem Brennstoffwechsel zu kommen und sichere Leistung zu gewährleisten und gegebenenfalls sogar mehr CO2 einzusparen und die Standorte zu sichern. Im KWK-Bereich wird zum Beispiel der Südbonus verlängert, um entsprechende Umrüstungen vorzunehmen, weil Gasanschlüsse in bestimmten Regionen noch nicht vorhanden sind – da brauchen wir Fernleitungsanschlüsse für Gas; das wissen Sie ja, Sie sind Spezialist. Das haben wir in diesem Verfahren beispielsweise auch ermöglicht. Insofern wird da ein Schuh draus. Wir haben uns diese Dinge sehr genau angeschaut und entsprechende Instrumente geschaffen, sodass wir – ich wiederhole es noch mal – die Wettbewerbsfähigkeit erhalten, indem wir Strompreise nicht unnötig in die Höhe jagen oder Kraftwerke in die Reserve bringen, wir die Versorgungssicherheit verbessern, weil wir gerade im Süden diese Standorte erhalten, und wir sogar gegenüber dem bisherigen Plan mehr CO2 einsparen. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

So, ab jetzt läuft die Redezeit weiter, und sie ist auch bald zu Ende.

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Schade. Vielleicht findet sich noch jemand für eine Zwischenfrage. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Pfeiffer, ich werde keine mehr zulassen. ({0})

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Houben, immer gerne. – Wir haben im KWK-Bereich, also Kraft-Wärme-Kopplung – ich will es noch einmal erläutern; Kollege Neumann hat es gerade angesprochen –, substanzielle Verbesserungen vorgenommen; Strom und Wärme – besonders effizient – werden gleichzeitig gefördert. Wir erhöhen den Förderdeckel von 1,5 Milliarden Euro einvernehmlich auf 1,8 Milliarden. Wir erhöhen die Grundförderung im KWK-Bereich ab 2023 auf 0,5 Cent. Wir haben, wie gerade angesprochen, den Kohleersatzbonus verbessert. Und wir ermöglichen auch im KWK den Fuel Switch. Also Biomasse – wie gesagt, hier mussten wir die SPD ein bisschen zum Jagen tragen –, die aus Schadstoffen im Wald gewonnen wird oder die als nachhaltig zertifiziert ist, kann auch importiert werden. Insofern haben wir jetzt etwas vorliegen, was für den Standort Deutschland, für die Versorgungssicherheit und für den Klimaschutz eine Zukunftsperspektive bietet. Vielleicht kommen Sie noch zu einem anderen Ergebnis und können dem zustimmen, nachdem Sie gehört haben, was wir machen. Vielen Dank. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Steffen Kotré, AfD. ({0})

Steffen Kotré (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004791, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Heute ist ein schwarzer Tag für Deutschland, ({0}) an dem mit dem Kohleausstieg die Zerstörung unserer Energieversorgung weiter voranschreitet. Der Kohleausstieg ist unsinnig in Bezug auf seine Zielsetzung, vernichtet massiv Volksvermögen, und in der Lausitz werden die Lichter ausgehen, meine Damen und Herren. ({1}) Das „Wall Street Journal“ hat diese Energiepolitik als „weltdümmste Energiepolitik“ bezeichnet. Und das ist sie auch. ({2}) Die von der Bundesregierung eingesetzte Expertenkommission zum Monitoring bezeichnet den Kohleausstieg und Merkel folgerichtig als verantwortungslos. All die Markteingriffe und Kompensationszahlungen seien überflüssig, überteuert und kontraproduktiv. Die Zeitung „Die Welt“ schrieb daraufhin, dass zu empfehlen wäre, dieses Kohleausstiegsgesetz in die Tonne zu treten. ({3}) Die Strompreise werden weiter steigen. Die Kohleverstromung trägt sich selbst; die instabilen Erneuerbaren müssen getragen, das heißt hochsubventioniert werden. Völliger Irrsinn, nach der Kernenergie auch aus dem zweiten Energieträger auszusteigen. Das macht kein anderes Land in dieser Welt. ({4}) Die Versorgungssicherheit wird weiter sinken. Die Deindustrialisierung setzt sich aufgrund der Stromschwankungen weiter fort. Die Stromlücken füllen auch die instabilen Erneuerbaren nicht, das heißt, wir werden hier bald auch ohne Strom dastehen. ({5}) Die verantwortlichen Politiker sind energiepolitische Strukturvernichter, die zerstören und schleifen, nicht aber aufbauen. ({6}) Damit sind Sie vergleichbar – energiepolitisch – mit den Politikern, wie wir sie in Venezuela, Kuba oder in Nordkorea finden. ({7}) Was passiert noch im Zuge des Kohleausstiegs? Gerade aufgrund der wirtschaftsfeindlichen Coronamaßnahmen bleibt kein Geld mehr für Soziales, für die Bildung und für unsere Infrastruktur. Und wir werden Kohlestrom aus Polen importieren. Die CO2-Emission wird also ins Ausland exportiert, genau wie unsere Arbeitsplätze und unsere Wertschöpfung. Wir stabilisieren die Arbeitsplätze in Polen, rationalisieren sie hier aber weg. Welch ein Schildbürgerstreich! ({8}) Noch 2008 warb die Bundeskanzlerin Merkel für einen Kraftwerksneubau: Die Ablehnung neuer Kohlekraftwerke ist umwelt- und klimapolitisch kontraproduktiv. Wir sollten alles dafür tun, neue Anlagen voranzubringen. – Das war 2008. Nun hat sich die CDU/CSU völlig gewandelt, rennt den Links-Grünen hinterher, ist sozusagen Steigbügelhalter der links-grünen Politik. Warum? Hier geht es vielleicht einzig und allein um einige wenige Wählerstimmen. Dafür werden aber 100 bis150 Milliarden Euro der Gemeinschaft geopfert. Das ist eine schäbige Politik. Mit der AfD wird es wieder vernünftige Energiepolitik geben, nämlich mit der sauberen Kohle. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort der Kollege Bernd Westphal, SPD. ({0})

Bernd Westphal (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004442, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist schon merkwürdig, welche Reden man heute Morgen bei diesem großen Thema hören muss. Herr Kotré von der AfD sagt: Im Revier gehen die Lichter aus. – Ich kann Ihnen nur sagen: Es wäre schön, wenn bei Ihnen mal ein Licht angehen würde, was dieses Thema betrifft. ({0}) Sie haben doch überhaupt keine Ahnung von den Dimensionen, von dem, was wir heute diskutieren. Ich muss schon sagen: Es ist enttäuschend, was Annalena Baerbock als Vorsitzende der Grünen hier behauptet. Wenn Sie in das Gesetz gucken, werden Sie feststellen, dass dort die Überprüfung der Klimaziele 2022 verankert ist. Ich finde, das ist schon eine merkwürdige Sache, wenn eine Parteivorsitzende hier wissentlich lügt. ({1}) Und auch was die Verhandlungslösung für Braunkohle angeht, steht genau das im Gesetz, was in der Kommission vereinbart wurde. Seit Jahrzehnten haben Bergleute in Steinkohlegruben, in Braunkohletagebauen und auch Arbeiter in Kraftwerken rund um die Uhr verlässlich für unsere Energieversorgung gearbeitet. Auch wenn aus bekannten Gründen im Gesetz nur ein Tagebau explizit genannt wird, sind alle Tagebaue und alle Reviere für eine sichere Energieversorgung in Deutschland wichtig. Sie bildeten die Basis für den wirtschaftlichen Wiederaufbau Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg, meine Damen und Herren. ({2}) Viele technische Innovationen kommen aus diesem Bereich. In vielen Branchen gibt es diese Solidarität, wie wir sie im Bergbau und in den Kraftwerken erleben, nicht. Es sind soziale Standards wie Mitbestimmung, auch durch Betriebsräte in den Aufsichtsräten, viele Mitwirkungsmöglichkeiten von Beschäftigten dort verankert. Es gibt einen vorbildlichen Arbeitsschutz und auch anständige Tarifverträge. Das haben die Bergleute und die Menschen in den Kraftwerken mit ihren Gewerkschaften erkämpft. Davon profitieren andere Branchen. Und deshalb gehört es sich, diesen Menschen Respekt und Anerkennung für ihre Leistungen auszusprechen. ({3}) Aber wir wissen auch und nehmen zur Kenntnis, dass sich die Welt da draußen ändert. Wir wissen, dass wir mit unserem Verhalten auch das Klima und die Lebensgrundlagen kommender Generationen gefährden. Aus dieser Verantwortung heraus ist es Aufgabe der Politik, zu handeln. Der Ausstieg ist notwendig, aber auch für einige schmerzhaft. Deshalb überlassen wir es nicht dem Markt, sondern handeln politisch verantwortlich, um das auch sozialverträglich zu gestalten. ({4}) Wir schaffen neue Arbeitsplätze, unterstützen Investitionen in neue Technologien. Wir stärken die Infrastrukturen in den betroffenen Regionen, unterstützen die Modernisierung von Strom- und Wärmeerzeugung. Vor allem dort, wo kommunale Stadtwerke diese Strukturen in eigenständiger Regie auch in Sinne von kommunaler Daseinsvorsorge betreiben, werden wir diesen Wandel – weg von Kohle, hin zu modernen Technologien – unterstützen. Wenn es gelingt, bis 2038 und vielleicht auch schon eher, bis 2035, die Kohlenutzung zu beenden, ist das ein Riesenerfolg. Wir fördern damit klimafreundliche Energien. Mit dem Ausstieg aus der Kohle gestalten wir verlässlich, sozialverträglich und zukunftsorientiert den Weg in eine klimaneutrale Wirtschaft. 40 Milliarden Euro können Bund, Länder und Kommunen – deshalb freut mich, dass die Bundesratsbank heute Morgen hier besetzt ist – nachhaltig für neue Arbeits- und Ausbildungsplätze nutzen. Jetzt kommt es auf die Kreativität und neue Ideen, kluge Konzepte und gute Lösungen in den Revieren an. Ich kann nur dazu raten, dass die Länder bei der Umsetzung auch dafür sorgen, die Menschen in den Revieren bei diesen Konzepten möglichst zu beteiligen. Dieser jahrelange Weg kann mit der Kompetenz, die Gewerkschaften, Beschäftigte, Unternehmen und Kommunen einbringen, erfolgreich gestaltet werden. Es wäre unverantwortlich, diesen Wandel zu leugnen, ihn zu ignorieren und sich wegzuducken. Wir werden die Länder Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Nordrhein-Westfalen bei dem Strukturwandel der Bergbauregionen nicht alleine lassen. Mit Solidarität und Verantwortung werden wir mit enormen Finanzmitteln des Bundes die Regionen auf ihrem Weg raus aus der Kohle unterstützen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege, denken Sie daran, dass Ihre Redezeit abgelaufen ist.

Bernd Westphal (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004442, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, vielen Dank. ({0}) In den politischen Beratungen haben wir viele, viele Dinge des von der Regierung eingebrachten Gesetzentwurfes verbessert. Ich kann Sie nur bitten: Stimmen Sie diesem Gesetz zu, es ist vernünftig. Andere reden nur, wir handeln. Vielen Dank und Glück auf! ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Lukas Köhler, FDP. ({0})

Dr. Lukas Köhler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004786, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Altmaier, Frau Ministerin Schulze, da ich Sie gerade sehe: Ich muss Ihnen beiden heute leider eine Illusion rauben: Wir reden beim Kohleausstiegsgesetz nicht über den Kohleausstieg. ({0}) Wir reden hier über eine Subvention für die Kohlekraftbetreiber. ({1}) Man wäre versucht, zu sagen: Es geht heute um einen billigen Etikettenschwindel. Aber das wäre falsch. Es geht heute leider um einen sehr, sehr teuren Etikettenschwindel. Er kostet die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler Milliarden Euro. Sie bekommen dafür aber – gar nichts. Vor allem bekommen sie keinen Klimaschutz. ({2}) Sie haben den Leuten ein Märchen erzählt. Sie wollen ihnen weismachen, dass das, was Sie hier tun, etwas für das Klima bringt. Aber das Ganze ist in der Tat leider nur sehr teuer. Wir haben in Europa einen sehr erfolgreichen europäischen Emissionshandel. ({3}) Frau Ministerin Schulze, Sie haben das heute Morgen selber bei n-tv erwähnt: Wer Treibhausgase ausstößt, der muss dafür einen Preis zahlen, zumindest im Energie- und Industriebereich. Damit gibt es ein striktes CO2-Limit. Das heißt, Angebot und Nachfrage regeln das. ({4}) Das Prinzip der Marktwirtschaft regelt das. Das ist leider nur Teilen in diesem Haus bekannt. ({5}) Kohlestrom verursacht bekanntlich sehr viel CO2. Über den steigenden Preis steigen wir hier aus. Das ist längst beschlossene Sache; das war schon immer so. Aber ich will niemandem etwas vorwerfen, von dem man sich nicht grundsätzlich freimachen kann. Jeder Mensch darf Fehler machen. Auch eine Bundesregierung darf Fehler machen und darf Dinge einmal falsch einschätzen. Wenn Sie vor zwei Jahren der Meinung waren, man müsse den ohnehin schon feststehenden Kohleausstieg noch einmal beschließen, weil Sie den marktwirtschaftlichen Argumenten nicht getraut haben, dann ist das zwar traurig – aber so what? Was mich aber wirklich traurig macht, ist Folgendes: Anfang 2018 lag der CO2-Preis pro Tonne bei circa 7 Euro. Dann wurde eine Reform beschlossen. Sie hat dazu geführt, dass sich der Preis deutlich erhöht. Zu Beginn der Arbeit der Kohlekommission lag dieser Preis bei 14 Euro. Damit lag er immer noch nicht bei einem Preis, der die Kohle aus dem Markt drängt. Ihre Entscheidung damals war sicherlich kurzsichtig von Ihnen, aber mit viel, viel Wohlwollen hätte man für die Idee eines staatlichen Kohleausstiegs immerhin noch Verständnis aufbringen können. Seitdem ist der CO2-Preis aber massiv gestiegen. Er hat sich zeitweise verdoppelt. Er lag bei 30 Euro pro Tonne. Es ist exakt das eingetreten – Herr Miersch, das haben Sie auch schon gesehen –, was wir und viele Ökonominnen und Ökonomen bereits gesagt haben: Die Kohle geht aus dem Markt, ({6}) sukzessive, nicht erst seit Anfang dieses Jahres, sondern schon seit Anfang letzten Jahres, und das völlig ohne Entschädigung, ohne dass Sie eingreifen müssen, ohne dieses extrem teure Gesetz. Das ist doch das Problem. Das ist genau die Herausforderung, vor der wir stehen. Die Prognosen sind so, dass wir sie heute schon erfüllen. Für Ihr Handeln, meine Damen und Herren, haben die Menschen kein Verständnis. In einer Zeit, in der wir so viel Geld ausgeben, ({7}) ist die Regierung nicht lernfähig. ({8}) In einer Zeit, in der wir sehen, wie gut die Marktwirtschaft funktioniert, wie gut der Emissionshandel funktioniert, ist die Regierung nicht lernfähig. Das ist der wahre Skandal: Sie verbrennen das hart erarbeitete Geld der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler – jeden Tag, ({9}) und zwar nur dadurch, dass Sie die Unternehmen entschädigen. Das ist traurig. Ich bitte Sie: Kommen Sie zur Vernunft. Denken Sie noch einmal über die neuen Zahlen nach.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege.

Dr. Lukas Köhler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004786, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sie sind ja sicherlich lernfähig. Das würde mich freuen. Vielen herzlichen Dank. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort die Kollegin Caren Lay, Die Linke. ({0})

Caren Lay (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004088, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! Wir als Linke haben immer gesagt: Der Kohleausstieg muss sozialverträglich gemacht werden. Deswegen kann ich als Abgeordnete aus der Lausitz heute sagen: Es ist gut, dass wir den Strukturwandel mit öffentlichen Geldern unterstützen, insbesondere für eine Region wie die Lausitz, die ohnehin schon schwer gebeutelt ist. ({0}) Wir sagen aber auch: Die Gelder für den Strukturwandel dürfen eben nicht von wechselnden Mehrheiten abhängig sein. Die Kohlereviere brauchen langfristige Sicherheit. Die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister in den Regionen der Lausitz sind auf alle demokratischen Parteien zugegangen. Sie haben einen Staatsvertrag gefordert. Schade, dass er nicht kommt; denn nur mit langfristiger Sicherheit kann der Strukturwandel auch gelingen. ({1}) Sie kritisieren auch, dass dieses Gesetz einen kommunalen Eigenanteil verlangt. Aber das geht doch an der Realität vieler klammer Kommunen komplett vorbei. Viele werden diesen Eigenanteil nicht aufbringen können. Die Gelder können dann nicht abgerufen werden. Die Verantwortung jetzt auf die Länder zu schieben, ist nicht der richtige Weg. Der Bund hätte das übernehmen müssen. ({2}) Die Kommunen vor Ort sind bereit, sich einzubringen, den Kohleausstieg und den Strukturwandel aktiv mitzugestalten, und die Zivilgesellschaft ist es auch. Man muss sie nur lassen. Man muss den Kommunen vertrauen und ihnen nicht mit Misstrauen begegnen. ({3}) Den unmittelbar Beschäftigten eine Perspektive für die Zeit nach der Kohle zu geben, das hätte den Menschen in der Region viele Ängste genommen und einen deutlich früheren Ausstieg ermöglicht. Wir haben dazu den Vorschlag einer Einkommens- und Beschäftigungsgarantie gemacht. Wir haben dazu jetzt von Ihrer Seite lediglich Anpassungsgelder zugesagt bekommen. Aber hier wäre es für die Beschäftigten in der Kohle auch gut und fair gewesen, dass diese Anpassungsgelder heute tatsächlich beschlossen und nicht nur versprochen worden wären. ({4}) Meine Damen und Herren, die Lausitz war immer eine Energieregion. Sie muss eine Energieregion bleiben; wenn es nach uns geht, eine Modellregion für die Erneuerbaren. Das kann eine Chance sein, das kann ein Jobmotor für die ganze Region sein. ({5}) Aber dafür müssten die Gelder eben auch richtig eingesetzt werden. Da verstehe ich wirklich nicht, dass auf den letzten Metern der Ausbau der Fernstraßen beschleunigt wurde, die Nachhaltigkeitsziele abgeschwächt wurden und der Bau von Fahrradstraßen aus dem Gesetz gestrichen wurde. Das finde ich wirklich ein Stück aus dem Tollhaus. ({6}) Wenn Investitionen in die Region kommen, dann ist das gut. Aber zur Wahrheit gehört eben auch: In der Region zeigen sich eben auch die versäumten Investitionen der letzten Jahre und Jahrzehnte. Ich erinnere da beispielsweise an das marode Schienennetz. Also, ein Grund zur Selbstbeweihräucherung ist das tatsächlich nicht. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Caren Lay (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004088, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Zum letzten Satz. – Meine Damen und Herren, es sind in den letzten Jahrzehnten Zehntausende Menschen für die Kohle vertrieben worden, Hunderte Dörfer sind verschwunden, viele davon im sorbischen Siedlungsgebiet. Damit muss Schluss sein. Kein Dorf darf mehr für die Kohle fallen. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Oliver Krischer, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Altmaier, Sie haben ja im Wesentlichen über die Vergangenheit geredet und die Phrasen der Vergangenheit benutzt. Aber eines muss hier richtiggestellt werden: Der Atomausstieg ist nicht erst 2011 beschlossen worden. Er ist 2001 beschlossen worden und von Ihnen 2010 rückgängig gemacht worden. ({0}) Das gehört hier klargestellt. Genau solch einen Fehler wie die Laufzeitverlängerung machen Sie jetzt hier wieder: Sie setzen das Ergebnis der Kohlekommission eben nicht eins zu eins um. Sie nehmen – wie irre ist das denn? – zur Feier des Kohleausstiegs mit Datteln 4 ein neues Kohlekraftwerk in Betrieb. Das ist doch verrückt, meine Damen und Herren. Es kann doch nun wirklich nicht sein, dass man so etwas macht. ({1}) Sie erklären die energiepolitische, die energiewirtschaftliche Notwendigkeit des Tagebaus Garzweiler II zum Kohleausstieg. Da wird ein Tagebau, der eigentlich stillgelegt werden soll, für notwendig erklärt. Die Begründung trauen Sie sich nicht zu sagen; sie findet sich nicht im Gesetz. Sie wollen die Menschen in den letzten fünf Dörfern der Region um Garzweiler herum enteignen und vertreiben. Ich höre mir nicht länger von der CDU/CSU an, wenn sie sich hier über Enteignung echauffiert. Sie sind die Enteignungspartei, wenn es um Braunkohle geht! Das muss hier an dieser Stelle einmal klar gesagt werden! ({2}) So. Das Hauptproblem dieses Kohleausstiegs – das findet sich nirgendwo – ist der fehlende Ausbau der erneuerbaren Energien. ({3}) Sie machen stattdessen diesen Kohleausstieg zu einer Gelddruckmaschine für Konzerne; das muss an dieser Stelle auch mal klar gesagt werden. ({4}) Lieber Matthias Miersch, ich finde es nicht in Ordnung, wenn man sich hierhinstellt und behauptet, das Kommissionsergebnis werde eins zu eins umgesetzt. ({5}) Das hat die Bundeskanzlerin gestern anders gesagt. Sie hatte wenigstens den Mut, zu sagen, dass es nicht eins zu eins umgesetzt wird. ({6}) Es ist ein Schlag ins Gesicht der Wissenschaft und der Umweltbewegung, wenn Sie hier so tun, als ob das tatsächlich umgesetzt würde.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Krischer!

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das ist ein Problem auch für zukünftige Verhandlungen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Krischer, Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das darf nicht sein. Ich danke Ihnen. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Ministerpräsidenten des Freistaats Sachsen, Michael Kretschmer. ({0})

Michael Kretschmer (Gast)

Politiker ID: 11003572

Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als vor zwei Jahren die Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ ins Leben gerufen wurde, war es ein großes Experiment. Menschen aus ganz verschiedenen Bereichen – der Wissenschaft, den Unternehmen und dem Kreis der Mitarbeiter – und mit ganz verschiedenen Interessen, die Vertreter der Regionen und diejenigen, die sich für Umwelt- und Klimaschutz engagieren, trafen zusammen, um einen Konflikt zu klären: Ökonomie versus Ökologie. Es ist ein beeindruckendes Ergebnis erzielt worden. Natürlich treffen am Ende – wir sind keine Räterepublik – der Deutsche Bundestag und der Bundesrat die Entscheidung, aber auf Grundlage dieses Kommissionsergebnisses. ({0}) Man muss sich überlegen: In welchem anderen Land der Welt wäre es bei einem solch gewaltigen Konflikt möglich gewesen, dass man Menschen mit so unterschiedlichen Interessen zusammenbringt, sie sich am Ende einigen und zu einem vernünftigen, tragfähigen Kompromiss kommen? ({1}) Dieser German Geist ist das, was dieses Land ausmacht. Darauf können wir stolz sein, und das sollten wir an diesem Tag auch genau so betonen. ({2}) Was der Kollege Miersch am Anfang der Debatte gesagt hat, ist absolut richtig. Diejenigen, die sich jetzt nicht der Verantwortung stellen, die sich abseits stellen und im Klein-Klein verharren, diejenigen, die die volkswirtschaftlichen und die großen Linien leugnen, leisten keinen guten Beitrag für das gesellschaftliche Klima in diesem Land. ({3}) Ich darf das noch einmal deutlich sagen: An einem solchen Tag, an dem so etwas Großartiges, über Generationen Wirkendes entsteht, ist parteipolitisches Klein-Klein fehl am Platz. Leider war davon in der heutigen Debatte eine ganze Menge zu hören. ({4}) Es sind Menschen, die diesen Erfolg gemacht haben, wie der Vorsitzende der IG BCE, Michael Vassiliadis. Was für eine beeindruckende Leistung! Dieser Mann, der für so viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter steht, die ihre Arbeit in Zukunft verändern werden, stellt sich vor die Mitarbeiter und sagt: Das ist ein gutes Ergebnis. So machen wir das. Lasst uns diesen Weg gemeinsam gehen! – Das sind Vorbilder, meine Damen und Herren. ({5}) Es ist ein Stück weit zynisch und bösartig, wie heute über die Entschädigungszahlungen für die Unternehmen gesprochen wurde. Dieses Geld ist dafür da, dass diejenigen, die jetzt in den Braunkohletagebauen und in den Kraftwerken arbeiten und nicht mehr die Chance haben, in neue Arbeit zu kommen, durch das Anpassungsgeld eine gute, andere Perspektive bekommen. Es ist dafür da, dass sich die vorhandenen Unternehmen weiterentwickeln können, dass aus einem Bergbauunternehmen ein innovatives Unternehmen wird. Und es ist dafür da, dass es anders läuft als in der ehemaligen DDR, dass nicht, wenn der Tagebau zu Ende ist, eine riesige Umweltsünde zurückbleibt. Das Geld, das die Unternehmen bekommen, ist für die Rekultivierung da und wird dringend gebraucht. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Ministerpräsident, der Kollege Krischer würde gerne eine Zwischenfrage stellen. ({0})

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke, Herr Präsident. – Herr Ministerpräsident, Sie haben gerade gesagt, wofür die Unternehmen das Geld bekommen, und dann einen Bezug zum Anpassungsgeld hergestellt. Stimmen Sie mit mir überein, dass die Entschädigungszahlungen an die LEAG in Höhe von 1,75 Milliarden Euro – das bestätigen diverse Gutachten; ich gehe davon aus, dass die Zahl richtig ist – durch nichts gerechtfertigt sind, weil sie im Wesentlichen im Rahmen dessen, was Sie als Kohleausstieg beschließen, Stilllegungsplanungen betreffen, die das Vorgängerunternehmen schon hatte, und bestätigen Sie mir, dass diese 1,75 Milliarden Euro nichts mit dem von Ihnen erwähnten Anpassungsgeld zu tun haben, das separat gezahlt wird und den Beschäftigten richtigerweise zur Verfügung gestellt wird? Halten Sie es für richtig, dass ein Unternehmen wie die LEAG 1,75 Milliarden Euro – ich spitze es einmal zu – für nichts bekommt? Sie haben eben noch gesagt, dass dieses Geld für die Rekultivierung benötigt werde. Ist es nicht Aufgabe der Unternehmen, die jahrzehntelang Bergbau betrieben haben, das selber zu bezahlen, statt aus Steuermitteln Geld für die Rekultivierung zu bekommen?

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Krischer, die Frage ist klar geworden.

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Da bitte ich Sie um eine Klarstellung, Herr Ministerpräsident. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Ministerpräsident.

Not found (Gast)

Herr Krischer, keine Ihrer Fragen kann ich mit Ja und alle muss ich mit Nein beantworten, und zwar deswegen, weil die Unternehmen einen wesentlich verkürzten Zeitraum haben, in dem sie Rückstellungen für die Rekultivierung nicht bilden können. Deswegen: Wenn die Politik möchte, dass die Braunkohleverstromung früher endet, muss sie diesen Beitrag leisten, weil ansonsten Mondlandschaften zurückbleiben und die Rekultivierung nicht gewährleistet werden kann. – Nummer eins. ({0}) Nummer zwei. Mit den Gewinnen, die diese Unternehmen in einem normalen Betrieb gemacht hätten, wäre es ihnen möglich gewesen, in neue Technologien wie Wasserstoff zu investieren. Wenn wir wollen, dass die Arbeitsplätze in diesen Unternehmen erhalten bleiben, müssen wir etwas dafür tun. Deswegen gibt es Entschädigungszahlungen. Wenn wir wollen, wie das in diesem Gesetz geschrieben ist, dass nicht nur der Staat ein Anpassungsgeld zahlt, sondern dass das auch durch Tarifverträge aufgestockt wird, müssen die Unternehmen dieses Geld bekommen. Alles, was Sie mich gefragt haben, trifft leider nicht zu. Ich danke Ihnen sehr für Ihre Fragen und hoffe, dass die Antwort auch bei Ihnen angekommen ist. ({1}) Ich bin dankbar und sage Ihnen das auch im Namen meiner Kollegen Reiner Haseloff, Dietmar Woidke und Armin Laschet. Dieses Parlament hat weitreichende Entscheidungen getroffen. Viele von Ihnen sind von dieser Strukturentwicklung gar nicht unmittelbar betroffen. Trotzdem haben Sie sich dieses große Ziel, diese große Aufgabe zu eigen gemacht. Sie haben geholfen, dass wir in den Bereichen des Straßenbaus und des Schienenbaus vorankommen. Sie haben ein Gesetz gemacht, mit dem es uns möglich ist, in wesentlich kürzerer Frist die Strecken zu bauen. Dafür ein herzliches Dankeschön! Sie haben dafür gesorgt, dass wir die Gelder, die wir miteinander festgelegt haben – 40 Milliarden Euro –, auf einem vernünftigen Weg für die entsprechenden Maßnahmen bekommen, dass auch die Planungssicherheit für die nächsten Jahre gewährleistet ist. Auch das zeigt den deutschen Geist und die Möglichkeit, dass man hier über Parteigrenzen und eigene Interessen hinweg Entscheidungen trifft. Meine Damen und Herren, wie besonders das ist, was wir hier tun, zeigt sich im Hinblick auf unsere Nachbarn. Auf der anderen Seite der Neiße gibt es in Polen ein großes Kraftwerk, einen riesigen Tagebau, der im Jahr 2040 organisch enden wird. Dort gibt es kein Strukturentwicklungsgesetz. Dort gibt es keine Vorsorge. Dort gibt es ganz viele Fragen: Wie soll es weitergehen? – Wir haben das hier anders gemacht. Sie haben in Ihrer Entschließung den Wunsch und den Gedanken aufgenommen, dass der Beihilferahmen für die Kohleregionen in ganz Europa verändert werden soll. Ich bin dankbar dafür. Jetzt beginnt die Arbeit. Viele Dinge liegen vor uns. Wir brauchen neue Ideen. Wir brauchen zupackende Menschen. Die Voraussetzungen haben wir geschaffen. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Claudia Moll, SPD.

Marco Bülow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003512

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Vor zwölf Jahren war Professor Schellnhuber, der renommierte Klimawissenschaftler, Gast im Umweltausschuss hier im Bundestag und erzählte folgenden Witz: Es treffen sich zwei Planeten, einer davon die Erde. Der eine Planet sagt zur Erde: „Du siehst aber schlecht aus. Was ist denn los?“ Da sagt die Erde: „Ja, mir geht es auch schlecht.“ Darauf der andere Planet: „Was hast du denn?“ Darauf die Erde: „Ich habe Homo sapiens.“ Da sagt der andere: „Das ist zwar schlimm, aber geht schnell vorbei.“ ({0}) Damals haben alle im Umweltausschuss herzlich gelacht. Zwölf Jahre danach – viel Stillstand in der Klimaschutzpolitik; wenig ist passiert – dreht sich mir bei dem Witz eigentlich der Magen um. Und das hat nichts mit den Einzelpunkten, über die wir reden, zu tun, sondern damit, dass wir im Klimabereich eigentlich nicht weitergekommen sind, dass wir zwölf Jahre verschenkt haben. Das sind zwölf Jahre, die wir der nächsten Generation schuldig sind, die wir dem Klimaschutz schuldig sind und die wir jetzt auch nicht auf einmal aufholen können. Das ist das große Problem, das wir haben. ({1}) Ich komme aus Dortmund; das ist eine Kohleregion. Meine Eltern und meine Großeltern sind dort geboren. Sie kommen aus dem Kohle- und Stahlbereich. Ich weiß, was Strukturwandel bedeutet, und ich habe großen Respekt vor den Menschen, die in dem Bereich gearbeitet haben, die die Region großgemacht und dafür gesorgt haben, dass zum Beispiel ich die Chance hatte, zu studieren, dass ich die Chance hatte, eine andere Bildung zu erleben. Diesen Respekt werde ich nicht verlieren. Natürlich – da hat auch keiner heute gegengesprochen hier im Haus – sind wir für diese Strukturhilfen und müssen diese Strukturhilfen sein. Trotzdem sage ich ganz klar: Was ist denn passiert? Da sind Konzerne subventioniert worden, als sie aufgebaut worden sind. Sie sind subventioniert worden, als die Kohle- und Atomenergie weitergeführt wurden. Es gab beispielsweise bei der Atomenergie nie wirkliche Entsorgungskonzepte. Und jetzt werden diese Konzerne subventioniert, wenn sie aussteigen, in einem langen Prozess. Genau das geht so nicht. 2038 ist deutlich zu spät. Das ist kein Kompromiss, weil diejenigen, die es am meisten ausbaden müssen, eben gar nicht mitentscheiden konnten. ({2}) Ich sage auch: Es ist einfach nicht in Ordnung, dass eine Kohlekommission von einem ehemaligen Ministerpräsidenten geleitet wird, der dann sozusagen als Lobbyist zur Braunkohle wechselt. Auch das erkennt man zum Beispiel in diesem Kompromiss wieder. Die Steinkohle wird nämlich sozusagen schlechter gestellt als die Braunkohle. ({3}) Darauf geht auch keiner ein. Wer rechtfertigt denn genau diesen Lobbyismus? Ich finde, wir müssen klarere Kante zeigen. Ich finde, wir müssten einen Bürgerrat, eine Bürgerversammlung einberufen, wie es sie in Frankreich gibt, um über dieses Thema zu debattieren. Das ist gesellschaftlich zu wichtig, als dass wir hier eine Ad-hoc-Entscheidung fällen. Mit den Bürgerinnen und Bürgern müssen wir diese Entscheidung fällen. Das wäre der richtige Weg. Bei uns hat man am Ende immer „Glück auf!“ gesagt. Aber heute möchte ich als Letztes bemerken: Ich bin im Übrigen der Meinung, dass der Profitlobbyismus zerstört werden muss, und wir brauchen richtigen Klimaschutz. Danke. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Ulrich Lange, CDU/CSU. ({0})

Ulrich Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004087, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich gehe davon aus, definitiv der letzte Redner zu sein. Gleich vorab: keine Zwischenfragen. ({0}) Ich möchte auch mit keinem Witz beginnen, sondern einfach zunächst Freude und Stolz zum Ausdruck bringen über das, was wir heute hier als gesamtes Paket verabschieden. Bringen wir es doch einmal auf den Punkt: Wir steigen aus der Kohle aus, wir betreiben aktiven Klimaschutz, und wir geben den Menschen in den Regionen mit der Strukturstärkung echte Perspektiven. Also: Freude und Stolz heute an diesem Tag. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Ministerpräsident Kretschmer hat es gerade schon gesagt: Wir haben etwas geschaffen. Wir haben etwas in die Balance gebracht, was am Anfang vielleicht auch ein bisschen aus der Balance geraten war. Natürlich haben Regionen, die betroffen sind, besondere Wünsche, und jeder Ministerpräsident und jeder Landesminister war Lobbyist im positiven Sinne. Denn „Lobby“ ist erst einmal nicht negativ, „Lobby“ heißt, sich auch für jemanden einzusetzen, auch für Menschen einzusetzen, für Menschen in einer Region einzusetzen. Dann war es unsere Aufgabe, das zusammenzubringen, und das ist uns mit dem Strukturstärkungsgesetz gelungen. Ich sage auch ganz ausdrücklich: Das ist uns gelungen, professionell, leise und intensiv. Dafür allen Beteiligten des Prozesses ein Dankeschön! Was meine ich? Was haben wir geschaffen? Wir hatten in der letzten Periode – da gehe ich jetzt insbesondere auf die Verkehrsprojekte ein – über 1 000 Projekte in Deutschland bewertet und priorisiert. Dann haben wir nun neue Wünsche, neue Projekte aus dem Gedanken, die Struktur in den betroffenen Regionen stärken zu wollen und stärken zu müssen. Und genau das haben wir zusammengebracht, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Wir haben 40 weitere Verkehrsprojekte. Aber wir haben es geschafft, dass wir nicht in Konkurrenz zu den anderen zwölf Bundesländern und nicht in Konkurrenz zu all den anderen Regionen in Deutschland kommen. Wir haben durch ein weiteres Maßnahmenvorbereitungsgesetz besser priorisiert. Damit die Menschen auch wirklich daran glauben, dass diese Projekte kommen, damit sie sehen, dass wir tatsächlich etwas umsetzen, haben wir hierin die Planungszeiträume verkürzt. ({3}) Ja, das ist wesentlich; denn wenn ich sage: „In 20 Jahren wird ein Bahnhof vielleicht barrierefrei“, dann sagen die Leute zu mir: Du kannst noch fünf Mal kommen, dazwischen sind acht Wahlen. – Das ist nicht Perspektive, und wenn wir aussteigen, dann müssen wir eine Perspektive für diese Maßnahmen geben. Wir haben die anderen Maßnahmen dem Verkehrs- und dem Haushaltsausschuss noch einmal als Vorlage gegeben. Und wir haben etwas Weiteres geschafft, und das ist wichtig. Bei allem Respekt für den Bundesfinanzminister – ich bedanke mich beim Koalitionspartner – mussten wir das Bundesfinanzministerium schon sehr intensiv davon überzeugen, die Finanzströme zu trennen, damit wir nicht Verschiebebahnhöfe schaffen. Auch das ist uns gelungen. ({4}) Denn jeder von Flensburg bis Lindau muss sich darauf verlassen können, dass Finanzpolitik seriös ist, und das haben wir hier gemacht. Fazit: gute Strukturstärkung, Klimaschutz, Ausstieg aus der Kohle, ein guter Tag für Deutschland. Danke schön. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Damit schließe ich die Aussprache.

Reinhard Houben (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004763, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bitte dann auch um Verständnis: Wenn ich während einer Rede einer Kollegin oder eines Kollegen aufstehe, ist das keine Missachtung des folgenden Beitrags; ich möchte dann nur abstimmen dürfen. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die deutsche Wirtschaft kämpft mit der schwersten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Durch die eingebrochene Nachfrage im In- und Ausland und fehlendes Vertrauen ist eine wirkliche Erholung in weite Ferne gerückt. Es ist nicht nur der Coronavirus, was die deutschen Unternehmen hemmt. Seit Langem krankt Deutschland an einem Übermaß von Regulierung, Bürokratie und ineffizienten Verwaltungsprozessen. ({0}) Bislang war das Übermaß an Bürokratie in erster Linie ein Bremsklotz, den die deutschen Unternehmen durch Qualität und Innovation ausgeglichen haben. Den Luxus, Bürokratie einfach hinzunehmen, haben wir aber in diesen Zeiten nicht mehr. Es ist deswegen allerhöchste Zeit für eine Entbürokratisierungsoffensive. Damit meine ich nicht nur das Alibigesetz Bürokratieentlastungsgesetz III, sondern eine umfassende, tiefgreifende Fastenkur. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, Sie haben es ja selbst formuliert. Ich darf zitieren, was Sie selbst nach Einbringung des Gesetzes Bürokratieentlastung III gesagt haben: Bürokratieabbau bleibt eine Daueraufgabe. Daher wollen die Fraktionen von CDU/CSU und SPD in dieser Wahlperiode mögliche Inhalte für ein weiteres Bürokratieentlastungssetz ausloten. Die Bundesregierung soll hierzu entsprechende Konsultationen … einleiten. Ein Schwerpunkt soll sein, die Bürokratie- und Regulierungslasten für Gründer in der Start- und Wachstumsphase auf ein Mindestmaß zu reduzieren und Genehmigungsverfahren … zu beschleunigen. ({2}) Was ist seitdem passiert? Leider nichts. Dafür ist aber mehr Bürokratie aufgebaut worden. Ich sage da nur mal: Kassenbonpflicht. Aber, meine Damen und Herren, in der Coronakrise kommt noch weitere Bürokratie hinzu. Die temporäre Mehrwertsteuersenkung hat beim Handel und auch bei den Bürgerinnen und Bürgern hauptsächlich Kopfschütteln ausgelöst. Wir stellen uns das einmal anhand eines Joghurts, der statt 1 Euro 97 Cent kostet, bildlich vor. Für die ganz großen Spezialisten: Der Fruchtanteil muss für die 19 Prozent Mehrwertsteuer stimmen. Also, wenn man statt 1 Euro 97 Cent zahlt, gilt: Kauft man 33 Joghurts, dann kann man einen weiteren Joghurt kaufen und hat noch 2 Cent übrig. Ich glaube, das wird die Konjunktur nicht unbedingt retten. ({3}) B2B-Unternehmen zum Beispiel haben überhaupt nichts von der Mehrwertsteuersenkung. Mehrwertsteuer ist ein durchlaufender Posten. Das Einzige, was sie haben, sind erhebliche Kosten bei der Einführung der neuen EDV, und das auch nur für ein halbes Jahr. Sie geben also bei der Einführung einen bestimmten Betrag aus, und um es dann wieder zurückzuändern, geht es genauso wieder zu ihren Lasten. Deswegen brauchen wir ein Bürokratieentlastungsgesetz IV. Wir haben die Forderungen im Antrag aufgeführt: unter anderem kürzere Aufbewahrungsfristen bei Steuerfragen, kürzere Abschreibungsdauer bei digitalen Innovationsgütern, eine „One in, two out“-Regel bei entsprechenden Regelungen und Bürokratieeinführungen, eine vereinfachte Dokumentationspflicht sowie eine Digitalisierung sämtlicher Prozesse der öffentlichen Hand. ({4}) Wir brauchen eine weitere Entschlackung, gerade jetzt in diesen Zeiten. Machen wir uns eines klar: Dieser Bürokratieabbau kostet den Staat eigentlich nichts, hilft aber den Unternehmen sehr. Deswegen sollte gerade in diesen Zeiten nicht nur gelten: „Sozial ist, was Arbeit schafft“, sondern: „Sozial ist auch, was Arbeitsplätze in Deutschland erhält.“ Deswegen: Stimmen Sie unserem Antrag zu! Vielen Dank. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort der Kollege Klaus-Peter Willsch, CDU/CSU. ({0})

Klaus Peter Willsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003264, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Liebe Menschen an Empfangsgeräten jeglicher Art, die Sie uns zuhören und zuschauen! Lieber Herr Houben, vielen Dank für Ihre wohlwollenden Worte zur Arbeit der Mehrheitsfraktionen hier; ({0}) denn Sie haben dankenswerterweise noch einmal geschildert, dass wir, wie zugesagt, das BEG III auf den Weg gebracht haben. Das BEG III hatte ein Entlastungsvolumen von 1,1 Milliarden Euro, oder man muss sagen: „hat“; es wirkt ja jetzt erst. Das war mehr, als die Bürokratieentlastungsgesetze I und II zusammen erbracht haben. Insofern ist es ein gutes Volumen. Wir haben – wie Sie auch richtig sagen – mit unserer Entschließung zum Bürokratieentlastungsgesetz III bereits beschlossen, dass nach dem Bürokratieentlastungsgesetz vor dem nächsten Bürokratieentlastungsgesetz ist ({1}) weil das ein permanenter Prozess ist und wir immer dranbleiben müssen. Ich freue mich über die Unterstützung vonseiten der FDP, dieses Vorhaben entschlossen anzugehen und weiterzuverfolgen. ({2}) Ich will in Erinnerung rufen, was geschehen ist: Wir haben die Digitalisierung des Meldescheins im Hotelgewerbe eingeleitet, ermöglicht; Innenminister Seehofer hat zwischenzeitlich die Umsetzungsverordnung erlassen. Wir haben den gelben Zettel digitalisiert: Wer vom Arzt krankgeschrieben wird, kann sich in Zukunft sofort ins Bett legen und muss nicht erst noch mal zur Post. Wir haben durch das BEG massiv an Maßnahmen zum Bürokratieabbau weitergearbeitet. Ich denke an ein Thema, das Ihnen bei der Formulierung des Antrags offenbar durchgerutscht ist. Wir wollten schon im BEG III die Umsatzgrenze für die Istbesteuerung von 500 000 auf 600 000 Euro anheben. Das haben wir leider nicht mehr hinbekommen. Aber zwischenzeitlich, auch mit Unterstützung unserer Finanzer, ist es gelungen, das an ein anderes Gesetzesvorhaben anzudocken und es im Dezember letzten Jahres zu verabschieden. Schauen Sie mal nach im Gesetz zur Einführung einer Pflicht zur Mitteilung grenzüberschreitender Steuergestaltungen, beschlossen hier am 12. Dezember 2019; dort haben wir das umgesetzt. Insofern können Sie in Ihrem Antrag hinter einer weiteren Forderung einen Haken machen; ist schon erledigt. Das Entscheidende daran ist, dass dadurch mehr Unternehmen erst nach Zahlungseingang umsatzsteuerpflichtig werden und dies nicht bereits im Vorfeld auf der Sollumsatzgrundlage machen müssen. Die Hartnäckigkeit, die wir dort hatten, hat sich ausgezahlt. Es bleibt nach wie vor ein Querschnittsthema, und es bleibt eine Daueraufgabe; dessen sind wir uns als Union und auch in der Koalition bewusst. Dass es beim Vorgehen unterschiedliche Temperamente, unterschiedliche Tempi und unterschiedliche Positionen gibt, das ist völlig normal; das ist ein ständiges Ringen zwischen den Häusern. Sie haben angesprochen, dass die Umsatzsteuersenkung von 19 auf 16 und von 7 auf 5 Prozent – das kann ja kein Mensch in Abrede stellen – auf der einen Seite eine Entlastung ist, auf der anderen Seite aber bürokratischen Einmalaufwand erfordert ({3}) und insofern natürlich auch negativ in die Rechnung hineinmuss. Sie wissen auch, dass hier kompensiert werden muss, wenn zusätzlicher Erfüllungsaufwand hinzukommt, da wir seither nur den jährlichen Erfüllungsaufwand anschauen. Wir sind froh, dass es uns gelungen ist, die Bundesregierung auf unsere Seite zu bekommen und in Zukunft auch den einmaligen Erfüllungsaufwand zu kompensieren oder zumindest in Teilen zu kompensieren. Denn das ist ein wichtiger Punkt, damit nicht an anderen Stellen das, was wir zurückschneiden wollen, wieder neu wuchert. Wir haben die Debatte über das BEG III ergebnisoffen geführt. Wir haben versucht, möglichst viel durchzusetzen. Ich sagte, dass es manchmal unterschiedlich ist, was dann der eine oder der andere Koalitionspartner tut. Aber wir sind entschlossen, diesen Weg weiterzugehen. ({4}) Ich will sagen: Ich habe eigentlich schon gehofft, dass dies im Koalitionsausschuss ausdrücklich noch mal erwähnt würde. Aber dann habe ich mich auch belehren lassen. Ehrlich gesagt, es ist ja richtig: Wir haben durch die gemeinsame Entschließung das schon zum Punkt unserer Agenda gemacht. Deshalb war es nicht mehr nötig, dies in einem Koalitionsausschuss zusätzlich zu bekräftigen. Was wir beschließen, setzen wir um, und so ist jetzt das Wirtschaftsministerium am Loslegen. Das Thema wird im Wege von Konsultationen zwischen den Ressorts angegangen. Deshalb freuen wir uns, dass all das, was wir dort auf den Weg bringen, Ihre wohlwollende Unterstützung findet und Sie uns – wie es auch gut ist, wenn Opposition da ist – gelegentlich treiben, vielleicht noch ein bisschen mutiger zu sein; denn das wünschen wir uns. ({5}) Wir haben als Mittelstands-, als Wirtschaftspolitiker in der Union das Thema „Vorfälligkeit der Sozialversicherungsbeiträge“ heftig kritisiert und hätten uns da etwas anderes gewünscht. ({6}) Aber wenn wir mal ehrlich zueinander sind: Es gibt angesichts der finanziellen Anspannung der Sozialversicherungssysteme in dieser Zeit jeden Tag neue Forderungen, wie lange das Kurzarbeitergeld noch laufen soll. Das jetzt als oberste Priorität hinzustellen – da kann man auch mal einen Moment innehalten, glaube ich. Es gab im Übrigen bei der Anhörung, die es dazu im Ausschuss für Arbeit und Soziales gab, kaum einen Experten, der sich dafür ausgesprochen und dem eine besondere Dringlichkeit beigemessen hätte. Einen Punkt will ich zum Abschluss ansprechen, weil er für mich der Schlüssel zu all dem ist, was wir dort an Möglichkeiten der Digitalisierung und zu hebendem Potenzialen sehen. Das ist das Onlinezugangsgesetz – Stichwort: once only –, das ist notwendig, damit wir wirklich dazu kommen, dass, wenn wir es 2022 umgesetzt haben, alle Verwaltungsleistungen in Deutschland innerhalb eines Portalverbundes auch online angeboten werden, damit es endlich ein Ende hat, dass Sie von dieser Behörde und noch von dieser Behörde immer wieder das Gleiche gefragt werden: Geburtsdatum, Geburtsort, Augenfarbe der Großmutter und was weiß ich, was die da manchmal alles wissen wollen. Es muss gelten, dass man das einmal angibt, die Behörden dann im Verbund darauf zugreifen können und man damit entlastet wird von wirklich unnötiger und quälerischer Bürokratie, die den Menschen kopfschüttelnd zurücklässt. ({7}) Das wollen wir mit dem Onlinezugangsgesetz angehen. Wir sind auf gutem Wege. Wichtig ist dafür, dass das Basisregister für die Unternehmensstammdaten mit einheitlicher Wirtschaftsnummer hier vorangetrieben wird; denn das ist die Voraussetzung der Übertragung des OZG auch in den Bereich der Unternehmen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Willsch.

Klaus Peter Willsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003264, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich sehe, dass es blinkt. – An allen Punkten wird gearbeitet. Ich bedanke mich für Ihre Geduld, Herr Präsident, und freue mich auf die weitere Arbeit an den nächsten Schritten zur Bürokratieentlastung in diesem Land. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Leif-Erik Holm, AfD. ({0})

Leif Erik Holm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004761, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Bürger! Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit Jahren reden wir im Hohen Hause über den Bürokratieabbau. Drei Entlastungsgesetze haben wir schon verabschiedet. Dennoch kommen wir kaum von der Stelle, und das merken auch die Praktiker vor Ort. Ich habe mir einmal die Statistikpflichten angeguckt: Da gibt es viel Interessantes: Investitionserhebung, Erhebung über die Energieverwendung, Erhebung der nichtöffentlichen Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, Erhebung über die Abfallerzeugung, Erhebung der laufenden Aufwendungen für den Umweltschutz und, und, und. Es ist nur eine kleine Auswahl der Meldepflichten, die unsere Unternehmer in diesem Land jeden Monat erfüllen müssen. Kein Wunder, dass Mittelständler Dutzende Mitarbeiter beschäftigen, die quasi allein für den Staat arbeiten. Dabei wollen Unternehmen natürlich vor allem das tun, was sie können: Sie wollen ihre Produkte an den Mann bringen; sie wollen erfolgreich sein und Geld verdienen, was uns dann wiederum allen nützt, weil das Beschäftigung und Wohlstand schafft. ({0}) Ein massiver Abbau von sinnlosen Vorschriften und Nachweispflichten wäre gerade jetzt in der Lockdown-Krise ein ideales Mittel, um unsere Wirtschaft wieder flottzumachen. Es kostet fast nichts und schafft sehr viel neuen Freiraum für unternehmerisches Handeln. Stattdessen senken Sie – Herr Houben hat es schon angesprochen – die Mehrwertsteuer für ein halbes Jahr, was weder den Verbrauchern noch den Unternehmern wirklich hilft. Allein die Umstellungskosten machen jeden Nutzen zunichte. Herr Willsch, Sie fallen nicht nur einmal an, sondern sogar zweimal, und das ist das Problem an der Sache. Das sieht auch der Rechnungshof so, der den Anpassungsaufwand – wörtlich – für „erheblich“ hält, und auch von der Wirkung für die Verbraucher ist er nicht überzeugt, klar. Ob hierdurch der Konsum gesteigert wird, erscheint fraglich. Wieder einmal haben Sie an dieser Stelle nicht zu Ende gedacht. Eine dauerhafte Mehrwertsteuersenkung wäre in der Tat richtig, aber nicht Ihr Halbjahresrohrkrepierer. ({1}) Dreimal haben wir es jetzt versucht mit Bürokratieentlastungsgesetzen; aber jedes Mal blieb die Wirkung überschaubar. Das liegt auch daran, dass gar nicht alles den Weg ins Gesetz findet, was wir ursprünglich dort geplant hatten. Beim BEG III war es ja wieder so: Die Grenze für geringwertige Wirtschaftsgüter, die Aufbewahrungsfristen, die wir verkürzen wollten, ein Verrechnungsmodell bei der Einfuhrumsatzsteuer – ist alles nicht hineingekommen. Es gibt weitere Punkte: Unternehmer warten auf einfachere Dokumentationspflichten beim Mindestlohn, auf zeitsparende – wenigstens zeitsparende! – Onlinedienste im Zusammenspiel mit den Behörden und, und, und. Es bleiben zu viele wichtige Dinge nach wie vor liegen. Und dann kommt ja noch Brüssel hinzu; denn da ist von der Bürokratiebremse überhaupt nichts zu spüren. Bereits die Hälfte der Gesetzgebung kommt ja aus der EU, und wir können überhaupt nichts dagegen tun. Der Aufwand, der durch EU-Regelungen entsteht, steigt immer weiter, liegt aktuell laut Normenkontrollrat bei einer halben Milliarde Euro. Das zeigt wieder einmal, wie schädlich es ist, wenn man das Heft des souveränen Handelns aus der Hand gibt. ({2}) In den vorliegenden Anträgen werden viele richtige Dinge angesprochen, die wir im Ausschuss unbedingt beraten sollten. Die Vorfälligkeit umzustellen, ist, denke ich, ein wirklich wichtiger Schritt. Deswegen haben wir diesen Antrag eingebracht. Die Unternehmer haben unseren Sozialsystemen 2006 geholfen. In dieser Krise ist es Zeit, dass wir den Unternehmern diese Chance zurückgeben für mehr Liquidität; dazu wird Kollege Chrupalla nachher noch sprechen. ({3}) Wir wollen die Start-ups direkt unterstützen, statt ihren Kapitalgeber zu subventionieren. Gerade bei den Gründern müssen wir die viel zu vielen bürokratischen Hürden aus dem Weg räumen. Wir stehen im internationalen Gründerranking auf Platz 125, direkt nach Mali – herzlichen Glückwunsch! Das können wir uns wirklich nicht leisten als Land, das auch in Zukunft innovativ sein will und vor allen Dingen sein muss, um vorne dranzubleiben. ({4}) Der Chef des Normenkontrollrats, Johannes Ludewig, beklagt, dass die Gesetzgebung zu weit weg von der Realität von Unternehmen und Verwaltung sei. Ich finde, das ist ein wirklich entscheidender Punkt. Wir müssen also Gesetzesvorhaben von vornherein anders angehen. Wir müssen zunächst die Ziele definieren und dann mit den Praktikern vor Ort in die Umsetzung gehen und Mittel und Wege ausloten, wie wir bei der Entbürokratisierung wirklich vorankommen. Die Unternehmen brauchen also in diesen Zeiten wieder Hoffnung, dass der bürokratische Wust an Vorschriften und Nachweispflichten endlich mal radikal beschnitten wird. Jetzt, in der Rezession, wäre wirklich der beste Zeitpunkt dafür. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Sabine Poschmann, SPD. ({0})

Sabine Poschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004377, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer! Detox für Deutschlands Bürokratie? Ich muss schon sagen, meine Damen und Herren von der FDP: Das klingt sehr populistisch. ({0}) Denn Detox im gesundheitlichen Sinne ist ja eine Entschlackung des Darms. ({1}) Der Vergleich zur deutschen Wirtschaft hinkt etwas, finde ich. Die FDP impliziert also praktisch mit ihrem Antrag, Bürokratie sei Gift, welches man ausspülen sollte. Wenn das Ihr Ansatz zur Bewältigung unserer Krise ist, na, dann gute Nacht, meine Damen und Herren! ({2}) Man muss sagen: Es gibt ja auch Gründe für Bürokratie. Regeln gibt es nicht zum Spaß der Abgeordneten in diesem Parlament, sondern sie geben Sicherheit. Häufig gab es einen Vorfall, und der Gesetzgeber wurde zum Handeln aufgefordert. Sie sorgen aber auch für Gerechtigkeit; denn es gibt Strafen für die, die sich nicht daran halten; sonst würde es ungleiche Wettbewerbsbedingungen geben. Die FDP macht also die Mottenkiste auf und will die Dokumentationspflichten für den Mindestlohn vereinfachen. Wer hätte das gedacht, meine liebe FDP? ({3}) Übersehen wird dabei, dass fast 2 Millionen Menschen keinen Mindestlohn erhalten, weil sich Unternehmer nicht an die Regeln halten. ({4}) Zudem unterbieten Unternehmer Preise durch die Nichteinhaltung des Mindestlohns. Das kann nicht im Sinne vieler rechtschaffener Unternehmen sein. Eine Reduzierung der Dokumentationspflichten würde beide Probleme eher verschärfen. ({5}) Ich zitiere an dieser Stelle mal aus dem Antrag der FDP: Der Abbau von Bürokratie ist folglich die günstigste aller konjunkturwirksamen Maßnahmen. Im Gegensatz zu staatlichen Investitionen ist er kostenneutral und kann im Ergebnis sowohl den Steuerzahler als auch die Unternehmen entlasten. Da frage ich Sie doch mal: Auf wessen Kosten denn? Bezahlen muss immer einer; das müssen Sie doch im Leben gelernt haben. Entweder ist es, wie in diesem Fall, der Arbeitnehmer, der Verbraucher, der Steuerzahler, oder es geht auf Kosten der Umwelt. ({6}) Wer Bürokratie verteufelt, macht es sich also zu einfach. Regeln sind kein Selbstzweck. Würden Aufsichtsräte und Vorstände von sich aus für eine höhere Frauenquote sorgen, müsste der Staat nicht intervenieren. ({7}) Würden keine Steuern hinterzogen, könnte die Aufbewahrungsfrist für steuerrelevante Unterlagen natürlich verkürzt werden. Würde in bestimmten Bereichen nicht systematisch Verantwortung an Subunternehmer abgegeben, gäbe es vielleicht andere Lösungen hinsichtlich der Nutzung von Werkverträgen und Leiharbeit. So ist das mit vielen Dingen, meine sehr geehrten Damen und Herren. Vorgaben gibt es nicht aus sadistischen Gründen. Deswegen muss man das differenziert betrachten. Nur unnötige Bürokratie kann und muss abgebaut werden. ({8}) Hier, lieber Herr Houben, sind wir seit Längerem dran – das wissen Sie – und haben auch spürbare Erfolge erzielt. Deshalb soll ein Viertes Bürokratieentlastungsgesetz folgen, aber eben nicht auf Kosten der Steuerzahler und der Arbeitnehmer. ({9}) Der Abbau muss natürlich auch Wirkung zeigen. Deswegen wundere ich mich über die Anträge zur Verschiebung der Fälligkeit der Sozialversicherungsbeiträge. Die Debatten und Anhörungen in den vergangenen Jahren haben doch ein recht klares Bild ergeben: Die Maßnahme hätte nicht die positiven Effekte, wie FDP und AfD hier denken. Die Studie, die im FDP-Antrag erwähnt wird, zeigt zudem, dass das aktuelle Verfahren kaum aufwendiger ist als das alte. ({10}) Darüber hinaus haben sich Unternehmen nach 15 Jahren auf die Regelungen eingestellt, und es gab bereits effektive Vereinfachungen. ({11}) Jetzt umzustellen, würde einen hohen einmaligen Aufwand für Unternehmen bedeuten. ({12}) Das halte ich in der aktuellen Krise für keine gute Idee. ({13}) Außerdem würde die Verlegung des Fälligkeitstermins der Sozialversicherungsbeiträge auch die Sozialversicherungskassen stark belasten. Das ist ebenfalls keine gute Idee in der Krise. ({14}) Wir investieren dagegen jetzt in Maßnahmen, die in der Krise direkt und effektiv beim Mittelstand ankommen, beispielsweise durch Überbrückungshilfen, gute Kreditmöglichkeiten, Stundungsmöglichkeiten, Stärkung der Kommunen – das sichert nämlich Aufträge im Mittelstand –, ein erweitertes Kurzarbeitergeld, steuerliche Verlustrückträge – das schafft Liquidität –, günstige Abschreibungsmöglichkeiten, Ausbildungsprämien und, und, und. Das Paket setzt gleichzeitig strukturell auf Nachhaltigkeit und Erneuerung und bringt so den erwarteten Modernisierungsschub. Das sind wichtige Weichenstellungen für Mittelständler, und das ist richtig; denn sie spielen beim Umbau der Wirtschaft eine wichtige Rolle. ({15}) In so einer Phase, meine Damen und Herren, Forderungen aufzustellen, über die wir schon des Öfteren diskutiert haben, macht zum einen die Vorschläge nicht besser und hilft zum anderen auch nicht dabei, die Krise zu überwinden. Richten wir uns doch lieber mit den Maßnahmen im Konjunkturpaket Richtung Zukunft aus. So können wir gemeinsam die Krise überwinden: mit Verstand, sozialer Verantwortung und Optimismus. ({16}) Aus Effizienzgründen beende ich meine Rede jetzt schon etwas eher und wünsche Ihnen und uns eine schöne Sommerpause. Herzlichen Dank. ({17})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. Ich fand das jetzt vorbildlich. ({0}) Nächster Redner ist der Kollege Klaus Ernst, Fraktion Die Linke. ({1})

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die FDP will also Detox für Deutschland. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin mir nicht ganz sicher, ob ihr euch informiert habt, was das eigentlich ist. ({0}) In der Sendung „Quarks“ – das ist ein Wissenschaftsmagazin des WDR – heißt es: „Detox-Kuren sollen den Körper entgiften und reinigen.“ Detox-Anhänger glauben, dass sich sogenannte Schlacken im Körper ablagern, die durch Detox-Kuren entfernt werden. Und nun das Zitat aus „Quarks“ – hören Sie zu –: Solche „Schlacken“ gibt es im Körper aber nicht und eine entgiftende Wirkung von Detox-Kuren ist wissenschaftlich nicht nachgewiesen. Es heißt dann weiter: Die Verbraucherzentralen warnen vor derartigen Produkten. Sie sind kostspielig und der Begriff „Detox“ werde rein zu Werbezwecken verwendet. ({1}) Könnte es sein, dass Sie das wollten? Könnte es sein, dass das auch Ihre Absicht ist, meine Damen und Herren? ({2}) Vielleicht haben Sie das mit Botox verwechselt. Vorsicht: Auch das ist ein Gift! Nicht einfach was anderes nehmen! ({3}) Aber bleiben wir bei Ihrem Antrag. Unklar bleibt auch jetzt, was Sie eigentlich konkret unter Bürokratie verstehen und was Sie alles streichen wollen. In dem vorliegenden Antrag fordern Sie: bis Ende 2021 keine neuen Belastungen durch Informationspflichten. – Jetzt frage ich Sie: Gilt das dann auch im Zusammenhang mit Corona? Welche Meldepflichten wollen Sie, zum Beispiel im Zusammenhang mit Corona, abschaffen oder ändern? Wenn es wenigstens ein wenig konkreter wäre! Aber an diesem Beispiel, an der allgemeinen Forderung „keine neuen Belastungen“, merken Sie doch, dass das vollkommen daneben ist. So allgemein, wie Sie das formulieren, ist es auch gefährlich, wie man bei Corona sieht. Was Sie eigentlich wollen – und das ist Ihr Ladenhüter; auf den gehe ich jetzt auch noch mal ein –, ist, Dokumentationspflichten beim Mindestlohn zu vereinfachen. Schon im April 2019 hat hier an dieser Stelle Ihr Kollege Kemmerich, den viele von Ihnen jetzt nicht mehr kennen wollen, ({4}) – zu Recht – Folgendes dazu gesagt: Er hat sich nämlich darüber echauffiert, dass Beginn, Dauer und Ende der Arbeitszeit zu erfassen sind; das hielt er für völlig überbordet und sagte: Alle Unternehmen unterliegen der vollen Kontrolle. – Das möchte er natürlich nicht. Bedeutet denn ein Abbau von Kontrollen wirklich weniger Bürokratie? Ist denn nicht gerade jetzt angesichts der Situation in der Fleischwirtschaft deutlich geworden, dass wir mehr Kontrollen bräuchten? ({5}) Und damit natürlich ein Stück weit mehr Bürokratie, so bedauerlich das ist. Darüber, ob es Quatsch ist, kann man diskutieren. Aber Sie sagen ja nicht, dass es Quatsch ist, sondern Sie reden ganz allgemein von einem Abbau von Bürokratie. Was würde das denn bedeuten, wenn wir jetzt noch weniger Kontrollen in der Fleischwirtschaft hätten, als wir schon haben? Das ist Ihr Vorschlag. ({6}) Meine Damen und Herren, zum nächsten Punkt: Ihre Argumente. Sie sagen, wir würden immer alle unter Generalverdacht stellen, weil wir bestimmte Regeln machen. – Stellen Sie sich mal vor, wir hätten keine Regeln im Straßenverkehr. Dann würden selbst Sie sich nicht mehr trauen, Auto zu fahren, Herr Houben. Das ist Bürokratie. Ein Blitzer bedeutet Bürokratie, nur damit wir uns das mal vorstellen. Regeln sind notwendig für die Sicherheit, auch im Straßenverkehr, meine Damen und Herren. ({7}) Oder nehmen wir die Gastronomie. Wenn Sie, Herr Houben, Ihren Parteifreund Herrn Theurer besuchen und mit ihm Trollinger trinken würden, würden Sie vielleicht ein Viertele – das gibt es in Baden-Württemberg – oder auch zwei, drei oder vier, vielleicht sogar fünf oder sechs trinken. Aber spätestens dann werden Sie merken: Es ist gut, wenn jemand da ist, der notiert hat, was Sie trinken, weil Sie selber das vielleicht gar nicht mehr wissen. ({8}) Ist das dann Bürokratie, Herr Houben? Nein, das ist keine Bürokratie, sondern das ist sinnvoll, damit Sie nicht beschissen werden. ({9}) Genau aus demselben Grund wollen wir, dass auch die Kollegin oder der Kollege, der Ihnen den Wein serviert hat, aufschreiben darf, wie lange er gearbeitet hat – von wann bis wann – und wie viel Pause er hatte: damit er nicht beschissen wird. ({10}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir könnten jetzt noch viel über das reden, was Sie wollen. Umweltauflagen sind für Sie Bürokratie. Ich zitiere aus einer Rede von 2019: Statistiken, Achtung von Menschenrechten, steht da drin, ist für Sie Bürokratie. – Was heißt das eigentlich? „Achtung von Menschenrechten ist Bürokratie“ würde zum Beispiel bedeuten, dass alle Regelungen, die wir machen, weil Frauen gleichberechtigt sind und es keine Diskriminierung mehr geben soll, für Sie Bürokratie sind. Diese Regelungen sind für Sie Bürokratie. Was sagen denn eigentlich Ihre Frauen dazu? So viele sind heute natürlich nicht da. ({11}) Da ist ja selbst die CSU weiter. Der Söder hat es wenigstens probiert und ist am Parteitag gescheitert. Sie wollen die Regelungen wieder abbauen. Mein Gott! Wirklich daneben. ({12}) Aus Zeitgründen, meine Damen und Herren, nur noch eine kurze Bemerkung. Sie sagen, Sie wollen Bürokratie abbauen, damit die Unternehmen wieder investieren. Dazu nur ein paar Zahlen: 2019 betrugen die Gewinne der nichtfinanziellen Kapitalgesellschaften 473 Milliarden Euro. Die Nettoinvestitionen betrugen 110 Milliarden Euro, also ein Viertel davon. Die hätten also 75 Prozent mehr investieren können, als sie getan haben. Glauben Sie tatsächlich, dass diese Kapitalgesellschaften die Peanuts brauchen, die Sie ihnen durch irgendeinen Bürokratieabbau geben würden? Wir wären schon lange hin in Deutschland, wenn es so wäre, Herr Houben. ({13}) Deshalb sage ich Ihnen: Auch Ihre Forderung „One in, two out“ ist vollkommen daneben. Immer, wenn es ein neues Gesetz gibt, sollen zwei abgebaut werden. Das führt dazu, dass wir irgendwann keine Gesetze mehr haben. Dann haben wir auch keinen Bundestag mehr. Dann brauchen wir aber auch die FDP nicht mehr. ({14}) Meine Damen und Herren, zum Schluss zum Nachdenken für die Sommerpause ein Zitat von Rousseau. Er sagte – das ist jetzt schwer zu verstehen; ich gebe es zu –: „Zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit.“

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Denken Sie mal darüber nach! Wenn Sie Hilfe brauchen, rufen Sie mich an! Ich danke Ihnen fürs Zuhören. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank, Herr Kollege.

Claudia Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004830, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! „Detox“, „Entschlacken“, „Mittelstandsbauch“: Das klingt ein bisschen so, als ob die FDP auf einem Gesundheitstrip wäre und sich mit dem Thema Abspecken beschäftigt. Wenn man aber in Ihren Antrag guckt, dann muss man feststellen: Es sind doch nur alte Pillen neu verpackt, die Sie hier präsentieren – es ist schon angesprochen worden –: die Mindestlohndokumentation und – nicht ganz direkt, aber indirekt mit dabei – die Aufweichung der Höchstarbeitszeiten. Ganz ehrlich: Gesund sind diese Rezepte nicht. ({0}) Kommen wir zu Ihrem Antrag mit dem Titel „Unternehmen schnell und effizient entlasten – Fälligkeit von Sozialversicherungsbeiträgen wieder in den Folgemonat verlegen“. Auch das ist nichts Neues. Es ist schon angesprochen worden: Im September 2018 – damals noch unter der Federführung von Herrn Kemmerich – haben Sie vorgeschlagen, das Fälligkeitsdatum der Sozialversicherungsbeiträge wieder nach hinten zu verschieben, ohne – das war Ihnen ganz wichtig, und das ist es auch – infolgedessen die Sozialversicherungsbeiträge zu erhöhen. Dazu gab es eine Anhörung, in der sehr deutlich wurde: Das kann nicht funktionieren; denn gegen Finanzierungslücken gibt es schlicht und ergreifend keine Pillen. Wahrscheinlich sagen Sie sich jetzt: Na ja, wegen Corona haben wir sowieso überall Lücken. Die Anhörung und Herr Kemmerich sind möglicherweise vergessen. Schlagen wir das einfach noch mal vor – es klingt gut –, egal ob es funktioniert. Diesmal schlagen Sie vor: Dann könnte ja der Bund den Sozialkassen das Geld leihen. – Sie vergessen aber, zu sagen, wie hoch der Betrag wäre: 28 Milliarden Euro würde das kosten. 28 Milliarden Euro genau in dieser Phase! Das ist Ihnen wahrscheinlich auch bewusst; denn Sie haben es nur als Prüfauftrag in den Antrag geschrieben: „unter Berücksichtigung der im Haushalt zur Verfügung stehenden Mittel“. Das heißt, es ist Ihnen eigentlich bewusst, dass das mittelfristig überhaupt nicht umsetzbar ist. Sie wollten es trotzdem erwähnen, weil es nett klingt. Sie wollen es auch nicht für alle machen, sondern das nur als Option anbieten; denn – auch das haben Sie scheinbar neu erkannt – das ist ja ein Umstellungsaufwand, das heißt ein Bürokratieaufwand. Mehr Bürokratie wäre das, und das wäre momentan falsch. Denn Sie kritisieren diesen Umstellungsaufwand ja in Bezug auf die Umsetzung der Mehrwertsteuersenkung; das ist auch vollkommen richtig. Nur, Sie haben vor zwei Wochen einen Antrag gestellt, der lautet: „Unternehmen schnell und effizient entlasten – Ist-Versteuerung als bundesweiten Standard setzen“. Da bieten Sie das nicht als Option an. Da finden Sie einen entsprechenden Umstellungsaufwand zum jetzigen Zeitpunkt vollkommen richtig. An dieser Stelle fordern Sie mehr Bürokratie, während Sie das in dem jetzigen Antrag nicht mal mehr erwähnen. Ich frage mich: Wie gut stimmen Sie eigentlich in der Fraktion Ihre Anträge untereinander ab? Wir hingegen haben gefordert, dass die Möglichkeit – die Betonung liegt auf Möglichkeit – zur Istbesteuerung ausgeweitet wird. Das heißt, die Forderung an sich finden wir richtig. ({1}) Wir fordern es als Möglichkeit für bis zu 2 Millionen Euro Umsatz. Das wäre aber freiwillig. Die Unternehmen könnten also bestimmen, wann sie diese Umstellung vornehmen. Das heißt, sie könnten auch bestimmen, wann sie diesen Mehraufwand an der Stelle hätten. Meine Herren und Damen von der FDP, wir sind uns ja einig: Das Thema Bürokratieabbau ist wichtig. – Es ist aber zu wichtig, um an dieser Stelle heiße Luft zu produzieren. ({2}) Wir sind uns ja bei vielen Kritikpunkten einig. Beim Thema „geringwertige Wirtschaftsgüter“ fordern wir die Hochsetzung der Abschreibungsgrenze auf 1 000 Euro unisono, glaube ich, seit Jahren gemeinsam. Das ist auch vollkommen richtig, wird aber vom Wirtschaftsministerium schlicht und ergreifend nicht umgesetzt. Dabei wäre genau das eine Entlastung insbesondere für kleine und kleinste Unternehmen. Aber man muss ganz klar sagen: Gerade die kleinen Unternehmen sind nicht im Blick dieser Bundesregierung. Das zeigen Sie in den letzten Monaten jeden Tag aufs Neue. ({3}) Denn die Bundesregierung erweist den Gründerinnen und Solo-Selbstständigen jeden Tag einen Bärendienst, und sie werden jedes Mal mit zusätzlicher Bürokratie belastet. Denn die Beantragung der Soforthilfen ist für diese Gruppen kompliziert. Sie können diese Hilfen zwar für Ihre Betriebskosten beantragen, aber für die Lebenshaltungskosten sollen sie gefälligst zu einem anderen Amt laufen, sie sollen ALG II beantragen. Das ist viel bürokratischer Aufwand. Das ist eine Belastung der Verwaltung; das ist eine Belastung der Selbstständigen. Es wäre so einfach, es zu ermöglichen – das zeigt das Beispiel Baden-Württemberg –, einen Betrag für die Lebenshaltungskosten aus der Soforthilfe zu entnehmen. 1 180 Euro: Das ist nicht aus der Luft gegriffen; das ist der Pfändungsfreibetrag. Das wäre einfacher, das wäre unbürokratischer, und es wäre im Übrigen auch nicht viel teurer. ({4}) Aber nein. Diesen Bürokratieabbau will die Bundesregierung an dieser Stelle nicht. Es scheint eher, als würde man auf Rückzahlungen bauen. Denn ganz zu Anfang haben es alle so verstanden, als ob das echte Soforthilfen für Solo-Selbstständige sind. Die Länder haben das so verstanden. Es war zum Teil anfangs möglich, dies zu beantragen. Jetzt gibt es Streit zwischen den Ländern und der Bundesregierung in Bezug auf die Rückforderung. Ganz ehrlich: Wenn Sie Bürokratieentlastung wollen – und das habe ich in den Reden der Kollegen von der CDU/CSU durchaus gehört –, dann entlasten Sie doch an dieser Stelle. Entlasten Sie die Prüfstellen! Entlasten Sie vor allen Dingen auch die Jobcenter! Werden Sie bei der Ausgestaltung der Soforthilfen an dieser Stelle aktiv! Das wäre echter Bürokratieabbau. ({5}) Einen Punkt möchte ich noch ansprechen. Ich war ehrlich gesagt ein bisschen enttäuscht, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP. Wir hätten gerne unseren Antrag zu Hilfen für die Solo-Selbstständigen hier mit dazugestellt. Das haben Sie abgelehnt. Das bedaure ich sehr. Gerade bei diesem Thema wäre ein Schulterschluss derer, die dieses Thema vorantreiben, die hier Unterstützung wollen, wichtig gewesen. Denn wir sind uns doch einig: Die Bundesregierung muss an dieser Stelle endlich ernsthaft zuhören: den Tausenden verzweifelten Betroffenen, die nicht wahrgenommen werden, die dringlichst auf diesen Bürokratieabbau, auf diese Unterstützung warten. Das wäre der schnellste und einfachste Bürokratieabbau. Vielen Dank. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. Ich unterbreche kurz die Aussprache und komme zurück zu Tagesordnungspunkt 22 b. Die Zeit für die namentliche Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist gleich vorbei. Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? – Das ist offensichtlich nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben. Wir kommen zurück zur Aussprache zu Tagesordnungspunkt 23. Als nächster Redner hat der Kollege Bernhard Loos, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. ({0})

Bernhard Loos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004806, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe FDP, es hat eine Zeit gegeben, da habe ich ein bisschen mehr von der FDP erwartet. Es kommt mir angesichts Ihres Antrags ein bisschen so vor, als ob Ihnen nicht viel anderes eingefallen ist, als das Thema Bürokratieabbau wieder nach oben zu bringen – ein Thema, über das wir ohne Zweifel permanent und pausenlos Diskussionen führen könnten. Aber gerade in der Zeit, in der wir jetzt leben, und angesichts der Herausforderungen, die wir in den nächsten Wochen haben werden, haben wir eigentlich erwartet, dass zu Wirtschaftsthemen etwas anderes kommt. Aber zunächst zurück zum Thema Bürokratieabbau. Ich möchte auf meinen Vorredner, den lieben Kollegen Ernst, eingehen und sagen: Ich habe ein bisschen das Gefühl gehabt, dass Sie verwechselt haben, ob es um Regeln geht oder um Bürokratie. Natürlich braucht jeder Staat und jedes Gemeinwesen Regeln. Aber bei Bürokratie geht es um Regeln, die man eigentlich nicht braucht, die eigentlich überflüssig sind, ({0}) die insbesondere für die Bürger, die Menschen im Land, und für die kleinen und mittelständischen Unternehmen nicht nur überflüssig, sondern manchmal nicht erträglich sind. Viele von uns wissen – darüber muss man gar nicht lange nachdenken –, warum es den Bäcker, den Metzger und den Handwerker X nicht mehr gibt. Ganz einfach: Bürokratieauflagen haben nicht nur mit dem Können zu tun, sondern dabei geht es auch um Daten und Zahlen, und das können diese Unternehmen in der Regel nicht mehr leisten. Deshalb verarmen wir auch da, beim Kulturgut kleine und mittelständische Unternehmen. Mit dem Bürokratieentlastungsgesetz III haben wir natürlich schon einiges beschlossen, aber auch ich bin nicht sehr zufrieden damit. ({1}) Ich möchte jetzt nicht den Eindruck erwecken, dass ich dieses Thema leichtnehme; auch ich bin ein großer Kämpfer dafür, dass wir Bürokratie abbauen. Wir haben gerade in der Coronakrise gesehen, wie wichtig es ist, dass eine funktionierende Staatsverwaltung in Bund, Ländern und Kommunen zum Wohle der Bürger leistungsfähig arbeitet. Aber man konnte auch sehen, was passiert, wenn man nicht bürokratisch agiert, zum Beispiel bei der Ausreichung von Hilfsmitteln. Da haben wir, glaube ich, von der Berliner Landesregierung viel lernen können. Eine reine Abschaffung der Bürokratie macht also keinen Sinn. Natürlich wollen auch wir mehr Bürokratieabbau. Wir von der CSU haben verschiedene Vorschläge gemacht wie die „Steuererklärung auf einen Klick“. Das heißt, die Steuererklärung ist bereits ausgefüllt, der Steuerpflichtige muss nur noch schauen, ob die Daten stimmen – und dann raus damit. Das würde große Erleichterung bringen. Im Unternehmensbereich machen wir uns Gedanken darüber, die Prozesse der Finanzverwaltung dahin gehend zu überprüfen, wie wir von der Papierform in die Digitalform wechseln können. Natürlich ist klar: Wir brauchen ein Bürokratieentlastungsgesetz IV. Das allein wird es aber nicht sein. Dazu gehört aus unserer Sicht die Verkürzung der Aufbewahrungsfristen. Zu diesem Thema ist hier gerade von meiner Kollegin Müller etwas ein bisschen locker dahergesagt worden. Aufbewahrungspflichten bedeuten ja nicht nur, dass man dadurch etwas zu tun hat, sondern das kostet auch Geld. Wir sind sehr wohl dafür, das Handels- und das Steuerrecht dahin gehend zu ändern, dass man die Aufbewahrungszeiten von zehn auf fünf Jahre reduziert. Die Anhebung der Grenze der Sofortabschreibung für geringwertige Wirtschaftsgüter – auch das hat die Kollegin Müller angesprochen – von 800 auf 1 000 Euro ist auch eine Selbstverständlichkeit. Das fordern wir natürlich auch stark. Wir wollen auch eine Initiative zur Unternehmensdigitalisierung machen und dafür zum Beispiel eine 50-prozentige Sonder-AfA auf Digitalinvestitionen durchsetzen. Wenn wir die Kräfte unserer Wirtschaft entfesseln wollen, dann brauchen wir einen Belastungsstopp. Ideen wie eine Reform der Erbschaftsteuer oder eine Wiedereinführung der Vermögensteuer lehnen wir natürlich grundsätzlich ab. Aber wir brauchen die Entlastung der kleinen und mittelständischen Einkommen. Auch brauchen wir die Modernisierung der Unternehmensbesteuerung und ein Unternehmensstärkungsgesetz; denn international agierende Unternehmen benötigen ein international wettbewerbsfähiges Steuerrecht, und Deutschland ist da im OECD-Vergleich mittlerweile wirklich zu einem Hochsteuerland geworden. Wir möchten weiter natürlich auch eine Absenkung der Ertragsteuerbelastung für Unternehmen auf 25 Prozent , um Spielräume für notwendige Investitionen in Digitalisierung und Innovationen zu schaffen. Kommen wir noch kurz zur Vorfälligkeit der Sozialversicherungsbeiträge. Ich als Unternehmer fordere natürlich auch immer wieder eine Verlegung, aber man muss auch ein bisschen die Relationen im Auge haben. Der Antrag der FDP ist zwar ein Zweitverwertungsantrag, aber ich denke, er ist nicht völlig unberechtigt. Wir hatten am 24. September 2018 eine Anhörung im Ausschuss für Arbeit und Soziales dazu; sie wurde auch schon erwähnt. Das Ergebnis war, dass wir, wenn wir zu der alten Regelung zurückkommen würden, eine Entlastung bei den Unternehmen im kleineren Millionenbetrag hätten. Auch das zählt natürlich, bitte nicht missverstehen; aber auch eine Umstellung, also die Rückumstellung, würde die Wirtschaft und die Verwaltung belasten, und bei den Sozialversicherungsträgern würde ein einmaliger Einnahmeausfall von über 28 Milliarden Euro entstehen. Da sind wir uns doch, glaube ich, auch alle einig, dass das aller Voraussicht nach zu einer Erhöhung der Beitragssätze führen würde und es dadurch zu zusätzlichen Belastungen der Unternehmen kommen würde. Meine sehr verehrten Kollegen, wir sehen, dass jetzt die Zeit des Handelns ist. Die Bundesregierung handelt. Unser Bundesminister liefert ab. Wir brauchen dazu weder Detox noch Wirtschaftsentfesselungskünstler. Wir von der Union machen ganz einfach eine solide Wirtschaftspolitik. Ich danke Ihnen. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Loos. – Nächster Redner ist der Kollege Tino Chrupalla, AfD-Fraktion. ({0})

Tino Chrupalla (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004695, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Deutschlands Wirtschaft hat schwere Monate hinter sich, und sie hat schwere Monate und Jahre vor sich. Zwar ist es richtig, dass wir nun klassische Stabilisierungspolitik betreiben müssen, um die Wirtschaft wieder auf Kurs zu bringen und die Unternehmen aus ihrer schwierigen Lage herauszuholen, doch die Bundesregierung scheint in ihrer Wirtschaftswerkstatt vor allem ein Werkzeug zu haben, nämlich das Geld deutscher Steuerzahler und künftiger Generationen. ({0}) So werden jetzt Rekordschulden in Höhe von 218 Milliarden Euro aufgenommen, um ein riesiges Konjunkturpaket durchzupeitschen, das leider die ganz falschen Schwerpunkte setzt und bestimmt auch kein Kracher wird, sondern eher ein Rohrkrepierer. ({1}) Was wir brauchen, ist keine Politik der weiteren Belastung; wir brauchen eine Politik der Entlastung. ({2}) Unter dem Stichwort „Bürokratieabbau“ wäre da noch einiges machbar gewesen. Vor allem Selbstständigen, kleinen und mittelständischen Unternehmen, die derzeit knapp bei Kasse sind, könnte man mit relativ geringem Aufwand unter die Arme greifen. Genau da setzt unser Antrag an, übrigens ohne tief in den Steuersack zu greifen, verehrte Bundesregierung. Derzeit ist es so, dass Arbeitgeber verpflichtet sind, die Sozialversicherungsbeiträge ihrer Arbeitnehmer schon im laufenden Monat abzuführen, auch wenn noch gar nicht klar ist, wie viel diese arbeiten und wie hoch die Sozialversicherungsbeiträge tatsächlich sein werden. Jede Lohnabrechnung muss also zweimal bearbeitet werden. Frau Poschmann, Sie sprachen davon, es wäre kein bürokratischer Aufwand. Für Betriebe ohne große Personalabteilung ist das ein weiterer unnötiger Arbeitsschritt, für den Kapazitäten in der Regel überhaupt nicht vorhanden sind. ({3}) Lassen Sie mich das sagen: Als Handwerksmeister weiß ich sehr wohl, dass man diese Zeit wirklich sinnvoller nutzen kann als mit diesem Papierkram. Doch nicht nur das: Vor allem raubt die Vorfälligkeitsregelung den Unternehmen die Liquidität. Angesichts der Zusatzbelastung durch Corona ist das ein wirklich skandalöser Zustand. Das ist ja gerade so, als wollten Sie es den kleinen und mittleren Unternehmen absichtlich schwer machen, zu wachsen und Erfolg zu haben. 2006 mag diese Praxis angesichts der leeren Sozialkassen und der stabilen Wirtschaftslage noch vertretbar gewesen sein. Fehlende Liquidität in den Staatskassen wurde von den Unternehmen seitdem schlicht ausgeborgt – „vorübergehend“, so hieß es damals, liebe SPD. Doch der alte und bewährte Zustand wurde nie wiederhergestellt – ein absolutes Unding angesichts der aktuellen Situation, die sich spiegelbildlich zum Jahr 2006 verhält. ({4}) Deshalb sieht unser Antrag vor, zur alten Regelung zurückzukehren und das Fälligkeitsdatum der Beiträge in den Folgemonat zu verlegen. Stimmen Sie unserem Antrag zu. Kehren wir zurück zur alten Regelung. Geben wir den Unternehmen wieder Luft zum Atmen. Ersparen wir ihnen unnötige Arbeitsschritte. Geben wir ihnen die Zeit für ihre Geschäfte zurück. Beenden wir diesen Bürokratieirrsinn. Es wäre wenig Aufwand mit großer Wirkung. Vielen Dank. ({5})

Falko Mohrs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004824, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Die ganze Woche debattieren wir hier in diesem Raum und genau an dieser Stelle das Konjunkturpaket und das, was wir als Bundesregierung, als Bundestag auf den Weg bringen, um die Wirtschaft nach vorne zu bringen in wirklich verdammt schwierigen Zeiten im ganzen Land. Das ist die Debatte, die seit diesem Montag – sogar in einer Sondersitzung am Montag – genau hier geführt wird. Ich glaube, die richtige Antwort, wenn man die Wirtschaft in einer schwierigen Situation nach vorne bringen will, ist, dass man Konjunkturprogramme auflegt, die der Wirtschaft auch wirklich helfen. Wenn Sie, meine Damen und Herren von der FDP und AfD, hier was hätten beitragen wollen, dann hätten Sie doch einfach genau diese Vorhaben mit unterstützen können. Denn das, was Sie hier als Detox, als Entgiftung – wir haben schon einiges darüber gehört – verkaufen, ist doch in Wahrheit ein Konjunkturprogramm für Sozialabbau. Das, was wir in dieser Woche hier gemacht haben, ist ein Konjunkturprogramm für die Wirtschaft in unserem Land. Das ist unsere Verantwortung für die Wirtschaft und das Soziale, und genau dieser Verantwortung werden wir hier gerecht. ({0}) Wir haben mit unserem Konjunkturprogramm eine deutliche Entlastung der Kommunen auf den Weg gebracht. Die Kommunen tragen 60 Prozent der öffentlichen Investitionen in unserem Land. Sie sind also dafür verantwortlich, dass die öffentliche Daseinsvorsorge für die Menschen vor Ort funktioniert. Wenn wir eine Entlastung der Kommunen sicherstellen, sowohl kurzfristig über die Kompensation von Gewerbesteuerausfällen als auch langfristig, dann sorgen wir dafür, dass die öffentliche Hand vor Ort investiert. Das schafft Arbeitsplätze und Aufträge für den Mittelstand und für das Handwerk. Das ist wirklich eine gesellschaftlich gute Konjunkturpolitik, die wir hier zu verantworten haben. ({1}) Dazu kommen Entlastungen für Alleinerziehende. Dazu kommt der Familienbonus in Höhe von 300 Euro pro Kind. Damit wird Kaufkraft gestärkt. Das ist der richtige Schwerpunkt. Dazu investieren wir in Technologien der Zukunft. Das heißt, wir machen das Richtige: Wir machen etwas, was kurzfristig die Kaufkraft stärkt und die Konjunktur ankurbelt, und wir nehmen die richtigen Weichenstellungen für die nächsten Jahre und Jahrzehnte vor. Ja, ich verstehe, Kolleginnen und Kollegen von der FDP, das ist nicht Ihr Verständnis von Wirtschafts- und Konjunkturpolitik. Sie wollen eine Detox-Tour. Sie wollen hier also die Vergiftung durch den Abbau sozialer Sicherung vorantreiben. Wir haben genug darüber gehört: Mindestlohn, Dokumentationen wieder abschaffen – all die Nummern, die wir von Ihnen kennen, immer garniert mit irgendwelchen Privatisierungsfantasien hinsichtlich Bahn, Post, Telekom. Meine Damen und Herren, es ist gut, dass Sie nicht auf dieser Regierungsbank sitzen. Ich hoffe, dass das lange so bleibt. Das wäre nämlich Gift; das wäre toxisch für unser Land und unsere Wirtschaft. ({2}) Wenn wir über Bürokratieentlastung sprechen – wir haben das gehört –, muss ich sagen: Wir haben mit dem letzten Bürokratieentlastungsgesetz die Unternehmen um Bürokratiekosten von über 1 Milliarde Euro entlastet, und das, ohne dass wir sozialen Kahlschlag betrieben haben. Das, meine Damen und Herren, ist verantwortlich. Sie als AfD tun mit Ihren Anträgen so, als ob Sie jetzt das Herz für die Start-ups in Deutschland entdeckt hätten. ({3}) Ich will Ihnen ja gar nicht verübeln, dass Sie mir vielleicht nicht glauben, wenn ich Ihnen was vorhalte. Aber dann hören Sie doch vielleicht mal auf den Bundesverband Deutsche Startups. Der hat nämlich vor den Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen eine Kampagne gestartet, bei der es hieß: „In einem Land mit AfD-Regierung würde ich kein Startup gründen!“ Das war die Kampagne. Jetzt glauben Sie, dass Sie irgendeine richtige Idee für Start-ups in diesem Land haben. Sie fordern, dass Deutsch die Sprache ist, die alle sprechen müssen. Dabei sind die Start-ups doch genau auf die kreativen und innovativen Kräfte aus dem Ausland angewiesen. ({4}) Das ist Ihre schizophrene Politik, die Sie hier probieren voranzutreiben. Es ist gut, dass nicht mal die Start-ups selber darauf hineinfallen. Vielleicht kriegen Sie das alles auch gar nicht mit, weil Sie zu den Veranstaltungen gar nicht eingeladen werden. Florian Nöll hat nämlich öffentlich bekannt gegeben, dass der Bundesverband Deutsche Startups und die Start-ups für genau all das stehen, wofür die AfD nicht steht. Deswegen werden Sie nicht eingeladen. Vielleicht ist Ihnen das noch nicht aufgefallen. Es ist aber auch gut so. Ich hoffe, das bleibt auch dabei. Wir brauchen Sie weder hier im Parlament noch auf den Veranstaltungen des Bundesverbands Deutsche Startups, meine Damen und Herren. ({5}) Zu guter Letzt – ich habe es gesagt –: Tragen Sie doch einfach das Konjunkturpaket mit. Dann sorgen Sie für Kaufkraft. Sie sorgen für Entlastung für Familien und Alleinerziehende. Das sind die richtigen Impulse. Ich danke, meine Damen und Herren. Glück auf! ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Bevor ich den nächsten Redner aufrufe, weise ich noch mal darauf hin, dass wir nach diesem Tagesordnungspunkt zu Tagesordnungspunkt 22 zurückkehren und weitere Abstimmungen durchführen. Das ist vielleicht für die Parlamentarischen Geschäftsführer ganz wichtig. Wir haben noch weitere Abstimmungen zum Kohleausstiegsgesetz. Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Manfred Todtenhausen, FDP-Fraktion. ({0})

Manfred Todtenhausen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004222, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Dieser Antrag kommt ja nicht von ungefähr. Der Kollege Carsten Linnemann hat am 23. April dieses Jahres zur Bekämpfung der wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise hier im Plenum gesagt – ich zitiere ihn –: Wir müssen akut helfen. Dabei geht es vor allen Dingen um Liquidität. ... Wir müssen daneben die Sozialversicherungsbeiträge länger stunden ... Auch die Abschaffung der Vorfälligkeit der Sozialversicherungsbeiträge ist jetzt, denke ich, ein zielgerichtetes Instrument, um der Wirtschaft zu helfen. ({0}) Das hat nicht nur er gesagt, sondern das haben auch einige andere CDU-Kollegen gesagt. Mit dem, was Sie, liebe Union, da gesagt haben, haben Sie mir tatsächlich aus dem Herzen gesprochen. Es war ein vernünftiges Argument. Wir haben Ihren Vorschlag jetzt aufgegriffen. Heute liegt der Antrag dazu vor – auf Ihre Anregung. Ja, wir haben die Forderungen bereits vor zwei Jahren vorgebracht, aber natürlich ändern sich die Rahmenbedingungen und die Umstände; das haben wir bei diesem Antrag natürlich auch berücksichtigt. Meine Damen und Herren, das brennt den kleinen und personalintensiven Betrieben in Handwerk und Mittelstand immer noch auf den Nägeln. ({1}) Die jetzige Regelung kostet die Betriebe seit 2006 Nerven und Geld, weil sie kompliziert ist und überzogene Bürokratie verursacht. Deswegen, meine Damen und Herren von der CDU, biete ich Ihnen an: Machen Sie gemeinsam mit uns Nägel mit Köpfen! Machen Sie nicht nur große Worte in Interviews und in Sonntagszeitungen, um dann mittwochs darauf im Ausschuss dagegenzustimmen, sondern schaffen Sie endlich Konzepte, die den Mittelstand entlasten – gemeinsam mit uns! ({2}) Damals halfen die Betriebe den Sozialversicherungen und ihren klammen Kassen. Heute ist es nur fair, wenn wir den Betrieben die jetzt dringend benötigte Liquidität zurückgeben. Die AfD hat es sich da einfach gemacht. Sie hat ihren Antrag aus dem Januar, also von vor der Coronazeit, ausgegraben. Haben Sie inzwischen eigentlich mal mit irgendeinem Verband oder Unternehmensvertreter gesprochen? Wir haben das gemacht. Wir haben mit Vertretern des Bauhandwerks und des Einzelhandels gesprochen; wir haben den ZDH kontaktiert. Corona hat vieles geändert; das wollen wir einbeziehen. Und wir wollen deutlich flexibler werden. ({3}) Wenn ich höre, wie Sie, Herr Ernst, über Unternehmen denken, dann wird mir schlecht. ({4}) Da kommt jemand zu Wort, der noch nie unternehmerische Verantwortung hatte. Ich bin entsetzt. Meine Damen und Herren, wir wollen entlasten, vereinfachen und verbessern, ({5}) weil der Mittelstand den Abbau von Bürokratie und von Belastungen braucht, und zwar nicht irgendwann, sondern genau jetzt. Das, liebe Union, ist ihre Chance. Geben Sie sich einen Ruck! Stimmen Sie unseren beiden Anträgen zu – für Mittelstand, Handel und Handwerk! Vielen Dank. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Todtenhausen. – Letzter Redner zu dem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Jan Metzler, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Jan Metzler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004352, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber eine solche Debatte an einem Freitag ist immer auch eine Wundertüte. Man lernt permanent dazu. Ich habe, lieber Kollege Klaus Ernst, einiges über die medizinische und inhaltliche Wirkung von Detox und die Verhaltensregeln in Straußwirtschaften gelernt. Bei der Namensgebung von Anträgen hoffe ich, dass, wenn es um Strukturstraffung und Ähnliches mehr geht, nicht erneut entsprechende Analogien gesucht werden. Jetzt ganz im Ernst. Herr Houben, Sie haben heute als erster Redner einen Antrag eingebracht, der zu Recht wichtig ist und über den es sich zu debattieren lohnt. Sie haben auch darauf aufmerksam gemacht, dass es sich hier um eine Daueraufgabe handelt. Ich glaube, da wir sind uns beide einig: Es ist eine Daueraufgabe, über Bürokratieentlastung zu reden. An der Stelle möchte ich auch bemerken: Wir sind da noch nicht am Ende der Fahnenstange angekommen. Sie gerieren sich oftmals, auch in der Eigenwahrnehmung, als Serviceopposition. Deswegen ist es gut, wenn man im Wechselspiel gemeinsam in die Diskussion kommt. Dabei gilt eins: den Blick sowohl zurück als auch nach vorn zu richten. Der Blick zurück besagt – Kollege Willsch hat darauf aufmerksam gemacht –, dass bereits mit dem Bürokratieentlastungsgesetz III ein Volumen von 1,1 Milliarden Euro eingespart worden ist. Ohne Zweifel sind wir, auch wenn das im Endeffekt die Addition der Volumina von I und II in Summe darstellt, immer noch nicht am Ende der Fahnenstange angekommen. Es geht jetzt perspektivisch weiter. Es geht perspektivisch weiter beispielsweise im Zusammenhang mit der jetzt übernommenen EU-Ratspräsidentschaft. Teil der Agenda ist auch, „One in, one out“ auf europäischer Ebene entsprechend zu etablieren. Ich weiß, dass im Wechselspiel von Opposition/Regierungskoalition bei der Opposition der eigene Garten immer ein bisschen vitaler ist. Dann heißt es natürlich „One in, two out“. Das Bessere ist immer der Feind des Guten. Die Etablierung der Regel „One in, one out“ auf europäischer Ebene verbunden mit der Maßgabe, dass sie von Ursula von der Leyen mit unterstützt wird, kann einen entsprechenden Effekt auslösen, der nicht zu gering zu schätzen ist. Das ist Teil unserer Agenda, die in den nächsten Monaten vor uns liegt. ({0}) An diesem Punkt sei noch mal eines gesagt: Zweifelsohne gibt es kommunizierende Röhren im Zusammenhang mit der Frage, mit welchen Belastungen sich letztlich unternehmerisch Handelnde auf kommunaler, auf Landes-, auf Bundes- und auf europäischer Ebene konfrontiert sehen. Wenn man Politikerinnen und Politiker fragt: „Stehen Sie zum Bürokratieabbau?“, dann werden, würde ich sagen, acht oder neun von zehn permanent Ja sagen, und das nicht nur in Sonntagsreden. Am Ende dieser Debatte ist festzustellen: Wir sind uns nicht über die Zielrichtung uneins, sondern wir sind uns oftmals über das Wann und Wie, also über den Weg dahin, und den Zeitpunkt uneins. Ich habe da auch einen eigenen Anspruch. Ich will es ganz offen sagen: Meinen eigenen Anspruch muss ich immer auch abgleichen mit dem vieler anderer, die sich an einer Debatte beteiligen. Im Ergebnis bleibe ich dann oftmals hinter meinen eigenen Ansprüchen zurück und bin auch nicht vollends zufrieden. An der einen oder anderen Stelle bin ich dann einem Kompromiss sehr nahe. Kompromisse einzugehen, ist natürlich auch ein Wesensmerkmal einer demokratischen Gemeinschaft. An der Stelle sei angemerkt: Ich glaube schon, dass wir uns gemeinschaftlich über Effizienzsteigerungen in Strukturen Gedanken machen müssen. Wir dürfen es nicht zulassen, dass wir in sogenannten – aus meiner Sicht – Komplexitätsfallen landen, in denen Strukturen im Endeffekt für diejenigen, die Dokumentationspflichten und Ähnliches nachvollziehbarerweise zu erfüllen haben, überbordend werden. Ich möchte noch eine grundsätzliche Bemerkung machen, weil das auch angesprochen wurde. Bürokratie im Abgleich zu Regeln: Ja, ohne Regeln kein Staats- und Gemeinwesen; keine Frage. Natürlich darf die Regelungswut bzw. der bürokratische Überbau dann aber nicht so groß bzw. so hoch sein, dass der eigentliche unternehmerische Zweck – unternehmerisches Handeln – gar nicht mehr erfüllt werden kann, weil man sich nebenbei mehrheitlich mit entsprechenden bürokratischen Maßnahmen auseinandersetzen muss. Ich entstamme selbst einem unternehmerischen Haushalt. Zur Eigenreflexion: Mein Aufsichtsrat ist oftmals mein Papa. Er gibt mir in der Reflexion am Wochenende schon sehr genau mit, was in der Woche entsprechend entschieden worden ist. Ich glaube, wir waren selten in einer Zeit, in der sich so vieles so schnell so intensiv verändert hat. Jetzt kann man auch diese Krise unterschiedlich reflektieren. Dazu noch eine Bemerkung an dieser Stelle: Die Effizienzsteigerungsgewinne gerade durch den aus dieser Krise resultierenden digitalen Schub gilt es wirklich anzupacken und in die Zukunft mitzunehmen. Auch Kollege Willsch hat „Once only“ angesprochen. Den Pfad zu einem Onlinezugangsgesetz müssen wir selbst legen, und wir müssen das Ganze entsprechend vorantreiben. Der digitale Pfad ist derjenige, der diese Steigerungen möglich macht, um nicht in die Komplexitätsfalle zu geraten. Also: Es gibt noch einiges zu tun. Das ist eine inhaltlich weiterführende und wahrscheinlich spannende Debatte, nicht geprägt von der Infragestellung des Ziels, sondern von der Infragestellung des Wegs an sich und des Wie von der einen oder anderen Seite. Ich freue mich auf diese Debatte. Eines sei noch zum Abschluss bemerkt: Diese Woche war sehr inhaltsreich und entsprach aus meiner Sicht auch inhaltlich wirklich dem, was diese Krise verlangt; denn große Krisen verlangen große Antworten. Und diese Regierungskoalition ist in dieser Woche genau diesem Anspruch gerecht geworden. Wir haben große Antworten gegeben. Wenn es darum geht, die Zukunft engagiert anzugehen, freue ich mich auf die weiteren Diskussionen über die Dauerbaustelle Bürokratieabbau. Und im Sinne von Effizienzsteigerungen schenke ich Ihnen noch 15 Sekunden Redezeit. Herzlichen Dank. Alles Gute und schönes Wochenende! ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. Es waren nur zehn Sekunden. – Gleichwohl schließe ich die Aussprache.

Tino Sorge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004409, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind am Ende einer spannenden, ereignisreichen Sitzungswoche. Gerade eben haben wir es wieder gesehen: noch kurz vor der Sommerpause ein Hammelsprung. Und wir debattieren am letzten Tag vor der Sommerpause ein Gesetz, dessen Verabschiedung ich mir eigentlich schon vor der letzten Weihnachtspause gewünscht hätte. Aber – und das Aber ist jetzt nicht negativ konnotiert – wir haben uns zu Recht mehr Zeit gelassen, weil es bei dem Patientendaten-Schutz-Gesetz um ein sehr sensibles Thema geht. Es geht um höchstsensible Gesundheitsdaten. Insofern war es gut, dass wir uns auch in den Diskussionen im Ausschuss, bei Anhörungen, in den Arbeitsgruppen noch mehr Zeit genommen haben. Ich möchte mich für diese teilweise doch sehr kontroversen, aber auch konstruktiven Diskussionen bedanken, nicht nur bei den eigenen Kolleginnen und Kollegen aus den Regierungsfraktionen, sondern insbesondere auch bei den Kolleginnen und Kollegen aus der Opposition. Herzlichen Dank dafür! Wir sprechen natürlich im Rahmen des Patientendaten-Schutz-Gesetzes über das Thema Datenschutz, weil es eben um höchst sensible Gesundheitsdaten geht. ({0}) Es geht aber natürlich auch darum, dass diese Daten mit einem sehr hohen Sicherheitsniveau nutzbar gemacht werden. Genau das ist der Punkt. Wir reden darüber: Wie können wir die Patientenversorgung verbessern? Wie können wir Daten, die jeden Tag milliardenfach anfallen, für den Patienten nutzbar machen? Genau das tun wir mit diesem Patientendaten-Schutz-Gesetz, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Was machen wir mit dem Patientendaten-Schutz-Gesetz? Es geht darum, dass wir endlich die elektronische Patientenakte zum Laufen bekommen. Elektronische Patientenakte hört sich für viele erst mal sehr abstrakt an. Tatsächlich geht es aber darum, dass wir es Patienten ermöglichen, freiwillig, also wenn sie das möchten, wobei sie gegenüber ihrer Krankenkasse einen Anspruch darauf haben, die ganzen Daten, die jetzt schon bei zahlreichen Leistungserbringern im Gesundheitswesen anfallen, zusammenzuführen, sie also nicht mehr mit einer Aldi-Tüte mit den vielen Anamnesebefunden und Patientenberichten durch die Gegend laufen müssen, sondern im Idealfall alles auf dem Smartphone oder auf dem Tablet haben und der behandelnde Arzt, der behandelnde Physiotherapeut, die behandelnden Pflegefachkräfte genau wissen, was einem fehlt, sodass man als Patient besser auch behandelt werden kann. Ich weiß genau – das haben wir in den Diskussionen bereits erlebt –: Es gibt diejenigen, die sagen: Warum habt ihr nicht mehr gemacht? Warum habt ihr im Rahmen des Gesetzes nicht noch viel, viel mehr geregelt? Dann gibt es diejenigen von der linken Seite, die sagen: Na ja, wir hätten noch ein bisschen diskutieren sollen. Wir hätten noch ein bisschen abwarten sollen. – Diesen halte ich ganz klar ein altes Sprichwort meiner Großmutter, die mittlerweile 85 Jahre alt ist und eine Menge Lebenserfahrung hat, entgegen. Sie hat immer gesagt: Willst du, dass ein Truthahn nicht fliegt, dann mach ihn fett. ({2}) Insofern ist es richtig, dass wir nicht weiter diskutieren, sondern dass wir jetzt mit der Digitalisierung im Gesundheitswesen loslegen. Ich bin froh, dass wir hier keinen fetten Truthahn erzeugt haben, sondern dass wir einen schlanken Adler haben, der hoffentlich bald zum Fliegen kommt, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Dieses Patientendaten-Schutz-Gesetz enthält sehr, sehr viele Regelungen. Es geht neben der elektronischen Patientenakte um für viele eigentlich triviale Dinge. Es geht darum: Wie kann ich mein Rezept elektronisch einreichen? Wie bekommt ein weiterbehandelnder Arzt Daten? Er hat sie bisher von einem anderen Arzt beispielsweise telefonisch erhalten, jetzt findet er sie in der elektronischen Patientenakte. Wir alle wissen doch, wie es momentan teilweise läuft: Jemand kommt aus dem Krankenhaus, geht zum weiterbehandelnden Arzt. Dann gibt es im Idealfall einen vorläufigen Arztbericht. Viele Ärzte haben dann das Problem: Woher bekommen sie die zusätzlichen Berichte, Untersuchungen, CTs und MRTs? Das wollen wir mit der elektronischen Patientenakte ändern. Wir wollen Schluss machen mit der Zettelwirtschaft. Wir wollen Schluss machen mit Mehrfachbefunden. Wir wollen Schluss machen mit Doppeluntersuchungen. Und wir wollen Schluss machen mit unnötigen Untersuchungen, die man auf der elektronischen Patientenkarte bereits speichern kann. Wir haben ja in der Diskussion der letzten Tage beim Thema Corona gesehen, liebe Kolleginnen und Kollegen, wie wichtig Digitalisierung im Gesundheitswesen ist. Das ist ja nichts Abstraktes, sondern wir haben gesehen, dass wir auch mangels Alternativen auf einmal viele Dinge im täglichen Leben digital nutzen. So nutzen wir digitale Möglichkeiten wie Videokonferenzen. Genau das passiert jetzt auch in vielen anderen Bereichen. Wir nutzen telemedizinische Sprechstunden. Wir nutzen die Möglichkeit, strukturierte Daten zum Wohle des Patienten digital zusammenzuführen. Insofern werden wir auch alle Akteure in die Nutzung dieser Akte, wenn der Patient das möchte, langfristig einbeziehen, dass der Arzt, die Krankenkasse, das Krankenhaus, aber auch die Pflege, der Öffentliche Gesundheitsdienst, Betriebsmediziner Zugriff auf diese Daten haben, um die Behandlung zu verbessern. Vielleicht noch ein letztes Wort zum Thema „Patienten und ihre Datenhoheit“.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, Sie müssen leider zum Schluss kommen.

Tino Sorge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004409, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Hoheit über die Daten heißt für uns, die Möglichkeit zu eröffnen, dass ich als Patient meine Daten für Forschungszwecke zur Verfügung stellen kann. Auch das regeln wir mit dem Patienten-Datenschutz-Gesetz. Insofern werbe ich für die Unterstützung und freue mich, dass wir das Gesetz heute verabschieden. Aber auch hier gilt der Grundsatz: Nach dem Gesetz ist vor dem Gesetz.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege.

Tino Sorge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004409, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich freue mich auf viele weitere Beratungen, um die Digitalisierung voranzutreiben. In diesem Sinne: Herzlichen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Nächster Redner ist der Kollege Detlev Spangenberg, AfD-Fraktion. ({0})

Detlev Spangenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004898, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Digitalisierung ist grundsätzlich ja eine Art Hilfswissenschaft für die Gesellschaft. Sie darf aber nicht zum Beherrscher der Bürger werden, meine Damen und Herren. Das sollte als Grundsatz gelten. Schauen wir uns einmal an, was hier vorgesehen ist. Ich gehe zuerst auf die Praktikabilität ein. Die Einführung umfasst ja viele Aspekte: die Thematik Infrastruktur; die elektronische Vernetzung zwischen Leistungserbringern und Gesundheitswesen; das Ziel, eine elektronischen Patientenakte zu installieren; die Schaffung der Möglichkeit, medizinische Notfälle schneller erkennen und handeln zu können, Rezepte elektronisch zu versenden und ausgeben zu können. Aus unserer Sicht wird dieser Anspruch durch das von der Bundesregierung vorgelegte Patientendaten-Schutz-Gesetz nicht oder höchstens nur unzureichend erfüllt bzw. kommt ihm nicht nach. Die Anwendung und Nutzung der Elektronik im Gesundheitswesen wird von sehr vielen skeptisch gesehen. Dieses System muss aus unserer Sicht so gestaltet sein, dass es quasi ein Laie bedienen kann. Das ist eine kaum zu realisierende Notwendigkeit. Was ist mit den Menschen, die sich nicht mit solch einem System beschäftigen wollen oder können? Die derzeitige Freiwilligkeit, das System zu nutzen, nutzen zu können, führt zwangsläufig dazu, dass es auch weiterhin nichtdigitale Anwendungen geben muss. Der Vorschlag, dass der Patient dann in den Arztpraxen an einem Monitor seine Akte einsieht bzw. mit dieser arbeitet, ist aus unserer Sicht weltfremd und zeigt, dass dieser Vorschlag von Leuten kommt, die den Alltag in den Praxen nicht kennen, meine Damen und Herren. Soll sich vielleicht ein Mitarbeiter oder gar der Arzt selbst mit dem Patienten an den Monitor setzen und die Akte durchgehen? Das ist arbeitszeitmäßig und technisch nicht zu machen. Einen Nutzen wird es – so sagen es viele – kaum geben. Die Entscheidungsmöglichkeiten des Patienten führen auch dazu, dass eine unvollständige Akte das Lesen dieser Akte erschweren kann. Kritik gibt es in vielen Einzelheiten vonseiten verschiedener Sachverständiger und von Verbänden. Anreize und Angebote kommen zu kurz, so die Kritik. Fristen, Strafen oder Sanktionen durchzuziehen, ist auch nicht der richtige Weg. Besonders trifft es mal wieder die Ärzte, die Praxen oder die Krankenhäuser. Die Bundesärztekammer hat in der Stellungnahme zur Anhörung vom Mai 2020 die Sanktionsandrohungen kritisiert: Die Besorgung der notwendigen Komponenten und Dienste für den Zugriff auf die elektronische Patientenakte wird für einen Vertragsarzt unter Androhung einer Honorarkürzung verpflichtend, obwohl er die rechtzeitige Belieferung wie auch die mengenmäßige Verfügbarkeit der für die ePA – elektronische Patientenakte – benötigten Konnektoren sowie angepasster Praxisverwaltungssysteme nicht beeinflussen kann. So die Bundesärztekammer. Meine Damen und Herren, man begeht hier wieder den gleichen Fehler wie in den vergangenen Jahren mit § 291 SGB V, als man zu kurze Fristen für Praxen zur Anschaffung und Anschluss der Telematikinfrastrukturkonnektoren mehrmals verlängern musste, weil diese nicht haltbar waren. Die Forderung der Bundesärztekammer ist, die im vorliegenden Gesetzentwurf vorgesehenen Sanktionen ersatzlos zu streichen. Für Menschen ohne Smartphone und Tablet und diejenigen, die solche Geräte für diesen Zweck nicht nutzen wollen, ist das Projekt augenscheinlich nicht konzipiert. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft bemängelt, es sei von einem praxisfernen Nebeneinander verschiedener Systeme und von einer Zunahme des Aufwands statt einer Entlastung auszugehen. Ich gehe einmal auf die Sicherheit ein. Der Chaos Computer Club stellt in seiner Stellungnahme fest, „dass der vorliegende Gesetzentwurf nicht geeignet ist, die diagnostizierten Mängel sowie die ursächlichen Fehlanreize abzustellen“. Kritik wird hauptsächlich geübt an der elektronischen Gesundheitskarte. Diese würde „weiterhin unsicher und ohne zuverlässige Identitätsprüfung an die Antragsteller ausgegeben“. Statt die Sicherheitsmängel abzustellen, würden diese nun sogar gesetzlich festgeschrieben. Die Begründung des Chaos Computer Clubs ist: Die elektronische Gesundheitskarte ist nach § 291 SGB V, also nach geltendem Recht, schon jetzt „als Schlüssel bzw. als Authentisierungsinstrument für den Zugriff auf besonders schützenswerte Gesundheitsdaten auszugeben“. Dies sei in der jetzigen Praxis nicht erfüllt. Mit den neuen Regeln in § 336 Absatz 5 würde das geforderte Sicherheitsniveau deutlich abgeschwächt. Diese Verpflichtung zur Sicherung der Identifikation des Versicherten entfiele. Die Ausgabe der Authentisierungsmittel wird nicht mehr auf hohem Vertrauensniveau vorgeschrieben. – Das ist die Kritik. Bereits durchgeführte erfolgreiche Angriffe auf die Telematikinfrastruktur haben demonstriert, dass es Mängel gibt. Sie sind sehr gefährlich. Meine Damen und Herren, denken Sie bitte einmal an das Arbeitsrecht. Wenn es wirklich möglich ist, auf solche Daten zuzugreifen, wenn zum Beispiel ein großer Konzern auf diese Daten zugreifen kann: Was wird dann mit einer Einstellung? Der Arbeitgeber wird nie etwas sagen. Aber diese Menschen haben keine Chance, einen Arbeitsplatz zu bekommen, wenn eine gewisse elektronische Akte dort landet und man weiß, was für Krankheiten ein Mensch schon hatte und dass er anfällig ist. ({0}) Meine Damen und Herren, der Chaos Computer Club spricht auch von Verantwortungslosigkeit und schlägt vor, eine unabhängige zentrale Stelle solle für die Informationssicherheit verantwortlich sein. Wie IT-Experten bei einer Tagung des Chaos Computer Clubs im Dezember 2019 gezeigt haben, ist es möglich, mit wenig Aufwand und krimineller Energie an einen Heilberufeausweis, einen Konnektor oder eine elektronische Gesundheitskarte zu gelangen. Weiteres zur Sicherheit. Wenn man über netzbasierte Lösungen nachdenkt, dann muss man sagen, dass allenfalls eine Nutzung über die sogenannte Blockchain infrage kommt. Dies wird zurzeit in Karlsruhe erprobt. Daran wird seit dem 2. März 2020 geforscht. Wenn man sich dieses System näher anschaut, wäre das vielleicht eine Möglichkeit, über die Sicherheitsaspekte noch einmal nachzudenken. Wie soll ein Arzt den ordnungsgemäßen Anschluss seiner Technik überprüfen? In der Vergangenheit gab es einige Vorfälle, bei denen der Konnektor von IT-Experten falsch angeschlossen wurde. Wie soll dann ein Arzt als technischer Laie das sicherstellen und überblicken, ob das gesamte System in seiner Praxis – Geräte und Programme – richtig arbeitet und ob er immer aktualisierte Daten hat? Die Praxen werden nun wieder – so die Kritik – in die Verantwortung genommen für die Datensicherheit sowie für Fehlerfreiheit und Aktualität komplexer, dezentraler technischer Systeme, deren Zustand sie nicht allein in ihrer Hand haben oder überschauen können. Es ist unserer Ansicht nach nicht verantwortbar und keinesfalls sicher, sensible Patientendaten im Internet zentral speichern zu wollen. Cloud-Lösungen sind dafür nicht tauglich, so die Meinung. Ärzte und Ärztevereinigungen sagen, dass sie für die Patientendaten, die bei ihnen sicher aufbewahrt werden müssen, keine Gewähr übernehmen können, und sehen die Gefahr, dass sie gezwungen werden könnten, unter bestimmten Umständen Patientendaten freizuschalten; diese Meinung kam auf. Das Anlegen des Notfalldatensatzes und dessen Pflege würden hauptsächlich an ihnen hängen bleiben, genauso wie die Verantwortung für die elektronische Patientenakte. Insgesamt ist zu bemängeln, dass die gesamte Konzeption des vorliegenden Gesetzentwurfs – auch die elektronische Überweisung – ganz auf mobile Endgeräte gestützt ist, wie Smartphones, Tablets und ähnliche Geräte.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Detlev Spangenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004898, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ich komme zum Schluss. – Diese Geräte sind unter dem Aspekt der Datensicherheit nicht besonders geeignet.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist zu Ende.

Detlev Spangenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004898, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Letzter Satz. – Zusammenfassend ist festzustellen: Wenn so viel Kritik von vielen Seiten kommt, ist zu empfehlen, dieses Projekt noch einmal gründlich zu überdenken, meine Damen und Herren. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Nächster Redner ist für die SPD-Fraktion der Kollege Dirk Heidenblut. ({0})

Dirk Heidenblut (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004295, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Aller guten Dinge sind drei, diesmal aber nicht, weil wir drei Anläufe unternommen haben, sondern weil es drei gute Gesetze sind, die mit diesem abgerundet werden. Mit dem E-Health-Gesetz wurde gestartet. Mit dem DVG wurde nachgelegt, und mit dem Patientendaten-Schutz-Gesetz wird jetzt ein rundes Paket daraus, auch wenn der Kollege Sorge recht hat: Wir können immer noch weitergehen; das ist überhaupt keine Frage. Aber ich persönlich freue mich erst einmal, dass wir nun ein rundes Paket haben. Es ist ein gutes, ein sicheres, ein vernünftiges und ein in weiten Teilen – bezogen auf die Kritik, die im vorherigen Vortrag deutlich gemacht wurde – deutlich nachgebessertes Gesetz, das den Datenschutz massiv in den Vordergrund stellt. Nein, niemand muss sich Sorgen machen, wenn er sich für eine elektronische Patientenakte entscheidet, dass diese Akte dann irgendwo auf der Straße zu finden sein wird. Wir haben ein sicheres, ein gutes System gefunden. Wir haben auch für die Ausgabe der elektronischen Gesundheitskarte oder/und des PINs ein vernünftiges System gefunden. Alles, was mein Vorredner gerade gesagt hat, ist also völlig daneben. Scheuen Sie, meine Damen und Herren, nicht davor zurück. Eine elektronische Patientenakte ist für jeden möglich. ({0}) Ich will einen weiteren Punkt klarstellen; denn mein Vorredner hat das Gesetz offensichtlich nicht so genau gelesen. Im Gesetz steht nicht, dass irgendjemand in einer Arztpraxis an einen Automaten gehen und dort seine Akte einsehen kann. Natürlich ist das kein sinnvoller Weg. Das haben wir durchaus auch gewusst. Deshalb steht es nicht im Gesetz. Das müsste man vielleicht nachlesen, bevor man solche Reden hält, oder bei den entsprechenden Diskussionen dabei sein. ({1}) Auf jeden Fall ist es ein gutes Gesetz. Klar ist: Die elektronische Patientenakte, die ein wesentliches Kernstück unserer Digitalisierung ist, kommt jetzt in Gang. Sie wird zum 1. Januar 2021 starten. Sie bleibt freiwillig. Ich kann das machen, oder ich kann es nicht machen. Natürlich setzt das voraus, dass dann das analoge System, um die Wahrnehmung der Patientenrechte sicherzustellen – diese sind uns wichtig –, auch noch funktioniert. Wir können doch nicht jeden dazu zwingen, eine elektronische Patientenakte anlegen zu lassen. Wir können nicht jeden dazu zwingen, ein Smartphone oder ein Tablet zu nutzen – übrigens kann ein geeignetes Endgerät auch ein Computer sein –, um damit seine Patientenakte anzulegen und zu verwalten. Nein, das braucht niemand zu befürchten. Wir haben sogar in den Gesetzentwurf ein Diskriminierungsverbot aufgenommen, sodass der Patient oder die Patientin, der bzw. die keine Patientenakte in elektronischer Form haben will, keine Verschlechterung hat. Das haben wir durchgesetzt; das steht im Gesetz. Es besteht also überhaupt kein Problem. Insofern ist es wichtig und richtig, dass das Ganze jetzt kommt. ({2}) Es hilft gerade den Patientinnen und Patienten. Wir haben eine Menge weiterer Dinge aufgenommen. Ob Zahnbonusheft, Impfausweis, Medikationsplan, Arztbericht oder Blutwerte – ich habe als Patient endlich einen vernünftigen Überblick. Ich habe diesen Überblick, wenn ich das will, auf dem Smartphone in meiner Tasche. Das heißt, ich habe die entsprechenden Daten dabei, wenn ich eine Klinik aufsuche. Ich habe sie bei dem Arzt dabei, der mich behandelt. Ich bin in der Lage, jedem die Daten zugänglich zu machen, dem das nach meiner Meinung – selbstbestimmt, das ist ein ganz wichtiger Punkt; bei mir als Patient liegt die Entscheidung – ermöglicht werden soll. Es bleibt freiwillig und ist selbstbestimmt. Wir sorgen dafür, dass es – zuerst oberflächlich, dann aber ab 2022 bis ins Detail – selbstbestimmt ist. Das ist ein ganz wichtiger Aspekt. Das E-Rezept wird endlich auf den Weg gebracht. Was haben wir daran lange herumgewurschtelt, und wie einfach ist es, mit einem solchen E-Rezept die Wege zu erledigen! Jetzt kommt das; meine Kollegin wird dazu sicherlich gleich noch ein bisschen näher ausführen. Wir haben viele weitere Fragen im Bereich der Telemedizin angepackt. Wir sorgen dafür, dass mehr Leistungserbringerinnen und ‑erbringer in das System kommen. Mir persönlich war wichtig – auch dazu wird meine Kollegin noch mehr sagen –, dass gerade die Pflege endlich vernünftig berücksichtigt ist; denn natürlich ist die Pflege ein wichtiger Teil. Ja, man hätte sich mehr vorstellen können. Der Vorwurf kam häufig: Warum nur Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten und nicht auch Ergotherapeutinnen und Ergotherapeuten? An dieser Stelle sage ich deutlich – ich glaube, da bin ich in absoluter Übereinstimmung mit dem Ministerium und dem Koalitionspartner –: Am Ende muss das gesamte Gesundheitssystem erfasst werden, muss jeder Leistungserbringer und jede Leistungserbringerin erfasst werden. Aber wir dürfen das System am Anfang auch nicht überfrachten. Deshalb haben wir ein vernünftiges, ein ausgewogenes Gesetz vorliegen. Dem können Sie gut zustimmen. Im Übrigen, liebe Bürgerinnen und Bürger, können Sie die elektronische Patientenakte dann auch guten Gewissens von Ihrer Krankenkasse entgegennehmen. Das wird für Sie viele Vorteile haben. Ich freue mich darauf, dass wir das Gesetz heute verabschieden können. Danke schön. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Heidenblut. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Christine Aschenberg-Dugnus, FDP-Fraktion. ({0})

Christine Aschenberg-Dugnus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004003, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich bitte zu Beginn festhalten: Wir als FDP-Fraktion befürworten die Digitalisierung im Gesundheitswesen ausdrücklich. Es ist für die Versorgung der Patientinnen und Patienten ein großer Mehrwert, wenn Behandlungsdaten schnell verfügbar sind. Die Coronaepidemie hat ja auch gezeigt, dass elektronische Krankschreibungen oder Videosprechstunden funktionieren. Wir befürworten auch die Einführung der elektronischen Patientenakte. Wir haben sie seit Jahren gefordert, und deswegen sagen wir auch: Es ist überfällig, dass sie jetzt kommt. – Jetzt kommt aber das große Aber. Meine Damen und Herren, die elektronische Patientenakte benötigt doch von Anfang an einen rechtssicheren Rahmen; denn die Datenhoheit gehört in die Hand der Patientinnen und Patienten und nirgendwo anders hin. ({0}) Wir müssen dafür sorgen, dass der Datenschutz und die Selbstbestimmung immer an oberster Stelle stehen. Das ist gerade bei solch sensiblen Daten wie Gesundheitsdaten ganz besonders wichtig. Jetzt komme ich zum entscheidenden Punkt. Wenn allerdings im ersten Jahr der Patient lediglich die ganze Akte zur Ansicht freigeben kann oder gar nicht, dann hat das mit Patientensouveränität überhaupt nichts zu tun. Ein Alles-oder-Nichts fördert nicht die Akzeptanz, die für so ein wichtiges Projekt notwendig wäre, meine Damen und Herren. ({1}) Unser Hauptkritikpunkt ist, dass im ersten Jahr der Patient eben nicht genau darüber bestimmen kann, wer seine einzelnen Daten einsehen kann. ({2}) Daher haben wir einen entsprechenden Entschließungsantrag vorgelegt, der das regelt. Es ist doch wichtig, meine Damen und Herren, wenn zum Beispiel die junge Patientin beim Zahnarzt ist, dass sie selbst darüber entscheiden kann, was er einsehen kann und ob er sehen kann, dass sie vielleicht vor drei Monaten einen Schwangerschaftsabbruch hat vornehmen lassen. Das ist Patientensouveränität. Das möchte ich umgesetzt haben mit diesem Gesetz. ({3}) Wenn jetzt die Bundesregierung behauptet, dass das im ersten Jahr technisch nicht möglich ist, dann ist das einfach nur falsch. Die öffentliche Anhörung, bei der Sie ja alle dabei waren, hat genau das Gegenteil gezeigt. Die erst ab 2022 – es wurde ja gesagt – vorgesehene Möglichkeit, die Akte individuell freizugeben, muss von Anfang an gewährleistet sein, meine Damen und Herren. Mit dem PDSG – da bin ich mir mit allen anderen einig – hätte die große Chance bestanden, umfassend allen Akteuren Zugriff auf die ePA zu gewähren. Da hätten wir uns mehr gewünscht. Ich freue mich, gehört zu haben, dass das noch nachgereicht wird. Denn wir benötigen ja eine umfassende digitale Zusammenarbeit aller Beteiligten. Nur dann ist es auch ein wirklicher Mehrwert für die Patientinnen und Patienten. Meine Damen und Herren, die medizinische Forschung ist immer stärker datengetrieben und benötigt natürlich auch Daten, die verwertbar sind – selbstverständlich nur mit Einwilligung der Patientinnen und Patienten. Diese Forschung halten wir für wichtig. Das gilt übrigens auch für die private Forschung. Denn gerade die Coronapandemie zeigt doch, wie wichtig auch private Forschungsinstitute zum Beispiel bei der Suche nach Impfstoffen oder Therapiemaßnahmen sind. Aber: Bei der Nutzung von Daten zu Forschungszwecken ist es dringend erforderlich, dass eine Rückverfolgbarkeit auf Personen von Anfang an auszuschließen ist, meine Damen und Herren. ({4}) Die öffentliche Anhörung hat ja gezeigt, dass die Kryptografie das bereits ermöglicht, indem sie nämlich die Datensätze minimal verrauscht. Damit sind die Daten auch weiterhin wissenschaftlich verwertbar, lassen aber keinen Rückschluss auf die Personen zu, und das ist aus datenschutzrechtlichen Gründen sehr wichtig. Dieser Aspekt fehlt leider in Ihrem Gesetzentwurf. Aber es gibt eine Lösung, nämlich unseren Entschließungsantrag. Ich kann Ihnen nur anraten, dem zuzustimmen. Meine Damen und Herren, mein letzter Satz: Die wichtige Digitalisierung kann nur mit einem hohen Datenschutzniveau gelingen; das sehen wir in Ihrem Gesetzentwurf nicht; deswegen müssen wir ihn leider ablehnen. Vielen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Aschenberg-Dugnus. – Auch bei den Freien Demokraten sind drei Sätze immer noch mehr als ein Satz. ({0}) – Ich habe das auch so interpretiert, Herr Kollege Sorge. Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Achim Kessler, Fraktion Die Linke, das Wort. ({1})

Dr. Achim Kessler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004776, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Minister Spahn, mit der Einführung einer unausgereiften elektronischen Patientenakte gefährden Sie die Akzeptanz des gesamten Projekts, und zwar sowohl bei Patientinnen und Patienten als auch beim Gesundheitspersonal, das ja hinterher mit der elektronischen Patientenakte arbeiten muss. Das ist nicht im Sinne der Patientinnen und Patienten, und das ist absolut kontraproduktiv im Sinne einer Digitalisierung des Gesundheitssystems. ({0}) Denn vorerst können Patientinnen und Patienten nur die gesamten Daten ihrer Akte freigeben oder halt eben nicht. Doch wozu braucht ein Orthopäde Informationen über einen Schwangerschaftsabbruch, wozu eine Augenärztin Informationen über eine Psychotherapie? Außerdem ist die elektronische Patientenakte zunächst nichts anderes als eine völlig ungeordnete und unstrukturierte Sammlung elektronischer Dokumente. Der Bundesdatenschutzbeauftragte stellt in Ihrem Gesetz schwerwiegende datenschutzrechtliche Mängel fest. Und der Chaos Computer Club beklagt, dass beim Zugang zur elektronischen Patientenakte mit dem Smartphone nur ein mittleres Sicherheitsniveau gewährleistet ist. Außerdem sei es kaum möglich, so der Chaos Computer Club, zu überprüfen, wer sensible personenbezogene Forschungsdaten erhält. Das Gesetz, meine Damen und Herren, ist nicht im Interesse der Patientinnen und Patienten, und deshalb lehnen wir es ab. ({1}) Es ist schamlos, Herr Gesundheitsminister, wie Sie und die Bundesregierung die Pandemie nutzen, um die profitorientierte Digitalisierung unseres Gesundheitssystems voranzutreiben. Zwar wurde die Corona-App vom Chaos Computer Club und anderen Expertinnen und Experten datenschutzrechtlich als unbedenklich eingestuft. Aber es geht hier doch um viel mehr. Mit der Realität in den Corona-Hotspots in der Fleischindustrie, in beengten Wohnblocks, aber auch in den Pflegeheimen hat diese Corona-App wirklich überhaupt nichts zu tun. Auch wer sich das neueste Smartphone nicht leisten kann, ist von der Nutzung der App von vornherein ausgeschlossen. Es ist überhaupt nicht verwunderlich, wenn Amtsärzte zu Recht diese App als „ein Spielzeug für die digitale Oberklasse“ bezeichnen. ({2}) Und es ist ein Skandal, meine Damen und Herren, wenn Sie mitten in einer Pandemie einen großen Teil der Bevölkerung von einer Maßnahme zur Pandemiebekämpfung ausschließen. ({3}) Mir drängt sich der Eindruck auf, dass Sie diese öffentliche Debatte um die Corona-App vor allem dazu betrieben haben, um von den drängenden gesundheitspolitischen Fragen abzulenken, die ja im Moment in der Pandemie wie unter einem Brennglas sichtbar werden. Während Sie für die App 68 Millionen Euro ausgegeben haben, bekommt der Öffentliche Gesundheitsdienst gerade mal 50 Millionen Euro. Das ist verantwortungslos, meine Damen und Herren. ({4}) Die Warnmeldungen der App sind doch vollkommen nutzlos, wenn die Infektionswege nicht durch einen funktionierenden Gesundheitsdienst unterbrochen werden können. Doch den haben Sie alle gemeinsam in den letzten Jahrzehnten kaputtgespart, und das muss jetzt wirklich ein Ende haben. ({5}) Sowohl die Corona-App als auch das sogenannte Patientendaten-Schutz-Gesetz dienen dem Zweck, uns an die kommerzielle Nutzung und die Ausbeutung unserer Gesundheitsdaten zu gewöhnen. Meine Damen und Herren, Die Linke weist das entschieden zurück. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Sorge?

Dr. Achim Kessler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004776, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Nein. Nach dem Punkt vielleicht. ({0}) Das neue Positionspapier der CDU/CSU-Fraktion zum Gesundheitssystem spricht eine ganz, ganz deutliche Sprache. Ganz offen wird davon gesprochen, dass die Gesundheitswirtschaft Zugang zu dem – ich zitiere – Datenschatz des Forschungsdatenzentrums erhalten soll. Das sind die Gesundheitsdaten aller Versicherten. ({1}) Damit soll nach dem Willen der Union die – ich zitiere – Innovationskraft des Standorts Deutschland im internationalen Wettbewerb gestärkt werden. Meine Damen und Herren, an dieser Stelle verkommt Gesundheitspolitik zur Wirtschaftsförderung für die IT-Industrie. ({2}) Sehr geehrte Damen und Herren von der CDU/CSU, hat Sie denn der Skandal um Philipp Amthor wirklich überhaupt nicht zum Nachdenken gebracht? Liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD, ich verstehe wirklich nicht, warum Sie das auch noch mittragen. Verstehen Sie denn nicht, dass Sie mit solchem Wirtschaftslobbyismus unsere Demokratie systematisch untergraben? ({3}) Alle Expertinnen und Experten sind sich einig, dass es einen hundertprozentigen Datenschutz nicht gibt und auch niemals geben wird. Aber wenn das so ist, meine Damen und Herren, dann müssen die Patientinnen und Patienten wirkungsvoll gegen Schäden abgesichert werden, die durch den Verlust ihrer Daten entstehen können. Es ist für Geschädigte so gut wie unmöglich, einen Schaden nachzuweisen, wenn sie zum Beispiel infolge eines Datenlecks ihren Arbeitsplatz verlieren. Deshalb muss die geltende Delikthaftung durch eine Gefährdungshaftung ersetzt werden. Das bedeutet, dass schon der bloße Verlust von Daten zu einem Schadensersatzanspruch führen muss. ({4}) Ich bin mir sicher, dass das die Motivation zum Datenschutz bei den Anbietern gravierend erhöhen würde. Ich bin mir aber vor allem sicher, dass das für Patientinnen und Patienten einen wirkungsvollen Schutz gegen den Missbrauch ihrer Daten bedeuten würde. Von alldem, Herr Minister, ist in Ihrem Gesetz nichts zu lesen. Auch deshalb lehnen wir es ab. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Kessler. – Ist das die Anmeldung zu einer Kurzintervention? Das müsste mir dann mitgeteilt werden, Herr Kollege Sorge. ({0}) – Aber, Herr Kollege Sorge, bisher war es nicht üblich, dass man sich Zwischenfragen bestellt. Aber wenn Sie darauf gerne eingehen wollen, gebe ich Ihnen jetzt die Gelegenheit zu einer Kurzintervention.

Tino Sorge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004409, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Da der Kollege Kessler die Zwischenfrage nicht zugelassen hat, möchte ich das im Rahmen der Kurzintervention noch mal ein bisschen richtigstellen. Es ist ja nichts Neues, dass Sie hier die Diskussion über die Digitalisierung im Gesundheitswesen nicht chancengetrieben, sondern eher risikogetrieben führen. Was mir dabei wirklich immer sehr, sehr sauer aufstößt, ist, dass Sie ein Zerrbild entwickeln und suggerieren, die Patientinnen und Patienten hätten überhaupt keine Lust auf Digitalisierung. Unterhalten Sie sich einmal mit Chronikern, beispielsweise mit Typ-2-Diabetikern oder generell mit Diabetikern, mit Parkinsonpatienten. Die fordern uns alle auf: Ihr müsst viel, viel schneller werden. Warum dauert das so lange? Wir diskutieren seit 2003 über die elektronische Gesundheitskarte. Wir diskutieren über digitale Anwendungen, die im privaten Bereich von vielen schon genutzt werden, wo wir teilweise über datenschutzrechtlich bedenkliche Dinge sprechen. Im öffentlichen Bereich schaffen wir jetzt mit der elektronischen Patientenakte, mit der Telematikinfrastruktur, erstmals ein System, was mit sehr hoher Sicherheit ermöglicht, dass todkranke Menschen ihre Daten aggregiert, zusammengeführt auf einer elektronischen Patientenakte nutzen können. Wir eröffnen die Möglichkeit, dies freiwillig zu nutzen. Und da tun Sie hier so, als seien Patientinnen und Patienten dagegen und wollten das nicht. Das Gegenteil ist der Fall. ({0}) Und deshalb frage ich Sie auch ganz konkret, Herr Kessler, weil Sie hier immer so tun, als sei das alles profitgetrieben, als würden im Gesundheitsbereich – Sie haben die Corona-App angesprochen – Gelder sinnlos ausgegeben: Ist an Ihnen auch vorbeigegangen, dass wir jetzt im Coronakontext ein Hilfspaket gerade im Gesundheitsbereich gemacht haben, das seinesgleichen sucht? Wir stellen jetzt im Bereich der Krankenhäuser über 3 Milliarden zusätzlich zur Verfügung. Insofern frage ich Sie: Warum stellen Sie dann hier Thesen auf, warum suggerieren Sie, wir stellten nur für einzelne Anwendungen, die sehr klein sind – Corona-Warn-App war Ihre Thematik –, Gelder zur Verfügung, und vergessen, dass auf anderen Wegen Milliarden zusätzlich zum Wohle der Patienten, die einen konkreten Mehrwert davon haben, zur Verfügung gestellt werden? Das würde mich wirklich mal interessieren, Herr Kollege. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Stimmt genau. – Sie wollen antworten, Herr Dr. Kessler? – Dann bitte.

Dr. Achim Kessler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004776, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Sorge, was Sie gerade gesagt haben, dass Die Linke gegen eine elektronische Patientenakte sei, das ist ja überhaupt nicht zutreffend. Das habe ich auch gerade gar nicht gesagt. ({0}) Wir sind allerdings gegen eine dilettantische elektronische Gesundheitsakte, die überstürzt eingeführt wird, ({1}) damit der Minister seinen Ehrgeiz befriedigen kann. Dagegen sind wir in der Tat. Es ist nicht angemessen, eine Akte auf den Markt zu bringen, die es nicht zulässt, differenzierte Entscheidungen zu treffen, wer, welcher Arzt und welche Ärztin, welche Dokumente einsehen kann. Das ist das eine. Das Zweite ist: Sie haben jetzt in dem Gesetz nachgebessert, dass die Versicherten mit der Gesundheitskarte endlich sicher authentifiziert werden. Sie haben über viele Jahre die Hinweise der Linken, aber auch der Grünen und vieler anderer ignoriert, dass die Ausgabe der Gesundheitskarte völlig ohne Identifizierung stattfindet. Der Chaos Computer Club hat das nachgewiesen. Das machen Sie jetzt endlich. Aber das wird die Nutzung der elektronischen Patientenakte verzögern, weil es jetzt natürlich ewig dauert, bis diese Identifizierung aller Gesundheitskarten neu passiert ist. Da haben Sie geschlampt, und jetzt machen Sie uns dafür verantwortlich. Das ist nicht lauter. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

So, dann ist das auch geklärt. Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat die Kollegin Maria Klein-Schmeink, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort. ({0})

Maria Klein-Schmeink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004072, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Präsident! Lieber Minister! Liebe Kolleginnen und Kollegen hier im Haus! Man könnte nach der jetzigen Debatte den Eindruck haben, als ginge es nur darum, entweder Datenschutz oder Patientennutzen zu befördern. Aber wir brauchen endlich eine Diskussion, in der das zusammengeführt und entsprechend gestaltet wird. ({0}) Es wurde eben darauf hingewiesen: Wir haben jetzt das dritte Digitalisierungsgesetz. Verschwiegen wird dabei, dass eigentlich schon 2004 die elektronische Gesundheitsakte eingeführt werden sollte. ({1}) Und wenn Sie sich dann mal überlegen, dass wir im Jahre 2020 sind, dann muss man sagen: Wir haben einen sehr, sehr langen Anlauf genommen, einen zu mühseligen und zu stolpersteinigen Weg genommen, und da hat es sehr, sehr viele Bremser gegeben. Auch die FDP, die heute „Digital first, Bedenken second“ sagt, war da ganz, ganz kräftig mit dabei. ({2}) Aber das gehört zur Vergangenheit. Die eigentliche Frage ist ja: Wofür tun wir das? Wir tun das, um die Versorgung zu verbessern und die Rechte der Patientinnen und Patienten im Versorgungsgeschehen zu stärken. Das muss der eigentliche Wesenskern der Herangehensweise sein. ({3}) Und da muss ich leider sagen: Dieses Patientendaten-Schutz-Gesetz setzt den Webfehler der vorherigen Gesetze fort. Es gibt immer noch keine systematische Beteiligung von Patientinnen und Patienten auf allen Ebenen der Entwicklung sowie der politischen Entscheidung und der Entscheidung in den Gremien. Da müssen Sie nachbessern. Dann wird das Produkt nämlich auch besser. ({4}) Vertrauen und Akzeptanz haben natürlich auch damit zu tun, dass ich sicher weiß, dass Datenschutz und Datensicherheit gewahrt sind. Erstmalig nach einem so langen Diskussionsprozess haben wir jetzt zum Glück im Gesetz stehen: Diese Akte ist freiwillig, diese Akte wird von den Patientinnen und Patienten selber geführt, und sie entscheiden auch darüber, ob ein Behandlungsdatum, eine Information in die Akte kommt, ja oder nein. Diese Klarstellung war mehr als überfällig. Wäre sie früher erfolgt, hätte es die vielen Bedenken, die es gab, aber auch Unterstellungen verschiedenster Art, erst gar nicht gegeben. ({5}) Deshalb sind wir froh, dass diese Klarstellung endlich erfolgt ist. Damit komme ich zu der Frage, wer sie denn eigentlich wie nutzen kann. Auch da vermissen wir, dass tatsächlich auf Patientenkompetenz gesetzt wird, dass daran gearbeitet wird, dass wirklich gut genutzt werden kann, dass diejenigen, die eben nicht über digitale Kompetenz verfügen, tatsächlich einbezogen werden. Da reicht es uns nicht, dass die Krankenkassen jetzt mal den Auftrag haben, sondern da brauchen wir natürlich die Patientenverbände mit im Boot, wir brauchen die Selbsthilfe mit im Boot, wir brauchen auch die Leistungserbringer mit im Boot, weil es im Zweifelsfall immer eine Situation in der Praxis gibt, in der aufgeklärt werden muss. Und da müssen Sie eine Offensive in Richtung digitaler Kompetenz starten. Alles andere wird dazu führen, dass diese Akte nur sehr zögerlich angenommen wird. ({6}) Dann der ganze Aspekt des Patientennutzens. Sie haben bisher immer noch versäumt, die gesamte Behandlungskette in den Blick zu nehmen. Es ist überhaupt nicht vermittelbar, warum die anderen Heilmittelerbringer so verzögert einbezogen werden. Es ist nicht vermittelbar, warum die Pflege so zögerlich einbezogen wird, dass sie keine Schreibrechte erhält. All das führt dazu, dass gerade die Menschen mit einem erhöhten Unterstützungs- und Behandlungsbedarf sehr spät die Vorteile einer Patientenakte wirklich nutzen können. Dazu muss ich sagen: Da müssen Sie nachlegen. ({7}) Da sind wirkliche Versäumnisse. Da haben Sie echtem Handlungsbedarf zu entsprechen, damit diese Patientenakte, wie Sie eben sagten, zum Fliegen kommt. Dann sehen wir an dieser Stelle auch sehr, sehr deutlich, dass die Vernetzung im Gesundheitswesen vorankommen muss. Vernetzung bedeutet nicht nur, das Krankenhaus mit der Praxis und der Apotheke zu vernetzen – ein Klassiker –, sondern wir müssen die gesamte Behandlungskette, auch die Reha und die Pflege, hineinnehmen. Da können wir nicht schrittweise in Gesetzesform erst in der nächsten Wahlperiode nachlegen, sondern das muss angegangen werden; denn sonst wird dieses wichtige Erlebnis, dass man tatsächlich koordinierte Leistungserbringung im Gesundheitswesen zum Nutzen der Patienten hat, einfach nicht erfahrbar sein. Da müssen wir hin. Wir werden allen Beteiligten stramm auf den Füßen stehen und mit Nachdruck darauf drängen, dass Patientenbeteiligung ernst genommen wird, genauso wie der Datenschutz und die Datensicherheit. In diesem Sinne geht es voran. Wir werden uns enthalten, weil eben dieser Webfehler noch immer im Gesetz drin ist. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner ist Herr Bundesminister Jens Spahn für die Bundesregierung. ({0})

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Coronapandemie ist für viele in unserer Gesellschaft eine schwere Belastung: Unternehmer, die vor den Trümmern ihrer Existenz stehen; Kinder, die nicht in die Schule oder die Kita gehen können; Arbeitnehmer, die um ihren Job bangen. Aber es gibt in dieser Krise auch viele Entwicklungen, die Hoffnung machen, die Perspektive geben. Das Wirgefühl, das sich in weiten Teilen der Gesellschaft entwickelt hat, die Hilfsbereitschaft, die Bereitschaft, sich gegenseitig zu unterstützen, und, ja, auch die Erfahrung der Digitalisierung, die vieles im Alltag in dieser Pandemie leichter gemacht hat. Das galt und gilt auch für das Gesundheitswesen: Videosprechstunden, Onlinesprechstunden – ob bei den Ärztinnen und Ärzten oder in der Logopädie. Das gilt übrigens auch für die Digitalisierung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes, wo wir in gerade drei Monaten unter großer Anstrengung mehr schaffen, als vorher in 20 Jahren wegen verschiedener Widerstände auf allen Ebenen möglich war. Endlich keine Labormeldungen mehr per Fax, sondern seit zwei Wochen auch digital. Dafür haben wir lange gearbeitet. Jetzt konnten wir endlich die Widerstände brechen und das durchsetzen. ({0}) Das gilt auch für die Corona-Warn-App. Das zeigt eben, wann es Akzeptanz und Zustimmung gibt. Heute hat eine Umfrage unter Bürgerinnen und Bürgern gezeigt: Drei Viertel sehen der elektronischen Patientenakte mit positiven Gefühlen, mit Zustimmung entgegen und wollen sie gerne nutzen. Es gibt dann Akzeptanz und Zustimmung, wenn Technik im Alltag die Dinge leichter macht. Warum nutzen wir alle jeden Tag unser Smartphone? Weil es die Dinge leichter macht: in der Kommunikation, in der Information, in der Umsetzung. Akzeptanz und Zustimmung gibt es, wenn es datensensibel ist, wenn die datenschutzrechtlichen Vorgaben stimmen, wenn es eben einen echten Mehrwert gibt. Genau diesen Rückenwind auch aus den Erkenntnissen, wie viel Digitalisierung nützen kann, wollen wir mit dem Patientendaten-Schutz-Gesetz langfristig für das Gesundheitswesen nutzen. Wir wollen dafür sorgen, dass Digitalisierung im Gesundheitswesen bei den Patientinnen und Patienten ankommt, aber auch bei allen, die behandeln, weil natürlich auch die Behandlung leichter wird, wenn Informationen verfügbar sind. Es sind viele Anwendungen für die elektronische Patientenakte vorgesehen: beim Mutterpass, beim Impfausweis, bei den Behandlungsdaten überhaupt, sodass man die Röntgenbilder nicht durch die Gegend tragen muss, ob in der Tasche oder auf CD-ROM. All das gibt es ja noch jeden Tag im deutschen Gesundheitswesen. Nirgendwo in Deutschland wird noch so viel gefaxt wie im Gesundheitswesen. Das wollen wir jetzt Schritt für Schritt ändern. Ja, ich sage Ihnen: Die elektronische Patientenakte wird nicht ab dem 1. Januar bei allen Anwendungen gleich perfekt sein. Bei der Patientenakte wird nicht alles gleich ab dem 1. Januar gehen. Aber wir müssen mal anfangen. Herr Kessler, Sie nennen das jetzt überstürzt. Nach 15 Jahren Debatte führen wir endlich die elektronische Patientenakte ein. Wenn das Ihre Definition von „überstürzt“ ist, dann erklärt das an dieser Stelle einiges Ihrer Geschichtsaufarbeitung in den letzten Jahren. ({1}) Es ist jedenfalls eine interessante Definition. – Ich frage mich sowieso manchmal, was eigentlich mit Ihrer DDR passiert wäre, wenn es damals das Internet schon gegeben hätte. Dass Sie uns hier eine Rede zum Schutz von persönlichen Daten halten, ist eigentlich ein Treppenwitz der Geschichte, muss ich Ihnen ganz ehrlich sagen. ({2}) Aber unabhängig davon gilt: Datenschutz ist bei so sensiblen Daten wie Gesundheitsdaten wichtig, und zwar Datenschutz auf höchstem Niveau. Es gibt nichts Sensibleres für den Einzelnen, nichts Persönlicheres, Intimeres als die Daten über die eigene Gesundheit und insbesondere eine mögliche Erkrankung. Deswegen legen wir Datenschutzstandards auf höchstem Niveau in diesem Patientendaten-Schutz-Gesetz fest. Wir legen vor allem fest, dass diese Gesundheitsdaten auf deutschen Servern nach europäischem Datenschutzrecht zu verarbeiten sind. Was ich in der deutschen Debatte nie verstehen werde, ist, warum am Ende so viel mehr Bereitschaft da ist, Apple, Google, Facebook oder auch Alibaba die eigenen persönlichen Daten jeden Tag zur Verfügung zu stellen, als dann, wenn der eigene Staat einen Rahmen dafür setzt, Daten zum Wohle des Einzelnen – anonymisiert oder pseudonymisiert – zur Forschung und zum Mehrwert für alle Patientinnen und Patienten zu nutzen. Dann gibt es so ein Grundmisstrauen. Solange das so ist und es ein Grundvertrauen in amerikanische Großkonzerne und ein Grundmisstrauen in den eigenen Staat gibt, werden wir in der Digitalisierung nicht vorankommen. Deswegen ist diese Debatte dringend zu führen. ({3}) Gerade Sie hätten es anscheinend lieber, dass Apple und Google die Angebote entwickeln. Die bieten das jeden Tag an; die Bürger wollen es nutzen. Die Frage ist: Machen wir ihnen ein Angebot nach unserem Recht auf unseren Servern? Ich finde, wir sollten ihnen dieses Angebot machen, und das wird am 1. Januar beginnen. Abschließend, Herr Spangenberg: Ich meine, wenn die ganze Alternative, die Sie hier zu bieten haben, irgendwie Skepsis und monotone schlechte Laune mit Blick auf Digitalisierung ist, dann ist das nicht mein Verständnis davon, wie ich diese 20er-Jahre gestalten will. Ich möchte nicht, dass wir Digitalisierung erleiden; ich möchte, dass wir sie gestalten, dass wir daraus einen Mehrwert machen für die Bürgerinnen und Bürger, für die Patientinnen und Patienten, für alle, die im Gesundheitswesen tätig sind. Deswegen geht es eben darum, manchmal auch mit ein bisschen Zuversicht und guter Laune an diese Themen ranzugehen. Ja, ich bin sehr dafür, auch die Probleme, die Risiken und die Datenschutzfragen zu sehen, zu diskutieren und zu lösen. Aber unser Grundverständnis ist, dass wir Digitalisierung mit Zuversicht und guter Laune gestalten wollen. Das tut dieses Gesetz. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Minister. – Für die FDP hat nun das Wort der Kollege Dr. Wieland Schinnenburg. ({0})

Dr. Wieland Schinnenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004874, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Minister, das waren ja wieder mal salbungsvolle Worte von Ihnen. Aber ich möchte ein Thema mal aufgreifen. Sie sagen: Ja, Amazon, denen geben Sie das. – Das finde ich nicht richtig. Der Unterschied ist nämlich: Sie vertreten den Staat. Der Staat kann mit staatlicher Gewalt Daten erheben und Daten verarbeiten. Deswegen ist es selbstverständlich, dass wir allerhöchste Ansprüche an den Staat stellen, wenn er so etwas tut. Dieser Vergleich passt nicht, Herr Minister Spahn. Das war nicht richtig. Das Zweite ist: Alles, was Sie uns erzählt haben, ändert nichts an der Erkenntnis, dass bei diesem Gesetz Chancen verpasst wurden. Herr Kollege Sorge hat das ja zu Recht gesagt. Er sagte: Nach dem Gesetz ist vor dem Gesetz. – Das ist nichts anderes als die Erkenntnis: Dieses Gesetz ist unzureichend. Genau das ist auch so. ({0}) – Herr Sorge, das haben Sie genau so gesagt. Es wäre so schön gewesen. Wir hätten so schön ein Gesetz machen können, mit dem man die Digitalisierung im Gesundheitswesen voranbringt, mit dem man den Ärzten die Arbeit erleichtert oder mit dem man die Patientenrechte stärkt. Dann kam aber Herr Minister Spahn, und er hat eben viele Chancen verpasst. Lassen Sie mich das an fünf Beispielen erläutern. Erstes Beispiel. Man hätte zum Beispiel die Patientenrechte stärken können, hätte dafür sorgen können, dass die Patienten selbst entscheiden können, welche Daten sie ihrem jeweiligen Arzt geben. ({1}) Dann kam Minister Spahn und hat gesagt: Nein, das machen wir 2021 noch nicht. Da kann man nur alles oder gar nichts verteilen. – Chance verpasst. Zweites Beispiel. Wir hätten den Ärzten die Arbeit erleichtern können, indem man ihnen eine strukturierte Datensammlung an die Hand gibt. Minister Spahn hat das verhindert. Er hat dafür gesorgt, dass wir ein großes Sammelsurium von Daten haben, durch die sich die Ärzte jetzt durchkämpfen müssen. Erneut ist es so, dass Ärzte sich mit Bürokratie beschäftigen müssen statt mit Behandlung. – Chance verpasst. Drittes Beispiel. Wir hätten erreichen können, dass Teamwork im Gesundheitswesen erleichtert wird, indem alle Beteiligten, alle Behandler im Gesundheitswesen an diese Daten herankommen. Minister Spahn hat das verhindert. Logopäden und Ergotherapeuten haben eben gerade keinen Zugang, obwohl es dringend notwendig wäre, dass sie diese Daten haben. Viertes Beispiel. Wir hätten die Rettungshelfer auch einbeziehen können, sodass sie nicht nur einen Notfalldatensatz bekommen, sondern dass sie sofort alle Daten bekommen können, die sie gerade brauchen, wenn sie einen unbekannten Patienten vor sich haben. Das hat Minister Spahn verhindert. – Chance verpasst. Fünftes Beispiel. Wir hätten die völlig überholte Telematikinfrastruktur endlich mal durch eine neue Technik ablösen können. Das hat Minister Spahn verhindert. Im Gegenteil: Er zwingt sogar Ärzte, diese überholte Technik einzuführen. Meine Damen und Herren, ich stelle fest: Trotz aller netter Rhetorik hat Minister Spahn das Ziel verfehlt. Wir als Freie Demokraten wollen natürlich Digitalisierung im Gesundheitswesen. Aber für uns muss gelten: Wo „Digitalisierung“ draufsteht, muss auch was Vernünftiges drin sein. Das ist bei diesem Gesetz nicht der Fall. Deshalb lehnen wir es ab. Vielen Dank, meine Damen und Herren. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die nächste Rednerin ist für die Fraktion der SPD die Kollegin Martina Stamm-Fibich. – Bitte schön. ({0})

Martina Stamm-Fibich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004413, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Während meiner Zeit als Gesundheitspolitikerin habe nicht nur ich, sondern hat auch der Kollege Heidenblut immer auf sehr viel mehr Geschwindigkeit bei der Digitalisierung gedrängt. Wir haben dies gefordert, weil wir – und auch meine Fraktion – überzeugt sind, dass sich die Qualität der Versorgung so stark verbessern wird wie mit keinem anderen Instrument zu dieser Zeit. Dies gelingt mit dem vorliegenden Gesetzentwurf. Nur ein paar Beispiele: Wir machen die elektronische Patientenakte für alle Versicherten nutzbar. Wir führen das E-Rezept mit der dazugehörigen App ein. Wir führen den digitalen Überweisungsschein ein. Wir machen die Teleinfrastruktur insgesamt fit für die Zukunft und, und, und. All diese Maßnahmen sind wichtig; denn sie bieten den Patientinnen und Patienten einen echten Mehrwert. Sie können uns helfen, die Herausforderungen, die dem Gesundheitssystem unmittelbar bevorstehen, zu meistern und besser zu werden, und sie können uns helfen, vor allem die älteren und chronisch kranken Menschen besser zu behandeln, strukturschwache ländliche Gebiete medizinisch zu versorgen und die Bürokratie im Gesundheitssektor effizienter zu gestalten. ({0}) Diese Liste ließe sich jetzt beliebig fortsetzen. Denn wenn wir über die Digitalisierung im Gesundheitssystem sprechen, müssen wir – bei allen genannten Vorteilen – aber auch über die Risiken sprechen; wir haben einiges dazu gehört. Es ist die Pflicht der Politik, dafür zu sorgen, dass mit diesen Daten kein Missbrauch stattfinden kann. Ich bin davon überzeugt, dass wir mit dem vorliegenden Entwurf die Gratwanderung zwischen Innovation und Datenschutz meistern werden. Das Gesetz basiert auf einem sehr großen, breiten Abwägungsprozess zwischen Patienten, Daten und Datenschutz, bei dem wir uns auch immer wieder mit den entsprechenden Experten beraten haben. Es war mir als Patientenbeauftragte meiner Fraktion wichtig, dass hier Lösungen gefunden werden, die Vertrauen schaffen. Denn ohne das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger werden wir mit der ePA keine Erfolgsgeschichte schreiben. Ich bin voller Zuversicht, dass die ePA von vielen Versicherten freiwillig genutzt werden wird. Wir haben gerade etwas darüber gehört, wie viele sich dazu schon verständigt haben. Mit der Patientenkarte kommen wir da nicht weiter. Und: Endlich hört die Zettelwirtschaft auf. Meine Kinder sind schon groß; aber wie oft bin ich nach Impfpass, Untersuchungsheft und sonstigen Dingen gefragt worden. Ach Gott, wie freue ich mich für zukünftige Generationen, dass diese Zettelwirtschaft endlich ein Ende hat! ({1}) Patientinnen und Patienten können ab 2022 detailliert darüber entscheiden, welche Daten auf der ePA gespeichert werden und welche nicht und auf welche Daten zugegriffen werden kann und auf welche nicht. Herr Kollege Kessler, dazu gehört auch – wenn wir schon über Gleichberechtigung sprechen –, dass der Zahnarzt nicht wissen muss, was der Urologe macht. Der Hinweis auf die Schwangerschaftsabbrüche hat mich sehr, sehr wütend gemacht. ({2}) Ich hätte mir zwar gewünscht, dass das detaillierte Berechtigungsmanagement bereits jetzt beim Start zur Verfügung steht; aber das ist nun mal nicht so. Die jetzige Zweistufenlösung kann man als guten Kompromiss, der gefunden wurde, mittragen. Und anders als die Kollegin Aschenberg-Dugnus behauptet, bleibt die Entscheidung zur Speicherung schon jetzt bei den Patientinnen und Patienten. ({3}) Am Ende noch zwei Sätze zu den Terminals, weil es ja doch die eine oder andere Kritik und Diskussion gegeben hat. Nach reiflicher Abwägung der Argumente sind wir zu dem Entschluss gekommen, dass die flächendeckende Einführung von stationären Geräten nicht die richtige Lösung ist. Mir ist bewusst, dass der Zugang zur ePA natürlich barrierefrei gestaltet werden muss. Aber das bedeutet auch, dass Menschen ohne Smartphone auf ihre ePA zugreifen können müssen. Ich bezweifle aber, dass ein Großteil der Menschen, die kein Smartphone besitzen, am Ende an ein Terminal geht, das in irgendeinem Raum steht. Zumindest – ich habe mich heute früh noch mal versichert – mein 78-jähriger Vater sagte: Oje, Martina, das ist keine Option. Vielen Dank. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion ist der Kollege Stephan Pilsinger. ({0})

Stephan Pilsinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004853, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei der Verabschiedung des Digitale-Versorgung-Gesetzes im vergangenen November haben wir als CDU/CSU-Fraktion das Versprechen gegeben, digitale Lösungen für das Gesundheitswesen weiter voranzubringen und dabei den Schutz sensibler Patientendaten stets im Blick zu behalten – und dieses Versprechen halten wir auch. Mit dem Patientendaten-Schutz-Gesetz schaffen wir heute die gesetzliche Grundlage dafür, dass digitale Kommunikation im Gesundheitswesen künftig noch reibungsloser und sicherer funktioniert. Dabei spielen Datenschutz und Datensicherheit eine ganz wesentliche Rolle. Denn nur so schaffen wir Vertrauen bei den Menschen, und dieses Vertrauen ist ganz entscheidend, meine Damen und Herren. Denn nur wenn die Versicherten digitale Lösungen wie die elektronische Patientenakte auch nutzen, werden die umfangreichen Verbesserungen in der Gesundheitsversorgung für sie auch spürbar. Genau aus diesem Grund machen wir mit dem vorliegenden Entwurf deutlich: Die Versicherten können auch in Zukunft darauf vertrauen, dass ihre sensiblen Gesundheitsdaten sicher sind. Mit der Digitalisierung ergibt sich die Chance, unser Gesundheitssystem auf die Herausforderungen der Zukunft auszurichten, und den Weg dorthin haben wir sorgsam vorbereitet. Mit der Telematikinfrastruktur verfügt das deutsche Gesundheitswesen über eine eigene Datenautobahn für den verlässlichen und sicheren Transport von Gesundheitsdaten. Bereits ab dem kommenden Jahr sind die Krankenkassen gesetzlich dazu verpflichtet, ihren Versicherten eine elektronische Patientenakte anzubieten, und das ist auch richtig. Denn sie erleichtert nicht nur die Abläufe im ärztlichen Behandlungsalltag, sondern ermöglicht künftig noch präzisere Diagnosen und individuellere Therapien. ({0}) Dabei können Befunde, Diagnosen und Medikationspläne oder Behandlungsberichte auch in Zukunft ausschließlich von befugten Personen eingesehen werden und auch nur dann, wenn die Versicherten dem ausdrücklich zugestimmt haben. Meine Damen und Herren, digitale Gesundheitslösungen sind die Zukunft. Dank immer mehr Anwendungsmöglichkeiten und einer steigenden Zahl von Nutzern können wir medizinische Ressourcen künftig noch sinnvoller einsetzen, Fachkräfte entlasten und die Patientenversorgung insbesondere in der Fläche noch besser organisieren. ({1}) Digitale Lösungen unterstützen uns bei oft aufwendigen Behandlungen und Betreuung chronisch kranker Patienten. Telemedizinische Versorgungsangebote leisten schon heute einen wichtigen Beitrag dazu, die Lebensqualität dieser Patienten zu verbessern und Krankenhausaufenthalte zu vermeiden. Angebote wie Telemonitoring oder Telecoaching können eine sehr sinnvolle Ergänzung zur hausärztlichen Versorgung sein. Ganz besonders möchte ich daher an dieser Stelle hervorheben, dass wir den Krankenkassen mit dem vorliegenden Gesetz endlich ermöglichen, ihre Versicherten aktiv und gezielt über solche wichtigen Versorgungsangebote zu informieren. Vor allem während der Coronakrise hat sich gezeigt, dass Risikopatienten von telemedizinischen Angeboten und digitalen Gesundheitsanwendungen in besonderem Maße profitieren. Denn dadurch kann der behandelnde Arzt den Gesundheitszustand seiner Patienten stets im Blick haben und im Notfall sofort eingreifen. Wir machen mit dieser Klarstellung deutlich: Eine Information der Krankenkassen über lebensrettende Versorgungsangebote ist keine Werbung. Als Gesetzgeber haben wir mit dieser Regelung Hemmnisse beseitigt und Bremsen gelöst. Jetzt liegt es an den Kassen, ihren Versicherten diese neuen Versorgungsmöglichkeiten tatsächlich anzubieten und sie natürlich auch darüber zu informieren. Meine Damen und Herren, mit dem Patientendaten-Schutz-Gesetz setzen wir jetzt eine ganz konkrete Verbesserung für die Patientinnen und Patienten in unserem Land um. Deshalb bitte ich um Ihre Unterstützung für dieses Gesetz. Vielen Dank. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Kollege. – Die nächste Rednerin ist die Kollegin Heike Baehrens, SPD-Fraktion. ({0})

Heike Baehrens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Wer hohe Türme bauen will, muss lange beim Fundament verweilen“ – das hat Anton Bruckner einmal gesagt. Ich denke, das haben wir mit diesem Gesetz getan, mit dem wir das Fundament dafür legen, dass alle Gesundheitsdaten der Patienten sicher verwahrt und geschützt bleiben; denn es ist die Basis, um Chancen und Potenziale technischer und digitaler Innovationen umfassend nutzen zu können. ({0}) Das ist auch für die Pflege enorm wichtig. In einigen ambulanten Pflegediensten und Heimen gibt es längst echte digitale Leuchtturmprojekte. Aber es gibt unter den Beschäftigten der Pflege auch viele, die sich schwertun im Umgang mit technischen Neuerungen und digitalen Anwendungen, und das liegt auch an der Sorge um die Datensicherheit. Deshalb war es gut, dass wir so lange beim Fundament verweilt und es solide gebaut haben. ({1}) Modellprojekte für eine zeitsparende digitalisierte Dokumentation haben gezeigt, wie hilfreich und wertvoll digitale Anwendungen bei der Pflegeprozessgestaltung und auch für die Qualitätssicherung sind. Digitalisierung kann das Pflegepersonal von bürokratischem Aufwand entlasten; denn Pflegekräfte benötigen vor allem eines: mehr Zeit für die eigentlichen Kernaufgaben, für die direkte Arbeit am Menschen und für Zuwendung. ({2}) Ich freue mich darüber, dass der Deutsche Pflegerat eine sehr fortschrittliche Positionierung zu diesem Thema vorgelegt hat. Er hat damit ein starkes Signal gegeben, diese Entwicklung aktiv gestalten zu wollen. Sie haben konkrete Vorschläge gemacht, von denen einige hier und heute in diesem Gesetz beschlossen werden. Und: Der Deutsche Pflegerat fordert zu Recht Mitwirkung an allen Prozessen ein. ({3}) Dieses Angebot muss auf allen Ebenen ernst genommen werden. Nur wenn die Pflege direkt beteiligt wird, werden praxistaugliche Lösungen dabei herauskommen. ({4}) Aber jetzt ist es auch an den Diensten und an den Einrichtungen, tatsächlich diese Möglichkeiten zu nutzen und sich der Telematikinfrastruktur anzuschließen. Damit Pflegekräfte – natürlich immer nur mit Zustimmung der zu Pflegenden oder der Patientinnen und Patienten – direkt auf die benötigten Daten zugreifen können, führen wir einen elektronischen Berufsausweis ein. So wie Ärzte heute schon eine lebenslang gültige Arztnummer haben, können dann auch Pflegekräfte zukünftig unkompliziert mit ihrer Beschäftigungsnummer zeichnen und damit dokumentieren. Wenn die Datensicherheit in allen Stufen der digitalen Anwendungen gewährleistet ist, wenn die Pflege Zugriffsrechte hat, dann bieten sich auch vielfältige neue Möglichkeiten, um Versorgungslücken zu schließen. Ich will das am Beispiel der Wundversorgung veranschaulichen. Wir haben einen Mangel an speziellen Wundexpertinnen und ‑experten, und gleichzeitig sind es oft pflegebedürftige, weniger mobile Menschen, die chronische Wunden haben. Regelmäßige Wundbegutachtung über Televisite gibt Patientinnen und Patienten mehr Sicherheit und spart lange Wege, zum Beispiel in strukturschwachen Gebieten. Dafür haben wir wunderbare Beispiele in den Niederlanden kennengelernt, bis hin zu Smart-Home-Care-Lösungen; da haben wir, glaube ich, hier in Deutschland noch viel vor uns. Aber dafür brauchen wir genau dieses Fundament in Form des Gesetzes, das wir heute beschließen. Ich denke, es ist gut, dass wir mit diesem Gesetz dieses Fundament heute legen, um Digitalisierung auch für eine bessere pflegerische Versorgung zu nutzen und Pflegekräfte durch digitale Anwendungen zu entlasten. Lassen Sie uns gemeinsam auf diesem Fundament weiterbauen! Vielen Dank. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Wir kommen zur letzten Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt: die Kollegin Dr. Claudia Schmidtke, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Claudia Schmidtke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004879, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ganz herzlichen Dank. – Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wenn uns die Covid-19-Pandemie auch nur eine positive Erkenntnis beschert hat, dann ist es die, was uns die Digitalisierung bereits jetzt bietet; das hatte der Minister schon angesprochen. Damit meine ich nicht vordergründig die international beachtete Corona-Warn-App made in Germany. Wir sollten uns mal vorstellen, wo wir vor 20, 25 Jahren gestanden hätten, wenn uns die Pandemie zu diesem Zeitpunkt erreicht hätte: Ein Homeoffice – kaum praktikabel; Videokonferenzen – unvorstellbar; telemedizinische Betreuung – weder aus ärztlicher noch aus logopädischer Sicht möglich. Selbst vor fünf Jahren hätte uns die Telemedizin noch vor Schwierigkeiten gestellt. Wir erkennen heute: Die Digitalisierung ist in unserem Alltag angekommen, und sie hat richtig an Dynamik gewonnen. Gleichzeitig haben wir erkannt, wo wir besser werden müssen: bei der Bildungsbetreuung, aber auch bei der Nutzung der digitalen Möglichkeiten durch den Öffentlichen Gesundheitsdienst. Diese Themen haben wir alle im Blick; wir müssen sie im Blick haben. Ein Thema bzw. Vorhaben, das wir lange im Blick hatten und heute auf den Weg bringen, ist die langersehnte elektronische Patientenakte mit all ihren bereits genannten Einzelprojekten. Was bedeutet das konkret? Ich gebe Ihnen gern ein Beispiel aus meinem Berufsleben als Herzchirurgin. Vor ungefähr 20 Jahren habe ich eine Spezialsprechstunde für Marfan-Patienten aufgebaut. Diese Patienten leiden an einer Bindegewebsschwäche; es handelt sich um eine chronische Erkrankung. Diese Bindegewebsschwäche betrifft unterschiedliche Organe in unterschiedlicher Ausprägung. Diese Patienten sah ich mit großen Tüten – es waren Aldi-Tüten; denn das sind die größten damals gewesen – gefüllt mit einem Packen Röntgenbildern und einem dicken Aktenordner mit Arztbriefen und Befunden von Facharzt zu Facharzt laufen. Die Röntgenbilder sind mittlerweile immerhin auf CD, was es nicht viel leichter macht, aber den Ordner gibt es noch immer – wenn es gut läuft. Nicht nur, dass diese Patienten nicht schwer tragen dürfen; es wäre insgesamt eine absolute Erleichterung für Behandelnde und Behandelte gleichermaßen, wenn die individuellen Patienteninformationen in einer elektronischen Akte verfügbar wären. Mit ihrer Einführung sind schwierige Fragestellungen verbunden. So ist in der heutigen Zeit kaum ein sensibleres Thema vorstellbar als die Vertraulichkeit der persönlichen Daten von Patientinnen und Patienten. Die Menschen fragen sich: Ist gesichert, dass beispielsweise eine psychosomatische Erkrankung nicht an die Öffentlichkeit gerät, sodass mir keine Nachteile daraus entstehen können? – Ich finde, es gibt eine kaum beachtete positive Seite dieser Fragestellung in Zeiten der Digitalisierung: Haben wir denn jemals zuvor so intensiv über Patientendaten gesprochen? Hat informationelle Selbstbestimmung in den analogen, papierbasierten Krankenakten eine derart herausragende Rolle gespielt? Die Digitalisierung verändert das Empfinden von Patientinnen und Patienten. Sie ermächtigt uns zu mehr; sie macht uns alle auch skeptischer, kritischer. Das ist eine positive Entwicklung, und daher hat meine Fraktion auch von Anfang an klargestellt, dass es die Patientinnen und Patienten sein müssen, die entscheiden, was mit ihren Daten geschieht, dass auch, wer überhaupt keinen Zugang zu digitalen Möglichkeiten hat, keine Nachteile dadurch haben darf. Deshalb ist das vorliegende Gesetz ein Patientendaten-Schutz-Gesetz, und deshalb trägt es diesen Namen auch zu Recht, meine Damen und Herren. ({0}) Die ePA ist ein Meilenstein für unsere Gesundheitsversorgung, aber sie ist kein Selbstzweck. Ihr einziger Sinn und Zweck ist der Nutzen für die Patientinnen und Patienten. Wir wollen die Gesundheitsversorgung effizienter, vor allem aber effektiver bei der Bekämpfung von Krankheiten machen. Ich verweise gern auf die geschätzten Professorinnen Woopen und Wendehorst und die gesamte Datenethikkommission, die völlig zu Recht die Politik ermahnt haben, auch auf die potenzielle Gesundheitsgefährdung bei Nichtnutzung der digitalen Möglichkeiten hinzuweisen. Wir schaffen die ePA, weil sie Leben rettet. Das gilt auch für die Nutzungsmöglichkeiten durch die medizinische Forschung und die Universitätskliniken, die sich in Coronazeiten als Herzmuskel unserer Krisenabwehr erwiesen haben. Die Sicherstellung von Interoperabilität, die Nutzung von FHIR als Codierstandard, der Kauf der SNOMED-Lizenz, die Einrichtung des Forschungsdatenzentrums und gleichzeitiges Ermöglichen der unmittelbaren Datenspende, all das unterstreicht die große Bedeutung der Gesundheitsforschung für uns alle. Das Patientendaten-Schutz-Gesetz stellt die Nutzung der digitalen Möglichkeiten zum Nutzen der Patientinnen und Patienten sicher. Es gibt Antworten auf ein neues Bewusstsein der Daten- und damit Patientensicherheit, die Sicherstellung von Qualität und Innovationsfähigkeit. Für mich ist es ein Patientenschutzgesetz der digitalen Zeit. Ich bitte Sie um Zustimmung. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Ich schließe die Aussprache.

Ansgar Heveling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004056, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Während der erste Bundestag 1949 noch auf der Grundlage eines Wahlgesetzes der Militärregierung nach getrennten Wahlgebieten in den einzelnen Bundesländern gewählt wurde, war es die Aufgabe dieses ersten Deutschen Bundestages, ein Wahlgesetz für die gesamte Bundesrepublik für die zweite Bundestagswahl zu beschließen. Und, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, was geschah? Lange Zeit gar nichts. ({0}) Denn der Bundestag konnte sich nicht auf ein Wahlgesetz einigen. Dabei galt es, fundamentale Grundentscheidungen zu treffen. Das Wahlsystem ist nämlich nicht durch Artikel 38 des Grundgesetzes vorgegeben; Artikel 38 normiert lediglich die Grundsätze des Wahlrechts. Also gab es heftige Auseinandersetzungen zwischen Befürwortern und Gegnern des Mehrheits- und des Verhältniswahlrechts. Die Zeit ging ins Land, und schließlich einigte man sich auf das personalisierte Verhältniswahlrecht. Und wann einigte man sich darauf? Die Bundestagswahl fand am 6. September 1953 statt. Das dazugehörige Wahlgesetz datiert auf den 8. Juli 1953. Weniger als zwei Monate vor der ersten Bundestagswahl, auf die es angewendet werden sollte, hat der Bundestag das Wahlrecht beschlossen. Keine Sorge: So lange wollen wir nicht warten. ({1}) Dabei waren grundlegende Veränderungen umzusetzen: beispielsweise der Übergang vom Einstimmen- auf ein Zweistimmenwahlrecht und die Festlegung eines einheitlichen statt länderspezifischen Wahlgebiets. Man sieht: Wenn man möchte, lassen sich auch kurzfristig umfassende Änderungen des Wahlrechts durchsetzen, sogar fundamentale. ({2}) Das Wahlrecht von 1953 hat im Übrigen im Grundsatz bis heute gehalten. Wer will, der kann. Heute stehen wir wieder vor der Frage, ob wir das Wahlrecht ändern müssen. „Ja“ ist die Antwort darauf. Unser Wahlrecht hat sich grundsätzlich bewährt. Aber durch Änderungen, zu denen wir uns auch durch Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts veranlasst sahen, ({3}) ist das geltende Wahlrecht zum Risikofaktor geworden. Es folgt zwar jetzt sehr weitgehend dem strengen Proportionalitätsprinzip, einem Kernelement des Verhältniswahlrechts; das geschieht aber um den Preis der Unkalkulierbarkeit. Wie groß der Bundestag nach einer Wahl wird, ist aufgrund des geltenden Wahlrechts schwer bis gar nicht zu prognostizieren. Ja, es ist viel Zeit verstrichen, in der wir intensiv über Lösungen diskutiert haben, ohne zu Ergebnissen zu kommen. ({4}) Es heißt aber nicht, dass die Zeit für eine Lösung nun gänzlich verstrichen ist. Wir waren immer zu Änderungen bereit, ({5}) und CDU und CSU haben einen Weg für die Wahlrechtsreform aufgezeigt. ({6}) Unser Vorschlag ist doch gar nicht so arg weit vom Vorschlag der Oppositionsfraktionen entfernt. ({7}) Das gilt auch für das Ergebnis. Nach dem Vorschlag der Opposition gäbe es hier im Plenum 630 Sitze, nach unserem Vorschlag, nach unseren Berechnungen wären es 632 Sitze. ({8}) Im Gegensatz zu dem Vorschlag der Opposition werden die Lasten jedoch gleichmäßig und nicht einseitig verteilt, wird auf föderale Bedürfnisse Rücksicht genommen und eine moderate und damit für alle tragbare Anpassung des Wahlrechts angestrebt. Bundestagsabgeordnete müssen für alle Bürgerinnen und Bürger noch erfahrbar bleiben. Das stärkt Bürgernähe und Demokratie. Das bleibt mit einer moderaten Reduzierung der Anzahl der Wahlkreise von 299 auf 280 auch gewährleistet. Dabei geht es übrigens nicht um einen Unterschied zwischen direkt gewählten oder über Liste gewählten Abgeordneten. Beide haben Wahlkreise als Anker und stellen sich üblicherweise jeweils in einem zur Wahl. Ohne Wahlkreise hätten wir aber ein reines Listenparlament. Schauen wir uns an, was das in unseren Nachbarländern, etwa den Niederlanden, bedeutet: Dort ist ein Abgeordneter für ganze Provinzen aus der Nähe überhaupt gar nicht erfahrbar. Eine Reform des ersten Zuteilungsschritts sichert die föderale Struktur unseres Bundesparlaments. ({9}) Ohne ersten Zuteilungsschritt wäre die Repräsentanz von ganzen Regionen im Bundestag durch unterschiedliche politische Richtungen nicht mehr gewährleistet. ({10}) Das wäre ein Verlust für die politische Kultur. Mit einem reformierten ersten Zuteilungsschritt werden Überhangmandate teilweise mit Listenmandaten der gleichen Partei in anderen Ländern verrechnet. Aber es laufen nicht ganze Länder in der Bundesrepublik für eine Partei leer. Und schließlich tragen nicht ausgeglichene Überhangmandate, deren Zahl deutlich unter dem verfassungsrechtlich Zulässigen liegen kann, erheblich mit dazu bei, dass der Bundestag nicht weiterwächst. Nicht ausgeglichene Überhangmandate sind in einem engen Rahmen zulässig, weil das Bundesverfassungsgericht anerkennt, dass das Verhältniswahlrecht bei uns durch personale Elemente durchbrochen wird. Wer sich die entsprechenden Passagen im Urteil des Verfassungsgerichts anschaut, kann klar erkennen, dass es dem Senat wichtig war, dies festzuhalten. Der erste Deutsche Bundestag hat es uns vorgemacht: Man kann das Wahlrecht kurzfristig und zugleich nachhaltig ändern. – So lange wollen wir nicht warten. Noch haben wir aber die Zeit für Änderungen. Wir sind dazu bereit. Vielen Dank. ({11})

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Zeit drängt, weil sich das Zeitfenster für eine Änderung ... für die kommende Wahl im Herbst schließt. Das schreibt dpa vor Stunden. In Fraktionskreisen wird davon ausgegangen, dass eine Reduzierung der Wahlkreise noch möglich sei, wenn sie ... in den ersten Sitzungswochen nach der Sommerpause beschlossen wird. Meine Damen und Herren, nach § 21 Absatz 3 Bundeswahlgesetz können ab dem 25. März innerhalb der Parteien Wahlen für Vertreterversammlungen und ab dem 25. Juni Nominierungen von Kandidaten für die Bundestagswahl 2021 vorgenommen werden. Die SPD weist darauf hin, dass dies in einigen Wahlkreisen bereits geschehen sei. Wie in Herrgotts Namen soll das geltende Bundeswahlrecht noch geändert werden und sollen insbesondere Wahlkreise noch neu eingeteilt werden? Im Gesetzentwurf der drei kleinen Parteien und nach den Gedankenspielen der GroKo, die derzeit in stündlichen Variationen durch die Luft fliegen, ist jedoch genau das vorgesehen. Eine unlösbare Aufgabe! Chaos auf allen Rängen. Was machen wir eigentlich hier, und was soll diese Veranstaltung? Es ist Mummenschanz und Irreführung des Publikums. ({0}) Die AfD hatte in einem Gesetzentwurf vom 13. November 2019 die Verschiebung der Frist für Kandidatenaufstellungen um drei Monate vorgesehen, was verfassungsrechtlich zulässig gewesen wäre. Das hätte Luft bis zum September verschafft, um tatsächlich noch eine Wahlrechtsreform hinzubekommen. Unser Gesetzesvorschlag wurde wie üblich von allen anderen abgelehnt. Seit Januar 2018 bis heute wurde ergebnislos zwischen den Parteien verhandelt. Das ist Beschädigung des Ansehens dieses Staates und der Demokratie in Deutschland. ({1}) Das Wahlsystem eines Landes ist ein Eckpfeiler der Demokratie. Es gibt nicht vieles, was wichtiger ist. Die Wahlrechtsreform 2012, mit der das Verfassungsgerichtsurteil von 2011 umgesetzt worden ist, war die Lizenz zum grenzenlosen Zuwachs der Bundestagsmandate. Diese 22. Änderung des Bundeswahlgesetzes reiht sich ein in die jahrelange Flickschusterei, die den Konflikt des angestammten Verhältniswahlrechts mit Elementen einer Mehrheitswahl nicht löst. Wer Überhangmandate für Direktkandidaten zulässt, muss auch Ausgleichsmandate gewähren, um dem „Grundcharakter des Verhältniswahlrechts“, wie das Bundesverfassungsgericht es formuliert, gerecht zu werden. Damit ist der Weg frei für die demokratisch höchst fragwürdige Aufblähung des Bundestages. Die Wahl 2017 erbrachte 111 Mandate mehr als regelhaft im Gesetz vorgesehen. Das sind fast 20 Prozent . Die Stimmbasis für alle Abgeordneten wurde damit verwässert. Eine Lösung gelingt nur, wenn man das Leitprinzip der Verhältniswahl über das Prinzip der partiellen Mehrheitswahl stellt, meine Damen und Herren. Überhangmandate dürfen gar nicht erst entstehen, dann gibt es auch kein Problem mit Ausgleichsmandaten. Dazu gibt es nur einen Weg, nämlich die Begrenzung der Zahl der Direktmandate auf die Zahl der Mandate, die jeder Partei nach dem Verhältniswahlergebnis zusteht. Die AfD hatte im November 2018 ein Konzept zu einer solchen Lösung vorgelegt. Es fand reflexhaft Ablehnung. Nachdem 100 Staatsrechtslehrer im September 2019 die überfällige Reform angemahnt hatten, hat die AfD am 16. Oktober 2019 ihr Konzept als Sachantrag in dieses Plenum eingebracht. Es führt die Größe des Bundestages von derzeit 709 auf die festgelegten 598 Mandate zurück und verkleinert das Parlament damit um 111 Sitze. Dieser Antrag wurde am 14. November 2019 erwartungsgemäß abgelehnt. Polemisiert wurde gegen ihn auf zweifache Weise. Erstens. Man könne einem gewählten Direktbewerber das Mandat nicht wegnehmen. Sie hören das noch durch den Saal klingen. Dies geschieht jedoch gar nicht. Es wird vielmehr zur Erringung eines Direktmandates eine Zusatzbedingung aufgestellt, die es zum Beispiel im baden-württembergischen Landtagswahlrecht seit Jahrzehnten gibt. Es kommen die Bewerber nicht zum Zuge, die innerhalb eines Bundeslandes im Kreise der Bewerber der eigenen Partei die relativ schlechtesten Ergebnisse erzielen. Dies gilt natürlich nur dann, wenn in diesem Bundesland Überhangmandate für diese Partei überhaupt entstehen würden ohne diese Zusatzbedingung. Zu bedenken ist dabei, dass Bewerber mit einer relativen Mehrheit von zum Beispiel 25 Prozent – Zahlen, die auf diesem Niveau spielen, kennen wir –, die ohne diese Einschränkung einen Wahlkreis gewinnen würden, eine Wählerschaft von 75 Prozent in ihrem Wahlkreis gegen sich haben. Zweitens. Die auf diese Weise vorgenommene Begrenzung der Zahl der Direktmandate sei verfassungswidrig. Diese Meinung wird gelegentlich geäußert und auf eine angebliche Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gestützt. Namhafte Experten aus der Wissenschaft sehen ein solches Problem nicht. Auch mehrere Gutachter der Anhörung zum Wahlrechtsvorschlag der kleinen Parteien wenden sich ausdrücklich gegen diese Sicht und zuletzt eine wissenschaftliche Begutachtung durch den Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages vom 17. Dezember 2019. Dieser Bundestag wäre also gut beraten, wenn er sich eine solche Lösung zu eigen machen würde, die hier als Zusatzpunkt 38 von der AfD auf die Tagesordnung gesetzt worden ist. Dann könnten wir uns alles andere sparen. ({2}) Der Gesetzentwurf der kleinen Parteien, meine Damen und Herren, der im Ausschuss von der GroKo seit Wochen aufgehalten wird, ist keine prinzipielle Lösung des Problems. Er wurde bei der Sachverständigenanhörung auch als mäßig bewertet. Er sei zwar verfassungsgemäß, aber ansonsten eigentlich nicht bedeutend. Im geltenden Wahlrecht wurden lediglich zwei Zahlen verändert – eine intellektuell eher mäßige Leistung. Statt 598 soll der Bundestag in Zukunft 630 Mandate haben. Dadurch soll die Zahl der Überhangmandate sinken. Das ist genauso schlau, wie wenn man die Promillegrenze im Straßenverkehr erhöhen würde, um damit weniger alkoholbedingte Verkehrsdelikte zu haben. ({3}) Zudem soll die Zahl der Wahlkreise von 299 auf 250 gesenkt werden. Die dann entstehenden Mammutwahlkreise stehen offensichtlich im Widerspruch zur Bürgernähe eines direkt gewählten Abgeordneten. Insgesamt also keine Lösung, sondern ein Alibi. Das Bild der GroKo, was Lösungskonzepte angeht, ist hanebüchen. Die CDU spricht von Kappungen, von Kappungen von Direkt- wie Listenmandaten, die beim AfD-Modell noch als Teufelszeug galten. ({4}) Und die SPD will das Prinzip „Jedem Bürger eine Stimme“, was jeder Demokratie eigen ist, zerstören und stattdessen Geschlechterquoten einführen. Dies alles ist die politische Niederwildjagd, die wir aus vielen anderen politischen Gebieten in diesem Hause kennen. Fazit: Eine Problemlösung, die aus Zeitgründen ohnehin nicht mehr möglich ist, wird gar nicht gewollt. Die Beibehaltung des jetzigen Zustandes sichert Mandate und soll daher erhalten bleiben.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Der letzte Satz, Herr Präsident. – Den Rock des Gemeinwohls, wie die Staatsrechtslehrer so schön gefordert haben, zieht sich die GroKo nicht an. Ihr ist das eigene Hemd näher! Herzlichen Dank. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der Kollege Carsten Schneider hat das Wort für die Fraktion der SPD. ({0})

Carsten Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003218, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Wahlrecht ist das vornehmste Recht der Wähler in Deutschland, über Politik zu bestimmen, über die Zusammensetzung des Bundestages, der Abgeordneten, die sich auch heute hier versammelt haben. Das Wahlrecht ist auch ein Recht, mit dem man sehr vorsichtig umgehen sollte, insbesondere was Veränderungen angeht. Wir haben es mit einer Größe des Bundestages von 709 Abgeordneten und unter Pandemiebedingungen im letzten Vierteljahr geschafft, Handlungsfähigkeit zu beweisen, Antworten zu geben, die dieses Land brauchte. Sie betrafen sowohl den Gesundheitsschutz als auch die ökonomischen Maßnahmen. ({0}) Das gilt auch für diese Woche; gerade heute Morgen haben wir den langfristigen Kohleausstieg beschlossen. All das geht. ({1}) Und deswegen will ich klar sagen: Eine Veränderung des Wahlgesetzes, die auch wir als SPD-Fraktion anstreben, die eine Deckelung des Wachstums des Bundestages vorsieht – wir schlagen dies als einzige Fraktion so vor –, ist eine Ergänzung zu einem bewährten politischen Wahlsystem, das die Demokratie in Deutschland stark gemacht hat. ({2}) Teile der Opposition haben einen Vorschlag eingebracht, der eine Reduzierung der Zahl der Wahlkreise um 50 vorsieht, ausgehend von 299 Wahlkreisen. Das ist eine sehr deutliche Reduzierung der Anzahl bzw. eine Vergrößerung der Wahlkreise. Diese würde aber auch – auch das muss man mit betrachten – einen größeren Abstand zwischen Gewählten und Wählern zur Folge haben. Denn ein um fast ein Drittel größerer Wahlkreis bedeutet auch weniger Repräsentanz. Aus diesem Grund sind wir als SPD-Fraktion nicht für diese Reduzierung um 50, sondern wir sind dagegen. Wir lehnen dies ab. ({3}) – Ja, die CDU hat sich diese Woche geeinigt. Das haben auch wir zur Kenntnis genommen. ({4}) – Einen Moment. Es sind so viele Zurufe hier, Herr Präsident. Auf welchen soll ich eingehen? – Der Vorschlag, den die Unionsfraktion eine Woche vor der parlamentarischen Sommerpause beschlossen hat, liegt uns als Fraktion bisher nicht schriftlich vor, und das, obwohl er eine sehr zentrale Frage des Wahlrechts betrifft. ({5}) Deswegen müssen Sie davon ausgehen, dass, wenn Sie jetzt eine Bewertung von mir wollen, ich Ihnen nur sagen kann, dass wir als SPD-Fraktion über eine am Dienstagabend um 21 Uhr oder 22 Uhr getroffene Entscheidung der Unionsfraktion – das kann sie gern machen – nicht am Mittwochmorgen im Innenausschuss entscheiden. ({6}) Unsere Entscheidung steht seit vier Monaten fest. ({7}) Wir wollen das Wahlsystem in Deutschland erhalten, wir wollen es aber im Gegensatz zu allen anderen Fraktionen mit einer festen Obergrenze des Deutschen Bundestages versehen. Auch der Vorschlag der Opposition sieht das nicht vor; ich muss das so dezidiert sagen. ({8}) Bei der besonderen Situation des Auseinanderklaffens zwischen Zweitstimmenergebnis und Anzahl der direkt gewählten Abgeordneten kann es sein, dass auch dann der Bundestag auf deutlich mehr als 700 Abgeordnete anwächst. Auch das muss die Opposition, glaube ich, zumindest zur Kenntnis nehmen. Aus diesem Grund ist das nicht unser Modell. Wir sind für die Beibehaltung der 299 Wahlkreise zur Bundestagswahl 2021. ({9}) Das ist schon immer unsere Position gewesen. Das ist nichts Neues, Herr Kuhle. Wir sind dafür, dass der Bundeswahlleiter weiterhin – er hat schon damit begonnen – Informationen an die Parteien verschicken kann, dass Direktkandidaten zur nächsten Bundestagswahl aufgestellt werden können. ({10}) Denn insbesondere die Frage der Repräsentanz, der Nähe der Bevölkerung zu den Abgeordneten ist für uns zentral. Deswegen setzen wir nicht bei den Wahlkreisen an. ({11}) – Ja, ich habe Ihren Vorschlag doch gewürdigt. Aber es ist nicht unserer. Es gibt zwei weitere Möglichkeiten. Sie können Überhangmandate nicht unbegrenzt wegfallen lassen – es gibt ein entsprechendes Urteil des Bundesverfassungsgerichts –, aber für bis zu, sagen wir, 80 Überhangmandate wäre dies möglich. Auch das würde zu einer Dämpfung führen. Es würde aber auch zu einer Verzerrung des Wahlergebnisses an sich führen, weil die Zweitstimme die relevante Stimme für die Zusammensetzung des Deutschen Bundestags und die Abbildung des Wählerwillens ist. Wir wollen keine Wahl haben, bei der der Wählerwille durch Überhangmandate quasi nicht abgebildet wird. ({12}) Deswegen findet auch dieser Vorschlag nicht unsere Zustimmung. Wir wollen eine Begrenzung des Bundestages – wir bleiben bei der Regelgröße von 598 – auf maximal 690 Abgeordnete. Dieser Vorschlag liegt Ihnen vor; den kennen Sie. Wir sagen: Wenn es Überhangmandate in einem Bundesland gibt, die nicht durch Zweitstimmen der jeweiligen Partei gedeckt sind, dann wird der Wahlkreisgewinner mit dem schlechtesten Erststimmenergebnis nicht in den Deutschen Bundestag einziehen. Das ist unser Vorschlag für das Jahr 2021. Darüber reden wir hier heute. Das garantiert die Repräsentanz der Bevölkerung. Das garantiert letztendlich auch eine wirklich feste Größe des Deutschen Bundestages. ({13}) Das garantiert auch, dass wir uns hier im Bundestag nicht in der Situation wiederfinden, dass der Bundestag sehr viel größer ist als die ursprünglich geplante Regelgröße von 598 Abgeordneten. Von daher: Für das Jahr 2021 haben wir dies so festgelegt, und das schon vor vier Monaten. Dieser Vorschlag hätte auch schon gemeinsam beraten werden können. Es hat bei der Unionsfraktion ein bisschen länger gedauert, aber gut, jeder hat seine eigene Meinungsbildung. Für 2025 setzen wir zwei Punkte an. Unseren Vorschlag für 2021 haben Sie, glaube ich, verstanden: Deckel bei 690 Abgeordneten. Mit Blick auf 2025: Einsetzung einer Kommission, ({14}) was in dieser Legislaturperiode schon beschlossen wird. In dieser Kommission soll das Wahlrecht, das Wahlsystem in Deutschland, insbesondere unter Berücksichtigung der Veränderungen, besprochen werden. ({15}) Auch dort nehmen wir die Möglichkeit durchaus in den Blick, über das Modell einer – geringen – Reduzierung der Wahlkreise vorzugehen. ({16}) Nichtsdestotrotz ist der zweite und entscheidende Punkt für uns, dass wir im 101. Jahr nach Einführung des Frauenwahlrechts insbesondere darauf achten, dass die Listen der jeweiligen Parteien quotiert sind. ({17}) Auch dieser Vorschlag findet sich in den Oppositionsmodellen nicht; ich muss das so sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen und Linken. Von daher: Ich wünschte, wir wären an dieser Stelle schon weiter. Es hat zumindest bei unserem Koalitionspartner ein wenig gedauert mit der Meinungsbildung. Wir werden jetzt in die Konsensfindung gehen. Diese Debatte trägt sicherlich dazu bei, die Argumente noch einmal vorzutragen. Ich freue mich auf die Gespräche. Ich hoffe, dass wir im September eine Entscheidung treffen können. Vielen Dank. ({18})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Straetmanns, Fraktion Die Linke. ({0})

Friedrich Straetmanns (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004907, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. – Ich will nur einen Punkt kurz klarstellen, weil Sie ihn direkt angesprochen haben. Das geht relativ schnell und einfach. Ich habe in der ersten Sitzung der Wahlrechtskommission für Die Linke die Frage der Parität angesprochen, weil uns das ein wichtiges Anliegen ist. Ich habe außer von den Grünen keine Unterstützung bekommen. Nur um eine historische Wahrheit klarzustellen. Danke. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Darauf muss man nicht antworten, wenn man nicht möchte. ({0}) Der nächste Redner ist für die FDP-Fraktion der Kollege Konstantin Kuhle. ({1})

Konstantin Kuhle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004796, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist schon bemerkenswert, was der Kollege Schneider hier gerade am Rednerpult erklärt hat. ({0}) Carsten Schneider hat gerade hier im Deutschen Bundestag den Vorschlag der Unionsfraktion zur Reform des Wahlrechts abgeräumt. Es wird bei der Bundestagswahl 2021 – hat er gerade hier gesagt – keine Reduzierung der Wahlkreise geben. Ein wesentlicher Teil der Pressemitteilung aus der Unionsfraktion ist eine Reduzierung der Wahlkreise. Damit ist die Sache vom Tisch. Damit ist die Sache tot. ({1}) Damit bleibt es dabei: Der einzige heute beschlussfähige Vorschlag kommt von Grünen, Linkspartei und FDP. ({2}) Er sieht eine Reduzierung der Wahlkreise vor. Er begrenzt den Anstieg der Gesamtsitzzahl, und er führt am Ende dazu, dass es schon bei der Bundestagswahl 2021 zu einer Reduzierung der Gesamtzahl der Abgeordneten kommen wird. Meine Damen und Herren, es ist ja spannend, über welche Themen sich dieses Haus hier immer wieder unterhält. Wir sprechen jetzt zum wiederholten Male über das Wahlrecht. Eigentlich – das ist auch die Auffassung vieler Menschen im Land – gibt es ja wichtigere Themen. Gerade in der Coronazeit sollten wir vielleicht darüber sprechen, wie viele Menschen Probleme mit der Kinderbetreuung haben, wie viele Menschen sich am Bildungssystem abarbeiten, weil da nicht genügend Digitalisierung betrieben wird. Wir sollten darüber sprechen, wie viele Menschen sich Sorgen um ihren Arbeitsplatz machen. Wir sollten darüber sprechen, wie viele Betriebe schon schließen mussten, darüber, was passiert, wenn die Pflicht zur Stellung von Insolvenzanträgen wieder besteht. Stattdessen beschäftigt sich dieses Parlament zum wiederholten Male mit sich selbst. Dafür haben die Bürgerinnen und Bürger kein Verständnis mehr. ({3}) Deswegen müssen wir dieses Thema heute abräumen, indem noch vor der Sommerpause ein Gesetzentwurf beschlossen wird, der eine Reduzierung der Zahl der Mitglieder des Deutschen Bundestages bewirkt. Ich will das einmal ganz deutlich sagen: Es gibt in allen Fraktionen hier im Haus Menschen, die ernsthaft an einer Reform des Wahlrechts arbeiten. Mein Dank geht ausdrücklich auch an die Kolleginnen und Kollegen in der SPD, in der CDU/CSU, die das ernst meinen. Aber ich habe mal eine Frage: Wo waren Sie eigentlich die letzten zwei Jahre? ({4}) Wo waren Sie eigentlich seit der Bundestagswahl 2013, seit der dieses große Thema besteht? Das, was jetzt vorgelegt worden ist, ist zu wenig, und es kommt zu spät. Es kommt zu spät, weil es keine Drucksachennummer gibt. Es ist hier gerade gesagt worden, es könnte möglicherweise noch ausreichen, das Ganze in der ersten Sitzungswoche nach der Sommerpause zu beschließen. Wie soll das eigentlich funktionieren? Im Regelverfahren brauchen wir zwei Wochen. Wir könnten das so machen wie bei der Coronagesetzgebung. Aber glauben Sie wirklich, dass die Opposition da mitmacht, im Eilverfahren nach der Sommerpause innerhalb einer Woche eine Reform des Wahlrechts zu beschließen? Das ist doch unwürdig für dieses Haus. Das müssen wir jetzt vor der Sommerpause beschließen. ({5}) Wir dürfen es nicht weiter auf die lange Bank schieben, so wie es hier bisher gemacht wurde. Es ist nicht nur zu spät, weil wir nach der Sommerpause überhaupt keine Zeit mehr haben. Es ist auch zu spät, weil in einzelnen Wahlkreisen schon Kandidatinnen und Kandidaten aufgestellt werden. Der Parlamentarische Staatssekretär Marco Wanderwitz hat sich in seinem Wahlkreis schon aufstellen lassen. Wir haben also eine Fraktion im Deutschen Bundestag, die erzählt, sie würde mit ihrem Vorschlag einen Neuzuschnitt der Wahlkreise für 2021 anpeilen, und parallel dazu lassen sich einzelne Mitglieder dieser Fraktion in ihrem Wahlkreis schon aufstellen. Wen wollen Sie eigentlich verschaukeln? Das ist doch kein ernsthafter Vorschlag. ({6}) Und wenn Sie dann ernsthaft sagen, wir müssten bei den Wahlkreisen, in denen jetzt über den Sommer schon Kandidaten aufgestellt werden, nach einer Reform des Wahlrechts einfach noch mal eine Aufstellungsversammlung machen: ({7}) Man kann doch in Coronazeiten keinem erzählen, dass man in Wahlkreisen zwei Aufstellungsversammlungen machen muss, ({8}) für die man zweimal die Stadthalle oder die Sporthalle mieten muss. Das ist eine Farce; es ist eine reine Show, die hier aufgeführt wird, weil Sie den Eindruck erwecken wollen, Sie würden vor der Sommerpause am Wahlrecht noch was drehen. In Wahrheit läuft es der SPD doch eiskalt den Rücken runter, weil Sie von der Union diese Pressemitteilung, die überhaupt nicht beschlussfähig ist, auf den Weg gebracht haben und die SPD sich jetzt dazu verhalten muss. Jetzt hat sie gesagt: Wir wollen das nicht. Aber wir sind in einer Situation, in der am Ende nur ein einziger Gesetzentwurf beschlussfähig ist; das ist der Gesetzentwurf von der FDP, von den Grünen und von der Linkspartei. Er sollte heute beschlossen werden. Wir sollten ihn heute hier gemeinsam auf den Weg bringen. ({9}) Ich will aber gerne noch mal was dazu sagen, was in dem Nichtvorschlag aus der Unionsfraktion – denn es ist ja nur ein Einigungskorridor; es gibt keine Drucksachennummer; es liegt kein Gesetzentwurf vor – inhaltlich drinsteht. Es steht drin, dass am Ende eine Zahl von sieben Überhangmandaten nicht ausgeglichen werden soll. Das bedeutet am Ende nichts anderes, als dass der nächste Deutsche Bundestag nach Ihrer Auffassung ({10}) nicht das Wahlergebnis repräsentieren, sondern dass es zu einer Verzerrung der Zusammensetzung des Bundestages im Vergleich zum Wahlergebnis kommen soll. ({11}) Und das ist für die demokratische Opposition in diesem Haus nicht akzeptabel. ({12}) Und dass das Bundesverfassungsgericht sagt, dass im alten Wahlrecht 15 Mandate hinzunehmen sind, heißt doch nicht, dass im neuen Wahlrecht sieben gehen müssen. Das ist ein Schluss, den man so aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einfach nicht ziehen kann. ({13}) Dieser Schluss ist unzulässig; er ist auch undemokratisch, und er setzt das Wahlrecht unter das Risiko, wieder vom Bundesverfassungsgericht kassiert zu werden. Dann haben wir diese Diskussion in der nächsten Wahlperiode des Deutschen Bundestages wieder, und das wäre dieses Hauses unwürdig, und es wäre im Hinblick auf die dringend erforderliche Reform des Wahlrechts unwürdig. Meine Damen und Herren, wie gesagt: Es gibt hier in allen Fraktionen Menschen, die an einer ernsthaften Reform in der Sache interessiert sind. Und so hat sich mein direkt gewählter Wahlkreisabgeordneter Thomas Oppermann ja schon dazu bekannt, dass er heute für den Entwurf von FDP, Grünen und Linken stimmen will. ({14}) Da haben wir uns gedacht: Das ist ja super; dann müssen wir den auch zur Abstimmung stellen; denn sonst kann ja Thomas Oppermann und können auch die Kollegen aus der Union, die zwischenzeitlich gesagt haben, dass sie dafür stimmen, das gar nicht wahrmachen. – Wir wollten das machen, aber dann haben Sie den im Innenausschuss des Deutschen Bundestages abgesetzt. Jetzt haben wir uns was einfallen lassen, wie man das Ganze heute doch noch zur Abstimmung bringen kann. Deswegen werden wir heute beantragen, direkt nach dieser Debatte in die zweite Lesung und in die Abstimmung einzutreten, damit Thomas Oppermann für den Gesetzentwurf von Linken, Grünen und FDP stimmen kann ({15}) und sich gemeinsam mit allen Kolleginnen und Kollegen aus allen Fraktionen, die an einer ernsthaften Reform des Wahlrechts interessiert sind, daran beteiligen kann, dass wir diese Reform hinbekommen. Das wäre das richtige Zeichen vor der Sommerpause; denn für viele Menschen in diesem Land ist die Frage, ob das Parlament in der Lage ist, sich selber zu reformieren, nicht die wichtigste Frage in ihrem Leben, aber ein Symbol dafür, wie reformfähig die demokratischen Strukturen in unserem Land insgesamt sind. Deswegen haben die Menschen in diesem Land das legitime Interesse daran, dass der Bundestag das heute, vor der Sommerpause, beschließt. Wir bitten um Unterstützung und freuen uns über Ihre Zustimmung. Vielen Dank. ({16})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Jetzt ist der nächste Redner der Kollege Friedrich Straetmanns, Fraktion Die Linke. ({0})

Friedrich Straetmanns (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004907, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal: Ich kann mich den Ausführungen von Herrn Kuhle vollumfänglich anschließen. Es ist alles zutreffend, was ausgeführt wurde. Mehr als ein Jahr Untätigkeit, sture Blockadehaltung und blinder Aktionismus auf den allerletzten Drücker: So lässt sich das fadenscheinige Vorgehen der Union bei der Wahlrechtsreform zusammenfassen. ({0}) Schauen wir uns das im Detail einmal an. Im Innenausschuss vertagen die Koalitionsfraktionen den Tagesordnungspunkt wegen angeblichen Beratungsbedarfes. Über ein Jahr lang haben wir aber in der Wahlrechtskommission darüber reden wollen. Fast ein weiteres Jahr liegt der Gesetzentwurf von Linken, FDP und Grünen auf dem Tisch. Wir haben es aber auch informell versucht. Wir haben es auf der Fraktionsvorsitzendenebene versucht. Wir verschwenden immer und immer wieder unsere wertvolle Debattenzeit hier im Bundestag, weil Sie jeden Fortschritt und Austausch verhindern. Und jetzt, nach alledem, haben Sie Beratungsbedarf. Ist Ihnen das nicht peinlich, liebe Kollegen von der Union? ({1}) Dass Sie von CDU und CSU Beratungsbedarf hatten, das lässt sich ja an der letzten Fraktionssitzung am Dienstag, an den über 50 Wortmeldungen dort ablesen. Kurz vor der Sommerpause kommen Sie tatsächlich auf die Idee, zum ersten Mal intern über die Wahlrechtsreform zu sprechen. Ganz ehrlich, das wäre schon längst fällig gewesen. Es braucht eine Wahlrechtsreform. Das sehen wir; das sehen die Menschen in diesem Land, die mit ihrem hart verdienten Geld und ihren Steuern dieses Parlament finanzieren. Und dafür müssen wir als Demokratinnen und Demokraten liefern, auch wenn vielen von Ihnen Ihre Diäten ja scheinbar nicht reichen, wie es der Kollege Amthor kürzlich bewies. Stattdessen spielen Sie hier taktische Spielchen. Ich muss Ihnen ganz deutlich sagen, dass mich das als Demokrat schwer enttäuscht. ({2}) Wären wir Linke gemeinsam mit FDP und Grünen in dieser Sache nicht beharrlich geblieben, Sie hätten letztlich gar nichts unternommen. Ein Bundestag mit 850 Abgeordneten scheint Ihnen durchaus recht zu sein, weil weniger Prozente dann nicht automatisch weniger Mandate und somit weniger Geld bedeuten. In den Gesprächsrunden, die Sie mit uns geführt haben, sind Sie nie über bloße Gedankenspiele hinausgegangen. Nicht mal auf konkrete Berechnungen wollten Sie von der CSU sich einlassen. Immer und immer wieder haben Sie unseren Vorschlag, die Anzahl der Wahlkreise zu reduzieren, zurückgewiesen. Vor rund einem Monat haben Sie dann die Anpassung der Wahlkreise hier verabschiedet, die aufgrund Bevölkerungszu- und ‑abnahme in verschiedenen Kreisen nötig war – ein rein technischer Vorgang, aber mit sehr viel Arbeit für die Verwaltung verbunden. Herr Frieser von der CSU – ich kann ihn jetzt leider nicht sehen – ({3}) hat uns damals an dieser Stelle hier noch vorgeworfen, wir würden leichtfertig über solche Neuzuschnitte reden. ({4}) Kurze Zeit nachdem dieser Vorgang für die Wahl 2021 in trockene Tücher gepackt ist, fällt Ihnen plötzlich ein: Alle reden über weniger Wahlkreise und weniger Mandate; vielleicht sollten wir da mal was machen. ({5}) Auf einmal bewegen Sie sich. Das hätten Sie schon vor einem Dreivierteljahr haben können, wenn Sie sich einfach mal ernsthaft mit unserem Vorschlag auseinandergesetzt hätten. ({6}) Trotzdem hat meine Fraktion, haben die FDP und die Grünen Ihnen immer wieder die Hand ausgestreckt und signalisiert, dass wir gesprächsbereit sind – ergebnislos! Nun, kurz vor der Sommerpause, verfallen Sie in blinden Aktionismus und brillieren als Chaostruppe. Es werden plötzlich neue Vorschläge aus dem Hut gezaubert, interne Briefe geschrieben, bei denen ich mir nicht sicher bin, ob sie zuerst den Absender oder zuerst die Presse erreicht haben. Dann schreibt das Innenministerium merkwürdige Gutachten zu – das ist doch verrückt – noch nicht einmal vorliegenden Vorschlägen des Koalitionspartners. Der Innenminister bzw. das Innenministerium behauptet dann, dass diese Vorschläge der SPD nicht verfassungsgemäß seien. Zur Verfügung wird dieses Gutachten aber keinem von uns und, ich glaube, auch nicht der SPD gestellt. Das gesamte Verhalten von Union und SPD – diese muss ich hier allerdings wieder miteinbeziehen – bei einem zentralen Thema wie dem Wahlrecht ist in keiner Weise seiner Ernsthaftigkeit und Bedeutung angemessen. ({7}) Mich würde aber eher mal die Einschätzung der gesamten Koalition zu dem Kompromiss interessieren, der in der Unionsfraktion getroffen wurde. Wir wissen nicht viel darüber. Aber der Vorschlag mit den nicht auszugleichenden Überhangmandaten, die Idee, mit der Sie von der Union schon seit Langem kokettieren – jetzt sind es nicht mehr 15, sondern auf einmal nur noch 7 –, ist erkennbar verfassungswidrig. ({8}) Ich möchte Ihnen dazu ein paar Dinge sagen. Der Vorschlag verhindert noch nicht mal das Schlimmste: die Aufblähung des Bundestages; er würde nur eine geringere Reduzierung aus unserer Sicht verursachen. Das müssten Sie uns aber bitte mal schwarz auf weiß mit Berechnungen präsentieren. Aber auch dazu haben Sie sich bisher nicht verstehen können, vielleicht, weil Sie nicht wollen – das wäre problematisch –, vielleicht aber auch, weil Sie es schlichtweg nicht können; das würde ich für äußerst bedenklich halten. ({9}) Beides ist auf jeden Fall ein Armutszeugnis. Doch wir müssen gar nicht großartig Kaffeesatzleserei bezüglich der Größe des Bundestages nach Ihrem Vorschlag betreiben. Ich habe es gerade gesagt: Er ist aus meiner Sicht verfassungswidrig. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2012, das diese Frage aufgeworfen hat, hat das nur akzeptiert als Obergrenze bei einer unerwünschten Verzerrung eines Wahlergebnisses. Was Sie vorhaben, ist eine absichtliche Begünstigung Ihrer Fraktion bzw. Ihrer Parteien, der CDU und der CSU. ({10}) Das ist aus meiner Sicht und nach meiner Interpretation dieses Urteils ausgeschlossen; ({11}) denn das Urteil weist darauf hin, dass das Zweitstimmenergebnis korrekt widergespiegelt werden muss in der Sitzzusammensetzung des Bundestages. ({12}) Wir werden da nicht mitmachen. Ich komme zum Ende. Dass Sie dieses Trauerspiel hier aufführen, haben allein Sie von der Union zu verantworten. Ich bin gespannt, mit welchen Absurditäten Sie uns nach der Sommerpause noch beglücken werden. Ich befürchte, dass Sie uns wieder für teuer Geld aus der Sommerpause holen. Wenn wir dann aber kommen, dann können wir gerne auch einen neuen Innenminister vereidigen. Vielen Dank. ({13})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Das Wort hat die Kollegin Britta Haßelmann, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das, was hier von Union und SPD aufgeführt wird, ist ein Trauerspiel. Es ist verantwortungslos und zeigt beispiellos die Handlungsunfähigkeit dieser Koalition. ({0}) Meine Damen und Herren, das könnte auch unter der Überschrift „… denn sie wissen nicht, was sie wollen“ stehen. ({1}) Deshalb tun Sie nichts. Die einen sprechen von Beratungsbedarf – interessant –, und die anderen sprechen davon, eine neue Wahlrechtskommission einsetzen zu wollen. Okay, wir haben jetzt Juli 2020. Nach meinem Wissen findet die Wahl im September 2021 statt. Meine Damen und Herren, für wie blöd halten Sie eigentlich die Bürgerinnen und Bürger und die Öffentlichkeit? ({2}) Seit 2013 befasst sich der Deutsche Bundestag in Gremien, in Sitzungen, in Kommissionen, in Ausschüssen, in Gesprächen mit dem Bundestagspräsidenten, in Gesprächen unter den Fraktionen mit dem Thema Wahlrechtsreform – ohne Ergebnis. Seit dem 2. Februar 2018 hat sich eine Kommission über ein Jahr mit sämtlichen Wahlrechtsvorschlägen beschäftigt, diese berechnet usw. – kein Ergebnis. Seit November 2019 liegt unser Gesetzentwurf vor, von Grünen, FDP und Linken. Dann sitzen wir letzten Mittwoch im Innenausschuss des Deutschen Bundestages, und es wird Beratungsbedarf angemeldet. ({3}) Meine Damen und Herren, Sie hatten noch nicht mal die Größe, zu sagen: „Wir lehnen diesen Gesetzentwurf ab“, weil Sie Sorge hatten, dass im Plenum heute in der zweiten und dritten Lesung offenbar und offenkundig wird, dass Sie blank sind, dass Sie keine Idee haben. ({4}) Das war der Grund. Sie haben geglaubt, Sie kommen mit dieser Strategie durch. Ihnen steht doch in der Sache das Wasser bis zum Hals, weil jetzt plötzlich die Menschen doch ein großes Interesse an dem Thema entdecken und Sie fragen: Wollen Sie zulassen und verantworten, dass wir vielleicht mit einem Bundestag aus über 800 Menschen arbeiten? – Sie wissen alle, dass damit die Arbeitsfähigkeit des Bundestages nicht gewährleistet ist. Und Sie wissen auch, dass das die Akzeptanz für unsere gute parlamentarische Demokratie in der Bevölkerung wirklich gefährdet. Deshalb haben wir von Ihnen erwartet, dass, wenn Sie unseren Gesetzentwurf schon nicht wollen, Sie ihn wenigstens ablehnen und deutlich dazu stehen, aber gleichzeitig sagen, was Sie wollen. Und zu beidem sind Sie nicht in der Lage, meine Damen und Herren. Was ist das denn? ({5}) Wir alle tragen doch Verantwortung, meine Damen und Herren. Wir sind alle verantwortlich für unsere Demokratie, für das Ansehen dieses Hauses. Es ist unsere Pflicht, uns Gedanken zu machen über die Arbeitsfähigkeit dieses Hauses. Und ich sage Ihnen: Es ist auch unsere Pflicht, hier nicht dauernd über irgendwelche verrückten Ideen zur Einführung des Grabenwahlrechts zu sprechen. ({6}) Was bieten wir denn für ein Bild, wenn wir jetzt nach den großen externen Experten rufen, die uns wieder beraten und uns sagen sollen, was wir machen sollen? Alle Vorschläge zum Wahlrecht liegen auf dem Tisch. Wir können sie Ihnen alle durchbuchstabieren. Das ist doch nur eine Vermeidungsstrategie. Sie müssen sich jetzt endlich mal dazu verhalten und sagen: Wir finden die Kraft, gemeinsam zu einem Ergebnis zu kommen. – Nach den Beiträgen von Union und SPD in der Debatte heute habe ich nicht ansatzweise den Eindruck, dass Sie sich im September einigen wollen. ({7}) Was ist denn das Prinzip? Ist es das Prinzip Hoffnung: „Wir machen alle erst mal ein bisschen Ferien, und im August flattert von irgendwoher ein Vorschlag herein“? Heute hat die SPD doch eindeutig gesagt, dass sie dem Vorschlag der CDU/CSU nicht zustimmt. Was soll das denn? Meine Damen und Herren, heute ist die einzige Gelegenheit. Wir haben nur einen Gesetzentwurf, der dem Parlament vorliegt. Wenn Sie nicht die Kraft finden, gemeinsam einen Vorschlag zu machen, dann finde ich das bedauerlich. Wir haben die ganze Zeit gesagt: Wir sind gesprächsbereit; wir wollen mit allen demokratischen Parteien darüber reden; wir brauchen eine Lösung –. Aber wenn das jetzt zwischen den Koalitionspartnern so aussieht, wie es sich heute hier abgespielt hat, wie bitte soll das dann Anfang September weitergehen, meine Damen und Herren? Ich sehe das noch nicht. ({8}) Was soll denn dem Deutschen Bundestag vorgelegt werden? Damit komme ich wieder zu unserem Gesetzentwurf. Dem Deutschen Bundestag liegt nur ein Gesetzentwurf vor; es gibt nur eine Drucksachennummer. Noch sind „Spiegel“- oder „FAZ“-Meldungen keine Drucksachen. ({9}) Wir können nur über das abstimmen, was uns hier vorliegt, und das ist der Gesetzentwurf von Grünen, FDP und Linken. Dieser beinhaltet eine Reduzierung der Zahl der Wahlkreise auf 250 und die Abschaffung des sogenannten Mindestsitzwahlverfahrens, weil dieses Überhänge produziert, um die Länderproporze zu garantieren. Außerdem wollen wir die Sollgröße des Bundestages leicht auf 630 Sitze erhöhen, um die anderen Effekte abzufedern. Meine Damen und Herren, der Entwurf trifft alle Parteien proportional gleich. Er ist also fair. Er ist gerecht; denn jede Stimme ist uns gleich viel wert. Und, meine Damen und Herren: Er ist verfassungsgemäß. ({10}) Da können auch noch zehn Leute was anderes behaupten; in der Expertenanhörung des Deutschen Bundestages wurde klar: Der Gesetzentwurf ist auf der Grundlage des personalisierten Verhältniswahlrechtes, er ist verfassungsgemäß und fair. – Geben Sie ihm heute eine Chance, indem Sie zulassen, dass wir in die zweite und dritte Beratung dieses Gesetzentwurfes eintreten, wenn Sie selber nichts zu bieten haben. ({11})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist der Kollege Michael Frieser, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Michael Frieser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004034, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Am Anfang darf ich sagen: Ich bin einem heute in der Debatte schon sehr dankbar, nämlich dem Kollegen Ansgar Heveling, der trotz seines Geburtstages oder vielleicht auch gerade deshalb als einer von ganz wenigen zu diesem Thema hier gesprochen hat. Lieber Ansgar, noch mal alles Gute! ({0}) – Ich wollte heute wenigstens einmal das gesamte Haus klatschen hören beim Thema Wahlrecht. Das wird uns ansonsten wahrscheinlich nicht mehr gelingen. Aus gegebenem Anlass: Es ist nicht so, dass Mandate oder dass Abgeordnete in diesem Land zugeteilt werden, errechnet werden oder verschoben werden. Abgeordnete werden in Deutschland immer noch gewählt, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({1}) Darauf hinzuweisen, ist leider Gottes notwendig. Deshalb muss man allen Versuchen, mit Rechentricks zu arbeiten, eine Absage erteilen. ({2}) Das ist auch der Grund, warum wir als Union nach einem durchaus langen und schwierigen Prozess einen Kompromiss vorlegen, der zwei Dinge miteinander kombiniert: eine maßvolle Reduktion der Zahl der Mandate auf der Seite des personalisierten Verhältniswahlrechtes und eine Reduktion bei der Zahl der ausgleichslosen Überhangmandate, die ihre Dämpfungswirkung bei den Listenmandaten erreicht. Damit können wir genau das erzielen, was man in diesem Haus abbilden muss, um eine Begrenzung zu erreichen: nämlich auf beiden Seiten moderat reduzieren. Nur so werden wir am Ende des Tages unser Ziel erreichen, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({3}) Und jetzt darf ich dann doch mal zu dem Thema des heutigen Tagesordnungspunktes, nämlich dem sogenannten Oppositionsantrag, sprechen. Immer wieder hören wir dasselbe. Ich darf mal feststellen, dass die Opposition, die diesen Gesetzentwurf vorgelegt hat, nicht ein Jota bereit ist, überhaupt darüber zu reden, was in diesem Gesetzentwurf steht; vielmehr gibt es nur den Inhalt dieses Gesetzentwurfs. Eine Form von Diskussionsbereitschaft kann ich bei diesem Gesetzentwurf beim besten Willen nicht erkennen. Tut mir leid. ({4}) Ich werde nicht müde, zu sagen, Frau Haßelmann: Was in diesem Land verfassungswidrig ist, stellt das Bundesverfassungsgericht fest. Aber wir unterstellen uns selbstverständlich der Erfahrung der Opposition, die anscheinend genau weiß, was verfassungswidrig ist; ({5}) sonst würde sie nämlich einen wahrscheinlich verfassungswidrigen Gesetzentwurf gar nicht vorlegen. Die Wahrheit ist: Sie wollen mit Ihrem Gesetzentwurf zurück zum Wahlrecht des Jahres 2008. ({6}) Nun gibt es eine eindeutige Verfassungsrechtsprechung zum Streichen des sogenannten ersten Zuteilungsschrittes – Stichwort „negatives Stimmgewicht“, Stichwort „regionaler Proporz“. Entsprechende Änderungen mussten wir für die Wahlen in den Jahren 2013 und 2017 umsetzen. ({7}) Es hilft nichts, dass Sie immer wieder darauf hinweisen, wie toll der Regionalproporz in Ihrem Vorschlag gewahrt bleibt. Er wird es nicht; denn dieser Gesetzentwurf vergeht sich an den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes. Schon allein deshalb ist er nicht zustimmungsfähig, meine sehr verehrten Damen und Herren! ({8}) Und wieso es das Land demokratischer machen soll, wenn man 50 Wahlkreise streicht, erschließt sich mir nicht. ({9}) Das Direktmandat ist ein Element, das den Bürgern nicht nur nachweislich wichtig ist – der Direktmandatsträger leistet übrigens genauso wertvolle Arbeit wie jeder Listenmandatsträger hier –; sondern es ist auch so, dass dieses plebiszitäre Element am Ende des Tages eine besondere Nähe zum Wähler dokumentiert. Und deshalb muss man vorsichtig sein, wie viel man an dieser Stelle streicht. ({10})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege Frieser, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Haßelmann?

Michael Frieser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004034, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber selbstverständlich, um Gottes willen!

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Frieser, wenn Sie so besonders schlau sind, gerade beim Wahlrecht, –

Michael Frieser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004034, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Na, na, na, langsam! ({0})

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

– und wissen, was in unserem Gesetzentwurf alles nicht gut ist, warum legen Sie nicht einfach mal was vor, das zeigt, wie es aus Ihrer Sicht besser wäre? ({0}) Wissen Sie, seit einem Jahr erlebe ich hier Wahlrechtsdebatten, in denen man sich an uns persönlich, an unseren Vorschlägen abarbeitet; aber das täuscht nicht mehr darüber hinweg, dass Sie nichts haben. Wo sind Ihre Vorschläge, ganz konkret? Ich meine, den CSU-Vorschlag hat schon Günter Krings als Staatssekretär in der Wahlrechtskommission für nicht verfassungsgemäß gehalten. ({1}) Ich durfte ihn nicht veröffentlichen, weil wir da intern tagen. Aber das war schon mal klar. Ich warte auf Vorschläge; nicht einfach nur Noten verteilen; das können wir alle. ({2})

Michael Frieser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004034, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Haßelmann, ich bin nicht enttäuscht, dass ich jetzt nichts Neues gehört habe, abgesehen von dem, was Sie in Ihrer Rede ohnehin schon gesagt haben. ({0}) Ich bin interessiert an einer Stellungnahme zu unseren fünf Vorschlägen, die die Union seit Jahren in die Diskussion einbringt. Wir warten heute noch darauf, dass die Opposition, deren Vorschlag nicht gerade glimpflich mit der Verfassung umgeht, ({1}) sich mal mit unseren Vorschlägen auseinandersetzt. ({2}) Dieser ziemlich durchschaubare Versuch, zu sagen, erst eine Drucksachennummer würde in Deutschland einen politischen Vorschlag diskussionsrelevant machen, ist doch ein unsinniges politisches Argument. ({3}) Aber im Ergebnis bin ich doch immer wieder davon überrascht, welche Ehre uns die Opposition an dieser Stelle erweist und mit in die Sommerpause gibt. Anscheinend ist tatsächlich nur die Union, vielleicht noch die SPD, überhaupt in der Lage, in diesem Land Wahlkreise für sich zu entscheiden. Es steht nicht in der Verfassung, dass wir die Einzigen sind, die Wahlkreise gewinnen dürfen. ({4}) Machen Sie eine gute Politik, dann hätten Sie auch Erfolg; dann müssten Sie nicht auf diesem Weg an Wahlkreise herangehen. Vielen herzlichen Dank. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Ich erteile das Wort der Kollegin Leni Breymaier für die SPD-Fraktion. ({0})

Leni Breymaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004683, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sprechen heute Mittag munter über unser Wahlrecht, und uns liegen tatsächlich ein Gesetzentwurf der FDP, der Linken und der Grünen und ein Vorschlag der SPD vor, und aus den Medien kennen wir jetzt auch die Vorstellungen der Union. Der Gesetzentwurf von FDP, Linken und Grünen sieht ab 2021 eine Reduzierung der Zahl der Wahlkreise auf 250 und eine Erhöhung der vorgesehenen Gesamtsitzzahl von 598 auf 630 vor. Meine SPD will in einem ersten Schritt ab 2021 die Anzahl der Abgeordneten auf 690 deckeln, will zugleich paritätische Listen, die im Reißverschlussprinzip aufzustellen sind, ({0}) und für die Wahlen ab 2025 soll eine Reformkommission aus Abgeordneten und Wissenschaft einen klugen Vorschlag erarbeiten, der neben der Größe des Parlaments auch Vorschläge für die Amtszeit des Bundestages und die paritätische und auch plurale Zusammensetzung dieses Hauses ins Auge fasst. Die Union konnte sich am Dienstagabend – so habe ich das den Medien entnommen – auf einen Reformvorschlag verständigen, der beinhaltet, 19 Wahlkreise zu streichen und 7 Überhangmandate ohne Ausgleich zu lassen. Der alte Römer würde sagen: Der Berg kreißte und gebar eine Maus. ({1}) Die Union findet, nun läge der Ball wieder im Spielfeld der SPD, was wir als SPD insofern spannend finden, als der Vorschlag der Union noch nicht mal schriftlich vorliegt. ({2}) Nun habe ich die Debatten der SPD-Fraktion verfolgt und verstehe daher, dass es wohl in keiner Fraktion einfach war und die Vorschläge immer ein Minimalkonsens sind. Es ist halt auch so: Die Wahlkreise sind unterschiedlich. Ich habe kürzlich so ein lustiges Instagram Live gemacht mit meinem Kollegen aus Kiel und habe die Wahlkreise verglichen. Da dachte ich mir: Na, der hat es auch gut! Mein Wahlkreis ist zehnmal größer als seiner. Da macht es einen Unterschied, auch, wenn ich ein Direktmandat habe mit über 40 Prozent. A lso, die Welten sind unterschiedlich, und zwar in allen Fraktionen, und man geht natürlich immer von seiner Welt aus. Und klar haben Linke und Grüne kein Problem mit der Parität. Sie praktizieren sie ja auch seit Jahren, wie wir auch; aber dass in dem gemeinsamen Gesetzentwurf mit der FDP dazu gar nichts steht, ist halt mehr als ein Schönheitsfehler. ({3}) Wir haben ja auch diskutiert übers Jahr, und ich kenne die Argumente. Die FDP sagt: Wir brauchen erst bessere Rahmenbedingungen für Abgeordnete mit Familienpflichten. – Das verfängt aus meiner Sicht nicht ganz, weil andere es ja auch schaffen. Alle Studien sagen: Wenn wir erst mal ein erkleckliches Quorum von Frauen in Gremien haben, dann ändern sich auch die Rahmenbedingungen, weil die Frauen das natürlich für sich einfordern. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Leni Breymaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004683, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Na klar.

Benjamin Strasser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Breymaier, der Kollege Frieser vorhin und Sie jetzt auch gerade haben ja gesagt, dass unser Gesetzentwurf so schlecht und nicht zustimmungsfähig sei. Da stellt sich mir die Frage: Wenn dem so ist, warum blockieren Sie dann heute eine Abstimmung hier in diesem Hohen Haus über den Gesetzentwurf? ({0}) Wenn Sie ihn doch angeblich ablehnen möchten, dann gibt es keinen Grund, unseren Gesetzentwurf weiter im Verfahren zu schieben. Der Grund ist aus meiner Sicht, dass – wenn es heute zu einer Abstimmung käme – Teile Ihrer eigenen Fraktion und auch von der CDU/CSU diesem Gesetzentwurf zustimmen würden. Das ist das Problem, warum Sie ihn heute nicht zur Abstimmung stellen, Frau Kollegin. ({1})

Leni Breymaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004683, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wissen Sie, ich glaube, wir befinden uns noch im Anfangsstadium. Jetzt hat die CDU am Dienstagabend, 21 Uhr – wenn ich das richtig kapiert habe –, nach stundenlangen Auseinandersetzungen diesen Vorschlag auf den Weg gebracht. Wir haben unseren auf den Weg gebracht, Sie haben Ihren schon im November eingebracht. Aber ich glaube, dass zwischen diesen unterschiedlichen Vorschlägen am Ende des Tages wahrscheinlich die Wahrheit liegen wird. Die Wahrheit liegt nicht am Freitagnachmittag, dem 3. Juli, um 14.15 Uhr. Die werden wir heute nicht finden. ({0}) Wir müssen uns zusammenhocken und das Gemeinsame finden, wenn wir draußen ernst genommen werden wollen. ({1}) Ich hätte mich gefreut, Sie hätten irgendetwas zur Position der Frauen gesagt. Schade. ({2}) Die Union meint: Die Frauen sollten sowieso erst einmal auf kommunaler Ebene politische Erfahrung sammeln. – Ich habe mir nicht die vier Vornamen derjenigen gemerkt, die heute für die Union sprechen. Aber es ist bezeichnend: Sie haben vier Redner und Rednerinnen zum Wahlrecht, und Sie schicken vier Männer in die Debatte. ({3}) Das hat etwas mit den Erlebenswelten von Frauen in den Parlamenten zu tun. Deshalb finde ich Ihre Argumentation so defizitär. Ich denke nicht, dass Frauen, wenn sie im Parlament sind, die besseren Menschen, die besseren Abgeordneten sind. Aber sie bringen einfach andere Erfahrungen mit: mit Kindererziehung, mit der Benutzung des öffentlichen Nahverkehrs, mit Teilzeit, einfach mit dem Leben. Dieses Leben gehört in dieses Parlament. Das zeigen doch auch die Erfahrungen mit Corona: die Verfestigung der Rollenbilder. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns bitte den Sommer 2020 nutzen, um für 2021 einen ordentlichen Vorschlag zu haben. Marie von Ebner-Eschenbach hat das ganz nett formuliert. Sie hat gesagt: „Wenn die Zeit kommt, in der man könnte, ist die vorüber, in der man kann.“ ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir können nicht nur, wir müssen. Ein Parlament mit über 800 Abgeordneten ist zu groß, und ein Parlament mit 30 Prozent Frauen ist falsch. Herr Heveling, wir dürfen die Debatte nicht erst im Juli 2021 führen. Lassen Sie uns den Sommer 2020 dazu nutzen, und dann bekommen wir auch noch eine Lösung hin. Ich finde, dass auch die Bevölkerung an diesem Thema sehr interessiert ist. Deshalb sollten wir die Vorschläge der Union auch in der Bevölkerung breit diskutieren. Darauf freue ich mich, bedanke mich für die Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen ein schönes Wochenende. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Ich erteile das Wort dem Kollegen Marc Henrichmann, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Marc Henrichmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004744, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine Damen und Herren! „Am Ende wird alles gut! Und wenn es noch nicht gut ist, ist es noch nicht das Ende.“ Dieser schöne Spruch passt, glaube ich, gut zur Debatte um das Wahlrecht. Wir diskutieren heute hier unter anderem über einen links-grün-liberalen Gemeinschaftsvorschlag, der, wie gehört, zu dem Ergebnis kommt, dass wir die Wahlkreise um 49 auf 250 reduzieren und gleichzeitig die Anzahl der Normsitze von 580 auf 630 erhöhen. Aber wie ist die Ausgangslage? Das sage ich als jemand, der am Institut des Wahlkreises – auch im Sinne der dann vielleicht unterlegenen Kolleginnen und Kollegen – besonders hängt. Es haben sich drei Fraktionen zusammengetan, die 2017  6 von 299 Direktmandaten geholt haben; macht 0,49 Prozent. Es haben sich drei Fraktionen zusammengefunden, die insgesamt 210 Listenmandate vertreten, aber nur 6 Direktmandate; macht 2,8 Prozent. Jetzt haben wir einen Gesetzesvorschlag vorliegen, der die Parität von Liste und Direktmandat aufweicht. ({0}) Wir sollen nur noch 250 Wahlkreise haben, aber 380 festgeschriebene Listenmandate. Das geht zulasten der Wahlkreise, und man könnte es als erfolgreiches Lobbying zugunsten der eigenen Interessen werten, wenn man es denn wollte. ({1}) Wenn der Vorsitzende der Grünen, Herr Habeck, in Richtung der Kolleginnen und Kollegen der CSU von „Geiselhaftnahme“ spricht, finde ich das schon einigermaßen unanständig. Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wieso? Das denken doch viele bei ihnen!) Mir hat das Zitat besonders gut gefallen: Da schreibt einer Bücher über das, was Sprache anrichten kann, und redet von „Geiselhaftnahme“. ({2}) Ich glaube, wenn man solche Begriffe verwenden möchte, kann man das höchstens in dem Zusammenhang tun, wenn man den unmittelbaren Bezug der Menschen im Wahlkreis zu ihren Abgeordneten infrage stellt. ({3}) Ich bin einer von ganz vielen in unserer Fraktion, die ein Direktmandat errungen haben. Ich habe derzeit – ich habe es noch einmal nachgeschaut – ungefähr 193 000 Wahlberechtigte. Im Wahlkreis wohnen knapp 250 000 Einwohner. Fahrzeit im Wahlkreis von Nord nach Süd – ich habe es in der letzten Debatte bereits gesagt; viele andere haben es noch viel schlimmer –: eine Stunde. Ich nehme es ernst, wenn mich jemand anspricht. ({4}) Ich fahre genauso oft wie die Kolleginnen und Kollegen, die über die Liste hierhergekommen sind; ist doch klar. Aber alle haben den Anknüpfungspunkt Wahlrecht. Jeder nimmt die Gesprächsangebote wahr. Nur, nach Ihrem Plan haben wir demnächst 300 000 Einwohner im Wahlkreis, und es wird immer schwieriger, das direkte Gespräch zu pflegen und Bürgeranfragen zu beantworten. Ich glaube, das sollten wir in dieser Zeit so nicht tun. Es kann nicht sein, dass immer mehr Menschen über weniger Direktkandidatinnen und ‑kandidaten abstimmen. Das halte ich für falsch. ({5}) Ich frage mich auch, ob das, was Sie hier vertreten und wollen, mit dem Begriff „direkte Demokratie“ in Zusammenhang zu bringen ist. Ich habe einmal bei der Bundeszentrale für politische Bildung – ich glaube, sie ist unverdächtig – nachgelesen. Dort steht zur „direkten Demokratie“, dass die grundlegende Maxime sei, „den Volkswillen so unverfälscht wie möglich in politische Entscheidungen münden zu lassen“. Sie müssten doch eigentlich diejenigen sein, die dann hier für das Direktmandat eintreten bzw. für möglichst kleine Direktwahlkreise. Genau das tun Sie nicht. Da muss man fragen, welche Interessen dahinterstecken. ({6}) Ganz ehrlich – das wissen die Menschen da draußen auch –: Über die Direktkandidatinnen und ‑kandidaten, die sich zur Wahl stellen, kann ich mit meiner Erststimme entscheiden. Aber wie werden denn die Listen der Parteien zusammengestellt? Vielleicht nicht immer danach, wie sich die Menschen draußen entscheiden, sondern in erster Linie nach parteipolitischem Gewicht. Das ist auch vollkommen richtig. Deswegen sind wir für die Parität und das Gemeinsame, mit der paritätischen Ausrichtung Direktmandat und Listenmandat. Das ist unser Plan und unser Fahrplan, und das wollen wir auch weiter hochhalten.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Kollege Henrichmann, der Kollege von Notz hätte eine Zwischenfrage. Gestatten Sie sie?

Marc Henrichmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004744, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, vielen Dank. Wir haben schon genug, glaube ich, in diesem Bereich gesprochen. Was ich, ehrlich gesagt, nicht mag oder auch für falsch halte, ist – der Kollege Frieser hat es zu Recht gesagt – die Nichtzuteilung der Mandate. Ich finde die Begrifflichkeit schon schwierig und falsch; denn es ist keine Zuteilung, sondern eine Wahl und das Schenken des Vertrauens durch Wählerinnen und Wähler. Deswegen sollten wir da sehr vorsichtig sein. Solche Vorschläge halte ich für falsch. ({0}) Jetzt haben wir hier den links-grün-liberalen Wahlrechtsbeschneidungsvorschlag. Er ist kein Modell für uns. Wir hätten ihn natürlich ablehnen können, aber die Vertagung im Ausschuss hat ja auch – unser Obmann hat es gesagt – das Signal beinhaltet: Wir wollen eine Lösung finden. Wir haben uns – da sind wir Volkspartei – auf den Weg gemacht. Ja, wir haben einen Vorschlag erarbeitet. Und ich sage es auch ganz offen: Es war auch in weiten Teilen zähneknirschend, was wir da vorgelegt haben. Wir haben gesagt: Wir reduzieren moderat auf 280 Wahlkreise, und die 7 Überhangmandate werden nicht ausgeglichen. Und wir wollen das ambitioniert – weil wir ein Interesse daran haben, dass der Bundestag nicht weiter wächst – nicht erst 2025 machen, sondern 2021. Jetzt liegt der Ball nicht mehr in unserem Feld, aber wir haben einen Aufschlag gemacht, und wir halten ihn für richtig. ({1}) Schlussbemerkung. Ich glaube, jetzt sollten alle nicht nur an sich, an ihre eigenen Interessen denken, sondern an das, was die Wählerinnen und Wähler draußen wollen, an das, was Bürgerbeteiligung ausmacht. Wir haben als Union einen Vorschlag vorgelegt, der für einen kleineren Bundestag und auch für eine gesellschaftliche Befriedung in weiten Teilen sorgen kann. Dann können wir vielleicht demnächst doch noch sagen: Am Ende ist alles gut geworden. Vielen Dank und schönes Wochenende. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Das Wort zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Konstantin von Notz, Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Henrichmann, Sie haben jetzt viel geredet über Direktmandate und Listenmandate. Ich halte von diesen spalterischen Diskussionen überhaupt nichts. ({0}) Wir sind hier ein Haus, ein Parlament. Ich will nicht kleinteilig sein, aber ich sage Ihnen: Den Kollegen Frieser – er hat vorhin geredet hat und hat auch so scharf geredet – haben über 65 Prozent in seinem Wahlkreis nicht gewählt. Ja. ({1}) Das macht ihn nicht zu einem schlechteren Abgeordneten, überhaupt nicht. Das hat damit nichts zu tun. Wenn Sie sagen: „der Volkswille“ – darauf haben Sie ja mehrfach abgestellt –: Die Menschen wollen, dass wir hier kein Haus mit 800 Leuten werden. Vor diesem Hintergrund frage ich Sie: Wie kommen Sie dazu, im Innenausschuss des Deutschen Bundestages unseren Antrag abzusetzen, sodass wir hier nicht eine reguläre Abstimmung durchführen können? Unser parlamentarisches Recht als Abgeordnete, unseren Vorschlag zu präsentieren, blockieren Sie mit Verfahrenstricks, weil Sie nichts auf der Kante haben. Das ist absolut inakzeptabel, meine Damen und Herren. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Wollen Sie antworten? – Bitte schön.

Marc Henrichmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004744, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich glaube, Herr Kollege von Notz, Sie möchten sich nicht ernsthaft über fehlende parlamentarische Rechte in diesem Hause beschweren. ({0}) Ich glaube, es gibt hier alle Möglichkeiten, Ihre Rechte geltend zu machen. Ich möchte einen Punkt aufgreifen, den Sie angesprochen haben; dieser ärgert mich. Es tut jetzt not, die Debatte doch wieder ein bisschen zu versachlichen. Das Argument, ich hätte jetzt das Direktmandat hochgehalten und damit die Kolleginnen und Kollegen, die nicht direkt in den Bundestag eingezogen sind, diskreditieren wollen, höre ich zwar, aber es ist immer wieder falsch. Worum es mir geht – das habe ich dreimal betont, aber da haben Sie mir offenbar nicht wirklich zuhören wollen –: Es geht mir darum, deutlich zu machen, dass die Wahlkreise von den Kandidatinnen und Kandidaten ohne Direktmandat genauso gewissenhaft beackert werden wie von denen, die ein Direktmandat haben. Die Wahlkreise dürfen nicht immer größer werden, damit wir, jeder Einzelne hier, die Menschen, um die wir uns als Abgeordnete insgesamt zu kümmern haben, noch erreichen, damit wir erreichbar sind. Was ist in diesen Tagen das Schlimmste für die Demokratie? Dass die Menschen das Gefühl haben, die Politik und die Abgeordneten sind immer weiter weg. Dieser Eindruck ist erkennbar falsch. Ich würde sogar, wenn ich es mir wünschen könnte, dafür plädieren, die Wahlkreise noch kleiner zu machen, ({1}) dass wir noch näher an die Bürgerinnen und Bürger heranrutschen. ({2}) Wir tun uns – das sage ich ganz offen – mit dem 280-Wahlkreise-Vorschlag schwer. Aber ich halte ihn für demokratisch, weil wir Mehrheiten suchen wollen – das ist doch unser Anliegen in diesem Haus –, und für zielführender, als jetzt zu sagen: Wir mauern nur, und wir bestehen jetzt auf einem Anstieg der Zahl der Listenmandate. ({3}) Es geht mir um Folgendes: mehr Demokratie, mehr Bürgernähe und keine Tricks oder was auch immer Sie uns hier vorwerfen. Ich halte den Vorwurf für infam und falsch. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Patrick Schnieder, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Patrick Schnieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004146, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Das Wahlrecht ist die Grundlage unserer Demokratie. Deshalb halte ich es für besonders wichtig, dass wir hier die Argumente des anderen hören, achten und wägen. Deshalb will ich einmal zum Kern und zu dem sachlichen Aspekt der Debatte zurückkommen. Wir haben uns als Union in dieser Woche in einem schwierigen und langen Prozess auf eine gemeinsame Haltung verständigt. Wir haben einen Vorschlag unterbreitet. Das hat lange gedauert. Mit der Vorlage des Vorschlags ist es spät geworden. Dafür kann man uns kritisieren. ({0}) Es ist aber ein Unterschied, ob man bei einem solchen Vorschlag nur den eigenen Standpunkt und den eigenen Vorteil in den Mittelpunkt rückt oder ob man im Bereich des Wahlrechts auch die anderen Argumente wägt, gegeneinander abwägt und dann zu einem fundierten Vorschlag kommt. Ich sage Ihnen: Mit unserem Vorschlag, der auf der einen Seite eine moderate Reduzierung der Zahl der Wahlkreise vorsieht und auf der anderen Seite, dass eine bestimmte Anzahl von Überhangmandaten nicht ausgeglichen wird, gehen wir auf andere zu. Wir haben es uns nicht leicht gemacht. Deshalb haben wir so lange gebraucht, einen Vorschlag zu entwickeln. Aber es ist ein Kompromissvorschlag. Das, was Sie hier von der Opposition vorgelegt haben, sieht eine Vergrößerung des Bundestages, also der gesetzlich vorgegebenen Zahl, auf 630 Abgeordnete bei gleichzeitiger Reduzierung um fast 50 Wahlkreise vor. Sie drehen damit im Wesentlichen an einer Stellschraube. Sie opfern jeden sechsten Wahlkreis. Dieser Einschnitt – das war vorher klar, das ist auch heute klar; deshalb sage ich das so deutlich – ist für uns unverhältnismäßig, ({1}) zumal es noch eine andere Stellschraube gibt. Nicht jedes Überhangmandat muss durch ein Zusatzmandat. ausgeglichen werden. Sie schreiben in Ihrem Gesetzentwurf – ich will das noch einmal ganz sachlich darstellen –: Überhangmandate ohne Ausgleich sind „nicht akzeptabel“, und – Zitat –: Mit der Erststimme wird ... nur über die personelle Besetzung des Bundestages bestimmt. Der Zweitstimmenproporz darf nicht durch Zufallsmomente verzerrt werden. ({2}) Ich will hier eines klarstellen: Für uns ist die Erststimme des Wählers keine Verzerrung des Wahlergebnisses durch ein Zufallsmoment, sondern es ist ein demokratisches Recht des Bürgers, das vornehmste. ({3}) Auch das Bundesverfassungsgericht beurteilt die Erststimme anders, als Sie das in Ihrem Gesetzentwurf machen. Es hat nämlich 2012 erklärt – jetzt sollte man gut zuhören; ich zitiere –: Auf diese Weise – also durch die Erststimme – möchte der Gesetzgeber die Verbindung zwischen Wählern und Abgeordneten, die das Volk repräsentieren, stärken und zugleich in gewissem Umfang der dominierenden Stellung der Parteien bei der politischen Willensbildung des Volkes ... ein Korrektiv im Sinne der Unabhängigkeit der Abgeordneten ... entgegensetzen. ({4}) Also, der erste Punkt ist die Verbindung zwischen Wählern und Abgeordneten. Wenn Sie die Wahlkreise größer machen, dann ist diese Bürgernähe nicht mehr darstellbar. Ich will Ihnen die Beispiele jetzt gar nicht nennen. Es gab einen eindrucksvollen Artikel über Ecki Rehberg, der seinen Wahlkreis in Mecklenburg-Vorpommern hat. Er ist dort mit dem Wohnmobil unterwegs. Ob wir wollen, dass die Wahlkreise noch größer werden und die Bindung zwischen Wählern und Abgeordneten nachlässt, kann man doch wirklich einmal fragen. Der zweite Punkt, den das Bundesverfassungsgericht nennt, ist: Das ist ein Korrektiv. Das ist für Karlsruhe so bedeutsam, dass nicht jedes Wahlkreismandat ausgeglichen werden muss. Deshalb zitiere ich noch einmal: … der Gesetzgeber [darf] das Anliegen einer proportionalen Verteilung der Gesamtzahl der Sitze grundsätzlich zurückstellen und Überhangmandate ohne Wiederherstellung des Proporzes zulassen. Es geht weiter mit dem Bundesverfassungsgericht – letztes Zitat –: Das Anliegen der Personenwahl und das mit der Verhältniswahl verfolgte Ziel weitgehender Proportionalität stehen ... in einem Spannungsverhältnis, das sich nur durch ... einen Ausgleich beider Prinzipien auflösen lässt. Jetzt stelle ich einmal fest: Das ist das, was wir vorschlagen: ein Ausgleich dieser beiden Prinzipien, dieses Spannungsverhältnisses: Reduzierung der Zahl der Wahlkreise um 19 – das tut uns schon weh; ich habe die Gründe genannt –, auf der anderen Seite zu akzeptieren, dass sieben Direktmandate nicht ausgeglichen werden. Wir halten die Regelung nicht für ideal. Aber es ist ein Kompromissvorschlag. Als solches sollte man das ansehen. Wir wollen dafür kämpfen und uns dafür einsetzen, dass wir eine Reduzierung der Abgeordnetenzahl im Deutschen Bundestag und damit eine Funktionalität, eine Arbeitsfähigkeit des Bundestages in der künftigen Wahlperiode hinbekommen. Wir sind auch bereit, das schon 2021 zu machen. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt. Die Fraktionen von FDP, der Linken und Bündnis 90/Die Grünen haben beantragt, gemäß § 80 Absatz 2 Satz 1und 2 in Verbindung mit § 20 Absatz 2 Satz 3 der Geschäftsordnung in Bezug auf den Gesetzentwurf zur Änderung des Bundeswahlgesetzes auf Drucksache 19/14672 in die zweite Beratung einzutreten. Über den Geschäftsordnungsantrag soll namentlich abgestimmt werden. Das Wort zur Geschäftsordnung hat die Kollegin Haßelmann.

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich finde, dass die Debatte sehr eindrücklich deutlich gemacht hat, dass es keinen Grund gibt, den Gesetzentwurf von FDP, Grünen und Linken heute nicht zur Abstimmung zu bringen. Es gibt Kolleginnen und Kollegen im Haus, die sagen, sie lehnen ihn eindeutig ab. Es gibt Kolleginnen und Kollegen im Haus, die ihn interessant finden und vielleicht zustimmen werden. Aber es gibt keinen Grund, sich dieser Abstimmung dadurch zu entziehen, dass man im Fachausschuss nicht abgeschlossen hat. Sie können sich hier keinen schlanken Fuß machen und gleichzeitig als Koalition keinen Vorschlag vorlegen. Deshalb beantrage ich namens der drei Fraktionen den Eintritt in die zweite Beratung. ({0})

Silvia Breher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004681, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin auf einem Bauernhof aufgewachsen und habe auch lange in diesem Bereich gearbeitet, und zwar aus Überzeugung. Für mich ist die Tierhaltung in Deutschland, für mich ist die Landwirtschaft in Deutschland, für mich ist die Zukunftsperspektive der Nutztierhaltung in Deutschland ein absolutes Herzensthema. ({0}) Die Diskussion dreht sich im Kern leider schon viel zu lange im Kreis. Das mögen einige anders sehen. Aber aus meiner, aus unserer Sicht stellt es sich eben oft so dar: Die Bäuerinnen und Bauern wollen mehr Tierwohl im Stall möglich machen. Aber dann bekommen sie die Genehmigung für den Umbau nicht. Auf den Mehrkosten bleiben sie am Ende leider auch oft sitzen, weil sich ein entsprechender Preis an der Ladentheke nicht erzielen lässt, weil der Handel zwar von Montag bis Mittwoch mehr Tierwohl bewirbt, aber von Donnerstag bis Freitag bei unseren offenen Märkten mit Billigfleischangeboten die Kunden in den Laden lockt. Am Ende fordert die Gesellschaft zwar mehr Tierwohl. Aber der einzelne Verbraucher ist unter diesen Voraussetzungen leider viel zu selten bereit, den angemessenen Preis zu zahlen. Diese Rechnung kann leider nicht aufgehen und geht ausschließlich zulasten der Landwirtschaft. Deshalb bin ich der Ministerin sehr dankbar, dass sie im vergangenen Jahr das Kompetenznetzwerk Nutztierhaltung eingesetzt hat. Jochen Borchert ist es mit einer großen Bandbreite an Experten gelungen – das ist wirklich bemerkenswert –, einen Konsens herzustellen ({1}) und Empfehlungen für den Umbau der Tierhaltung, für einen langfristigen Transformationsprozess vorzulegen. Vielen Dank für diese wertvolle Arbeit! ({2}) Mit unserem heutigen Antrag unterstützen wir ausdrücklich und mit voller Überzeugung die Umsetzung dieser Empfehlungen, und zwar in Gänze; denn wer den Umbau der Nutztierhaltung in Deutschland will, wer eine Zukunft für die Nutztierhaltung in Deutschland will, muss die Empfehlungen der Borchert-Kommission im Ganzen umzusetzen bereit sein. ({3}) Ich habe das schon viel zu oft gehört: Ja, wir wollen mehr Tierwohl, aber das soll nicht mehr kosten. Ja, wir wollen mehr Tierwohl. Aber dafür Stallbauten? Und das Bau- und Umweltrecht wollen wir anpacken. Nein, das packen wir lieber nicht an. – Aber das Herauspicken von Rosinen – nur das Tierwohl nehmen und die Landwirte mit dem Rest alleine lassen – funktioniert einfach nicht. Wer Borchert will, muss auch Ja sagen zu den notwendigen Veränderungen und muss die Voraussetzungen dafür schaffen. ({4}) Mit unserem Antrag fordern wir nun die Bundesregierung auf, noch in dieser Legislaturperiode, also jetzt, eine Umsetzungsstrategie vorzulegen und auch einen Finanzierungsvorschlag zu unterbreiten. Bei den offenen Märkten ist uns ganz wichtig: Der Verbraucher soll erkennen können, woher das Fleisch in der Ladentheke stammt und wie das Tier gelebt hat. Dafür brauchen wir ein EU-weit verpflichtendes Haltungs- und Herkunftskennzeichen. Dafür wird sich die Bundesregierung während der EU-Ratspräsidentschaft einsetzen. Lassen Sie uns nun alle gemeinsam den Empfehlungen der Borchert-Kommission folgen – ehrlich und konsequent für eine Zukunft für unsere Nutztierhaltung in Deutschland. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Kollegin Breher. – Der nächste Redner ist für die Fraktion der AfD der Kollege Wilhelm von Gottberg. ({0})

Wilhelm Gottberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004730, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Alle Fraktionen hier im Hause wollen mehr Tierwohl. Die vorgelegten Anträge weisen das aus. Die Bundesregierung hat dazu eine Studie vorgelegt: Empfehlungen des Kompetenznetzwerkes Nutztierhaltung. Respekt, Frau Ministerin Klöckner, dass es Ihnen gelungen ist, für diese Aufgabe Herrn Borchert zu gewinnen. Er ist einer Ihrer Vorgänger im Amt und ein ausgewiesener Experte. Die Studie weist für die Nutztierhaltung Reformbedarf aus. Es ist der gesellschaftliche Druck, der von den Nutztierhaltern mehr Tierwohl fordert. Das ist aber mit deutlich höheren Kosten für die Tierhalter verbunden. Das Papier nennt Finanzierungsmöglichkeiten, die fragwürdig erscheinen. Für die Realisierung der Empfehlungen nennt die Studie einen Zeitraum von maximal 20 Jahren. Bis 2025 soll eine verpflichtende Tierwohlkennzeichnung auf EU-Ebene eingeführt sein. Wird dieses Tierwohllabel auf einheitlichen und verbindlichen Kriterien beruhen? Sehr unwahrscheinlich! Zur Umsetzung der Empfehlungen nennt das Papier verschiedene Maßnahmen. Diese sind zeitaufwendig und bergen die Gefahr des Scheiterns der angestrebten Reform. Beispiele dafür: a) Die Vorschläge werden in einem breiten politischen und gesellschaftlichen Prozess diskutiert. b) Die Fördermaßnahmen müssen grünes Licht von der EU bekommen. c) Die Studie nennt einen jährlichen Finanzbedarf ab 2025 von 1,2 Milliarden bis 2,4 Milliarden Euro. d) Es soll eine externe Machbarkeitsstudie mit Folgenabschätzung auf den Weg gebracht werden. Diese Maßnahmen stellen Klippen dar, an denen das Vorhaben scheitern kann. Ist denn die Machbarkeitsstudie bereits auf den Weg gebracht worden? Das wäre doch ein erster Schritt hin zur konsequenten Umsetzung des Borchert-Papiers. Das Ziel der Studie – Zitat –: Nutztierhalter stellen eine gesellschaftlich gewünschte Leistung bereit, ein hohes Tierwohlniveau, und erhalten als Gegenleistung der Gesellschaft sowohl eine finanzielle Honorierung wie auch eine verbesserte Akzeptanz des Sektors. Wer könnte diesen Zielvorgaben nicht zustimmen? Die Studie benennt in bemerkenswerter Klarheit die Negativfolgen, wenn eine politische Finanzierung des Umbaus nicht erreicht werden kann. Die Konsequenz daraus: Verlagerung der Nutztierhaltung ins Ausland und damit Verlust der Wertschöpfung in Deutschland. Ein sportliches Foul leistete sich die Koalition bezüglich unseres Antrages „Zukunftsfähige Nutztierhaltung“. Wir haben ihn gleich nach Bekanntgabe des Borchert-Papiers am 27. Mai eingebracht. Er wurde im Agrarausschuss abgelehnt. Die Koalition hat dann ihren eigenen Antrag – ohne Vorbereitung im Ausschuss und mit Sofortabstimmung hier und heute – ins Plenum eingebracht. Inhaltlich gibt es so gut wie keine Unterschiede zwischen den beiden Anträgen. Wir sehen das locker. Unsere Frustrationstoleranz ist hoch. Gegenstand dieser Debatte ist auch die erste Lesung des von der Koalition eingebrachten Gesetzentwurfes zur Verbesserung des Tierwohls in Tierhaltungsanlagen. Dass dieser Entwurf erst vorgestern bekannt wurde, müssen wir als Opposition rügen. Der Entwurf beinhaltet die Modifizierung des Bauordnungsrechtes im Außenbereich. In diesem Sinne kann der Entwurf als ein erster Schritt für die Umsetzung des Borchert-Papiers angesehen werden. Die AfD wird dem Gesetzentwurf zustimmen. Danke. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die SPD-Fraktion hat das Wort die Kollegin Susanne Mittag. ({0})

Susanne Mittag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004355, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte – einige sind ja da – Damen und Herren! Die landwirtschaftliche Nutztierhaltung steht seit Jahren in der gesellschaftlichen Kritik; das haben ja nun alle mitbekommen. Die Wut und der Frust der Landwirte nehmen zu. Es wird auf beiden Seiten in der Debatte vereinfacht. Fachliches und Ausgleichendes bleibt leider oft auf der Strecke oder wird teilweise gar nicht wahrgenommen. Das Kürzen der Ringelschwänze beim Schwein oder das Enthornen der Kälber ohne Betäubung widersprechen dem Grundgedanken des Tierwohls. Immer wieder werden Ausnahmen vom Tierschutzgesetz zugelassen, sodass am Ende Gerichte dafür sorgen müssen, dass Gesetze und Verordnungen in der Praxis umgesetzt werden, siehe heute die Entscheidung zum Kastenstand im Bundesrat; die Debatte dazu hat lange genug gedauert. Es reicht nicht aus, nur die Landwirtschaft in den Blick zu nehmen. Die Schlacht um die Verarbeitungsindustrie, der Lebensmitteleinzelhandel, Transport, Veterinärwesen, Tierschutzorganisationen sowie Verbraucherinnen und Verbraucher müssen und sollen in einen Umbau der Tierhaltung in Deutschland einbezogen werden. In den Diskussionen geht es jedoch nicht allein um die Art der Tierhaltung, sondern auch um die Frage des Ressourcenverbrauchs, des Klimaschutzes und der gesundheitlichen Folgen des derzeitigen Fleischkonsums. Daher greifen die Oppositionsanträge zu kurz oder sind teilweise auch veraltet. Mit dem Einsetzen des Kompetenznetzwerks Nutztierhaltung haben Sie, Frau Klöckner, einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung getan. Aber den entscheidenden Schritt hat dann doch der Vorsitzende, der ehemalige Bundeslandwirtschaftsminister Jochen Borchert, vollzogen. ({0}) – Ja, den können Sie auch mal beklatschen; er hat gut gearbeitet. Mit Sachverstand, Ausgleichsfähigkeit und Zähigkeit hat er die betroffenen Verbände an einen Tisch geholt, um ein gemeinsames Ergebnis in relativ kurzer Zeit vorzulegen. Das hat jahrelang nicht funktioniert. Es wurden Vorschläge auf den Tisch gelegt, deren Deutlichkeit viele vorher wahrscheinlich nicht erwartet hätten. Ich war ganz begeistert. Und gut, wo immer Sie auch sind, dass Sie weiter bei der Debatte sind. Wir wollen, dass die Empfehlungen des Kompetenznetzwerks Nutztierhaltung die Grundlage für die zukünftige Ausrichtung der landwirtschaftlichen Nutztierhaltung werden. Zeitnah muss daher eine Machbarkeitsstudie vorgelegt werden; das ist schon mal für heute der Auftrag. Bis zum Herbst dieses Jahres müssen die Empfehlungen mit detaillierten Regelungsvorschlägen ausgearbeitet werden, um sie dann erneut zu verhandeln, zu debattieren und auch zu entscheiden, und zwar dieses Jahr. Aber vor allem die Kriterien für die Haltungsstufen des Tierwohllabels für alle Nutztierarten fehlen. Die Vorgaben für Schweine müssen endlich vervollständigt werden – diesen Sommer –; die Erstellung der Kriterien für Rind, Milch, Eier und Geflügel fehlt noch komplett. Auch das geht an Ihr Haus, Frau Klöckner. Ich bin gespannt. Gleiches gilt für die Vorarbeit innerhalb der deutschen EU-Ratspräsidentschaft, die wir seit drei Tagen haben, hinsichtlich eines verpflichtenden Labels. Das heißt, das gesamte Fleisch sowie Eier und Milch werden klassifiziert, also gelabelt, oder haben nur Mindeststandard. Erste Schritte sind unternommen worden, gut. Aber entscheidend ist die Umsetzung und nicht die Ankündigung. Das ist auch die Voraussetzung zur Definition des unbestimmten Rechtsbegriffs des Gesetzentwurfs, der vorliegt. Was ist eigentlich Tierwohl?

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende.

Susanne Mittag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004355, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Jawohl. ({0}) Also, ich bin optimistisch, dass das Ministerium das diesen Sommer hinbekommt. Wir wünschen da alles Gute, und im Herbst wollen wir auch entscheiden. Herzlichen Dank. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die FDP-Fraktion hat das Wort der Kollege Karlheinz Busen. ({0})

Karlheinz Busen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004690, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jahrzehnte wurde der Stallbau von der Politik stiefmütterlich behandelt. Als selbstständiger Bauingenieur habe ich über viele Jahrzehnte Ställe gebaut, und aus Erfahrung kann ich sagen: Stallbau ist hochkomplex. Es ist trotzdem völlig überflüssig, für kleinste Änderungen eines Stalles, die dem Wohl der Tiere dienen, riesige Bauanträge vorzusehen. ({0}) Der Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen ist gut gemeint. Aber auf einen vorhabenbezogenen Bebauungsplan sind die wenigsten Betriebe angewiesen. Stattdessen bleiben die Vorschriften im Bundes-Immissionsschutzgesetz bestehen. Solange diese Vorschriften bestehen bleiben, bringt der Gesetzentwurf keinen Mehrwert. ({1}) Der zudem vorgelegte Antrag der Koalitionäre ist mit der heißen Nadel gestrickt. Sie wollten doch nur nicht schon wieder mit leeren Händen dastehen, während wir Freie Demokraten Ihnen immer gute Vorschläge unterbreiten. ({2}) Frau Klöckner, Sie sollten auch Ihre Prioritäten klären. Setzen Sie sich für umfassende Erleichterungen im Stallbaurecht ein! Das Herzensanliegen, Frau Ministerin, die Tierwohlkennzeichnung, ist leider nicht erfolgreich. Trotz eines guten privaten Kennzeichnungssystems in Deutschland wollen Sie ein nationales Label gesetzlich und freiwillig einführen. Finanzieren wollen Sie das mit einem Umverteilungsmodell ähnlich wie beim EEG. ({3}) Wer mehr Tierwohl will, soll dafür an der Ladentheke bezahlen. Ein Tierwohl-EEG braucht dieses Land aber nicht. ({4}) Ambitioniert wäre ein europäisches Label, das die Standards bei der Tierhaltung europaweit harmonisiert. Ihr Vorschlag eines nationalen Alleingangs ist ambitionslos, mutlos und nutzlos. Gestern noch hat mir der Wissenschaftliche Dienst bestätigt: Eine Tierwohlabgabe, wie von Ihnen geplant, wäre verfassungswidrig. Wenn Sie einen nationalen Tierwohlkonsens erreichen wollen, dann müssen Sie mehr liefern als nur kalten Kaffee. Die Folgen einer scheinheiligen Politik mit immer höheren Auflagen sieht man in der Schlachtindustrie. Drei Unternehmen beherrschen mehr als 50 Prozent des Schlachtmarktes. Das ist die direkte Folge einer ideologischen grünen Politik. ({5}) Wenn Sie Menschen bürokratisieren, bevormunden und abkassieren, müssen Sie sich nicht wundern, wenn es nur noch wenig Platzhirsche am Markt gibt. ({6}) Kleinbetriebe können bei diesem Regulierungswettlauf nur verlieren. ({7}) Werkverträge und Zeitarbeit gibt es in diesem Ausmaß nur, weil Rote und Grüne es verbockt haben, den Unternehmen genug Beinfreiheit zu lassen. Wenn Sie bei der Tierhaltung so sehr gegen große Stallanlagen sind, dann dürfen Sie die bürokratischen Fesseln nicht immer enger ziehen. Der grüne Antrag zeigt einmal mehr: Es geht nur um Ideologie. Für eine erfolgreiche Zukunft brauchen wir allerdings keine Ideologie, sondern nur Vernunft. Danke. ({8})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion Die Linke hat das Wort die Kollegin Dr. Kirsten Tackmann. ({0})

Dr. Kirsten Tackmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003853, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die sogenannte Borchert-Kommission hat im Auftrag von Ministerin Klöckner im breiten Konsens Vorschläge für mehr Tierwohl vorgelegt. Union und SPD greifen das heute auf. Es ist gut, aber auch überfällig. ({0}) Gerade als Tierärztin weiß ich sehr gut, dass es ein Weiter-so nicht geben darf. Aber es geht nicht nur um bessere Ställe. Ich kritisiere ein krankes System, und zwar schon viele Jahre. Auch Ministerin Klöckner stellt unterdessen die Systemfrage. Nur muss sie die als zuständige Ministerin auch beantworten. ({1}) Denn es geht um ein System, in dem Tiere, Menschen und Natur ausgebeutet werden, und zwar zum Wohl weniger, aber auf Kosten von uns allen. Das ist weder akzeptabel noch zukunftsfähig. ({2}) Man braucht übrigens kein Brennglas einer Pandemie, um das festzustellen. Spätestens seit dem Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats für Agrarfragen, also seit März 2015, kennen wir den dringenden Handlungsbedarf. Die Union bewegt sich nur auf großen Druck, und dann lediglich in homöopathischen Dosen. Die Verlierer sind nicht nur die Tiere, sondern auch die Menschen, die sie betreuen, die in Schlachthöfen arbeiten oder in Supermärkten, ganz zu schweigen von Natur und Klima. Wer übernimmt endlich die Verantwortung dafür, dass die ganze Lebensmittelkette mit Vollgas in die Sackgasse gefahren wurde? Die tierhaltenden Betriebe wurden im Stich gelassen, erst recht jene, die sich längst aufgemacht haben, weil sie wissen, dass sie ihre Tiere so betreuen sollen, dass sie gut leben können. Aber sie brauchen eben nicht nur Geld; sie brauchen Schutz vor dem übermächtigen Druck von Schlacht- und Handelskonzernen. ({3}) Der Koalitionsantrag öffnet Türen, ja, aber eben nicht mehr und nicht weniger. Weil das Anliegen wichtig ist und die Richtung immerhin stimmt, wird Die Linke heute zustimmen. Trotzdem müssen wir zwingend über ein paar Defizite reden. Ich will zwei zentrale nennen. Erstens. Die Kosten müssen fair verteilt sein. Also sind statt eines Aufpreises lieber erst mal die Profiteure zur Kasse zu bitten. ({4}) Und übrigens, wer Dumpingpreise und die Unmoral von Tönnies und Co duldet, hat überhaupt gar nicht das Recht, an die Moral von Verbraucherinnen und Verbrauchern zu appellieren. ({5}) Zweitens. Die Hochrisikostrukturen entlang der gesamten Lieferkette müssen korrigiert werden. Deswegen stellt die Linksfraktion heute ihren Antrag zur Abstimmung; denn wer flächengebundene Tierhaltung will, der muss auch bereit sein, Tierbestände zu deckeln, und zwar sowohl in Regionen als auch an Standorten. ({6}) Aber dazu brauchen wir einen sozialverträglichen Umbau. Aber nicht nur die Ministerin muss ihren Job machen, sondern auch die Koalition. Und das heißt für uns Linke ganz klar: Erstens. Die Vernünftigen müssen vor den Skrupellosen geschützt werden. Und zweitens. Die Kosten für mehr Tierwohl müssen auf breite Schultern verteilt werden statt auf die schmalen. Daran werden wir alle Vorschläge messen. Und klar ist auch: Wer Machtverhältnisse und Strukturen nicht korrigiert, wird allenfalls Symptome lindern. Als Linke wollen wir das kranke System nicht. Vielen Dank. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Liebe Kolleginnen und Kollegen, zwei Hinweise: Erstens. Ich bitte die Mitglieder des Ältestenrates, sich in dessen Sitzungssaal zu begeben. Die Sitzung beginnt jetzt. Zweitens möchte ich darauf hinweisen, dass wir um 15.20 Uhr die namentliche Abstimmung schließen. Also, wer noch nicht abgestimmt hat, hat dafür noch acht Minuten Zeit. Nächste Rednerin ist die Kollegin Renate Künast, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es wäre nicht aufrichtig gegenüber den Bäuerinnen und Bauern, den Landwirten, wenn wir behaupten würden oder sie in einer Art Sicherheit wiegen würden, die da heißt, dass die Tierhaltung in der heutigen Art und Dimension in Zukunft Bestand haben kann. Es wäre nicht aufrichtig, wenn man sagen würde: So, ein paar kleine Änderungen, und dann kann das tatsächlich für das Unternehmen für 10, 20, 30 Jahre aussichtsvoll so weiterbetrieben werden. – Und es wäre übrigens auch nicht fair und aufrichtig, wenn wir gegenüber den jungen Leuten, ob jetzt solchen von Fridays for Future oder jungen Bäuerinnen und Bauern, so tun würden, als könnten wir ein System auf der Basis der Freiwilligkeit, also nur für die, die mitmachen, und bei Beibehaltung der Exportorientierung von heute umbauen. Das wird so nicht sein. ({0}) Wir haben heute festzustellen, dass man quasi sagen kann: Die gesellschaftliche Betriebserlaubnis für den Großteil der heutigen Tierhaltung ist abgelaufen. – Und wir wissen, als Rahmenbedingungen auch einiges andere. Es wird Gerichtsentscheidungen geben. Wenn jetzt groß geplant wird – meine Kollegin Mittag hat sich ja sehr engagiert; das finde ich auch positiv –, wenn wir glauben würden, dass das, was jetzt oder im nächsten halben Jahr hier in dem Rahmen vereinbart würde, ewig Bestand hat, dann steht dahinter ein Nein: Nächsten Sommer, im Sommer 2021, wird das Bundesverfassungsgericht über die Schweinehaltung entscheiden, es wird auch in anderen Bereichen Gerichtsentscheidungen geben, und danach müssen wir uns strecken. Wir müssen uns danach strecken, dass der Artikel 20a Grundgesetz tatsächlich umgesetzt wird, ernsthaft. ({1}) Was ich als Mangel in unserer Debatte empfinde, ist, dass das Thema Klima in diesem Punkt überhaupt nicht adressiert wird. Der Arbeitsauftrag in dem Kontext von Frau Klöckner hat die Reduktion von Tierzahlen gar nicht dabei. Und wissen Sie was? Die Landwirtschaft, insbesondere die Tierhaltung, muss aber den Ausstoß an CO2 und Methan reduzieren. Wir können doch nicht sagen: Wir machen ein Programm mit Zielstellung 2030 und 2040, und zwischendurch operieren wir dann in drei, vier Jahren das Thema Klima noch rein. – Das halte ich für einen Mangel. Wir müssen die Courage haben, die Dinge zusammen zu organisieren. ({2}) Ich sage: Ja, meine Damen und Herren, die Borchert-Kommission ist beachtlich. Es ist beachtlich, wer sich da alles zusammengefunden hat. Aber es ist eben leider auch nicht genug: Der Tierschutzbund war gar nicht drin, die Verbraucher sind ausgestiegen, über die Reduktion der Tierzahlen ist nichts da, die Weltmarktorientierung bleibt, die Menge an Gülle bleibt, die wegen der Reinigung hohen Wasserpreise bleiben, und wir haben einen Vorschlag zum Baugesetzbuch vorliegen, das den unbestimmten Begriff „Tierwohl“ nimmt, den noch keiner definieren kann, ({3}) und sagt: „Die Ställe dürfen größer werden“, aber nicht sagt: weniger Tiere. – Das ist zu wenig, meine Damen und Herren. ({4}) Deshalb haben wir einen eigenen Antrag gemacht, der einen ganz klaren Zielpfad hat, der auch sagt, für alle Tiere müsse es rechtlich verbindliche Mindeststandards für ein artgerechtes Leben geben. ({5}) Die Ausnahmen – von Qualzucht bis Amputation der Tiere, damit sie in die Ställe passen –, müssen jetzt aufgehoben werden, nicht irgendwann. ({6}) Erstens. Verpflichtende Haltungs- und Herkunftskennzeichnung, ein Tierschutzmonitoring und Tierschutzkontrollen sowie ein Tierschutzbeauftragter – das alles gehört dazu, damit man den Prozess weiter begleiten kann. Wissen Sie, 2040 ist ein hehres Ziel, aber es ist weit weg. Wir müssen zum Beispiel bis 2030 Klimaleistungen erbringen. Die sind hier nicht adressiert. Und zweitens sage ich Ihnen: Es wäre unfair den Bauern und Bäuerinnen gegenüber, falsche Hoffnung zu verbreiten, wenn wir sehen, dass im Markt die großen Konzerne oder auch die Mittelständischen zum Teil aus Fleisch aussteigen und als Alternative vegane Produkte auf den Markt bringen. Das wird auch eine Konkurrenz für die Bauern sein. Also, halten wir die Bauern nicht in falscher Sicherheit, sondern helfen wir ihnen, die Tierhaltung massiv auf artgerechte Standards zu bringen oder eben auch auf neue Produkte zu gehen. Das muss unsere Zielstellung sein. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die nächste Rednerin ist die Frau Bundesministerin Julia Klöckner für die Bundesregierung. – Frau Ministerin. ({0})

Julia Klöckner (Minister:in)

Politiker ID: 11003566

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eines vorweg: Herr Busen, ich habe Sie nicht so oft im Agrarausschuss gesehen. Das erklärt auch, warum Sie Tierwohlabgabe, Tierwohlkennzeichen, Freiwilligkeit und Nichtfreiwilligkeit so durcheinandergeworfen haben. ({0}) Ich glaube, es ist schon wichtig, dass man das ein bisschen aufklärt. Verehrte Frau Künast, Sie sagen, dass der vzbv ausgestiegen sei. Auch das ist falsch. Der vzbv ist die ganze Zeit dabei gewesen. Nur bei dem Thema Tierwohlabgabe, die Sie ja unterstützen, hat er Nein gesagt. Ich glaube, wir sollten da ein bisschen ehrlicher sein. ({1}) Also, wenn Sie hier Wert darauf legen, dass man ordentlich arbeitet, dann würde ich das gerne auch von Ihnen verlangen. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, 90 Prozent unserer Bevölkerung sind Fleischesser. Das ist keine Nische. Für dieses Verbraucherbedürfnis halten unsere Landwirte Nutztiere. Es ist ihr Beruf, sie leben davon, und es ist ein Beruf, der Sachkenntnis, der Befähigung, der hohe Investitionen, viel Einsatz und auch Zeit erfordert. Das ist kein Beruf, der der Work-Life-Balance entspricht. Er hat damit wenig zu tun. Auch deshalb nimmt die Zahl der tierhaltenden Betriebe in Deutschland kontinuierlich ab. Auflagen, steigende Kosten, harter internationaler Wettbewerb kommen hinzu. Die Tierhalter sind in dieser Debatte das eine Ende, wir Verbraucher sind das andere Ende. Der Großteil der Verbraucher sagt: Wir wollen besseres Fleisch mit mehr Tierwohl. Tiere werden geschlachtet; dann sollen sie wenigstens ein gutes, ein besseres Leben gehabt haben. Diese Forderung, sehr geehrtes Parlament, unterstütze ich und unterstützen wahrscheinlich alle hier in diesem Haus. Es geht um Respekt den Tieren gegenüber, aber auch den Tierhaltern, statt ihnen, wie es in Mode gekommen ist, pauschal immer das Schlimmste zu unterstellen. ({3}) Aber für mehr Tierwohl braucht es bessere Preise an der Theke: Mehr Tierwohl im Stall, bessere Preise an der Theke. Fleisch soll kein Luxusprodukt für Reiche werden, aber Fleisch soll auch keine Alltagsramschware sein. ({4}) Deshalb, liebe Kollegen: Wenn Fleisch als Lockmittel herhalten muss, um Käufer in den Laden zu bekommen, dann halte ich das ethisch für bedenklich; denn Billigpreise bei Fleisch und Wurst geben niemals den wahren Wert wieder. „Kracher Hammerpreise“, „noch billiger“, „Preise in den Keller“ – so flattert die Werbung nahezu wöchentlich mit den Prospekten in den Briefkasten. Ich halte diese Art von Werbung aus ethischen Gründen nicht für in Ordnung.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Julia Klöckner (Minister:in)

Politiker ID: 11003566

Gerne.

Dr. Gero Clemens Hocker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004754, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Frau Ministerin, dass Sie diese Zwischenfrage zulassen. – Die Kollegin Künast hat eben davon gesprochen, dass, selbst wenn die Vorschläge der Borchert-Kommission vollumfänglich umgesetzt werden würden, es dann keine Zusicherung an die Landwirte, die Bäuerinnen und Bauern in Deutschland geben könnte, dass damit sozusagen das Ende der Fahnenstange erreicht wäre. Das heißt für mich, dass Landwirte damit immer noch keine Planungsgrundlage haben, sondern sie davon ausgehen müssen, dass auch zusätzliche Auflagen darüber hinaus vom Gesetzgeber beschlossen werden, die sie dann einzuhalten haben. Deswegen würde ich von Ihnen gerne wissen, Frau Ministerin, ob Sie den Landwirten in Deutschland eine Garantie geben können, dass, selbst wenn die Vorschläge der Borchert-Kommission umgesetzt werden würden, dann für einen überschaubaren Zeitraum keine weiteren, zusätzlichen Auflagen auf unsere Nutztierhalter zukämen und sie damit Planungssicherheit hätten.

Julia Klöckner (Minister:in)

Politiker ID: 11003566

Wenn die CDU weiterhin eine Regierungsfunktion hat, kann ich Ihnen diese Garantie geben. ({0}) – Ich bin noch nicht fertig, nein, nein. Ich wollte schon noch tiefer einsteigen. Herr Dr. Hocker, danke für Ihre Frage, die ich für sehr berechtigt halte. Wir brauchen eine Art Generationenvertrag, wenn es um den Umbau der Tierhaltung geht. Es geht hier um einen Umbau der Tierhaltung in Deutschland, der erreicht, dass auch darüber geredet wird und die Erkenntnis deutlich gemacht wird: Wir sind in einem großen Markt und in einem Wettbewerb, und wer mehr für das Tierwohl tun will, der erweist dem Tierwohl einen Bärendienst, wenn er Tierhalter aus dem Land treibt und wir dann Fleisch importieren, über dessen Standards wir überhaupt nicht mitentscheiden können. Insofern wird es bei allen Wünschen für mehr Tierwohl, die man aus dem Bauchgefühl hat, wichtig sein, dass Anspruch und Umsetzung auch zusammenpassen, das heißt, dass entweder die Ansprüche, die wir an die Tierhaltung im Stall haben, an der Theke bezahlt werden oder zwischendrin mit staatlichen Förderungen geholfen wird, dass eine Landwirtsfamilie davon leben kann. Ansonsten werden die Tierhalter hier aufhören, und wir werden nicht alle Vegetarier oder Veganer werden. Deshalb gebe ich den Landwirten eine Zusage. Sie brauchen eine Zusage; da bin ich absolut bei Ihnen. Denn wer heute einen Stall umbaut, nicht um mehr Tiere zu halten, sondern um für die Tiere, die er hat, mehr Platz, Außenluft, Frischluft und Bewegungsfreiheit zu haben, braucht nicht nur die gesetzlichen Grundlagen dazu; er muss auch Zielkonflikte, wenn es um die TA Luft oder das Baugesetzbuch geht, von uns als Politikern klar im Sinne des Tierwohls gelöst bekommen. Er benötigt aber dann auch eine gewisse gesellschaftliche Friedenspflicht, wenn er nämlich Hunderttausende, 1 Million Euro oder noch mehr investiert. Er bekommt einen Kredit überhaupt nicht, wenn nicht klar ist, dass er auch für eine Zeit lang die Zusage hat, dass er planbar wirtschaften kann. Deshalb meine ich: Ja, die breite Beteiligung bei dieser Kommission, die ich eingesetzt habe, hat genau diesen Grund gehabt, dass wir eine gesellschaftliche Akzeptanz und einen Konsens brauchen, der überparteilich und überfraktionell sein soll. Deshalb brauchen Landwirte Planungssicherheit. ({1}) Sehr geehrte Damen und Herren, ich war bei der Frage der Preise. Wenn Fleisch als Ramschware genutzt wird, um am Ende Verbraucher in den Laden zu locken und mischkalkulatorisch das Ganze auf den Waschmittelpreis draufzuschlagen, halte ich das für unanständig. Deshalb werden wir prüfen, ob wir juristisch gegen diese Dumpingpreise bei Lockangeboten von Fleisch vorgehen können. Denn es kann doch niemand allen Ernstes glauben, dass für diese paar Cent ein Tier gut gelebt hat, ein Bauer ordentlich kalkuliert hat und ein Schlachthofarbeiter anständig bezahlt werden konnte. Mir geht es um regionale Erzeugung und um die Erhöhung von Tierwohlstandards. Genau mit dieser Zukunftsfrage, wie wir die Nutztierhaltung in Deutschland tierwohlgerecht so umbauen, dass Landwirte davon auch leben können, hat sich die Borchert-Kommission beschäftigt, die ich in Auftrag gegeben habe. Ich danke Jochen Borchert sehr, sehr herzlich. Er ist aktiv. Es werden jetzt gerade – Frau Mittag, das wissen Sie – die anderen Kriterien erarbeitet. Ich halte es für wichtig, dass wir sie wieder im Konsens für die anderen Tierarten erarbeiten und wir nicht jetzt einzeln vorpreschen. Sie wissen, die Coronazeit hat auch einige vulnerable Mitglieder dieser Gruppe dazu gezwungen, etwas zurückzufahren. Ihre Arbeit fährt jetzt wieder hoch. Deshalb: Danke an Jochen Borchert, an die ganze Kommission; aber ich will auch Ihnen, den Mitgliedern dieses Parlamentes, danken. Ich habe alle Anträge durchgelesen. Ich sehe in diesen Anträgen Rückenwind für die Borchert-Kommission und auch den Willen, dass wir partei-, dass wir fraktionsübergreifend einen Konsens herstellen, um Tierhaltung in Deutschland zu halten, aber das Tierwohl schwungvoll zu verbessern und vor allen Dingen unsere Ställe nachhaltig umzubauen. Dafür, sagen wir, brauchen wir einen Pakt vom Stall bis zum Teller; den müssen wir schmieden. Aber wir fangen nicht erst heute an, uns mit der Frage des Tierwohls zu befassen, sondern Sie wissen: Ich habe mich auch für 300 Millionen Euro aus dem Konjunkturpaket eingesetzt. Soeben ist im Bundesrat die Verordnung zur Nutztierhaltung in einem breiten Konsens angenommen worden. Sie hat eines erreicht: mehr Tierwohl, mehr Tierschutz. Wir helfen den Tierhaltern mit richtig viel Geld des Bundes, dass sie schnell die Ställe umbauen können, dass wir Tierhaltung hier halten, aber den Anspruch erhöhen und vor allen Dingen Gas geben, um zu zeigen, dass Ökologie, Ökonomie und die soziale Frage zusammenpassen. Da sind wir Verbraucher gefragt, da sind Tierhalter gefragt, und da ist die gesamte Kette gefragt. Da kann sich keiner raushalten. ({2}) Deshalb, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen: Am Ende muss der Verbraucher erkennen können, was für ein Fleisch er an der Theke kauft. Deshalb haben wir für ein Tierwohlkennzeichen klare Kriterien entwickelt. Im Übrigen sind die auch die Grundlage für die Empfehlungen der Borchert-Kommission. Diese Kriterien für ein Tierwohlkennzeichen sind so wichtig, dass man an der Ladentheke auch dokumentieren kann, wie wichtig einem am Ende mehr Tierwohl ist. Für unsere europäische Ratspräsidentschaft habe ich das Thema eines europäischen Tierwohlkennzeichens auf die Tagesordnung gesetzt. Das geschah zum ersten Mal, das gab es so noch nie. In einem halben Jahr werden wir auf europäischer Ebene kein Tierwohlkennzeichen verabschiedet haben, aber wir stoßen es an. Ich halte es für wichtig, nicht nur national, sondern wirklich europäisch zu denken. Dazu gehören dann auch Transportzeiten, dazu gehört auch die Frage der Schlachtung und dass wir eine Dezentralität brauchen – Frau Tackmann sagte, wir brauchen sie stärker –, auch in der Schlachtbranche. Das halte ich für notwendig, das halte ich für wichtig. Deshalb will ich heute noch einmal klar und deutlich sagen: Fleisch soll kein Luxusprodukt sein. Aber wenn der Landwirt für sein Tier mehr Geld bekommt, dann kann er auch gelassen sein, wenn es darum geht, ob er weniger Tiere hält. So wird ein Schuh daraus. Deshalb ist diese Borchert-Kommission wichtig, zusammen mit allen anderen Vorschlägen und Aktivitäten, die wir angehen, das heißt: Förderung bei der Digitalisierung. Wir messen das Tierwohl und messen die Bewegungsprofile von Tieren. Wir entwickeln die Ställe der Zukunft. Wir geben 40 Millionen Euro aus. Dieses Geld investieren wir in die Ställe der Zukunft. Wir wollen, dass am Ende das Tierwohl, der Respekt vor dem Tier, aber auch der Respekt vor dem Tierhalter und am Schluss der Respekt vor dem Verbraucher, der selbst entscheidet, was er verzehrt, zusammen gedacht werden und nicht die einzelnen Gruppen gegeneinander ausgespielt werden. Dafür legt die Union die Grundlage, zusammen mit der SPD, und ich lade Sie alle, alle Fraktionen ein – ich werde auf Sie zukommen –, diesen gemeinsamen gesellschaftlichen Konsens zu nutzen. Begonnen haben wir lange vor den Skandalen und den Schlagzeilen in der Schlachtbranche. Aber wir haben jetzt das Momentum, aus den Anfängen einen Trend zu machen. Herzlichen Dank. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zurück zu Zusatzpunkt 39. Die Zeit für die namentliche Abstimmung über den Geschäftsordnungsantrag ist gleich vorbei. Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? – Draußen ist auch alles okay? – Gut, dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis wird Ihnen später bekannt gegeben. Wir kommen wieder zurück zum Tagesordnungspunkt 27. Der Kollege Rainer Spiering hat das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Rainer Spiering (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004410, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Frau Ministerin! Herr Busen, vorab: Was Beinfreiheit bedeutet und wie man sie ausnutzen kann, zeigen uns gerade Tönnies und Co. Wenn die FDP das toll findet, dann ist das ihre Sache; wir finden das alles schlecht. ({0}) Ich finde, Jochen Borchert hat eine tolle Arbeit geleistet. Ich freue mich für die Koalition, dass wir es möglich gemacht haben, das heute zu diskutieren. Wenn ich das Papier von Jochen Borchert richtig verstanden habe, geht es darin um zwei zentrale Punkte. Der eine Punkt ist Transparenz; und aus der Transparenz wird gesellschaftliche Akzeptanz abgeleitet. Lassen Sie mich drei Gedanken dazu sagen. Es gibt einen „Zeit“-Artikel von letzter Woche, in dem „Tiere töten“ beschrieben wird, ein sehr nachdenklicher Artikel. Ich fasse ihn mal zusammen: „Die Zeit“ sagt, dass wir sehr, sehr sorgfältig aufpassen müssen, dass wir das lebende Tier Schwein nicht als laufendes Schnitzel sehen und damit entseelt. Ich glaube, das ist eine ganz, ganz große Gefahr, in der wir uns befinden, gerade den jungen Menschen gegenüber. Wir laufen Gefahr, den jungen Menschen das Signal zu geben: Wir akzeptieren das Tier nicht mehr als Lebewesen. – Lassen Sie uns gemeinsam diesen Tag heute nutzen, um das Gegenteil zu beweisen. ({1}) Der zentrale Punkt, über den wir heute diskutieren, ist das Baugesetzbuch. Lassen Sie mich auch dazu ein paar Gedanken verlieren. Im Baugesetzbuch, so wie wir es jetzt andiskutieren – so werden wir es nicht enddiskutieren, sicher nicht –, ist Privilegierung vorgesehen, und zwar auf der Basis der Gesetzgebung von 2013. Nun sind, glaube ich, viele von Ihnen wie ich aus der Kommunalpolitik gekommen, und mich hat eins immer höllisch in Zorn gebracht: wenn ich über ein Privileg gestolpert bin und als Bauausschussvorsitzender etwas durchwinken musste, was meine ganze Gemeinde nicht wollte. Wir können heute nicht dazu übergehen, etwas privilegieren zu wollen, was die Menschen vor Ort nicht wollen. ({2}) Wenn wir über gesellschaftliche Akzeptanz reden, dann müssen wir uns darüber im Klaren sein: Welche unserer Schritte erzeugen welche Reaktionen vor Ort? Jetzt sage ich mal ganz bewusst an die Kolleginnen und Kollegen aus dem Südwesten dieses Landes: Ihre Region hat eine völlig andere Struktur der bäuerlichen Landwirtschaft als die, aus der ich komme. Achten Sie sorgfältig darauf, dass Sie sich Ihre Strukturen erhalten! Wir haben heute von einem Hof gehört, der 12 050 Sauenplätze hat, 9 500 Quadratmeter überdacht für Tiere, 1 Hektar. Das sind die Größenordnungen, über die wir reden, und dann kommen Sie nämlich auch an den Punkt, an dem die gesellschaftliche Akzeptanz fehlt. Wenn wir über die Änderung des Baugesetzbuches reden, dann sollte sich jeder darüber im Klaren sein: Das kann nicht nur eine Richtung haben. Wenn, dann muss man darüber reden, wie weit man privilegiert oder wie weit man entprivilegiert. ({3}) Und wenn man privilegiert, dann müssen auch die Fakten dafür geschaffen werden. Der unbestimmte Rechtsbegriff muss aufgelöst werden. Dann definieren wir: Was ist im Immissionsschutzrecht zulässig? Dann definieren wir: Wie viel Platz braucht das Tier? Dann definieren wir: Wie viel Platzverbrauch ist überhaupt angegeben? Dann definieren wir: Was ist Tierwohl als Ganzes? Wo fühlt sich das Tier wohl? Wir werden die ganze Kette der Definitionen in das Baugesetzbuch packen, und wenn wir diese Definitionen abgeschlossen haben, dann können wir uns über Privilegierung oder Entprivilegierung unterhalten. Ich wünsche Ihnen allen eine schöne Sommerpause. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Kollege. – Ich schließe die Aussprache.

Patrick Schnieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004146, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir debattieren hier über ein Sammelsurium an Vorschlägen zur Änderung der Geschäftsordnung. Ich beginne mal mit dem ersten Punkt: Aufhebung des § 126a der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages. Das ist eine Sonderregelung, die wir uns im März unter dem Eindruck der Pandemie gegeben haben, damit wir hier in jedem Fall beraten und entscheiden können, in Ausschüssen auch durch Videokonferenzen und Fernabstimmungen. Die Sonderregelung gibt uns auch die Möglichkeit, Experten und Sachverständige digital über Videokonferenzen in den Ausschüssen anzuhören oder die Öffentlichkeit über Videostreaming an öffentlichen Anhörungen teilhaben zu lassen. Man könnte darüber nachdenken, dass das alles auch ohne Pandemie sinnvolle Regelungen sind. Doch weil wir auch das Quorum für die Beschlussfähigkeit hier im Bundestag angepasst haben, haben wir diese Regelung mit einem Enddatum versehen, nämlich dem 30. September dieses Jahres. Von der Sonderregelung sind also noch genau drei Sitzungswochen berührt. Der Antrag lässt übrigens völlig offen, welche Beeinträchtigungen der parlamentarischen Arbeit für eine sofortige Aufhebung sprechen. Der Grund ist einfach: Es gibt keine Beeinträchtigungen. Im Gegenteil: Es finden weiterhin Anhörungen statt, die ohne diese Regelung nicht möglich wären. Sachverständige – wir haben das selbst erlebt – halten sich weiterhin die Möglichkeit offen, von einer Anreise nach Berlin Abstand zu nehmen und im Wege der Videokonferenz zugeschaltet zu werden. Das heißt, eine Abschaffung zum jetzigen Zeitpunkt würde die Entscheidungsfindung nicht verbessern, ganz im Gegenteil. Deshalb werden wir einer Aufhebung vor dem Ablaufdatum 30. September nicht zustimmen. ({0}) Zum zweiten Antrag: „Digitale Abstimmungsgeräte nutzen“. Während die AfD also die Sonderregelung für modernes Arbeiten im Bundestag abschaffen will, die wir in § 126a konstituiert haben, sollen mit einem anderen heute für wichtig erachteten Antrag digitale Abstimmungsgeräte eingeführt werden. Unter anderem mit dieser Frage beschäftigen sich alle Fraktionen gerade in einer Arbeitsgruppe, die vom Präsidenten eingerichtet wurde. Der AfD war das Thema dort so wichtig, dass sie bei einem Expertengespräch mit Rechtsprofessoren in der letzten Sitzungswoche als einzige Fraktion nicht anwesend war. ({1}) Da wundert man sich natürlich auch nicht, dass in dem Antrag überhaupt keine Ausführungen zu den verfassungsrechtlichen Fragen rund um die Einführung digitaler Abstimmungsgeräte auftauchen. Das ist eine ganz wesentliche und schwierige Entscheidung, bei der Rahmenbedingungen verfassungsrechtlicher Art zu berücksichtigen sind. Nun denn: Die AfD wird sich im Ausschuss die entsprechenden Kenntnisse verschaffen, ({2}) und dann werden wir schauen, wie wir damit umgehen. Der dritte Antrag hat die Überschrift „Sachverständige vor Hass schützen“. Der Antrag ist sehr kurzfristig vorgelegt worden; ich habe ihn erst gestern bekommen. Ich habe mir vorher schon Gedanken gemacht: Was könnte da drinstehen? Es gibt ein ganz einfaches Rezept: Wenn Sie mal aufhören würden, zu hetzen, Hass zu schüren, ({3}) dann würden wir nicht nur Sachverständige vor Hass schützen, sondern hätten in der Gesellschaft insgesamt ein anderes Klima in der politischen Auseinandersetzung. Aber was Sie inhaltlich dort präsentieren, ist geradezu widersinnig. Denn ausgerechnet bei öffentlichen – ich sage es noch mal: bei öffentlichen – Anhörungen ist es doch geradezu widersinnig, Sachverständigenbenennungen geheim zu halten. Es geht immer um Interessen, und deshalb ist es doch gerade wichtig, zu wissen, wer welchen Sachverständigen benannt hat und warum man sich auf einen Sachverständigen beruft, um diese Transparenz herzustellen. Der Antrag ist inhaltlich also vollkommen daneben. Wie gesagt, bei der Überschrift sind Sie Teil des Problems, aber nicht der Lösung. Da können Sie was machen. Vielen Dank. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, gebe ich das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Geschäftsordnungsantrag der Fraktionen von FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen gemäß § 80 Absatz 2 Satz 1 und 2 in Verbindung mit § 20 Absatz 2 Satz 3 der Geschäftsordnung über den sofortigen Eintritt in die zweite Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes bekannt: abgegebene Stimmkarten 636. Mit Ja haben gestimmt 261, mit Nein haben gestimmt 368, Enthaltungen 7. Der Antrag hat damit jedenfalls nicht die Zustimmung der Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder des Deutschen Bundestages gefunden. Der sofortige Eintritt in die zweite Beratung ist damit abgelehnt. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 635; davon ja: 261 nein: 367 enthalten: 7 Ja SPD Thomas Oppermann AfD Dr. Bernd Baumann Marc Bernhard Andreas Bleck Peter Boehringer Stephan Brandner Jürgen Braun Marcus Bühl Matthias Büttner Petr Bystron Tino Chrupalla Joana Cotar Dr. Gottfried Curio Berengar Elsner von Gronow Dr. Michael Espendiller Dr. Anton Friesen Dr. Götz Frömming Dr. Alexander Gauland Dr. Axel Gehrke Albrecht Glaser Franziska Gminder Wilhelm von Gottberg Kay Gottschalk Armin-Paulus Hampel Mariana Iris Harder-Kühnel Dr. Roland Hartwig Jochen Haug Udo Theodor Hemmelgarn Waldemar Herdt Martin Hess Dr. Heiko Heßenkemper Karsten Hilse Nicole Höchst Martin Hohmann Dr. Bruno Hollnagel Leif-Erik Holm Johannes Huber Fabian Jacobi Dr. Marc Jongen Jens Kestner Stefan Keuter Norbert Kleinwächter Enrico Komning Jörn König Steffen Kotré Dr. Rainer Kraft Rüdiger Lucassen Frank Magnitz Jens Maier Dr. Lothar Maier Dr. Birgit Malsack-Winkemann Corinna Miazga Hansjörg Müller Volker Münz Sebastian Münzenmaier Christoph Neumann Jan Ralf Nolte Ulrich Oehme Gerold Otten Tobias Matthias Peterka Paul Viktor Podolay Jürgen Pohl Stephan Protschka Martin Reichardt Martin Erwin Renner Roman Johannes Reusch Jörg Schneider Uwe Schulz Thomas Seitz Martin Sichert Detlev Spangenberg René Springer Beatrix von Storch Dr. Alice Weidel Dr. Harald Weyel Wolfgang Wiehle Dr. Heiko Wildberg FDP Grigorios Aggelidis Renata Alt Christine Aschenberg-Dugnus Nicole Bauer Jens Beeck Dr. Jens Brandenburg (Rhein-Neckar) Mario Brandenburg (Südpfalz) Sandra Bubendorfer-Licht Dr. Marco Buschmann Karlheinz Busen Carl-Julius Cronenberg Britta Katharina Dassler Bijan Djir-Sarai Christian Dürr Hartmut Ebbing Dr. Marcus Faber Daniel Föst Otto Fricke Thomas Hacker Reginald Hanke Peter Heidt Katrin Helling-Plahr Markus Herbrand Torsten Herbst Katja Hessel Dr. Gero Clemens Hocker Manuel Höferlin Dr. Christoph Hoffmann Reinhard Houben Ulla Ihnen Olaf In der Beek Gyde Jensen Dr. Christian Jung Karsten Klein Dr. Marcel Klinge Daniela Kluckert Pascal Kober Dr. Lukas Köhler Carina Konrad Wolfgang Kubicki Konstantin Kuhle Alexander Kulitz Alexander Graf Lambsdorff Ulrich Lechte Christian Lindner Michael Georg Link (Heilbronn) Oliver Luksic Till Mansmann Dr. Jürgen Martens Christoph Meyer Alexander Müller Roman Müller-Böhm Frank Müller-Rosentritt Dr. Martin Neumann (Lausitz) Matthias Nölke Bernd Reuther Dr. h. c. Thomas Sattelberger Christian Sauter Frank Schäffler Dr. Wieland Schinnenburg Matthias Seestern-Pauly Frank Sitta Judith Skudelny Dr. Hermann Otto Solms Bettina Stark-Watzinger Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann Benjamin Strasser Katja Suding Linda Teuteberg Michael Theurer Stephan Thomae Manfred Todtenhausen Dr. Florian Toncar Dr. Andrew Ullmann Gerald Ullrich Johannes Vogel (Olpe) Sandra Weeser Nicole Westig DIE LINKE Gökay Akbulut Dr. Dietmar Bartsch Matthias W. Birkwald Michel Brandt Christine Buchholz Jörg Cezanne Sevim Dağdelen Fabio De Masi Klaus Ernst Susanne Ferschl Nicole Gohlke Dr. André Hahn Heike Hänsel Matthias Höhn Andrej Hunko Dr. Achim Kessler Caren Lay Sabine Leidig Ralph Lenkert Stefan Liebich Dr. Gesine Lötzsch Thomas Lutze Pascal Meiser Amira Mohamed Ali Norbert Müller (Potsdam) Zaklin Nastic Thomas Nord Petra Pau Sören Pellmann Victor Perli Tobias Pflüger Martina Renner Eva-Maria Schreiber Dr. Petra Sitte Helin Evrim Sommer Friedrich Straetmanns Dr. Kirsten Tackmann Jessica Tatti Andreas Wagner Sabine Zimmermann (Zwickau) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Luise Amtsberg Lisa Badum Annalena Baerbock Margarete Bause Dr. Danyal Bayaz Canan Bayram Dr. Franziska Brantner Agnieszka Brugger Dr. Anna Christmann Ekin Deligöz Katharina Dröge Harald Ebner Matthias Gastel Kai Gehring Stefan Gelbhaar Katrin Göring-Eckardt Erhard Grundl Anja Hajduk Britta Haßelmann Dr. Bettina Hoffmann Dr. Anton Hofreiter Ottmar von Holtz Dieter Janecek Dr. Kirsten Kappert-Gonther Uwe Kekeritz Katja Keul Sven-Christian Kindler Maria Klein-Schmeink Sylvia Kotting-Uhl Oliver Krischer Christian Kühn (Tübingen) Renate Künast Markus Kurth Monika Lazar Sven Lehmann Steffi Lemke Dr. Tobias Lindner Dr. Irene Mihalic Claudia Müller Beate Müller-Gemmeke Dr. Ingrid Nestle Dr. Konstantin von Notz Omid Nouripour Friedrich Ostendorff Cem Özdemir Lisa Paus Filiz Polat Tabea Rößner Claudia Roth (Augsburg) Dr. Manuela Rottmann Corinna Rüffer Ulle Schauws Dr. Frithjof Schmidt Stefan Schmidt Charlotte Schneidewind-Hartnagel Kordula Schulz-Asche Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn Margit Stumpp Markus Tressel Jürgen Trittin Dr. Julia Verlinden Daniela Wagner Beate Walter-Rosenheimer Gerhard Zickenheiner Fraktionslos Marco Bülow Lars Herrmann Nein CDU/CSU Dr. Michael von Abercron Stephan Albani Norbert Maria Altenkamp Peter Altmaier Philipp Amthor Artur Auernhammer Peter Aumer Dorothee Bär Thomas Bareiß Norbert Barthle Maik Beermann Manfred Behrens (Börde) Veronika Bellmann Sybille Benning Dr. André Berghegger Melanie Bernstein Christoph Bernstiel Peter Beyer Marc Biadacz Steffen Bilger Norbert Brackmann Michael Brand (Fulda) Dr. Reinhard Brandl Dr. Helge Braun Silvia Breher Sebastian Brehm Heike Brehmer Ralph Brinkhaus Dr. Carsten Brodesser Gitta Connemann Astrid Damerow Alexander Dobrindt Michael Donth Marie-Luise Dött Hansjörg Durz Thomas Erndl Hermann Färber Enak Ferlemann Dr. Maria Flachsbarth Thorsten Frei Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) Michael Frieser Hans-Joachim Fuchtel Ingo Gädechens Dr. Thomas Gebhart Alois Gerig Eberhard Gienger Eckhard Gnodtke Ursula Groden-Kranich Hermann Gröhe Klaus-Dieter Gröhler Michael Grosse-Brömer Astrid Grotelüschen Markus Grübel Manfred Grund Oliver Grundmann Monika Grütters Fritz Güntzler Christian Haase Florian Hahn Jürgen Hardt Matthias Hauer Mark Hauptmann Dr. Matthias Heider Mechthild Heil Frank Heinrich (Chemnitz) Mark Helfrich Rudolf Henke Michael Hennrich Marc Henrichmann Ansgar Heveling Christian Hirte Dr. Heribert Hirte Alexander Hoffmann Karl Holmeier Erich Irlstorfer Thomas Jarzombek Andreas Jung Ingmar Jung Alois Karl Anja Karliczek Volker Kauder Dr. Stefan Kaufmann Ronja Kemmer Roderich Kiesewetter Michael Kießling Dr. Georg Kippels Volkmar Klein Axel Knoerig Jens Koeppen Markus Koob Carsten Körber Alexander Krauß Gunther Krichbaum Dr. Günter Krings Rüdiger Kruse Dr. Roy Kühne Dr. Dr. h. c. Karl A. Lamers Andreas G. Lämmel Katharina Landgraf Ulrich Lange Dr. Silke Launert Jens Lehmann Paul Lehrieder Dr. Katja Leikert Dr. Andreas Lenz Andrea Lindholz Dr. Carsten Linnemann Patricia Lips Nikolas Löbel Bernhard Loos Dr. Jan-Marco Luczak Daniela Ludwig Dr. Saskia Ludwig Karin Maag Yvonne Magwas Dr. Thomas de Maizière Gisela Manderla Dr. Astrid Mannes Matern von Marschall Hans-Georg von der Marwitz Andreas Mattfeldt Stephan Mayer (Altötting) Dr. Michael Meister Jan Metzler Dr. h. c. (Univ Kyiv) Hans Michelbach Dr. Mathias Middelberg Dietrich Monstadt Karsten Möring Elisabeth Motschmann Axel Müller Sepp Müller Carsten Müller (Braunschweig) Stefan Müller (Erlangen) Dr. Andreas Nick Petra Nicolaisen Michaela Noll Dr. Georg Nüßlein Wilfried Oellers Florian Oßner Josef Oster Henning Otte Ingrid Pahlmann Sylvia Pantel Martin Patzelt Dr. Joachim Pfeiffer Stephan Pilsinger Dr. Christoph Ploß Eckhard Pols Thomas Rachel Kerstin Radomski Alexander Radwan Alois Rainer Eckhardt Rehberg Lothar Riebsamen Josef Rief Johannes Röring Dr. Norbert Röttgen Stefan Rouenhoff Erwin Rüddel Albert Rupprecht Stefan Sauer Dr. Wolfgang Schäuble Andreas Scheuer Jana Schimke Tankred Schipanski Christian Schmidt (Fürth) Dr. Claudia Schmidtke Patrick Schnieder Nadine Schön Felix Schreiner Dr. Klaus-Peter Schulze Uwe Schummer Armin Schuster (Weil am Rhein) Torsten Schweiger Detlef Seif Johannes Selle Reinhold Sendker Dr. Patrick Sensburg Bernd Siebert Thomas Silberhorn Björn Simon Tino Sorge Jens Spahn Katrin Staffler Dr. Wolfgang Stefinger Albert Stegemann Andreas Steier Peter Stein (Rostock) Sebastian Steineke Johannes Steiniger Christian Frhr. von Stetten Dieter Stier Gero Storjohann Stephan Stracke Max Straubinger Dr. Hermann-Josef Tebroke Hans-Jürgen Thies Alexander Throm Dr. Dietlind Tiemann Antje Tillmann Markus Uhl Dr. Volker Ullrich Arnold Vaatz Kerstin Vieregge Volkmar Vogel (Kleinsaara) Christoph de Vries Kees de Vries Dr. Johann David Wadephul Marco Wanderwitz Nina Warken Kai Wegner Albert H. Weiler Marcus Weinberg (Hamburg) Dr. Anja Weisgerber Peter Weiß (Emmendingen) Sabine Weiss (Wesel I) Ingo Wellenreuther Marian Wendt Kai Whittaker Annette Widmann-Mauz Bettina Margarethe Wiesmann Klaus-Peter Willsch Elisabeth Winkelmeier-Becker Oliver Wittke Tobias Zech Emmi Zeulner Paul Ziemiak Dr. Matthias Zimmer SPD Niels Annen Ingrid Arndt-Brauer Bela Bach Heike Baehrens Ulrike Bahr Nezahat Baradari Doris Barnett Dr. Matthias Bartke Sören Bartol Bärbel Bas Lothar Binding (Heidelberg) Dr. Eberhard Brecht Leni Breymaier Dr. Karl-Heinz Brunner Katrin Budde Dr. Lars Castellucci Bernhard Daldrup Dr. Daniela De Ridder Dr. Karamba Diaby Esther Dilcher Sabine Dittmar Saskia Esken Yasmin Fahimi Dr. Johannes Fechner Dr. Fritz Felgentreu Dr. Edgar Franke Ulrich Freese Dagmar Freitag Martin Gerster Angelika Glöckner Timon Gremmels Kerstin Griese Michael Groß Uli Grötsch Bettina Hagedorn Rita Hagl-Kehl Metin Hakverdi Sebastian Hartmann Dirk Heidenblut Hubertus Heil (Peine) Gabriela Heinrich Marcus Held Wolfgang Hellmich Gabriele Hiller-Ohm Thomas Hitschler Frank Junge Josip Juratovic Thomas Jurk Oliver Kaczmarek Elisabeth Kaiser Ralf Kapschack Gabriele Katzmarek Cansel Kiziltepe Arno Klare Lars Klingbeil Dr. Bärbel Kofler Daniela Kolbe Anette Kramme Christine Lambrecht Christian Lange (Backnang) Dr. Karl Lauterbach Sylvia Lehmann Helge Lindh Kirsten Lühmann Caren Marks Dorothee Martin Katja Mast Christoph Matschie Hilde Mattheis Dr. Matthias Miersch Klaus Mindrup Susanne Mittag Falko Mohrs Claudia Moll Siemtje Möller Bettina Müller Detlef Müller (Chemnitz) Michelle Müntefering Dr. Rolf Mützenich Dietmar Nietan Ulli Nissen Josephine Ortleb Mahmut Özdemir (Duisburg) Aydan Özoğuz Markus Paschke Christian Petry Sabine Poschmann Achim Post (Minden) Florian Pronold Dr. Sascha Raabe Martin Rabanus Mechthild Rawert Andreas Rimkus Sönke Rix Dennis Rohde Dr. Martin Rosemann René Röspel Dr. Ernst Dieter Rossmann Michael Roth (Heringen) Bernd Rützel Sarah Ryglewski Johann Saathoff Axel Schäfer (Bochum) Dr. Nina Scheer Marianne Schieder Udo Schiefner Dr. Nils Schmid Ulla Schmidt (Aachen) Dagmar Schmidt (Wetzlar) Carsten Schneider (Erfurt) Johannes Schraps Ursula Schulte Martin Schulz Swen Schulz (Spandau) Frank Schwabe Stefan Schwartze Andreas Schwarz Rainer Spiering Svenja Stadler Martina Stamm-Fibich Sonja Amalie Steffen Mathias Stein Kerstin Tack Claudia Tausend Michael Thews Markus Töns Carsten Träger Ute Vogt Marja-Liisa Völlers Dirk Vöpel Dr. Joe Weingarten Bernd Westphal Dirk Wiese Gülistan Yüksel Stefan Zierke Dr. Jens Zimmermann AfD Siegbert Droese Fraktionslos Dr. Frauke Petry Enthalten DIE LINKE Doris Achelwilm Lorenz Gösta Beutin Dr. Birke Bull-Bischoff Dr. Diether Dehm Anke Domscheit-Berg Katja Kipping Dr. Alexander S. Neu Abgeordnete, die sich wegen gesetzlichen Mutterschutzes für ihre Abwesenheit entschuldigt haben, sind in der Liste der entschuldigten Abgeordneten (Anlage 1) aufgeführt. Jetzt hat das Wort der Kollege Thomas Seitz, AfD. ({0})

Thomas Seitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004891, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich beginne mit dem Antrag zum Schutz von Sachverständigen vor Hass – ein notwendiger Antrag, wenn mit SPD, Grünen und SED-Nachfolgern ({0}) drei Pro-Antifa-Fraktionen in ihrem Kampf gegen rechts nahezu alle Mittel für zulässig halten. Und nur zur Erinnerung: Es waren Antifaschisten, die die Mauer gebaut und dort Menschen erschossen haben. ({1}) Unsere einfache Forderung lautet, dass bei Sachverständigen nicht mehr mitgeteilt wird, von welcher Fraktion diese benannt wurden, um die Sachverständigen vor beruflichen und privaten Repressalien zu schützen. ({2}) An Deutschlands hohen Schulen ist die Atmosphäre bereits längst linksvergiftet. Echte Wissenschafts- und Meinungsfreiheit gibt es vielfach nicht mehr. ({3}) Mir liegt auch ein konkreter Fall vor, in dem ein von der AfD benannter Sachverständiger anschließend von einem Parteimitglied einer der genannten Fraktionen beruflich gemobbt wurde. Aber auch jenseits des Schutzes der Sachverständigen bietet unser Vorschlag einen Mehrwert. Ein Sachverständiger, der nicht weiß, von wem er benannt wurde, kann kein Auftragsgutachten liefern. Es geht Ihnen doch auch um die ergebnisoffene Einbeziehung externen Fachwissens und nicht um die auftragsgemäße Bestätigung einer vorgefassten Meinung. ({4}) Oder sind Sachverständigenanhörungen nur eine Simulation oder ein Fake? Damit bin ich beim nächsten Antrag. Die Coronakrise, meine Damen und Herren, die in Wahrheit eine von der Regierung leichtfertig verursachte Lockdown-Krise ist, fördert den Ausbau des bevormundenden Staates. Angst vor Krankheit und Tod ist das Fundament neuen Untertanengeistes. Unser Hauptantrag fordert deshalb das Ende des Ausnahmezustandes auch im parlamentarischen Betrieb. Wir wollen mit diesem Antrag ein Zeichen setzen. Es gilt, die besonderen Coronaregeln aufzuheben – in der Gesellschaft und auch im Parlament. Der Geltungszeitraum bis Ende September war von Anfang an viel zu lang; denn zu keinem Zeitpunkt war die Handlungsfähigkeit des Bundestages auch nur ansatzweise gefährdet; die Teilnahmequoten bei den namentlichen Abstimmungen der letzten Wochen sprechen für sich. Es ist daher ein Skandal, wenn auch weiterhin die Anwesenheit von einem Viertel der Abgeordneten ausreicht, um Gesetze zu beschließen, und es ist ein Armutszeugnis, mit der zu erwartenden Ablehnung unseres Antrags in die ohnehin viel zu lange Sommerpause zu gehen. Was denkt denn der Bürger da draußen im Land? Der Bürger sieht Abgeordnete, die keine Lust haben, im Falle der Einberufung einer Sondersitzung das zu tun, wofür sie bezahlt werden. ({5}) Und richtigerweise hätte man in dieser Sommerpause, die natürlich kein Urlaub ist, in Anbetracht der Herausforderungen mindestens zwei Sondersitzungswochen ansetzen sollen. ({6}) Jetzt, wo Millionen in Kurzarbeit sind und schon Hunderttausende ihren Arbeitsplatz verloren haben, wäre all das von uns Abgeordneten nicht zu viel verlangt gewesen. Mit dem Verzicht auf eine Erhöhung der Abgeordnetenentschädigung haben wir kein Vorbild geliefert, sondern nur verhindert, dass wir unser Ansehen weiterhin massiv beschädigen. ({7}) Die Vorbildfunktion des Parlaments geht aber viel weiter. Von wem, wenn nicht von uns, soll das Signal an unser Volk ausgehen, dass jetzt durchgestartet werden muss, damit Deutschland nicht vollständig abstürzt? Es gibt keine Pandemie, und daran ändern auch einzelne lokale Problemgebiete nichts.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Seitz, Ihre Redezeit ist zu Ende. ({0})

Thomas Seitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004891, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Schönen Dank. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Matthias Bartke, SPD. ({0})

Dr. Matthias Bartke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004248, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn es nicht so schlimm wäre, wäre es schon fast komisch: Die AfD beschwert sich über Hass. Die Partei, deren Markenkern der Hass ist, beschwert sich über Hass. ({0}) Die rechtsextremistischen Morde von Halle und an Walter Lübcke waren die furchtbaren Früchte der Saat des Hasses, die Sie gesät haben. ({1}) Der Mörder von Walter Lübcke hat sogar für die AfD plakatiert, wie wir heute wissen. Als ich Ihren Antrag „Sachverständige vor Hass schützen“ gelesen habe, habe ich erst gedacht, wir sollen Sachverständige vor Ihnen schützen. ({2}) Aber dann habe ich gemerkt, dass es um Ihre eigenen Sachverständigen geht. Das ist bemerkenswert. Die AfD ist bekanntlich diejenige Fraktion, die sich ja kaum ernsthaft an Ausschussarbeit beteiligt und schon gar nicht an Sachverständigenanhörungen. ({3}) Mein Sozialausschuss hat in dieser Wahlperiode bislang 34 Anhörungen durchgeführt. Die AfD als größte Oppositionsfraktion hat überhaupt nur neunmal einen Sachverständigen benannt, also noch nicht mal bei einem Drittel der Anhörungen. Alle anderen Fraktionen haben natürlich in jeder Anhörung Sachverständige benannt, so wie sich das auch gehört. Und bei den neun Malen haben Sie auch noch zweimal einen Professor benannt, bei dem sich danach herausstellte, dass er gar kein Professor ist. ({4}) Gegen den ermittelt jetzt die Staatsanwaltschaft wegen Titelmissbrauchs. Unsäglich! ({5}) In Ihrem Antrag fordern Sie nun, dass niemand wissen soll, welche Sachverständigen die Fraktionen benennen, also dass vor allem natürlich niemand wissen soll, welche Sachverständigen Sie benennen. Sie wollen, dass diese Informationen nach der Geheimschutzordnung als VS-Vertraulich eingestuft werden. Meine Damen und Herren, wir diskutieren hier im Bundestag die Einführung eines Lobbyregisters. Die GroKo hat sich heute sogar auf die Einführung eines Lobbyregisters verständigt. Wir diskutieren hier im Parlament die volle Transparenz über Einflussnahmen im Gesetzgebungsverfahren, und Sie wollen die Zuordnung der Sachverständigen unter die Geheimschutzordnung fassen. Unglaublich! ({6}) In Ihrem zweiten Antrag fordern Sie die Aufhebung der Coronasonderregeln des Bundestags zur Beschlussfähigkeit. Begründung: Die Pandemie ist vorbei; wir können wieder zu einem normalen Leben zurückkehren. – Der erste Antrag, über den ich eben geredet habe, der ist einfach nur gaga. Dieser zweite Antrag ist allerdings hochgefährlich; denn natürlich ist die Pandemie nicht vorbei. Die ganze Welt lobt die Bundesregierung für ihre vorsichtige und umsichtige Vorgehensweise mit Corona. Und Sie wollen, dass wir den Weg Ihrer großen Vorbilder Bolsonaro und Trump einschlagen. ({7}) Diese beiden haben mit ihrer verantwortungslosen Corona-ist-harmlos-Politik ihre Länder ins Unglück geführt, und genau das wollen Sie auch. ({8}) Dieser Antrag macht einmal mehr in schlimmer Weise deutlich, wie gefährlich und verantwortungslos die AfD ist. Danke. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Stephan Thomae, FDP. ({0})

Stephan Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004175, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen! Verehrte Kollegen! Wenn man sich die Anträge der AfD-Fraktion ansieht, dann fragt man sich ein bisschen, ob Sie eigentlich keine anderen Sorgen haben, als uns jetzt in den letzten Stunden vor dem Beginn der sitzungsfreien Zeit im Sommer mit Themen zu beschäftigen, die sich ohnehin im Herbst zum Teil erledigen werden. Ich will nur mal den einen Antrag herausgreifen, den auch Kollege Schnieder und andere schon angesprochen haben, nämlich Ihren Antrag, den § 126a der Geschäftsordnung dieses Hauses aufzuheben. Ganz kurzer Rückblick auf das, was geschehen ist: Wir haben am 25. März mit ganz großer Mehrheit in diesem Hause diese Vorschrift eingeführt, die für den Fall, dass die Pandemie uns die Arbeitsweise im Parlament erschweren sollte, die Beschlussfähigkeit erleichtert. Eine Regelung, der Sie übrigens nicht zugestimmt haben; Sie haben sich damals enthalten. Ich will nicht sagen, dass unser Land von der Pandemie verschont worden ist. Aber so gravierende Auswüchse, wie es sie in anderen Nachbarländern, vor allem in Italien und Spanien, gegeben hat, hatten wir in Deutschland glücklicherweise nicht. Wir sind arbeitsfähig geblieben. Aber wir haben die Weichen dafür gestellt, dass wir, wenn es für uns schwierig geworden wäre, die Arbeitsfähigkeit sicherzustellen, die entsprechenden Instrumente haben. Nun haben wir den § 126a, der die Beschlussfähigkeit an ein geringeres Maß knüpft, bis zum 30. September 2020 befristet. Das ist eigentlich eine kluge Regelung gewesen, die wir auch beibehalten sollten. Denn das heißt doch, dass wir nach dem Wiedereintritt in die Beratungen nach der sogenannten parlamentarischen Sommerpause noch genau zweieinhalb Wochen Zeit haben, in denen der § 126a gilt. Das heißt, sollte es – was wir nicht hoffen wollen und wohl auch nicht erwarten müssen – zu einem Wiederanfluten der Infektionszahlen, gerade jetzt in der Sommerpause, im Juli und August, kommen, dann müssen wir nicht etwa vorsorglich in der Sommerpause allein zu dem einen Zweck zu einer Sondersitzung zusammentreten, um diese Regeln wieder in Kraft zu setzen, sondern sie gelten noch automatisch. Sie gelten noch für eine kurze Spanne nach dem Wiedereintritt in die Beratungsphase im Herbst. Wir haben alle keine Kristallkugel, wir wissen nicht, was passiert. Wir haben diese Regeln und können sie einfach wieder benutzen. Und wenn wir sie nicht benötigen, treten sie automatisch zweieinhalb Wochen später, zum 30. September, wieder außer Kraft. Die Coronapandemie ist noch nicht vorbei, liebe Kolleginnen und Kollegen. Es ist sicherlich keine epidemische Notlage von nationaler Tragweite mehr gegeben, aber wir wissen nicht genau, was passiert. Deswegen ist es ein Gebot der Vorsicht, diese Regeln in Kraft zu lassen. Wenn wir sie nicht benötigen, dann treten sie automatisch außer Kraft. Das ist eine kluge Regelung. Ich würde Ihnen vorschlagen, meine Damen und Herren von der AfD: Befassen Sie sich mit Ihren Problemen! Damit haben Sie genug zu tun. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erhält das Wort der Kollege Friedrich Straetmanns, Die Linke. ({0})

Friedrich Straetmanns (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004907, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es liegen uns mehrere Anträge zur Änderung der Geschäftsordnung des Bundestages seitens der AfD-Fraktion zur Beratung vor. Vorschläge dieser Fraktion sind allerdings immer vor dem Hintergrund zu diskutieren, dass die AfD ein rein instrumentelles Verhältnis zur Geschäftsordnung hat und ihr daher an einer Verbesserung der Arbeit hier in Wirklichkeit gar nicht gelegen ist. ({0}) Ich will dennoch kurz auf die vorliegenden Vorschläge eingehen. Eine Diskussion über die pandemiebedingte Lage und ihre Folgen für die Arbeit des Bundestages ist zu diesem Zeitpunkt sinnlos. Wir werden heute in die Sommerpause gehen, und wie die Lage im September sein wird, können wir jetzt noch nicht wissen. Das diskutieren wir daher besser, wenn wir hier wieder zusammentreten. – Das zu diesem Antrag. Zu der Möglichkeit der elektronischen Abstimmung lässt sich sicher diskutieren. Macht man das aber mit dieser Truppe, sind wir vielleicht schnell in der Situation, dass wir darüber streiten müssen, ob Herr Brandner von der Toilette aus abstimmen darf. ({1}) Zu dem Vorschlag namens „Sachverständige vor Hass schützen“ muss ich sagen: Da bleibt mir die Spucke weg. – Weil diese Truppe aufgrund ihres unsäglichen Verhaltens und des damit verbundenen berechtigt schlechten Rufs Mühe hat, Sachverständige zu benennen, sollen einfache Verwaltungsvorgänge auf „Verschlusssache Vertraulich“ gestellt werden. Das kann nur vorschlagen, wer keinen blassen Schimmer davon hat, wie die Arbeitsprozesse hier ablaufen. ({2}) Es würde die tägliche Arbeit der Ausschusssekretariate so tiefgreifend verändern, dass diese vor faktisch unlösbaren Aufgaben stünden. Das fängt bei der Kommunikation an und geht bis zur Lagerung der Unterlagen. Dazu kommt, dass es der AfD auch gar nicht darum geht, hier irgendjemanden vor Hass zu schützen oder die Geschäftsordnung zu verbessern, wie ich zu Anfang sagte. Ich will Ihnen das noch kurz an einem Beispiel verdeutlichen. Im Juni 2018 nutzte der Abgeordnete Seitz, der eben hier geredet hat, eine Debatte zur Geschäftsordnung für ein perfides Schauspiel. Statt zur Sache zu reden, rief er eine Schweigeminute für ein kürzlich ermordetes Mädchen aus. Ein klarer Verstoß gegen die Geschäftsordnung; denn über Gedenken entscheidet der Bundestagspräsident. Als die damals amtierende Vizepräsidentin Roth Herrn Seitz aufforderte, zur Sache zu reden, folgte dieser der Aufforderung nicht. Daraufhin entzog sie ihm zu Recht gemäß § 36 Geschäftsordnung des Bundestages das Wort. Anschließend startete die AfD ihre Propagandamaschine und ließ diese auf Frau Roth los, was letztlich zu unzähligen Hass- und Drohmails gegen Frau Roth führte. Der Bundestagspräsident musste die AfD daraufhin zur Ordnung rufen. Das zeigt die Haltung dieser Fraktion zur Arbeitsweise hier im Parlament. ({3}) Deswegen diskutiere ich auch lieber nicht mit Ihnen, sondern mit den gesamten anderen Kollegen und Kolleginnen, die dieses Haus und seine Geschäftsordnung schätzen und ernst nehmen. Danke. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt wird das Redepult für die Kollegin Britta Haßelmann vorbereitet. – Es ist bereit. Sie haben das Wort. ({0})

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte mal eins fürs Parlament klarstellen, und das kann ich sicherlich für die Fraktionen des Hauses sagen: Zur Vorbildfunktion des Parlamentes brauchen wir keine Erklärungen der AfD-Fraktion. ({0}) Sie sind wirklich keine Adresse dafür, wenn es um die Vorbildfunktion dieses Parlamentes geht. Wir kennen sehr vieles und erleben das jede Sitzungswoche aufs Neue: Verächtlichmachung demokratischer Institutionen, Angriffe auf den Bundespräsidenten, auf die Bundeskanzlerin, auf das Parlament als solches, auf die Arbeitsfähigkeit des Parlamentes. ({1}) – Merken Sie, wie die Aufregung steigt? Man weiß ganz genau, dass ich im Kern recht habe, meine Damen und Herren. ({2}) Niemand kann die Augen davor verschließen. Also, bitte verschonen Sie uns mit Ihren Einlassungen dazu, wie hier eine Vorbildfunktion des Parlamentes wahrgenommen wird. Gestern erst diskutierten wir bei dem wichtigen Tagesordnungspunkt zu Coronahilfen und dem Nachtragshaushalt darüber, meine Damen und Herren, dass der Vorsitzende des Haushaltsausschusses, der der AfD-Fraktion angehört, den Beratungen einfach vier Stunden unentschuldigt ferngeblieben ist, ohne jede Begründung. ({3}) Also, bitte verschonen Sie uns damit. ({4}) Meine Damen und Herren, dann geht es weiter mit dem Thema „Sachverständige vor Hass schützen“. Wieso eigentlich Sachverständige der AfD vor Hass schützen? Wieso können wir nicht darüber reden, Menschen vor Hass zu schützen? ({5}) Warum fällt Ihnen an dieser Stelle nur ein, Ihre Sachverständigen vor Hass zu schützen? Wissen Sie, was wir hier bei den Diskussionen über Menschen, die vielleicht nicht Ihren Vorstellungen entsprechen – Menschen mit einer anderen Biografie, mit einer anderen Herkunft, mit einer anderen Religion –, zum Teil an gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, an Verachtung, an Hass und Hetze erleben? Was maßen Sie sich eigentlich an, heute solch eine Antragsinitiative zu Sachverständigen in öffentlichen Anhörungen zu stellen! Meine Damen und Herren, für dieses Haus, für die demokratischen Fraktionen, ist doch völlig klar, dass jede und jeder vor Hass zu schützen ist. ({6}) In Bezug auf die Arbeit des Parlamentes bin ich überhaupt nicht einverstanden damit, zu sagen: Wir müssen noch viel mehr Sachen Vertraulich und VS einstufen. Wieso eigentlich? Wir reden gerade darüber, dass wir das Lobbyregister endlich – hoffentlich bald – einführen, um mehr Transparenz, mehr Nachvollziehbarkeit, mehr Offenlegung im Deutschen Bundestag darüber zu haben, wer hier ein und aus geht, wer hier berät, wessen Sachverstand wir in Anspruch nehmen. Also kommen Sie mir doch nicht damit, das hier einzustufen!

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Kollegin Haßelmann.

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das würde dem Anspruch auf mehr Transparenz des Parlamentes überhaupt nicht entsprechen, meine Damen und Herren. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dr. Patrick Sensburg, CDU/CSU, ist der nächste Redner. ({0})

Prof. Dr. Patrick Sensburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004155, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Debatten über die Geschäftsordnung sind gut, weil sie ja doch oft einen tiefen Einblick in die demokratischen Entscheidungsprozesse liefern, besonders dann, wenn die Anträge auch qualitativ und substanziiert brauchbar sind. Das sind Ihre drei Anträge heute leider nicht. Ihr Antrag, § 126a der Geschäftsordnung abzuschaffen, ist – das haben meine Vorredner schon gezeigt – unpassend. § 126a dient dem Schutz aller hier. Er dient aber auch dem Vorbild; denn Corona kann man nicht einfach „wegbeschließen“, sondern Corona ist da. Deswegen wäre es das falsche Zeichen, hier einfach zu sagen: Wir erklären das für erledigt, nutzen die Abstandsmöglichkeiten und die Regelungen, die § 126a bietet, nicht. ({0}) Sie haben mit Ihren Äußerungen gezeigt, dass Sie es gar nicht verstanden haben. Herr Kollege Seitz, Sie haben gesagt: Bei den Abstimmungen war doch eine hohe Teilnehmerquote. – Ich hoffe, an den Abstimmungen haben alle teilgenommen. Aber es geht um die Beschlussfähigkeit und darum, den Abstand wahren zu können. Das ist der Grund gewesen. Ich glaube, Sie haben es im Grunde gar nicht verstanden. Das Zweite. Die Sachverständigen vor Hass zu schützen, ist grundsätzlich ein gutes Anliegen. Aber dass gerade Sie das ansprechen, ist – das haben meine Vorredner gezeigt – schon sehr bizarr. ({1}) Ich möchte zum dritten Punkt kommen – den muss man sich wirklich genauer angucken –: Das ist Ihre Forderung, hier im Grunde zu erfassen: Wer bewegt sich wohin? Sie kleiden das so schön in einen Antrag, digitale Abstimmungsgeräte einzuführen. Aber der Antrag ist im Text – nach meiner Meinung – unverschämt, und er ist in der Sache falsch. Unverschämt ist er, weil Sie formulieren, dass in der Sitzung am 28. Juni 2019 weniger als die Hälfte der Abgeordneten anwesend gewesen wäre und der Sitzungsvorstand unter Leitung von Frau Vizepräsident Roth dennoch beschlossen habe, dass die Beschlussfähigkeit gegeben sei. Sie bewerten dieses Verhalten als – ich zitiere jetzt hier – einen Verstoß gegen „das Gebot der Fairness“; es sei „der Moral“ und „dem Wortlaut der Geschäftsordnung“ widerstrebend. Wenn man Anträge rügen könnte, müsste so ein Antrag eine Rüge erhalten. Es gehört sich nicht, so mit der Entscheidung des Sitzungsvorstands umzugehen, die nach der Geschäftsordnung nur er trifft. Man muss auch verstehen: Warum ist das so? Die Geschäftsordnung regelt eindeutig, dass die Opposition die Möglichkeit hat, die Tagesordnung mitzubestimmen. Wenn Sie einen Tagesordnungspunkt an prominenter Stelle haben wollen, dann können Sie sich dafür auch einsetzen. Sie können sogar am Anfang eine namentliche Abstimmung beantragen. Aber Sie müssen sich nicht wundern, wenn um weit nach Mitternacht in diesem Plenum vielleicht nicht alle Sitzplätze besetzt sind. Ich wundere mich übrigens, dass bei einer Debatte, in der es darum geht, Präsenz im Plenum herzustellen, bei Ihnen, wenn ich es richtig sehe, kaum 15 Mitglieder Ihrer Fraktion, der AfD, anwesend sind. ({2}) Das zeigt nicht Unterstützung für Ihren Antrag. Übrigens sichert der Antrag, die Beschlussfähigkeit feststellen zu lassen, auch nicht ein reines Oppositionsrecht. Es ist genauso auch ein Recht der Koalition. Es ist in diesem Haus schon öfters vorgekommen, dass, wenn Abstimmungen nicht so zu verlaufen schienen, wie sie sollten, auch die Koalition von diesem Recht Gebrauch macht, um gegebenenfalls die Abstimmung mit den Abstimmungsverhältnissen, wie sie im Bundestag herrschen, später durchzuführen. Das ist also auch kein Recht der Opposition. Schön wird es aber – dafür möchte ich die letzten Sekunden meiner Redezeit noch nutzen –, sich den Antrag inhaltlich anzuschauen. Es geht Ihnen ja nicht um ein digitales Stimmgerät – darüber wird schon lange diskutiert –; Sie formulieren, dass jeder Abgeordnete ein digitales Stimmgerät haben muss und dass mit diesem dann die Anwesenheit festgestellt werden soll. Sie möchten also ein digitales Überwachungsgerät für jeden Abgeordneten, das feststellt: Wer ist in diesem Sitzungssaal? Sie möchten, dass wir demnächst mit einem Chip herumlaufen. ({3}) Ihre Leute protestieren – wirr, wie sie sind – gegen das Chippen. Und diese Fraktion beantragt, dass wir demnächst mit einem Chip herumlaufen und dass elektronisch festgestellt wird: Wer ist hier wo in diesem Gebäude, im Sitzungssaal, auf der Toilette oder sonst wo?

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege.

Prof. Dr. Patrick Sensburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004155, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das ist wirr, meine Damen und Herren. Deswegen müssen wir es ablehnen. Danke schön. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort die Kollegin Joana Cotar, und damit ist die AfD an der Reihe. ({0})

Joana Cotar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004696, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Werte Kollegen! 30. Juni 2017, der Bundestag beschließt das NetzDG. Anwesende Abgeordnete 60 – nötig zur Beschlussfähigkeit des Bundestages 316. 27. Juni 2019, das über 500 Seiten starke Datenschutz-Anpassungsgesetz wird nachts um 1.30 Uhr verabschiedet. Anwesende Abgeordnete rund 100 – nötig zur Beschlussfähigkeit 355. Die AfD bezweifelt die Beschlussfähigkeit. Vizepräsidentin Claudia Roth lehnt den Einspruch ab. Man sei sich im Präsidium einig, der Bundestag sei beschlussfähig. ({0}) 7. November 2019, das Energiewirtschaftsgesetz wird verabschiedet. Knapp 100 MdBs anwesend – nötig zur Beschlussfähigkeit 355. Den AfD-Antrag zur Überprüfung der Beschlussfähigkeit lehnt diesmal Vizepräsident Friedrich ab. Das Präsidium sei sich einig, es sei alles okay. Die danach von der AfD beantragte namentliche Abstimmung zeigt: Es sind nur 133 Abgeordnete da. Die Sitzung muss abgebrochen werden. ({1}) Dass Herr Friedrich schon vorher wusste, dass der Bundestag nicht beschlussfähig ist, war klar: Bei offenem Mikrofon flüsterte er seinem Kollegen zu: Wir kriegen da nicht alle zusammen. – Dieser antwortete: Das wird nicht klappen, dass die Hälfte der Leute kommt. – Aber man war sich im Präsidium einig, dass der Bundestag beschlussfähig ist. Wie praktisch, dass die AfD ebendiesem Präsidium nicht angehört, weil wir keinen Bundestagsvizepräsidenten bekommen, ({2}) der bei diesen Spielchen dazwischengrätschen kann – ein Schelm, wer denkt, dass das Absicht war! ({3}) Liebe Kollegen, solche plumpen Tricks sind dieses Hohen Hauses nicht würdig. Es ist respektlos den Bürgern gegenüber, die erwarten können, dass sich auch Politiker an Regeln halten und der Bundestag Gesetze nur dann beschließt, wenn er auch beschlussfähig ist. ({4}) Die AfD-Fraktion beantragt daher, die elektronische Abstimmung im Bundestag möglich zu machen. Jeder Anwesende drückt auf einen Knopf, und schon wissen wir, ob der Bundestag beschlussfähig ist und wie die Mehrheiten aussehen. Das Ergebnis wird für alle sichtbar eingeblendet. Keine Schätzungen, keine Tricks mehr. Das ist transparent, das ist fair, und das spart Zeit. Da wir alle zusammen den Bundestag moderner und digitaler machen wollen, ist hier die Chance, das zusammen anzugehen. Ich hoffe, Sie stimmen unserem Antrag zu. Vielen Dank. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Sonja Steffen, SPD. ({0})

Sonja Steffen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004164, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kurz an meine Vorrednerin: Wie wir alle wissen, ist der Bundestag ein Arbeitsparlament. Die Arbeit findet in den Ausschüssen statt. ({0}) Wir haben vorhin und auch gestern schon mehrmals gehört, wie Ihre Disziplin in den Ausschüssen ist: Da hört man nie etwas von Ihnen. Der Kollege Bartke hat schon darauf hingewiesen, wie wenig Sachverständige Sie tatsächlich zu den Anhörungen einladen. Nun sitzen Sie hier wie die Zinnsoldaten. Allerdings sind Sie heute sehr wenig, obwohl es um Ihre Anträge geht. Das wundert dann schon. Sie wollen Ihr Anliegen mit Zahlen belegen. Dabei wissen Sie so gut wie wir alle, dass die Kollegen, wenn sie nicht im Bundestag sind, nicht auf der Terrasse sitzen oder sich ihres Lebens erfreuen. Nein, hier wird gearbeitet, und das mindestens 60 Stunden in der Woche. ({1}) Das müssten Sie wissen. Insofern finde ich es wirklich unverschämt, dass Sie sich immer wieder hierhinstellen und uns alle in die Tonne hauen wollen, indem Sie vorgeben, dass wir hier gar nichts tun. Das Gegenteil ist der Fall. ({2}) Ich will mich auf wenige Punkte in den Anträgen beschränken. Der erste Punkt, der § 126a Geschäftsordnung betrifft, ist hier schon ausreichend diskutiert worden. Ich will noch etwas zu den digitalen Abstimmungsgeräten im Plenum sagen. Wir haben heute schon gehört – ich glaube, der Kollege Schnieder hat schon darauf hingewiesen –, dass sich derzeit eine Kommission damit beschäftigt, wie der Bundestag zukünftig digitaler arbeiten kann. Das ist eine sehr gute Idee. Dort haben Sie übrigens auch wieder mit Abwesenheit geglänzt. ({3}) – Nein, Herr Seitz, bevor der Bundestagspräsident mich fragt, gebe ich schon jetzt die Antwort: Ich werde nicht zulassen, dass Sie eine Frage stellen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Sie werden sie nicht zulassen.

Sonja Steffen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004164, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein. ({0}) Ich komme auf die Sachebene zurück. Der Einsatz von digitalen Abstimmungsgeräten kann sogar sinnvoll sein. Bei namentlichen Abstimmungen werfen wir derzeit noch Namenskarten ein. Wir alle sind durchaus offen, zukünftig modernere Verfahren einzuführen. Warum nicht? Aber darum geht es Ihnen gar nicht. Sie wollen gar nichts beschleunigen. Im Gegenteil: Sie wollen doch nur das Plenum behindern. ({1}) Wie Herr Kollege Sensburg schon gesagt hat: Sie wollen mit Chips dafür sorgen, dass jeder von uns hier ans Plenum gefesselt ist, um dann festzustellen: Wenn nicht genug Abgeordnete anwesend sind, dann stoppen wir die Plenararbeit, dann sorgen wir dafür – obwohl Koalitionsmehrheiten vorhanden sind –, dass eine halbe Stunde bis eine Stunde überhaupt nicht mehr gearbeitet werden kann. Das ist wirklich Unfug. Zum Schluss zu Ihrem Antrag „Sachverständige vor Hass schützen“. Sie wissen selber, warum Sie das wollen: Sie finden einfach keine Sachverständigen. ({2}) Die allermeisten Professorinnen und Professoren wollen einfach nicht mit Ihnen zusammenarbeiten. Und warum wollen Sie das nicht? ({3}) Weil Sie eine menschenverachtende, unsympathische Truppe sind, mit denen man einfach nichts zu tun haben will. ({4}) Ich wünsche uns allen eine schöne Sommerpause, wohl wissend, dass wir alle zwischendurch sehr viel arbeiten müssen. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort der Kollege Michael Frieser, CDU/CSU. ({0})

Michael Frieser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004034, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es handelt sich wieder einmal um den Missbrauch einer Debatte; denn es geht nicht wirklich um die Geschäftsordnung, es geht nicht um die Frage: Was kann man diesem Parlament Gutes tun, damit es arbeitsfähig wird? Vielmehr geht es um das Instrumentalisieren. Deshalb will ich mich in meinen Ausführungen beschränken. Herr Präsident, ein persönliches Wort sei mir erlaubt. Ich bin einer von den Abgeordneten, die an Corona erkrankt waren. Ich danke meinem Herrgott für einen sehr glimpflichen Verlauf, ({0}) und ich danke dafür – täglich –, dass ich in einem Land lebe, das – Achtung! – gut regiert und gut organisiert ist, ({1}) dass es Menschen gibt, die auf einen achtgeben, die einen befragen. Wegen der Versuche der geistigen Verunreinigung mit all den Möglichkeiten, die in den vorliegenden Anträgen aufgezeigt werden, muss ich mich auf § 126a Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages fokussieren. Er hat gezeigt, wozu dieses Land, dieses Parlament in der Lage ist; denn er hat unsere Arbeitsfähigkeit und vor allem das Vertrauen der Menschen in das Parlament als Verfassungsorgan gestärkt. Wir konnten nicht nur belegen, dass wir arbeitsfähig sind, sondern wir konnten auch die wesentlichen Säulen unserer parlamentarischen Arbeit darlegen: die Teilhabe an der Gesetzgebung und die Herstellung der Öffentlichkeit. Wir haben in kürzester Zeit bewiesen, dass wir sehr effektiv und sehr effizient sind. Bisher ging es bei Ihren Anträgen immer mehr um geistige Brandstiftung. Jetzt geht es in der Tat nahezu um das selbstverständliche Herstellen vorsätzlicher Körperverletzung. ({2}) Die ganzen Maßnahmen, die wir getroffen haben, waren alle dafür gemacht, die persönliche, die gesundheitliche Integrität der Menschen zu gewährleisten. ({3}) Es wäre mir ein Leichtes, in diesem Saal herumzulaufen; denn – das sagt zumindest die Wissenschaft im Augenblick – ich bin einigermaßen immun, auch gegen die Versuche der geistigen Verunreinigung. ({4}) Hier wird tatsächlich zur vorsätzlichen Infektion aufgerufen. Covid-19 lässt sich aber nicht von Ihren Anträgen dirigieren. Wenn es um die Arbeitsfähigkeit des Parlaments geht, sieht es schon anders aus. Aber vielleicht geht es genau darum, die Arbeitsfähigkeit dieses Parlamentes zu hintertreiben. ({5}) Dem darf man tatsächlich nicht Folge leisten. Stimmen Sie um Gottes willen möglichst breit – so breit ist die Fraktion nicht – gegen die vorliegenden Anträge. Ich wünsche uns einen gesunden Sommer. Bleiben Sie standhaft! Bleiben Sie gesund! ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Damit schließe ich die Aussprache und erteile das Wort zu einer Erklärung zur Aussprache nach § 30 unserer Geschäftsordnung dem Kollegen Boehringer, AfD. ({0})

Peter Boehringer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004675, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Ich danke für die Gelegenheit zur Aussprache. Das ist mein Recht, auf dem ich in diesem Fall bestehen muss. Es wurde im Rahmen einer Aussprache in diesem Haus zum zweiten Mal behauptet, ich sei in einer Haushaltsausschusssitzung in dieser Woche für vier Stunden – Zitat – „unentschuldigt abwesend“ gewesen; das war ein Zitat aus der Rede von Frau Haßelmann eben. Ich stelle dazu fest: Es ist erstens faktisch falsch. Es ist nicht so. ({0}) Es ist faktisch falsch, auch wenn es wiederholt wird. Ich fordere Sie auf, diese Aussage zu belegen. Es wird Ihnen nicht gelingen. Die Falschaussage des Kollegen Rohde gestern hier ist nicht der Beweis für die Richtigkeit dieser Aussage, in keiner Weise. ({1}) – Das war der Vorwurf, Frau Kollegin. Zweitens. Es gibt hier nichts zu entschuldigen. § 59 Absatz 4 der GO-BT schreibt vor, dass ich als Ausschussvorsitzender für einen ordnungsgemäßen Ablauf der Sitzung zu sorgen habe. Das ist geschehen. Niemand bestreitet das. Das hat übrigens auch Kollege Rohde nach der Sitzung nicht bestritten. Die einzige Verantwortung, die ich hatte und ausgeübt habe, war, meinen Stellvertreter entsprechend einzusetzen. Das ist bereits fünf Stunden vor Sitzungsbeginn geschehen, ({2}) und zwar mit seinem vollständigen Einverständnis. Es ist im Haushaltsausschuss bei sehr langen Sitzungen und speziell bei Bereinigungssitzungen üblich, dass man sich abwechselt. Es gab eine Vorabsprache, die noch nicht einmal spontan war; aber selbst das wäre zulässig. Herr Gerster bestreitet das nicht. Er ist mein regulärer Stellvertreter. Herr Rohde hat ohne das Wissen von Herrn Gerster interveniert, und Sie plappern hier ungeprüft nach, was er gesagt hat. ({3}) Es ist in keiner Weise belegt. Es ist falsch. Es ist nicht korrekt. ({4}) Ich fordere Sie eigentlich zu einer Entschuldigung an dieser Stelle auf – ich weiß, dass Sie nachher vermutlich keine Gelegenheit haben werden, zu antworten –; aber sie wäre fällig. Ich werde das vom Kollegen Rohde auch noch einfordern. Wenn nicht gewährleistet ist, in einer Neunstundensitzung – wie in diesem Fall – eine reguläre Stellvertretung einzusetzen, dann sinkt die Leistungsqualität des Ausschusses; denn dann sind keine Mittagspausen mehr möglich. Ich war in dieser Zeit beim Mittagessen – es war im Reichstag kein Catering gewährleistet –; anders ging es gar nicht. Sonst hält man eine Neunstundensitzung auch gar nicht durch. ({5}) – Da hilft die ganze Schreierei nichts. Das ist die Wahrheit. Nachdem das schon zum zweiten Mal hier in diesem Hohen Haus behauptet wurde, müssen die Dinge richtiggestellt werden. ({6}) Es gibt nur hier die Möglichkeit, das richtigzustellen; sonst kommt es nicht ins Protokoll. Ich habe das hier schon mal erlebt: Man kann hinterher selbst faktische Falschaussagen gerichtlich nicht rückgängig machen, nicht abmahnen lassen. ({7}) Das geht bei diesem Haus nicht. Das geht nur per Intervention. Es ist faktisch falsch, was behauptet wird. Alles war GO-konform. Es ist auch völliger Usus im Haushaltsausschuss. Herr Rohde selbst, der das behauptet, hat als mein ehemaliger Stellvertreter nichts anderes gemacht. Wir haben uns immer abgewechselt. Es war völlig normal. Sie haben keine Ahnung, was im Haushaltsausschuss passiert ist. Es war ein reines Nachplappern, und das wohlgemerkt in einer Debatte zur GO. Hier ging es um GO-Einhaltung, und Sie selbst halten die GO nicht ein, weil Sie sie noch nicht mal kennen, Frau Kollegin. Herzlichen Dank. ({8})

Dietrich Monstadt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004113, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen! Meine Herren! Ich bin froh, dass wir jetzt mal wirklich wichtige Dinge diskutieren können. Was lange währt, wird endlich gut. Seit mehr als sechs Jahren arbeitet die CDU/CSU-Bundestagsfraktion an einer nationalen Diabetes-Strategie. Ganz persönlich möchte ich an dieser Stelle Michael Hennrich und unserem Gesundheitsminister Jens Spahn danken, die diese Initiative von Beginn an, Letzterer seinerzeit noch als gesundheitspolitischer Sprecher, unterstützt haben. Danken möchte ich auch Bärbel Bas und Dr. Georg Nüßlein, die in der letzten Phase die noch bestehenden Diskussionspunkte ausgeräumt und damit die heutige Debatte erst möglich gemacht haben. Meine Damen und Herren, warum ist es so wichtig, dass wir endlich eine nationale Diabetes-Strategie bekommen? Von 1993 bis 2020 haben sich die Zahlen von 6 Millionen Erkrankten in Deutschland auf über 9 Millionen erhöht, einschließlich einer Dunkelziffer. Damit ist fast jeder achte Einwohner, vom Säugling bis zum Greis, an Diabetes erkrankt – wenn ich mich hier umschaue, sehe ich nicht so viele junge Leute; sie mögen das als Mahnung nehmen –, Tendenz steigend. Alle 55 Sekunden erkrankt ein Mensch an Diabetes. Jedes Jahr haben wir 560 000 Neuerkrankungen Typ-2-Diabetes. Im europäischen Vergleich liegt Deutschland damit an zweiter Stelle. Menschen mit Diabetes haben ein 2,6-fach erhöhtes Risiko für einen frühzeitigen Tod. Wir beklagen circa 180 000 Todesfälle durch Diabetes jährlich. Die direkten Gesundheitskosten im Jahr 2020 belaufen sich auf 21 Milliarden Euro. Die Kosten für diabetesbezogene Behandlungen von Kindern und Jugendlichen liegen bei etwa 110 Millionen Euro. Und ja, die Prognose für das Jahr 2040 ist erschreckend. Bei gleichbleibender Entwicklung haben wir bis 2040 über 12 Millionen Erkrankte. Der – in Anführungszeichen – „Tsunami“ Diabetes rollt weiter ungebremst auf uns zu. Deshalb brauchen wir diese Strategie. Meine Damen und Herren, wir haben schon im Koalitionsvertrag die nationale Diabetes-Strategie verankert, damit die sinnvollen Einzelmaßnahmen unter Einbindung aller Akteure auf Bundes-, Länder- und Selbstverwaltungsebene strategisch gebündelt werden. Diese Strategie setzt acht wesentliche Schwerpunkte: Erstens. Diabetes-Bekämpfung als ressortübergreifende Aufgabe wahrnehmen. Alle Bereiche wie Sport, Ernährung, Bildung, Arbeit, Soziales, Forschung, Verbraucherschutz, Familie, Senioren, Jugend müssen mit eingebunden werden. Die Grundpfeiler Ernährung und Bewegung müssen zukünftig gleich stark verankert werden. Zweitens. Die Vorbeugung und Früherkennung von Diabetes mellitus ist auszubauen. Prävention und Versorgungsforschung müssen deutlich vorangetrieben werden. Dazu zählt aber auch, dass ärztliche Fort- und Weiterbildung in gesunder Ernährung und ausreichender Bewegung verstärkt berücksichtigt werden müssen. Drittens. Versorgungsangebote müssen für Diabetes bekannt gemacht und weiterentwickelt werden. Die sektorenübergreifende Versorgung muss ausgebaut und gestärkt werden. Zusätzlich sollen Behandlungen an individuellen, altersgerechten Bedürfnissen ausgerichtet werden. Viertens brauchen wir eine zuverlässige Datengrundlage zur Versorgungssituation bei Diabetes mellitus. Hier ist das neu eingeführte Nationale Diabetes-Überwachungssystem am RKI weiterzuentwickeln. Fünftens sind Information und Aufklärung über Diabetes zu verbessern. Der Bekanntheitsgrad und die Reichweite der bestehenden Informationsdienste sind auszubauen, und die Finanzierung ist sicherzustellen. Die große Bedeutung der ersten 1 000 Lebenstage für das weitere Leben ist herauszustellen. Sechstens ist die Diabetes-Forschung zu erweitern. Hier muss die individualgerechte Diabetes-Medizin noch stärker in den Mittelpunkt rücken. Siebtens. Telemedizin muss in der Diabetes-Versorgung ausgebaut werden. Ziel ist hier die Steigerung der Versorgungs- und Lebensqualität von Patienten und Angehörigen; mein Kollege Tino Sorge hat heute Mittag gerade auch im Hinblick auf Diabetes hierzu bereits Ausführungen gemacht. Letztlich müssen, achtens, gesunde Ernährung und mehr Bewegung erleichtert werden; denn sie sind zentrale Faktoren für ein gesundes Leben. Ernährungsbildung muss schon an Kitas und Schulen gestärkt werden, damit von Kindheit an ein gesundes Ernährungsverhalten erlernt wird. Das gilt auch für die Freude an Bewegung. Auch hier müssen schon in der Jugend Grundlagen gelegt werden. Meine Damen und Herren, wir wollen weiter den Diabetes-Patienten dabei unterstützen, sein eigener Gesundheitsmanager zu werden: beim Ernährungsverhalten und beim Bewegungsverhalten. Ich bin froh, dass wir es noch vor der Sommerpause geschafft haben, diesen Antrag hier heute zur Abstimmung zu stellen, und werbe dringend um Zustimmung. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Jörg Schneider, AfD. ({0})

Jörg Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004880, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Im Antrag der AfD geht es um das Thema „Vitamin D“. Vitamin D wird im menschlichen Körper erzeugt unter Einfluss von Sonneneinstrahlung. Damit wären wir eigentlich schon direkt beim Problem. Uns Menschen gibt es seit ungefähr 1 Million Jahren. Die meiste Zeit davon haben wir draußen verbracht. Vor ungefähr 150 Jahren hat sich das geändert: Erst waren es Fabrikhallen, dann waren es Büros, jetzt ist es das Homeoffice. Wir sind nicht mehr so viel draußen. Die Evolution ist da nicht wirklich hinterhergekommen. Einen anderen Mechanismus, um körpereigenes Vitamin D zu erzeugen, haben wir bisher noch nicht entwickelt. Damit wären wir im Grunde genommen schon bei der Konsequenz, die daraus folgt. Die meisten Menschen haben im Winter tatsächlich einen Vitamin-D-Mangel, viele aber auch ganzjährig. Das sind vor allen Dingen ältere Menschen, aber auch Menschen wie zum Beispiel Schichtarbeiter. Die gute Nachricht ist: Man kann das Ganze relativ einfach analysieren. Eine Analyse kostet ungefähr 20 Euro. Wir schlagen in unserem Antrag vor, sie zukünftig zu einer Kassenleistung zu machen. ({0}) Auch die Behandlung ist nicht besonders teuer. Sie kostet pro Tag ungefähr 10 Cent. Wozu das Ganze? Wir sprechen heute vor allen Dingen über Diabetes. In einer Langzeitstudie in Finnland wurde festgestellt, dass, wenn Kinder bereits in frühen Jahren Vitamin D zusätzlich bekommen, die Gefahr, an Diabetes Typ 1 zu erkranken, für sie deutlich niedriger ist. Auch ein Zusammenhang zu Corona lässt sich herstellen. Es ist so, dass man festgestellt hat, dass ein erhöhter Vitamin-D-Spiegel zwar nicht die Infektion verhindert, aber den Verlauf der Erkrankung dämpft. Andererseits sind – das sage ich ganz klar – natürlich an solchen Untersuchungen auch Zweifel angebracht. Schauen wir uns zum Beispiel Corona an: Wenn wir Menschen, die an Corona verstorben sind, untersuchen, stellen wir einen niedrigen Vitamin-D-Level fest. Jetzt könnte man natürlich sagen: niedriger Vitamin-D-Level gleich höhere Sterblichkeitswahrscheinlichkeit. Andererseits ist es natürlich so, dass die Menschen, die an Corona versterben, häufig auch älter sind und deswegen einen niedrigeren Vitamin-D-Level haben. Hier ist tatsächlich noch erheblicher Forschungsaufwand notwendig. Und auch den zu betreiben, fordern wir in unserem Antrag. Meine Damen und Herren, ich fasse zusammen: Wir haben in der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland einen anerkannten Vitamin-D-Mangel. Wir können ihn sehr einfach herausfinden, bei jedem Einzelnen analysieren und auch sehr einfach behandeln. Es gibt durchaus Hinweise, dass das für die Gesundheit der Menschen in diesem Land eine sinnvolle präventive Maßnahme wäre. Als ich das in dieser Woche in unserem Ausschuss vorgestellt habe, hat Herr Professor Ullmann von der FDP sich sehr unflätig geäußert. Er sprach von „Unsinn“ und von „Aluhut“. Herr Professor Ullmann, Sie werden ja gleich nach mir sprechen. Ich bin gerne bereit, dazuzulernen. Ich hoffe, Sie geben mir heute etwas mehr Gelegenheit dazu, als Sie das am Mittwoch getan haben. Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen und wünsche Ihnen einen schönen Sommer. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Sabine Dittmar, SPD. ({0})

Sabine Dittmar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004261, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Die Vermeidung und Versorgung von chronischen Krankheiten, die durch Lebensstil, durch Umwelt- und Arbeitsbedingungen und die soziale Lage bedingt oder beeinflussbar sind, ist eine gesundheitspolitische Aufgabe, die trotz aller bisherigen Anstrengungen deutlich mehr Aufmerksamkeit verlangt. Deshalb haben wir uns im Koalitionsvertrag verpflichtet, verstärkt gegen sogenannte Volkskrankheiten vorzugehen und eine nationale Diabetes-Strategie zu initiieren. ({0}) Ich freue mich deshalb sehr, dass wir Ihnen heute endlich einen Antrag dazu vorlegen können. ({1}) Lange haben wir mit den Kolleginnen und Kollegen aus dem Bereich Ernährung der Union um einen Kompromiss zur Zuckerreduktion und zu Nährwertvorgaben für Kinderlebensmittel gerungen. Darauf wird meine Kollegin Schulte eingehen. Ich möchte aber hier trotzdem unmissverständlich klarmachen, dass wir als SPD im Einklang mit den Fachgesellschaften und Krankenkassen strengere Reduktionsvorgaben befürworten. Wir werden deshalb sehr genau beobachten, ob der Kompromiss zum gewünschten Ziel führt. ({2}) Meine Damen und Herren, mit dem vorliegenden Antrag beschreiben wir nun wesentliche Bestandteile einer nationalen Diabetes-Strategie, die aus Sicht der Koalitionsfraktionen wichtig sind. Wichtig ist mir dabei, festzustellen, dass eine Diabetes-Strategie perspektivisch in eine ressortübergreifende Strategie für Gesundheitsförderung und Prävention in Deutschland einmünden muss, die alle chronischen und lebensstilbedingten Volkskrankheiten in den Blick nimmt. Denn auch bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen, chronischen Lungenerkrankungen, muskuloskelettalen Erkrankungen oder Allergien liegen die Zahlen in Deutschland auf einem anhaltend hohen Niveau. Gesündere Lebens-, Arbeits- und Umweltbedingungen, Bildungsgerechtigkeit und gesundheitliche Chancengleichheit schafft aber nicht ein Ressort oder ein Akteur allein. Das liegt in ressortübergreifender und auch in gesamtgesellschaftlicher Verantwortung. Hier muss die Bundesregierung das Heft des Handelns stärker als bisher in die Hand nehmen. ({3}) Selbstverständlich fangen wir bei der Vermeidung und Bekämpfung von Diabetes mellitus in Deutschland nicht bei null an. Die Bundesregierung hat vielfältige und auch sehr gute Programme und Projekte auf den Weg gebracht. Die Krankenkassen haben in den zurückliegenden Jahren ihr Engagement zur Senkung des Erkrankungsrisikos deutlich ausgeweitet. In allen Bundesländern gibt es Landesrahmenverträge. Und die vielfältigen Aktionen auf kommunaler Ebene kommen noch dazu. Mir fällt hier ganz spontan aus meinem Wahlkreis das Projekt „Dem Diabetes davonlaufen“ im Landkreis Rhön-Grabfeld ein, das von meinem ärztlichen Kollegen Dr. Helm mit sehr viel Engagement und Herzblut betrieben wird. Und dennoch, Kolleginnen und Kollegen, haben wir eine anhaltend hohe Zahl von Neuerkrankungen in Deutschland, mit all den Folgen für die Betroffenen selbst und für unser Gesundheits- und Sozialsystem. Ich denke, das müssen und das wollen wir auch ändern. ({4}) Was mir vor allem Sorge bereitet, sind die vielen Menschen, die unter Übergewicht und Adipositas leiden. Zwei Drittel der Männer und die Hälfte der Frauen in Deutschland sind betroffen, 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen sind übergewichtig, 6,5 Prozent davon adipös. Es ist wichtig, diese stark übergewichtigen oder bereits adipösen Menschen leitliniengerecht zu versorgen. Sie brauchen eine auf ihre individuellen Bedürfnisse zugeschnittene Versorgung, die sich multimodal und interdisziplinär aus Ernährungs-, Bewegungs- und Verhaltenstherapie zusammensetzt. Hier haben wir Defizite, und die gilt es abzubauen. ({5}) Deshalb ist es notwendig, dass wir eine aktuelle Leitlinienrecherche des Gemeinsamen Bundesausschusses bekommen, um die Voraussetzungen für eine Kassenleistung zu schaffen. Meine Damen und Herren, ich denke, wir geben mit unserem Antrag wichtige Impulse für mehr Aufklärung, Vorbeugung, bessere Versorgung und Forschung. Deshalb bitte ich um Ihre Zustimmung. Ich danke für die Aufmerksamkeit, wünsche Ihnen allen eine erholsame parlamentarische Sommerpause und, dass wir uns im September alle gesund wiedersehen. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dr. Andrew Ullmann, FDP, ist der nächste Redner. ({0})

Prof. Dr. Andrew Ullmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004922, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie haben heute wieder einmal klassische AfD-Politik erlebt: Wir sprechen über Diabetes; das Wort fängt mit D an, also sprechen wir mal über Vitamin D. ({0}) In dem Antrag der AfD, Herr Schneider, fehlt das Wort „Diabetes“ vollständig – Thema verfehlt, relativ klar. Meinen Wutausbruch im Gesundheitsausschuss gebe ich zu. Ich hätte mich da beherrschen müssen; das war ein bisschen schwierig. ({1}) Aber wenn ich das, was Sie da von sich gelassen haben, hier beurteilen würde, dann würde ich dafür – mit Verlaub – sofort eine Verwarnung bekommen. Sie haben Korrelation mit Kausalität verwechselt; Sie haben die Begriffe „in vitro“ und „in vivo“ verwechselt. Ich denke, Sie sollten da erst mal Nachhilfeunterricht nehmen. ({2}) Wir sprechen heute über Diabetes, meine Damen und Herren. Diabetes ist eine Volkskrankheit. Diabetes ist auch tatsächlich eine Pandemie, die wir ernst nehmen müssen. Seit zweieinhalb Jahren warten wir auf einen Vorschlag der Koalition für eine nationale Diabetes-Strategie. Erst jetzt ist dazu etwas gekommen. Gott sei Dank ist jetzt was gekommen. Aber in der Zwischenzeit sind 1 Million Menschen mehr an Diabetes erkrankt. Das ist keine ambitionierte Politik. Das muss eigentlich schneller gehen, meine Damen und Herren. ({3}) Bei einer Diabetes-Strategie gibt es eigentlich zwei übergeordnete Ziele, die wir angehen müssen. Ein Ziel ist die Prävention, und das zweite Ziel ist, dass die an Diabetes Erkrankten lange und mit einer hohen Lebensqualität weiterleben können. Das sind die beiden Ziele. Um sie zu erreichen, bedarf es der Methodik „Health in All Policies“. Das ist etwas ganz Wichtiges; dazu haben die Kollegen aus den anderen Fraktionen ja schon einiges gesagt. Dazu braucht es Mut und Willensbekundungen. Dass das möglich ist, haben wir durch unseren Umgang mit der Covid-19-Krise schon bewiesen. Vier Maßnahmen müssen ergriffen werden – ich möchte dazu Beispiele bringen –: Erstens müssen Risikofaktoren minimiert werden. Ein Beispiel ist hier Adipositas. Die Kollegin Dittmar hat dieses Thema gerade sehr richtig dargestellt; dadurch kann ich etwas Zeit gewinnen. Zweitens ist die Gesundheitskompetenz in allen Lebensaltern voranzubringen. Angefangen vom Kindergarten bis zu den berufsbildenden Schulen muss es hier lebenslanges Lernen geben. Das ist ganz wichtig, damit wir mehr Gesundheitskompetenz bekommen und auch Prävention im Blick auf Diabetes erreichen. Wir haben es da aber nicht nur mit Diabetes zu tun, sondern auch mit vielen anderen Erkrankungen, bei denen die Lage durch Gesundheitskompetenz verbessert werden kann. Wenn es um Prävention geht, stellt sich für mich auch die Frage nach der Novellierung des Präventionsgesetzes, die unlängst vonseiten des BMG versprochen wurde. Es wäre schön, wenn dies bald erfolgen könnte. Drittens: Versorgung der Patienten. Hier bedarf es – das hat Frau Dittmar auch schon erwähnt – hochwertiger, bundeseinheitlicher und vor allem evidenzbasierter Medizin; die müssten wir wieder einführen. Es geht nicht um eminenzbasierte Medizin, sondern um evidenzbasierte Medizin. Im Hinblick darauf ist es natürlich wichtig, dass viele Sektoren verzahnt werden. Dies stellt zwar eine besondere Herausforderung dar, aber auch das ist sicherlich möglich. Zu guter Letzt, viertens: die Forschung. Wir haben sogenannte DMPs, also Disease-Management-Programme, die bereits laufen, und dadurch haben wir viele Versorgungsdaten. Diese Daten müssen wir zusammenführen und öffentlich machen. Auch dadurch können wir eine zielgerichtetere Versorgung gewährleisten.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Ullmann.

Prof. Dr. Andrew Ullmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004922, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich komme zum Schluss.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Bitte.

Prof. Dr. Andrew Ullmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004922, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Tut mir leid. Es war schwierig, nicht darauf zu antworten. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Dittmar hat Ihnen ja quasi Redezeit eingespart.

Prof. Dr. Andrew Ullmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004922, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, ich gebe ja auch Gas. Die Kritik am Papier der Koalition ist relativ klar: Es ist sehr dünnbrettartig, es sind viele Wünsche und Willensbekundungen geäußert worden, es enthält nicht genügend Maßnahmen. Aber die Willensbekundungen sind richtig. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Unser Antrag enthält auch noch Maßnahmen – machen Sie sich die auch zunutze! –, um das Thema Diabetes in Deutschland besser voranzubringen bzw. das Risiko, daran zu erkranken, zu minimieren. Das sollte unser gemeinsames Ziel sein. Ich danke Ihnen. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Petra Sitte, Die Linke. ({0})

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ja, Diabetes ist explosiv angewachsen in den letzten Jahren, und im Zuge der Pandemie hat sich gezeigt, dass der Verlauf von Covid-19 noch verschärft werden kann durch Vorerkrankungen wie eben Diabetes. Die Zahl der Diabetes-Erkrankten in Deutschland ist allein in den letzten 20 Jahren um dramatische 38 Prozent gestiegen. Es ist also in der Tat höchste Zeit, eine umfassende Strategie zur Eindämmung von Diabetes vorzulegen. ({0}) Leider lässt der Koalitionsantrag das Zeitfenster dafür sperrangelweit offen; denn es steht kein Termin drin. Die ressortübergreifende Strategie für Gesundheitsförderung und Prävention soll sozusagen grundiert werden durch ein Eckpunktepapier. Aber wann, wo, wie, was findet man nicht in dem Antrag. Da hätte ich mir ein ambitionierteres Vorgehen gewünscht. ({1}) Medizinische Fachkreise – der Kollege von der FDP sagte es gerade – sprechen seit zehn Jahren von Diabetes als einer weltweiten Pandemie; schon allein daran zeigt sich, wie spät wir dran sind. Diabetes ist offensichtlich eben nicht allein mit Aufklärung und dergleichen mehr zu bekämpfen; vielmehr hat er auch strukturelle und sozioökonomische Ursachen. Pillen und Spritzen helfen da auch nur begrenzt. Warum sage ich das? Weil Tausende Menschen ihren Lebensstil eben nicht frei wählen können. So hat Bewegungsarmut auch mit der Art zu tun, wie wir arbeiten. Angestellte bei Lidl oder bei Amazon bekommen eben kaum Zeit, um sich zu bewegen; sie können nicht einmal in Ruhe auf Toilette gehen. Das sind Stressfaktoren. Das hat natürlich körperliche Auswirkungen und führt dazu, dass Diabetes begünstigt wird. Und schließlich werden sie auch gezwungen, an Arbeitsplätzen zu sitzen oder zu stehen und sich nicht zu bewegen. Das ist nicht nur Tyrannei, das führt eben auch zu erheblichen gesundheitlichen Problemen. Arbeit darf nicht krank machen! ({2}) Aber auch ältere und erwerbslose Menschen leiden unter Bewegungsmangel und sozialer Ausgrenzung. Fehlernährung ist oft zu beobachten. Das betrifft nicht selten insbesondere arme Haushalte und dort wiederum insbesondere die Kinder. Kaufen Sie doch mal bei Lidl eine kleine Packung! Die beste Prävention wäre hier also in der Tat, Familienarmut konsequent zu bekämpfen. ({3}) Und deshalb brauchen wir auch klare gesetzliche Vorgaben. Bis heute tut sich diese Regierung schwer, Anbietern Grenzen zu setzen – die Kollegin hat es angedeutet –, wenn es um Zucker geht, wenn es um Salz geht, wenn es um Fette geht. Ich erinnere nur an das ganze Geschwurbel um die Lebensmittelampel, oder ich erinnere an die hübschen Bilder einer Ministerin Arm in Arm mit Nestlé. Das war keine Pose, das war eine Posse. ({4}) Abschließend will ich sagen, dass sich öffentlich geförderte Diabetes-Forschung deutlich stärker – die Kollegen haben es auch schon bestätigt – auf Prävention, Versorgung und Pflege konzentrieren muss. Damit lässt sich in der Tat wenig Geld verdienen, aber sehr viel Geld einsparen. Vor allem bleibt den Menschen viel Leid erspart. Sie gewinnen Lebensqualität, Lebensfreude. Und das ist es, worum es uns am Ende hier bei unseren Strategien gehen sollte. Danke. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Kirsten Kappert-Gonther für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Kirsten Kappert-Gonther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004773, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nun also doch! Bis zur letzten Minute durften wir ja durchaus skeptisch sein, ob die Koalition den TOP „Diabetes-Strategie“ wieder von der Tagesordnung streicht. Aber was debattieren wir heute? Eine Strategie? Nein, einen Antrag, der eine nationale Diabetes-Strategie fordert. Das ist jetzt leider noch kein großer Wurf. Die Weltgesundheitsorganisation fordert schon seit Jahren abgestimmte Maßnahmenpakete gegen Diabetes und andere nichtübertragbare Krankheiten. Doch statt zu handeln, hat die Bundesregierung hier einen regionalen Versorgungsflickenteppich entstehen lassen. Wie Diabetes-Betroffene versorgt werden, wie ihre Chancen auf Heilung sind – und auch das gibt es ja durchaus –, hängt in Deutschland maßgeblich vom Wohnort ab. Das ist ungerecht! ({0}) Doch reicht es aus, vor allem die Versorgungssituation in den Blick zu nehmen? Sicherlich nicht; denn es muss uns ja nicht nur darum gehen, Menschen mit Diabetes gut zu behandeln, sondern es sollte unser aller Ziel sein, der Entstehung von Diabetes vorzubeugen. In Sachen Prävention setzen Sie aber weiterhin vor allem auf die Verantwortung der Einzelnen, statt endlich möglichst gesunde Lebensbedingungen für alle zu schaffen. Das wäre dringend notwendig, um soziale Gerechtigkeit bei den Gesundheitschancen herzustellen. ({1}) Während Großbritannien positive Erfahrungen mit der Zuckerreduktion macht, setzen die Ernährungsministerin und die Koalition weiter auf die Selbstverpflichtung der Industrie. Wir wissen, dass das vorne und hinten nicht ausreicht. ({2}) Während in Dänemark und den Niederlanden massiv in die Fahrradinfrastruktur und somit in bewegungs- und damit gesundheitsfördernde Mobilität investiert wird, gibt der Verkehrsminister Geld für Straßen aus, das eigentlich für Radwege vorgesehen ist. Das ist das Gegenteil von Verhältnisprävention. ({3}) All das zeigt: Sie meinen es leider nicht ernst mit Prävention und Gesundheitsförderung. Und das schadet! Wie viele Menschen könnten von gesundheitsfördernden Bedingungen im Alltag profitieren, von einer Prävention, die in den Lebenswelten ansetzt. Dabei müssen Sie doch bei alldem das Rad nicht neu erfinden. Auf den „Health in All Policies“-Ansatz verweisen Sie ja sogar selbst in Ihrem Antrag. Wir müssen Gesundheitsförderung endlich als verbindliche Aufgabe aller Politikbereiche, die ineinandergreifen, verstehen. Wie das geht, können Sie in unserem grünen Antrag lesen. Zu Ihrem Antrag werden wir uns als Anerkennung, dass Sie das Thema nun endlich angehen, ({4}) enthalten. ({5}) Vielen Dank. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Alexander Krauß, CDU/CSU, ist der nächste Redner. ({0})

Alexander Krauß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004793, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Diabetes kommt nicht wie der Blitz aus heiterem Himmel, sondern hat eine Vorgeschichte. Das kann die genetische Veranlagung sein, häufig sind es aber Bewegungsmangel, ungesunde Ernährung und daraus resultierend Übergewicht. Jeder vierte Deutsche ist adipös, also stark übergewichtig. Unser Antrag geht auf das Thema Adipositas ein. Diabetes ist die Krankheit, die heute zu Recht im Blickfeld steht. Wichtig ist aber auch, dass wir uns die Wurzel von Diabetes anschauen, die verborgen und wenig beachtet im Boden liegt, nämlich Adipositas. Adipositas ist die Wurzel, aus der und auf der Diabetes wächst. Es ist wie beim Unkraut: Wenn man die Löwenzahnblätter nur ausreißt, bringt das nicht viel. Man muss sich mit der Wurzel befassen, und das tun wir heute auch in unserem Antrag. Adipositas ist in Deutschland als Krankheit noch nicht anerkannt, anders als in den meisten europäischen Staaten, in den Vereinigten Staaten oder bei der Weltgesundheitsorganisation. Im Antrag sprechen wir von der Adipositas-Erkrankung. Heute wird für die Adipositas-Erkrankten ein ganz wichtiger Meilenstein erreicht: die Anerkennung ihrer Erkrankung durch den Deutschen Bundestag. Meine sehr geehrten Damen und Herren, Menschen mit Adipositas werden unzureichend behandelt; Frau Kollegin Dittmar ist darauf eingegangen. Es reicht nicht, wenn ein Patient zum Arzt geht und dieser ihm dann nur sagt, er solle mal ein bisschen weniger essen und sich ein bisschen mehr bewegen. Das ist keine ausreichende Therapie. Es mangelt an einer facharztübergreifenden, professionellen ambulanten Behandlung. Es mangelt an Schulungsprogrammen für Betroffene. Es mangelt aber auch an Verständnis für die Betroffenen und an Informationen über die Erkrankung. Das Einzige, das die Betroffenen leider überreichlich erfahren, ist Hohn und Spott. Damit werden wir uns nicht abfinden, und wir werden jetzt auch daran arbeiten, dass sich in diesem Land etwas ändert. Was brauchen wir? Wir brauchen endlich eine Versorgung für Menschen mit Adipositas durch Haus- und Fachärzte, die ihren Namen verdient, in erster Linie eine anständige ambulante Behandlung. In den vergangenen Monaten hat sich die Deutsche Adipositas Allianz gegründet, in der Betroffene, Ärzte, Krankenkassen, Arzneimittelhersteller, die Rentenversicherung mitarbeiten mit dem Ziel, dass Menschen mit Adipositas nicht mit altklugen Ratschlägen erschlagen werden, sondern ihnen geholfen wird. Wenn Sie diesen Menschen auch helfen wollen, dann bitte ich Sie, unserem Antrag heute zuzustimmen. Vielen Dank. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Ursula Schulte, SPD. ({0})

Ursula Schulte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004404, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Antrag der Koalitionsfraktionen starten wir die nationale Diabetes-Strategie. Das ist gut so, und darüber freue ich mich. Als Berichterstatterin für gesunde Ernährung hätte ich mir allerdings klarere und verbindlichere Aussagen zur Reduktionsstrategie, zur Zuckerreduktion und den Nährwertprofilen gewünscht. Dazu waren die Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU leider nicht bereit. Das ist wirklich bedauerlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, vor allen Dingen, wenn man weiß, dass zu den Risikofaktoren, an Diabetes zu erkranken, Bewegungsmangel und eben eine ungesunde Ernährung gehören. Um dem entgegenzuwirken, haben wir die Reduktionsstrategie, das Verbot von Zucker in Kinder- und Säuglingstees und den Nutri-Score auf den Weg gebracht. Aber das ändert leider nichts an folgendem Befund: Die Deutschen essen zu energiereich. Sie essen zu viel Fleisch, zu wenig Obst und zu wenig Gemüse, und sie bewegen sich zu wenig. Die Kita- und Schulverpflegung entspricht oft nicht den DGE-Qualitätsstandards, und die Bevölkerung weiß zu wenig über gesunde Ernährung, wie eine AOK-Studie jüngst bewiesen hat. Zudem spaltet das Thema Ernährung unser Land. Ärmere Menschen ernähren sich häufiger ungesund, erkranken öfter und versterben früher. Angesichts dieser Tatsachen, Frau Klöckner, mutet der Ernährungsreport 2020 schon ein wenig merkwürdig an. Er gaukelt uns eine Welt vor, die mit der Wirklichkeit in vielen Fällen nicht übereinpasst. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Grundsteine für eine gesunde Ernährung werden schon in der Kindheit gelegt. Deswegen ist Ernährungsbildung von der Kita an notwendig. Mit dieser Forderung kommen wir bei den Länderkollegen leider nur schleppend weiter. Darüber hinaus brauchen wir einen verstärkten Blick auf die ersten tausend Tage des Lebens. Schon da beginnt oft die falsche Ernährung. Herr Monstadt hat das ja auch erwähnt. Deswegen gehört das Thema Ernährungsbildung in die Lehrpläne des medizinischen und pflegenden Personals. Der SPD-Fraktion ist es wichtig, dass für Kinderlebensmittel die klaren Regelungen der von der Weltgesundheitsorganisation 2015 entwickelten europäischen Nährwertprofile gelten. Darüber streiten wir auf europäischer Ebene schon viel zu lange und vor allem ohne Erfolg. Die Leidtragenden sind die Kinder und Jugendlichen. Über 15 Prozent sind übergewichtig, 6,3 Prozent sogar adipös. Die Kinder haben ein hohes Risiko, an Diabetes zu erkranken. Deswegen frage ich mich inzwischen: Welche Interessen vertreten wir hier eigentlich, die der Lebensmittelbranche oder die unserer Kinder? ({0}) Unsere Position ist da ganz klar: Die Gesundheit der Kinder muss an erster Stelle stehen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Fraktion hat bei der Erarbeitung des Diabetes-Antrages für die Forderung gekämpft, den Zuckeranteil bei zuckergesüßten Getränken, die gerade bei Kindern und Jugendlichen beliebt sind, um 50 Prozent zu reduzieren und dies auch gesetzlich zu regeln. Denn nach den Vorkommnissen in der Fleischindustrie ist mein Vertrauen in freiwillige Selbstverpflichtungen der Wirtschaft mächtig geschrumpft. Wir finden für unsere Forderungen viel Unterstützung: bei Krankenkassen, bei Kinder- und Jugendärzten und bei vielen Verbänden. Warum wollen Sie eigentlich nicht auf diese Experten hören, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU? Diese Frage kann ich Ihnen leider nicht ersparen. Dennoch freue ich mich, dass es unsere Forderungen zu den Kinderlebensmitteln und zum Zuckergehalt in Erfrischungsgetränken in den Antrag geschafft haben, wenn auch nur in abgeschwächter Form.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Kollegin.

Ursula Schulte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004404, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber immerhin, sie stehen drin. Das sind kleine, aber wichtige Schritte in die richtige Richtung. In Richtung AfD: Wir hätten heute gerne noch ein bisschen Vitamin D getankt. Hätten Sie uns die Aktuelle Stunde erspart, dann hätten wir das auch noch tun können. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Kollegin.

Ursula Schulte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004404, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, herzlichen Dank, Herr Präsident. Bleiben Sie gesund! ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt ist die Redezeit wirklich abgelaufen. – Das Wort hat als voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte der Kollege Erich Irlstorfer, CDU/CSU. ({0})

Erich Irlstorfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004311, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich stehe heute nicht nur als Abgeordneter am Rednerpult, sondern als betroffener Patient, der Diabetiker ist. Ich bin mir sicher, dass Sie sagen: Ja, typisch, schau ihn dir an. In dieser Gewichtsklasse. Selber schuld! – Sie kennen mich nicht über viele Jahre. Deshalb wissen Sie nicht, dass ich früher ungefähr die Hälfte des Gewichts hatte. Niemand von Ihnen kann sich auch vorstellen, dass ich sportlich aktiv war und über Jahrzehnte jeden Tag auf dem Fußballplatz gestanden habe. Ich habe diesen schleichenden Prozess einfach übersehen. Ich weiß um die Bedeutung, was Diabetes auslöst, und ich weiß auch, dass es teilweise ein Selbstmord mit Messer und Gabel ist. Deshalb, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist es mir wichtig, dass wir an der Wurzel anfangen, dass wir im Endeffekt im Elternhaus – ich sage mal – Leitplanken geben, dass auch wieder richtig gekocht, auch richtig eingekauft wird und dass wir unseren Kindern – als zweifacher Vater ist es mir extrem wichtig – wieder vermitteln, was in einem Lebensmittel drin ist, woher dieses Lebensmittel kommt und welchen Wert dieses Lebensmittel hat. ({0}) Deshalb plädiere ich natürlich auch dafür, dass wir das Thema Diabetes auch wieder in der Schul- und Familienpolitik verankern. Woher sollen es die Kinder wissen? Ich habe diesen Prozess selbst erlebt, dass wir in die Digitalisierung gegangen sind und den Bereich Kochen und Hauswirtschaft aus den Schulen rausgenommen haben, dass wir ihn abgetan haben, indem wir gesagt haben: „Na ja, ist ja nicht so wichtig“, und dass wir dann in eine andere Richtung gegangen sind. Deshalb ist es wichtig, dass Bund und Länder zusammenarbeiten. Es ist auch ein Teil der Schulpolitik. Und deshalb es ist auch notwendig, dass wir den Sportunterricht hier nicht reduzieren, sondern dass wir den Sportunterricht ausbauen oder zumindest in der jetzigen Form beibehalten, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({1}) Ich plädiere aber auch dafür, dass wir die Vereine unterstützen, dass wir ihre Jugendtrainer bei der Ausbildung für das Ganze sensibilisieren, dass wir Bewegungsmöglichkeiten anbieten. Ich glaube, das ist enorm wichtig. Der Weg führt über eine Präventionsstrategie. Ich hoffe aber auch für all die Millionen Betroffenen, dass in der Versorgung und in der Behandlung – da bietet sicher auch die Digitalisierung eine Chance – die Ärzteschaft und die Betroffenen näher zusammenrücken und gemeinsam passgenaue Leistungen entwickeln, die dann auch im Arbeitsalltag Realität werden können. Dass das und das und das richtig ist, das wissen die Betroffenen und bekommen es immer wieder gesagt. Aber es geht um die Umsetzung. Schöne Worte – wunderbar –, aber es geht darum, etwas zu tun. Und dafür ist heute, glaube ich, ein guter Tag, an dem wir mit dieser Diabetes-Strategie starten. Herzlichen Dank für Ihre Zustimmung, und danke auch, dass wir jetzt so weit sind. Danke schön. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Damit schließe ich die Aussprache.

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen! Vorab möchte ich sagen: Deutschland hat ab Juli nicht nur die EU-Ratspräsidentschaft inne, sondern auch den Vorsitz im UN-Sicherheitsrat. Dass es dazu weder von der Bundesregierung eine Regierungserklärung gab noch dass die Regierungsfraktionen dazu einen Tagesordnungspunkt aufgesetzt haben, zeigt eigentlich den Stellenwert, den die UN bei Ihnen hat. Dass dies die Opposition machen musste, ist wirklich ein Armutszeugnis. ({0}) Wir begrüßen es ausdrücklich, dass nun endlich eine Resolution zu dem Appell von UN-Generalsekretär António Guterres für eine globale Waffenruhe in Zeiten der Coronapandemie verabschiedet wurde: ausdrücklich eine ganz wichtige Resolution. Jetzt liegt es aber an der Bundesregierung, diese Resolution auch umzusetzen. Da würde ich doch gerne mal hören, wie die Bundesregierung das machen möchte. Unseres Erachtens wäre es am besten, sie würde für diesen Beitrag ihre Bundeswehrsoldaten aus den Kriegseinsätzen zurückziehen und alle Waffenlieferungen an Länder, die Krieg führen, stoppen. ({1}) Das betrifft zum Beispiel ganz konkret Libyen. Ich muss sagen: Die Appelle von Außenminister Heiko Maas an alle kriegführenden Staaten in Libyen, ihre Waffenlieferungen einzustellen, sind mittlerweile nur noch heuchlerisch, solange die Bundesregierung selbst weiter Waffen an genau diese Brandstifter in Libyen liefert. Ich finde, Sie müssen diese endlich stoppen, wollen Sie überhaupt noch glaubwürdig bleiben. ({2}) Skandalös ist es auch, dass sich die Bundesregierung in dem aktuellen Konflikt zwischen Frankreich und der Türkei – es geht hier um die Kontrolle von Schiffen, die Waffen liefern – neutral verhält und damit dem engsten Partner, nämlich Frankreich, auch noch in den Rücken fällt. Diese Haltung ist unfassbar! ({3}) Wir alle wissen doch, dass die Türkei sowohl Waffen als auch islamistische Milizen nach Libyen transportiert und dass sie nun, weil sie Kontrollen verhindern will, Frankreich militärisch droht. Ein unglaublicher Vorgang! Hier erwarte ich von der Bundesregierung eine klare Verurteilung und auch, dass es zu Konsequenzen für die Türkei kommt, sonst untergräbt sie doch ihren eigenen Friedensprozess, den sie in Berlin angestoßen hat. ({4}) Die Türkei ist ein Aggressor in der gesamten Region. Das betrifft auch die Bombardierungen im Nordirak. Das betrifft die Annexionspolitik im Norden Syriens. Dies sind klare Völkerrechtsbrüche. Diese müssen auch so von der Bundesregierung benannt und im UN-Sicherheitsrat verurteilt werden. ({5}) Die Bundesregierung spricht ja sehr gerne vom Multilateralismus. Auch wir unterstützen ein multilaterales System. Das heißt aber, dass wir erwarten, dass sich die Bundesregierung gegen die zunehmende Blockbildung und Feindbildpolitik gegenüber China und Russland positioniert, also für ein multilaterales System, und dass sie – das ist auch eine der zentralen Herausforderungen der Vereinten Nationen – endlich zur Wiederherstellung des Völkerrechts beiträgt. Wir erleben eine Erosion des Völkerrechts bei den Vereinten Nationen, unter anderem durch die zahlreichen Regime-Change-Kriege der NATO-Staaten. Wollen wir die Vereinten Nationen stärken, dann muss endlich die Stärke des Rechts wieder gegen das Recht des Stärkeren durchgesetzt werden. ({6}) Das betrifft unter anderem auch den Nahen Osten – wir haben das diese Woche schon debattiert –: Die jahrzehntelange israelische Besatzungspolitik und der Siedlungsbau sind völkerrechtswidrig. Nun kündigt die israelische Regierung mit den Annexionsplänen ganz offen einen weiteren Völkerrechtsbruch an. Auch damit muss sich der UN-Sicherheitsrat beschäftigen. Das darf nicht ohne Konsequenzen für die israelische Regierung bleiben, wenn man in der Region eine Zweistaatenlösung überhaupt noch ernsthaft verfolgen will. Die Bundesregierung muss deshalb Palästina endlich als Staat anerkennen und die Rüstungsexporte in den Nahen Osten stoppen. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Kollegin.

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich komme zum Schluss, Herr Präsident.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Ja, schnell.

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Es geht auch um die humanitäre Hilfe für Syrien; die steht auf der Tagesordnung. Wir setzen uns dafür ein, dass die Wirtschaftssanktionen gegen Syrien und auch gegen viele andere Länder endlich beendet werden. Das wäre ein ganz konkreter Beitrag für Armutsbekämpfung und für Frieden in der Welt. Danke. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Andreas Nick, CDU/CSU. ({0})

Dr. Andreas Nick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004362, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 1. Juli hat Deutschland erneut den Vorsitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen übernommen. Als konkretes Ergebnis des European Spring, der aufeinanderfolgenden Präsidentschaften von Estland, Frankreich und Deutschland, hat sich der Sicherheitsrat am Mittwoch auch endlich auf eine schon lange überfällige Resolution zu Covid-19 geeinigt. Dem darin enthaltenen Aufruf zur Unterstützung der von Generalsekretär Guterres geforderten globalen Waffenruhe möchten wir uns auch hier im Deutschen Bundestag anschließen. ({0}) Im Sicherheitsrat wollen wir in den kommenden Wochen klare Akzente setzen. Mit den Komplexen „Klima und Sicherheit“ und „Sexuelle Gewalt in Konflikten“ führen wir dabei die Schwerpunkte unserer Präsidentschaft aus dem vergangenen Jahr fort. Dabei handelt es sich keineswegs um sogenannte weiche Themen oder – wie mancher meinen würde – „Gedöns“. Der Klimawandel und seine Folgen bedrohen als Auslöser und Katalysator für Konflikte in vielen Regionen unmittelbar Frieden und Sicherheit. In aller Deutlichkeit: Der systematische Einsatz von sexueller Gewalt in Konflikten ist und bleibt eine knallharte Menschenrechtsverletzung. ({1}) Besonders wichtig ist uns auch das Thema „Peacekeeping und Menschenrechte“. Die Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer wird dazu eine offene Debatte im Weltsicherheitsrat leiten. Gewaltsame Konflikte sind heute vorrangig innerstaatlicher Natur. Damit sind auch veränderte Anforderungen an Peacekeeping-Missionen verbunden: weg von rein militärischen und hin zu oft auch mehr polizeilichen Aufgaben, zu einem erhöhten Maß an Interaktion mit der Zivilbevölkerung und damit auch entsprechenden Anforderungen an das Verhalten von Peacekeepern. Das ist deshalb auch ein zentrales Thema für den Sicherheitsrat. Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir das als Europäer auch auf die Tagesordnung setzen. Wir werden dabei auch Vertreterinnen der Zivilgesellschaft die Möglichkeit geben, bei den entsprechenden Sitzungen im Sicherheitsrat vorzutragen, und tragen damit auch zur Öffnung und zur Verbreiterung des Dialogs in diesem Gremium bei. Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor 75 Jahren, am 26. Juni 1945, unterzeichneten 50 Staaten auf der Konferenz von San Francisco die Charta der Vereinten Nationen. Noch heute ist sie eine der wichtigen Eckpfeiler der regelbasierten Weltordnung. Zugleich sehen einige der P-5-Staaten die Vereinten Nationen offenbar nur noch als Plattform zur Durchsetzung ihrer nationalen Interessen und weniger als Forum zur gemeinsamen Lösung globaler Herausforderungen. In aller Klarheit: So können die Vereinten Nationen den ihnen von den Gründervätern zugedachten Auftrag nicht erfüllen. Wenn sich etwa auch die USA aus ihrer seit Jahrzehnten angestammten Rolle als Hüter der regelbasierten Weltordnung zurückziehen, dann hat das Konsequenzen. Hüter der Ordnung ist – so hat es Herfried Münkler kürzlich beschrieben – derjenige, der bereit ist, in „common goods“ zu investieren, und der eben nicht nur fragt: „Was nützt es mir?“, und vor allen Dingen nicht: Was nützt es nur mir und sonst keinem anderen? Und er folgert: Eine Ordnung, die einen Hüter benötigt, aber keinen mehr hat, wäre eine hochriskante Konstellation. So erleben wir bereits – oft hinterrücks – den Umbau der internationalen Ordnung. Für uns muss dabei klar sein: Die Bewahrung und Weiterentwicklung einer regelbasierten internationalen Ordnung ist und bleibt das überragende strategische Interesse unseres Landes und aller Europäer. Daraus ergibt sich eine klare Konsequenz: Wir müssen auch als Europäer gemeinsam mit gleichgesinnten Partnern weltweit in deutlich höherem Maße willens und in der Lage sein, Verantwortung zu übernehmen und unsererseits zur Bereitstellung globaler Gemeinschaftsgüter beizutragen. Das gilt nicht nur aktuell während der Präsidentschaft im UN-Sicherheitsrat, sondern weit darüber hinaus. Vielen Dank. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Armin Hampel, AfD. ({0})

Armin Paulus Hampel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004735, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die wenigen Besucher im Deutschen Bundestag grüße ich ebenfalls. Weltmacht Deutschland, so scheint es ja zu heißen, wenn man den Worten des deutschen Außenministers folgt. Wir sind EU-Ratspräsident. Wir sitzen dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen vor. Der Vorsitz im Europarat kommt auch noch. Das alles waren Jubelmeldungen in diesen Tagen, interessanterweise nur vonseiten der Bundesregierung. Kein anderer hat das so richtig registriert, und von Jubel kann keine Rede sein, meine Damen und Herren. Warum? Die UN sind seit Jahren dringend reformbedürftig. Es war der ehemalige deutsche Bundespräsident von Weizsäcker als Vorsitzender der UN-Reformkommission, der das schon vor rund 20 Jahren immer wieder kritisiert hat und genügend Vorschläge gemacht hat, um eine Reform der Strukturen der UN in die Wege zu leiten. Nur ist von deutscher Seite danach nie wieder etwas geschehen. Das müsste bei der Union ja Trauer hervorrufen, tut es aber nicht. Ich weiß nicht, Herr Nick, was Sie getrieben hat, über Themen zu sprechen, die vielleicht auf der Agenda der Weltgeschichte stehen, aber bestimmt nicht als prioritäres Ziel. Wir haben eine Situation zwischen den USA und China, die sich schlecht entwickelt. Wir haben Sanktionen gegen Russland. Herr Poschardt von der „Welt“ hat einmal gesagt, wo wir uns positionieren müssen: zwischen China und den USA. Vielleicht könnten wir eine europäische oder gar eine deutsche Haltung entwickeln. Aber all das gehen wir nicht an. Was wir völlig vergessen haben, ist, dass neben der Lösung der unsicheren Situation im Nahen Osten – bisher finden wir keine – ({0}) eine Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit im Vorderen Orient – wir von der AfD haben das vorschlagen; das hört man auch aus anderen Reihen – dringend notwendig wäre. Die entsprechende Initiative ist bislang ausgeblieben. Derweil werden nach Schätzungen von Open Doors 260 Millionen Christen in der Welt verfolgt – ein Thema für die Vereinten Nationen; von deutscher Seite dazu kein Wort! ({1}) Hinzu kommt, dass in früheren Zeiten Namen wie Kofi Annan und Boutros Boutros-Ghali nicht nur jedem bekannt waren. Vielmehr waren diese Personen auch immer wieder in der Berichterstattung über die großen Problemkonferenzen der Welt zu sehen. Heute kennt den Namen des Generalsekretärs der UN, Guterres, kaum noch einer, und die Wirkung der Vereinten Nationen hat dramatisch nachgelassen. ({2}) – Herr Matschie, Sie sind zu weit weg von den Bürgern in diesem Lande. Fragen Sie einmal nach und lassen Sie sich den Namen buchstabieren. Dann werden Sie eine Überraschung erleben. ({3}) – Das kann sich ja ändern, Herr Kollege. Achtung! Nach 75 Jahren, in denen die Vereinten Nationen vor allen Dingen in den frühen Jahrzehnten viel Gutes bewirkt haben, müssten wir an sich Motor sein. Motor müssten wir auch sein, indem wir Deutschland den Sitz im UN-Sicherheitsrat verschaffen, der für dieses Land angemessen ist. Wir sind die stärkste Nation in Europa. Briten und Franzosen sind im Sicherheitsrat vertreten, Amerikaner, Chinesen und Russen ebenso. Die Initiative, Deutschland einen Platz im UN-Sicherheitsrat zu verschaffen, ist aber seit Jahren erlahmt und wird von dieser Bundesregierung nicht betrieben. Nach unserer Meinung hat Deutschland ein Anrecht auf diesen Sitz und sollte sich zusammen mit Brasilien und Indien vehement dafür einsetzen. ({4}) Last, but not least ist das in Vergessenheit geratene Problem der Feindstaatenklausel, das auch hier immer wieder erwähnt werden sollte, ein Thema. ({5}) Sie steht nach wie vor in der Charta der Vereinten Nationen. ({6}) Jetzt werden Sie mir zurufen: Das wurde schon zweimal für obsolet erklärt. – Die Frau Kollegin Özoğuz ist ja immer so interessiert am Duden. Ich habe einmal nachgeschlagen, was das Wort „obsolet“ bedeutet, Frau Kollegin: nicht mehr gebräuchlich, nicht mehr üblich, veraltet. „Obsolet“ bedeutet: out, passé, von gestern. ({7}) Es ist in der Mottenkiste der Gesellschaft. Die Feindstaatenklausel gehört in die Mottenkiste der Geschichte. Danke schön. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Christoph Matschie, SPD. ({0})

Christoph Matschie (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001434, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, dass wir anlässlich des Vorsitzes im UN-Sicherheitsrat hier noch einmal über die Friedens- und Sicherheitspolitik diskutieren. Aber es ist auch klar: Die Aufgabe, Friedens- und Sicherheitspolitik zu betreiben, reicht natürlich weit über den Sicherheitsratsvorsitz hinaus. Unsere Politik muss dabei zwei Grundsätzen folgen: Zum Ersten. Wir wollen mit unserer Friedens- und Sicherheitspolitik multilaterale Lösungen unterstützen und multilaterale Institutionen stärken. Zum Zweiten. Wir als Land mit einem starken politischen und ökonomischen Gewicht werfen dieses Gewicht in die Waagschale, wenn es darum geht, internationale Konflikte zu lösen; das wird auch weltweit anerkannt. ({0}) Werte Kolleginnen und Kollegen, da scheut die Bundesregierung auch vor heißen Eisen nicht zurück. Der Bundesaußenminister ist vor wenigen Tagen in Israel gewesen wegen der komplizierten Frage der Annexion in den besetzten Gebieten und hat versucht, hier eine klare Position deutlich zu machen. Diese Annexion wäre aus unserer Sicht völkerrechtswidrig, und die Bundesregierung arbeitet mit vielen anderen gemeinsam daran, dass diese Annexion möglichst vermieden wird. ({1}) Ich will an dieser Stelle auch – weil Sie das angesprochen haben – an die Libyen-Konferenz erinnern. Auch hier hat die Bundesregierung in einer völlig verfahrenen Situation die Initiative mit der Berlin-Konferenz ergriffen und alle an einen Tisch gebracht. Es ist klar: Der Erfolg ist noch nicht da, und wir müssen weiter darum werben. ({2}) Aber genau das tut die Bundesregierung. Wir lassen eben nicht locker in dieser Frage und versuchen, eine politische Lösung zu finden. ({3}) Ich erinnere in diesem Zusammenhang auch, Herr Hampel, an andere, schon lange währende Bemühungen, bei denen die Bundesregierung ganz vorne versucht, Lösungen zu entwickeln, nämlich im Ukraine-Konflikt. Auch dort ist das Bohren dicker Bretter angesagt, genauso wie in vielen anderen Konflikten. Die Bundesregierung hat immer wieder neue Initiativen ergriffen, um hier voranzukommen; die Liste ließe sich fortsetzen. Auch bei den globalen Friedensfragen ist die Bundesregierung aktiv. Der Sicherheitsrat hat seit acht Jahren auf unsere Initiative hin das erste Mal wieder über atomare Abrüstung diskutiert. Alle fünf ständigen Mitglieder – wie Sie wissen: Atomwaffenstaaten – haben sich noch einmal nachdrücklich dazu bekannt, dass der Nichtverbreitungsvertrag eingehalten werden muss. Dazu gehört auch die Verpflichtung der Atomwaffenstaaten, abzurüsten. Diese Verpflichtung ist anerkannt und damit die Debatte wieder in Gang gesetzt. ({4}) Auch wenn damit noch kein Abrüstungsschritt erreicht ist – Sie wissen, wie schwierig solche Verhandlungen sind –, ist es doch wichtig, immer wieder diese Themen auf die Tagesordnung zu setzen. Das Auswärtige Amt hat übrigens im März vergangenen Jahres auch eine internationale Konferenz in Berlin abgehalten, wo es um neuartige Waffensysteme, zum Beispiel autonome Waffen, ging, um dafür zu sorgen, dass solche Waffen entweder verboten werden oder in Rüstungskontrollabkommen einbezogen werden. ({5}) Auch das ist ein wichtiger Schritt hin zum Frieden und zu einer friedlichen Lösung. Wir müssen aber auch feststellen, dass der Sicherheitsrat in vielen wichtigen Fragen blockiert ist. Das hat auch mit der Rivalität der Großmächte zu tun. Ich will Ihnen nur ein Beispiel nennen. In dem Krieg mit den wahrscheinlich schlimmsten Folgen aktuell, im Syrien-Krieg, hat Russland seit Beginn des Krieges 14-mal im Sicherheitsrat mit seinem Veto Sicherheitsratsresolutionen und Lösungen blockiert. Da kann die Bundesregierung natürlich appellieren, aber wenn wichtige Staaten wie Russland Veto einlegen, dann kommen eben keine Lösungen zustande. ({6}) Aber auch die gegenwärtige US-Administration untergräbt das Handeln der UN-Institutionen und schwächt dieses Handeln. Deshalb hat der Bundesaußenminister zu Recht, wie ich finde, eine Initiative gestartet, um eine Allianz der Multilateralisten auf den Weg zu bringen. Das ist am Anfang belächelt worden, aber es hat sich bewährt, gerade auch in der Covid-19-Krise. Die Allianz für Multilateralisten hat 60 Außenminister zusammengebracht, die mit ihrer Unterschrift unter einer gemeinsamen Resolution deutlich gemacht haben: Diese globale Gesundheitskrise kann nur gemeinsam bewältigt werden, und ein Impfstoff, der notwendig ist, muss allen gleichermaßen zur Verfügung stehen. – Damit wird Druck aufgebaut, auch auf die UN-Institutionen. ({7}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, auch die Konfliktprävention ist ein aktives Thema für die Bundesregierung. Der Zusammenhang von Klimawandel und Sicherheit ist vom Kollegen Nick hier schon angesprochen worden. Ich finde: Eine ganze Reihe der Forderungen im Antrag der Linken ist von der Bundesregierung längst aufgegriffen, wird längst bearbeitet. Ein Teil Ihrer Forderungen, muss ich aber auch sagen, steckt in einem nationalen Denken und in nationalen Lösungen fest. Sie fordern auf der einen Seite immer die Stärkung der Organisationen der Vereinten Nationen und des UN-Sicherheitsrates, aber Sie haben noch bei jedem Peacekeeping-Mandat der Vereinten Nationen gegen eine deutsche Beteiligung gestimmt. So kann man die UN eben nicht stärken, und so kann man Frieden nicht sichern. ({8}) Werte Kollegin Hänsel, ich kann Ihnen das nicht ersparen: Diesen Konflikt müssen Sie in Ihrer Fraktion irgendwann mal auflösen. ({9}) Denn deutsche Außenpolitik darf nicht national isoliert gedacht werden. Außen- und Friedenspolitik muss europäisch gedacht und konzipiert sein, sie muss die internationalen Organisationen stärken, und sie muss vor allem eben auch reale Machtverhältnisse im Blick behalten. Denn nur so kann kluge Außenpolitik erfolgreich sein. Daran gemessen greift der Antrag der Linken leider zu kurz und an manchen Stellen auch, offen gesagt, ziemlich daneben. Deshalb werden wir diesen Antrag ablehnen. ({10})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Ulrich Lechte, FDP. ({0})

Ulrich Lechte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004799, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Was man sich hier teilweise bei Debatten anhören muss, ist unterirdisch. Ich spreche jetzt nicht vom Kollegen Matschie, der große Teile meiner eigentlichen Rede schon gehalten hat, ({0}) sondern vom Kollegen Hampel. Also, ernsthaft: Jemand, der über Jahrzehnte hinweg in der Welt als Journalist unterwegs war, weiß, dass er vorhin über eine Verschwörungstheorie gesprochen hat, was wir auf Antrag der AfD-Fraktion im Unterausschuss Vereinte Nationen, dem ich netterweise vorsitzen darf, ganz am Anfang der Periode bereits besprochen haben. Die Feindstaatenklausel, die Sie angesprochen haben, Herr Kollege, steht in der UN-Charta drin. ({1}) Sie ist dort reingeschrieben worden nach dem Zweiten Weltkrieg, als Japan und Deutschland die Welt in Brand gesetzt hatten. Und nur auf diese beiden Staaten bezieht sich die Feindstaatenklausel. ({2}) Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hat bereits dreimal mit großer Mehrheit beschlossen, dass diese Feindstaatenklausel nicht mehr wirksam ({3}) und dementsprechend obsolet ist. Welche Überraschung, dass Sie dann aber hier in diesem Hohen Haus diese Verschwörungstheorie immer wieder bringen! Es ist unglaublich, weil man nämlich die UN-Charta nur ändern kann, wenn alle Mitgliedstaaten zustimmen und das dann ratifizieren. ({4}) Wir wissen ja, dass die Welt gerade nicht unbedingt konfliktfrei ist und dass es äußerst, äußerst schwer ist, über 190 Staaten unter einen Deckel zu kriegen. Aber wir müssen uns hier natürlich so was anhören. ({5}) Jetzt zu den Linken. So leid es mir tut, aber ihr schreibt in eurem Antrag – den wir ja beschließen sollen, und der angeblich wieder sehr, sehr gut ist –, dass wir die ganzen privaten Spender aus der Finanzierung der UNO-Unterorganisationen entsprechend rausholen müssen. Die UN ist seit Jahrzehnten chronisch unterfinanziert. ({6}) Deutschland versucht immer wieder, wenn die USA wieder Gelder abziehen, weil Trump seine fünf Minuten in der Keramikabteilung des Weißen Hauses hat, das auszugleichen. Aber am Ende des Tages wollt ihr jetzt in der größten Krisenzeit, wo der humanitäre Bedarf weltweit immens steigt – 15 Millionen mehr Flüchtlinge als im vergangenen Jahr –, die nächste Verschwörungstheorie unterbringen mit Bill Gates und Co, weil ihr das alles sofort stoppen wollt. So steht es in eurem Antrag. ({7}) Und so leid es mir tut: Auch das ist nicht redlich. Ich bin dankbar, dass wir heute hier über die UNO diskutieren durften. Aber dass ausgerechnet von rechts und links versucht wird, nur wieder über Verschwörungstheorien zu debattieren, lassen wir nicht zu; das funktioniert nicht. ({8}) Ganz am Schluss, weil ich jetzt meine ganze Redezeit für eure beiden Fraktionen aufgebraucht habe, möchte ich eins sagen: Deutschland ist nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Einbindung in Bündnisse, durch die Westbindung, durch die Nato und durch unser Verhalten in den Vereinten Nationen wieder so stark geworden, wie es heute ist. Ich bin stolz darauf, dass wir das geschafft haben, und das lassen wir uns durch Verschwörungstheoretiker nicht kaputtmachen. Herzlichen Dank. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Ottmar von Holtz, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Ottmar Holtz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004762, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor allen Dingen der Linken! Der Titel eures Antrags ist ja sehr vielversprechend. Aber wenn man ihn sich dann durchgelesen hat, mich hat er dann irgendwie ratlos hinterlassen. ({0}) Es ist ein einseitiges USA-Bashing. Russland wird nicht ein einziges Mal in dem Antrag erwähnt. Kein kritisches Wort zu China, und ungeprüft und pauschal wollen Sie alle Wirtschaftssanktionen aussetzen, die gegen Assad in Syrien; Frau Hänsel hat es gesagt. Ich frage mich: Auch die gegen Russland? ({1}) Ich frage mich dann: Was wird aus der Krim? Die Passagen zu Palästina sind in dieser verkürzten Form, finde ich, wenig hilfreich. Kein Wort zur Blockade im UN-Sicherheitsrat, weil die Vetomächte dort eine eigene Interessenpolitik betreiben. Kein Wort darüber, wie essenziell es ist, endlich mehr Frauen in die gewaltfreie Lösung von Konflikten einzubeziehen und eine feministische Außenpolitik zu etablieren. ({2}) Vor allem aber eines vermisse ich ganz besonders, etwas, was uns zurzeit zutiefst besorgen sollte und meine Fraktion auch veranlasst hat, zu diesem Tagesordnungspunkt einen Antrag einzureichen: die destabilisierenden Auswirkungen der Covid-19-Pandemie. Herr Dr. Nick, es geht nicht nur um Peacekeeping, es geht auch um Peacebuilding, um mal dieses Fachwort zu verwenden. Das Friedensgutachten 2020 beschreibt eindrucksvoll die schwerwiegenden gesundheitlichen, wirtschaftlichen, sozialen und politischen Folgen der Pandemie. Sie gefährden den Frieden in vielen Ländern, wenn wir da jetzt nicht dringend gegensteuern. ({3}) Nutzen wir Deutschlands Ansehen, um im Sicherheitsrat etwas in Bewegung zu setzen! Sorgen wir dafür, dass die Welt uns am Ende unserer Mitgliedschaft nachsagt, für Friedenspolitik prägend gewesen zu sein, so wie man den Schweden heutzutage nachsagt, in Sachen feministischer Außenpolitik prägend gewesen zu sein! Es wäre verheerend, wenn der Einsatz der zivilen Krisenprävention und der gewaltfreien Konfliktbearbeitung der letzten Jahre durch die Folgen der Covid-19-Pandemie zunichte gemacht wird, weil wir jetzt nicht eingreifen. Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie werden in vielen Ländern mit aller Härte durchgesetzt und treffen benachteiligte Bevölkerungsteile besonders hart: Frauen, Kinder, auch Oppositionelle oder Geflüchtete. Willkürlich werden Sündenböcke für das Virus ausgeguckt, und gepaart mit der wirtschaftlichen Krise verschärfen sich gesellschaftliche Spannungen. Täglich erreichen uns Berichte von neu aufflammenden bewaffneten Auseinandersetzungen. Ausgerechnet in dieser Lage müssen viele Friedensinitiativen und Organisationen ihre Arbeit reduzieren oder einstellen. Wichtige Räume für Austausch, Vermittlung oder Mediation sind weggefallen. Die Organisationen und ihre Partner vor Ort stehen vor einer existenzgefährdenden finanziellen Belastung. Diese müssen wir unbedingt auffangen. Wir müssen diese Akteure massiv stärken; sonst drohen große Rückschritte für die Friedensarbeit und im schlimmsten Fall neue Gewaltspiralen. ({4}) Wir müssen dafür sorgen, dass die Maßnahmen der Pandemiebekämpfung nicht zulasten bestehender Friedensmaßnahmen gehen. Von der Bundesregierung fordern wir, dass sie systematisch nach Chancen Ausschau hält, wo die Covid-19-Pandemie möglicherweise auch einen kann, wo Widersprüche zwischen Konfliktparteien zurücktreten können und wir diese dann gezielt unterstützen können. Tun Sie alles dafür, dass die Coronakrise für die Friedensarbeit nicht zu einer Abwärtsspirale führt! Ich habe nicht die Zeit, auf alle Punkte unseres Antrags einzugehen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nein, in der Tat. Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Ottmar Holtz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004762, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Aber wir werden ihn ja auch in den Ausschüssen beraten. Vielen Dank. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Peter Beyer, CDU/CSU, ist der nächste Redner. ({0})

Peter Beyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004010, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich hatte mir natürlich auch den Linken-Antrag zur Brust genommen, hatte dann aber schon ziemlich am Anfang gar keine Freude mehr daran, weiterzulesen, und habe mich dann da durchgequält. Das lag daran, dass ziemlich am Anfang schon die Formulierung steht, es könnten dann doch noch der deutsche Vorsitz und die deutsche Sicherheitsratsarbeit nach 2019 und jetzt Juli 2020 zu einem friedenspolitischen Profil führen. Man lasse sich diese Formulierung einmal durch den Kopf gehen. Also, ich habe sie als eine große Beleidigung für all diejenigen aufgefasst, die sich nicht nur im April 2019 und in der Zeit dazwischen eingesetzt haben, sondern sich auch jetzt in diesem Vorsitzmonat Juli wirklich intensiv und ehrlich dafür einsetzen, internationale Allianzen im Sicherheitsrat zu schmieden, und sich dafür einsetzen, dass die Welt etwas friedvoller wird und dass eine friedvollere Welt ein Stück weit mehr Realität werden kann. Ich glaube, das ist eine gute Stelle, an der wir jetzt auch einmal Christoph Heusgen, unserem UN-Botschafter, und seinem gesamten Team Danke sagen können. Jedenfalls ich danke ihm und seinem Team von Herzen, dass sie diese schwierige Arbeit für uns vor Ort in New York leisten, meine Damen und Herren. ({0}) Da stellt sich auch die Frage: Kennen die Linken überhaupt die Arbeit im Sicherheitsrat und die Schwerpunkte, die wir uns hier gesetzt haben? Wir werden uns für Multilateralismus weiter einsetzen. Das ist das Oberziel, meine Damen und Herren. Wir werden natürlich auch weiterhin die regelbasierte internationale Ordnung zu stärken versuchen. ({1}) Wir werden uns dem umfassenden Sicherheitsbegriff weiter widmen und diesen weiterentwickeln. Da stecken so wunderbare Themen drin wie: Klima, Gesundheit, Menschenrechte, Schutz der Frauen vor Gewalt, Humanitäres und Abrüstung – alles für sich selbst genommen schon Megathemen. Vor allem, meine Damen und Herren, wollen wir uns auch sehr verstärkt dem präventiven Gedanken der Arbeit des Sicherheitsrates widmen und dabei auch frühzeitig die Zivilgesellschaft einbeziehen. Meine Damen und Herren, mit dieser Agenda knüpfen wir nahtlos an unseren Sicherheitsratsvorsitz von April 2019 an. Da kann man, wenn man das zusammennimmt, guten Gewissens behaupten, dass sich Deutschland während seiner gesamten Zeit im Sicherheitsrat und insbesondere in diesem Vorsitzmonat Juli 2020 für eine aktive Friedenspolitik starkmacht. Aber klar ist auch: Es wird ein schwerer Monat werden. Es wird schwer werden, die Ziele zu verwirklichen, die wir für uns selbst definiert haben – angesichts Israels Annexionsplänen, angesichts des Drängens der Vereinigten Staaten auf eine Verlängerung des Waffenembargos gegen den Iran, das im Oktober auslaufen wird, angesichts einer Blockadehaltung Russlands und auch angesichts der Lage in Libyen. Meine Damen und Herren, umso wichtiger ist es doch und umso klarer muss uns doch sein, dass die europäische Stimme im UN-Sicherheitsrat stark und hörbar und erkennbar nach vorne gebracht wird. Dazu gehört für uns im Kern auch, dass es keine Kompromisse geben kann, wenn es um die Einhaltung internationalen Rechts geht. Man muss immer wieder ganz besonders auf die Betonung des internationalen Rechts pochen, und dort, wo es verletzt wird, dies auch benennen und, ja, auch anprangern. Und ich zitiere António Guterres – Herr Hampel, Sie sehen, ich kenne den Namen –, den UN-Generalsekretär. Er hat neulich bei einem Treffen mit den E10 gesagt, internationales Recht werde im Sicherheitsrat leider nur respektiert, wenn es den großen Drei in den Kram passt – er meint mit den großen Drei Amerika, China und Russland –, und es gebe keinen Respekt mehr vor dem internationalen Recht. Insbesondere, wenn man sich vor Augen hält, dass China sich jetzt starkgemacht hat – –

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege, auch Ihre Redezeit ist zu Ende.

Peter Beyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004010, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Deswegen komme ich tatsächlich zum Schluss.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Ja, darum bitte ich Sie.

Peter Beyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004010, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Trotz und gerade wegen dieser verkorksten Lage im UN-Sicherheitsrat kommt es doch jetzt gerade auf eine engagierte deutsche Arbeit an. Wir können etwas bewirken – nicht alleine, sondern als geeinte Europäer. Herzlichen Dank. Ich wünsche allseits eine freudige Sommerpause. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU. ({0})

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Vorsitz Deutschlands im UN-Sicherheitsrat dauert einen Monat, aber er hat bereits mit einem guten Vorzeichen begonnen, nämlich mit der Entschließung, einen weltweiten Waffenstillstand wegen der Coronapandemie herbeizuführen. Und das zeigt, unter welchen Vorzeichen die deutsche Präsidentschaft stehen soll. Es geht uns um die Werte, die uns wichtig sind: um die Geltung der internationalen Rechtsordnung, um das Völkerrecht, um die gemeinsamen Anstrengungen in Sachen Abrüstung und Klimaschutz, aber auch darum, wie wir eine internationale Ordnung gestalten sollen. Wir wissen, dass Zusammenarbeit nicht bedeutet, dass einer gewinnt, wenn der andere verliert, und dass die einen nur stark sein können, wenn andere schwach sind. Die internationale Ordnung ist kein Nullsummenspiel, sondern sie muss durch gemeinsame Ziele und Interessen geprägt sein, um diese Ordnung voranzubringen. Und da gibt es im Augenblick auch Themen, die wichtig sind, die über den Waffenstillstand, der vereinbart wurde, hinausgehen. Unsere Blicke gehen nach Hongkong, wo am 1. Juli internationales Recht gebrochen wurde, wo das vereinbarte Abkommen „ein Land, zwei Systeme“ durch das neue Sicherheitsgesetz in Abrede gestellt wird und wo Menschen in Hongkong bang fragen: Kann ich noch Freiheits- und Sicherheitsrechte und den Rechtstaat genießen? Unsere Blicke gehen aber auch in den Jemen, wo ein furchtbarer Krieg und eine humanitäre Katastrophe drohen, wo wir die humanitäre Hilfe mit dem Welternährungsprogramm aufbessern müssen und wo wir endlich taugliche Friedensverhandlungen brauchen, weil auch dieser Konflikt nicht aus dem Blickfeld der Weltöffentlichkeit verschwinden darf. ({0}) Wir wissen auch, dass der UN-Sicherheitsrat ein Instrument ist, welches sich im Augenblick in vielen Bereichen gegenseitig blockiert. Deswegen gibt es keine notwendigen Resolutionen gerade im Hinblick auf einen dauerhaften Frieden in Syrien. Und wir dürfen nicht lockerlassen, diese Frage der Reform des UN-Sicherheitsrates zu adressieren. Es geht darum, dass die internationale Ordnung auch im UN-Sicherheitsrat konstruktiv abgebildet wird. Da möchte ich mich noch mal an die Kollegen der Linken wenden, die in ihrem Antrag schreiben, die UN möge sich gegenüber der NATO stärker durchsetzen. Das kann nicht unsere Sprache sein. ({1}) Zum Ersten stehen wir zur NATO und zur Westbindung, weil nur diese Einbindung in das Bündnis uns stark gemacht hat. ({2}) Und zum Zweiten kann es nicht sein, dass wir das Friedens- und Sicherheitskonzept der NATO gegen das Handeln der UN ausspielen. Wir brauchen beides. Deswegen lehnen wir Ihren Antrag ab. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Damit schließe ich die Aussprache.

Dr. Alice Weidel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004930, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Trümmer in der Stuttgarter Innenstadt sind weggeräumt, die Scherben der zertrümmerten Schaufenster und geplünderten Geschäfte zusammengefegt. Aber der Schock sitzt immer noch tief bei den Polizeibeamten, die von einem organisierten Mob mit maximaler Brutalität angegriffen und deren Kollegen ins Krankenhaus geprügelt wurden, und bei den Bürgern, deren scheinbar friedliche Stadt über Nacht zum Schauplatz von bürgerkriegsähnlichen Szenen wurde. Nach der Stuttgarter Krawallnacht können wir nicht einfach weiter so tun, als gäbe es kein grundsätzliches Problem. Nicht nur Stuttgart, jede deutsche Großstadt, das ganze Land hat ein Problem; und das Problem heißt nicht Rassismus, das Problem heißt Politikversagen. ({0}) Die Gewalt auf den Stuttgarter Straßen kam nicht aus heiterem Himmel. Es war auch keine Party- und Eventszene, die sich da ausgetobt hat. Randalierer und Schläger sind keine Partyleute, sondern Kriminelle, die hart bestraft werden müssen. ({1}) Diese Verharmlosung ist im Übrigen eine Verhöhnung von friedlichen Partygängern, von Barbetreibern und Klubbesitzern, die unter dem viel zu langen und harten Lockdown und den fortgesetzten Coronabeschränkungen leiden. Der Mob, der in Stuttgart das staatliche Gewaltmonopol herausgefordert und Polizeibeamte als staatliche Hoheitsträger gezielt angegriffen hat, rekrutierte sich aus zwei Gruppen: aggressive junge Männer mit Migrationshintergrund und organisierte gewaltbereite Linksextremisten. ({2}) Beides ist die Frucht falscher, verantwortungsloser Politik. ({3}) Faktisch unbegrenzte und unkontrollierte Einwanderung hat dazu geführt, dass es in vielen deutschen Großstädten inzwischen ein kritisches Potenzial an jungen Männern vornehmlich aus dem islamisch-orientalischen Kulturkreis gibt, ({4}) die den deutschen Staat und die Mehrheitsgesellschaft mehr oder minder offen verachten. ({5}) Dazu kommt die politische und zum Teil sogar mit Staatsgeld finanzierte Verhätschelung linksradikaler Gruppen, die sich als Kämpfer gegen rechts tarnen. Das hat die Entstehung eines organisierten und militanten linksextremen Milieus begünstigt, das den Rechtsstaat offen herausfordert und rechtsfreie Räume für sich beansprucht. Eine Mehrheit in diesem Haus hat sich erst vor wenigen Wochen geweigert, einem Verbot linksterroristischer Antifa-Gruppen zuzustimmen. ({6}) Die Stuttgarter Krawallnacht ist auch eine von vielen Quittungen, die dafür noch ausgestellt werden. ({7}) Und sie ist eine Quittung für die beispiellose Zündelei, die in den letzten Wochen noch zusätzlich über dieses Land gegangen ist. Die geistigen Brandstifter ({8}) sind vor allem auf der grün-roten Seite des politischen Spektrums zu finden, leider auch in diesem Haus – und das beweisen Sie gerade –; ({9}) dort, wo man sich unreflektiert zur sogenannten Antifa bekennt und den linksextremen und rechtsstaatsfeindlichen Hintergrund dieser fragwürdigen Bewegung leugnet und wo man die Polizei und Sicherheitskräfte demontiert, indem man ihnen pauschal Rassismus vorwirft und sie unter Generalverdacht stellt. ({10}) Dieses verantwortungslose Gerede muss von all jenen, die diesen Staat und seine Rechtsordnung ablehnen, mit und ohne Migrationshintergrund, mit und ohne deutschen Pass, geradezu als Ermunterung verstanden werden, den Aufstand und den Bürgerkrieg zu proben, so wie wir ihn gesehen haben. ({11}) Ein Staat, der die Sicherheit seiner Bürger nicht mehr gewährleisten und Recht und Gesetz nicht überall und jederzeit durchsetzen kann, riskiert seine Legitimation. Unsere Polizeibeamten brauchen für diese Aufgabe mehr als nur Lippenbekenntnisse und Genesungswünsche; sie brauchen volle politische Rückendeckung. ({12}) Das heißt auch: eine Politik, die sich unvoreingenommen gegen jeden Extremismus stellt, der Rechtsstaat und öffentliche Ordnung angreift, ({13}) und diejenigen, die das Gastrecht missbrauchen ({14}) und den Staat und seine Hoheitsträger angreifen, des Landes verweist. ({15}) Tatsachen und Fehlentwicklungen offen anzusprechen, ist der erste Schritt, um die rechtsstaatliche Ordnung wieder in vollem Umfang durchzusetzen. Die Stuttgarter Krawallnacht war auch ein Weckruf, damit endlich anzufangen. Ich bedanke mich. ({16})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Thorsten Frei, CDU/CSU. ({0})

Thorsten Frei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004276, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das, was wir am vorvergangenen Wochenende in Stuttgart erlebt haben, ist bedauerlicherweise nicht nur ein Einzelfall, sondern wir erleben das immer wieder in Städten wie Berlin, Leipzig, Hamburg, beispielsweise in der Silvesternacht oder in den 1.-Mai-Nächten. Wir haben es 2017 in Hamburg beim G-20-Gipfel erlebt. Wir haben es 2015 in Frankfurt bei der Eröffnung des Neubaus der EZB erlebt. Das, was wir in Stuttgart in der Nacht vom 20. auf den 21. Juni gesehen haben, war insofern etwas Besonderes, als es an einem äußeren Anlass ganz offenkundig gefehlt hat. Trotzdem war da etwas, was unsäglich ist. Wenn 400 bis 500 Jugendliche und Heranwachsende marodierend, plündernd, brandschatzend durch die Stuttgarter Innenstadt ziehen, dann ist das nicht akzeptabel; dann brauchen wir eine klare Antwort des Rechtsstaates, weil wir es nicht zulassen dürfen, dass Menschen, die sich so verhalten, dem Rechtsstaat auf der Nase herumtanzen. ({0}) Es geht um Menschen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Es geht darum, dass dort Schaufensterscheiben eingeschmissen worden sind, in einer Zeit, wo wir die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie bekämpfen, wo Einzelhändler und Familien ohnehin versuchen, die Nase über dem Wasser zu halten. Da werden Millionenschäden angerichtet. Allein ein Kiosk muss für 100 000 Euro renoviert werden; die Einnahmeausfälle gar nicht mitgerechnet. So etwas ist unverantwortlich. Deshalb brauchen wir darauf eine klare Antwort, genauso wie auf die Attacken auf Polizisten, die behandelt wurden, als wären sie keine Menschen. Das ist inakzeptabel. Es verlangt die volle Rückendeckung des Staates und der staatlichen Organe, wenn es um unsere Polizei geht. ({1}) Ich finde, an der Stelle sind folgende Dinge richtig und notwendig: Wir müssen genau analysieren, was da passiert ist. Wer war das? Was waren das für Gruppen? Haben die einen politischen Hintergrund, oder haben sie ihn nicht? Wie sind die organisiert gewesen? ({2}) Das müssen wir beantworten. Deswegen möchte ich einfach auch an Ihre Adresse, Frau Kollegin Weidel, sagen: Ich halte es für falsch und fahrlässig, zum jetzigen Zeitpunkt, wo wir all diese Fragen nicht beantworten können, Vermutungen in den Raum zu stellen, die die Dinge nicht besser machen, sondern im Gegenteil schlechter. ({3}) Ich finde, das sollten wir abwarten; das sollten wir überprüfen. Dann gibt es weitere Punkte, die man auch ungeachtet dessen heute bereits sagen kann: Erster Punkt. Kommunale Kriminalitätsprävention ist etwas, was das Sicherheitsgefühl der Menschen verstärkt und was die Pflicht jeder guten Kommunalpolitik ist. Wenn es in Stuttgart so ist, dass es im Schlossgarten Bereiche gibt, die No-go-Areas sind; wenn es Bereiche gibt, die nicht ausgeleuchtet sind; wenn es Bereiche gibt, wo man beispielsweise die Möglichkeiten, die sich aus der Videoüberwachung ergeben, nicht nutzt; wenn man die Möglichkeiten, die sich aus den zeitlich und örtlich begrenzten Alkoholverboten ergeben, nicht nutzt; wenn man die Angebote der baden-württembergischen Landesregierung, eine Sicherheitspartnerschaft aufzulegen, anders als alle anderen baden-württembergischen Großstädte nicht nutzt: Dann ist das etwas, was aus meiner Sicht schon mal nicht akzeptabel ist. Das ist der erste Punkt, mit dem man niedrigschwellig das Sicherheitsgefühl und auch die objektive Sicherheitslage für die Menschen deutlich verbessern kann. ({4}) Zweiter Punkt. Gerade wenn es um jugendliche und heranwachsende Straftäter geht, muss der Rechtsstaat glaubwürdig sein. Wie handelt er glaubwürdig? Nicht indem er herumeiert, sondern indem er die Strafe auf dem Fuß folgen lässt. Das bedeutet, dass man die Möglichkeiten des beschleunigten Verfahrens, wie wir sie heute in der Strafprozessordnung haben, eben auch tatsächlich einsetzt und das Ganze dem Motto folgt: „Heute Radau, morgen Bau.“ Das ist etwas, was die jungen Leute, die so etwas machen, dann vielleicht auch verstehen. ({5}) Der dritte Punkt, den ich ansprechen möchte: Wir sollten uns schon genau anschauen, ob wir, auch was die Möglichkeiten des Strafrechts anbelangt, richtig sortiert sind oder ob wir an der einen oder anderen Stelle vielleicht nachbessern sollten. Ich will zwei Punkte nennen: die tätlichen Angriffe auf Polizeibeamte, insbesondere die, von denen sie schwere Gesundheitsschäden davontragen, aber auch den Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte. Ich bin dafür, dass insbesondere dann, wenn Polizisten schweren körperlichen und gesundheitlichen Schaden nehmen, wir die Mindeststrafe auf zwölf Monate erhöhen und damit das Ganze zum Verbrechen machen. Das wäre ein klares Signal der Wertschätzung. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Frei, die Redezeitregeln der Aktuellen Stunde sind streng. Ihre fünf Minuten sind vorüber.

Thorsten Frei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004276, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Benjamin Strasser, FDP. ({0})

Benjamin Strasser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Krawallnacht von Stuttgart hat ein Gewaltpotenzial in einer Dimension offenbart, das in meiner Heimat, in Baden-Württemberg, bisher seinesgleichen sucht. Wir haben einen Kontrollverlust des staatlichen Gewaltmonopols erlebt, das bisher seinesgleichen sucht. Fünf Stunden lang hat es gedauert, bis in Stuttgart die öffentliche Ordnung wiederhergestellt worden ist, fünf Stunden, in denen Polizisten zu Freiwild erklärt worden sind, in denen Geschäfte geplündert wurden und in denen unbeteiligte Bürgerinnen und Bürger verbal, aber auch körperlich angegriffen wurden. Diese Täter haben ein widerwärtiges und schändliches Verhalten offenbart, das meine Fraktion in tiefer Abscheu verurteilt, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Der Polizei den Rücken stärken – das wurde richtigerweise in den vergangenen Tagen von unterschiedlichen Fraktionen in diesem Haus gesagt, und dahinter versammeln wir uns. Aber es darf auch keine leere Worthülse werden. Wer in einer wichtigen Rassismusdebatte in unserem Land einseitig und stigmatisierend die Polizei in eine Ecke stellt – wie die SPD-Vorsitzende Esken –, ({1}) der stärkt der Polizei eben nicht den Rücken. ({2}) Wer mit Schaum vor dem Mund Thesen vertritt, wie wir es gerade gehört haben, der stärkt der Polizei nicht den Rücken. Aber auch wer Scheuklappen aufsetzt und Ursachen nicht sehen will, die dazu geführt haben, der stärkt der Polizei ebenfalls nicht den Rücken. Man stärkt vielmehr der Polizei den Rücken, wenn man sachlich aufklärt, was tatsächlich geschehen ist, und die notwendigen Konsequenzen zieht, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Diese sachliche Aufklärung habe ich bei Verantwortlichen durchaus vermisst. Da war die Rede von einer „Partyszene“, die für diese Taten verantwortlich gewesen sein soll. Liebe Kollegen, ich war als junger Mann auch mal Teil dieser Stuttgarter Partyszene, und ich kann Ihnen sagen: Die trifft sich nicht am Eckensee in Stuttgart; die trifft sich in der Theodor-Heuss-Straße oder beim Hans-im-Glück-Brunnen oder woanders. Aber umso mehr hätte ich mir schon gewünscht, dass gerade der grüne Oberbürgermeister Kuhn hier mal ein Wort spricht; der sollte die Verhältnisse eigentlich kennen. Dass dieser Mensch schweigt, das zeigt auch eine bestimmte Einstellung, weil das Wort „Partyszene“ nicht nur junge Menschen diskreditiert, die friedlich feiern wollen, sondern weil es ein Problem verharmlost, das aus meiner Sicht in Stuttgart besteht. Peinlich und unprofessionell war aber vor allem der Innenminister des Landes Baden-Württemberg, Herr Thomas Strobl, der sich in einem SWR-Interview zu Wort gemeldet hat und sagte – Zitat –: „Ich habe mich schon im letzten Jahr darüber gewundert, was sich gerade in den Abendstunden dort tut.“ Wir fragen uns: Was hat eigentlich Thomas Strobl im vergangenen Jahr gemacht? Wo war denn der Anlauf einer Sicherheitskooperation in Stuttgart? Er hat schlicht und einfach die Hände in den Schoß gelegt und damit die Polizistinnen und Polizisten in Stuttgart im Stich gelassen, liebe Kollegen. ({4}) Es geht ja noch weiter. Strobl vor einigen Tagen in den „Stuttgarter Nachrichten“ – Zitat –: „Da ist alles dabei – vom Betrunkenen bis zum gewalttätigen Linksextremisten.“ Die Linksextremisten hätten „keine untergeordnete Rolle gespielt“, so Strobl. Das ist ja ein alarmierender Befund. Wir haben im Innenausschuss mal nachgefragt bei der Bundesregierung: Was sind denn das für linksextremistische Gruppen, die dahinterstehen? Antwort: Wir haben keine Erkenntnisse. – Das Land Baden-Württemberg hat momentan keine Erkenntnisse. Lieber Herr Strobl, wenn Sie Erkenntnisse besitzen, dann müssen Sie sie offenlegen, und wenn Sie keine haben, dann gebietet es, dass sich ein Innenminister nicht an Mythenbildung beteiligt, sondern faktenbasierte Aufklärung der Vorwürfe voranbringt, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({5}) 37 von 500 Tatverdächtigen sind ermittelt. Es ist klar: Wir sind am Anfang der Aufklärung, und wir erwarten, dass alle diese 500 Personen zur Rechenschaft gezogen werden. Wir müssen auf unterschiedlichen Ebenen ansetzen; das ist klar geworden. Herr Frei hat einige Punkte genannt, was die Stadt Stuttgart angeht. Aber zur Wahrheit gehört auch: Wenn die Polizei in Stuttgart beispielsweise die fehlende Schutzausrüstung in dem Einsatz bemängelt, dann ist nicht die Stadt Stuttgart verantwortlich, sondern der Innenminister Strobl. Wenn wir zu wenig Richter- und Staatsanwaltstellen in Baden-Württemberg haben – wir brauchen genügend Stellen, damit die Strafe auf dem Fuß folgen kann –, dann ist nicht die Stadt Stuttgart verantwortlich, dann ist Justizminister Guido Wolf von der CDU verantwortlich, liebe Kollegen. Wir müssen uns auch im Bund die Frage stellen: Wo können wir besser werden? Beispielsweise beim Thema „Abschiebungen von vollziehbar Ausreisepflichtigen“. 16 Tatverdächtige haben keinen deutschen Pass, und da müssen wir genau hinschauen, an was das gelegen hat. Aber alles in allem: Es ist ein gesellschaftliches Problem, dem wir uns stellen müssen. Da helfen auch keine Verschärfungen von Strafnormen, sondern da hilft eine gesellschaftliche Debatte, die mehr Rechtsstaat täglich einfordert.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Und Ihre Redezeit ist jetzt auch abgelaufen.

Benjamin Strasser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

An dieser Debatte werden wir uns beteiligen. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Das Wort hat die Kollegin Ute Vogt, SPD. ({0})

Ute Vogt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002823, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Strasser, es ist ein bisschen schade, dass Sie das jetzt zu so einer Art Wahlkampfrundumschlag nach dem Motto „Und jeder kriegt eine mit“ nutzen. ({0}) Ich finde, wir sollten uns eher um das Thema kümmern, um das es hier in der Debatte gehen soll, und wir sollten uns vor allem um diejenigen kümmern, die an diesem Wochenende den Kopf für uns hingehalten haben, nämlich die Polizistinnen und Polizisten. ({1}) Ich hatte am Montag nach diesen Ausschreitungen die Gelegenheit, im Polizeipräsidium auch mit denen zu reden, die direkt beim Einsatz dabei gewesen sind. Wenn man sich die Bilder anschaut und sich vor Augen führt, dass es eine Streife war mit zwei ganz normal ausgerüsteten Polizisten, die zu zweit einfach auf Kontrollgang waren, wie sie es jeden Abend dort machen, und die dann quasi aus dem Nichts heraus angegriffen wurden, wenn man sich vor Augen führt, dass sehr schnell Kolleginnen und Kollegen zu Hilfe kamen und dann 45 Beamtinnen und Beamte eine halbe Stunde lang dastanden und mit Pflastersteinen beworfen wurden, dann muss man wirklich sagen: Allererste Pflicht von uns ist es, denen zu danken, die dastanden, die angegriffen wurden, die keine spezielle Ausrüstung hatten, weil das nicht zur Ausstattung des Abends gehörte, und die trotzdem so besonnen waren, dass sie keinen Warnschuss abgaben, sodass keine Exzesse daraus entstanden. ({2}) Ich finde, es ist eine große Leistung, in so einer Situation ruhig zu bleiben. Diese Polizistinnen und Polizisten haben es nicht verdient, dass man auf ihrem Rücken politische Spielchen austrägt. ({3}) Sondern sie haben es verdient, dass wir uns ernsthaft Gedanken machen, ernsthaft darüber Gedanken machen, wo solche Gewaltexzesse herkommen. Diese Gewaltexzesse haben eben keine eindimensionale Begründung, und es waren eben ganz viele unterschiedliche Menschen. Die Polizei hat am nächsten Tag verkündet: Es waren vor allem viele Männer, viele junge Männer, viele Betrunkene und alkoholisierte Männer. Aber sie waren aus allen Schichten der Gesellschaft, und sie waren alle unterschiedlicher Herkunft. ({4}) In diesem Sinne ist sicherlich ein Punkt – Kollege Frei hat ihn angesprochen –: Ermitteln, bestrafen – und das ganz schnell. Ein zweiter Punkt ist aber auch, dass wir uns um die kümmern müssen, die dort herumstanden, die nicht geholfen, die nicht eingegriffen, die nicht gesagt haben: „Lasst es sein!“, sondern die noch dabeigestanden sind. Wenn Sie sich die Filme anschauen: Die stehen da rum und schauen zu. Nicht wenige zücken das Handy. Die Jungs posieren zum Teil; die Mädels, aber auch andere Jungs filmen sie. Auch das müssen wir ins Auge fassen. So was ist doch eine kranke Entwicklung in unserer Gesellschaft, dass man sich an Gewalt erfreut, die entsprechenden Bilder postet und dafür noch Likes bekommt. ({5}) Das sind genauso wichtige Diskussionen wie die über die Frage der Bestrafung der Täter, derer wir hoffentlich habhaft werden. In diesem Sinne ist es jetzt notwendig, zu überlegen: Was sind die einzelnen Maßnahmen? Kommunale Kriminalprävention – da will ich Ihnen ausdrücklich recht geben. Dazu gehören aber auch die Fragen: Was hat man für ein Beleuchtungskonzept? Welche Alternativen haben die Leute dort? Für alle, die Stuttgart jetzt nicht so gut kennen: An den Eckensee kommen die Leute abends hin, haben mehrere Kästen Bier dabei, setzen sich hin, haben eigene Musik dabei, und in jeder Ecke ist eine Gruppe, die irgendwie einer eigenen Szene zugehört. Deshalb müssen wir uns auch überlegen: Wie kommen wir an die ran? Wie machen wir den Platz sicher? Wie nehmen wir zum Beispiel Videoüberwachung an bestimmten schwierigen Stellen vor? Aber natürlich auch: Wie kommen wir ins Gespräch mit den Leuten? Denn es ist eine Staatsferne, die da deutlich wird. Wer die Polizei angreift, der greift auch den demokratischen Rechtsstaat an. ({6}) Deshalb ist es auch unsere Aufgabe, an dieser Stelle klarzumachen: Wir dürfen das nicht dulden. – Aber wir müssen mit den Leuten ins Gespräch kommen, damit wir merken: „Wie können wir eingreifen?“, und dürfen nicht warten, bis es wieder explodiert. ({7}) Deshalb ist es für unsere Fraktion eine besonders wichtige Aufgabe, an dieser Stelle mit vielen unterschiedlichen Maßnahmen zu arbeiten. Wir versuchen schon seit Jahren, hier auch gesetzlich, also mit Strafen, zu reagieren. Das alleine hat nichts genutzt; deshalb brauchen wir diese Vielfalt von Maßnahmen. Da gehört, selbst wenn die AfD es höhnisch erwähnt, natürlich auch eine mobile Sozialarbeit dazu; denn wir müssen mit den Leuten in Kontakt kommen und ein positives Verhältnis zum Staat wiederherstellen. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Gökay Akbulut, Die Linke, ist die nächste Rednerin. ({0})

Gökay Akbulut (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004653, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der letzten Debatte vor der Sommerpause möchte die AfD wieder einmal ihre rassistische Hetze auf die Tagesordnung setzen. ({0}) Thema dieses Mal sind die Ereignisse in Stuttgart in der Nacht vom 21. Juni. Aber wir alle wissen ja ganz genau, dass es der AfD wieder um rassistische Hetze und vor allem auch um Fake News geht. Wenn Sie hier von nie dagewesener Gewalt in Stuttgart sprechen, dann möchte ich Sie auch an den Schwarzen Donnerstag 2010 in Stuttgart erinnern. Schauen Sie sich auch mal die Bilder von damals an! ({1}) Ihnen fällt eigentlich auch nichts Neues ein. Man könnte Sie auch einfach umbenennen in „Rassistische Alternative für Deutschland“; denn mehr haben Sie nicht zu bieten. Sie instrumentalisieren erneut Ereignisse und machen hier ganze Menschengruppen zum Sündenbock Ihrer Politik, die mit Gewalt nichts zu tun haben. Schauen Sie sich auch noch mal die Pressekonferenz der Stuttgarter Polizei an, die da ganz differenziert berichtet. ({2}) Vor allem: Hätten Sie in der Sitzung des Innenausschusses diese Woche mal besser zugehört, dann wüssten Sie auch, dass von den 37 Beschuldigten über die Hälfte Deutsche sind. ({3}) – Original-, Ur- oder Biodeutsche, wie auch immer Sie es bezeichnen möchten: Es waren gemischte Jugendgruppen. ({4}) Auch die Polizei spricht von einer heterogenen Gruppe. Wenn Sie nicht mal der Polizei glauben, dann ist das Ihr Problem. ({5}) Angesichts eines Migrationsanteils von 45 Prozent in der Stuttgarter Bevölkerung ist diese Zusammensetzung auch normal. Für Sie ist es auch egal, dass die Kontrolle eines deutschen Jugendlichen Ausgangspunkt für die Ereignisse am 21. Juni war. Hauptsache, Sie können wieder über migrantische Jugendliche herziehen! Wir verurteilen natürlich jede Form von Gewalt sowie die Zerstörung von Geschäften oder auch Plünderungen ({6}) und fordern eine umfassende Aufklärung der Ereignisse in dieser Nacht. ({7}) Es haben sicherlich eine Reihe von vielen verschiedenen Faktoren dazu geführt, dass es zu dieser Entwicklung gekommen ist; aber all das muss noch aufgearbeitet werden. Für uns ist natürlich wichtig, dass diese Situation sich nicht wiederholt. Aber härteres Durchgreifen, mehr Polizeipräsenz, Ausweitung der Polizeibefugnisse, mehr Videoüberwachung etc. werden wenig zur Lösung der Probleme der Jugend beitragen. Wichtig ist, sich die Ursachen genauer anzuschauen, vor allem aber auch, präventive Maßnahmen zu ergreifen, wie zum Beispiel Streetworker-Programme, die aber 2012/2013 aus dem Stuttgarter Haushalt gestrichen worden sind. ({8}) Viele Sozialarbeiter und Multiplikatoren in der Jugendarbeit lehnen die Rufe nach mehr „Law and Order“ und nach mehr Härte gegenüber Jugendlichen ab. Die Lokal- und Fachpolitik scheint viel sachlicher mit der Thematik umzugehen als die weit entfernte Bundespolitik heute hier. ({9}) In Stuttgart ist viel von Partizipation, Aufklärung, Dialog und Integration die Rede. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Die AfD ist aber weit davon entfernt, ein Interesse daran zu haben, dass sich die Situation vor Ort für alle verbessert. Viele Jugendliche mit einem sogenannten Migrationshintergrund werden weiterhin tagtäglich Opfer von Rassismus und Diskriminierung. Dazu gehören auch Polizeipraktiken wie Racial Profiling. Hierzu gibt es zahlreiche Studien, unter anderem auch Studien des Deutschen Instituts für Menschenrechte. Rassismus ist in den Behörden, auch innerhalb der Polizeistrukturen, leider kein vereinzeltes Problem, sondern ein strukturelles Problem, das wir ansprechen und angehen müssen. ({10}) Deshalb fordern wir mehr Studien, mehr Analysen, mehr Aufarbeitung und vor allem auch unabhängige Beschwerdestellen. Die AfD betreibt mit ihrem rassistischen Diskurs weiterhin ein gefährliches Spiel zur Spaltung unserer Gesellschaft. Dabei ist sie selbst die größte Gefahr und vor allem das größte Sicherheitsrisiko in unserer Gesellschaft. ({11}) Es vergeht keine Woche, in der wir nicht davon hören, dass wieder ein Neonazi entdeckt wurde, der für die AfD arbeitet. ({12}) Der Bundestagsabgeordnete René Springer hat einen Neonazi eingestellt, der einer rechtsextremen Prepper-Gruppe angehört, die sich auf einen „Rassenkrieg“ vorbereitet und sich dafür auch bewaffnet hat. ({13}) Sie sind der politische Arm solcher rechtsextremen Terrorgruppen. Die größte Gefahr in unserer Gesellschaft geht weiterhin vom Rechtsextremismus aus; das weiß auch der Bundesinnenminister. Denken wir an Hanau. ({14}) Denken wir an Gökhan Gültekin, an Sedat Gürbüz, an Said Nesar Hashemi, an Mercedes Kierpacz, an Hamza Kenan Kurtovic, Vili-Viorel Paun, Fatih Saracoglu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov. Sie alle sind Opfer dieses rassistischen Terroranschlags. Ihre Namen dürfen wir nicht vergessen; denn das alles ist auch Ergebnis Ihrer Hetze gewesen. ({15}) Die AfD trägt rassistische und antisemitische Weltbilder –

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Gökay Akbulut (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004653, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

– in unsere Gesellschaft hinein. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort der Kollege Cem Özdemir, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Cem Özdemir (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002746, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Schock über den Gewaltausbruch von Stuttgart sitzt tief. Alle Gewalttäter gehören gerecht bestraft. Zu den Anstiftern – das möchte ich schon ausdrücklich sagen – gehören für mich auch all diejenigen, die die Gewalttaten – die Kollegin Vogt hat das bereits erwähnt – im Netz gefeiert haben, als ob es eine Heldentat wäre, Schaufenster zu zerstören oder auf Polizisten einzuprügeln. ({0}) Ich möchte ausdrücklich – ich nehme an: im Namen aller demokratischen Kräfte hier im Bundestag – unseren Einsatzkräften von der Polizei, unserer Feuerwehr, unserem THW und unseren Sanitätern für ihre Arbeit danken. ({1}) Es ist aber auch unsäglich, wenn der Geschäftsführer der Stiftung Sächsische Gedenkstätten im Zusammenhang mit Stuttgart von einer – ich darf zitieren – „Bundeskristallnacht“ spricht. Was für eine unglaubliche Verharmlosung des NS-Terrors! Was für eine Verhöhnung der Opfer der NS-Gewalt! ({2}) Ich habe nach den Krawallen mit vielen Betroffenen gesprochen: mit unserer Polizei, mit Ladenbesitzerinnen und Ladenbesitzern, mit Mitarbeitern der mobilen Jugendarbeit. Jetzt geht es erst mal darum, dafür zu sorgen, dass sich so was nicht wiederholt. Wir werden unsere Probleme so regeln, wie wir das in Stuttgart seit Langem überparteilich in gutem Geiste machen: Wir setzen uns zusammen und stellen uns auch selbstkritische Fragen. Das muss man ja machen, wenn so was passiert; das ist gar keine Frage. Wir hören einander zu, und dann ergreifen wir Maßnahmen, um einerseits die Sicherheit zu erhöhen und gleichzeitig auch an die Wurzel des Problems zu gehen. Nur, das, bitte schön, hat nichts mit dem zu tun, worum es Ihnen geht, meine Damen und Herren. ({3}) Denn Ihr Geschäftsmodell ist nicht das Lösen von Problemen, sondern das Verbreiten von Angst und Hass. Das wissen Sie, und wenn Sie ehrlich sind, geben Sie es zu. ({4}) Sie machen es sich mal wieder sehr einfach: Für Sie sind einfach die Migranten schuld. ({5}) Niemand verschweigt hier – ich glaube, alle sind sich hier einig –, dass es unter den Randalierern auch Männer mit migrantischem Hintergrund gab. ({6}) Vor allem aber waren es junge Männer – das ist doch das Entscheidende –, viele davon stark alkoholisiert. Dass man dazu von Ihnen nichts hört, das wundert jetzt, glaube ich, niemanden hier. ({7}) Es sind unsere Jugendlichen, und jeder Einzelne von ihnen, den wir verlieren, ist einer zu viel. Besonders perfide wird es, wenn in die Debatte eine neue Kategorie eingeführt wird, nämlich die sogenannten Passdeutschen. Was soll das denn bitte sein? Jemand, mit dem wir zwar die Staatsbürgerschaft teilen, aber dessen Vorfahren vielleicht nicht in der Schlacht im Teutoburger Wald gegen die Römer mitgekämpft haben? Meine Damen und Herren, merken Sie eigentlich, auf welch unsägliche Tradition Sie sich hier berufen? Schon einmal wurden in Deutschland Bürger ausgebürgert und wurde ihnen die Zugehörigkeit abgesprochen. Das wird es mit uns nie wieder geben in diesem Land, meine Damen und Herren! Ihr identitäres Geschwätz widert mich an. ({8}) Als Identitätsbeschaffungsmaßnahme reicht mir unser Grundgesetz vollkommen aus. Das ist die Geschäftsgrundlage unserer Republik und nichts anderes, meine Damen und Herren. ({9}) Es muss uns Sorgen bereiten, wenn junge Menschen unserer Polizei misstrauen. Ich weiß selber, wie sich Rassismus anfühlt. ({10}) – Ich hoffe, dass Ihr Gelächter hier möglichst wenig junge Leute hören. – NSU und rechte Umtriebe beim KSK haben uns gezeigt, dass wir Probleme mit Rassismus bei Uniformträgern, aber auch bei Menschen ohne Uniform haben. Aber ich sage auch in aller Deutlichkeit: Die deutsche Polizei ist nicht die US-Polizei. Das darf und kann man nicht gleichsetzen, meine Damen und Herren. ({11}) Bei uns darf man exekutives Handeln, auch der Polizei, kritisieren. Ja, man darf es sogar juristisch überprüfen. Aber erst mal leistet man bitte schön den Anweisungen des Polizisten und übrigens auch der Polizistin Folge. Das muss die Regel sein. ({12}) Diejenigen, die den Glauben daran verlieren, dass man es durch eigenen Fleiß und durch die Hilfe der Gemeinschaft zu etwas bringen kann, müssen wir gewinnen. Das dürfen wir nicht an die Polizei delegieren, sondern da sind wir alle als Gesellschaft gefordert. ({13}) Meine Damen, meine Herren, „Gewalt beginnt, wo das Reden aufhört“, sagt Hannah Arendt. In diesem Geiste arbeiten wir in Stuttgart: liberal, respektvoll und erstklassig. ({14})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Axel Müller, CDU/CSU, ist der nächste Redner. ({0})

Axel Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004829, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegen und Kolleginnen! Mein Wahlkreis erstreckt sich auf das Gebiet Oberschwaben/Württembergisches Allgäu. Man sagt, das ist dort, wo der Süden am schönsten sei. Die größte Stadt ist Ravensburg, sie hat 50 000 Einwohner. Zwischen Ravensburg und Stuttgart sind 180 Kilometer Distanz. Stuttgart hat über 600 000 Einwohner. Man könnte meinen, beide Städte liegen nicht nur räumlich weit auseinander, sondern auch gesellschaftlich. Doch in Wahrheit ist das anders. Am Montag dieser Woche, um 4.30 Uhr morgens, hat sich in Ravensburg Folgendes ereignet: Es fand eine Polizeikontrolle eines Verkehrsrowdys statt, der betrunken und hupend mit seinem Pkw durch die Stadt fuhr. Die Streife hielt ihn an, kontrollierte ihn, und plötzlich war sie umringt von zehn Personen, die diese Maßnahme behinderten. Unvermittelt erhielt einer der Beamten einen Stoß gegen den Kopf vom Knie des Delinquenten. Es gelang dennoch dessen Festnahme. Am nächsten Tag wurde er dem Richter am Amtsgericht vorgeführt, um ihn in Haft zu nehmen. Dort trafen er und die Beamten allerdings auf eine Menge, die sich zusammengerottet hatte und vor dem Amtsgericht skandierte: Das ist Rassismus! Ravensburg und Stuttgart sind räumlich weit entfernt, aber gesellschaftlich offenbar sehr nahe, selbstverständlich nicht in den Ausmaßen, aber doch in den Ursachen. Der Polizeipräsident von Ravensburg hat das in einem Zeitungsinterview in der Folge dann wie folgt erklärt: „Staatliche Autorität wird nicht mehr anerkannt.“ Ich glaube, das trifft es sehr gut. Als ich 1992 als junger Amtsrichter, als erkennbarer Berufsanfänger begonnen habe, war es mir ein Leichtes, eine Strafverhandlung zu führen. Mit 53 Jahren, im Jahre 2017, traf ich auf Reichsbürger, Staatsleugner, ohne jeden Respekt auftretende Angeklagte und Zeugen – schon wesentlich schwieriger war die Situation. Anfeindungen in den sogenannten sozialen Netzwerken, in der Öffentlichkeit, im privaten Bereich, Fotografieren und Verbreiten privater Szenen waren nur einige der Unannehmlichkeiten, denen man sich ausgesetzt sah. Am meisten und am ehesten trifft der Verlust staatlicher Autorität diejenigen, die sich schon rein optisch für jedermann repräsentieren: die uniformierte Schutzpolizei mit ihren Einsatzfahrzeugen, die als Erste vor Ort sind, die ihren Kopf hinhalten für diesen Staat und seine Bürger. Nicht gerade üppig bezahlt und in manchen Bundesländern auch nicht besonders gut ausgerüstet, riskieren gerade sie ihr Leben, um das Leben und die körperliche Unversehrtheit anderer zu schützen. Der Präsident der Bundespolizei, Dieter Romann, hat das im Innenausschuss diese Woche wie folgt erklärt: Jungen Polizeibeamten und ‑beamtinnen wird in ihrer Ausbildung beigebracht, dass sie dafür da sind, Recht und Gesetz zur Geltung zu verhelfen und Rechtsbrecher dingfest zu machen, um sie der Justiz zu übergeben. In Stuttgart mussten genau diese jungen Beamten und Beamtinnen feststellen, dass sie das nicht mehr konnten, weil ein anarchischer Mob dies vereitelte. Die Lage war außer Kontrolle trotz des Einsatzes aller verfügbaren Kräfte. Neben der Angst um das eigene Leben oder die körperliche Unversehrtheit erzeugt das bei Polizisten und Polizistinnen das Gefühl der Hilflosigkeit – eine Frustration, die sich leider teilweise auch im Wahlverhalten niederschlägt. Also tun wir doch bitte alles dafür, dass dieses Gefühl der Ohnmacht sich nicht weiter verfestigt. Gesetze und Strafschärfungen bei Übergriffen gegen Polizei und Rettungskräfte sind das eine. Harte, abschreckende Strafen für die Verbrecher in Stuttgart sind das andere und die dringend notwendige Reaktion der Justiz zur Verteidigung unserer Rechtsordnung. Aber am Ende wird das alles nichts nutzen, wenn in dieser Gesellschaft nicht jeder Einzelne bereit ist, Recht und Gesetz als verbindlich zu betrachten. Dazu gehört, dass man die Integrität anderer respektiert, dass man auch ihre Andersartigkeit respektiert, dass man fremdes Eigentum achtet. Und dazu gehört auch, dass man bei der Steuer nicht bescheißt, nicht vorsätzlich zu schnell fährt oder nicht größer baut, als man darf, usw. usf. Und dazu gehört, dass man das staatliche Gewaltmonopol nicht ständig infrage stellt, seine Repräsentanten nicht mit Misstrauen überzieht und nicht immer neue Kontrollmechanismen fordert und die Hürden für staatliche Eingriffe nicht immer höher setzt. Jede staatliche Maßnahme unterliegt der Kontrolle durch die unabhängige Justiz, und das genügt. Diejenigen, die Recht und Gesetz verteidigen – an vorderster Stelle steht da unsere Polizei –, dürfen nicht als Gegner, sondern müssen als das gesehen werden, was sie sind: als Freund und Helfer. Mit den vergleichsweise wenigen, die das alles nicht beachten wollen, wird dieser Rechtsstaat schon fertig – und ich füge zum Schluss hinzu: wenn man ihn denn lässt. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Martin Hess, AfD. ({0})

Martin Hess (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004749, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn man die heutige Debatte zu den Gewaltexzessen in Stuttgart verfolgt, muss man eines feststellen: Bis auf die AfD weigern sich offenbar alle Fraktionen, den Kern des Problems klar und deutlich zu benennen. Entweder sind Sie dazu wirklich nicht in der Lage, oder Sie verweigern sich schlicht der Realität. Stuttgart war kein Event der Partyszene, ({0}) sondern ein Gewaltexzess von Migranten und Linksextremisten. ({1}) Von 37 Festgenommenen haben 22 einen Migrationshintergrund, ({2}) viele haben Flüchtlingsbezug. Auf den Tatvideos sind die Rufe „Allahu akbar“, „Fuck the system“, „Fuck the police“ klar und deutlich zu hören. Wer hier einen politischen Hintergrund verneint, der ignoriert Tatsachen. ({3}) Islamisten und Linksextremisten haben sich in dieser Nacht zusammengetan, um unseren Rechtsstaat zu destabilisieren. ({4}) Und ich sage gerade Ihnen, die Sie das immer vehement leugnen, ganz klar: Wenn wir Stuttgart jetzt nicht zum Anlass nehmen, um hier konsequent gegenzusteuern, dann wird auf unseren Straßen immer mehr Chaos und Gewalt herrschen, ({5}) und das können und dürfen wir nicht zulassen. ({6}) Ich habe mit etlichen Kollegen gesprochen, die in dieser Nacht im Einsatz waren. Die Gewalt- und Zerstörungsorgien von Stuttgart zeigen für Baden-Württemberg eine völlig neue Qualität des Hasses auf Deutschland und die Polizei. Die Bürger und vor allem die Polizeibeamten sind es leid, ständig für Ihr Politikversagen den Kopf hinhalten zu müssen. ({7}) Sparen Sie sich Ihre leeren Solidaritätsbekundungen, und sorgen Sie in Deutschland endlich für mehr Sicherheit! Stuttgart ist nämlich nicht vom Himmel gefallen. Stuttgart ist die logische Folge des Totalversagens aller Altparteien in der Migrations-, in der Integrations- und in der Sicherheitspolitik. Sie schützen bis zum heutigen Tage unsere Grenzen nicht und lassen Hunderte und Tausende Islamisten, Staatsfeinde und Gewaltverbrecher in unser Land. ({8}) No-go-Areas wie zum Beispiel in Duisburg-Marxloh oder Leipzig-Connewitz sind ebenfalls Ihr Werk. Über Jahrzehnte haben Sie zugelassen, dass Clankriminelle und Linksextremisten in unserem Land nahezu ungestört ihr Unwesen treiben. Anstatt linke Gewalt jetzt endlich konsequent zu bekämpfen, kooperieren Sie allesamt mit Linksextremisten – mittlerweile, wie wir wissen, zumindest auf Länderebene ja auch die CDU. ({9}) Und mit all diesen Sicherheitsbedrohungen, die Sie selbst geschaffen haben, lassen Sie unsere Polizei alleine. ({10}) Ich sage es in aller Deutlichkeit: Ihre auch heute wieder vorgetragenen hohlen Phrasen und Lippenbekenntnisse können Sie sich sparen. Nicht an Ihren Worten, sondern an Ihren Taten werden Sie gemessen. Die Kollegen da draußen – genau dieses Feedback habe ich eins zu eins bekommen – fühlen sich von Ihnen gnadenlos im Stich gelassen. ({11}) Das zeigt auch das Verhalten des Innenministers in dieser Woche wieder. Zuerst kündigte er an, eine Strafanzeige gegen eine Autorin zu erstatten, die unsere Polizisten bundesweit menschenverachtend als „Abfall“ beleidigt hat, wenige Tage später ließ er sich dann von der Kanzlerin davon abbringen. Ein Innenminister mit Format, Entschlusskraft und Durchsetzungsvermögen hätte sich ohne Wenn und Aber vor seine Beamten gestellt und selbstverständlich Anzeige erstattet. ({12}) Dass der Minister dieses notwendige Signal der politischen Rückendeckung für unsere Polizei nicht ausgesendet hat, zeigt eindeutig: Wenn es darauf ankommt, lässt auch der Bundesminister des Innern die Polizei im Stich. Die Bürger haben Ihre leeren Ankündigungen satt. Was Deutschland jetzt braucht, ist ein radikaler Wandel in der Sicherheitspolitik, und der beinhaltet insbesondere folgende Elemente: Erstens. Schluss mit dem Generalverdacht gegen unsere Sicherheitskräfte. Wer Polizisten Rassismus oder Rechtsextremismus unterstellt, der schürt polizeifeindliche Stimmungen und ist für mangelnden Respekt vor dem Staat und für Gewalt gegen Polizeibeamte mitverantwortlich. ({13}) Zweitens. Klare politische Rückendeckung und zielführende Einsatzstrategien für unsere Sicherheitskräfte. Unsere Polizei braucht eine konsequente Nulltoleranzstrategie mit klaren Vorgaben für ein robustes Einschreiten. Bei dem Tätertypus von Stuttgart hilft keine Deeskalation, hilft keine Prävention, hilft keine Sozialarbeit, sondern nur harter Zwangsmitteleinsatz. ({14}) Drittens. Sofortiger effektiver Grenzschutz, damit keine Gewaltverbrecher mehr als Flüchtlinge einreisen können, und konsequente Abschiebung aller ausländischen Straftäter. Viertens. Schluss mit falscher Toleranz gegenüber Parallelgesellschaften. Wer sich nicht integriert, sondern unseren Staat aktiv bekämpft, der hat in unserem Land nichts zu suchen. ({15}) Fünftens. Bekämpfen Sie endlich den Linksextremismus. Verhindern Sie, dass Antifa und Co ethnische Unruhen anheizen, um Deutschland zu destabilisieren. Die Gruppen der Antifa sind ausnahmslos zu verbieten. Diese Maßnahmen und Leitlinien sind unmittelbare Voraussetzung dafür – – ({16})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege, auch Ihre Redezeit ist abgelaufen. ({0}) Das Wort erteile ich jetzt dem Kollegen Helge Lindh, SPD. ({1})

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, ich habe Herrn Hess gerade richtig verstanden: Wer sich in diesem Land nicht integriert und den Staat bekämpft, hat in diesem Land nichts zu suchen. – Bitte gehen Sie; ({0}) denn Sie sind weder integriert, noch tragen Sie in irgendeiner Weise konstruktiv zu diesem Gemeinwesen bei, und Sie bekämpfen diesen Staat notorisch. Insofern haben Sie das Urteil über sich selbst gerade gefällt. ({1}) Wenn man sich selbst zitiert, dann ist das entweder ein Ausdruck von Senilität oder Weisheit. In meinem Fall ist es ein Ausdruck von Weisheit. ({2}) Ich habe in meiner letzten Rede gesagt: Für die AfD ist der Mensch nicht Zweck, sondern Mittel und nur Stimmvieh. – Frau Weidel, Sie haben in Ihrer schwülstig-schmierigen Rede genau wie Herr Hess mit seiner Kettenhundvariante genau das wieder bewiesen. Für Sie ist der Mensch nur Mittel. ({3}) Ich selbst habe in den letzten Monaten und Jahren erlebt, wie die Polizei und auch der Staatsschutz an meiner Seite standen, und ich bin dafür zutiefst dankbar. Deshalb empfinde ich umso mehr Bedauern für das erbärmliche Handeln und für die erbärmliche Erniedrigung, die diesen Polizistinnen und Polizisten in Stuttgart zuteilwurde. Gerade weil das so ist, weil sie das erdulden mussten, verdienen sie es nicht, Spielball Ihrer dreckigen Ausspielpolitik gegen Menschen mit Migrationshintergrund zu sein. Das ist widerlich. ({4}) Sie interessieren sich nicht im Geringsten für das Schicksal von Polizistinnen und Polizisten, sondern angesichts Ihrer Umfragewerte sehen Sie da die letzte Möglichkeit, sich irgendwie profilieren zu können. Deutschlands Polizei ist aber klug genug, in diese Falle nicht reinzufallen und sich nicht ausspielen zu lassen. ({5}) Das, was Sie hier präsentieren, ist zutiefst unredlich, und ich nenne es „parasitäre Politik“. Wie Schmarotzer nutzen Sie so ein ernstes Vorgehen in Stuttgart, um daraus politische Geländegewinne zu ziehen. Widerlich, erbärmlich, unredlich ist das! ({6}) Man sieht in Ihrem Umkreis auf Memes und Sharepics Bilder des Nahen Ostens und Nordafrikas, und dazu ist geschrieben – das muss man sich mal vergegenwärtigen –: „Party-Szene“. Wie nenne ich das? Blanker Rassismus! ({7}) Sie haben hier eine Aktuelle Stunde im Namen von blankem Rassismus beantragt. Sie haben auch großartige Unterstützer; es ist jetzt bitter für uns, das feststellen zu müssen. Ich lese in Tweets von Herrn Maaßen – er war leider mal Verfassungsschutzpräsident und ist Mitglied der WerteUnion –, dass man sich gegen die Ideologisierung und Instrumentalisierung des Antirassismus verwahre. Und dann steht da, Stuttgart wäre doch der Beleg für falsche Toleranz und die Ideologie der bunten Gesellschaft. Wie verstrahlt und – ich muss das so sagen – heuchlerisch kann man sein, dass man sich einerseits gegen Ideologie und Instrumentalisierung wendet und anderseits ein Gipfelstück, ein Meisterstück der Instrumentalisierung und Ideologisierung aufführt? Sie leben diese Tradition und steigern diese sogar noch. ({8}) – Wenn Sie mir Hetze vorwerfen, dann ist das für mich eine Ehrenbezeichnung, ({9}) genauso wie Ihr hämischer Applaus für mich immer eine Würdigung ist, die ich sehr stolz entgegennehme. ({10}) Da Sie ja so viel Wert auf deutsche Tradition und Anstand legen: Als eine Kollegin vorhin sagte, einige der Täter seien Deutsche gewesen, war der Zwischenruf – ich habe es genau gehört –: „Deutscher Pass!“. Das sagt alles. Für Sie ist nicht Deutscher, wer die deutsche Staatsangehörigkeit hat, nein, für Sie ist Deutscher, wer ethnisch, biologisch, rassisch – wie auch immer – deutsch ist. ({11}) Damit stehen Sie nicht auf dem Boden dieses Grundgesetzes. ({12}) Sie haben damit gezeigt – quod erat demonstrandum –, dass Sie sich mit diesem Land nicht identifizieren und dieses Land am liebsten verlassen wollen, wie Sie am Anfang ja selbst bekundet haben. ({13}) Ich fand es suboptimal, dass wir hier kleine Formen des Landtagswahlkampfs erlebt haben, und ich appelliere dringend an uns alle hier, dass wir solche Riots wie in Stuttgart – wir haben auch welche in Dijon, Den Haag und anderswo erlebt – nicht für politische Kämpfe und parteipolitische Spiele nutzen. Sicherheit wird auf Vertrauen und nicht auf Verdacht und Angst gebaut, und deshalb gebietet es die Würde dieses Hauses und der Politik, dass wir das nicht für unsere Zwecke ausschlachten – weder für Rassismus noch für Landtagswahlen. Vielen Dank. ({14})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Alexander Throm, CDU/CSU. ({0})

Alexander Throm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004917, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! „Die Polizei, dein Freund und Helfer“: Das habe ich in meiner Kindheit gelernt; das war damals gesellschaftlicher Konsens in Deutschland. Heute müssen wir alle feststellen, dass der Respekt vor unserer Polizei nachgelassen hat und die Angriffe auf die Polizei zugenommen haben. Insofern möchte ich zunächst mal Danke an alle Polizistinnen und Polizisten sagen, die am vorletzten Samstag in Stuttgart ihren Dienst vollbracht und unsere Werte – Sachwerte –, aber auch Personen und Menschen geschützt haben und dabei ihr eigenes Wohl ein Stück weit außer Acht gelassen haben. Das ist Aufgabe von Politik. Für mich war es unvorstellbar, dass wir einen solchen Gewaltexzess erleben müssen, ohne dass es dafür einen äußeren Anlass gibt, ohne dass er durch Hooligans oder durch Links- oder Rechtsextremisten im Rahmen einer Demonstration organisiert wurde. Wir haben erleben müssen, dass ein kleiner, marginaler Anlass einen solchen Gewaltausbruch verursachen kann. Ich stellte mir schon die Frage: Warum passiert das ausgerechnet in unserem sauberen, liberalen, fleißigen, schaffigen Stuttgart? Warum ausgerechnet dort? Nach ein paar Tagen hat mich das gar nicht mehr so verwundert. Herr Kollege Özdemir, da müssen wir schon auch noch mal ein bisschen in die Vergangenheit zurückgehen – gerade zu den letzten zehn Jahren in Stuttgart und zu den politischen Auseinandersetzungen, die wir da hatten. Das hat schon auch Auswirkungen auf eine Stadt und ihre Gesellschaft. Sie wissen ja – ausgehend von Stuttgart 21 –: Da ist nicht alles optimal gelaufen. Es gab einen ersten und einen zweiten Untersuchungsausschuss. Ich war als Landtagsabgeordneter im zweiten Untersuchungsausschuss dabei. Da hat man Einzelfälle zu Generalfällen gemacht. Man hat einen Generalverdacht gegenüber der Polizei in Baden-Württemberg und darüber hinaus geäußert. Manche haben da ihr Verhältnis zur Polizei klären wollen. Wir haben auch eine Diskussion über die Kennzeichnungspflicht gehabt, Herr Kollege Özdemir, bei der Sie Misstrauen gegenüber der Polizei geschürt haben. Das haben die Polizistinnen und Polizisten in Baden-Württemberg auch so empfunden. Wir konnten diese Kennzeichnungspflicht glücklicherweise verhindern. Und wir hatten jahrelang eine Diskussion über Bodycams zum Schutz der Polizistinnen und Polizisten. Die Grünen haben sich verweigert. Jetzt konnte es eingeführt werden, im Übrigen vom Innenminister Strobl gegen Bedenken aus der FDP. Und das Einzige, was heute hier peinlich war, war ein Stück weit Ihr Angriff auf den Minister Strobl, Herr Strasser. ({0}) Die FDP ist ja bekanntlich für nichts verantwortlich, weil sie nirgendwo Verantwortung übernommen hat bzw. zugetragen bekommen hat. ({1}) Dann kann man alles besser wissen, ohne etwas besser machen zu müssen. Insofern hoffe ich, liebe Kolleginnen und Kollegen gerade auch der Grünen, dass Sie Ihr Verhältnis zur Polizei klären. ({2}) Ihre Kollegin Mihalic hat in einem heute veröffentlichten Interview mit der „FAZ“ gesagt: „Wir mussten als Grüne aber erst lernen, dass die Polizei ein positiver Faktor in der Gesellschaft ist“. ({3}) Ich glaube nur, Ihr Lernprozess ist noch nicht abgeschlossen; ({4}) denn erst vor wenigen Wochen haben wir hier auf Antrag der Grünen über einen Polizeibeauftragten diskutiert. Insofern sollten Sie da noch mal in sich gehen, um wirklich die Unterstützung für unsere Polizei, für unsere Sicherheitskräfte zu gewährleisten. Ich möchte mit einem Tweet von gestern schließen, der mich sehr geärgert hat. Fridays For Future Weimar schreibt: Feuerwehr und Rettungsdienst retten Menschen. Die Polizei diskriminiert, mordet, – mordet! - prügelt, hehlt. Lasst uns aufhören die beiden in einem Atemzug als „Helfer“ zu titulieren. Stattdessen sollten wir Antifa und Migrantifa wertschätzen! Deutschland hat ein #Polizeiproblem Bis vorhin gab es keine Reaktion von Fridays for Future Deutschland. Ich habe meine Rede damit begonnen, dass wir damals, in meiner Kindheit und Jugend, den Satz „Die Polizei, dein Freund und Helfer“ gelernt haben. Lassen Sie uns alle zusammenstehen und dabei helfen, dass wir unseren Kindern und Jugendlichen diesen Satz wieder beibringen. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde ist der Kollege Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU. ({0})

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zum Abschluss dieser Aktuellen Stunde will ich noch mal betonen, um was es eigentlich geht: um die Frage, wie in einer Gesellschaft das Zusammenleben organisiert wird und welche Regeln und Haltungen für uns alle gelten, damit ein respektvoller Umgang möglich ist und weiter gedeihen kann. ({0}) Dazu gehört, dass es in dieser Gesellschaft keine Toleranz für Gewalt gibt. Gewalt ist kein Mittel der Auseinandersetzung. Gewalt ist etwas, was wir ächten müssen. Und wir müssen auch darauf schauen, wie Gewalt entsteht. Sie entsteht auch durch Gedanken, die zur Sprache werden, und Sprache, die zu Hass wird, und Hass, der in Taten umschlägt. Deswegen muss es für alle Demokraten klar und deutlich sein, dass wir Gewalt ächten, meine Damen und Herren. Damit wir die Ächtung von Gewalt durchsetzen können, brauchen wir in unserem Staat eine starke, grundrechtsgebundene Polizei. Und diese Polizei hat unseren Respekt und unseren Rückhalt verdient. ({1}) Es ist klar, dass sich die Polizei auf uns verlassen kann. Wir schützen die, die uns schützen. Ich bitte Sie einfach, mal einen Abend wie den in Stuttgart aus den Augen eines Polizeibeamten im mittleren oder auch im gehobenen Dienst zu sehen. Das sind junge Menschen, die nicht wissen, was sie erwartet, die aber aufgrund von Erzählungen befürchten, dass sie angespuckt werden, dass sie angerempelt werden, dass vielleicht jemand ein Messer zückt. Deswegen haben wir die Polizei auch immer stärker mit stichfesten Westen ausstatten müssen. Es sind Polizeibeamte, die nicht wissen, wie sich eine explosive, alkoholgetränkte Stimmung auf sie ganz persönlich auswirken wird. Und wer auch immer so einen Dienst macht, eine ganze Nacht lang, der hat unseren Respekt verdient. Deswegen ist noch mal deutlich zu machen, dass wir hinter diesen Polizeibeamten stehen. ({2}) Wir müssen auch deutlich machen, dass Stuttgart nicht irgendein Gewaltexzess war. Alle Beschönigungen in Richtung „Exzesse einer Partyszene“ sind völlig fehl am Platz. Es handelt sich hier um Delikte wie Landfriedensbruch, wie Brandstiftung, wie schwere Körperverletzung. Das sind schwere Straftaten, die der Rechtsstaat mit allem Nachdruck aufklären und verfolgen muss. Aber zum Rechtsstaat gehört auch, dass wir uns zunächst einmal fragen: „Wer waren die Täter? Was waren ihre Motive?“, dass wir ihrer habhaft werden und dass wir sie dann verurteilen. Eine Vorverurteilung ist nicht etwas, was rechtsstaatlichen Grundsätzen entspricht. ({3}) Was ich in der Tat befremdlich fand – ich muss das noch mal ansprechen –, war die Unterscheidung zwischen Deutschen und Passdeutschen. Das ist ein völkischer Gedanke, von dem wir gehofft haben – alle miteinander –, dass er in diesem Hohen Hause nie mehr zu hören ist. ({4}) Aber ich bitte uns alle auch, dass wir die Konsequenzen aus Stuttgart differenziert betrachten. Und da sind – angefangen beim Kollegen Frei über den Kollegen Müller bis zum Kollegen Throm – viele interessante Ansätze gekommen. Wir müssen über die Frage diskutieren: Welche Rolle spielt Alkohol? ({5}) Wir müssen auch darüber sprechen, welche Rolle gewaltlegitimierende Normen gerade auch bei jungen Männern spielen. Auch diese Frage müssen wir diskutieren. ({6}) Ich glaube, dass wir umfassende kriminalpräventive Konzepte in unseren Städten brauchen. Ein starker Rückhalt, eine ordentliche Ausstattung für unsere Polizei ist das eine, ({7}) Präventionskonzepte sind das andere. Wir gehen das Problem gesamtgesellschaftlich an. Wir wollen nicht Gruppen gegeneinander ausspielen, sondern wir wollen eine effektive Lösung haben, die auf dem Boden des Grundgesetzes steht. Das ist unsere Haltung dazu. Ich kann abschließend sagen: Wir stehen hinter unserer Polizei, weil wir wissen, dass durch sie Freiheit, Sicherheit und Grundrechte verwirklicht werden. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Damit ist die Aktuelle Stunde beendet.