Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 7/2/2020

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Olaf Scholz (Minister:in)

Politiker ID: 11003231

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das ist heute ein besonderer Tag: nicht nur, weil wir über viel Geld beschließen, das wir aufnehmen und ausgeben, um dafür zu sorgen, dass die Konjunktur in diesem Land gut weiterentwickelt werden kann, sondern weil wir gleichzeitig am heutigen Tag eine weitere Entscheidung treffen, bei der ich mich sehr freue, dass sie zwar zufällig, aber vollständig richtig heute genauso mit ansteht. Dass wir heute die Grundrente beschließen, ist ein Zeichen des Respekts gegenüber Bürgerinnen und Bürgern, die sehr hart gearbeitet haben. ({0}) Ich habe vor einiger Zeit gesagt: Wenn man so viel Geld ausgibt, dann wird es ja wohl möglich sein, eine Grundrente zu finanzieren. – Ich habe das etwas weniger elegant ausgedrückt, aber im Ergebnis ist das richtig. Es ist auch ein politisches Zeichen, dass wir etwas ganz Bestimmtes nicht tun: Wir werden gegen diese Krise nicht ansparen, und wir werden den Sozialstaat, der uns so leistungsfähig durch diese Krise führt, nicht antasten, sondern ausbauen, meine Damen und Herren. ({1}) Ich möchte mich bedanken bei den Abgeordneten des Deutschen Bundestages, bei all denjenigen, mit denen wir über den Haushalt in den letzten Tagen sehr sorgfältig beraten haben. Ich will an dieser Stelle auch etwas sagen, das mir sehr wichtig ist. Es wird ja so viel gelästert und es wird so oft schlecht geredet über die politische Demokratie, darüber, dass sie nicht schnell sei, dass alles zerredet werde und was weiß ich noch. Aus meiner Sicht zeigt doch diese Krise, dass die politische Demokratie in Deutschland – die Regierung, die Parlamente, der Föderalismus – eine hohe Leistungsfähigkeit hat. Wir können schnell entscheiden. Weil wir mehr diskutieren und mehr Beteiligte haben als in vielen anderen Ländern, treffen wir auch bessere Entscheidungen. Auch das ist das Ergebnis dieser Beratungen. ({2}) Was wir jetzt machen, ist, dafür zu sorgen, dass die Konjunktur wieder anspringt. Das ist genau richtig; denn mit dem ersten Paket, das wir vor einiger Zeit hier beschlossen haben, haben wir dafür gesorgt, dass wir durch die Zeit des Lockdowns kommen, dass so viele Arbeitsplätze und Betriebe wie möglich erhalten werden und – was selbstverständlich notwendig ist – dass wir all die Mittel auf den Weg bringen, die für unser Gesundheitswesen erforderlich sind, damit wir die Gesundheit und das Leben unserer Bürgerinnen und Bürger schützen können. Aber gleichzeitig haben wir jetzt die Entscheidung zu treffen, dass es, nachdem der Lockdown weitgehend zu Ende gegangen ist, wieder losgeht mit Arbeit und Beschäftigung. Darum ist es richtig, was wir auf den Weg gebracht haben und was dank der Gesetzgebung schon in dieser Woche in Kraft ist, zum Beispiel die Senkung der Mehrwertsteuer. Ein deutlicher Impuls für die Konjunktur und ein Zeichen für die Zukunft! ({3}) Richtig ist auch, dass wir die Mittel bereitstellen, um die Wirtschaft zu stabilisieren und weiter Betriebe zu retten, dass wir eine Überbrückungshilfe auf den Weg bringen, die sicherstellt, dass Arbeitsplätze erhalten bleiben können und dass diejenigen, die zum Beispiel immer noch mit Umsatzrückgängen zu kämpfen haben, jeweils ganz speziell unterstützt werden. Richtig ist auch, dass wir denjenigen Kraft leihen, die wir brauchen, damit wir ein gutes Leben in diesem Land führen können. Die Kommunen sind doch die Orte, wo wir leben. „Kommune“ klingt immer so allgemein. In Wahrheit geht es doch um Dörfer, kleine Städte, mittelgroße Städte und große Städte. Es geht immer um Orte, wo wir leben. Sie tragen den allergrößten Teil der öffentlichen Investitionen. Es ist gut und richtig, dass wir das Geld bereitstellen, dass diese Investitionen und Ausgaben auch in Zukunft von unseren Gemeinden überall in Deutschland getragen werden können. ({4}) Wir haben die Zukunft im Blick. Das ist vielleicht das ganz Besondere dieses Konjunkturprogramms: nicht nur, dass es rechtzeitig gekommen ist, nicht nur, dass es groß ist, nicht nur, dass es zielgerichtet ist, sondern auch, dass die Zukunftsfragen thematisiert sind. Der Klimawandel, den wir aufhalten müssen, der Ausbau der erneuerbaren Energien, der Einstieg in die industrielle Wasserstoffwirtschaft und auch, dass wir dafür sorgen, dass wir bei der Digitalisierung unseres Landes vorankommen – alles Fragestellungen für die Zukunft, an denen wir hier arbeiten und die über das Konjunkturprogramm hinaus finanziert werden. ({5}) Weil – das zum Schluss, auch das eine Zukunftsaufgabe – ganz klar geworden ist, wie sehr unser Land darauf angewiesen ist, was Familien leisten, ist es ganz zentral, dass in diesem Programm ein weiteres Zukunftsthema dabei ist, nämlich die Familien, Ganztagsangebote für Kinder in Krippen, Kitas und Schulen. Auch das wird finanziell unterstützt. Es ist ein gutes Konjunkturprogramm. Es hilft der Wirtschaft, den Arbeitsplätzen und der Zukunft. Wir können mit Zuversicht durch diese Krise gehen. Das ist die Aufgabe dessen, was wir machen. Schönen Dank. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Peter Boehringer, AfD. ({0})

Peter Boehringer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004675, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! 43 Prozent der Ausgaben im Haushalt 2020 sind kreditfinanziert. 43 Prozent, ein nie gesehener Wert! Diese Schulden als Folgen des Lockdowns werden die Bürger jahrzehntelang abstottern müssen. Die Steuereinnahmen werden 2020 nur noch 264 Milliarden Euro betragen, 20 Prozent weniger als 2019, und selbst das ist noch optimistisch. War das alles unvermeidbar? Eine epidemische Notlage von nationaler Tragweite, welche die Einschränkung von Grundrechten sowie des wirtschaftlichen Lebens gerechtfertigt hätte, bestand vermutlich – ich betone: vermutlich – zu keinem Zeitpunkt, spätestens jedoch seit Mitte März nicht mehr. Als der Lockdown des Landes am 25. März verfügt wurde, war die Coronainfektionswelle bereits am Abklingen. ({0}) – Es ist interessant, dass jetzt schon Zurufe kommen. Es ist alles faktisch. ({1}) Das wussten das RKI und damit auch die Bundesregierung spätestens seit dem 20. März. Neue Ergebnisse bestätigen, dass die wahren Durchseuchungswerte in der Bevölkerung um ein Vielfaches höher sind als angegeben, wodurch die Gefährlichkeit des Virus objektiv der einer gewöhnlichen Grippe entspricht. ({2}) In Ischgl etwa mit 45 Prozent Durchseuchungsrate wussten 85 Prozent dieser Infizierten gar nichts von ihrer Infektion. Auch bei den restlichen 15 Prozent verlief die Krankheit zumeist völlig unproblematisch, das heißt symptomfrei. Die Übersterblichkeit liegt in Deutschland 2020 nicht über dem langjährigen Durchschnitt. Die PCR-Tests zum Nachweis von Covid-19 sind so unspezifisch, dass ein Großteil der als infiziert Getesteten einfach nur falsch positiv ist. ({3}) Das ist reine Statistik. Zudem wird vom RKI nicht repräsentativ die zu 99,9 Prozent symptomfreie Bevölkerung getestet, sondern zumeist immer noch die Kranken; das sind extrem wenige. Die Bundesregierung enthält der Öffentlichkeit und dem Bundestag all diese Sachverhalte bis heute vor oder interpretiert statistische Daten falsch. ({4}) Die Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes wird auf dem Altar von Annahmen und Spekulationen geopfert. ({5}) Das von der Koalition heute auf Drucksache 19/20128 erneut vorgetragene Narrativ, wonach nur entschiedenes staatliches Handeln zur Begrenzung der Infektionszahlen geführt hat, ist darum immer noch völlig unbelegt. Vielmehr hat eine staatliche Überreaktion die größte Wirtschaftskrise der Nachkriegsgeschichte herbeigeführt. ({6}) Die Notsituation gemäß Artikel 115 Grundgesetz ist in gesundheitlicher Hinsicht nicht gegeben, und ihr Eintritt war in wirtschaftlicher Hinsicht auch nicht der Kontrolle des Staates entzogen, wie es Artikel 115 verlangt. Ganz im Gegenteil ist schon seit März der Staat die Hauptursache für die Notlage. Die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Artikel 115 Absatz 2 Satz 6 sind daher nicht gegeben. Auch wenn wir gleich von den Nachrednern die verfassungsrechtliche Apologie hören zu all dem, was ich eben gesagt habe und was ich noch sagen werde: Der Bundesrechnungshof meldet verfassungsrechtliche Bedenken an. Sehr klar ist auch die „FAZ“, und auch der Bund der Steuerzahler hat recht, wenn er erklärt, dass Coronakreditgelder nicht für völlig krisenfremde Daueraufgaben verwendet werden dürfen; das ist eine umfassende Meinung in diesem Land. Das Grundgesetz wird missbraucht zum uferlosen Schuldenmachen. Die aufgrund der Lockdown-Fehlentscheidungen leider unabweisbar entstehenden Mehrausgaben für den Bund an betroffene Unternehmen und Bürger könnten ohne zweiten Nachtragshaushalt und in verfassungskonformer Weise aus Mitteln der Asylrücklage bestritten werden. ({7}) Nun zum Inhalt des Nachtragshaushalts. Um einen konjunkturellen Nachfrageimpuls zu erreichen, müssten die Mittel jetzt schnell ausgegeben werden. Doch selbst das ist nicht gewährleistet, und es ist vielfach gar nicht geplant, wie die Haushaltsberatungen gezeigt haben. Aus marktwirtschaftlicher Sicht besonders bedenklich ist, dass Entscheidungen über Zukunftstechnologien offenbar als staatliche Aufgabe angesehen werden. Doch Staatsdirigismus hemmt immer Innovationskräfte, indem er festlegt, was erst im Wettbewerb als Modernisierungsschub experimentell entdeckt würde. Er scheitert am Wissensproblem. ({8}) Staatliche zentrale Planer – und das sind wir hier; das maßen Sie sich an zu sein – können gar nicht wissen, was einmal eine relevante oder umsetzbare Zukunftsinvestition sein wird. ({9}) Die Coronakrise wird genutzt als Vorwand, um die ohnehin geplante hochideologische Politik zugunsten links-grüner Interessengruppen auf Kosten zukünftiger Generationen auf Pump vorzufinanzieren. Das vorgelegte Paket versteht sich auch hier wieder einmal als Teil einer großen Transformation; das ist ja Ihr Wording. Die Subventionen in vermeintliche Zukunftstechnologien wie E-Mobilität, Wasserstoffantrieb werden absehbar an der Realität scheitern. Die private Industrie hat in vielen Jahrzehnten die Batterietechnologie weitgehend optimiert – da gibt es nichts mehr zu optimieren – und den Wasserstoffantrieb praktisch aufgegeben. Der Wasserstoffantrieb wurde von der Privatwirtschaft schon vor Jahrzehnten aufgegeben. Und doch gibt es nun viele Milliarden Euro für die totale Sackgasse Wasserstoff sowie für Elektroautos, obwohl doch die Verbrennerhersteller als größte deutsche Arbeitgeber vom Lockdown extrem hart getroffen sind. Deutsche Anbieter könnten so viele E-Autos gar nicht kurzfristig produzieren. Diese Haushaltsmittel sind darum Subventionen gegen Deutschland und geradezu antisozial Millionen deutschen Arbeitnehmern gegenüber, die demnächst ihre Entlassungen aus ideologischen Gründen erleiden werden. ({10}) Das läuft bereits. Schauen Sie einfach nur in die Meldungen. Riesige Summen gibt es auch für Brüssel, und zwar nicht nur die 13 Milliarden Euro mehr, die schon vor Corona beschlossen waren, sondern auch zusätzlich mindestens 6 bis 8 Milliarden Euro pro Jahr als Coronahilfen. Das sind Geschenke für den Mittelmeerraum, EU-vertragswidrig mit EU-Krediten finanziert – das ist noch mal ein anderes Thema; das wird uns das zweite Halbjahr beschäftigen –, mit deutschem Geld gesichert und in Konkurrenz zu nationalen Geldern stehend – etwa das EU-Arbeitsgeld SURE –, alles erst ab 2028 tilgbar. Nach uns die Sintflut. Die riesigen Summen werden auf EU-Ebene planwirtschaftlich bewirtschaftet. Zitat des Finanzministers dazu: „Das … geht nicht ohne weitere Integrationsschritte“. – Also: Mehrheitsentscheidungen in EU-ropa, weniger nationale Souveränität, noch mehr Finanzmittel für die EU. Meine Damen und Herren, die Deutschen wollen das nicht, und EU-Schulden und Steuern sind sogar glatt illegal. Bezeichnend ist auch das zweite Zitat des Bundesfinanzministers: „Es gibt keine deutsche … Volkswirtschaft mehr, sondern nur noch eine … europäische.“ – Das war ein Zitat. Große Summen gibt es weiterhin für Weltbeglückung, unter anderem für Bangladesch, Senegal, Äthiopien, Nepal, Mosambik – das alles findet sich in diesem Haushalt – und auch für die Atommacht Indien. Das ist alles ein Coronahaushalt. Für die Kommunen möchte der Bund dauerhaft bis zu 75 Prozent der Unterkunftskosten übernehmen. Ein Großteil dieser KdU-Kosten ist migrationsbedingt. Setzen Sie bei den Ursachen an! Damit ist den Kommunen am meisten geholfen, und dann muss auch das Grundgesetz nicht angetastet werden. ({11}) Dann zur verfehlten Energiepolitik der Regierung: Künftig zahlt neben dem Stromverbraucher auch noch der Steuerzahler die EEG-Kosten. 2020 gab es bereits einen Haushaltszuschuss von 11 Milliarden Euro, und das wird künftig immer mehr werden. Am Ende zahlen das doch dieselben Bürger, nur sehen die den vollen Wahnsinn dann nicht mehr direkt in der Stromrechnung wie bisher. ({12}) Es ist also ein hochideologischer Haushalt. In nicht wiederholbaren guten Zeiten hat der Bund samt Bundesanstalt für Arbeit etwa 75 Milliarden Euro an Rücklagen gebildet. In nur einem Jahr werden nun über Neuverschuldung und Rücklagenauflösung 240 Milliarden Euro aufgebraucht, also das Dreifache. So viel zum so oft zitierten Keynes, der ja nun irgendwo die identische Rückzahlung verlangt hat. Die Mehrwertsteuersenkung für sechs Monate ist dagegen tatsächlich keynesianisch: ein reines von der Regierung gewolltes Strohfeuer, der Wumms-Effekt eben. Nachhaltig ist daran gar nichts. Anstatt die Rücklagen aus guten Zeiten jetzt aufzubrauchen, baut der Finanzminister schuldenfinanziert weitere Rücklagen auf. Das ist verfassungswidrig und die teuerste Wahlkampagne aller Zeiten. Das ist nicht Keynes; das erinnert eher an Machiavelli. ({13}) Wir fordern die Bundesregierung – ich komme zum Schluss – auf, alle Einschränkungen des allgemeinen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens unverzüglich zu beenden, die Bevölkerung realistisch über die geringe Covid-Bedrohungslage zu informieren und den vorgelegten Nachtragshaushalt zurückzuziehen. Herzlichen Dank. ({14})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Eckhardt Rehberg, CDU/CSU. ({0})

Eckhardt Rehberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003826, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zweite und dritte Lesungen sind Stunden des Parlaments. Deswegen möchte ich mich zuerst bei meinem neuen Sprecherkollegen Dennis Rohde bedanken. Ich glaube, Dennis, das Ergebnis, was wir hier heute präsentieren, dass wir ohne Plafonderhöhung viele Dinge auf den Weg gebracht haben, verdient Respekt, auch in Anbetracht der Zeitschiene. Deswegen ein herzliches Dankeschön an alle Kolleginnen und Kollegen im Haushaltsausschuss, aber besonders an dich. ({0}) Herr Kollege Boehringer – ich habe das schon mal an dieser Stelle gesagt –, ich gehöre mit 66 Jahren zu den Älteren, und ich bin seit 20 Jahren Diabetiker. Ich möchte heute nicht in den Vereinigten Staaten leben. Ich möchte auch nicht in Schweden leben. Ich möchte auch nicht in Großbritannien leben. Ich bin froh, dass ich in Deutschland lebe, ich bin froh, dass wir diese Krise so angefasst haben, und ich bin froh, dass wir bisher so durchgekommen sind. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Krise ist eine Herausforderung. Gestern vor 30 Jahren wurde die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion verbunden mit der Einführung der D-Mark im Osten Deutschlands durchgeführt. Ich möchte mich bei Ihnen, Herr Dr. Schäuble, noch einmal ausdrücklich bedanken für die Leistung, die Sie in dem Jahr vollbracht haben. Ich spreche das deswegen an, weil Theo Waigel in einem Aufsatz deutlich gemacht hat, dass man damals im Bundeshaushalt kurz vor der schwarzen Null stand. Wir haben dann 24 Jahre, bis 2014, gebraucht, um wieder dahin zu kommen. Manches, was 1990 erfolgt war, haben Ökonomen kritisiert. Wir Ostdeutschen haben profitiert. Wir haben bis 4 000 Ostmark eins zu eins umgetauscht; danach wurde halbiert. Löhne, Renten, Gehälter wurden eins zu eins umgerechnet. Kredite wurden halbiert. Ich war selber Profiteur: 34 000 Ostmark wurden halbiert in 17 000 Westmark. Die Zinsen waren damals hoch; das gebe ich zu. Aber wir haben diese Herausforderung gemeistert, und deswegen bin ich davon überzeugt, dass wir auch diese Krise meistern werden. Aber lassen Sie mich am Anfang ein paar mahnende Worte sagen. Die Kreditfinanzierungsquote des Bundes liegt bei 43 Prozent. Ich weiß nicht, ob wir das auch im nächsten und übernächsten Jahr so weitermachen können. ({2}) Ich bezweifle das. Wir werden nach der letzten Steuerschätzung von diesem Jahr als Bund erst 2023 wieder die Steuereinnahmen des Jahres 2019 haben, Länder und Kommunen schon 2021. Deswegen hat mich gestern in der Sitzung des Haushaltsausschusses manches irritiert. Ich sage das in Richtung der gesamten Bundesregierung: Ich glaube, wir sollten nicht so leicht und locker meinen, dass das immer so weitergeht wie in diesem Haushalt mit einem Umfang von 509 Milliarden Euro und neuen Schulden in Höhe von 218 Milliarden Euro für die Jahre 2021, 2022 usw. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir das tun, dann müssen wir uns auch irgendwann bestimmte andere Fragen stellen: Sind wir dann noch der Bonitätsanker in Europa? Können wir dann alles das, was wir uns in Europa vorgenommen haben – Aufstockung des mehrjährigen Finanzrahmens, Wiederaufbaufonds –, noch zu diesen günstigen Konditionen leisten? Ich glaube, hier sollten wir im deutschen Parlament deutlich machen: Wir müssen in der Zukunft auch Maß und Mitte behalten. Wir müssen nicht sparen, aber Maß und Mitte müssen wir schon behalten. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es sind ja fünf Komponenten, die wir im zweiten Nachtrag beschlossen haben. Es geht dabei um die Kaufkraftstärkung. Übrigens: Dies bricht nicht am 1. Januar 2021 ab, sondern es kommen dann die Absenkung des Soli, die Kindergelderhöhung, die Abschaffung der kalten Progression usw. Das ist noch mal eine Entlastung in Höhe von 16 Milliarden Euro. Die Herausforderung der nächsten Jahre wird die Stabilisierung der Sozialbeiträge sein. Wir wollen sie bei 40 Prozent halten. Das entlastet niedrige und mittlere Einkommen, und das belastet die Wirtschaft nicht weiter. Denn steigende Sozialbeiträge wären eine Belastung der Wirtschaft. ({4}) Wir stabilisieren Unternehmen, und wir entlasten Länder und Kommunen. Christian Haase wird nachher noch auf die Grundgesetzänderung eingehen. Herr Bundesfinanzminister, die Grundgesetzänderung und das Begleitgesetz zum Ausgleich der Gewerbesteuerausfälle überzeugen uns bisher noch nicht, ({5}) besonders nicht an einer Stelle. Ich sage Ihnen auch, warum. Es müssen zwei Hauptfragen gestellt werden. Erstens: Beteiligen sich die Länder wirklich zur Hälfte? Zweitens – und das ist das Wesentliche –: Kommen dann die Hilfen des Bundes und die zugesagte Hälfte der Länder auch wirklich bei den Kommunen an, die die Gewerbesteuerausfälle haben? Es kann nicht sein, dass heute schon Länder darüber debattieren, ob sie die 50 oder 100 Millionen Euro, die sie ihren Kommunen zur Verfügung gestellt haben, mit den Gewerbesteuerausfällen verrechnen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben eine Gesamtverantwortung im föderalen System. Bund, Länder und Kommunen sind ein Dreiklang, und da können sich die Länder nicht einfach vom Acker machen. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben uns als Koalition gesagt: Wir wollen keine Plafonderhöhung. Wir wollen, dass Strukturen im Sport – Volleyball, Basketball – weiter erhalten bleiben können. Die profitieren nicht von Geisterspielen und Fernseheinnahmen. Ich glaube aber, die 200 Millionen Euro werden helfen, dass die Vereine ihre Budgetpläne für die nächste Saison aufstellen können. Und: An solchen Vereinen hängen auch immer Kinder- und Jugendabteilungen dran; deswegen ist das gesellschaftspolitisch notwendig gewesen, diese 200 Millionen Euro zur Verfügung zu stellen. Wir wollen weiter 600 Millionen Euro in die Hand nehmen – das kriegen wir auch relativ kurzfristig umgesetzt – für die Sanierung kommunaler Einrichtungen. Wenn wir das alles zusammenfassen, auch das, was wir im zweiten Nachtrag miteinander beschlossen haben, dann sehen wir: Das reiht sich in die Kette der Maßnahmen ein, die im ersten Nachtrag begonnen wurden und jetzt im zweiten Nachtrag fortgeführt werden. Auch noch ein Satz zur Mehrwertsteuersenkung. Wenn ich so die Wochenendblättchen sehe, die über die letzten Tage bei mir ins Haus geflattert sind, wenn ich sehe, was schon alles weitergegeben wird, so bin ich im Gegensatz zu Ihnen, Kollege Boehringer, auch überzeugt, dass diese Mehrwertsteuerabsenkung doch die Binnenkonjunktur anfachen wird. Und mein Appell an die Bürger in diesem Land ist ganz einfach: Lassen Sie mal einen Augenblick iPhone, iPad, Laptop liegen, gehen Sie zu Fuß in die Innenstadt, kaufen Sie in den Geschäften ein, oder setzen Sie sich, wenn Sie wie ich auf dem flachen Land wohnen, ins Auto und fahren in den nächstgelegenen Laden und lassen dort Ihr Geld. Ich glaube, dann tun wir der Binnenkonjunktur was Gutes. Dies als letzter Appell an dieser Stelle. Deswegen: Noch mal herzlichen Dank für die tollen kurzfristigen Beratungen. Und ich glaube, wir können ein Superergebnis präsentieren. Danke. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Christian Dürr, FDP. ({0})

Christian Dürr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004705, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Bundesminister Scholz, bei der Verabschiedung des ersten Nachtragshaushaltes haben Sie hier gesagt, dass Sie die Rücklage im Bundeshaushalt, die für dieses Jahr damals 38 Milliarden Euro betragen sollte, diese Rücklage, die ja von den Bürgerinnen und Bürgern mal finanziert worden ist, nicht nutzen wollen, um zu verhindern, dass der Deutsche Bundestag während dieser Krise ein weiteres Mal die Notsituation nach den Regelungen zur Schuldenbremse feststellen muss und ein zweiter Nachtragshaushalt vorgelegt werden muss. Heute legen Sie einen zweiten Nachtragshaushalt vor und schlagen dem Deutschen Bundestag vor, dass die Notsituation gemäß der Schuldenbremse erneut festgestellt werden muss, und: Die Rücklage von 38 Milliarden Euro wird um weitere 10 Milliarden Euro erhöht. Das ist das Gegenteil dessen, was Sie versprochen haben, Herr Scholz. ({0}) Deswegen ist dieser Bundeshaushalt falsch, liebe Kolleginnen und Kollegen, ({1}) und zwar sehr konkret aus zwei Gründen. Er verstößt gegen das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Und ich sage das auch in Richtung der Kollegen von Union und SPD: Der Bundesrechnungshof hat uns ins Stammbuch geschrieben – Zitat –: Der zweite Nachtragshaushalt beeinträchtigt wesentliche Verfassungsgrundsätze wie Jährlichkeit, Fälligkeit, Wahrheit und Klarheit. – Ein Staatsrechtler, der über alle Parteigrenzen hinweg anerkannt ist, hat ebenfalls festgestellt, dass dieser Bundeshaushalt verfassungswidrig ist. ({2}) Ich verstehe nicht, warum man in der SPD in Deutschland nur Karriere machen kann, wenn man verfassungswidrige Haushalte vorlegt, so wie ihr Bundesvorsitzender Norbert Walter-Borjans. ({3}) Viermal hat er das geschafft und ist vom Landesverfassungsgericht in Nordrhein-Westfalen verurteilt worden. Aber ich sage das auch, Herr Kollege Rehberg, weil ich zwar in weiten Teilen Ihrer Rede folgen kann, die Sie hier gehalten haben, ich aber nicht verstehe, warum die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hier zum Helfershelfer eines möglichen Verfassungsbrechers wird. Das ist Ihr Fehler, liebe Kollegen der Union! Ich halte das für einen Riesenfehler. ({4}) – Sie haben doch den Bericht des Bundesrechnungshofes gelesen, Herr Kollege Rehberg. Warum nimmt die Union den Bundesrechnungshof, der über jeden Zweifel erhaben ist, ({5}) warum nehmen Sie diese Stellungnahme nicht zur Kenntnis? Ich halte das für einen gigantischen Fehler, Herr Rehberg. ({6}) Und es ist unfair, Herr Kollege, und unsinnig; denn diese Rücklage haben auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland finanziert. Und jetzt, anstatt sie direkt zu entlasten, zum Beispiel auch kleine und mittlere Einkommen, so wie wir es beim Mittelstandsbauch vorschlagen, anstatt Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in dieser Krise zu entlasten, enthalten Sie ihnen das Geld vor und geben Olaf Scholz eine Wahlkampfrücklage für 2021. Es ist auch sozial ungerecht, was Sie mit dem Bundeshaushalt an dieser Stelle machen, liebe Kollegen. ({7}) Und zum Schluss. Anders als die AfD – und da will ich ganz kurz auf Herrn Boehringer eingehen – schlagen wir Ihnen ja vor, was man stattdessen machen kann, und zwar sehr konkret, wie man mit 45 Milliarden Euro weniger Schulden im Jahr 2020 auskommen kann und trotzdem, weil man die Rücklage der Menschen nutzt, die hier geschaffen worden ist, um 38 Milliarden Euro mehr entlastet. Herr Kollege Boehringer, letzter Satz. Die AfD hat keinen einzigen Änderungsantrag zu diesem Bundeshaushalt vorgestellt. Erneut verweigern Sie die Oppositionsrolle. Sie leisten nicht, Sie arbeiten nicht. Ein ehemaliger Bundeskanzler hat mal von „faulen Säcken“ gesprochen. Ich mache mir das nicht zu eigen. Aber es kommt dem schon ziemlich nahe. Vielen Dank. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch, Die Linke. ({0})

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Seit Monaten bewegen wir hier gigantische Summen. Aber bei Menschen, die in Armut leben, kommt wenig oder gar nichts an, und das kann nicht richtig sein, meine Damen und Herren. ({0}) Die Linke fordert einen Pandemiezuschlag in Höhe von 200 Euro pro Monat für Menschen, die von Hartz IV oder Grundsicherung leben müssen. Das wäre christlich und sozial, meine Damen und Herren von der Union. ({1}) Ulrich Schneider, der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, hat uns vorgerechnet: Bei voller Weitergabe der Mehrwertsteuersenkung – aber nur bei dieser! – hätte ein Hartz-IV-Empfänger dann 8,52 Euro mehr im Monat. Arme Menschen, die keinen Anspruch auf kostenfreie Masken haben, könnten sich also davon gerade einmal acht Einmalmasken kaufen, um sich vor dem Virus zu schützen. Auch dieses Beispiel zeigt, dass wir vor dem Virus nicht alle gleich sind, meine Damen und Herren. ({2}) Ich denke auch an die vielen Menschen, die im Niedriglohnsektor arbeiten müssen. In der Mehrheit sind das Frauen. Frauen sind die Hauptverliererinnen dieser Krise, und das können wir als Linke nicht hinnehmen. ({3}) Wenn diese Niedriglöhnerinnen und Niedriglöhner jetzt hören, dass der Mindestlohn zum 1. Januar 2021 um 15 Cent pro Stunde angehoben werden soll, dann muss das doch wie Hohn in ihren Ohren klingen. Der Mindestlohn soll bis 2022 auf 10,45 Euro steigen. Das müssen wir uns mal vor Augen halten: In siebeneinhalb Jahren eine Steigerung von 1,95 Euro. Das ist wirklich nicht genug, und darum fordern wir als Linke einen Mindestlohn von 12 Euro, und zwar sofort. ({4}) Gerade Menschen im Niedriglohnsektor sind besonders hart von Arbeitslosigkeit betroffen. Nicht alle haben Anspruch auf Kurzarbeitergeld; Minijobber haben darauf gar keinen Anspruch. Doch auch das Kurzarbeitergeld reicht für viele Menschen nicht, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Eine Küchenhilfe zum Beispiel mit einem Nettoeinkommen von 1 300 Euro im Monat bekommt 780 Euro Kurzarbeitergeld. Wenn man dann die Miete abrechnet, ist mit dem Geld im Monat nicht mehr viel zu machen. Kollege Rehberg hat ja an alle appelliert, sie sollen jetzt mal ordentlich einkaufen gehen. Ich glaube, Menschen mit diesem Einkommen haben andere Sorgen, als in Einkaufscenter zu fahren. Sie müssen Essen und Trinken kaufen und können nicht mit dem Auto irgendwo hinfahren und die Taschen vollhauen. Das war, glaube ich, für viele ein etwas zynischer Appell, Kollege Rehberg. ({5}) Besonders hart trifft die Krise den Einzelhandel und die Gastronomie. Jetzt, im Windschatten der Pandemie, sollen 62 der 172 Kaufhof-Filialen geschlossen werden. 6 000 Beschäftigte, darunter wiederum viele Frauen, fürchten um ihre Arbeitsplätze. Die Vertreter des marktradikalen Flügels zucken da nur mit den Schultern. Wir aber sagen: Lebendige Städte brauchen eine lebendige Verkaufskultur, und Amazon schafft Geisterstädte. Das wollen wir verhindern, meine Damen und Herren. ({6}) Wir hatten ja am Montag eine Anhörung im Haushaltsausschuss. Da haben uns viele Ökonomen kluge Sachen gesagt. Zum Beispiel hat die Ökonomin Friederike Spiecker darauf verwiesen – ich darf zitieren, Herr Präsident –: Wer in einer fragilen gesamtwirtschaftlichen Situation Lohnzugeständnisse gegen Beschäftigungserhalt einzutauschen versucht, scheitert gesamtwirtschaftlich. Und darum, sagen wir Ihnen, ist unsere Forderung ökonomisch mehr als sinnvoll, das Kurzarbeitergeld auf einheitlich 90 Prozent des Nettoentgeltes anzuheben, meine Damen und Herren. ({7}) In dieser Woche rief mich eine 85-jährige Rentnerin an. Sie war völlig entsetzt, dass von einer Rentenerhöhung von 24,18 Euro durch Gegenrechnung von Sozialleistungen nur 3,85 Euro übrig bleiben. Sie könne schon lange nicht mehr ins Theater gehen, und die Haare würde sie sich auch selbst schneiden. Die Rente reiche vorne und hinten nicht. So geht es vielen Armutsrentnern in Deutschland. Und das ist für unser reiches Land eine Schande, meine Damen und Herren. ({8}) Da grenzt es ja schon fast an ein Wunder, dass die Grundrente heute beschlossen werden soll. Die Union hat dem SPD-Minister bis zum Schluss ein Bein gestellt. Er geht jetzt etwas humpelnd vom Platz; denn die Kürzungswut der CDU hat dazu geführt, dass viele Menschen, die darauf gehofft hatten, die Grundrente nicht bekommen werden und in der Grundsicherung feststecken. Wir brauchen also endlich eine armutsfeste Rente. Das sind wir den Menschen in diesem Land schuldig, die ihr ganzes Leben lang gearbeitet haben. Die Linke fordert eine solidarische Mindestrente von 10,50 Euro im Monat. ({9}) - 1 050 Euro. Das war jetzt der Test, ob alle auch gut zuhören. ({10}) Wir fordern also eine solidarische Mindestrente von 1 050 Euro im Monat. ({11}) In unserem Entschließungsantrag fordern wir auch einen Rettungsschirm für Solo-Selbstständige und Studierende. Alle diese Forderungen sind begründet und finanzierbar. Es gibt ja einiges im Nachtragshaushalt, was auch wir unterstützen; darüber haben wir gestern im Ausschuss diskutiert. Aber anderes stößt auf unseren entschiedenen Widerstand. Sie von der Koalition wollen zum Beispiel rund 10 Milliarden Euro für verschiedene Kriegsgüter ausgeben. Wir brauchen diese Kriegsgeräte nicht, um unsere Sicherheit zu garantieren. Ich sage Ihnen, was das in Wirklichkeit ist: Das sind die teuersten Beruhigungspillen, die je einem cholerischen US-Präsidenten von der Bundesregierung angeboten wurden. Aber sie werden nicht wirken; da bin ich mir ganz sicher. Lassen Sie uns das Geld sinnvoller ausgeben! Gestern haben mir gegenüber wieder viele junge Menschen zum Ausdruck gebracht: Wir wollen eine soziale und eine ökologische Zukunft; wir wollen einen sozialen und ökologischen Umbau. – Das unterstützt Die Linke, meine Damen und Herren. ({12}) Ich sage Ihnen auch: Die beste Sicherheitspolitik ist eine konsequente Friedenspolitik. Auch dafür steht Die Linke. Ich will noch etwas zur Lufthansa sagen. Die Bundesregierung hat zugelassen, dass der Milliardär und Lufthansa-Großaktionär Thiele die Lufthansa in Geiselhaft genommen hat. Er hat sich bis zur außerordentlichen Hauptversammlung von Lufthansa gegen den Einstieg des Staates gewehrt. Er hat bis zum Schluss hoch gepokert, um noch mehr Zugeständnisse von der Bundesregierung zu erzwingen. Er befürchtete zu viel Einfluss des Staates auf die Lufthansa. Augenscheinlich haben die Minister Scholz und Altmaier dem Spekulanten Thiele versprochen, dass der Staat im Aufsichtsrat gar keine Rolle spielen wird, keine aktive Rolle, also: Klappe halten und zahlen. Ich finde, das ist der falsche Weg. So darf man mit 9 Milliarden Euro Steuermitteln nicht umgehen, meine Damen und Herren. ({13}) Die Lufthansa befindet sich jetzt in der Geiselhaft eines einzelnen raubeinigen Großaktionärs. Dessen oberstes Prinzip ist der Personalabbau. Ich finde, das muss die Bundesregierung verhindern. Wir können nicht so viel Geld in die Hand nehmen und dann zusehen, wie 22 000 Beschäftigte ihre Arbeit verlieren. Darauf haben wir nicht gewettet. Die Lufthansa muss kontrolliert werden. Unser Geld, unser Steuergeld darf nicht dafür verwendet werden, dass Arbeitslosigkeit entsteht. Dagegen müssen wir uns entschieden zur Wehr setzen, meine Damen und Herren. ({14}) Es ist auch klar, dass nach der Bundestagswahl die Rechnung präsentiert wird. Die Union leidet ja jetzt schon – auch das haben wir am Montag in der Anhörung bemerkt – unter der fehlenden schwarzen Null. Sie würde lieber heute als morgen wieder kräftig die Schuldenbremse wie Daumenschrauben anziehen. Unsere Position ist ganz klar: Die Schuldenbremse ist ein ökonomischer Irrweg. Wenn wir schon über das Grundgesetz in Zukunft mehrfach abstimmen, dann lassen Sie uns doch etwas Vernünftiges entscheiden, nämlich die Schuldenbremse endlich wieder aus dem Grundgesetz zu streichen. ({15}) – Ja, ja. Wir wissen, dass 45 Deutsche genauso viel Vermögen haben wie die ärmere Hälfte der Bevölkerung insgesamt. Ich glaube, aus dieser Rechnung allein wird ganz deutlich, dass die Forderung der Linken nach einer Vermögensabgabe mehr als gerechtfertigt ist. ({16}) Sie ist auch von unserem Grundgesetz gedeckt. Eines kann ich Ihnen versprechen: Die Linke wird immer für ein gerechtes, soziales und solidarisches Land kämpfen. Darauf können Sie sich verlassen. ({17})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Sven-Christian Kindler, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Sven Christian Kindler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004070, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sagen als Grüne klar: In dieser schweren Wirtschaftskrise ist ein Konjunkturpaket dringend notwendig. Unternehmen, Beschäftigte, die Bevölkerung brauchen jetzt dringend Unterstützung. Dafür muss der Staat in dieser schweren Wirtschaftskrise auch große Kreditsummen aufnehmen. Das ist richtig, und das unterstützen wir. ({0}) Ich will hier als Oppositionspolitiker differenzieren: Wir können es auch anerkennen, wenn die Regierung mal etwas besser macht, als wir es befürchtet haben. ({1}) Zum Beispiel haben wir befürchtet, dass viele Sachen reinkommen, die wir nicht wollen: Steuersenkungen für Reiche, pauschale Unternehmensteuersenkung oder eine Abwrackprämie für fossile Verbrenner. Alles das ist nicht drin. Gerade der letzte Punkt zeigt auch: Es gibt einen großen Erfolg der Klimabewegung, dass die Autolobby nicht mehr mit jedem Schwachsinn durchkommt. Das ist gut so. ({2}) Wir haben auch lange hier im Bundestag gefordert, dass die Kommunen mit hohen Sozialkosten mehr vom Bund unterstützt werden und es einen höheren Anteil des Bundes bei der Übernahme der Kosten der Unterkunft braucht. Das unterstützen wir. Es ist gut, dass das jetzt kommen wird. ({3}) Aber, Herr Scholz, nichtsdestotrotz ist damit eine langfristige Lösung vom Bund – und ich sage ausdrücklich: auch von den Ländern – bei den kommunalen Altschulden noch nicht auf dem Tisch. Auch da muss nachgebessert werden. ({4}) Also, wir sagen: Insgesamt ist das Paket besser als befürchtet, das aber auch deswegen, weil wir natürlich einen sehr niedrigen Erwartungshorizont hatten. Wir kennen ja die GroKo. Trotzdem ist das Paket nicht insgesamt überzeugend oder ausreichend. Denn wir erleben ja nicht nur die Coronakrise, sondern wir erleben auch gleichzeitig weiter die Klimakrise. Die Klimakrise macht ja wegen Corona keinen Urlaub; sie ist weiter da, und sie verschärft sich weiter. Beim Konjunkturpaket muss es um beides gehen: Es muss um die Gegenwart gehen, und es muss um die Zukunft gehen. Wenn ich einen Strich darunter ziehe, dann ist in diesem Konjunkturpaket viel Zukunft, aber wenig – – ({5}) Viel Gegenwart ist da drin. – Ja, ich sage Ihnen das gerne noch mal: Gucken Sie sich das Konjunkturpaket doch konkret an! Da ist sehr viel Gegenwart drin, aber wenig Zukunft, wenn es um die Bekämpfung der Klimakrise geht, wenig Zukunft bei Investitionen. Das kritisieren wir sehr klar. ({6}) Gegen die Klimakrise gibt es eben keinen Impfstoff. Wir haben das doch alle erlebt, was in den letzten Jahren los war. Der Deutsche Wetterdienst hat festgestellt: Das Quartal von Januar bis März dieses Jahres war in Europa das heißeste erste Quartal seit 100 Jahren. Europa erlebt das dritte Jahr mit Dürre und Hitzewellen in Folge. Die Elbe, die Donau, die Warthe haben extrem niedrige Wasserstände; der Grundwasserspiegel ist auf einem dramatischen Tiefstand. Viele Bauern, viele Försterinnen und Förster sind verzweifelt. Deswegen müssen wir jetzt handeln! 2020 muss rückblickend das Jahr sein, wo Europa bei der Bekämpfung der Klimakrise gerade noch die Kurve gekriegt hat. Das fehlt im Konjunkturpaket. Es gibt keinen großen Wumms für den Klimaschutz. ({7}) Da kann man auch nicht, wie die Koalition gestern, noch 250 Millionen Euro für neue Autobahnen beschließen. ({8}) Das ist das Gegenteil von sinnvoller Verkehrspolitik, das ist das Gegenteil von Klimaschutz. Das ist wirklich falsch! ({9}) Ihr Konjunkturpaket hat eine soziale Schieflage. Wer 130 Milliarden Euro in die Hand nimmt, der muss auch die Ärmsten der Armen in dieser Gesellschaft in den Blick nehmen. Deswegen haben die Sozialverbände einen pauschalen Krisenaufschlag wegen Corona bei Hartz IV von 100 Euro für Erwachsene und von 60 Euro für Kinder gefordert. Das ist nicht enthalten im Konjunkturpaket. Das war eine klare Entscheidung der Bundesregierung. Ich finde diese klare Entscheidung falsch. Ich finde sie beschämend und kaltherzig. ({10}) Auch die Solo-Selbstständigen sind erneut die großen Verliererinnen und Verlierer der Maßnahmen. Es ist doch weltfremd, dass Fotografen oder Musikerinnen nur ihre minimalen Betriebskosten bei den Hilfen ansetzen können, aber ihre Lebenshaltungskosten nicht ansetzen können. Ich finde, das zeigt noch mal sehr deutlich das Unverständnis und die Ignoranz, die die Koalition gegenüber den Solo-Selbstständigen an den Tag legt. ({11}) Ihr Konjunkturpaket ist akutes Krisenmanagement, aber eben keine langfristige Krisenvorsorge; das zeigt sich gerade bei den Investitionen. Sie ziehen hier und da ein paar Sachen vor, hier und dort erhöhen Sie etwas; aber es gibt keine Strategie, es bleibt loses Stückwerk. Was völlig offen ist: wie es in den nächsten Jahren mit Investitionen weitergeht. Dafür gibt es keine Strategie. So entsteht eben auch keine Planungssicherheit, so entsteht keine Erwartungssicherheit für Unternehmen, für Kommunen und Länder, kein Anreiz, die notwendigen Kapazitäten zu schaffen. Wo ist denn der große Investitionsfonds für die nächsten zehn Jahre bis 2030? Wo ist die große Strategie für die sozialökologische Transformation? Da ist nichts zu sehen bei der Bundesregierung. ({12}) – Herr Brinkhaus, es ist ein Nachtragshaushalt. Aber die Frage ist doch: Wie kommen wir aus dieser Krise heraus? ({13}) Und da brauchen Unternehmen nicht nur Sicherheit für dieses Jahr und das nächste Jahr. Sie müssen wissen: Wie kann ich langfristig investieren? Wo geht die Reise hin? Wie bekämpfen wir die Klimakrise? Da ist eben nichts zu sehen, Herr Brinkhaus! Das bleibt einfach Stückwerk. ({14}) Herr Scholz, Sie haben als Minister in dieser Krise finanzpolitisch die Bazooka ausgepackt. Sie haben es selbst gesagt – als ehemaliger Kriegsdienstverweigerer –, Sie wollen jetzt die Bazooka auspacken. Ich stimme Ihnen zu: In dieser Krise darf man nicht sparen und muss das Notwendige tun und dafür auch die notwendigen Kredite bereitstellen. Aber die Bundesregierung muss eben jetzt auch deutlich machen, dass nach der Coronakrise keine harten Sparprogramme folgen, dass es eine große Investitionsstrategie bis 2030 gibt: für die Bekämpfung der Klimakrise, für Digitalisierung, für Bildung, für soziale Infrastruktur. ({15}) Auch dafür brauchen wir die Bazooka und keinen finanzpolitischen Pazifismus. ({16}) Deswegen sind wir für die Höhe der aufgenommenen Kredite. Wir sagen Ihnen gleichzeitig aber auch: Wir halten es für gefährlich, jetzt deutlich zu kurze Tilgungsfristen von 20 Jahren vorzulegen, ({17}) weil wir die Sorge haben, dass die wirtschaftliche Erholung des Staates und die Investitionstätigkeit in den nächsten Jahren eingeschränkt wird. Wir brauchen jetzt politisch verbindliche Garantien, dass wir nicht zurückgehen zum alten Status quo, so wie es die Union will, zurück zur schwarzen Null, zurück zum Investitionsstau. Das darf uns nicht passieren. Wir brauchen ein Jahrzehnt der Zukunftsinvestitionen, und dafür müssen wir Vorsorge treffen, und zwar heute schon. Dafür brauchen wir jetzt eine klare Ausrichtung. Das fehlt in diesem Nachtragshaushalt. Wir wollen ein Jahrzehnt der Zukunftsinvestitionen und kein Zurück zur schwarzen Null und zu Investitionsstau. Vielen Dank. ({18})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Dennis Rohde, SPD. ({0})

Dennis Rohde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004388, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich fand es zu Beginn dieser Debatte schon auffällig, dass die stärkste Kritik an all dem, was wir hier machen, von denjenigen kam, die die letzten Stunden der Beratung gar nicht mitverfolgt haben. Herr Dürr, die Kritik, die Sie hier vorgetragen haben, haben wir sehr sachlich im Ausschuss diskutiert, und Ihre Kolleginnen und Kollegen – auch aus Ihrer Fraktion – haben nicht das Maß erreicht, das Sie hier gerade dargelegt haben. Wir haben auf der Sachebene diskutiert. Ich glaube, wir haben da eine unterschiedliche Auffassung. Aber ich will es an dieser Stelle ganz deutlich sagen: Der Haushalt, über den wir hier befinden, der ist verfassungskonform; der ist nicht verfassungswidrig. ({0}) Und ich werde genau darauf achten, dass Sie in Zukunft nie wieder den Bundesrechnungshof kritisieren. Ich sage Ihnen: Ich bin auch mal anderer Auffassung als der Rechnungshof. ({1}) Kollege Boehringer, ich fand es ja schon sehr interessant, wie man hier die Backen aufbläst. Aber wenn der Haushaltsausschuss tagt und der Ausschussvorsitzende stundenlang der Sitzung wiederholt fernbleibt, ich finde, dann sagt das auch viel über die Arbeitsmoral Ihrer Fraktion aus. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Rohde, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Boehringer?

Dennis Rohde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004388, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, uns als Koalition war in der Kürze der Zeit wichtig, drei Dinge anzusprechen: zu gucken, wo es in einzelnen Bereichen besondere Herausforderungen gab, die vielleicht durch den Regierungsentwurf noch nicht voll abgedeckt waren, Antworten auf aktuelle Herausforderungen zu finden und die parlamentarischen Rechte sicherzustellen. Ich möchte vorne beginnen. Wir haben die Brückenhilfen. Wir haben Hilfspakete für viele, viele Branchen. Aber wir haben als Fraktion gesehen: Es gibt blinde Flecken, bei denen wir noch mal aktiv werden müssen. Einer dieser blinden Flecke waren für unsere Fraktion die gemeinnützigen Einrichtungen, diejenigen, die keine großen Rücklagen bilden können, weil sie dem Gemeinnützigkeitsrecht unterliegen, aber die gleichzeitig, wie zum Beispiel die Schullandheime, feststellen müssen, dass sie in den nächsten Monaten keine Einkünfte haben werden, weil Klassenfahrten bis zum Ende des Jahres abgesagt werden. Diese hätten Riesenprobleme bekommen, und über sie wäre eine Insolvenzwelle hinweggefegt. Deshalb ist es richtig, dass wir für sie ein Sonderhilfsprogramm machen, damit im nächsten Jahr auch wieder Klassenfahrten in Schullandheime stattfinden können. ({1}) Wir haben uns ferner angeguckt, ob die Brückenhilfe am Ende des Tages auch sicherstellt, dass wir nächstes Jahr wieder Volksfeste feiern können, weil die Schaustellerinnen und Schausteller mit ihrer Einnahmesituation ja einen gewissen, sehr eigenen Zyklus haben. Wir stellen jetzt sicher, dass auch Schaustellerinnen und Schausteller in der Brückenhilfe vernünftig berücksichtigt werden. ({2}) Ich finde, es ist ein wichtiges Zeichen des Deutschen Bundestages, dass wir dies fraktionsübergreifend auf den Weg gebracht haben. Wir helfen den Lotsen, wir helfen Reisebusunternehmen, und – Kollege Rehberg hat es gesagt – wir helfen den semiprofessionellen Sportvereinen, denjenigen, die nicht von Fernseheinnahmen leben, wie im Fußball die Erste oder die Zweite Bundesliga, also denjenigen, die auf Zuschauereinnahmen angewiesen sind. Wir helfen der Veranstaltungsbranche im Kulturbereich mit 1 Milliarde Euro; die wäre sonst leer ausgegangen. Und – auch das hat Kollege Rehberg gesagt –: Am Ende hätte es nicht die Profis getroffen. Es hätte den Nachwuchsbereich getroffen; es hätte den Breitensport getroffen. Deshalb ist es richtig und wichtig, als Koalition hier auch noch mal einen Schwerpunkt zu setzen. ({3}) Wir investieren noch einmal in Sportstätten in den Kommunen. Wir nehmen als Bund 600 Millionen Euro in die Hand, um kurzfristig Kommunen dabei zu unterstützen, Sportstätten zu sanieren, umzubauen, und gemeinsam mit deren Kofinanzierung ist es jetzt noch mal ein milliardenschweres Investitionsprogramm, das der Deutsche Bundestag auf den Weg bringt. Ich finde, auch das ist an dieser Stelle ein wichtiges Zeichen. ({4}) Dann haben wir zwei Themen bewusst aufgegriffen, die uns aktuell alle umtreiben: zum einen die Situation in der Fleischwirtschaft, wo man von Recht und Gesetz in vielerlei Fällen nicht mehr sprechen konnte. Wir stärken mit diesem Nachtragshaushalt noch einmal das Programm, mit dem insbesondere auch Rumänen und Bulgaren vor den Werkstoren in ihrer Muttersprache über ihre Rechte in Deutschland aufgeklärt werden. Die Zustände, die wir bei Tönnies erlebt haben, darf es in diesem Land nie mehr geben, und auch dafür liefern wir Unterstützung. ({5}) Wir mussten zum anderen, ausgehend aus den USA, in den letzten Monaten feststellen, dass wir dem Thema Alltagsrassismus/Ressentiments in unseren Debatten wahrscheinlich nicht den Stellenwert gegeben haben, den es eigentlich haben müsste. Wir mussten feststellen: Es gibt gar keine institutionelle Bundesförderung, wenn es um Grundlagenforschung zu Rassismus und Ressentiments geht. Auch das ändern wir mit diesem Bundeshaushalt. Rassismus und Rassisten haben in diesem Land keinen Platz. Auch das ist ein Zeichen dieses Nachtragshaushalts. ({6}) Zum Abschluss, Herr Präsident. Wir stellen sicher, dass wir heute nicht nur einen Nachtragshaushalt auf den Weg bringen. Wir stellen auch sicher, dass der Deutsche Bundestag in den nächsten Wochen und Monaten bei den großen Entscheidungen beteiligt wird. Wir sind diejenigen, die direkt vom Volk gewählt sind. Wir müssen Rede und Antwort stehen. Deshalb ist es richtig und wichtig, dass wir an den kommenden Entscheidungen beteiligt werden. Auch das stellen wir mit diesem Nachtragshaushalt sicher. Wir haben aus einem guten Nachtragshaushaltsentwurf, glaube ich, einen noch besseren Nachtrag gemacht. Ich werbe an dieser Stelle um Zustimmung. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Zu einer Zwischenbemerkung erteile ich das Wort dem Kollegen Peter Boehringer, AfD.

Peter Boehringer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004675, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Danke, Herr Präsident. – Herr Kollege Rohde, Sie müssten es ja besser wissen. ({0}) Als mein Stellvertreter haben Sie in inzwischen drei Bereinigungssitzungen immer meinen Platz eingenommen. Es war auch diesmal mit dem aktuellen Stellvertreter, Herrn Gerster, SPD, abgesprochen – in völligem Konsens. ({1}) Das ist völlig in Ordnung; das ist nie anders gelaufen. ({2}) In einer neunstündigen Sitzung wechselt man sich ab; das ist völliger Usus. Sie wissen das auch. Insofern weise ich es scharf von mir, dass wir im Ausschuss irgendwie gefehlt hätten. ({3}) Im Übrigen: Sie haben uns jetzt mit der dritten Bereinigungssitzung konfrontiert; die vierte wird ja auch noch kommen in diesem Kalenderjahr. Machen Sie einfach mal ein bisschen weniger Haushalte; dann hätten wir auch etwas kürzere Sitzungen. ({4}) In einem gebe ich Ihnen aber sehr recht: Die Rüge in Richtung von Herrn Dürr war tatsächlich berechtigt; er war tatsächlich nicht anwesend – obwohl er sich hier angemaßt hat, das Fehlen von AfD-Anträgen zu kritisieren. Er hatte in der Sache ja recht: Dieser Haushalt ist tatsächlich in vielerlei Hinsicht verfassungswidrig. Aber Sie, Herr Dürr, werden nachher abstimmen, namentlich. ({5}) Wenn Sie irgendwie fantasieren, es gäbe diesen Antrag nicht, und Sie nachher fehlen und bei unserem Antrag nicht abstimmen sollten, dann werden Sie aber eine Strafzahlung erleiden. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Rohde, Sie können antworten. ({0})

Dennis Rohde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004388, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Ich finde, diese Antwort war mal wieder typisch; man negiert das faktisch. Herr Boehringer, Sie haben mitten in der Sitzung vier Stunden lang geschwänzt. Sie waren als Ausschussvorsitzender einfach nicht anwesend. ({0}) Das ist doch bei Ihnen mittlerweile System. Warum machen Sie das? Erst mal sind Sie stundenlang weg, und dann geben Sie bei den entscheidenden Punkten immer den Vorsitz ab, weil Sie ja nicht nur Ausschussvorsitzender sind, sondern gleichzeitig auch noch Sprecher Ihrer Fraktion für Haushalt. Sie trennen Ihre Ämter nicht vernünftig, und das merkt man im Ausschuss mehrfach und deutlich. Fangen Sie endlich an, Ihren Job als Ausschussvorsitzender vernünftig zu machen, und hören Sie auf mit den anderen Spielereien! ({1})

Marcus Bühl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004687, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Zuschauer an den Bildschirmen! Mit der großen Gießkanne wird Geld durch Neuverschuldung in diesem Nachtragshaushalt ausgeteilt, und man wähnt, damit die Wirtschaft anzukurbeln. Es wird dabei in Nebenschauplätzen investiert und dies als „innovativ“ angepriesen. Das aber rettet und sichert keine Industriearbeitsplätze. Der Nachtragshaushalt geht in Bezug auf Investitionen an dieser Realität komplett vorbei. Was wir brauchen, sind dauerhafte Steuersenkungen, von der Mehrwertsteuer bis zum Solidaritätszuschlag. ({0}) Der Nachtragshaushalt basiert auf dem Prinzip Hoffnung, und ausschließliche Förderungen in Nischen, wie beim Elektroauto, werden nicht den konjunkturellen Aufschwung bringen. Dafür werden die Schulden für die kommende Generation massiv steigen. Auf den Spitzenzahler Deutschland kommen von der EU und zur Notbeatmung des Euro weitere Milliardenaufschläge zu. Die Asylrücklage lässt die Bundesregierung unangetastet und verschuldet uns Deutsche lieber neu, nämlich um fast 218 Milliarden Euro. Besonders für die jüngere Generation ist dieser Nachtragshaushalt sozial ungerecht. Ein Beispiel: Für den DigitalPakt Schule hat der Bund letztes Jahr 5 Milliarden Euro nach einer Verfassungsänderung eingesetzt, um die Länder zu entlasten. Bisher ist nichts bis wenig an den Schulen vor Ort angekommen. Dennoch sollen jetzt im Nachtragshaushalt nochmals 500 Millionen Euro für Endgeräte hinzukommen. Die Länder haben über Jahrzehnte Modernisierung und Instandhaltung von Schulgebäuden vernachlässigt. Ein milliardenhoher Investitionsstau ist dadurch bundesweit aufgelaufen. Was nützt das schicke neue Tablet, wenn das Internet kriechend langsam ist und der Putz von der Wand bröselt? ({1}) Das sind keine Schulen, in denen die Schüler gut und gerne lernen. Man hätte dieses Thema bei der Grundgesetzänderung aufgreifen sollen. Die Sanierung unserer Schulen wäre ein Konjunkturimpuls und eine Zukunftsinvestition. Aber hier sind vor allem die Bundesländer in der Pflicht, mehr zu leisten. Ein weiterer Punkt ist die Eigenkapitalerhöhung bei der Deutschen Bahn um 5 Milliarden Euro. Der Bahnvorstand hat ein Szenario erstellt, was komplett auf Annahmen beruht, und präsentiert nun dem Steuerzahler die Rechnung. Außerdem sollen auch die zahlreichen Auslandsunternehmen der Deutschen Bahn mit Steuergeld gerettet werden, was mit Bahnfahren in Deutschland so gar nichts zu tun hat. Das Missmanagement bei der Deutschen Bahn AG muss beendet werden. Das Auslandsgeschäft muss konsolidiert und das Kerngeschäft Bahn mit einem Sanierungskonzept neu aufgestellt werden. Fazit: Diese Regierung predigt, die Krise als Chance zu verstehen, und meint damit in weiten Teilen doch nur die fortwährende Umsetzung ihrer undurchdachten Ideen, und das auf dem Rücken aller deutschen Steuer- und nun auch Schuldenrückzahler. Das lehnen wir ab. Vielen Dank. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Andreas Jung, CDU/CSU. ({0})

Andreas Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003780, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Kollegin Dr. Lötzsch, ein Satz, den Sie gesagt haben, ist völlig richtig: Die Union will so schnell wie möglich zurück zur schwarzen Null. – Das will ich unterstreichen. ({0}) Ich will Ihnen auch sagen, warum das so ist: weil wir überzeugt sind, dass gerade die schwarze Null der letzten Jahre, gerade das solide Wirtschaften der Bundeshaushalte in der Vergangenheit, gerade der Umstand, dass wir Ihren und anderen Rufen, auch schon in guten Zeiten viele Schulden zu machen, nicht nachgekommen sind, uns in die Lage versetzen, dass wir jetzt, wo die Notsituation da ist, jetzt, wo die Krise da ist, klar, stark und gut reagieren können. Die Solidität von gestern gibt uns jetzt die Kraft in der Krise. ({1}) Das ist unsere Überzeugung, und das steht nicht im Widerspruch dazu, dass wir jetzt handeln, sondern das ermöglicht uns, jetzt zu handeln. Wir können das tun, weil wir eine Notsituation haben, und genau so ist es ja bei der Schuldenbremse vorgesehen. Die Schuldenbremse sorgt für Solidität, aber in Krisenzeiten ermöglicht sie die Schuldenaufnahme. Deshalb ist für uns völlig klar: Da wird nicht am Grundgesetz herumgemacht. Die Schuldenbremse bleibt als Garant, als Garantie für Solidität auch in der Zukunft. Daran wird nicht gerüttelt. ({2}) Ja, wir haben eine Krisensituation, Herr Boehringer. Aber diese Krise liegt nicht an den Maßnahmen gegen Corona; die liegt an dem Virus, die liegt an der Pandemie, die liegt an den harten Folgen, die dieses Virus und die Pandemie überall in unserem Land verursachen. Deshalb müssen wir handeln, und deshalb übernehmen wir jetzt auch diese Verantwortung. ({3}) Für uns ist dabei entscheidend, dass wir die Schuldenaufnahme jetzt mit der klaren Ansage, mit dem Versprechen verbinden: Wir werden, sobald es wieder besser läuft, sobald die Maßnahmen ihre Wirkung zeigen, sobald die Konjunktur anspringt, darangehen, die Schulden zurückzuzahlen. Wir werden das nicht mit Steuererhöhungen tun, weil diese die soziale Marktwirtschaft nicht stärken, sondern behindern. Wir wollen das dadurch tun, dass wir gemeinsam mit den Bürgern und Betrieben dieses Land voranbringen und die Mittel nutzen, um zu soliden Haushalten zurückzukommen. Wir, diese Generation, werden die Schulden, die wir jetzt aufnehmen, zurückzahlen. Wir haben uns gegen alles gewehrt, was zur Folge gehabt hätte, dass mehr Schulden längere Tilgung bedeuten. Nein, wir dürfen nichts in die Zukunft verschieben. Diese Generation muss die Schulden wieder zurückzahlen. ({4}) Und es ist entscheidend, wofür die Mittel eingesetzt werden. Wir sind von diesem Programm überzeugt, weil es ein Programm für alle ist, ein Programm für alle, die jetzt hart von Corona betroffen sind: für alle Bürger, für alle Betriebe, für alle Kommunen in Deutschland. Deshalb wird es seine Wirkung entfalten: mit Steuererleichterungen, mit der Deckelung von Sozialabgaben, mit dem Bremsen von Energiekosten, mit der Stärkung von Kreisen und Kommunen, mit der Stärkung der Investitionskraft von Bürgern, von Betrieben, von Kommunen. Darauf setzen wir, und das bringen wir gemeinsam voran. ({5}) Herr Kindler, selbstverständlich ist es ein Programm, das beides zusammenbringt: jetzt die Maßnahmen für die Konjunktur und gleichzeitig die Maßnahmen für die Zukunft. Das macht die Qualität dieses Programms aus. Sie haben ja schon fast gesagt, das Programm sei sehr viel besser, als Sie erwartet haben. Im Schwäbischen gibt es den Satz: Nicht geschumpfen ist genug gelobt. – Ich hätte mir noch ein bisschen mehr Begeisterung vorstellen können. ({6}) Deshalb will ich es nachholen und hier noch einmal herausstellen, was in diesem Programm enthalten ist für die Zukunft unseres Landes, für Weichenstellungen, die für Deutschland auch darüber hinaus wichtig sind. Da geht es um die Wasserstoffstrategie, um neue Energie. Es geht um nachhaltige Mobilität. Sie haben vergessen, die Milliarden für die Schiene zu erwähnen, die Unterstützung für den ÖPNV, die Mittel für die energetische Sanierung, ja, auch für die digitale Infrastruktur der Schulen, weil es auch da um die Zukunft unserer Kinder geht. ({7}) Es ist ein Programm für die Zukunft, es ist eine Vitaminspritze für die Zukunft unseres Landes. ({8}) Deshalb bringen wir es auf den Weg. Ecki Rehberg hat es gesagt: Für uns ist es schwer, Schulden aufzunehmen, aber unter den genannten Prämissen halten wir es für vertretbar. Deshalb bringen wir es auf den Weg, und deshalb ergreifen wir diese Maßnahmen in Deutschland, die wir durch die Maßnahmen ergänzen, mit denen wir Solidarität in Europa zum Ausdruck bringen. Herr Boehringer, ich habe sehr gut zugehört, als der Bundestagspräsident heute zum Eingang Paul Löbe gewürdigt hat. Dieser hat den Satz gesagt: Demokratie braucht Demokraten; sonst scheitert sie. – Dasselbe gilt für Europa: Europa braucht Europäer; sonst wird Europa scheitern. – Und das unterscheidet uns: Gerade weil wir unser Land lieben, sind wir überzeugte Europäer. Das ist die Lehre aus unserer Geschichte, und das ist die Einsicht heute: Ein starkes Deutschland gibt es nur mit einem starken Europa. Wir bringen aus Überzeugung beides zusammen und beides voran. Herzlichen Dank. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Otto Fricke, FDP, ist der nächste Redner. ({0})

Otto Fricke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003530, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Geschätzter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Anders als beim ersten Nachtrag geht es bei diesem zweiten Nachtrag nicht mehr darum, den Brand zu löschen, der aufgrund von Corona entstanden ist, sondern dafür zu sorgen, dass das Haus Deutschland saniert und wieder richtig aufgebaut wird. Ich will für meine Fraktion ausdrücklich sagen: Ja, in diesem zweiten Nachtrag, im Haushaltsbegleitgesetz sind Elemente, die sind richtig, die sind nötig; aber sie sind nicht mutig. Immer da, wo man eigentlich etwas hätte tun können, um zielgerichtet Deutschland nach vorne zu bringen, bleibt es bei kleinen Maßnahmen. Und da, wo man Mittel pauschal verteilt – siehe Mehrwertsteuer, die Herr Jung übrigens schon gar nicht mehr angesprochen hat, bei der man schon merkt, dass auch die CDU sich inzwischen für diese Idee des Finanzministers schämt –, achtet man nicht auf die Wirkung. Meine Damen und Herren, dieser zweite Nachtrag ist ein Nachtrag nach dem alten Motto: Wir geben einfach mal mehr aus. Wir müssen das nicht zielgerichtet machen. Wir verkaufen das schön laut. Aber eigentlich geht es bei der Zukunft darum, für das, was wir immer schon haben wollten, Geld auszugeben. – Das ist kein Nachtragshaushalt, sondern das ist das übliche Weiter-so dieser Großen Koalition, und das Wurschteln wird so auch bis zum Ende der Legislatur weitergehen. ({0}) Meine Damen und Herren, das Spannende ist dann aber nicht nur, was Sie an dieser Stelle machen, sondern ist die Frage, wie Sie es finanzieren. Wir müssen nachher hier – die Väter und Mütter des Grundgesetzes bzw. diejenigen, die danach dafür verantwortlich waren, haben das festgelegt – mit Kanzlermehrheit feststellen, dass wir erneut eine Notsituation haben – nicht nur die, die wir beim ersten Nachtrag festgestellt haben, sondern erneut eine Notsituation –, die es notwendig macht, über das, was uns die Schuldenbremse in Verbindung mit der ersten Notsituation erlaubt, hinauszugehen. Da kann ich nur sagen: Das ist eine Notsituation ohne Not ({1}) bzw. eine bewusst selbstgemachte Notsituation dieser Großen Koalition. ({2}) Meine Damen und Herren, das kann ich auch noch einmal klar verdeutlichen: Wir als FDP-Fraktion haben klar gesagt: Die Zielgerichtetheit – etwa bei der Frage der steuerlichen Regelung für Unternehmen beim Abschreiben, bei der Frage des Mittelstandsbauches, bei der Frage der Gewinn-Verlust-Verrechnungen usw. – wäre möglich gewesen. Diese Maßnahmen wären auch möglich gewesen ohne Notsituation, indem man Rücklagen auflöst. Rücklagen sind für Zeiten der Not, und dann löst man sie auf, und nicht wie Sie, Herr Minister: Man vergrößert sie noch, ({3}) um sich für den Wahlkampf und die eigene Kanzlerkandidatur eine Reserve zu verschaffen. – Das kann unsere Unterstützung in keiner Weise finden. ({4}) Meine Damen und Herren, dann sagt man auch noch: Wir helfen mit der großen Bazooka. – Für mich ist das immer nur wie klebriges Kaugummi, wenn ich das Wort „Bazooka“ höre. Sie machen das im Endeffekt so, dass Sie an allen alten Maßnahmen festhalten. Der Kollege Heil sitzt hier auch, und der lächelt heute schon den ganzen Tag. Warum lächelt er? Weil er sagt: Ich bekomme die Grundrente endlich durch. – Das ist aber nicht etwas, was Sie durchbekommen wollen, um heute in der Krise, in einer Notsituation zu helfen, sondern weil Sie es immer schon wollten. Das ist, wie diese Regierung vorgeht: Hauptsache, man bekommt das, was man immer schon wollte. Das sage ich Ihnen von der SPD: Man kann der Meinung sein, dass die Grundrente die richtige Lösung ist – unser Vorschlag der Basisrente ist sicherlich besser –; aber wenn man dieser Meinung ist ({5}) – Frau Esken, schön übrigens, dass Sie mal hier im Parlament sind –, dann muss man sich doch überlegen, wann man sie einführt. Dann kann man nicht sagen: Wir haben eine Notsituation, und jetzt baue ich den Sozialstaat an dieser Stelle noch weiter aus ({6}) und kümmere mich nicht um die Frage, wie ich Arbeitsplätze erhalte. – Das wäre als Sozialdemokratie eigentlich Ihre Kernaufgabe gewesen. ({7}) Meine Damen und Herren, dann will ich noch etwas sagen – das ärgert mich am meisten; da bin ich mit dem Kollegen Rehberg, glaube ich, ziemlich einig –: Schauen Sie doch noch einmal auf die Bundesratsbank. An diejenigen, die uns jetzt zuschauen und zuhören: Das ist die Bank mit den eigentlichen Gewinnern dieses Haushaltes. Der Bundesrat wird aufgrund dieses Gesetzes erneut Unterstützung, Subventionen und Geld für Aufgaben bekommen, ({8}) die eigentlich aus seinen Mitteln finanziert werden müssten, und das bei einem Bundesrat, der inzwischen mehr Steuern einnimmt als der Bundestag. Wenn Sie sich einmal vorstellen, dass wir inzwischen in einer Situation sind, in der eine Ebene nur noch das Geld einsackt, aber sagt: „Ihr seid dafür verantwortlich, dass es gemacht und bezahlt wird“, ({9}) dann erkennen Sie, dass das auf Dauer dazu führen wird, dass der Bund nicht mehr seine Kernaufgaben wahrnehmen kann. Wenn das irgendwann passiert, meine Damen und Herren, dann will es wieder keiner gewesen sein. Aber da kann ich Ihnen ganz genau sagen: Dazu ist dieser zweite Nachtragshaushalt ein weiteres Puzzlestück. Zu den jetzt anstehenden Grundgesetzänderungen – das sage ich auch in Richtung CDU/CSU –: Ich war sehr froh über die Äußerung zu der Frage, wie wir das mit den Gewerbesteuerausfällen machen. Ja, bei den Kosten der Unterkunft sind wir als FDP sicherlich bereit, für die notwendige Zweidrittelmehrheit zu sorgen. Aber wir haben noch enorme Bedenken an dieser Stelle. Ich bin sehr gespannt, was da noch an Vorschlägen kommen wird, um das wenigstens besser zu machen, ohne dass diese Geisterbank vom Bundesrat am Ende der Gewinner ist, der nichts tut, aber viel Geld bekommt. Herzlichen Dank. ({10})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Fricke, darf ich, während das Rednerpult für den nächsten Redner gerichtet wird, nur der Korrektheit halber darauf hinweisen: Auch der Bundesrat ist ein Verfassungsorgan des Bundes; Sie haben vermutlich die Länder gemeint. Wir sind auch ein Verfassungsorgan des Bundes. ({0}) Jetzt aber hat das Wort die Kollegin Ekin Deligöz, Bündnis 90/Die Grünen. ({1})

Ekin Deligöz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003068, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Pandemie hat uns eines gezeigt, nämlich wie wichtig die Daseinsvorsorge vor Ort in den Kommunen ist. Viele Kommunen leiden. Sie haben kaum noch Spielräume, und in letzter Not können sie ihre Kernaufgaben erfüllen. Ich nenne Ihnen nur ein paar Stichworte: ÖPNV, Sozialkosten, Wohnungsbau oder auch der Strukturwandel vor Ort. – Gerade deshalb ist es richtig und es ist auch wichtig, dass wir sie mit Kosten der Unterkunft hier an dieser Stelle entlasten. ({0}) Die Kommunen sind sprichwörtlich der Ast, auf dem wir sitzen. Aber, Herr Minister, diese Maßnahme verschafft nur ein Mal ein kurzes Atmen auf Zeit. Denn vielen Kommunen in Not wird das alleine nicht genügen. Stattdessen müssen wir mehr Entschlossenheit zeigen, wenn es darum geht, die Altschulden zu streichen. Das erst verschafft ihnen die Rahmenbedingungen und die Freiheit, zu handeln und vor Ort in die Zukunft zu investieren. ({1}) Diese klaren Verhältnisse wünsche ich mir, ehrlich gesagt, aber auch für die Sozialversicherungen. Es reicht nicht, jetzt nur darüber zu reden, wie wir ihnen mit Krediten kurzfristig Spielräume geben, sondern wir brauchen langfristig Stabilität und Handlungsfähigkeit für die Kommunen. Ich will Ihnen ein Beispiel geben: Was ist denn mit der Arbeitslosenversicherung? Werden Sie auch im nächsten Jahr noch Zeit, Platz und Mittel haben, in die Qualifizierung zu investieren? Werden Sie auch Weiterbildung voranbringen können? Reden wir hier über Kredite, oder reden wir über Handlungsspielräume für diese Agentur? Darüber müssen wir auch hier in diesem Haus noch einmal reden; ({2}) denn so, wie Sie das gelöst haben, wird es uns langfristig nicht helfen. Was verbindet die Kommunen mit den Sozialversicherungen? Beides verhindert die Spaltung dieser Gesellschaft. Genau das ist der Auftrag in einer Krise: dass wir nicht die Spaltung zwischen Arm und Reich sowie zwischen denjenigen, die einen guten Zugang zu Bildung haben, und denjenigen, die keinen Zugang zu Bildung haben in diesem Land, manifestieren, sondern jedem eine Chance geben, insbesondere jedem Kind. ({3}) An dieser Stelle eine Sache, die mir bei dieser Debatte aufgefallen ist: Frauen haben in diesem Land Großartiges geleistet in der Krise. Sie haben das Wunder vollbracht, Homeoffice und Kinderbetreuung zu vereinbaren, zur gleichen Zeit, zur gleichen Stunde. Sie waren die Frauen an den Kassen, als alle zu Hause blieben. Sie waren diejenigen in den Pflegeheimen, in den Krankenhäusern, die Mehrfachschichten gearbeitet haben. Frauen haben diese Krise mit geschultert. Die Redezeit von Frauen in dieser Debatte mit einer Dauer von 90 Minuten beträgt gerade einmal 16 Minuten. Frauen sind die Hälfte der Gesellschaft, aber sie sind nicht die Hälfte dieses Parlaments. Die Zeit ist reif für eine Parität – jetzt erst recht! ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Sonja Steffen, SPD, ist die nächste Rednerin. ({0})

Sonja Steffen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004164, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte in dieser Debatte zum zweiten Nachtragshaushalt Punkte aufgreifen, die gerade den von der Coronapandemie besonders betroffenen Personengruppen zugutekommen. Hier geht es als Erstes um die Kulturschaffenden. Wir stellen mit diesem Haushalt 1 Milliarde Euro für den Kultursektor zur Verfügung; ({0}) denn es sind besonders die Kreativen, die maximal von der Krise betroffen sind: die Bühnenkünste, die Klubs und auch die Festivals. Frau Staatsministerin Grütters hat gestern darauf hingewiesen, dass beispielsweise Tänzerinnen und Tänzer häufig ohnehin nur eine Zeitspanne von 10 bis 15 Jahren haben, in der sie ihren Beruf ausüben können; deshalb ist diese Zeit für sie besonders schlimm. Festivals, die so viele Menschen lieben, die für viele Menschen – übrigens auch für mich – zu einem richtigen Sommer einfach dazugehören, sind in diesem Sommer komplett gestrichen. Deshalb brauchen die Kreativen unsere Hilfe, und zwar jetzt. Wir unterstützen sie, damit das Jahr 2021 wieder ein Karneval der Kulturen wird, und zwar nicht nur in Berlin. ({1}) Es geht bei den besonders betroffenen Personengruppen auch um die Kinder und die Jugendlichen. Unsere jungen Menschen, unsere Kinder haben in den letzten Monaten eine schlimme Zeit erlebt: Statt auf dem Schulhof und in der Schule mit Freunden zu lernen und zu spielen, mussten sie zu Hause bleiben. Statt intensiver Prüfungsvorbereitung der Abiturienten beispielsweise mit Klassenkameraden, statt Mottowochen, statt emotionaler Verabschiedung von der Schulzeit mussten sie ihren Abschluss mit Mundschutz und in kleinstem Kreis über die Bühne bringen. Ja, Kinder und Familien haben in den letzten Wochen extrem viel aushalten müssen. Was liegt da näher, als unser Konjunkturpaket auf Kinder, Familien und Bildung auszurichten? Der Kinderbonus ist eine wirkungsvolle familienpolitische Maßnahme, einfach und unbürokratisch. Im September wird es ohne weiteren Antrag für jeden Kindergeldberechtigten und jede Kindergeldberechtigte 200 Euro mehr zum Kindergeld geben und im Oktober 100 Euro mehr. Diese Leistung kommt 18 Millionen Kindern und Jugendlichen zugute. ({2}) Am allermeisten haben übrigens – ich glaube, da sind wir uns fast alle einig – die Alleinerziehenden unter der Krise gelitten. ({3}) Sie hatten sehr oft große Jobängste, sie waren im Homeoffice, sie mussten nebenher – meistens alleine – ihre Kinder betreuen. Deshalb ist es gut und richtig, dass der Steuerfreibetrag für Alleinerziehende von 1 908 Euro auf 4 008 Euro erhöht wurde. ({4}) Besonders wirkungsvoll wird jedoch sein, dass wir als Bund für den Ausbau der Ganztagsbetreuung 750 Millionen Euro in diesem Nachtragshaushalt zur Verfügung stellen. Mit dem Geld modernisieren wir Schulen, bauen moderne Klassenräume und sanieren Schultoiletten, alles unter dem Motto „Gute Ganztagsbetreuung für unsere Kinder“. ({5}) Unsere Familienministerin, Franziska Giffey, hat uns gestern versichert, dass sie schon in den nächsten Wochen mit den Ländern zusammensitzen wird, um einen Plan auszuarbeiten, wie das Geld konkret eingesetzt werden kann. ({6}) Mein Kollege Dennis Rohde hat schon darauf hingewiesen, dass auch die Jugendherbergen und die Jugendbildungsstätten von diesem Nachtragshaushalt profitieren. Sie leiden massiv unter der Pandemie. Tausende Klassenreisen wurden abgesagt. Schullandheime stehen leer. Deshalb ist es prima, dass wir in diesem Nachtragshaushalt 100 Millionen Euro für diese Organisationen zur Verfügung stellen können. Sie sehen, dieser zweite Nachtragshaushalt hat einen starken sozialdemokratischen Inhalt. Es geht heute mit diesem sozialdemokratischen Inhalt weiter: Wir werden gleich die Grundrente beschließen. Für 1,3 Millionen Rentnerinnen und Rentner wird sie gelten. Was für ein schöner Tag! Vielen Dank. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Karsten Klein, FDP, ist der nächste Redner. ({0})

Karsten Klein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004780, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zu Beginn, mit Ihrer Erlaubnis, allen Franken heute einen schönen Tag der Franken wünschen! ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, in den Beratungen zum zweiten Nachtragshaushalt ist noch einmal der Unterschied zwischen der Bundesregierung und den sie tragenden Fraktionen und der FDP-Fraktion deutlich geworden: Wir wollen über Entlastungen das Geld bei den Bürgerinnen und Bürgern und bei den Unternehmen belassen, damit sie unmittelbar und schnell entscheiden können, ob sie investieren, konsumieren oder sparen. Sie wollen das Geld den Bürgern wegnehmen, um dann großzügig das Geld über mehr als 60 Programme zurückzuverteilen. ({1}) Sie stellen den Staat in den Mittelpunkt des Aufschwungs. Wir stellen den Menschen in den Mittelpunkt des Aufschwungs. ({2}) Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist aber nur ein Unterschied, der uns ausmacht. Ein weiterer Unterschied ist, dass bei Ihnen Reden und Handeln auseinanderfällt. Dafür möchte ich zwei Beispiele nennen. Erstes Beispiel: Neuverschuldung. Ende Mai 2020 – ich weise darauf hin, damit wir da nicht auseinandergehen – hat Dr. Markus Söder, Landesvorsitzender der CSU und Mitglied des Koalitionsausschusses, eine Obergrenze für die Neuverschuldung gefordert, um im selben Atemzug – so wie auch Sie hier, liebe Kolleginnen und Kollegen der CSU im Deutschen Bundestag – eine Neuverschuldung zu beschließen, durch die Bürgerinnen und Bürger und zukünftige Generationen belastet werden. Der Bundesrechnungshof – und nicht nur er – ist der Meinung, dass sie nicht nötig wäre. Erster Unterschied: Reden und Handeln fällt bei der CSU auseinander. ({3}) Zweites Beispiel: Thema Steuersenkung. Im Februar 2020, Hans Michelbach: Solidaritätszuschlag, Unternehmensbesteuerung, Mittelstandsbauch – es wäre jetzt dringend nötig, all das abzuschaffen oder zu senken. – Im Mai 2020 im Zuge der Steuerschätzung haben Sie, Herr Kollege Dobrindt, gefordert, dass der Solidaritätszuschlag abgeschafft werden soll. ({4}) Bei jeder Gelegenheit fordern die Kolleginnen und Kollegen der Union die Abschaffung des Solidaritätszuschlags. ({5}) Am Montag haben Sie uns erklärt: Jetzt ist nicht der Zeitpunkt dafür. ({6}) Ich will noch einmal für Sie festhalten: Einen Impuls in einer Krisensituation zu geben mit der Abschaffung des Solidaritätszuschlags – kein Zeitpunkt dafür. In der Phase vorher mit Rekordsteuereinnahmen und Steuerzuwächsen – kein Zeitpunkt für die Abschaffung des Solidaritätszuschlags. ({7}) Auslaufen des Solidarpakts – kein Zeitpunkt zur Abschaffung des Solidaritätszuschlags. Wenn viele ernstzunehmende Verfassungsrechtler die Verfassungsmäßigkeit des Solidaritätszuschlags infrage stellen – kein Zeitpunkt für die CSU, den Solidaritätszuschlag abzuschaffen. ({8}) Wenn Ihre eigenen Experten in der Anhörung des Haushaltsausschusses am Montag noch einmal die Abschaffung des Solidaritätszuschlags vorschlagen – kein Zeitpunkt für die Union, den Solidaritätszuschlag abzuschaffen. ({9}) Deshalb möchte ich Sie noch mal auffordern: Stimmen Sie unserem Entschließungsantrag zu. ({10}) Senken Sie die Steuern. Schaffen Sie den Mittelstandsbauch und den Solidaritätszuschlag ab. Investieren Sie, entfesseln Sie. Wir sind mutig. Seien Sie es auch, liebe Kolleginnen und Kollegen der Union. Vielen Dank. ({11})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dr. Reinhard Brandl, CDU/CSU, ist der nächste Redner. ({0})

Dr. Reinhard Brandl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Klein, machen Sie sich keine Sorgen: Die Union, die SPD, die Koalition ist mutig. Wir legen hier ein mutiges Zukunftspaket vor, über das wir gleich abstimmen. Überlegen Sie es sich noch einmal! Stimmen Sie zu! Sie würden Deutschland in der Krise einen großen Gefallen tun. ({0}) Meine Damen und Herren, ich will die Perspektive etwas weiten. Wir stehen jetzt am Beginn eines neuen Jahrzehnts. In den 20er-Jahren wird sich die Welt neu ordnen. Wir beobachten schon seit Längerem, wie sich geopolitisch, wirtschaftlich die Kräfte verschieben. Die Aufgabe unserer Politikergeneration ist es, dafür zu sorgen, dass in dieser neuen Welt Europa auch weiterhin ein Kraftzentrum ist. Mit der Coronapandemie, die jetzt in diesen Prozess platzt, kommt natürlich eine ganz neue Dynamik hinein. Die Karten werden neu gemischt. Es kommt jetzt nicht mehr darauf an, wer politisch oder militärisch der Stärkste ist, sondern es kommt ganz stark darauf an, wer diese Krise am besten managt. Meine Damen und Herren, die erste Runde ging klar an Deutschland. Wir haben es geschafft, die Verbreitung des Virus ziemlich schnell einzudämmen. Wir haben eine international äußerst niedrige Sterblichkeit, und unser Sozial- und unser Gesundheitssystem haben gehalten, auch dank der Maßnahmen, die wir im ersten Nachtragshaushalt mit verabschiedet haben. Ich denke an die Soforthilfen oder an die Stärkung unseres Gesundheitssystems. Aber jetzt stehen wir vor der zweiten Runde. Die Frage ist jetzt: Wie schaffen wir es, dass unser Land aus der stärksten Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg gut und nachhaltig stark wieder herauskommt? Ein Teil dieser Antwort liegt heute auf dem Tisch – darüber stimmen wir ab –: der Nachtragshaushalt. Es geht um ein Volumen von 103 Milliarden Euro. Damit kompensieren wir natürlich zuerst einmal auch die Steuermindereinnahmen, die wir haben. Die Steuereinnahmen sind massiv eingebrochen. Wir sind jetzt bei 40 Milliarden Euro weniger; wir lagen bei Schätzungen im März noch bei 33 Milliarden Euro. An dieser Position können wir unmittelbar nichts verändern. Was wir aber tun können, ist, dafür zu sorgen, dass die Konjunktur wieder anspringt. Deswegen senken wir die Mehrwertsteuer für ein halbes Jahr. Deswegen schaffen wir bessere Abschreibungsbedingungen. Deswegen ziehen wir Investitionen des Bundes, wo es geht, vor. Wir waren im Januar bei 42 Milliarden Euro Investitionen des Bundes. Wir sind jetzt bei 72 Milliarden Euro Investitionen des Bundes für 2020. Das ist ein starkes und ein mutiges Signal, meine Damen und Herren. ({1}) Das ist die erste Zielsetzung: Konjunktur anschieben. Die zweite Zielsetzung ist, Stabilität und Sicherheit zu geben. Die Menschen werden nämlich nur dann konsumieren, wenn sie Sicherheit haben. Deswegen unterstützen wir mit diesem Paket auch weiterhin diejenigen, die besonders von der Krise betroffen waren: auf der einen Seite die Familien, auf der anderen Seite Unternehmen, die große Umsatzeinbrüche haben. Wir halten die Lohnnebenkosten stabil. Wir helfen den Kommunen, gemeinnützigen Einrichtungen, den Kulturschaffenden und, und, und. Aber, meine Damen und Herren, das ist noch nicht das Entscheidende; denn damit erhalten wir nur den Status quo. Was dieses Paket – und das ist das Entscheidende, Herr Klein, passen Sie auf – so gut und so wichtig macht, ist, dass wir in die Zukunft investieren. Unser Anspruch ist nicht, dass Deutschland so herauskommt, wie es war; unser Anspruch ist, Deutschland damit besser zu machen. Wir investieren Milliarden in neue Technologien – 5G, Wasserstoff, Quantencomputer –, wir stärken unsere Forschungseinrichtungen, wir fördern Klimaschutz, Elektromobilität. Wir investieren massiv in die Zukunft. Das ist die Stärke Deutschlands. Unsere gesamten Konjunkturmaßnahmen entsprechen ungefähr 13,4 Prozent unseres Bruttoinlandsproduktes. Im Vergleich dazu betragen die Maßnahmen in England 4,8 Prozent und in Frankreich 2,4 Prozent . Das zeigt unsere Stärke. Wir haben diese Stärke nur aus einem einzigen Grund, nämlich weil wir seit 2013 keine neuen Schulden gemacht haben. Spare in der Zeit, dann hast du in der Not. Jetzt ist eine solche Notsituation. Aber, meine Kollegen und Herr Kindler von den Grünen: Jeder Trumpf sticht nur einmal. Wir müssen zusehen, dass wir so schnell wie möglich zur finanzpolitischen Solidität zurückkommen. Die nächste Krise kommt bestimmt. Deswegen ist unser Ziel, so bald wie möglich auch mit der Rückzahlung dieser Schulden zu beginnen, am besten ab 2023. ({2}) Meine Damen und Herren, selbst wenn dieser Plan aufgeht, selbst wenn wir gut und sicher aus dieser Krise herauskommen, wird Deutschland allein am Ende des Jahrzehnts nur ein kleines Licht auf der Welt sein. Unser globales Schicksal hängt an der Stärke Europas. Seit gestern haben wir die EU-Ratspräsidentschaft inne und haben auch aus diesem Grund eine ganz besondere Verantwortung für Europa. Die Krisen der 2010er-Jahre – Euro-Krise, Flüchtlingskrise – haben Europa auseinandergetrieben. Sie waren Spaltpilze. Wir müssen diese Coronakrise jetzt auch nutzen, damit Europa wieder zusammenwächst und wieder zusammenarbeitet; denn wenn uns das nicht gelingt, dann werden wir am Ende des Jahrzehnts nur eine Ansammlung von kleinen Lichtlein sein zwischen einem großen strahlenden China und vielleicht den USA. Das ist die Aufgabe, vor der wir stehen. Wir haben uns all das nicht ausgesucht. Liebend gern würde ich hier die schwarze Null weiter verteidigen. Ich hoffe, dass ich das bald wieder kann. Aber jetzt, meine Damen und Herren, müssen wir handeln. Wir müssen Deutschland aus dieser Krise herausführen. Wir haben dafür gute Karten. Deshalb bitte ich Sie um Ihre Zustimmung. Herzlichen Dank. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Bernhard Daldrup, SPD. ({0})

Bernhard Daldrup (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004258, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst möchte ich mich bei Ihnen, Herr Präsident, sehr herzlich für die Erinnerung an Paul Löbe bedanken. Ich bin als Sozialdemokrat sehr stolz auf diesen ehemaligen Präsidenten des Reichstages und empfehle jedem, den Text neben seiner Büste am Paul-Löbe-Haus zu lesen. Dann weiß man, was ein wirklicher Patriot ist. ({0}) Zweitens komme ich auf Herrn Fricke; leider ist er nicht da. ({1}) – Doch, er ist da. – Ich möchte Ihnen empfehlen, Herr Fricke, die Frage der Anwesenheit hier im Parlament nicht mit Frau Esken, sondern vielleicht einmal mit Herrn Lindner zu diskutieren. ({2}) Drittens. Ich bin kein Kind von Traurigkeit, wenn es um so manche Formulierung geht. ({3}) – Das bin ich nicht. – Aber, Herr Dürr, wenn Sie glauben, Sie dürften sich erheben und den Bundesfinanzminister hier öffentlich als Verfassungsbrecher bezeichnen, dann sage ich dazu: Das ist nichts als eine anmaßende Unverschämtheit. Die lassen wir uns nicht bieten! ({4}) Eine anmaßende Unverschämtheit! Flegelhaft! Sie sollten sich schämen! ({5}) Wenn wir uns einmal die Maßnahmen ansehen, mit denen wir den Menschen in dieser Situation helfen, dann sind es erst einmal die Hilfen für Familien, für Menschen, die diese unmittelbar brauchen in unterschiedlichen Lebenslagen. Meine Kollegin Sonja Steffen hat beispielsweise auf die Vereine hingewiesen. Zweitens sind es Maßnahmen, die sich an die vielen wirtschaftlichen Akteure richten, an Unternehmen, an Branchen wie den Tourismus beispielsweise usw. Drittens betreffen sie die Ebene im Staat, ohne die hier in Deutschland nicht ganz so viel läuft, nämlich die Kommunen. Für uns ist klar: Wir stehen an der Seite der Kommunen. Ich bin dem Bundesfinanzminister dankbar, dass er das ganz zu Anfang betont hat. ({6}) Ich will deshalb über die Folgen für diese Orte der Wahrheit und Wirklichkeit, wie sie ein kommunalpolitischer Sprecher, Hermann Schmitt-Vockenhausen – vielleicht kennt den Namen noch der eine oder andere –, einmal bezeichnet hat, sprechen, über Heimat, wenn Sie so wollen. Wir haben bereits mit der Senkung der Mehrwertsteuer und mit dem Kinderbonus den Kommunen Belastungen in Höhe von knapp 1 Milliarde Euro genommen, die diese sonst zu tragen hätten. Diese Kosten trägt der Bund alleine. Heute geben wir eine Antwort auf die Frage, wie wir die Kommunen in dieser konjunkturellen Situation stärken können. Damit die Wirkung möglichst schnell eintritt, geht es nicht nur um die Stärkung der Investitionskraft, sondern auch darum, dass wir den Kommunen Ausfälle bei einer der wichtigsten Einnahmequellen ersetzen, und das ist die Gewerbesteuer. Rund 12 Milliarden Euro sind für die Kommunen eine gewaltige Summe. Bund und Länder werden diese Kosten, wenn wir es denn beschließen, je zur Hälfte ausgleichen. Die Frage des Ob ist hier, glaube ich, nicht strittig. Aber es stellt sich die Frage – das ist eben schon verschiedentlich erklärt worden –, ob dazu eine Grundgesetzänderung nötig ist oder ob es nicht vielleicht andere Wege gegeben hätte, etwa über Festbeträge bei der Umsatzsteuerverteilung, über einen Staatsvertrag oder über sonst etwas. Ich glaube, andere Wege haben nicht offengestanden, wenn man will, was hier alle Rednerinnen und Redner immer wieder sagen, nämlich dass das Geld nicht an den „klebrigen Fingern“ der Länder hängen bleibt. Deswegen schaffen wir eine einmalige Ausnahmeregelung, die es dem Bund ermöglicht, einen pauschalen Ausgleich der pandemiebedingten Gewerbesteuerausfälle der Gemeinden zu gleichen Teilen jeweils mit den Ländern zu leisten. Und in dieser Form ist das, glaube ich, Herr Kollege Rehberg, auch durchsetzbar. ({7}) Allerdings ist viel wichtiger, dass wir das Grundgesetz an einer anderen Stelle ändern – und das ist dann eben keine temporäre Angelegenheit. In der Tat wollten wir diese Änderung immer schon. Es ist nicht weiter problematisch, wenn man das durchsetzt, was man immer schon wollte, nämlich gleichwertige Lebensbedingungen auch dadurch zu erreichen, dass wir die Kommunen entlasten. Dafür haben wir drei Wege. Erstens: Stärkung der Investitionen und Wachstum. Das wird zum gegenwärtigen Zeitpunkt passieren. Zweitens: Entlastung von den Sozialausgaben. Das machen wir jetzt in der Tat dauerhaft, und das ist richtig. Drittens – es ist angesprochen worden –: Eine Lösung für die Altschulden zu finden, das bleibt ein Auftrag des Koalitionsvertrages. Das Thema ist nicht erledigt, auch wenn die Kolleginnen und Kollegen aus Nordrhein-Westfalen oder anderswo glauben, dass Herr Laschet das alleine lösen könnte. Davon bin ich, ehrlich gesagt, nicht so ganz überzeugt. Und das ist auch, glaube ich, nicht hinreichend solidarisch. Mit der Erhöhung des Bundesanteils an den Kosten der Unterkunft für Langzeitarbeitslose von knapp 50 auf bis zu 75 Prozent werden die Kommunen in einer Größenordnung von rund 4 Milliarden Euro entlastet – und das dauerhaft. Das sind richtig große Beträge. Da geht es in Essen um jährlich 60 Millionen Euro, in Wuppertal um 30 Millionen Euro. Die sozial belasteten Kommunen profitieren unmittelbar und haben sehr viel davon. Wir wollen aber nicht, dass es zu einer Bundesauftragsverwaltung kommt. Ich hätte gut damit leben können, aber so ist das eben zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Aber wir erhöhen jedenfalls die kommunale Handlungsfähigkeit an ganz entscheidender Stelle. Ich will in diesem Zusammenhang aber auch sagen, dass wir, wie ich glaube, hinreichende Skepsis gegenüber den Ländern haben sollten. Aber die hier – bisweilen jedenfalls – durchklingende Verachtung gegenüber dem Föderalismus teile ich nicht. ({8}) Auch die Länder werden ihre Handlungsmöglichkeiten sicherlich ausnutzen. Wir sollten diese Form der Kritik, mit diesem Soupçon, jedenfalls nicht weiter fortsetzen. Das ist, glaube ich, nicht gut für unser Land. Zum Schluss – das ist die letzte Bemerkung, die ich machen will –: Es gibt eine ganze Reihe von Einzelprojekten, auf die an dieser Stelle hingewiesen worden ist, die ich hier nicht wiederholen muss. Für uns ist jedenfalls klar: In der Krise und damit wir aus dieser auch wieder herauskommen, stehen wir auch an der Seite der Kommunen, den Orten von Wahrheit und Wirklichkeit. Herzlichen Dank. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Frauke Petry.

Dr. Frauke Petry (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004851

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Bundesregierung fordert den Bundestag heute auf, einen zweiten Nachtragshaushalt zu verabschieden, der neue Schulden von fast 220 Milliarden Euro beinhaltet, elementare Grundlagen der Kreditaufnahme missachtet und Milliarden in Sondertöpfen heimlich versteckt. Stellen wir uns vor: Jeder von uns Abgeordneten wäre persönlich haftbar für die Rechtmäßigkeit einer solch weitreichenden Entscheidung, so wie jeder Inhaber einer Firma selbstverständlich persönlich haftet. – Es scheint die Koalitionäre wenig zu stören, dass sowohl der Bundesrechnungshof als auch der Bund der Steuerzahler eine offenkundige Verfassungswidrigkeit des Nachtragshaushalts feststellen und dringend und lauthals vor der Verabschiedung warnen. Wir alle haben in diesen Tagen Post bekommen. Ich frage mich, wer von Ihnen diese tatsächlich gelesen hat. Jeder normale Bürger weiß: Man kann nicht dauerhaft mehr ausgeben, als man einnimmt. – Sie aber tun so, als könnten Sie die Mathematik außer Kraft setzen, und zwar nicht erst seit Auftreten des Coronavirus. Seit dem Sündenfall der Euro-Einführung 2002 und der Bankenrettung 2008, also seit fast 20 Jahren, verramschen Sie auf Kosten der Bürger den Wohlstand dieses Landes und verspielen seine Zukunft. Und jetzt missbrauchen Sie auch ein Virus für Ihren Zweck. Jedes Jahr verlassen uns zudem Zehntausende Leistungsträger und kluge Köpfe, die wir dringend – gerade in dieser Krise – brauchen. Sie aber freuen sich weiter über die illegale Zuwanderung von Menschen, die dieses Land auf Dauer in einen finanziell und gesellschaftlich desaströsen Kulturkampf stürzen. Sie verschulden nicht sich, nicht den Staat; effektiv verschulden Sie die Bürger dieses Landes, die Kinder, die Jugendlichen, die in den kommenden Jahrzehnten für Ihre verfehlte Politik bezahlen müssen. Was zwei verlorene Weltkriege nicht geschafft haben, erledigen Sie unter Angela Merkels Kanzlerschaft unter dem Vorwand vermeintlicher Notlagen und Krisen. Ludwig Erhard und die Väter und Mütter des Grundgesetzes würden sich angesichts dieser Bundesregierung und leider auch angesichts großer Teile des Bundestages im Grab herumdrehen. Gut, dass die Bürger aufgrund der namentlichen Abstimmung wenigstens sehen können, wer für den systematischen und finanziellen Ruin dieses Landes verantwortlich zeichnet. Herzlichen Dank.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Christian Haase, CDU/CSU, ist der nächste Redner. ({0})

Christian Haase (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004286, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Coronakrise ist der härteste wirtschaftliche Einschnitt in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Er betrifft alle Wirtschaftsbereiche und alle staatlichen Ebenen, den Bund, die Länder und die Kommunen. Mit unserem Zukunftspaket steuern wir unser Land kraftvoll aus der Krise. Die Segel sind richtig gesetzt: Steuersenkung, Familienbonus, Deckelung von Sozialausgaben, Strompreisbremse. In dieser Situation ist es notwendig, dass wir auf breiter Front mit der Gießkanne unterstützen. Nur so bleiben Betriebe und Bürger flüssig. Liquidität ist genau das, was wir jetzt brauchen, damit die Konjunktur wieder durchstartet und wir wieder in ruhige Fahrwasser kommen. Das bedeutet natürlich nicht, dass diese Hilfen nicht zielgerichtet sind. Gerade bei der Entlastung der Kommunen handeln wir mit Weitblick. Die Kommunen sind bei uns der Fels in der Brandung. Wir müssen ihre Handlungsfähigkeit sicherstellen. Durch die Übernahme der Ausfälle bei der Gewerbesteuer stellen wir das sicher, aber wir gehen noch einen Schritt weiter: Durch die dauerhafte Entlastung bei den Sozialausgaben stärken wir vor allem strukturschwache Kommunen langfristig. Es bringt nämlich nichts, das Leck in den Kassen der überschuldeten Kommunen zu stopfen, wenn immer wieder neues Wasser eindringt. Wenn wir wirklich helfen wollen, dann müssen wir an die Strukturen heran. Wir haben dazu einen ambitionierten Plan entwickelt. Drei Partner ziehen an einem Strang, drei Ziele erreichen wir, drei Säulen stützen diesen Plan. Die drei Partner – der Bund, die Länder und die Kommunen – übernehmen in der Krise gemeinsam Verantwortung. Es kommt nicht häufig vor, dass bei Bund-Länder-Verhandlungen so große Einigkeit und Zufriedenheit herrscht. Auch die kommunalen Spitzenverbände haben die Beschlüsse einmütig gelobt. Drei wichtige Ziele werden mit den vorliegenden Maßnahmen erreicht: Erstens. Wir erhalten die kommunale Liquidität und halten damit den laufenden Betrieb aufrecht. Zweitens. Wir verhindern, dass die Kommunen gezwungen sind, Steuern zu erhöhen, und der Konjunkturaufschwung sofort wieder abgewürgt wird. Drittens. Wir erhalten die Investitionsfähigkeit der Kommunen. ({0}) Das Ganze stellen wir auf drei Säulen: Stärkung in der Krise, dauerhafte Entlastung und Infrastrukturausbau. Ich komme zur Stärkung. Die hälftige Übernahme der Gewerbesteuerausfälle, je durch Bund und Länder, ist das Kernstück. Knapp 12 Milliarden Euro umfasst dieses Paket. Warum wir dazu, wie vorgeschlagen, eine Grundgesetzänderung brauchen, erschließt sich mir nicht ganz. Das Grundgesetz sollte meiner Auffassung nach nur angetastet werden, wenn es wirklich notwendig ist. Leider gibt es für andere wichtige Vorhaben, bei denen eine Grundgesetzänderung notwendig wäre, zum Beispiel für die Erweiterung der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ um die Förderung des ländlichen Raumes, in diesem Hause keine Mehrheit. Kommen wir zur eigentlichen Kernfrage: Wie hoch sind der Steuerausfall und damit die Ausgleichszahlungen tatsächlich? Politisch versprochen ist der Ausgleich in 2020 je zur Hälfte durch Bund und Länder, und daran wird sich auch unsere Glaubwürdigkeit messen lassen müssen. Die Mai-Steuerschätzung ist dabei nur eine Momentaufnahme aus dem Beginn der Krise. Ideal wären daher ein pauschalierter Ausgleich in diesem Jahr und eine Spitzabrechnung in 2021. Ich kann aber einsehen, dass wir die komplette Abwicklung noch in diesem Jahr umsetzen wollen. Dann sollten wir aber zumindest die Steuerschätzung im September abwarten und uns echte Zahlen von der kommunalen Ebene besorgen. Ich möchte am Ende nicht in die Lage geraten, dass wir in einem Land 100 Millionen Euro zu viel an Kommunen zahlen – die werden sich im Zweifelsfall nicht bei uns melden –, aber in einem anderen Land 200 Millionen Euro zu wenig; die werden sich dann ganz sicher bei uns melden und Nachforderungen stellen. Mein zweiter Punkt ist die Frage, ob wir nicht gemeinsam mit den Ländern die Verteilschlüssel für die Kommunen festlegen können, ja vielleicht sogar müssen, damit bei den Ländern nichts hängen bleibt; denn es gibt nichts zu verrechnen an dieser Stelle. Die Ausfälle beschränken sich ja nicht auf die Gewerbesteuereinnahmen. Die Kommunen haben an vielen Stellen Steuer- und Einnahmeausfälle. Insofern müssen wir aufpassen, dass das, was wir jetzt beschließen, zu 100 Prozent auf der kommunalen Ebene ankommt. ({1}) Als Schlüssel bietet sich an, da die Gewerbesteuer, wie wir wissen, volatil ist, einen geglätteten Durchschnitt der letzten Jahre anzusetzen und diesen zu vergleichen mit den aktuellen Zahlen, die wir im September haben werden. Ich glaube, darüber sollten wir im Verfahren noch einmal reden. Aber, meine Damen und Herren, wir bleiben nicht bei kurzfristigen Liquiditätshilfen. Der Bund übernimmt dauerhaft bis zu 75 Prozent der Kosten der Unterkunft. Das sind jährliche Entlastungen der Kommunen von 3,4 Milliarden Euro. Damit keine Bundesauftragsverwaltung einsetzt, müssen wir in diesem Fall das Grundgesetz ändern. Mit dieser Maßnahme entlasten wir gezielt strukturschwache Kommunen, und zwar deutlich stärker als mit der Übernahme von Altschulden. Wir haben das nachgerechnet: Die kassenkreditbelasteten Kommunen in NRW hätten bei einer vollständigen Übernahme von Altschulden ungefähr jährlich 300 Millionen Euro an Zins und Tilgung gespart. Mit der Übernahme der KdU kommt aber fast 1 Milliarde Euro bei den Kommunen in Nordrhein-Westfalen an. Ich glaube, das ist die bessere Hilfe an dieser Stelle, als wenn wir ihre Altschulden übernommen hätten. ({2}) Meine Damen und Herren, zusammen mit der Förderung des Infrastrukturausbaus – ich nenne beispielhaft Sportstättenförderprogramm, 3 Milliarden Euro für Kita- und Ganztagsausbau, Investitionen in die Ladesäuleninfrastruktur, Flottenaustausch bei den kommunalen Fahrzeugen und beim ÖPNV, 1 Milliarde Euro für kommunale energetische Gebäudesanierung, 3 Milliarden Euro für die Digitalisierung der Kommunalverwaltung, Zukunftsprogramm Krankenhäuser usw. – bringen wir die Kommunen nicht nur sicher durch die Krise, sondern wir machen sie auch fit für morgen. Ich bin sehr zufrieden, dass es uns gelungen ist, ein so umfassendes Paket auf die Beine zu stellen. Besonders freue ich mich darüber, dass damit endlich ein Thema erledigt ist, nämlich: Der Bund soll die kommunalen Altschulden übernehmen. – Das ist ein für alle Mal vorbei. ({3}) Wir verabschieden wir uns jetzt in die Sommerpause. Da gibt es viele Begegnungen in unseren Wahlkreisen. Meine Damen und Herren, in diesen Wahlkreisen schlägt das Herz der Demokratie. Das sollten wir auch bei anderen Entscheidungen sehr ernst nehmen. Für all diejenigen, die ein wenig Urlaub machen: Es gibt die Küste, es gibt die Berge, und dazwischen liegen das schöne Weserbergland und der Teutoburger Wald. Wir freuen uns auf Sie. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Marco Bülow ist der nächste Redner. ({0})

Marco Bülow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003512

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wichtige Entscheidungen und Beschlüsse muss man im Zusammenhang sehen: 130 Milliarden Euro für das Konjunkturpaket, 9 Milliarden Euro für die Lufthansa, und morgen sollen im Zusammenhang mit dem angeblichen Kohleausstieg über 4 Milliarden Euro ausgegeben werden. Ich fange mit dem Konjunkturpaket an. Ich schließe mich der Meinung an, dass wir gerade mit der Entlastung der Kommunen auf dem richtigen Weg sind und dass wir da wirklich wichtige Punkte setzen, auch wenn ich mir da mehr gewünscht hätte. Dafür kann man die Große Koalition an dieser Stelle nur loben. Ansonsten wird ja eher das gelobt, was nicht gemacht worden ist. Ich finde, es ist ein Problem, wenn man das besonders herausstellt, was nicht gemacht worden ist, wie zum Beispiel diese Abwrackprämie. Es gibt aber genug Geschenke an Lobbyisten. Worüber zum Beispiel heute nicht groß geredet wird, ist, dass 10 Milliarden Euro dieses Paketes in Rüstungsprojekte investiert werden. Darüber sollten wir auch reden, das gehört nämlich zur Wahrheit dazu. ({0}) Wir sollten darüber reden, dass Sachen als Klimaschutz verkauft werden, die kein Klimaschutz sind; denn Investitionen in E-Mobilität allein schaffen keinen Klimaschutz. Wenn wir weiter Kohlestrom in unser Stromnetz einspeisen, dann müssen diese Autos sehr lange fahren, damit sie überhaupt einen Klimaschutzeffekt haben, weil bei der Produktion mehr CO2 ausgestoßen wird; auch darüber wird nicht geredet bei diesem Paket. Es wird auch nicht darüber geredet, dass es eine riesige verpasste Chance ist; denn wenn man so viel Geld in die Hand nimmt, könnte man eine wirkliche ökologische und soziale Lenkungswirkung entfalten. Schauen wir uns eine Zahl an – eine ist heute schon genannt worden –: Was kriegen denn diejenigen, die nicht besonders viel haben, von der Mehrwertsteuersenkung ab? – Vielleicht 8 Euro im Monat, wenn alles weitergegeben wird. Allein der Kauf eines SUVs von 55 000 Euro bringt dem Käufer 1 500 Euro ein. Da frage ich mich doch: Wo ist die soziale Lenkungswirkung dieses Konjunkturprogramms? ({1}) Dann werfen wir noch einen Blick auf die Lufthansa und deren Rettung. Das ist keine Marktwirtschaft, das ist feudale Planwirtschaft. Warum wird ein Unternehmen gerettet, das seine Steuern hauptsächlich in Malta bezahlt, das seine Leute sowieso entlässt und das so klimaschädlich ist? Warum nehmen wir das Geld nicht, um andere zu retten, die kleine Läden haben, die hier ihre Steuern bezahlen? Das frage ich mich hier allen Ernstes. ({2}) Dann ein Ausblick auf morgen – das ist eigentlich der schlimmste Punkt, finde ich –: Da wird ein Kohleausstieg, der aber eigentlich wieder ein Einstieg ist, beschlossen. 2038 ist viel zu spät! Ein Kind, das heute geboren wird, wird dann 18, durfte niemals mitentscheiden und muss die Suppe auslöffeln, die wir ihm einbrocken. 2038 ist zu spät für den Kohleausstieg. ({3}) Und ihn dann noch für die Lobbyisten zu vergolden, mit über 4 Milliarden Euro, das kann es nun wirklich nicht sein.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege.

Marco Bülow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003512

Ich komme gleich zum Ende, das ist der letzte Satz. – Die Spitze ist – da kommt der Lobbyismus wieder schön zum Tragen –, dass ein Ministerpräsident, CDU, erst Chef der Kohlekommission wird und dann belohnt wird, indem er Lobbyist für die Braunkohlelobby wird: Herr Tillich. Das ist ein Dreischritt; das geht so nicht weiter. Wir müssen in die Zukunft investieren, nicht in die Vergangenheit.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Marco Bülow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003512

Ja. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Josef Rief, CDU/CSU. ({0})

Josef Rief (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004136, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! „Wenn man über irgendein Land in Europa sagen kann, dass es bisher die Corona-Krise gut gemeistert hat, ist es Deutschland.“ Das sagen nicht wir, sondern dies schreibt die renommierte britische Wirtschaftszeitung „The Economist“. Wir haben die Infektionswelle schnell erkannt und dann auch sehr zügig Maßnahmen zur Eindämmung umgesetzt. Für die vernünftige und besonnene Reaktion müssen wir allen, ich betone: allen Menschen in unserem Land danken. Nur gemeinsam ist uns der Kraftakt gelungen, diese Infektionswelle zu stoppen. Wir können an anderen Ländern, in denen nichts gemacht wurde, in denen die Pandemie verleugnet wurde, wie es leider auch viele in diesem Raum tun, sehen, was dann passiert, welche Folgen die Pandemie hat, wie viele Tote es dann gibt. ({0}) Unsere Coronahilfen sind europaweit, wahrscheinlich weltweit einzigartig. Unser Ziel ist auch weiterhin, Existenzen und Arbeitsplätze zu retten und den besonders betroffenen Branchen eine Perspektive zu geben. Ich muss in diesem Zusammenhang sagen: In wenigen Stunden demonstrieren die Schausteller vor dem Brandenburger Tor. Ich bin gespannt, ob diejenigen, die hier kritisieren, dass wir zu viel machen, dass wir zu viel Geld rausschmeißen, dann zu den Schaustellern sagen: Ihr bekommt nichts. – Da bin ich gespannt. Ich werde da sein und werde mir das anschauen. ({1}) Mit dem zweiten Nachtragshaushalt – um zum Thema zu kommen – gehen wir heute den Weg zur Bewältigung der Krise konsequent weiter. Im ersten Nachtragshaushalt, im März, ging es darum, unsere Unternehmen und Betriebe am Leben zu halten und unsere Volkswirtschaft vor einem Zusammenbruch zu bewahren. Mit dem zweiten Nachtragshaushalt schaffen wir nur eine Brandmauer gegen den Abschwung. Wir wollen die Wirtschaft ankurbeln und – das ist auch schon gesagt worden – gestärkt aus dieser Krise hervorgehen. Unsere gute Haushaltspolitik der vergangenen Jahre ermöglicht uns das. Für die Union ist es selbstverständlich zugleich Verpflichtung, diesen Haushalt so schnell wie möglich wieder zu konsolidieren. ({2}) Als Haushälter konnte ich sehr schnell feststellen, welche Ausgaben zur Pandemiebekämpfung im Zuständigkeitsbereich des Gesundheitsministeriums gerade jetzt auf uns zukommen. Insgesamt wachsen die Ausgaben im Gesundheitshaushalt um mehr als das Doppelte auf circa 41 Milliarden Euro an; 25 Milliarden Euro mehr als im Vorjahr. Die Mittel für die zentrale Beschaffung von Schutzausrüstungen und Beatmungsgeräten wachsen auf über 7,5 Milliarden Euro an. Aktuell sind Verträge in dieser Höhe geschlossen; 2,7 Milliarden Euro sind bereits ausgegeben. Neben 11,5 Milliarden Euro für die Krankenhausfinanzierung und 5,3 Milliarden Euro für die Pandemielasten im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung und der Pflegeversicherung stellen wir insgesamt noch einmal 9,1 Milliarden Euro als Zuschüsse zur Verfügung. Weil die Pandemie nicht an Grenzen haltmacht, ist eines wichtig: Wir stocken in diesem Jahr die Unterstützung für die Weltgesundheitsorganisation auf insgesamt über 500 Millionen Euro auf. Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir bringen die Wirtschaft wieder in Schwung. Wir unterstützen Familien mit dem Kinderbonus von 300 Euro je Kind. Die Mehrwertsteuersenkung sorgt dafür, dass jeder schon beim täglichen Einkauf von diesem Konjunkturpaket profitieren kann. Wir senken die EEG-Umlage, um die Energiekosten zu stabilisieren, und unterstützen unsere Kommunen; das ist ebenfalls schon gesagt worden. Wir investieren in die Zukunft; wir investieren 50 Milliarden Euro in Forschung und Entwicklung, in zukunftsfähige Felder. Hier seien beispielhaft genannt: künstliche Intelligenz, Klimatechnologien, Wasserstoffstrategie und E-Mobilität. Meine Damen und Herren, Deutschland ist die größte Volkswirtschaft in Europa. Wir haben in den vergangenen Jahren gezeigt, wie wirtschaftliche Entwicklung und Haushaltsdisziplin zusammen funktionieren. Auf den schnellen Stopp soll nun auch ein schneller Aufschwung folgen. Wenn wir uns weiter diszipliniert an die Coronavorgaben halten und ein nochmaliges Herunterfahren vermeiden können, bis hoffentlich ein Impfstoff zur Verfügung steht, haben wir mit den verabschiedeten Maßnahmen das Bestmögliche für unser Land erreicht, auch wenn wir uns mit dem Gedanken vertraut machen müssen, dass unsere Welt nach Corona eine andere sein wird. Alle Milliarden nützen nichts, meine Damen und Herren, wenn nicht jeder Einzelne sich an die Coronavorgaben hält: Corona-App, Abstand halten, Masken tragen. Helfen Sie alle mit! Wir können das Virus nur gemeinsam bekämpfen. Wer Deutschland liebt, wer Europa liebt und die Menschen in der Welt liebt, der hält sich an die Coronavorgaben. Der Bundeshaushalt trägt dem Rechnung. ({3}) Haben Sie Mut in der Opposition. Stimmen Sie zu. Tragen Sie Verantwortung mit. ({4}) Herzlichen Dank. ({5})

Siegbert Droese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004704, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat mit ihrer Ratspräsidentschaft eine riesige Chance: die Chance, echte Reformen auf den Weg zu bringen oder zumindest Diskussionen dazu anzustoßen. Liest man jedoch das Arbeitsprogramm der Bundesregierung, gewinnt man den Eindruck, das Dokument wurde direkt in Brüssel verfasst und lediglich auf Briefpapier der Bundesregierung gedruckt. Es entsteht nicht der Eindruck, dass man die Kernprobleme der EU wie Strukturprobleme, das Demokratiedefizit und vor allem die Vertrauenskrise der Menschen in die EU anpacken will. Darüber hinaus muss man in allen Dokumenten einen Aspekt mit der Lupe suchen – daher auch unser Antrag –: Das ist die Selbstkritik. Stattdessen sieht die Bundesregierung die EU als Global Player. Dabei hat die Union nicht mal die Maskenverteilung in der EU hinbekommen. Schon vor Corona war die EU gekennzeichnet vom Kampf über die Verteilung illegaler Migranten, vom Streit über den mehrjährigen Finanzrahmen und von Vorwürfen mangelnder Solidarität untereinander. Minister Maas sprach gestern hier an gleicher Stelle auch davon. Bei allem, meine Damen und Herren, geht es aber um eins: Es geht immer um das liebe Geld, aber auch darum, wer recht hat unter den Mitgliedstaaten. ({0}) Bestes Negativbeispiel, meine Damen und Herren, ist das Urteil aus Karlsruhe zu den EZB-Anleihen. Es wäre eine notwendige Aufgabe für die Ratspräsidentschaft, eine echte Diskussion über die Macht des EuGH zu starten. In diesem Kontext steht auch die unsägliche Debatte um die sogenannten geizigen Vier oder – nicht weniger abfällig – die sparsamen Vier. Martin Schulz hat hier im Plenum vor Kurzem vier souveräne EU-Länder als „Reichtumsseparatisten“ bezeichnet. Ein Skandal, wie ich finde. Entschuldigung: bis heute Fehlanzeige. ({1}) Aber genau die Frage der Haftung, meine Damen und Herren, hätte der Hauptpunkt der deutschen Ratspräsidentschaft sein müssen, schon um weiteren Schaden für das deutsche Volk abzuwenden. Die AfD-Fraktion, wir als freiheitliche Partei, sind jedenfalls dafür, dass die Union keine Schuldenunion wird. ({2}) Meine Damen und Herren, 500  Milliarden von 750 Milliarden Euro quasi als Geschenk: Das ist niemandem zu vermitteln. Wo bleiben da die Anreize, im eigenen Land vernünftig zu sparen und vernünftig zu wirtschaften, wenn ich weiß, dass am Ende die EU meine Schulden übernimmt? Denn das heißt ja, dass sie vor allem vom deutschen Steuerzahler bezahlt werden. Niemand wird ernsthaft in Zweifel ziehen, dass wir uns in einer Wirtschaftskrise befinden. Brüssel und die Bundesregierung träumen vom Green Deal. Natürlich ist auch für uns Umweltschutz wichtig, allerdings ist die religiöse Fokussierung auf diesen Green Deal für uns die falsche Schwerpunktsetzung. Statt sich also in grüner Religion zu sonnen, muss neben der Wirtschaft die Demokratie in der EU gestärkt werden. ({3}) Die AfD ist hier für eine Ratspräsidentschaft, wo das Thema „direkte Demokratie“ auf die Agenda hätte kommen müssen. Wir fragen uns: Warum wird der Präsident der Kommission nicht direkt von den Menschen in den Mitgliedsländern gewählt? Warum gibt es keine Volksabstimmungen über die Aufnahme weiterer Mitglieder, beispielsweise vom Westbalkan? Aber die EU schafft es ja nicht mal, die Sommerzeit zu reformieren. Es gab ja eine Internetabstimmung in der ganzen EU. Und Herr Juncker hat vollmundig gesagt: Wenn die EU-Bürger das wollen, machen wir das. – Seither: Still ruht der See. Meine Damen und Herren, der EU fehlt eben die Bürgernähe. ({4}) Das Kernproblem der aktuellen EU ist aber eine Vertrauenskrise. Echte Subsidiarität, wieder mehr Souveränität der Mitgliedstaaten könnten dabei helfen, das Vertrauen in die Ursprungsidee, in die gute Idee der EU zurückzugewinnen. Gerade Corona hat aber gezeigt, wie wenig krisenfest diese EU ist. Die Bürger der Mitgliedstaaten müssen mehr entscheiden dürfen, souverän, ohne Angst vor Sanktionen oder Artikel-7-Verfahren. Man möchte der EU zurufen: Einfach mal mehr Demokratie wagen! ({5}) Es ist jedoch zu befürchten, dass die deutsche Ratspräsidentschaft nichts daran ändern wird, dass die EU noch mehr ein Klub linker und grüner Ideologen wird. Schade um die ursprüngliche prima Idee der Wirtschaftsunion. ({6}) Für uns, meine Damen und Herren – damit komme ich zum Ende –, bleibt lediglich die Hoffnung; die Hoffnung, dass nach dem Brexit nicht ein Dexit notwendig wird. Vielen Dank. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie die Zwiegespräche vielleicht draußen führen. Es ist so ein störendes Grundrauschen hier. Die nächste Rednerin für die CDU/CSU-Fraktion ist die Kollegin Katrin Staffler. ({0})

Katrin Staffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004901, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor 13 Jahren, also 2007, hat Deutschland das letzte Mal die Ratspräsidentschaft innegehabt. Am 1. Januar haben wir damals die Präsidentschaft übernommen. Übrigens ist gleichzeitig in Deutschland die Mehrwertsteuer von 16 auf 19 Prozent erhöht worden. Irgendwie scheinen diese beiden Themen schicksalhaft miteinander verbunden zu sein. Bulgarien und Rumänien sind Mitglieder der Europäischen Union geworden; Slowenien hat den Euro eingeführt. Während des halben Jahres unserer Präsidentschaft hat sich die EU verbindlich verpflichtet, den Ausstoß von Treibhausgasen bis 2020 im Vergleich zu 1990 um ein Fünftel zu verringern. Anlässlich des 50. Jahrestags der Römischen Verträge haben die Regierungschefs damals eine gemeinsame Erklärung zur Europäischen Union unterzeichnet. Kurz vor Ende des halben Jahres unserer Präsidentschaft hat der Europäische Rat dann die Grundzüge des EU-Grundlagenvertrags beschlossen. Ich glaube, man kann mit Fug und Recht sagen: Das war damals eine sehr erfolgreiche Präsidentschaft. Damals haben deswegen auch Stimmen aus Brüssel die Diszipliniertheit, das Verhandlungsgeschick und das Engagement der Deutschen gelobt. Gestern haben wir die Ratspräsidentschaft wieder übernommen. Mehr denn je müssen wir uns wieder auf genau diese Eigenschaften, für die wir schon damals gelobt worden sind, besinnen. Denn machen wir uns nichts vor: Es kommen nicht ganz einfache Zeiten auf uns zu. Anders aber als die Verfasser des Antrags, den wir heute beraten, bin ich felsenfest davon überzeugt, dass wir aus der aktuellen Krise sehr wohl gestärkt hervorgehen können. ({0}) Das muss doch auch unser Anspruch sein, ganz nach dem Motto, das wir uns ja richtigerweise gegeben haben: „Gemeinsam. Europa wieder stark machen.“ Wenn man sich diesen Antrag so anschaut, den die Kolleginnen und Kollegen zu unserer Rechten vorgelegt haben – ich sage es Ihnen ganz ehrlich: ich tue das nicht besonders gerne –, wenn man liest, was da so zusammengeschrieben worden ist, dann wird einem echt schwindelig. ({1}) Da kann man nur noch den Kopf schütteln. Am liebsten hätte ich nach der ersten Seite schon wieder aufgehört, zu lesen. Ich meine, es kann doch bitte nicht Ihr Ernst sein, was Sie uns hier heute vorlegen. ({2}) Ihr Antrag hat mit der Ratspräsidentschaft überhaupt nichts zu tun, wenn man mal von einem kleinen Absatz auf der letzten Seite absieht. ({3}) Das ist ja glatt eine Themaverfehlung. ({4}) Sie machen sich einfach nur Luft und holen zum Rundumschlag gegen die Europäische Union aus. Sie schreiben zum Beispiel, dass die Coronapandemie gezeigt habe, wie wenig die Europäische Union in der Lage sei, die Probleme der Bürger Europas zu lösen. ({5}) Ich weiß ja nicht, ob Sie in den letzten Wochen und Monaten die Nachrichten verfolgt haben. Ich muss ganz ehrlich sagen: Mich hat es teilweise wirklich gerührt, mit welcher Solidarität wir einander geholfen haben ({6}) und wie gut – zugegebenermaßen nach anfänglichen Schwierigkeiten – die Europäische Union auf die Krise reagiert hat. ({7}) Wir müssen doch nach vorne schauen, lieber Herr Kleinwächter. Wir müssen die Krise bewältigen. Wir müssen Europa fit für die Zeit nach der Krise machen, statt darüber zu heulen, was in der Vergangenheit vielleicht schiefgelaufen ist. ({8})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Katrin Staffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004901, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. – Es liegen wichtige Aufgaben vor uns. Ich bin froh, dass wir jetzt unseren Teil dazu beitragen können, dass wir diese Aufgaben auch lösen. Die Verhandlungen zum Post-Brexit, zum mehrjährigen Finanzrahmen: Das sind die Themen, die ganz oben auf unserer Agenda stehen. Ich glaube, gerade beim MFR geht es ganz entscheidend darum, ob es uns gelingen wird, dass wir die richtigen Schwerpunkte für ein innovatives, für ein krisenfestes, für ein nachhaltiges Europa setzen. Die Verhandlungen zum Post-Brexit sind in der Tat schwierig. Aber haben Sie schon mal eine Scheidung gesehen, die einfach war? Da braucht es Verhandlungsgeschick, da braucht es Vertrauen, da muss man zu einer guten Einigung kommen. Mitnichten ist es eine „Bestrafung“, um andere Mitgliedstaaten abzuschrecken, wie Sie schreiben. Das genaue Gegenteil ist doch der Fall, und das wissen Sie auch. Natürlich liegt uns extrem viel daran, dass wir auch künftig hervorragende Beziehungen zum Vereinigten Königreich haben. Das ist ja auch in unserem ureigensten Interesse. ({0}) Das waren jetzt nur zwei Aufgaben, die natürlich einen sehr großen Teil unserer Ratspräsidentschaft einnehmen werden. Ich glaube, wenn man sich das Programm der Bundesregierung anschaut, dann zeigt das, dass wir einen sehr viel ambitionierteren Plan verfolgen. Zu unseren Prioritäten gehört zum Beispiel auch die Stärkung der europäischen Werte- und Rechtsgemeinschaft. Die Krise hat im Bereich der Rechtsstaatlichkeit ja durchaus eine Reihe von Schwachstellen offengelegt: von der Belastung der Justizsysteme bis hin zur unterschiedlich gelagerten Wirksamkeit von institutioneller Kontrolle und Gegenkontrolle usw. Diesen Punkten müssen wir natürlich entschieden entgegentreten. Deswegen werden wir uns dafür einsetzen, dass wir eine Rechtsstaatsverknüpfung mit dem mehrjährigen Finanzrahmen hinbekommen und einen neuen Rechtsstaatsdialog im Rat anstreben. ({1}) Auch mit Blick auf die anderen großen Transformationsprozesse Klimawandel, Digitalisierung, Veränderungen in der Arbeitswelt müssen und werden wir die Europäische Union stark machen. Ja, die Herausforderungen für die Europäische Union sind zahlreich. Deswegen müssen wir unsere Handlungsfähigkeit unter Beweis stellen, und wir müssen die Themen in den Blick nehmen, die die Menschen umtreiben. Mehr denn je müssen wir aus unserer Ratspräsidentschaft jetzt eine Zukunftspräsidentschaft machen. Wenn ich das Programm der Bundesregierung lese, bin ich, ehrlich gesagt, zuversichtlich, dass uns das gelingen wird. Deswegen freue ich mich auf spannende sechs Monate. Für Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der AfD, habe ich hier ein Taschentuch für Ihre Krokodilstränen dabei, die Sie immer wieder über angebliche Fehler aus der Vergangenheit weinen. Damit können Sie die mal trocknen. ({2}) Wir werden in der Zwischenzeit gemeinsam für eine gute Zukunft anpacken, und darauf freue ich mich. Danke schön. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die FDP hat das Wort der Kollege Thomas Hacker. ({0})

Thomas Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004734, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der Zeitpunkt für die deutsche Ratspräsidentschaft könnte kaum schicksalhafter sein. Die globale Coronakrise und ihre gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Auswirkungen sind die größte Bewährungsprobe für Europa seit 1945. Auch wenn die Bewältigung der Pandemie das allgegenwärtige Thema der nächsten Monate sein wird, darf es nicht das einzige Thema dieser Ratspräsidentschaft sein. Groß sind die Erwartungen der Menschen in Europa an unsere Präsidentschaft, und lang ist die Liste der Herausforderungen, vor denen wir in Europa stehen. Brexit, Green Deal, europäische Asylpolitik, Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, mehrjähriger Finanzrahmen, Digitalisierung, Reform der Institutionen, Erweiterungspolitik: Auch diese Themen bestimmen die Zukunftsfähigkeit der Europäischen Union. Die Erwartungen an das größte Land und die stärkste Volkswirtschaft in der Europäischen Union könnten kaum größer sein. Die FAZ kommentierte gestern, Deutschland sei „Motor, Moderator, Brückenbauer. Das allein aber reicht nicht“. Ja, genau, das ist richtig: Deutschland muss in dieser Präsidentschaft Außergewöhnliches leisten. „Gemeinsam. Europa wieder stark machen.“ – so das Motto der Bundesregierung. „Gemeinsam“: Dieses Wort allein hätte gereicht, um unseren Anspruch an ein funktionierendes Europa im 21. Jahrhundert zu definieren. Auf das Trump-Plagiat hätten wir verzichten können. „Gemeinsam“: Mit diesem kleinen Wort ist auch der größte Unterschied zum vorliegenden Antrag der AfD schon benannt. Zehn Seiten nutzen Sie, um ein Zerrbild der Europäischen Union zu erfinden und die Axt an die Fundamente unseres Wertesystems zu legen. ({0}) Die Europäische Union möchten Sie zerstören und die Deutsche Mark wieder einführen. Zusammengefasst: Der deutsche Michel allein zu Haus! ({1}) Gott sei Dank trifft Ihr Zerrbild nicht die Lebenswirklichkeit von Millionen von Europäern – Millionen von Menschen, die die Freiheit schätzen, die die EU für ihr Leben gebracht hat: die Freiheit, ihren Wohnort und Arbeitsplatz selbst zu wählen, die Freiheit, während der Ausbildung und des Studiums andere Länder kennenzulernen, die Freiheit, in Europa zu reisen, ohne durch lange Staus und Grenzkontrollen gehindert zu werden, die Freiheit, seit 75 Jahren in Frieden leben zu können. Diese Freiheit ist nur möglich, weil die Europäische Union eben mehr ist als eine bloße Wirtschaftsgemeinschaft. Die EU gründet sich auf stabile Pfeiler: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Achtung der Menschen- und Freiheitsrechte. Wann immer in einem Mitgliedsland diese Grundpfeiler in Gefahr sind, sind wir verpflichtet, unsere Stimme zu erheben, sind wir als Europäer verpflichtet, zu handeln. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir aus den ersten Monaten der Pandemie eines lernen können, dann ist es doch das: Die Zeit nationaler Egoismen muss vorbei sein. Die Pandemie kann nur gemeinsam bekämpft werden. Die wirtschaftlichen Folgen können nur gemeinsam angegangen werden. Wir werden darum ringen, in welchem Umfang europäische Gelder den Mitgliedstaaten zur Verfügung gestellt werden, wie hoch die Anteile der Zuschüsse und die Anteile der Darlehen sein werden. Nicht infrage steht jedoch für die Mehrheit des Hauses, dass es unsere gemeinsame Aufgabe ist. ({3}) Die Wertegemeinschaft Europa muss selbstbewusst auftreten und auch mal den ersten Schritt machen und auf andere zugehen. Für uns endet unsere Verantwortung nicht an den Grenzen der Mitgliedstaaten, egal ob es sich um Beitrittsverhandlungen mit der Türkei oder den kritischen Dialog mit unserem Handelspartner China handelt. Unsere gemeinsame Verantwortung gilt für die Staaten des Westbalkans über unsere Östliche Partnerschaft bis nach Asien und Afrika. Und wo wir die Freiheit der Menschen in Gefahr sehen – wie in Hongkong –, müssen wir handeln. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei allem, was wir in den nächsten sechs Monaten für die Europäische Union unternehmen: Es geht nicht nur um den Wohlstand Europas; wir tragen mit unseren Partnern die Verantwortung, unsere Werte zu verteidigen, unsere Freiheit – gemeinsam. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte noch mal daran erinnern, dass wir um 11.43 Uhr die namentliche Abstimmung schließen. Es ist momentan wenig Andrang vor den Urnen. Es wäre jetzt eine gute Gelegenheit, falls Sie noch nicht abgestimmt haben. Der Kollege Axel Schäfer hat als Nächstes das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Axel Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003624, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Manchmal können auch unverständliche, unklare Anträge wie der, der uns jetzt vorliegt, doch in der Konsequenz für Klarheit sorgen. Man muss es nur auf die entscheidenden Punkte bringen. Was will der AfD-Antrag? Erstens Auflösung der Euro-Zone, ({0}) zweitens keine Sozialunion, ({1}) drittens keinen Wiederaufbaufonds, ({2}) viertens natürlich auch die Abschaffung des Europäischen Auswärtigen Dienstes. So geht es weiter. Die Addition dieser Ablehnungen ist keine Positionierung zur EU-Ratspräsidentschaft Deutschlands, sondern eine Ablehnung der Europäischen Union insgesamt. Darum geht es Ihnen. ({3}) Das muss man mal als Unterschied herausstellen. Wir diskutieren hier, ob Europa vielleicht liberaler wird, manchmal auch ein bisschen konservativer oder ökologischer, für uns natürlich sozialer, für manche noch ein bisschen linker. Aber wir wollen gemeinsam hier dieses Europa verbessern, weil wir ein Teil dieses Europas sind. Das ist unser gestaltetes Europa. Deshalb stehen wir dafür, und deshalb kämpfen wir dafür, und deshalb haben wir auch diese Ratspräsidentschaft zum Erfolg zu führen. ({4}) Was die AfD will, ist genau darin beschrieben: keine Gesetzgebungsverfahren. ({5}) Der Europäische Gerichtshof soll keine Entscheidungen mehr treffen. Die EU-Kommission soll auf ein reines Verwaltungsorgan reduziert werden. ({6}) Der Kollege Droese hat dazu in dankenswerter Offenheit gesagt, um was es da am Ende geht. Er hat nämlich von Exit gesprochen. Deshalb ist es folgerichtig, dass in diesem Haus Linke wie FDP, Grüne, CDU/CSU und SPD gegen den Brexit waren, der von der AfD bejubelt worden ist. Genau das ist der Unterschied, und genau das sollten wir heute hier deutlich machen. ({7}) Kolleginnen und Kollegen, wir können das wirklich mit Selbstbewusstsein tun. Ja, die beiden letzten deutschen Ratspräsidentschaften, 1999 unter Rot-Grün und 2007 in der heutigen Koalitionskonstellation ({8}) – danke schön; es stimmt, die SPD war immer dabei –, waren Herausforderungen, die es vorher so nicht gegeben hat. Da ging es um Frieden wegen kriegerischer Auseinandersetzungen auf dem Balkan. Da ging es um den europäischen Verfassungsvertrag. ({9}) Da ging es auch um den mehrjährigen Finanzrahmen. Immer war die deutsche Position – weil wir bei Europa ins Gelingen verliebt sind –, mit guten Kompromissen, mit Kreativität, mit Aufeinanderzugehen, indem man einander zuhört, zu Lösungen zu kommen. Das ist in der Vergangenheit gelungen. Ich sage Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Weil wir es wollen und weil wir es können, werden wir diese Ratspräsidentschaft zum Erfolg führen. Den Antrag der AfD könnten wir an dieser Stelle bewusst vergessen, wüssten wir nicht, dass Sie auch die Letzten waren, die Herrn Trump zugejubelt haben. Ich hoffe, dass die deutsche Ratspräsidentschaft auch in Zeiten stattfindet, wo wir in Amerika einen anderen Präsidenten bekommen. Das wäre mein persönlicher Wunsch. Vielen Dank. ({10})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion Die Linke hat das Wort der Kollege Dr. Diether Dehm. ({0})

Dr. Jörg Diether Dehm-Desoi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000365, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Der AfD-Antrag verdreht aufs Neue die EU zu einer linken Planwirtschaft. ({0}) Doch was unterscheidet rechte europafeindliche Demagogie radikal von der linken Kritik an dieser EU? Das sage ich auch mal an die Adresse der Journalisten, die immer von der Querfront „Rechts ist gleich links“ schwadronieren. So behauptet die AfD, die Deutschen würden von allen anderen Europäern ausgenutzt. Aber Leute, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, werden überall von deutschen Konzernen ausgebeutet, und die Linke steht bei den Ausgebeuteten. ({1}) Die AfD jammert, Deutschland würde von der EU beschissen. Aber von den Staatsbeihilfen im EU-Gesamtvolumen von 2 Billionen Euro gibt allein Deutschland für seine Wirtschaft 51 Prozent aus und zum Vergleich Italien nur 15,5 Prozent. Die Linke will diese Beihilfen aber umverteilen für nachhaltige Bauernhöfe, nicht für Massentierhalter, für sichere Arbeitsplätze, nicht für Drohnenbauer, für zukunftsfähige Handwerker, nicht für BMW, für Sparkassen, nicht für Großbanken. Das ist der entscheidende Unterschied. ({2}) Dann will die AfD keinerlei Steuerkompetenz für die EU, aber nationale Steuerhoheit als Wettbewerbsinstrument. Irland lässt grüßen! Die Linke bekämpft Steuerwettbewerb und Dumping, weil dadurch Amazon, Google und Facebook in EU-Steueroasen quasi null Steuern bezahlen müssen. Apple zum Beispiel zahlt auf 1 Million 50 Euro Steuern. Das ist doch unfassbar! ({3}) Wir wollen eine echte Börsenumsatzsteuer gegen die Großspekulanten, die auf Krankheiten, auf die Not anderer Menschen spekulieren. Die AfD schreibt – ich zitiere –: Man sollte sich statt um Gesellschaftsveränderungen „um den geschundenen Arbeiter und Angestellten … kümmern“. ({4}) Die Linke sagt: Damit Arbeiter nicht länger geschunden werden, braucht Europa starke Gewerkschaften, Streikrecht, europaweite Mindestlöhne und einen Mindeststeuersatz gegen Superreiche. ({5}) Die AfD hat hier oft an diesem Mikro für superreiche Steuerpflichtige und Steuerflüchtige geworben, auch für die Panama-Briefkästen. Die Linke aber kümmert sich um die vielen Jungen und Alten in Dreizimmerwohnungen, denen jetzt „Abstand halten!“ zugerufen wird. Und für sie wollen wir niedrige Mieten ({6}) und endlich Tariflöhne für alle. Viel Erfolg beim Streiken, liebe Kolleginnen und Kollegen, bei Amazon. ({7}) Die AfD will einen starken repressiven Staat, außer wenn die Staatsgewalt rechte Straftäter trifft. Die Linke will den starken Rechts- und Sozialstaat nach Vorbild unseres Grundgesetzes, Artikel 14 und 15, endlich auch in der EU. Und das erwarten auch die Gewerkschaften von der EU-Ratspräsidentschaft. ({8}) Die AfD will die Bundeswehr aufrüsten – zur Angriffsfähigkeit. ({9}) – Natürlich. Sie haben hier immer gegen Abrüstung gestimmt, und Antiaufrüstungsanträge auf Ihrem Bundesparteitag sind sang- und klanglos untergegangen. ({10}) Die Linke betont dagegen das Angriffskriegsverbot in Artikel 26 Grundgesetz, also Abrüstung bis zur Angriffskriegsunfähigkeit. ({11}) Die AfD schreibt in ihrem Antrag – ich komme zum Schluss, Herr Präsident –, die EU dürfe keineswegs zu einer „sozialen Union“ werden; stattdessen solle es mehr Freihandel geben. Die Linke will wie Entwicklungsminister Müller mehr fairen Handel statt mehr Freihandel. ({12}) Die Rechte wollte schon immer ein deutscheres Europa.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Sie wollten zum Schluss kommen.

Dr. Jörg Diether Dehm-Desoi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000365, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die Linke wollte schon immer ein europäischeres Deutschland. Ich danke Ihnen. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für Bündnis 90/Die Grünen erhält das Wort die Kollegin Dr. Franziska Brantner. ({0})

Dr. Franziska Brantner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004255, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich habe heute keine Zigarre dabei; verzeihen Sie. ({0}) Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Eigentlich ist es, finde ich, gar nicht wert, AfD-Anträge auseinanderzunehmen. ({1}) Aber ich habe gedacht, ich muss heute mal ein paar Punkte rausnehmen. Die AfD wirft der EU Totalversagen in der Coronakrise vor, weil die EU-Kommission nicht getan hat, was sie nicht tun durfte. Sie werfen der EU-Kommission vor, dass sie ihre Kompetenzen nicht überschritten hat. Gleichzeitig sagen Sie, dass die EU-Kommission und die EU diese Kompetenzen auch nie bekommen sollen, damit sie immer versagen müssen. Das ist die AfD-Europapolitik. ({2}) Sie sagen, dass die EU-Gelder auf keinen Fall – ich zitiere – „intransparent“ versickern sollen und sagen dann im nächsten Satz, dass es auf gar keinen Fall eine keinerlei inhaltliche Konditionierung dieser Gelder geben darf, also dass man das Geld einfach rüberschiebt. Dann sagen Sie noch: Und es darf auch keinerlei Konditionierung an Rechtsstaatlichkeit und Bekämpfung von Korruption geben. Wie Sie das in Ihrem Kopf zusammenbringen, das würde mich wirklich mal interessieren. ({3}) Das ist die Logik der AfD-Europapolitik, weil Sie eben mit den Demokratiezerstörern in der EU paktieren. Das ist genau die klare Kante, wo wir sagen: Nein, keinen Cent für Demokratiezerstörer in der Europäischen Union. Ihr Grundgedanke in Ihrem Papier ist, dass Souveränität nur national ist. Aber das ist eine Illusion. Das Gegenteil ist der Fall: Souveränität bedeutet, dass die Bürger über ihre eigene Zukunft entscheiden können. Doch das ist heute nicht mehr allein national möglich. Wenn Sie glauben, dass wir als Deutschland neben den USA, Russland und China unsere Werte und Interessen allein verteidigen können, dann irren Sie sehr. ({4}) Wir wissen, dass dies uns nur gelingen kann, wenn wir als Europäer zusammenstehen. Wenn wir über unsere Zukunft selbst bestimmen, wenn wir souverän sein wollen, genau dann müssen wir europäisch zusammenarbeiten, um das zu ermöglichen. ({5}) Wir wollen, dass Deutschland die Ratspräsidentschaft nutzt, um Europa wirklich souveräner zu machen, insbesondere in den Bereichen Medikamente, medizinische Ausrüstung und Digitalisierung. Machen Sie den Euro zur internationalen Leitwährung! Dann können wir wirklich souveräner werden, alle gemeinsam in der Europäischen Union. Ich danke Ihnen.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Bevor ich den nächsten Redner aufrufe, komme ich zurück zu Tagesordnungspunkt 8 a. Die Zeit für die namentliche Abstimmung ist jetzt gleich vorbei. Ich darf fragen: Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme noch nicht abgegeben hat? – Axel Schäfer. Geben Sie nun bitte zügig Ihre Stimme ab! Gut, dann kommen wir nun zum nächsten Redner: Professor Dr. Heribert Hirte, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Heribert Hirte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004302, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten hier über einen AfD-Antrag, und wie so oft ist der Antrag voll von Unwahrheiten, Halbwahrheiten, Vorurteilen usw. usw. Das überrascht uns hier nicht. ({0}) Die Kollegin Brantner hat schon einiges dazu gesagt; das will ich deshalb gar nicht wiederholen. Die zwei zentralen Elemente, die in Ihrem Antrag vorkommen, sind erstens: Ja, wir müssen unser Geld dagegen verteidigen, dass es an die faulen Südeuropäer überwiesen wird. – Ehrlich gesagt, eine solche Tonalität stinkt mir. ({1}) Zweitens geht es darum: Nein, wir wollen niemanden, der zu uns einwandert oder der Asyl sucht, bei uns willkommen heißen, weil uns auch das unser Geld kostet. – Auch diese Tonalität stinkt mir. ({2}) Die dritte Botschaft, die Sie rüberbringen, ist: Unsere Rechte werden verkürzt; die Demokratie funktioniert nicht in Europa. – Auch das ist falsch, und es wurde von dieser Stelle aus x-mal gesagt; ich brauche es nicht zu wiederholen. ({3}) Ich möchte an dieser Stelle einen Punkt aufgreifen – lassen Sie uns sachlich bleiben –, ({4}) den wir im Rechtsausschuss in den letzten Wochen beraten haben. Was wir nämlich durchaus festgestellt haben – und Sie, Herr Droese, haben die Macht des EuGH kritisiert –, ist, dass es für die Länder Möglichkeiten der Beteiligung an der Rechtsfindung des EuGH gibt. Unsere Regierung kann Stellungnahmen abgeben, die Regierungen der einzelnen Mitgliedstaaten können Stellungnahmen abgeben und in den Verfahren sagen, was sie meinen, wie eine Entscheidung richtig ausfallen könnte. Wir haben gehört – ich danke ausdrücklich Frau Ackermann, der Präsidentin in der Rechtsanwaltskammer beim Bundesgerichtshof –, dass Deutschland, was diese Stellungnahmen angeht, nicht so gut dasteht wie andere Länder. Das war für mich ein Grund, der Sache ein wenig nachzugehen. Wir haben überlegt, was wir machen können. Wir haben erst mal festgestellt: Diese Stellungnahme wird bei uns in Deutschland von der Bundesregierung wahrgenommen. Das passiert immer wieder, auch im PSPP-Verfahren; um das gleich am Rande zu sagen. Aber wir könnten hier der Bundesregierung durchaus auch etwas unter die Arme greifen. Deshalb haben wir im Rechtsausschuss in einem intensiven Dialog mit der Bundestagsverwaltung, der ich dafür ausdrücklich danke, überlegt, wie wir das verbessern können. Wir werden in den nächsten Wochen die EuGH-Verfahren so aufbereitet bekommen – sie stehen auch heute schon zur Verfügung; wir wissen von der Homepage, welche Verfahren es gibt –, dass jeder von uns mitwirken kann an den Stellungnahmen gegenüber dem EuGH. Das ist ein Schritt zu mehr Demokratie, zu mehr Rechtsstaatlichkeit in Europa. Hier können wir uns als Parlament einbringen, und wir nehmen damit unsere Integrationsverantwortung in Europa wahr. Das ist eigentlich genau das, was das Bundesverfassungsgericht von uns im PSPP-Urteil eingefordert hat. Nur, diese Überlegungen sind schon älter. Wir haben schon vorher gesagt, an welchen Stellen wir unsere Beteiligungsrechte verbessern können. Und es ist unsere Initiative, hier weiterzugehen; das ist für uns als Rechtspolitiker eine Selbstverständlichkeit. Das, was Sie in Ihrem Antrag schreiben, hängt damit zusammen, dass Sie sich an all diesen Sachen nicht beteiligen. Ich rufe Sie auf: Machen Sie mit und reden Sie nicht nur! Denn Demokratie, auch auf europäischer Ebene, ist Klein-Klein-Kleinarbeit: Lesen und Zusammenhänge verstehen, und das in mehreren Sprachen. – So wie Sie das machen, geht es nicht. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kleinwächter?

Prof. Dr. Heribert Hirte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004302, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. Der redet gleich. – Deshalb ist mein Petitum: Lassen Sie uns gemeinsam arbeiten an einem starken Europa mit einem starken Bundestag, der sich an der Gestaltung dieses Europas beteiligt! Herzlichsten Dank. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Kollege Hirte. – Ich komme noch mal zurück zur namentlichen Abstimmung, Tagesordnungspunkt 8 a. Ich frage noch mal: Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Ich gebe Ihnen das Ergebnis der Abstimmung später bekannt. Der nächste Redner ist für die AfD-Fraktion der Kollege Norbert Kleinwächter. ({0})

Norbert Kleinwächter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004781, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Werter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Einigkeit und Recht und Freiheit sind die Werte, die unsere deutsche Nationalhymne prägen und auch unser Selbstverständnis als Bundesrepublik, und dieses Selbstverständnis sollte Deutschland auch in seiner Ratspräsidentschaft in die Europäische Union tragen. ({0}) Und das heißt: Bestehen Sie auf Einstimmigkeit durch Konsens, bestehen Sie auf Einhaltung der Verträge, und bestehen Sie auf einem Europa der Freiheit. ({1}) Jean-Jacques Rousseau schrieb über die Freiheit in „ Les Rêveries du promeneur solitaire “: Ich war nie der Auffassung, dass die Freiheit des Menschen darin bestünde, das zu tun, was er will, sondern niemals das zu tun, was er nicht will. Diese Freiheit habe ich mir immer eingefordert, oftmals bewahrt, und durch sie lag ich am meisten im Streit mit meinen Zeitgenossen. – Meine Damen und Herren, wenn Freiheit bedeutet, die Möglichkeit zu haben, das nicht zu tun, was man nicht will, dann müssen wir die Europäische Union als Instrument der Unfreiheit erkennen. ({2}) Denn viele der Instrumente, die es dort gibt, sind Dinge, die wir nicht wollen können und die die Bürger nicht wollen. Wir wollen keine Billionenpakete, die vor allem der deutsche Bürger von seinem Steuergeld bezahlt. Wir wollen nicht, dass es Steuern und Schulden auf EU-Ebene gibt, bis in Jahrzehnte hinein. Deswegen fordern wir: keine Steuern auf EU-Ebene und eben auch kein PEPP. ({3}) Wir wollen nicht, dass die EZB und der Euro den Wohlstand aller durch Gelddrucken und Minuszinsen gefährden. Deswegen organisieren Sie bitte den Ausstieg aus dem Euro, ganz geordnet. ({4}) Wir wollen nicht, dass souveräne Staaten von anderen, die eine angebliche Mehrheit hinter sich wissen, überstimmt werden. Bewahren Sie deswegen das Einstimmigkeitsprinzip. ({5}) Wir wollen nicht, dass die Europäische Union vorschreibt, wer bei uns leben darf. Deswegen: Verhindern Sie eine EU-Flüchtlingsverteilung! Und wir wollen keinen Green Deal, durch den unsere Gesellschaft sozialökologisch transformiert wird, die Wirtschaft abgebaut wird, der Wohlstand vernichtet wird. Schaffen Sie freie Märkte für mündige Bürger. Das ist Demokratie und Freiheit! ({6}) Und ich sage Ihnen deutlich: Europa, die Europäische Union, steht am Scheideweg: zwischen einer EU der Unfreiheit, so wie sie die Kommission vorsieht, und einem Europa der Freiheit, wie wir es niedergelegt haben. ({7}) Werte Kolleginnen und Kollegen, die Werte des Abendlandes und der Aufklärung in Europa zu leben, Deutschland zu lieben und die Bürger zu schätzen, bedeutet ein Europa der Freiheit, einen Raum der Freiheit zu gestalten. Deswegen fordere ich Sie ganz im Stil Rousseaus auf: Streiten Sie mit Ihren Zeitgenossen. Ringen Sie mit Angela Merkel, mit Emmanuel Macron, mit Ursula von der Leyen und allen weiteren Verhinderern um ein Europa der Freiheit. Das allein ist Ihre historische Verantwortung und auch die der zukünftigen Generation gegenüber. Haben Sie vielen Dank. ({8})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der Kollege Johannes Schraps hat das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Johannes Schraps (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004881, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jetzt weiß ich, warum der Kollege Schäfer für uns als Erstes reden wollte. Als ich den vorliegenden Antrag erstmals in der Hand hatte, war ich ehrlicherweise etwas überrascht, dass sich die AfD tatsächlich auf ganzen zehn Seiten mit Europa beschäftigt. Da sind wir ja ganz andere Sachen gewöhnt. ({0}) Aber inhaltlich bestätigen diese zehn Seiten leider alle Befürchtungen, die man schon vor dem Lesen haben musste. Wie so viele Vorrednerinnen und Vorredner das gerade schon deutlich gemacht haben, habe auch ich während des Lesens mehrfach die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. Und da Sie sich damit wirklich selbst entlarven, will ich nur auf ganz wenige Dinge tatsächlich eingehen. Wenn Sie in diesem Antrag beispielsweise schreiben, die EU müsse „zu ihren Wurzeln als Wirtschaftsgemeinschaft zurückkehren“ und den freien Handel und die Zollunion stärken, ({1}) sich im gleichen Atemzug aber gegen den Wiederaufbau der europäischen Wirtschaft aussprechen, indem Sie einen europäischen Wiederaufbaufonds als Reaktion auf die Coronakrise ablehnen, dann macht das doch nur deutlich, wie Sie sich selbst widersprechen, Kolleginnen und Kollegen. ({2}) – Getroffene Hunde bellen lauter. Man merkt das auf der rechten Seite schon ganz deutlich. Dann bringen Sie immer wieder das Stichwort „nationale Souveränität“; die Kollegin Brantner hat es gerade vollkommen zu Recht angesprochen. Ich habe irgendwann aufgehört, zu zählen, wie oft das in diesem Antrag steht. Da behaupten Sie, eine größere Souveränität der Mitgliedstaaten bedeute „die Rückkehr zu wirklicher Subsidiarität und ... zu mehr Bürgernähe“. Ich will Ihnen da mal ein paar Zahlen entgegenhalten. ({3}) Wir haben nämlich laut Daten des 92. Eurobarometers aus dem Herbst vergangenen Jahres die Aussage, dass sich 83 Prozent der Deutschen nicht nur als Deutsche, sondern auch als EU-Bürger fühlen. ({4}) Diese 83 Prozent wollen ganz sicher keine nationale Souveränität in Ihrem Duktus, sondern sie wollen eine starke, eine handlungsfähige Europäische Union, weil sie genau wissen, dass ein Land wie Deutschland auch nur im Gefüge der Europäischen Union stark sein kann. ({5}) Diese 83 Prozent der Menschen in Deutschland – mindestens; ich würde sagen, es sind noch mehr – denken eben nicht so engstirnig, wie Sie das ganz offensichtlich tun, weil diese Menschen wissen, dass sich Souveränität nicht nur an nationalen Grenzen bemisst. Indem wir Kompetenzen in bestimmten Bereichen auf die Europäische Union übertragen, sind wir in einem internationalen Umfeld, wie wir es heute vorfinden – das hat der Kollege Schäfer deutlich gemacht –, als Europäische Union überhaupt erst gemeinsam handlungsfähig.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kleinwächter?

Johannes Schraps (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004881, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, nein; der hat gerade eben schon genug gesagt. – Durch die Übertragung von nationalstaatlicher Souveränität auf die europäische Ebene gewinnen wir als Mitgliedstaaten im Umkehrschluss überhaupt erst die Souveränität, die wir auf internationaler Ebene alleine überhaupt nie ausüben könnten. Dazu passt übrigens auch ein Satz, den Martin Schulz im Gespräch mit Bundestagspräsident Schäuble im Europaausschuss noch mal gesagt hat – die Kollegen, die gestern in diesem Ausschuss waren, werden es noch im Ohr haben –: Es gibt in Europa nur zwei Arten von Ländern – jene, die global gesehen klein sind, und jene, die das noch nicht gemerkt haben. – Treffender kann man das aus meiner Sicht überhaupt nicht ausdrücken, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Sie schreiben in Ihrem Antrag außerdem, EU-Gelder sollten nicht an Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit geknüpft werden. Auch das sei eine Frage der Souveränität. Dann behaupten Sie gleich noch dazu, die EU würde versuchen, diese Werte durch eine Verknüpfung mit EU-Geldern zu kaufen. Also, kruder geht es aus meiner Sicht wirklich kaum. Ich weiß nicht, ob Sie den EU-Vertrag überhaupt mal gelesen haben. In Artikel 2 stehen diese Grundwerte nämlich schwarz auf weiß – es sind die Grundwerte, die unsere gemeinsame Europäische Union begründen –: ({1}) Das ist die Achtung der Menschenwürde, das ist Freiheit, das ist Demokratie, das ist Gleichheit, das ist Rechtsstaatlichkeit, und das sind die Menschenrechte einschließlich Minderheitenrechten. ({2}) Schauen Sie da gerne noch mal nach, weil Sie das, glaube ich, sicherlich überlesen oder weil Sie gar nicht reingeschaut haben. Deswegen heißt es eben nicht, Geld gegen Werte oder irgendwas einzutauschen, wie in Ihrem Antrag formuliert, sondern es heißt, Prinzipien zu erhalten, denen man sich mit dem Beitritt zur Europäischen Union nicht nur verpflichtet hat, sondern denen man sich eigentlich verpflichtet fühlen sollte, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Wir haben Rechte und Pflichten in der Europäischen Union, und die sorgen dafür, dass wir gemeinschaftlich stark sind, und sie sorgen nicht dafür, dass wir jeder einzeln nichts zu sagen haben. Aber gerade weil wir die Haltung, sich diesen Grundwerten der Europäischen Union tatsächlich verpflichtet zu fühlen, nicht überall so ausgeprägt vorfinden – wir merken das hier im Haus; wir merken das auch in der Europäischen Union manchmal –, ist ein Grundwert während dieser Coronakrise ja verstärkt in den Fokus gerückt. Sie ahnen, dass ich von der Rechtsstaatlichkeit spreche. Wir haben in den letzten Wochen alle mitansehen können, dass Regierungen, die den Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie in der Vergangenheit schon zunehmend weniger Beachtung geschenkt haben, diese Grundwerte vor allem in einer Krisensituation wie jetzt in Coronazeiten noch weiter einschränken können. Da wird nicht davor zurückgeschreckt, so eine Krise auch zu nutzen, um Machtspiele zu spielen, um Machtpositionen zu manifestieren und teilweise unumkehrbar zu machen. Die Tatsache, dass Macht wechseln kann, ist ein Grundprinzip von Demokratie und ein Grundprinzip in unserer Europäischen Union, verehrte Kolleginnen und Kollegen. ({4}) Auch deshalb haben wir als Koalitionsfraktionen den gemeinsamen Antrag für den Schutz von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in Europa in dieser Woche hier in den Bundestag eingebracht. Er hat aufgrund der pickepackevollen Tagesordnung, wie wir das aus der letzten Sitzungswoche vor der Sommerpause der vergangenen Jahre kennen, leider nicht mehr in die Tagesordnung gepasst. Ich freue mich aber, dass wir die Thematik dadurch in der ersten Septemberwoche noch mal aufgreifen können. Ich möchte die Gelegenheit an dieser Stelle nutzen, schon einige Worte zu diesem Thema, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, zu sagen, zumal die weitere Auseinandersetzung mit dem Antragstext für wenig sinnvoll gehalten werden kann. Wir werden ihn jedenfalls mit klarer Haltung ablehnen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({5}) Ich freue mich sehr, dass wir bereits vor unserer eigenen EU-Ratspräsidentschaft einiges im Bereich Rechtsstaatlichkeit auf europäischer Ebene getan haben. Ich meine hier vor allem das sogenannte Periodic Peer Review zur Rechtsstaatlichkeit, das aus meiner Sicht einen guten formellen Rahmen für den Rechtsstaatsdialog zwischen den EU-Mitgliedstaaten bilden wird. Ich glaube, dass wir dem Ziel, ein gemeinsames Verständnis von Rechtsstaatlichkeit auf europäischer Ebene herauszuarbeiten, damit deutlich näher kommen. Außerdem unterstützen wir den Vorschlag, die Mitgliedstaaten in die Vorbereitung des jährlichen Rechtsstaatsberichts einzubinden und daran zu beteiligen. Peer Review, also gegenseitige Überprüfung, bei der alle mitmachen: So bilden wir Vertrauen. Und das ist die wichtigste Grundlage für Zusammenarbeit in der Europäischen Union, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({6}) Der nächste Schritt sollte sein, auch zu untersuchen, ob wir eventuell zusätzlich noch ein Expertengremium aus unabhängigen Sachverständigen für diesen Bereich Rechtsstaatlichkeit brauchen. Als Vorbild könnte hier aus meiner Sicht die Venedig-Kommission des Europarates dienen. Jeder Mitgliedstaat würde im Benehmen mit der EU-Kommission dazu besonders qualifizierte Persönlichkeiten vorschlagen. Der Rat könnte diese Personen dann mit qualifizierter Mehrheit ernennen. Dieses Gremium sollte sich mit der Aufgabe der Evaluierung der Rechtsstaatlichkeit in allen Mitgliedstaaten befassen. Stellungnahmen eines solchen Expertengremiums könnten dann von der EU-Kommission, dem Ministerrat und dem Parlament dazu genutzt werden, um beispielsweise zu entscheiden, ob sie die ihnen zur Verfügung stehenden Instrumente – die Artikel-7-Verfahren oder auch Beschränkungen bei der EU-Mittelvergabe – aktivieren wollen oder nicht. Und wenn ich bei der Vergabe von EU-Mitteln bin, dann will ich zum Abschluss gerne noch mal betonen, wie wichtig es ist, die Vergabe von EU-Mitteln an Rechtsstaatskriterien zu knüpfen. Es wird jetzt Aufgabe der Bundesregierung auch während der Ratspräsidentschaft sein, nicht nur dafür Sorge zu tragen, dass der europäische mehrjährige Finanzrahmen schnell beschlossen wird, sondern auch diese Verknüpfung mit dem Thema Rechtsstaatlichkeit, wie im Kommissionsvorschlag vorgesehen, zu berücksichtigen.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Johannes Schraps (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004881, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das mache ich sehr gerne, Herr Präsident. – Wir können die Zukunft Europas nur dadurch angehen, dass wir durch Zusammenarbeit und Verantwortung aller Mitgliedstaaten diese Europäische Union gestalten, nicht durch Abschottung, wie es manche in diesem Raum vorschlagen. Ganz herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Bevor ich die nächste Rednerin aufrufe, gebe ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Haushaltsausschusses zum Antrag der Fraktionen CDU/CSU und SPD „Beschluss des Bundestages gemäß Artikel 115 Absatz 2 Satz 6 und 7 des Grundgesetzes“ bekannt: Abgegeben wurden 682 Stimmen. Mit Ja haben gestimmt 388, mit Nein haben gestimmt 175, Enthaltungen 119. Die Beschlussempfehlung ist damit mit der erforderlichen Mehrheit angenommen. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 680; davon ja: 388 nein: 173 enthalten: 119 Ja CDU/CSU Dr. Michael von Abercron Stephan Albani Norbert Maria Altenkamp Peter Altmaier Philipp Amthor Artur Auernhammer Peter Aumer Dorothee Bär Thomas Bareiß Norbert Barthle Maik Beermann Manfred Behrens (Börde) Veronika Bellmann Sybille Benning Dr. André Berghegger Melanie Bernstein Christoph Bernstiel Peter Beyer Marc Biadacz Steffen Bilger Peter Bleser Norbert Brackmann Michael Brand (Fulda) Dr. Reinhard Brandl Dr. Helge Braun Silvia Breher Sebastian Brehm Heike Brehmer Ralph Brinkhaus Dr. Carsten Brodesser Gitta Connemann Astrid Damerow Alexander Dobrindt Michael Donth Marie-Luise Dött Hansjörg Durz Thomas Erndl Hermann Färber Uwe Feiler Enak Ferlemann Dr. Maria Flachsbarth Thorsten Frei Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) Michael Frieser Hans-Joachim Fuchtel Ingo Gädechens Dr. Thomas Gebhart Alois Gerig Eberhard Gienger Eckhard Gnodtke Ursula Groden-Kranich Hermann Gröhe Klaus-Dieter Gröhler Michael Grosse-Brömer Astrid Grotelüschen Markus Grübel Manfred Grund Oliver Grundmann Monika Grütters Fritz Güntzler Olav Gutting Christian Haase Florian Hahn Jürgen Hardt Matthias Hauer Mark Hauptmann Dr. Matthias Heider Mechthild Heil Thomas Heilmann Frank Heinrich (Chemnitz) Mark Helfrich Rudolf Henke Michael Hennrich Marc Henrichmann Ansgar Heveling Christian Hirte Dr. Heribert Hirte Alexander Hoffmann Karl Holmeier Dr. Hendrik Hoppenstedt Erich Irlstorfer Thomas Jarzombek Andreas Jung Ingmar Jung Alois Karl Anja Karliczek Torbjörn Kartes Volker Kauder Dr. Stefan Kaufmann Ronja Kemmer Roderich Kiesewetter Michael Kießling Dr. Georg Kippels Volkmar Klein Axel Knoerig Jens Koeppen Markus Koob Carsten Körber Alexander Krauß Gunther Krichbaum Dr. Günter Krings Rüdiger Kruse Michael Kuffer Dr. Roy Kühne Dr. Dr. h. c. Karl A. Lamers Andreas G. Lämmel Katharina Landgraf Ulrich Lange Dr. Silke Launert Jens Lehmann Paul Lehrieder Dr. Katja Leikert Dr. Andreas Lenz Antje Lezius Andrea Lindholz Dr. Carsten Linnemann Patricia Lips Nikolas Löbel Bernhard Loos Dr. Jan-Marco Luczak Daniela Ludwig Dr. Saskia Ludwig Karin Maag Yvonne Magwas Dr. Thomas de Maizière Gisela Manderla Dr. Astrid Mannes Matern von Marschall Hans-Georg von der Marwitz Andreas Mattfeldt Stephan Mayer (Altötting) Dr. Michael Meister Dr. Angela Merkel Jan Metzler Dr. h. c. (Univ Kyiv) Hans Michelbach Dr. Mathias Middelberg Dietrich Monstadt Karsten Möring Elisabeth Motschmann Axel Müller Dr. Gerd Müller Sepp Müller Carsten Müller (Braunschweig) Stefan Müller (Erlangen) Dr. Andreas Nick Petra Nicolaisen Michaela Noll Dr. Georg Nüßlein Wilfried Oellers Florian Oßner Josef Oster Henning Otte Ingrid Pahlmann Sylvia Pantel Martin Patzelt Dr. Joachim Pfeiffer Stephan Pilsinger Dr. Christoph Ploß Eckhard Pols Thomas Rachel Kerstin Radomski Alexander Radwan Alois Rainer Eckhardt Rehberg Lothar Riebsamen Josef Rief Johannes Röring Dr. Norbert Röttgen Stefan Rouenhoff Erwin Rüddel Albert Rupprecht Stefan Sauer Anita Schäfer (Saalstadt) Dr. Wolfgang Schäuble Andreas Scheuer Jana Schimke Tankred Schipanski Christian Schmidt (Fürth) Dr. Claudia Schmidtke Patrick Schnieder Nadine Schön Felix Schreiner Dr. Klaus-Peter Schulze Uwe Schummer Armin Schuster (Weil am Rhein) Torsten Schweiger Detlef Seif Johannes Selle Reinhold Sendker Dr. Patrick Sensburg Bernd Siebert Thomas Silberhorn Björn Simon Tino Sorge Jens Spahn Katrin Staffler Dr. Wolfgang Stefinger Albert Stegemann Andreas Steier Peter Stein (Rostock) Sebastian Steineke Johannes Steiniger Christian Frhr. von Stetten Dieter Stier Gero Storjohann Stephan Stracke Max Straubinger Karin Strenz Dr. Peter Tauber Dr. Hermann-Josef Tebroke Hans-Jürgen Thies Alexander Throm Dr. Dietlind Tiemann Antje Tillmann Markus Uhl Dr. Volker Ullrich Arnold Vaatz Kerstin Vieregge Volkmar Vogel (Kleinsaara) Christoph de Vries Kees de Vries Dr. Johann David Wadephul Marco Wanderwitz Nina Warken Kai Wegner Albert H. Weiler Marcus Weinberg (Hamburg) Dr. Anja Weisgerber Peter Weiß (Emmendingen) Sabine Weiss (Wesel I) Ingo Wellenreuther Marian Wendt Kai Whittaker Annette Widmann-Mauz Bettina Margarethe Wiesmann Klaus-Peter Willsch Elisabeth Winkelmeier-Becker Oliver Wittke Tobias Zech Emmi Zeulner Paul Ziemiak Dr. Matthias Zimmer SPD Niels Annen Ingrid Arndt-Brauer Bela Bach Heike Baehrens Ulrike Bahr Nezahat Baradari Doris Barnett Dr. Matthias Bartke Sören Bartol Bärbel Bas Lothar Binding (Heidelberg) Dr. Eberhard Brecht Leni Breymaier Dr. Karl-Heinz Brunner Katrin Budde Dr. Lars Castellucci Bernhard Daldrup Dr. Daniela De Ridder Dr. Karamba Diaby Esther Dilcher Sabine Dittmar Saskia Esken Yasmin Fahimi Dr. Johannes Fechner Dr. Fritz Felgentreu Dr. Edgar Franke Ulrich Freese Dagmar Freitag Michael Gerdes Martin Gerster Angelika Glöckner Timon Gremmels Kerstin Griese Michael Groß Uli Grötsch Bettina Hagedorn Rita Hagl-Kehl Sebastian Hartmann Dirk Heidenblut Hubertus Heil (Peine) Gabriela Heinrich Marcus Held Wolfgang Hellmich Dr. Barbara Hendricks Gabriele Hiller-Ohm Thomas Hitschler Frank Junge Josip Juratovic Thomas Jurk Oliver Kaczmarek Elisabeth Kaiser Ralf Kapschack Gabriele Katzmarek Cansel Kiziltepe Arno Klare Lars Klingbeil Dr. Bärbel Kofler Daniela Kolbe Anette Kramme Christine Lambrecht Christian Lange (Backnang) Dr. Karl Lauterbach Sylvia Lehmann Helge Lindh Kirsten Lühmann Isabel Mackensen Caren Marks Dorothee Martin Katja Mast Christoph Matschie Hilde Mattheis Dr. Matthias Miersch Klaus Mindrup Susanne Mittag Falko Mohrs Claudia Moll Siemtje Möller Bettina Müller Detlef Müller (Chemnitz) Michelle Müntefering Dr. Rolf Mützenich Dietmar Nietan Ulli Nissen Thomas Oppermann Josephine Ortleb Mahmut Özdemir (Duisburg) Aydan Özoğuz Markus Paschke Christian Petry Sabine Poschmann Achim Post (Minden) Florian Pronold Dr. Sascha Raabe Martin Rabanus Mechthild Rawert Andreas Rimkus Sönke Rix Dennis Rohde Dr. Martin Rosemann René Röspel Dr. Ernst Dieter Rossmann Michael Roth (Heringen) Susann Rüthrich Bernd Rützel Sarah Ryglewski Johann Saathoff Axel Schäfer (Bochum) Dr. Nina Scheer Marianne Schieder Udo Schiefner Dr. Nils Schmid Uwe Schmidt Ulla Schmidt (Aachen) Dagmar Schmidt (Wetzlar) Carsten Schneider (Erfurt) Johannes Schraps Michael Schrodi Ursula Schulte Martin Schulz Swen Schulz (Spandau) Frank Schwabe Stefan Schwartze Andreas Schwarz Rita Schwarzelühr-Sutter Rainer Spiering Svenja Stadler Martina Stamm-Fibich Sonja Amalie Steffen Mathias Stein Kerstin Tack Claudia Tausend Michael Thews Markus Töns Carsten Träger Ute Vogt Marja-Liisa Völlers Dirk Vöpel Gabi Weber Dr. Joe Weingarten Bernd Westphal Dirk Wiese Gülistan Yüksel Stefan Zierke Dr. Jens Zimmermann BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Annalena Baerbock Maria Klein-Schmeink Nein AfD Dr. Bernd Baumann Marc Bernhard Andreas Bleck Peter Boehringer Stephan Brandner Jürgen Braun Marcus Bühl Matthias Büttner Petr Bystron Tino Chrupalla Joana Cotar Dr. Gottfried Curio Siegbert Droese Thomas Ehrhorn Berengar Elsner von Gronow Dr. Michael Espendiller Peter Felser Dietmar Friedhoff Dr. Anton Friesen Markus Frohnmaier Dr. Götz Frömming Dr. Alexander Gauland Dr. Axel Gehrke Albrecht Glaser Franziska Gminder Wilhelm von Gottberg Kay Gottschalk Armin-Paulus Hampel Mariana Iris Harder-Kühnel Dr. Roland Hartwig Jochen Haug Martin Hebner Udo Theodor Hemmelgarn Waldemar Herdt Martin Hess Dr. Heiko Heßenkemper Karsten Hilse Nicole Höchst Martin Hohmann Dr. Bruno Hollnagel Leif-Erik Holm Johannes Huber Fabian Jacobi Dr. Marc Jongen Jens Kestner Stefan Keuter Norbert Kleinwächter Enrico Komning Jörn König Steffen Kotré Dr. Rainer Kraft Rüdiger Lucassen Frank Magnitz Jens Maier Dr. Lothar Maier Dr. Birgit Malsack-Winkemann Andreas Mrosek Hansjörg Müller Volker Münz Sebastian Münzenmaier Christoph Neumann Jan Ralf Nolte Ulrich Oehme Gerold Otten Tobias Matthias Peterka Paul Viktor Podolay Jürgen Pohl Stephan Protschka Martin Reichardt Martin Erwin Renner Roman Johannes Reusch Ulrike Schielke-Ziesing Dr. Robby Schlund Jörg Schneider Uwe Schulz Thomas Seitz Martin Sichert Detlev Spangenberg Dr. Dirk Spaniel René Springer Beatrix von Storch Dr. Alice Weidel Dr. Harald Weyel Wolfgang Wiehle Dr. Heiko Wildberg Uwe Witt FDP Grigorios Aggelidis Renata Alt Christine Aschenberg-Dugnus Nicole Bauer Jens Beeck Dr. Jens Brandenburg (Rhein-Neckar) Mario Brandenburg (Südpfalz) Sandra Bubendorfer-Licht Dr. Marco Buschmann Karlheinz Busen Carl-Julius Cronenberg Britta Katharina Dassler Bijan Djir-Sarai Christian Dürr Hartmut Ebbing Dr. Marcus Faber Daniel Föst Otto Fricke Thomas Hacker Reginald Hanke Peter Heidt Katrin Helling-Plahr Markus Herbrand Torsten Herbst Katja Hessel Dr. Gero Clemens Hocker Manuel Höferlin Dr. Christoph Hoffmann Reinhard Houben Ulla Ihnen Olaf In der Beek Gyde Jensen Dr. Christian Jung Karsten Klein Dr. Marcel Klinge Daniela Kluckert Pascal Kober Dr. Lukas Köhler Carina Konrad Wolfgang Kubicki Konstantin Kuhle Alexander Kulitz Alexander Graf Lambsdorff Ulrich Lechte Christian Lindner Michael Georg Link (Heilbronn) Oliver Luksic Till Mansmann Dr. Jürgen Martens Christoph Meyer Alexander Müller Roman Müller-Böhm Frank Müller-Rosentritt Dr. Martin Neumann (Lausitz) Matthias Nölke Hagen Reinhold Bernd Reuther Dr. h. c. Thomas Sattelberger Christian Sauter Frank Schäffler Dr. Wieland Schinnenburg Matthias Seestern-Pauly Frank Sitta Judith Skudelny Dr. Hermann Otto Solms Bettina Stark-Watzinger Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann Benjamin Strasser Katja Suding Linda Teuteberg Michael Theurer Stephan Thomae Manfred Todtenhausen Dr. Florian Toncar Dr. Andrew Ullmann Gerald Ullrich Johannes Vogel (Olpe) Sandra Weeser Nicole Westig Katharina Willkomm DIE LINKE Sevim Dağdelen Heike Hänsel Ulla Jelpke Fraktionslos Marco Bülow Verena Hartmann Lars Herrmann Dr. Frauke Petry Enthalten DIE LINKE Doris Achelwilm Gökay Akbulut Dr. Dietmar Bartsch Lorenz Gösta Beutin Matthias W. Birkwald Heidrun Bluhm-Förster Michel Brandt Christine Buchholz Dr. Birke Bull-Bischoff Jörg Cezanne Fabio De Masi Dr. Diether Dehm Anke Domscheit-Berg Klaus Ernst Susanne Ferschl Brigitte Freihold Nicole Gohlke Dr. Gregor Gysi Dr. André Hahn Matthias Höhn Andrej Hunko Kerstin Kassner Dr. Achim Kessler Katja Kipping Jutta Krellmann Caren Lay Sabine Leidig Ralph Lenkert Stefan Liebich Dr. Gesine Lötzsch Thomas Lutze Pascal Meiser Amira Mohamed Ali Cornelia Möhring Niema Movassat Norbert Müller (Potsdam) Zaklin Nastic Dr. Alexander S. Neu Thomas Nord Petra Pau Sören Pellmann Victor Perli Tobias Pflüger Martina Renner Bernd Riexinger Eva-Maria Schreiber Dr. Petra Sitte Helin Evrim Sommer Kersten Steinke Friedrich Straetmanns Dr. Kirsten Tackmann Jessica Tatti Alexander Ulrich Kathrin Vogler Dr. Sahra Wagenknecht Andreas Wagner BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Luise Amtsberg Lisa Badum Margarete Bause Dr. Danyal Bayaz Canan Bayram Dr. Franziska Brantner Agnieszka Brugger Dr. Anna Christmann Ekin Deligöz Katharina Dröge Harald Ebner Matthias Gastel Kai Gehring Stefan Gelbhaar Katrin Göring-Eckardt Erhard Grundl Anja Hajduk Britta Haßelmann Dr. Bettina Hoffmann Dr. Anton Hofreiter Ottmar von Holtz Dieter Janecek Dr. Kirsten Kappert-Gonther Uwe Kekeritz Katja Keul Sven-Christian Kindler Sylvia Kotting-Uhl Oliver Krischer Stephan Kühn (Dresden) Christian Kühn (Tübingen) Renate Künast Markus Kurth Monika Lazar Sven Lehmann Steffi Lemke Dr. Tobias Lindner Dr. Irene Mihalic Claudia Müller Beate Müller-Gemmeke Dr. Ingrid Nestle Dr. Konstantin von Notz Friedrich Ostendorff Cem Özdemir Lisa Paus Filiz Polat Tabea Rößner Claudia Roth (Augsburg) Dr. Manuela Rottmann Corinna Rüffer Manuel Sarrazin Ulle Schauws Dr. Frithjof Schmidt Stefan Schmidt Charlotte Schneidewind-Hartnagel Kordula Schulz-Asche Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn Margit Stumpp Markus Tressel Jürgen Trittin Dr. Julia Verlinden Daniela Wagner Beate Walter-Rosenheimer Gerhard Zickenheiner Abgeordnete, die sich wegen gesetzlichen Mutterschutzes für ihre Abwesenheit entschuldigt haben, sind in der Liste der entschuldigten Abgeordneten (Anlage 1) aufgeführt. Ich rufe als nächste Rednerin in unserer Aussprache die Kollegin Gyde Jensen von der FDP-Fraktion auf. ({0})

Gyde Jensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004941, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen Kollegen! Nehmen Sie sich doch einen ganz kurzen Moment Zeit und schauen Sie mal in Ihre Kürschner-Bücher. Herr Kleinwächter, Sie sprachen von Unfreiheit. Ich glaube, die EU stand schon für Freiheit, als Sie noch mit Ihrem Genossenkollegen Diether Dehm Zigarre geraucht haben. ({0}) Aber jetzt zum Antrag. Die AfD-Fraktion legt hier einen Antrag vor. Das ist kein konstruktives Programm mit Gestaltungsvorschlägen für die EU-Ratspräsidentschaft, sondern ein Sammelsurium an Verachtung gegenüber dem erfolgreichen Projekt Europa, das uns Europäern, vor allen Dingen uns Deutschen – das ist Ihnen ja traditionell immer sehr, sehr wichtig – Frieden und Wohlstand gebracht hat. Ihnen geht es hier nicht darum, dass die EU durch neue Ideen, neue Instrumente bürgernäher und demokratischer wird, wie Sie es mit dem vollkommen irreführenden Titel des Antrages glauben machen wollen. Bei Ihren Anträgen und Vorschlägen geht es Ihnen wie immer einzig darum, die Zeit um ein paar Jahrzehnte zurückzudrehen, zurück in die Zeit vor 1966, zurück zur Politik des leeren Stuhls, als die EWG durch das Einstimmigkeitsprinzip vollkommen gelähmt und handlungsunfähig war. ({1}) Wenn die EU dann nur noch eine leere Hülle ist, dann gehen die Grenzen wieder hoch. Wie das zu einem „Europa der Freiheit“, wie Sie es formulieren, passen soll, das, muss ich ganz ehrlich sagen, erschließt sich mir nicht. Ich glaube, Sie sind hier in diesem Hohen Haus komplett alleine mit dieser Annahme, was das Verständnis von Freiheit angeht. ({2}) Meine Damen und Herren, ich bin selber keine Juristin, aber im Gegensatz zur AfD weiß ich, dass ich einen Rechtsexperten durchaus konsultieren kann, wenn ich einen Antrag verfasse. Push-backs an den EU-Außengrenzen, wie Sie sie in Ihrem Antrag vorschlagen, verstoßen nicht nur gegen Seerecht, sondern auch gegen die Genfer Flüchtlingskonvention. Der Vorschlag, die Seeaußengrenzenverordnung, also europäisches Sekundärrecht, abzuändern, um diese Push-backs zuzulassen, ist juristisch kompletter Unfug. Das Prinzip EU-Fördermittel – Herr Schraps sprach es auch an – an Rechtsstaatlichkeit zu knüpfen, wie wir das als FDP-Fraktion unter anderem auch in unserer Grundwerteinitiative fordern, würden Sie als Kolonialismus bezeichnen. Vollkommener Humbug! ({3}) Geben Sie doch einfach zu, dass Sie mit solchen Formulierungen hier gerade einfach nur Lobbyarbeit für Ihre Kolleginnen und Kollegen von PiS und Fidesz machen. Im Übrigen sprechen diese Parteien keineswegs für das gesamte Volk in Polen oder in Ungarn. Sie wurden zwar von einer Mehrheit gewählt, aber tyrannisieren jetzt gerade Minderheiten. ({4}) Das, glaube ich, ist ein Konzept von Volksherrschaft, wie es sich die AfD wahrscheinlich auch für Deutschland wünscht, was aber Gott sei Dank und glücklicherweise in der EU so nicht möglich wäre. ({5}) Wissen Sie was, eigentlich ist es dann doch auch nur konsequent, dass Ihr einziger außenpolitischer Partner außerhalb der EU Russland ist, ein Land, in dem gerade gestern die letzten Reste demokratischer Prinzipien beseitigt wurden, indem ein Autokrat wie Putin nun bis auf Weiteres regieren kann. ({6}) So viel zu „Bürgernähe und Demokratie“, wie Sie es im Antrag formulieren. Meine Damen und Herren, dieser Antrag ist wie so viele von der AfD ein Schlag ins Gesicht der Bürgerinnen und Bürger in unseren Nachbarländern. Am Sonntag – ich habe Polen angesprochen – wurde dort gewählt. Die weltoffene Zivilgesellschaft hat dabei gezeigt, dass sie ihr Land eben noch nicht aufgegeben hat. Unsere EU-Institutionen haben sie dabei unterstützt und tun das weiter. Diese Rückendeckung brauchen wir dort. Immer wieder ermahnte die EU hier, leitete Verfahren ein und pochte darauf –

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Frau Kollegin, kommen Sie zum Ende.

Gyde Jensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004941, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

– ich komme zum Schluss, Herr Präsident –, dass Grundrechte von Minderheiten gewahrt bleiben. Genau das ist das, was unsere europäische Union ausmacht, nicht das, was Sie darunter verstehen. Ich denke, da stimmen alle Kollegen mit Ausnahme von Ihnen in diesem Hause auch zu. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die Fraktion Die Linke hat als Nächstes das Wort der Kollege Andrej Hunko. ({0})

Andrej Hunko (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004060, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach dem Brexit wird die EU nur noch weniger als 40 Prozent des geografischen Europas darstellen. Vier der fünf größten Städte Europas – Istanbul, Moskau, London, Sankt Petersburg; all das sind europäische Städte – werden außerhalb der EU sein. Über den Beitrittsprozess der Türkei redet keiner mehr. Wohin die Reise auf dem Westbalkan geht, steht in den Sternen. Ich denke, vor diesem Hintergrund braucht es ein bisschen mehr Bescheidenheit und ein bisschen mehr Reflexion statt einer Parole „Make Europe strong again“. ({0}) Frau Staffler, in der akuten Coronakrise hat die EU tatsächlich versagt, als Italien und Spanien den Zivilschutzmechanismus aktivierten und kein EU-Staat reagierte. Stattdessen wurden in den letzten Jahren militärische Mechanismen, militärische Projekte vorangetrieben. Ich rede von PESCO, was sich mittlerweile als teures Fiasko entpuppt. ({1}) Wir sagen: Lernt aus der Coronakrise! Stärkt den zivilen und sozialen Zusammenhalt in Europa! Das ist die wirklich schlafende Schönheit Europas, nicht PESCO. ({2}) Soll ich eine Frage beantworten?

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Wenn Sie die Zwischenfrage zulassen, bitte schön.

Andrej Hunko (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004060, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja.

Christian Petry (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004605, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Hunko, ich sehe es etwas positiver als Sie. Die Europäische Union kann die Krise als Chance begreifen, um sich zu stärken. Was wir heute aber noch nicht angesprochen haben, wozu ich gerne von Ihnen wissen möchte, ob Sie dies auch so sehen: Wir könnten auch auf einem anderen Feld weiterkommen, nämlich bei der Europäischen Menschenrechtskonvention, indem wir es schaffen, dafür zu sorgen, dass die Europäische Union dieser beitritt. Dies könnten wir dann auch als einen Erfolg der Ratspräsidentschaft sehen. Bei aller Kritik, die Sie eben genannt haben, was schiefgelaufen ist, wünsche ich mir den Blick nach vorne. Sehen Sie nicht auch eine Chance, wenn wir den Blick positiv nach vorne richten und bei den nächsten Maßnahmen, die wir ergreifen, eben nicht diese Fehler machen, sondern die deutsche Ratspräsidentschaft nutzen, um dort voranzukommen? ({0})

Andrej Hunko (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004060, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Kollege Petry. – Sie sprechen die Europäische Menschenrechtskonvention an. Ihr Kollege hat ja eben hier die Grundrechte der EU ausführlich dargestellt. Das Problem ist: Diese sind nicht einklagbar. Die Europäische Menschenrechtskonvention dagegen sieht ein Individualklagerecht beim Straßburger Gerichtshof für alle 820 Millionen Menschen in Europa vor. Ich finde Ihre Forderung völlig richtig. Auch wir fordern das seit Langem. Ich fordere auch die Bundesregierung auf, den Beitritt der EU zur viel älteren Menschenrechtskonvention auf den Weg zu bringen. ({0}) Wir wollen nämlich weder eine Rückkehr zum deutschen Nationalismus noch einen neuen EU-Nationalismus deutscher Prägung, der sich als Strafrichter über große Teile der Welt aufspielt. ({1}) Was wir brauchen, ist mehr europäische Kooperation, gesamteuropäische Kooperation als Teil internationaler Kooperation, auch in Zukunft mit Großbritannien, auch mit Russland und mit China. Ich denke, das wäre der Geist, den die Bundesregierung für die EU-Ratspräsidentschaft mitnehmen sollte. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner: für Bündnis 90/Grüne der Kollege Sven-Christian Kindler. ({0})

Sven Christian Kindler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004070, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollege Hunko hat es angesprochen: Am Anfang hat die Europäische Union nicht gut auf diese Krise reagiert. Gerade Italien und Spanien wurde am Anfang nicht geholfen. Aber mittlerweile sind wir in einer anderen Situation. Es gibt in der Europäischen Union das Programm zur Eindämmung von Arbeitslosigkeitsrisiken SURE. Die EZB hat mit dem PEPP-Programm von Anfang an und sehr früh gehandelt. Es gibt einen sehr guten Vorschlag für den Recovery Fund. Und man sieht: Europa ist dadurch deutlich besser durch die Krise gekommen. Es war wichtig, dass die Europäische Union gehandelt hat und in dieser Krise handlungsfähig ist. ({0}) Der AfD-Abgeordnete Herr Kleinwächter hat eben alles kritisiert und gesagt: Das brauchen wir nicht. – Im Kern ist, glaube ich, das Vorbild der AfD ganz klar: Die AfD orientiert sich an Donald Trump und den USA, weil Sie im Kern Coronaleugner sind. Das ist die harte Wahrheit. ({1}) Und wenn man nicht handelt, wenn man nicht Gesundheitssysteme stabilisiert, wenn man nicht Beschäftigte unterstützt, wenn man nicht die Wirtschaft unterstützt, wenn man dafür sorgt, dass alles gelockert wird, obwohl das Virus grassiert: Was dann passiert, das sieht man in den USA. Es gibt weltweit nirgends so viele Infizierte wie in den USA, nirgends so viele Tote wie in den USA. Wir können froh sein, dass wir in Europa mittlerweile in einer anderen Situation sind, dass wir gehandelt haben, dass wir die Pandemie viel besser in den Griff bekommen haben. Darauf können wir in Europa stolz sein. ({2}) Zur deutschen EU-Ratspräsidentschaft – die Kanzlerin hat es betont, Koalition und Regierung haben es gesagt –: Sie muss auch ein wichtiger Beitrag zum Klimaschutz sein. Aber ich will dazu anfügen: Dann muss die Union auch noch mal mit ihrer Fraktion im Europäischen Parlament klären, wie ernst das eigentlich gemeint ist. Es kann doch nicht sein, dass man jetzt sagt: Weil wir die Coronakrise haben, dürfen wir die Klimakrise nicht mehr so ernst nehmen. ({3}) Wir sehen es doch: Wir haben Dürren und Hitzewellen in Europa. Wir sehen: Gegen die Klimakrise gibt es keinen Impfstoff. Sie macht auch keine Pause; sie macht keinen Urlaub. Dann kann man doch nicht sagen: Das vergessen wir jetzt, und jetzt sorgen wir dafür, dass es keinen Klimaschutz gibt. – Das muss beides zusammengedacht werden! Wir müssen gemeinsam aus der Coronakrise und der Klimakrise kommen. ({4}) Ich finde es auch einen falschen Gegensatz, den Sie da aufmachen – das ist gewissermaßen so ein 20.-Jahrhundert-Gegensatz –: Klimaschutz und Wirtschaft. Im Gegenteil, andersrum wird doch ein Schuh draus: Wir wissen doch alle, dass es auf einem zerstörten Planeten keine funktionierende Wirtschaft geben kann. Wir wissen aber auch alle, dass international das Pariser Klimaschutzabkommen gilt, dass wir damit harte Grenzen eingezogen haben – zu Recht – und dass sich Unternehmen und Wirtschaft darauf einrichten müssen, je schneller desto besser. Das stärkt auch die internationale Wettbewerbsfähigkeit. Es gibt große Chancen mit Investitionen für neue Beschäftigung, für Innovationen. Die muss man jetzt ergreifen. Man muss das Positivbeispiel Klimaschutz nehmen; man muss es als große Chance begreifen. Das ist die Aufgabe der Ratspräsidentschaft. ({5}) Dazu passt es, finde ich, dann auch nicht, dass die Bundesregierung jetzt sagt: Wir wollen ein europäisches Klimaschutzgesetz bis Ende dieses Jahres nur im Rat beschließen. Ursprünglich war mal geplant, dass dann der Trilog abgeschlossen ist und wir ein neues europäisches Klimaschutzgesetz haben. Da steht die Bundesregierung auf der Bremse. Wir sagen sehr klar: Wir wollen ein europäisches Klimaschutzgesetz, das 65 Prozent Treibhausgasreduktion bis 2030 vorsieht, und das wollen wir dieses Jahr beschließen. Das brauchen wir, und die deutsche Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union muss eine Klimaratspräsidentschaft sein. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die Kollegin Ursula Groden-Kranich hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Ursula Groden-Kranich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004280, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Der vorliegende Antrag der AfD „Deutsche Ratspräsidentschaft für ein Europa der Freiheit nutzen, für die Stärkung der nationalen Souveränität, für Bürgernähe und Demokratie“ beginnt ja schon im Titel mit Unwahrheiten. Denn liest man den Antrag durch, dann wird einem ganz schnell klar, was mal wieder Ihre wahre Intention ist, und diese ist nicht für, sondern ganz klar gegen ein starkes Europa gerichtet. ({0}) Ihr gesamter Antrag basiert auf einem Sammelsurium von Themen, die weder neu und schon gar nicht proeuropäisch sind. Wieder einmal nutzen Sie einen Ihrer Anträge, um Ihre nationalistischen Ideologien zu verbreiten und den europäischen Gedanken der Solidarität und damit auch die Europäische Gemeinschaft als solches zu diskreditieren. Sie beklagen das Handeln der Europäischen Union in der Coronakrise als „Totalversagen“. Ja, es gibt tatsächlich Verbesserungsbedarf. Aber Ihre Rückschlüsse, dass jetzt weniger und nicht mehr Europa notwendig ist, teile ich absolut nicht. ({1}) Im Kern zeigt das doch wieder einmal Ihre eigentliche Denke: Sie wollen nicht Teil der EU sein und arbeiten ständig daran, unsere gemeinsame Politik in Europa als Obrigkeitspolitik zu verteufeln. Aber genau das hat Corona gezeigt: Corona macht eben nicht an nationalen Grenzen halt. Es ist ein übernationales Problem, ({2}) und deswegen müssen wir auch übernational denken. Die Europäische Gemeinschaft ist nun Teil einer Lösung, und wir müssen aus den Fehlern, die wir zu Beginn der Krise gemacht haben, lernen. Wir sind ein Teil dieser Politik. Wir gestalten sie mit, und wir sind froh darüber, in einer solchen Gemeinschaft leben zu dürfen. Es ist nicht zuletzt auch ein Akt der Menschlichkeit gewesen, ausländische Staatsbürger, die am Coronavirus erkrankten, in Deutschland zu behandeln. Denn da haben wir aus unseren Fehlern vom Beginn der Pandemie gelernt. Und diese grenzübergreifenden Mechanismen müssen sogar noch weiter ausgebaut werden. ({3}) Es gilt also – insbesondere im Jahr der deutschen EU-Ratspräsidentschaft –, für eine stärkere Vernetzung der Staaten zu kämpfen und nicht zu beginnen, die alten nationalstaatlichen Paradigmen aus der Mottenkiste zu holen. ({4}) Meine Damen und Herren, die AfD lehnt den Aufbaufonds der EU ab, da dieser zu einer „Vollendung der Schuldenunion der Vereinigten Staaten von Europa“ führen würde. ({5}) Hier sind wir ganz weit weg von der eigentlichen Wahrheit. ({6}) Sonst würden wir nicht alle um die Ausgestaltung dieses Fonds ringen. Hier werden wir uns auch als deutsches Parlament weiter einbringen und Vorschläge machen. Das stärkt nämlich Europa, das ist Bürgernähe, und das stärkt Demokratie – nicht Verweigerung, sondern Mitmachen. ({7}) Und wie heißt unser Motto? „Gemeinsam. Europa wieder stark machen.“ Meine Damen und Herren, lassen Sie uns zum Schluss noch mal auf das Positive zurückkommen. Deutschland übernahm gestern für ein halbes Jahr die europäische Ratspräsidentschaft und hat sich wirklich herausfordernde und wichtige Ziele gesetzt. Ich bin überzeugt davon, dass die Europäische Union davon profitieren wird. Wir hatten gestern unseren Parlamentspräsidenten, Herrn Dr. Wolfgang Schäuble, im EU-Ausschuss zu Gast, der uns an unsere Rolle als Parlament erinnert hat. Er wies darauf hin – und hat dezidiert auch zu den Fragen der AfD darauf hingewiesen –, dass eine europäische Integration nur in Zeiten großer Krisen substanziell vorankommen kann. Denn eine Krise bietet auch Chancen. ({8}) – Sie waren doch gestern gar nicht dabei. Äußern Sie sich doch gar nicht dazu! – Also, eine Krise bietet auch Chancen; aber dazu braucht es Mut, Mut, den Sie nicht haben. Denn Ihr Antrag zeugt von Angst: Angst vor europäischer Nähe, Angst vor der Zukunft. Wir sind mutig! ({9}) Insbesondere in dem Jahr, in dem wir 30 Jahre Wiedervereinigung feiern, freuen wir uns, dass Deutschland die Ratspräsidentschaft gemeinsam mit Portugal und Slowenien übernehmen darf für ein freies, ein friedliches und vereintes Europa „Gemeinsam. Europa wieder stark machen.“ Vielen Dank. ({10})

Dr. Christoph Ploß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004854, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Dass wir die EU-Ratspräsidentschaft übernehmen, stellt natürlich sowohl für unser Land als auch für Europa insgesamt ein historisches Ereignis dar. Viele sagen in diesen Tagen zu Recht: Wir können jetzt die Weichen der Europäischen Union teilweise neu stellen, die Agenda prägen. – Und ich möchte hinzufügen: Wir können auch am Europa der 1920er- und 1930er-Jahre bauen. Wenn uns Jugendliche fragen: „Wie sieht denn euer Europa im Jahr 2030 oder 2035 aus?“, dann haben wir da ein klares Bild vor Augen. Wir sagen: Flugzeuge müssen mit klimaneutralen Treibstoffen fliegen, Züge zum Beispiel mit Brennstoffzellen betrieben werden. Pkw fahren autonom zwischen den europäischen Staaten hin und her. Die Mobilität wird immer effizienter, immer leiser, immer klimafreundlicher. Aber wir werden zum Beispiel auch Gesundheitsproblemen als Europäische Union gemeinsam begegnen, auf Epidemien oder Pandemien reagieren, indem wir Daten erheben, digitalisieren und Echtzeitinformationen miteinander austauschen. In der Außenpolitik wird die Europäische Union neben China und neben den USA ein entscheidender Akteur auf der Weltbühne sein. Wenn wir an diesem Europa arbeiten und zu diesem Europa sagen: „Das ist die Zukunft, die wir uns wünschen“, dann dürfen wir genau das nicht machen, was Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der AfD, hier mit Ihrem Antrag vorschlagen. Es darf kein Zurück dahin geben, dass wir die großen Themen nur nationalstaatlich angehen und lösen. Das Gegenteil ist der Fall: Wir werden die großen Themen nur europäisch und in europäischer Kooperation angehen können. ({0}) Dafür nutzen wir auch die deutsche EU-Ratspräsidentschaft, gerade bei den Megathemen Klimaschutz und Wirtschaft. Denn viele in unserem Land und in Europa fragen sich natürlich völlig zu Recht: Übergeben wir den Planeten irgendwann an unsere Kinder und Enkelkinder in einem gesunden, in einem guten Zustand? ({1}) Viele fragen auch: Ist mein Arbeitsplatz sicher nach der Coronakrise? Wie wird sich das in den nächsten Jahren entwickeln? Kann ich noch meine Familie ernähren? Auf diese großen Fragen müssen wir auch im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft Antworten finden. Deswegen dürfen wir die Themen Klimaschutz und Wirtschaftspolitik auch nicht als Gegensatz sehen, sondern müssen sie miteinander verbinden, indem wir zum Beispiel am Aufbau einer europäischen Wasserstoffinfrastruktur arbeiten und sagen: Wir wollen hier die Technologien entwickeln, damit Wasserstoff zum Beispiel im Chemiesektor, im Gebäudesektor, bei der Herstellung von Kunststoffen, bei der Herstellung von Kupfer und Stahl zum Einsatz kommt. – Dann können wir Klimaschutz zum Exportschlager machen, hier Hunderttausende neue Arbeitsplätze schaffen und diese Technologien zum Beispiel nach Afrika exportieren, wo dann wiederum mit der Sonne Afrikas Wasserstoff und Ökostrom hergestellt werden, sodass auch dort neue Arbeitsplätze entstehen. Das ist dann Multilateralismus zum Nutzen beider Seiten. ({2}) In dem Zusammenhang, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es natürlich auch wichtig, dass wir Infrastrukturprojekte in Deutschland schneller planen und bauen. Ich kann viele verstehen, die sagen: Es kann doch nicht wahr sein, dass wir für eine neue Bahnverbindung, für ein neues Schienenprojekt im Durchschnitt 20 Jahre benötigen. – Im Durchschnitt! Häufig sind es 25 oder 30 Jahre. So stärken wir weder den Wirtschaftsstandort Deutschland, noch werden wir die Klimaschutzziele erreichen, und wir werden auch die Mobilität der Bürger nicht weiter verbessern. Deswegen müssen wir im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft auch an internationale Vereinbarungen heran, diese diskutieren und teilweise neu gestalten, zum Beispiel indem wir das Verbandsklagerecht reformieren, um so Infrastrukturprojekte in Deutschland schneller vorantreiben zu können. Auch das wird ein wichtiger Punkt sein. Zu Beginn der deutschen Ratspräsidentschaft stehen wir vor der entscheidenden Frage: Wollen wir, dass Europa am Ende das Industriemuseum der Welt wird, oder wollen wir, dass die Europäische Union und damit Deutschland der Innovator der Welt wird? ({3}) Wir als CDU/CSU-Fraktion wollen natürlich die Europäische Union zu einem Innovator der Welt machen. Wir wollen die Klimaschutzziele erreichen, wir wollen neue Wirtschaftszweige aufbauen, und wir wollen die Europäische Union zu einem starken außenpolitischen Akteur auf der Weltbühne formen. ({4}) Daran werden wir arbeiten, und ich freue mich, wenn wir dieses alles gemeinsam vorantreiben. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Kollege. – Ich schließe die Aussprache.

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir werden heute ein Gesetz beschließen, auf das viele Menschen in Deutschland lange gewartet haben. Es geht um die längst überfällige Einführung der Grundrente. Die Grundrente ist das zentrale sozialpolitische Reformprojekt dieser Bundesregierung. 1,3 Millionen Menschen werden von ihr profitieren. Aber gleichzeitig sage ich: Es geht um mehr. Es geht um eine Richtungsentscheidung für unser Land. Es geht gerade in diesen Coronazeiten um die Frage, ob wir einfach zur Tagesordnung übergehen oder ob wir diese Krise als Chance begreifen, unser Land besser und gerechter zu machen, meine Damen und Herren. ({0}) Es geht um den Wert der Arbeit, um die Anerkennung und den Respekt für die tägliche Leistung. Es geht auch um den Platz in der sozialen Mitte unserer Gesellschaft – auf den haben alle Menschen Anspruch in diesem Land, die hart arbeiten, die Kinder erziehen, die Angehörige pflegen. Aber, Herr Präsident, meine Damen und Herren, nach wie vor erleben leider viel zu viele Menschen mit geringen Löhnen, dass sie nicht Teil der sozialen Mitte sind, dass die soziale Mitte für sie nicht in Reichweite ist, sosehr sie sich auch abrackern, anstrengen und hart arbeiten. Das spüren auch viele Menschen in der Alterssicherung, in der Rente. Wenn wir offen und ehrlich darüber reden: Hier ist in den vergangenen Jahren gesellschaftliches Vertrauen verloren gegangen – Vertrauen in die soziale Marktwirtschaft, Vertrauen in die Altersvorsorge und offenbar auch in unser politisches Gemeinwesen. Wir müssen deshalb dieses Vertrauen erneuern. Wir müssen hinschauen und handeln. Die Einführung der Grundrente macht eines deutlich: Arbeit in unserer Gesellschaft, meine Damen und Herren, macht einen Unterschied, und das gilt auch für die Alterssicherung. ({1}) Denn gerade die Coronakrise macht den Handlungsbedarf wie in einem Brennglas sehr deutlich: Letztlich sind es die Menschen, die den Laden am Laufen halten – als Kassiererinnen, als Lagerarbeiter, als Altenpflegehelferinnen, die jetzt in der Öffentlichkeit stehen, im öffentlichen Bewusstsein sind. Viele von ihnen bekommen Anerkennung, Schulterklopfen, Pralinen, Blumen. Sie werden als Heldinnen und Helden des Alltags gefeiert. Das, meine Damen und Herren, ist nett gemeint, ändert aber nichts daran, dass diese Menschen am Ende des Monats und im Ruhestand zu wenig rausbekommen. Deshalb sage ich: Es geht um Anerkennung – gar keine Frage –; aber es ist nicht bei warmen Worten zu belassen. ({2}) Diese Menschen brauchen in harter Währung mehr Geld in der Tasche, und zwar bei den Löhnen und im Alter. ({3}) Es geht nicht nur um Anerkennung, und schon gar nicht allein um Pralinen. Es geht im Kern um Leistungsgerechtigkeit, meine Damen und Herren. Und es ist auch eine Frage des Anstandes; denn ohne diese Menschen, von denen ich gerade gesprochen habe, und viele andere mehr würde unser Land nicht funktionieren. Es geht aber auch um Verlässlichkeit, um die Verlässlichkeit dieser Großen Koalition. Wir haben lange gerungen, liebe Kolleginnen und Kollegen; das ist doch kein Geheimnis. Aber ich finde, es ist richtig gut, dass diese Regierung gerade in diesen Zeiten beweist, dass man auch gemeinschaftlich zu guten Lösungen in der Lage ist. ({4}) Mit unterschiedlichen Positionen um die beste Lösung zu ringen, ist keine Schande. Aber nicht zu Ergebnissen zu kommen, das wäre eine Schande gewesen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({5}) Es ist letztendlich in dieser Zeit auch eine Frage der wirtschaftlichen Vernunft; denn wir stärken die Kaufkraft der Menschen an dieser Stelle. Die Rede ist vor allen Dingen von Frauen, die in diesem Land von der Grundrente profitieren würden. Zu mehr als 70 Prozent werden Frauen profitieren. Ich rede von Frauen wie Susanne Holtkotte. Susanne Holtkotte arbeitet in Bochum. Sie steht mitten im Leben, auch im Berufsleben. Sie ist Reinigungskraft in einem Krankenhaus im Ruhrgebiet. Das ist ein Knochenjob; aber er ist, wie man heute sagt, systemrelevant, weil sonst Hygiene in Krankenhäusern nicht zu gewährleisten wäre. ({6}) Susanne Holtkotte verdient den Mindestlohn im Gebäudereinigerhandwerk; das ist nicht viel Geld. Sie arbeitet fast jeden Tag und kann das nicht aus dem Homeoffice tun. Sie hat nach derzeitiger Rechtslage – in 18 Jahren geht sie in Rente – einen Rentenbezug von nur 760 Euro. ({7}) Meine Damen und Herren, mit der Grundrente könnte sie, wenn sie ihr Berufsleben so fortsetzt, immerhin rund 1 030 Euro bekommen. Das ist auch noch kein Reichtum; aber für Susanne Holtkotte macht das einen Unterschied. Und deshalb ist es ein guter Tag für Menschen, die hart arbeiten in diesem Land. ({8}) Herr Präsident, meine Damen und Herren, Susanne Holtkotte ist heute hier; sie sitzt da oben auf der Besuchertribüne. Ich möchte ihr herzlich Danke sagen für die Arbeit, die sie macht. Sie können heute auch mal live für Menschen, die im Alltag ihren Mann oder ihre Frau stehen, die in systemrelevanten Berufen arbeiten, applaudieren. ({9}) Susanne Holtkotte hat sich eingesetzt für die Grundrente – auch dafür bin ich ihr dankbar –, und zwar nicht nur für sich selbst, sondern auch für ihre Kolleginnen und Kollegen. Liebe Susanne, ganz herzlichen Dank! Und herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag! Das wollte ich an dieser Stelle auch noch mal loswerden. ({10}) Meine Damen und Herren, wir sorgen dafür, dass 1,3 Millionen Menschen von der Grundrente profitieren. Es geht um einen Zuschlag auf die Rente für diejenigen, die hart gearbeitet haben – und zwar ohne Anträge auszufüllen. Es wird ja viel über Bürokratie gesprochen in diesem Zusammenhang. Dass wir die Bürgerinnen und Bürger durch einen automatischen Abgleich zwischen Rentenversicherung und den Finanzbehörden letztendlich von Bürokratie freihalten, dass wir sie nicht mit Anträgen belasten, das macht für mich einen modernen Sozialstaat aus, meine Damen und Herren. ({11}) Es geht nämlich nicht darum, irgendwelche Almosen zu verteilen. Die Menschen haben sich den Anspruch erworben. Es geht um eine Grundrente und nicht um Almosen an diesem Punkt. Deshalb ist es der richtige Weg, dass wir das automatisch machen. ({12}) Herr Präsident, meine Damen und Herren, mit der Grundrente erneuern wir ein Kernversprechen unseres Sozialstaats: Wer sein Leben lang gearbeitet hat, ist auch im Alter abgesichert. Er und sie gehören zur sozialen Mitte unserer Gesellschaft. Darum muss es gehen. Ich bitte Sie also heute um Zustimmung für die Einführung der Grundrente in Deutschland. ({13}) Herzlichen Dank. ({14})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die Kollegin Ulrike Schielke-Ziesing hat das Wort für die AfD-Fraktion. ({0})

Ulrike Schielke-Ziesing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004873, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kollegen! Verehrte Bürger! Zur ersten Lesung hörten wir noch vom Kollegen Brinkhaus aus der CDU/CSU-Fraktion, dass es keine zweite und dritte Lesung dieses Gesetzentwurfs geben wird, wenn die Grundrente nicht solide gegenfinanziert wird. Nun, diese Aussage hielt nicht besonders lange, und das, obwohl sich an dem Gesetzentwurf nicht das Geringste geändert hat. Mit anderen Worten: Die CDU/CSU-Fraktion lässt sich wieder einmal von der SPD vorführen und verrät wieder einmal ihre Prinzipien – oder vielleicht sollte man sagen: ehemaligen Prinzipien. ({0}) Herzlichen Glückwunsch im Übrigen an die CDU zum 75. Geburtstag! Man sollte meinen, in so einem Alter hat man genügend Erfahrung gesammelt, um sich gegen einen hyperaktiven Koalitionspartner durchzusetzen. Aber dem ist wohl nicht so. ({1}) Wir haben ja an dieser Stelle schon häufig über die Grundrente debattiert. Ich könnte nun wieder die Gründe anführen, warum wir die Grundrente für grundlegend falsch halten, warum wir dieses Konzept für zu teuer und vor allem für ungerecht halten, warum wir es für verheerend halten, das Äquivalenzprinzip – dass es also für eine bestimmte Leistung eine bestimmte Gegenleistung gibt – so dermaßen aufzuweichen, warum es falsch ist, die Rentenversicherung mit bürokratischen Aufgaben zu überlasten, um auf die denkbar komplizierteste und teuerste Art und Weise Geld zu verteilen, von dem am Ende doch so wenig Menschen profitieren. ({2}) Das alles möchte ich mir heute einmal sparen; denn alles, was zu diesem Thema gesagt werden konnte, wurde bereits gesagt: von den zahlreichen Sachverständigen in der öffentlichen Anhörung, von der Rentenversicherung und sogar von den eigenen Abgeordneten der Großen Koalition – wie wir heute wissen: vergeblich. Stattdessen möchte ich heute lieber etwas zur Berechnung dieser Grundrente sagen. Mit Erlaubnis des Präsidenten möchte ich aus dem neuen § 76g SGB VI zitieren, bei dem es um die Berechnung der Grundrente geht: Der Zuschlag an Entgeltpunkten wird ermittelt aus dem Durchschnittswert an Entgeltpunkten aus allen Kalendermonaten mit Grundrentenbewertungszeiten und umfasst zunächst diesen Durchschnittswert. Übersteigt das Zweifache dieses Durchschnittswertes den jeweils maßgeblichen Höchstwert an Entgeltpunkten nach den Sätzen 3 bis 5, wird der Zuschlag aus dem Differenzbetrag zwischen dem jeweiligen Höchstwert und dem Durchschnittswert nach Satz 1 ermittelt. Der Höchstwert beträgt 0,0334 Entgeltpunkte, wenn 33 Jahre mit Grundrentenzeiten vorliegen. Liegen mehr als 33, aber weniger als 35 Jahre mit Grundrentenzeiten vor, wird der Höchstwert nach Satz 3 je zusätzlichen Kalendermonat mit Grundrentenzeiten um 0,001389 Entgeltpunkte erhöht; das Ergebnis ist auf vier Dezimalstellen zu runden. Liegen mindestens 35 Jahre mit Grundrentenzeiten vor, beträgt der Höchstwert 0,0667 Entgeltpunkte. Zur Berechnung der Höhe des Zuschlags an Entgeltpunkten wird der nach den Sätzen 1 bis 5 ermittelte Entgeltpunktewert mit dem Faktor 0,875 und anschließend mit der Anzahl der Kalendermonate mit Grundrentenbewertungszeiten, höchstens jedoch mit 420 Kalendermonaten, vervielfältigt. ({3}) Ist das noch für irgendjemanden nachvollziehbar? ({4}) – Für Sie schon? Sehr schön, herzlichen Glückwunsch. – Der Rentenbescheid an sich ist ja schon nicht einfach zu verstehen. Hier leisten die Versichertenältesten und Rentenberater sehr gute Hilfe für die Rentner. Aber diese Berechnung der Grundrente können selbst diese Rentenberater nicht mehr nachvollziehen. ({5}) Die Grundrente wird durchschnittlich 75 Euro im Monat betragen. Wenn der Ehepartner ein ausreichendes Einkommen hat, erfolgt eine Einkommensanrechnung, und es gibt nicht einmal diese 75 Euro. Was werden die Bezieher der Grundrente denn nun sagen, wenn sie einen Rentenbescheid mit so einem geringen Zahlbetrag erhalten? Minister Heil hatte ihnen doch 200 Euro versprochen, in einigen Reden 400 Euro, heute 300 Euro. Werden sie ihre Grundrente akzeptieren? Nachvollziehen können sie die Berechnung ja nicht mehr. Sie werden sich ungerecht behandelt fühlen und klagen, genau wie die Rentner, die keinen Anspruch auf Grundrente haben, oder die Ehepaare, bei denen eine Einkommensanrechnung stattfindet im Gegensatz zu Lebensgemeinschaften, bei denen dies nicht so ist, oder Rentner, die nicht wollen, dass ein automatischer Einkommensabgleich beim Finanzamt vorgenommen wird, und die auf die Einhaltung des Datenschutzes pochen. Sie können sich nicht dagegen wehren, sie können sich der Grundrente nicht verweigern. Es wird bei den Rentnern sehr viele Enttäuschungen geben; denn der Name „Grundrente“ impliziert ja, dass jeder diese Rente bekommt. Dem ist aber nicht so. ({6}) Ich hätte mir sehr gewünscht, dass wir heute über ein Gesetz sprechen, das die Lebensumstände für die vielen bedürftigen Rentner wirklich verbessert. Viele Menschen, die in prekären Verhältnissen leben, obwohl sie ein Leben lang gearbeitet haben, haben darauf gehofft. Das Konzept der Grundrente ist zu teuer, sozial ungerecht, wirkungslos und belastet die Folgegenerationen. ({7}) Die Finanzierung des Ganzen ist völlig offen, die Umsetzung ein Desaster – auch ohne Corona. Kein Wunder, dass sich die Kollegen aus der CDU/CSU mit Händen und Füßen dagegen gewehrt haben. Allein die Führung hat anders entschieden. Wie wir in Armut lebenden Rentnern zielgenau und effizient helfen können, das haben wir als AfD-Fraktion bereits im Februar 2019 mit einem Antrag gezeigt. Eine Freibetragslösung in der Grundsicherung im Alter kommt bei den Bedürftigen an und setzt die Rentenversicherung auch nicht dermaßen unter Druck. ({8}) Sie, Minister Heil, haben unseren Vorschlag sogar mit in das Grundrentengesetz aufgenommen, aber die große Hürde „35 Jahre Versicherungszeiten“ eingebaut. Warum lassen Sie diese Unterstützung nicht allen bedürftigen Rentnern zugutekommen? Das wäre eine Maßnahme, die die Altersarmut gezielt bekämpft. Aber leider zählen für Sie nur Rentner, die 33 bzw. 35 Jahre gearbeitet haben. Alle anderen, auch die Erwerbsunfähigkeitsrentner, bleiben außen vor. ({9}) Nicht alle Abgeordneten der CDU/CSU-Fraktion sind begeistert von der Grundrente. Die Mittelstandsunion verabschiedete dazu ein Papier, in dem zu lesen war – ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten –: Diese Grundrente schafft Ungerechtigkeiten, sie ist nicht zielgerichtet nur für Bedürftige, sie ist nicht solide finanziert, sie belastet mitten in der größten Wirtschaftskrise Steuer- und Beitragszahler und wird auch nachfolgende Generationen unnötig belasten. Dieser Einschätzung kann ich mich hundertprozentig anschließen. Es ist nur schade, dass diese Abgeordneten innerhalb ihrer Fraktion eine Minderheit darstellen. Vielen Dank. ({10})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf noch mal daran erinnern, dass wir die namentliche Abstimmung um 12.57 Uhr schließen. Also die Hälfte der Zeit ist jetzt gleich vorbei. Das ist vielleicht eine gute Gelegenheit, sich auf den Weg zu machen. Der nächste Redner ist für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Hermann Gröhe. ({0})

Hermann Gröhe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002666, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Herr Minister! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die Grundrente kommt, und das ist eine gute Nachricht für dieses Land. ({0}) Das ist eine gute Nachricht nicht nur für die 1,3 Millionen Menschen, die mittelfristig diese zusätzliche Unterstützung und berechtigte Aufwertung ihrer Rente bekommen, sondern das ist auch eine gute Nachricht für diesen Sozialstaat insgesamt und für dieses Land. Ja, es ist eine spürbare Aufwertung, wenn Menschen in Zukunft im Durchschnitt 900 bis 1 000 Euro im Jahr mehr haben. Für Menschen, die jeden Cent umdrehen müssen, ist dies wahrlich eine spürbare Unterstützung. Menschen – Hubertus Heil hat Beispiele genannt –, die in einem Blumengeschäft, die in einem Friseursalon – häufig sind es Frauen – für weniger als die Hälfte des Durchschnittsverdienstes gearbeitet haben und bisher eine Rente von gut 500 Euro haben, haben in Zukunft eine Rente von gut 900 Euro. Das sind fast 5 000 Euro mehr im Jahr. Dies haben diese Menschen wahrlich verdient, meine Damen, meine Herren. ({1}) Ja, wir haben darum gerungen, nicht erst in dieser Legislaturperiode, nicht nur in dieser Koalition, sondern schon länger, weil es in der Tat um das Zusammenführen unterschiedlicher Prinzipien geht. Es geht darum, Leistungsgerechtigkeit und Bedarfsgerechtigkeit klug zusammenzubringen. Ja, es ist wichtig – darauf legen wir als Union Wert –, die Rente als beitragsbezogene Leistung zu verstehen. Sie ist eben nicht Wohltat des Staates, sondern durch eigenen Beitrag erworbenes Recht. ({2}) Daran wollen wir festhalten. Deswegen ist uns die Beitragsbezogenheit wichtig. Wenn man die Beitragsbezogenheit zugunsten der einen Gruppe und damit ja immer auch zur Nichtbegünstigung anderer verändert, dann muss man dies gut begründen. Deswegen haben wir gesagt: Gießkanne ist zwar einfach, aber sie ist eben auch ungerecht. Deswegen muss zielgenau ein Bedarf festgestellt werden. Ich freue mich, dass Karl-Josef Laumann hier ist. Er war einer der Ersten, der gesagt hat: Dabei muss es um den Blick auf die Einkommenssituation gehen. – Das steht jetzt in diesem Gesetz. Das ist ein gutes und starkes Stück christlich-sozialer Handschrift, meine Damen, meine Herren. ({3}) Ja, Prüfung, Bedarfsfeststellung bedeutet Aufwand. Schon vor zehn Jahren haben wir von denen, für die das Aufwand bedeutet, gehört, sie leisten lieber, als dass sie prüfen. Das ist so. Das ist übrigens auch menschlich verständlich. Aber es ist wichtig, dass wir uns zu dem Aufwand bekennen. Denn „Unkompliziert, aber ungerecht“ wäre nicht der bessere Weg. ({4}) Wir haben in der ersten Lesung sehr bewusst gesagt: Wenn dies solch einen großen Aufwand bedeutet, dann müssen wir auch ins Gesetz selber schreiben, dass es stufenweise umgesetzt werden kann. Wir wollen Transparenz. Neurentenzugänge und Renten im bisherigen Rentenbestand – über 20 Millionen Renten müssen geprüft werden – werden automatisiert im Hinblick auf einen Anspruch auf Grundrente geprüft; mit ersten Auszahlungen ist ab Sommer des nächsten Jahres zu rechnen. Dass diese Prüfungen bis Ende des Jahres 2022 Zeit brauchen, ist beschlossen worden und steht im Gesetz. Ich glaube, solche Transparenz ist wichtig. Lassen Sie mich etwas zu den Finanzfragen sagen. Ja, natürlich wird in verschiedenste Richtungen sehr wurschtig und maßlos damit umgegangen. Die einen sagen: So, jetzt herrscht Corona. Da kann man sich das alles nicht mehr leisten. – Es ist nicht sehr überzeugend, dass wir das sozusagen an den Rentnern mit den kleinsten Renten auslassen. Es ist umgekehrt auch nicht überzeugend, wenn man sagt: Wir geben jetzt so viel Geld zur Bewältigung der Coronakrise aus, was fällt euch ein, nachzufragen, woher wir das Geld für die Grundrente nehmen? Ich hätte mir gewünscht, der Finanzminister hätte die Debatte nicht nur markig von der Seite kommentiert, sondern kraftvoll geliefert. Da wird nachzulegen sein. Aber nur weil die Angaben zur Finanzierung jetzt nicht auf dem Tisch liegen, machen wir die Rentnerinnen und Rentner nicht zu Leidtragenden; vielmehr wird das im Rahmen des Haushaltsaufstellungsverfahren nachzuliefern sein. Wichtig ist: Es ist keine beitragserhöhende Leistung aus dem Beitragstopf, sondern es wird über den Bundeshaushalt finanziert werden. Da sage ich sehr offen: Wir reden über 1,3 Milliarden Euro. Die einen reden die Leistungen klein. Die anderen reden die Belastungen riesig groß. Die AfD kann gleich beides: ({5}) Es ist ja viel zu wenig, aber viel zu teuer, und die Erde ist eine Scheibe. ({6}) Es ist verantwortbar. Es ist zielgenau. Deswegen werden wir uns das leisten können. Es gibt einen Bundeszuschuss in die Rentenversicherung von insgesamt ungefähr 100 Milliarden Euro. Dieser ist übrigens über die letzten Jahre – auch das sei bei manchem Alarmismus gesagt – gemessen am Anteil am Bruttoinlandsprodukt ziemlich gleichbleibend. ({7}) Wir werden uns 1,3 Milliarden Euro leisten können. Wir werden das solide darstellen, und ich halte das für richtig. ({8}) Wir haben in den letzten Tagen noch einmal gehört: Es bedarf mehr, um gegen Altersarmut vorzugehen. – Das stimmt. Die Grundrente ist ein wichtiger Baustein, so wie die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf ein wichtiger Baustein ist, damit nicht erzwungene Teilzeitarbeit, unfreiwillige Teilzeitarbeit, gerade von Frauen, in Altersarmut endet. Deswegen haben wir im ersten Rentenpaket die Erwerbsminderungsrente verbessert. Deswegen gehen wir noch in diesem Jahr das Thema „Selbstständige und Altersvorsorgepflicht“ an. Denn alle Bausteine zusammen sind notwendig, um unseren Sozialstaat mit Maß und Mitte so auszubauen, dass Menschen, die dringend eine Rentenverbesserung im Alter brauchen, sie auch bekommen. Wir freuen uns und stimmen gerne dieser Grundrente zu. ({9})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Nächster Redner ist der Kollege Johannes Vogel, FDP-Fraktion. ({0})

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will zu Beginn meiner Rede noch mal daran erinnern, mit welchem Ziel die Koalition bei diesem Thema gestartet ist. Auch wenn Hubertus Heil gerade kurz abstimmen ist, zitiere ich den Bundesarbeitsminister aus seinem allerersten Interview zu diesem Thema in der „Bild am Sonntag“: ({0}) Sehr viele Menschen, die ihr Leben lang gearbeitet haben, landen ... als Rentner in der Grundsicherung. Das will ich ändern. Deshalb will ich die Grundrente einführen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bekenne und sage ganz ausdrücklich: Dieses Ziel teilen wir, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({1}) Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, man kann es nicht oft genug sagen. Schauen wir doch einmal, was konkret bei Ihrer Grundrente passiert: Eine alleinerziehende Altenpflegerin, die 32 Jahre und 11 Monate Versicherungszeiten in der Rente und im Alter vielleicht zu wenig Geld hat: Sie hat bei Ihrem Modell keinen Cent mehr als die Grundsicherung! Eine Friseurmeisterin, die vielleicht 20 Jahre ein Unternehmen betrieben hat, Menschen Arbeit gegeben hat, dann noch 20 Jahre angestellt war, weil das Unternehmen vielleicht gescheitert ist, die auch – aus welchen Gründen auch immer – im Alter wenig Geld hat: Sie hat bei Ihrem Modell keinen Cent mehr als die Grundsicherung! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, man muss sich das einmal buchstäblich vor Augen führen: Von den Hunderttausenden Menschen, die Ansprüche aus der gesetzlichen Rentenversicherung haben und trotzdem in der Grundsicherung landen, gehen drei Viertel bei Ihrer Grundrente leer aus. ({2}) Auf der anderen Seite sind von denjenigen, die bei Ihnen Grundrente bekommen, über 90 Prozent gar nicht in der Grundsicherung. Das geht gleich doppelt daneben, liebe Kolleginnen und Kollegen, und ist ein krass ungenaues Modell. ({3}) Diese Grundrente hilft zu wenig gegen Altersarmut. Das ist das Kernproblem bei Ihrem Modell, das Sie heute hier zur Abstimmung stellen. Professor Georg Cremer, ehemaliger Generalsekretär der Caritas, fasste es in der Sachverständigenanhörung wie folgt zusammen: „Was mich stört ist einfach, dass bei dem jetzigen Modell die Armen leer rausgehen.“ Und trotzdem peitschen Sie dieses Modell heute durch den Bundestag, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition. Das kann es wirklich nicht sein, wenn es um Altersarmut geht. ({4}) Gleichzeitig schaffen Sie ja ganz viele neue Ungerechtigkeiten. Sie brechen mit dem Grundsatz unserer Rentenversicherung, dass die Auszahlungen von den Einzahlungen abhängen. Sie stellen Wohngemeinschaften bei der Grundrente besser als Ehepaare. Wer eine kleine Riester-Rente hat, der bekommt keine Grundrente, wer eine identisch hohe kleine Lebensversicherung hat, der bekommt Grundrente usw. usf. Diese Ungerechtigkeiten sind so krass, dass Franz Ruland, langjähriges SPD-Mitglied und langjähriger Chef der Rentenversicherung, die Grundrente sogar für verfassungswidrig hält. ({5}) Das ist doch kein überzeugendes Modell, was Sie heute vorlegen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition. ({6}) Sie ignorieren die eindringlichen Warnungen der Deutschen Rentenversicherung, die nicht nur besagen, das Modell sei so kompliziert, dass man im ersten Jahr die Grundrente an die meisten Bürgerinnen und Bürger gar nicht auszahlen könne, sondern die zum Beispiel auch darauf hinweisen, dass die Grundrente dauerhaft Verwaltungskosten in Höhe von 13 Prozent der Gesamtausgaben erzeuge. Um das einmal zu vergleichen: Bei der privaten Rentenversicherung liegen die Verwaltungskosten bei 1,5 Prozent , bei der Rentenversicherung liegen die Verwaltungskosten bei allen anderen Leistungen bei 1,2 Prozent . Sie legen hier allen Ernstes ein Modell vor, das das Zehnfache an Verwaltungskosten nur für die Implementation und für die Auszahlung verschlingt! Das ist doch kein überzeugendes Modell, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition. ({7}) Keine Zielgenauigkeit, ein Bruch mit dem Äquivalenzprinzip, komplett verzögerte Auszahlung – ich könnte weitermachen. Kommen Ihnen diese Kritikpunkte bekannt vor? Das alles habe ich – das wurde gerade schon zugerufen – bereits in der ersten Lesung gesagt. ({8}) Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, genau das ist das Problem. Seit der ersten Lesung hat sich dieses Modell um keinen Deut verbessert. Wir hatten eine Expertenanhörung. Die Äußerungen fielen – alle langjährigen Parlamentarier können das beurteilen – nun wirklich außergewöhnlich kritisch aus. Und was haben Sie an der Grundrente verändert? Nichts. Das ist kein gutes Regierungshandeln, lieber Bundesminister Heil, und das ist nicht überzeugend. ({9}) Leider bleibt es aber nicht bei Ihrer sozialpolitischen Irrfahrt, nein, auch finanzpolitisch ist das nicht überzeugend. Guckt man in die mittelfristige Finanzplanung, so stellt man fest, dass sich zur Grundrente nichts findet. Das Ziel, etwas gegen Altersarmut zu tun, ist wirklich wichtig, aber eine solide Finanzierung können wir schon erwarten; denn es geht hier nicht um einmalige Krisenmaßnahmen, sondern es geht um eine jahrzehntelange Ausgabe in der Rentenversicherung. Sie selber haben gesagt, Sie brauchen dafür zusätzliche Einnahmen. Sie wollten eine neue Steuer einführen. Diese Steuer gibt es nun nicht. Jetzt haben Sie weder Steuereinnahmen noch eine andere solide Finanzierung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland ist auch deshalb so gut durch diese Krise gekommen und ist jetzt unzweifelhaft handlungsfähig, weil wir in guten Zeiten auf die Finanzen geachtet haben. Deshalb müssen wir auch auf solide Rentenfinanzen achten. Was Sie hier machen, ist das Gegenteil. Das ist nicht überzeugend, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition. ({10}) Alexander Dobrindt von der CSU, der sagt das ja auch ganz offen – ich zitiere letztmalig –: Der SPD solle nicht die Gelegenheit gegeben werden, mit einem Rententhema die Sommermonate zu bespielen, kündigte CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt an. Dies sei der strategische Hintergrund dafür, das Thema Grundrente voraussichtlich an diesem Freitag abzuschließen, trotz offener Finanzierungsfragen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, Machtpolitik ist Teil von Politik. Machtpolitik darf aber nicht der einzige Teil von Politik sein, vor allem dann nicht, wenn etwas leidet, nämlich ein gutes Modell für die Menschen zu suchen, die unsere Unterstützung brauchen. So geht es nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition. ({11}) Und es ginge besser. Wir haben Ihnen schon vor Monaten ein Alternativkonzept vorgelegt; das steht heute auch zur Abstimmung. Bei unserer liberalen Basisrente hat jede und jeder, die bzw. der gearbeitet, eingezahlt, Kinder erzogen oder Angehörige gepflegt hat, im Alter sicher mehr als die Grundsicherung. Das Modell ist fair, zielgenau und finanzierbar. ({12}) – Lieber Kollege Matthias Birkwald, zu der Frage, was da herauskommt. Susanne Holtkotte – ich gratuliere ihr ebenfalls herzlich zum heutigen Geburtstag – haben Hubertus Heil und ich gemeinsam ganz am Anfang der Debatte über dieses Thema in einer Talkshow kennengelernt. Menschen wie Susanne Holtkotte haben bei der liberalen Basisrente am Ende mehr in der Tasche als bei Ihrer Grundrente, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({13}) Und gleichzeitig muss niemand im Alter aufs Sozialamt gehen, weil sie von der Rentenversicherung ausgezahlt wird. ({14}) Das ist ein überzeugendes Modell gegen Altersarmut. Das sehen nicht nur wir so. Das hat auch die Arbeits- und Sozialministerkonferenz der Bundesländer so gesehen, das vertritt der ehemalige Caritas-Generalsekretär so. Deutschland braucht dringend eine gute Grundrente. Ihre Grundrente ist das nicht. Es ginge besser. Deshalb: Stimmen Sie nachher der liberalen Basisrente zu! Vielen Dank. ({15})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner – er muss noch warten, bis das Pult gereinigt ist – ist Matthias W. Birkwald, Fraktion Die Linke. ({0})

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Kölner Band BAP hatte in den 70er-Jahren einen Song, in dem es hieß: „Besser hätt ich dat jelosse, dann wöhr alles nit passiert.“ Also: Besser hätte ich das gelassen, dann wäre alles nicht passiert. In den vergangenen 25 Jahren gab es für die unteren 40 Prozent der Einkommensbeziehenden keine nennenswerten realen Lohnerhöhungen, ein großer Niedriglohnsektor wurde aufgebaut und das Rentenniveau von 53 Prozent auf 48 Prozent gekürzt. Deshalb musste das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung feststellen, dass Durchschnittsverdienende im Jahr 2000  23,2 Jahre für eine Rente auf dem Grundsicherungsniveau arbeiten mussten und es im Jahr 2018 bereits 27,4 Jahre waren. Und darum gilt es erstens, die Gewerkschaften zu stärken, die Allgemeinverbindlicherklärung von Löhnen zu erleichtern und jetzt sofort den gesetzlichen Mindestlohn auf mindestens 12 Euro anzuheben. ({0}) Und darum gilt es zweitens, das Rentenniveau schrittweise wieder von 48 Prozent auf 53 Prozent anzuheben. Da lag es im Jahr 2000. Und darum fordert Die Linke drittens, nach österreichischem Vorbild eine echte einkommens- und vermögensgeprüfte Solidarische Mindestrente von derzeit 1 050 Euro netto zuzüglich Wohngeld in Orten mit hohen Mieten einzuführen – mit einem Vermögensfreibetrag von knapp 69 000 Euro, Johannes Vogel, statt der heutigen 5 000 Euro und vor allem mit der Zusicherung, im Alter nicht nach Jahrzehnten aus dem vielleicht vorhandenen eigenen Häuschen geschmissen zu werden. ({1}) Das alles wäre ein gutes Konzept gegen Altersarmut. Es wäre gerecht, bezahlbar und wirkungsvoll! Und es ist dringend notwendig; denn die sogenannte „Grundrente“ ist keine. Die gibt es in den Niederlanden, wo alle Alleinstehenden im Rentenalter 1 255 Euro netto erhalten, wenn sie 50 Jahre dort lebten. Das ist Grundrente! ({2}) Sehr geehrter Herr Minister Hubertus Heil, Chapeau, dass Sie Ihre sogenannte „Grundrente“ gegen den erbitterten Widerstand des Wirtschaftsflügels der Union in den Bundestag eingebracht haben und heute die abschließende Lesung erfolgt. Alle Ihre Amtsvorgängerinnen haben sich an der Bekämpfung der Altersarmut in den vergangenen elf Jahren die Zähne ausgebissen. Insofern: Glückwunsch! 1,3 Millionen Friseurinnen, Paketzusteller und hoffentlich auch viele Schauspieler, Künstlerinnen und andere werden nun endlich im Durchschnitt 75 Euro Rente mehr erhalten, viele nur 10 bis 40 Euro, manche aber auch bis zu 405 Euro. Das ist gut. ({3}) Aber es hätten 3 Millionen sein können. Das haben CDU und CSU verhindert. Und das ist sehr schlecht! ({4}) Aber es ist gut, dass überwiegend Frauen und besonders Menschen im Osten von der sogenannten „Grundrente“ profitieren werden. Und dafür klatscht auch Die Linke. ({5}) Es ist ebenfalls gut, dass Sie Freibeträge in der Grundsicherung im Alter und beim Wohngeld für Rentnerinnen und Rentner einführen. Aber es ist schlecht, dass das nur für Rentnerinnen und Rentner mit mehr als 33 Versicherungsjahren gilt. Die Gewerkschaften und die Sozialverbände laufen dagegen Sturm. Den Freibetrag für Betriebsrenten und für die Riester-Rente gibt es in der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung ab null Jahren. Das muss auch für die gesetzliche Rente gelten. ({6}) Ich fordere Sie auf: Streichen Sie diese Hürde aus dem Gesetz! Stimmen Sie unserem Änderungsantrag zu! Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sage es so, wie es ist: Hätten Sie den Referentenentwurf aus dem Arbeitsministerium vom Mai 2019 heute eingebracht, hätte Die Linke zugestimmt – trotz einiger Kritik. Dem heutigen Gesetzentwurf können wir nicht zustimmen; denn die Union hat aus einem ersten sehr guten Gesetzentwurf nach einem Jahr Sperrfeuer und übelster Blockade ein bürokratisches Monstrum gemacht. Die Union hat die Hürden für die Kassiererin unerträglich hochgeschraubt. Die Union hat die vorgesehenen Leistungen gekürzt und bessere Renten bei Kurzarbeit und bei Arbeitslosigkeit wieder aus dem Gesetz gestrichen. Bei CDU und CSU heißen die Fraktionsvorsitzenden offenbar „soziale Kälte“ und „sozialer Geiz“ statt Brinkhaus und Dobrindt. ({7}) Die Union hat dafür gesorgt, dass die Folgen viel zu niedriger Löhne nicht bekämpft werden, sondern dass diese weiter direkt in die Altersarmut führen. Das ist armenfeindlich, rentnerfeindlich und völlig inakzeptabel. ({8}) Das wird viele Rentnerinnen und Rentner frustrieren. Sie werden frustriert sein, weil ihnen der Titel „Grundrente“ etwas Falsches verspricht. Viele werden frustriert sein, weil sie die 33 Beitragsjahre nicht schaffen, zum Beispiel wegen eines Jahres Arbeitslosigkeit. Viele werden frustriert sein, wenn sie 30 Jahre sehr wenig verdient haben, aber fünf Jahre lang vielleicht nur weniger als 30 Prozent des Durchschnittslohnes. Auf Druck der Union erfolgt der Zuschlag nämlich erst für Monatslöhne ab 1 014 Euro. Ausgerechnet für Menschen mit 700, 800 oder 900 Euro Monatslohn soll Ihre sogenannte Grundrente keinen Cent Zuschlag bringen? Das ist vollkommen inakzeptabel. ({9}) Hinzu kommt: Viele Menschen werden frustriert sein, wenn sie an ihrem Rentenbescheid sehen, dass der versprochene Zuschlag erst gewährt und dann völlig willkürlich um 12,5 Prozent gekürzt wird. Das trifft diejenigen mit den kleinen Renten besonders hart. Und die Union schwadroniert hier vom Äquivalenzprinzip. Dabei geht es hier um die Anerkennung von Lebensleistung und einen Beitrag gegen Altersarmut. ({10}) Ich fordere Sie auf: Streichen Sie die willkürliche Verkürzung um 12,5 Prozent! Viele Betroffene werden frustriert sein, wenn ihnen der Zuschlag in einem Jahr zusteht und im nächsten Jahr nicht zusteht, weil vielleicht ein Ehepartner einen Minijob annimmt und das Paar dann über die Einkommensprüfung stolpert. Eine haarsträubend komplizierte Einkommensprüfung bei einer durchschnittlichen Leistung von 75 Euro ist beschämend. Streichen Sie die Einkommensprüfung! ({11}) Zu all diesen Unverschämtheiten der Union haben wir hier Änderungen, Streichungen und Verbesserungen eingebracht. Nehmen Sie diese an! Dann würden auch Zeiten des Mutterschutzes, Zurechnungszeiten bei Erwerbsminderung und Zeiten der Arbeitslosigkeit berücksichtigt. Dann würden 25 Jahre statt 33 Jahre als Voraussetzung reichen, und es gäbe den Zuschlag nicht nur für 35 Jahre, sondern auch für 40 oder 45 Jahre. Dann würde aus einem schlechten Grundrentengesetz wieder ein guter Rentenzuschlag für Niedrigverdienende, und dann würde auch Die Linke zustimmen. So werden wir uns enthalten müssen. Herzlichen Dank. ({12})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich mache darauf aufmerksam, dass wir die Zeit zur namentlichen Abstimmung etwas verlängert haben, sodass Kollegen, die aus dem Untersuchungsausschuss hier herüberkommen, die Gelegenheit zur Abstimmung noch wahrnehmen können. Um 13.10 Uhr werde ich aber die Abstimmung beenden. Das Wort hat der Kollege Markus Kurth für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem ich die Reden von Hubertus Heil und Hermann Gröhe gehört habe, beschleicht mich tatsächlich ein mulmiges Gefühl; denn ich glaube, bei all den Ankündigungen und Versprechen und bei dem Pathos, das auch hier in den Reden mitschwingt, sind wir dabei, in Zukunft massenhaft Enttäuschung zu stiften. Viele, viele Menschen werden nach Ihren Worten wie „Anerkennung von Lebensleistung“ und „Alltagshelden“ zwar die Erwartung und das Gefühl haben, dass sie diese Grundrente erhalten werden, aber sie werden sie nicht erhalten. Frau Holtkotte, auch von mir herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag! Sie haben noch 18 Jahre Arbeit vor sich. Ich hoffe sehr, dass sie nicht längere Zeit arbeitslos werden; denn Zeiten der Arbeitslosigkeit zählen nicht als Wartezeiten für die Grundrente. Menschen, die längere Zeit arbeitslos waren, können noch so sehr Alltagsheldin oder Alltagsheld gewesen sein: Sie werden die Grundrente nicht erhalten. Das Gleiche gilt für Personen, die längere Zeit erwerbsgemindert waren. Eine Erwerbsminderung zu haben, ist sowieso schon ein Schicksal, was ziemlich schwer wiegt. Aber dann steht am Ende auch: kein Zugang zur Grundrente. Und das finde ich ausgesprochen fatal. ({0}) An der Stelle kann ich – eigentlich wollte ich das erst später sagen – sofort auf das Modell der grünen Garantierente verweisen, das alle Versicherungszeiten als Anerkennungszeiten vorsieht. ({1}) Dann hätte Frau Holtkotte, auch wenn das Schicksal der Arbeitslosigkeit sie treffen sollte – wie gesagt, ich hoffe es wirklich nicht –, Zugang zu einer Rentenleistung von rund 1 000 Euro. Und: Bei der grünen Garantierente reichen auch Versicherungszeiten von 30 Jahren aus; man braucht keine 35 Jahre. Wir haben das in einem Gutachten, das das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung für unsere Fraktion gemacht hat – das wird demnächst auch veröffentlicht –, durchrechnen lassen. Mit dem Modell der grünen Garantierente würde der Grundsicherungsbezug auf null, auf nahezu null gehen. Das heißt: In Verbindung mit einer Versicherungspflicht für eine Bürgerversicherung oder eine Erwerbstätigenversicherung würden wir das Problem des Grundsicherungsbezugs im Alter an der Wurzel packen und rausziehen. ({2}) Aber leider bin ich noch nicht fertig. Frau Holtkotte, es gibt noch einen anderen Punkt, den Sie auf jeden Fall, auch wenn Sie durchgehend bis zum Renteneintritt beschäftigt sind, berücksichtigen sollten. Denn auch wenn Sie durchgehend bis zum Eintritt ins Rentenalter arbeiten, werden Sie die Grundrente von 1 030 Euro, die Herr Heil hier avisiert hat, erst mal nicht bekommen; natürlich nicht, sondern erst zwei Jahre später. Deswegen: Erspartes rechtzeitig auf die Seite packen oder dem Kind zur treuhänderischen Verwahrung geben! Denn – so hat der Gutachter Dr. Frank Nullmeier ganz klar festgestellt –: „Der Gesetzentwurf verfehlt gerade im Moment des Entstehens des Bedarfes die Berechnung des Bedarfes“. ({3}) – Doch! Sie müssen nicht den Kopf schütteln, lieber Hubertus Heil. – Warum? Weil Sie die automatisierte Auszahlung unbedingt wollten und keine Antragsleistung geschaffen haben, wo die Rentenversicherung prüfend eintreten muss. Hier wird das automatisiert mit dem Steuerbescheid gemacht. Das führt dazu, dass die Steuern des vorvergangenen Jahres, nämlich dann, wenn die Steuererklärung endgültig abgegeben ist, die Grundlage für die automatisierte Auszahlung sind. Frank Nullmeier sagt: „Man kann eine Zahlung, die im Moment der Zahlung einen Bedarf decken soll, nicht auf Daten gründen, die deutlich vor dem Zeitpunkt der Zahlung liegen.“ Das ist doch eigentlich ganz einfach zu verstehen. Dafür muss man kein Experte sein. Das ist sozialpolitische Logik. ({4}) Ich glaube, das ist einer der Punkte des Gesetzentwurfs – ich muss gestehen, das ist mir am Anfang gar nicht so aufgefallen –, der regelmäßig und wiederkehrend für Enttäuschung sorgen wird. Das wird häufig, das wird hunderttausendfach immer dann der Fall sein, wenn man vom Erwerbsleben in die Rente eintritt, weil ja das Erwerbseinkommen höher ist als die Rente. Das ist ein struktureller Webfehler, der uns, glaube ich, noch viel, viel Ärger in der Zukunft machen und der, fürchte ich, auch der Rentenversicherung auf die Füße fallen wird. Sie hätten sich für eine reine, klare Regelung im Rentenrecht wie bei der grünen Garantierente entscheiden sollen. ({5}) In der antiken Mythologie ist das Mischwesen – ein Zentaur: halb Pferd, halb Mensch – ein interessantes Wesen. In der Wirklichkeit sind Mischwesen eher bedauernswerte, gequälte Kreaturen. Darum ist es nach unseren bioethischen Maßstäben auch verboten, Mischwesen zu schaffen oder zu klonen. Mit der Grundrente haben Sie aber ein sozialpolitisches Mischwesen kreiert, das, so würde ich sagen, wenn es Gefühle hätte, schwer leiden würde. Sie haben eine Mischung aus Rentenversicherung, verändertem Wohngeldanspruch und Grundsicherung im Alter geschaffen und dabei die kompliziertesten Mechanismen des Hochwertens und Runterrechnens eingesetzt; der Kollege Matthias Birkwald hat sie eben alle beschrieben. Das alles ist aus Ihrer politischen Konfliktarithmetik heraus erklärbar, für viele Menschen in diesem Land aber überhaupt nicht nachzuvollziehen und Enttäuschung stiftend. Darum sage ich es noch einmal: Stimmen Sie unserem Entschließungsantrag zu. Wenn wir Gelegenheit dazu haben, werden wir diese Grundrente reformieren und weiterentwickeln zur Garantierente. Danke. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist jetzt 13.10 Uhr. Ich frage: Gibt es Mitglieder des Hauses, die ihre Stimme zur zweiten namentlichen Abstimmung noch nicht abgegeben haben? – Es gibt eine Kollegin, die ihre Stimme noch nicht abgegeben hat. Das tut sie jetzt bitte zügig. Bevor wir in der Debatte fortfahren, mache ich darauf aufmerksam, dass noch Schriftführerinnen und Schriftführer aus allen Oppositionsfraktionen bei der Auszählung vermisst werden. Ich bitte also alle Oppositionsfraktionen, dafür zu sorgen, dass die Auszählung nach dem nächsten Redebeitrag, wenn ich die Abstimmung geschlossen habe, auch tatsächlich stattfinden kann. Das Wort hat jetzt die Kollegin Katja Mast aus der SPD-Fraktion. ({0})

Katja Mast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Holtkotte, Sie kriegen natürlich gleich Grundrente, weil Sie nämlich nicht 1 250 Euro zu versteuerndes Einkommen monatlich haben; deshalb würden Sie sie gleich bekommen. Das sage ich hier an erster Stelle, um mit dem aufzuräumen, was mein Kollege hier gerade dargestellt hat. Und herzlichen Glückwunsch zu Ihrem Geburtstag! Wir brauchen Frauen wie Sie, die für Gerechtigkeit in dieser Gesellschaft kämpfen. ({0}) Heute ist ein guter Tag; denn es geht darum, Lebensleistung anzuerkennen und die Bundesrepublik Deutschland ein Stück gerechter zu machen. Die Grundrente kommt. Sie wird heute im Deutschen Bundestag beschlossen. ({1}) Vor allen Dingen Frauen wie Frau Holtkotte werden davon profitieren und die Mitbürgerinnen und Mitbürger in den östlichen Bundesländern, all diejenigen, die für ein kleines Einkommen jeden Tag gearbeitet haben. Genau um ihre Lebensleistung zu honorieren, gibt es diese Grundrente. Die Grundrente kommt jetzt. Das war und ist beim besten Willen keine Selbstverständlichkeit. Sie stand zehn Jahre auf der politischen Agenda, heute wird sie im Deutschen Bundestag beschlossen. Wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben zehn Jahre dafür gekämpft. ({2}) Unserem Bundessozialminister Hubertus Heil will ich danken für seine Hartnäckigkeit bei diesem Thema, für sein kluges Agieren gemeinsam mit uns. Ich danke seinem gesamten Haus; das war eine Kraftanstrengung. Ich will mich auch bedanken bei der bei diesem Thema superengagierten Parlamentarischen Staatssekretärin Kerstin Griese. ({3}) Ich will mich auch bedanken bei unserem Koalitionspartner, bei meinem Kollegen Hermann Gröhe, dem stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden, und bei der gesamten Arbeitsgruppe, auch bei meiner Arbeitsgruppe. Ich sage mal: Ihr habt das Ganze kritisch-konstruktiv begleitet, wir waren hartnäckig konstruktiv, ({4}) und das war am Schluss eine gute Mischung für die Grundrente und für die Menschen in diesem Land. Die Grundrente ist wichtig, weil sie verspricht: Arbeit lohnt sich. Sie bedeutet zweitens Respekt vor der Lebensleistung. Und drittens ist sie Wertschätzung für die stillen Heldinnen und Helden des Alltags: für die Pflegehilfskraft, für die Kassiererin im Supermarkt, für den Einräumer im Supermarkt, für den Paketboten, für den Lagerarbeiter. Sie verdienen dieses Engagement; sie verdienen, dass wir uns hier so reinknien. Ich freue mich darüber, dass meine Kolleginnen und Kollegen von der Union heute auf den fahrenden Zug aufspringen und wir die ganzen Hürden beseitigen konnten. ({5}) – Ja, Kompromisse machen die Demokratie aus; aber die Widerstände von euch waren schon sehr hartnäckig. Deshalb sage ich das auch so klar. ({6}) Unser Ziel als SPD, unser Ziel als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist es, den Sozialstaat zu stärken, auch in Zeiten der Coronapandemie und der Krise, und den Sozialstaat zum Partner der Bürgerinnen und Bürger zu machen. Auf diesem Weg kommen wir heute ein großes Stück weiter. Vielen Dank. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich muss noch die namentliche Abstimmung schließen. Ich gehe davon aus, dass jetzt kein Kollege mehr im Hause ist, der keine Gelegenheit hatte, an der Abstimmung teilzunehmen. – Das ist der Fall. Ich schließe die Abstimmung. Das Ergebnis wird Ihnen später bekannt gegeben. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Stephan Stracke das Wort. ({0})

Stephan Stracke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004169, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Leistung muss sich lohnen. Das ist unser sozialpolitischer Anspruch als Union, ({0}) und den verwirklichen wir ja auch mit der vorliegenden Grundrente. Wir wollen, dass diejenigen, die viele Jahre gearbeitet, aber wenig verdient haben, im Alter deutlich mehr Geld in der Tasche haben. Und wir wollen Familienarbeit honorieren. Davon profitieren ganz überwiegend Frauen; denn sie sind es, die Kinder erziehen, die pflegen. Deswegen kommt die Grundrente. Mit dieser Grundrente stärken wir auch das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit. Wir stärken es in der Rente und in der Grundsicherung. 1,3 Millionen Rentnerinnen und Rentner erhalten einen Zuschlag auf ihre Rente von bis zu rund 420 Euro pro Monat. ({1}) Das ist gut, gut für Frauen, weil sie häufig in Teilzeit arbeiten, gut für die Menschen im Osten, aber auch beispielsweise gut für Spätaussiedler, weil der Zuschlag nicht gedeckelt wird entsprechend dem Fremdrentengesetz. Das ist insgesamt gut. Wir führen außerdem in der Grundsicherung einen neuen Freibetrag von bis zu 216 Euro pro Monat ein, bis zu dem die Rente anrechnungsfrei gestellt wird. Damit gehen zwei ganz klare Signale einher: Erstens. Es lohnt sich, einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachzugehen. Wir stärken damit die Akzeptanz der Rentenversicherung. Zweitens. Es lohnt sich, für das Alter vorzusorgen, und zwar in allen Säulen unserer Alterssicherung: in der Rente, in der betrieblichen und in der privaten Altersvorsorge. Leistung und Eigenvorsorge lohnen sich in Bezug auf die Rente und in Bezug auf die Grundsicherung. Das ist die zentrale Botschaft dieses Grundrentengesetzes. ({2}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir verknüpfen das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit mit dem der Bedarfsgerechtigkeit. Wir helfen dort, wo es notwendig ist. Das ist genau das Gegenteil vom Prinzip Gießkanne. Darin unterscheidet sich unser Ansatz von den Ansätzen der Opposition, gerade vom Ansatz der Linken und der Grünen, die am Gießkannenprinzip festhalten, aber auch vom Ansatz der FDP und der AfD, die die Menschen ausschließlich in der Grundsicherung belassen wollen. ({3}) Die Gießkanne ist immer ungerecht, weil sie milliardenschwere Mitnahmeeffekte produziert, gerade bei denjenigen, die weitere Einkünfte haben, oder bei denjenigen, bei denen ein Ehepartner über ein Einkommen verfügt, durch das beide gut abgesichert sind. Weil die Gießkanne ungerecht ist, ist sie immer auch teuer. Sie ist ungerecht und unfinanzierbar, und deswegen lehnen wir sie ab. Die Grundrente enthält einen Schutz vor einer Überforderung der Steuerzahler und der Beitragszahler – das ist auch Teil des Prinzips der Leistungsgerechtigkeit –: Wir setzen auf eine Einkommensprüfung. Maßstab dabei ist das zu versteuernde Einkommen. Eine Einkommensanrechnung ist nicht neu. Wir kennen das vom Witwenrecht; da wird das auch nicht infrage gestellt. Ja, es ist richtig: Das führt zu einem hohen Aufwand. Aber dieser Aufwand entsteht innerhalb der Verwaltung und nicht bei den Menschen. Für die Menschen ist das, was wir gemacht haben, bürokratiearm: kein Antrag, keiner muss aufs Amt gehen. Entscheidend ist: Wir lassen die Daten rennen und nicht die Menschen. Das ist unser Ansatz in diesem Bereich. ({4}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, durch die Bedarfsprüfung ist die Grundrente auch finanzierbar: 1,4 Milliarden Euro im Einführungsjahr. Das ist deutlich weniger als die 5 Milliarden Euro, die das Ursprungsmodell vorgesehen hatte. Die Grundrente ist zielgenau, sie ist finanzierbar, und sie wird aus Steuermitteln finanziert. Einen Griff in die Sozialkassen haben wir verhindert. Der Vorschlag des Finanzministers war, die benötigten Steuermittel durch die Finanztransaktionsteuer in Höhe von 1 Milliarde Euro und durch 400 Millionen Euro aus Eigenmitteln des Haushalts des Bundesarbeitsministers zu organisieren. Auf diese Worte sind keine Taten gefolgt. Diese Schwäche darf nun allerdings nicht zulasten der Rentnerinnen und Rentner gehen. Deswegen geben wir ein Signal der Sicherheit; das haben die Rentnerinnen und Rentner verdient. Und gerade jetzt, innerhalb der schwersten Rezession seit der Nachkriegszeit, ist ein Signal der Sicherheit notwendig, auch zur Stärkung des gesellschaftlichen und sozialen Zusammenhalts in diesem Lande. ({5}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Grundrente ist ein Modell und ein Baustein zur Stärkung der Rentnerinnen und Rentner und zur Vermeidung von Altersarmut, sicherlich nicht einzig und allein; deswegen haben wir beispielsweise auch die Erwerbsminderungsrenten erhöht, wir haben die Mütterrente eingeführt, ({6}) wir haben für Verbesserungen bei der betrieblichen Altersvorsorge gesorgt, und wir werden jetzt auch die Altersvorsorgepflicht für Selbstständige einführen. Das zeigt: Rentenpolitik ist immer ein Dauerlauf, kein Sprint. Heute können wir uns über dieses Gesetz freuen, und wir werden morgen wieder an die Arbeit gehen für die Menschen in Deutschland, für ein zukunftsfähiges und gutes Alterssicherungssystem in Deutschland. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Ralf Kapschack für die SPD-Fraktion. ({0})

Ralf Kapschack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004321, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Aller guten Dinge sind drei. Zwei Koalitionen haben sich an diesem Thema schon vergeblich versucht, die dritte schafft es; deshalb ist in der Tat heute ein guter Tag. ({0}) Die Grundrente ist ein sozialpolitischer Meilenstein, vergleichbar mit der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns. Diese Grundrente für Menschen, die lange gearbeitet, Kinder erzogen oder Angehörige gepflegt haben, wird endlich in die Tat umgesetzt; lange genug hat es gedauert. Und – wir haben es gehört und auch noch mal gespürt –: Hier in der Koalition hat es mächtig geknirscht. Aber es gibt Situationen, da muss man einfach die Nerven behalten, wenn man auf dem richtigen Weg ist. Und es hat sich gelohnt; denn für die Grundrente muss man eben keinen Antrag stellen; es gibt keine Vermögensprüfung wie in der Grundsicherung. Es ist eben keine Fürsorgeleistung, erst recht kein Almosen, sondern ein eigener erworbener Anspruch. ({1}) Das ist eben auch der Unterschied zu dem Konzept der FDP: Es ist keine Grundsicherung plus; deshalb ist der FDP-Begriff „Basisrente“ reiner Etikettenschwindel. ({2}) Was auf dem Tisch liegt, ist ein Kompromiss, klar. Bei aller Kritik im Detail: „Es ist ein intelligenter und kein fauler Kompromiss“, das ist ein Zitat von Ulrich Schneider, dem Chef des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, der nicht dafür bekannt ist, überschwängliches Lob für diese Große Koalition zu verteilen. ({3}) Zugegeben, man hätte sich einfachere Lösungen vorstellen können; aber mit der Komplexität müssen sich die Rentnerinnen und Rentner glücklicherweise nicht auseinandersetzen. Wenn sie in Rente gehen, wird im Hintergrund ohne Antrag geprüft, ob sie für die Grundrente infrage kommen. Dann gibt es einen Abgleich mit den Finanzbehörden, und dann gibt es ein Ergebnis. Fertig! Und so gilt das auch für den Bestand. Jeder hat mitbekommen: Es war ein langer Weg bis zu dieser dritten Lesung. Man kann Kritik üben an dem, was auf dem Tisch liegt, völlig klar; aber ich frage mich schon, ob alle wissen, was sie so in die Welt twittern. Gegen die Grundrente zu wettern genauso wie vor ein paar Jahren gegen den Mindestlohn, das ist schon schräg. Vorhin ist die Band „BAP“ genannt worden. Und da fällt mir ein Refrain ein: „Wahnsinn, das darf nicht wahr sein!“ ({4}) Denn niedrige Löhne sind in erster Linie der Grund für eine niedrige Rente. Und wer niedrige Renten verhindern will, der muss deshalb für anständige Löhne kämpfen; aber mit der Logik ist das ja manchmal so eine Sache. Damit das hier nicht ganz untergeht: Im Geleitzug der Grundrente wird die betriebliche Altersvorsorge gerade für Beschäftigte mit geringem Einkommen noch einmal deutlich verbessert; auch darüber entscheiden wir heute, und das ist gut so. Warme Worte haben Menschen, die hart arbeiten und wenig Lohn bekommen, in den vergangenen Monaten auch hier reichlich gehört. Sie wollen Taten sehen. Wir liefern heute. Vielen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun die Kollegin Antje Lezius das Wort. ({0})

Antje Lezius (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004341, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Leider kann ich jetzt kein BAP-Zitat vortragen. Nach langen Verhandlungen beschließen wir heute eine deutliche Aufwertung niedriger Renten. Wer mindestens 33 Jahre gearbeitet, Kinder erzogen oder Angehörige gepflegt, aber nur unterdurchschnittliche Verdienste erzielt hat, profitiert ab dem 1. Januar 2021 von höheren Leistungen im Ruhestand. Das ist ein wichtiger Durchbruch, und ich kann Ralf Kapschack zustimmen: Ein guter Tag! ({0}) Ein guter Tag für bis zu 1,3 Millionen Anspruchsberechtigte, darunter viele Frauen und Menschen in Ostdeutschland. Diese Grundrente ist eben keine Fürsorgeleistung, sondern eine Fortentwicklung der Rente nach Mindestentgeltpunkten. Durch die neu festgelegten Voraussetzungen werden geringe Verdienste ab 33 Jahren Grundrentenzeiten künftig stärker aufgewertet. Ab 35 Jahren erfolgt die volle Anhebung. Sie kann im Einzelfall eine Verdoppelung der tatsächlichen Beitragszahlen bedeuten. Diese Aufwertung erfolgt jedoch nicht bedingungslos, sondern, wie von CDU und CSU gefordert, wenn das Gesamteinkommen niedrig ist. Dabei wird auch das Einkommen des Partners berücksichtigt. Das ist richtig und gerecht. Was ist außerdem Inhalt des Gesetzes? Die neugeschaffenen Freibeträge. Zukünftig profitieren diejenigen, die mindestens 33 Jahre Grundrentenzeiten zurückgelegt haben, von einem Freibetrag in der Grundsicherung und einem Freibetrag beim Wohngeld, auch dann, wenn sie neben der Grundrente noch auf Wohngeld und Grundsicherung angewiesen sind. Je nach Rentenhöhe kann dieser Freibetrag bis zu 216 Euro monatlich ausmachen. Darüber hinaus stärken wir die betriebliche Altersversorgung, eine wichtige Säule unseres Rentensystems. Auch Geringverdiener können und sollen hiervon profitieren. Durch das Grundrentengesetz wird der maximale Förderbetrag zur betrieblichen Altersversorgung bei einem Bruttolohn von bis zu 2 200 Euro verdoppelt. Das ist eine gute Nachricht für bis zu 2,1 Millionen Menschen. Für die Verwaltung – das ist schon angesprochen worden – ist die Umsetzung der Grundrente mit einem hohen bürokratischen Aufwand verbunden. Die Grundrente gilt schließlich nicht nur für Neurentner; auch 26 Millionen Bestandsfälle müssen geprüft werden – eine große Kraftanstrengung für die Rentenversicherung. Aber, wer einem bestehenden und zugegebenermaßen sehr komplexen System eine passgenaue und gerechte Lösung hinzufügen will, der muss gerade zu Beginn einige Mühen in Kauf nehmen. Da hilft auch kein großes Klagen. Und diesen Arbeitsaufwand nehmen wir auch deswegen gerne in Kauf, damit die Rente zielgenau ist und den Antragsberechtigten möglichst kein Aufwand entsteht. Die Neuberechnung der Rente – das wurde schon mehrmals erwähnt – erfolgt nämlich ohne Antragstellung. Der Anspruch auf Grundrente soll ab dem nächsten Jahr bestehen. Da bis dahin nicht Millionen von Renten geprüft werden können, wird die Rentenversicherung mit den ältesten Jahrgängen beginnen. Den Grundrentenberechtigten entsteht hierdurch insofern kein Nachteil, weil sie die zusätzlichen Leistungen rückwirkend ausgezahlt bekommen. Sehr geehrte Damen und Herren, haben wir mit dem Koalitionspartner hart um eine Lösung gerungen? Ja. Stellt das Ergebnis einen Kompromiss dar? Natürlich. Dass die vom Bundesfinanz- und vom Bundesarbeitsminister zugesagte Finanzierung nicht eingehalten wird, ist für mich enttäuschend; aber der hier vorliegende Gesetzentwurf ist ein Kompromiss, der über 1 Million Menschen in Zukunft besser dastehen lässt, der zeigt, dass sich die Beiträge in die Rentenkasse lohnen und dass wir als Gesellschaft wertschätzen, wenn Kinder erzogen und Pflegebedürftigen geholfen wird. ({1}) Aus diesem Grund werde ich dem Gesetz zustimmen. Vielen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich gebe Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der AfD bekannt: abgegebene Stimmkarten 670. Mit Ja stimmten 87 Abgeordnete, mit Nein haben 580 Abgeordnete gestimmt, es gab 3 Enthaltungen. Der Entschließungsantrag ist abgelehnt. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 670; davon ja: 87 nein: 580 enthalten: 3 Ja AfD Dr. Bernd Baumann Marc Bernhard Andreas Bleck Peter Boehringer Stephan Brandner Jürgen Braun Marcus Bühl Matthias Büttner Petr Bystron Tino Chrupalla Joana Cotar Dr. Gottfried Curio Siegbert Droese Thomas Ehrhorn Berengar Elsner von Gronow Dr. Michael Espendiller Peter Felser Dietmar Friedhoff Dr. Anton Friesen Markus Frohnmaier Dr. Götz Frömming Dr. Alexander Gauland Dr. Axel Gehrke Albrecht Glaser Franziska Gminder Wilhelm von Gottberg Kay Gottschalk Armin-Paulus Hampel Mariana Iris Harder-Kühnel Dr. Roland Hartwig Jochen Haug Martin Hebner Udo Theodor Hemmelgarn Waldemar Herdt Martin Hess Dr. Heiko Heßenkemper Karsten Hilse Nicole Höchst Martin Hohmann Dr. Bruno Hollnagel Leif-Erik Holm Johannes Huber Fabian Jacobi Dr. Marc Jongen Jens Kestner Stefan Keuter Norbert Kleinwächter Enrico Komning Jörn König Steffen Kotré Dr. Rainer Kraft Rüdiger Lucassen Frank Magnitz Jens Maier Dr. Lothar Maier Dr. Birgit Malsack-Winkemann Andreas Mrosek Hansjörg Müller Volker Münz Sebastian Münzenmaier Christoph Neumann Jan Ralf Nolte Ulrich Oehme Gerold Otten Frank Pasemann Tobias Matthias Peterka Paul Viktor Podolay Jürgen Pohl Stephan Protschka Martin Reichardt Martin Erwin Renner Roman Johannes Reusch Ulrike Schielke-Ziesing Dr. Robby Schlund Jörg Schneider Uwe Schulz Thomas Seitz Martin Sichert Detlev Spangenberg Dr. Dirk Spaniel René Springer Beatrix von Storch Dr. Alice Weidel Dr. Harald Weyel Wolfgang Wiehle Dr. Heiko Wildberg Uwe Witt Nein CDU/CSU Dr. Michael von Abercron Stephan Albani Norbert Maria Altenkamp Philipp Amthor Peter Aumer Dorothee Bär Thomas Bareiß Norbert Barthle Maik Beermann Manfred Behrens (Börde) Veronika Bellmann Sybille Benning Dr. André Berghegger Melanie Bernstein Christoph Bernstiel Peter Beyer Marc Biadacz Steffen Bilger Peter Bleser Norbert Brackmann Michael Brand (Fulda) Dr. Reinhard Brandl Dr. Helge Braun Silvia Breher Sebastian Brehm Heike Brehmer Ralph Brinkhaus Dr. Carsten Brodesser Gitta Connemann Astrid Damerow Alexander Dobrindt Michael Donth Marie-Luise Dött Hansjörg Durz Thomas Erndl Hermann Färber Uwe Feiler Enak Ferlemann Dr. Maria Flachsbarth Thorsten Frei Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) Michael Frieser Hans-Joachim Fuchtel Ingo Gädechens Dr. Thomas Gebhart Alois Gerig Eberhard Gienger Eckhard Gnodtke Ursula Groden-Kranich Hermann Gröhe Klaus-Dieter Gröhler Michael Grosse-Brömer Astrid Grotelüschen Markus Grübel Manfred Grund Oliver Grundmann Monika Grütters Fritz Güntzler Olav Gutting Christian Haase Florian Hahn Jürgen Hardt Matthias Hauer Mark Hauptmann Dr. Matthias Heider Mechthild Heil Thomas Heilmann Frank Heinrich (Chemnitz) Mark Helfrich Rudolf Henke Michael Hennrich Marc Henrichmann Ansgar Heveling Christian Hirte Dr. Heribert Hirte Alexander Hoffmann Karl Holmeier Dr. Hendrik Hoppenstedt Erich Irlstorfer Thomas Jarzombek Andreas Jung Ingmar Jung Alois Karl Anja Karliczek Torbjörn Kartes Volker Kauder Dr. Stefan Kaufmann Ronja Kemmer Roderich Kiesewetter Michael Kießling Dr. Georg Kippels Volkmar Klein Axel Knoerig Jens Koeppen Markus Koob Carsten Körber Alexander Krauß Gunther Krichbaum Rüdiger Kruse Michael Kuffer Dr. Roy Kühne Dr. Dr. h. c. Karl A. Lamers Andreas G. Lämmel Katharina Landgraf Ulrich Lange Dr. Silke Launert Jens Lehmann Paul Lehrieder Dr. Katja Leikert Dr. Andreas Lenz Antje Lezius Andrea Lindholz Dr. Carsten Linnemann Patricia Lips Nikolas Löbel Bernhard Loos Dr. Jan-Marco Luczak Daniela Ludwig Dr. Saskia Ludwig Karin Maag Yvonne Magwas Dr. Thomas de Maizière Gisela Manderla Dr. Astrid Mannes Matern von Marschall Hans-Georg von der Marwitz Andreas Mattfeldt Stephan Mayer (Altötting) Dr. Michael Meister Jan Metzler Dr. h. c. (Univ Kyiv) Hans Michelbach Dr. Mathias Middelberg Dietrich Monstadt Karsten Möring Elisabeth Motschmann Axel Müller Sepp Müller Carsten Müller (Braunschweig) Stefan Müller (Erlangen) Dr. Andreas Nick Petra Nicolaisen Michaela Noll Dr. Georg Nüßlein Wilfried Oellers Florian Oßner Josef Oster Henning Otte Ingrid Pahlmann Sylvia Pantel Martin Patzelt Dr. Joachim Pfeiffer Stephan Pilsinger Dr. Christoph Ploß Eckhard Pols Thomas Rachel Kerstin Radomski Alexander Radwan Alois Rainer Eckhardt Rehberg Lothar Riebsamen Josef Rief Johannes Röring Dr. Norbert Röttgen Stefan Rouenhoff Erwin Rüddel Albert Rupprecht Stefan Sauer Anita Schäfer (Saalstadt) Dr. Wolfgang Schäuble Andreas Scheuer Jana Schimke Tankred Schipanski Christian Schmidt (Fürth) Dr. Claudia Schmidtke Patrick Schnieder Nadine Schön Felix Schreiner Dr. Klaus-Peter Schulze Uwe Schummer Armin Schuster (Weil am Rhein) Torsten Schweiger Detlef Seif Johannes Selle Reinhold Sendker Dr. Patrick Sensburg Bernd Siebert Thomas Silberhorn Björn Simon Tino Sorge Jens Spahn Katrin Staffler Dr. Wolfgang Stefinger Albert Stegemann Andreas Steier Peter Stein (Rostock) Sebastian Steineke Johannes Steiniger Christian Frhr. von Stetten Dieter Stier Gero Storjohann Stephan Stracke Max Straubinger Karin Strenz Dr. Peter Tauber Dr. Hermann-Josef Tebroke Hans-Jürgen Thies Alexander Throm Dr. Dietlind Tiemann Antje Tillmann Markus Uhl Dr. Volker Ullrich Arnold Vaatz Kerstin Vieregge Volkmar Vogel (Kleinsaara) Christoph de Vries Kees de Vries Dr. Johann David Wadephul Marco Wanderwitz Nina Warken Kai Wegner Albert H. Weiler Marcus Weinberg (Hamburg) Dr. Anja Weisgerber Peter Weiß (Emmendingen) Sabine Weiss (Wesel I) Ingo Wellenreuther Marian Wendt Kai Whittaker Annette Widmann-Mauz Bettina Margarethe Wiesmann Klaus-Peter Willsch Elisabeth Winkelmeier-Becker Oliver Wittke Tobias Zech Emmi Zeulner Paul Ziemiak Dr. Matthias Zimmer SPD Niels Annen Ingrid Arndt-Brauer Bela Bach Heike Baehrens Ulrike Bahr Nezahat Baradari Doris Barnett Dr. Matthias Bartke Sören Bartol Bärbel Bas Lothar Binding (Heidelberg) Dr. Eberhard Brecht Leni Breymaier Dr. Karl-Heinz Brunner Katrin Budde Dr. Lars Castellucci Bernhard Daldrup Dr. Daniela De Ridder Dr. Karamba Diaby Esther Dilcher Sabine Dittmar Saskia Esken Yasmin Fahimi Dr. Johannes Fechner Dr. Fritz Felgentreu Dr. Edgar Franke Ulrich Freese Dagmar Freitag Michael Gerdes Martin Gerster Angelika Glöckner Timon Gremmels Kerstin Griese Michael Groß Uli Grötsch Bettina Hagedorn Rita Hagl-Kehl Sebastian Hartmann Dirk Heidenblut Hubertus Heil (Peine) Gabriela Heinrich Marcus Held Wolfgang Hellmich Dr. Barbara Hendricks Gabriele Hiller-Ohm Thomas Hitschler Frank Junge Josip Juratovic Thomas Jurk Oliver Kaczmarek Elisabeth Kaiser Ralf Kapschack Gabriele Katzmarek Cansel Kiziltepe Arno Klare Lars Klingbeil Dr. Bärbel Kofler Daniela Kolbe Anette Kramme Christine Lambrecht Christian Lange (Backnang) Dr. Karl Lauterbach Sylvia Lehmann Helge Lindh Kirsten Lühmann Caren Marks Dorothee Martin Katja Mast Christoph Matschie Hilde Mattheis Dr. Matthias Miersch Klaus Mindrup Susanne Mittag Falko Mohrs Claudia Moll Siemtje Möller Bettina Müller Detlef Müller (Chemnitz) Michelle Müntefering Dr. Rolf Mützenich Dietmar Nietan Ulli Nissen Thomas Oppermann Josephine Ortleb Mahmut Özdemir (Duisburg) Aydan Özoğuz Markus Paschke Christian Petry Sabine Poschmann Achim Post (Minden) Florian Pronold Dr. Sascha Raabe Martin Rabanus Mechthild Rawert Andreas Rimkus Sönke Rix Dennis Rohde Dr. Martin Rosemann René Röspel Dr. Ernst Dieter Rossmann Michael Roth (Heringen) Susann Rüthrich Bernd Rützel Sarah Ryglewski Johann Saathoff Axel Schäfer (Bochum) Dr. Nina Scheer Marianne Schieder Udo Schiefner Dr. Nils Schmid Uwe Schmidt Ulla Schmidt (Aachen) Dagmar Schmidt (Wetzlar) Carsten Schneider (Erfurt) Johannes Schraps Michael Schrodi Martin Schulz Swen Schulz (Spandau) Frank Schwabe Stefan Schwartze Andreas Schwarz Rita Schwarzelühr-Sutter Rainer Spiering Svenja Stadler Martina Stamm-Fibich Sonja Amalie Steffen Mathias Stein Kerstin Tack Claudia Tausend Michael Thews Markus Töns Carsten Träger Ute Vogt Marja-Liisa Völlers Dirk Vöpel Gabi Weber Dr. Joe Weingarten Bernd Westphal Dirk Wiese Gülistan Yüksel Stefan Zierke Dr. Jens Zimmermann FDP Grigorios Aggelidis Renata Alt Christine Aschenberg-Dugnus Nicole Bauer Jens Beeck Dr. Jens Brandenburg (Rhein-Neckar) Mario Brandenburg (Südpfalz) Sandra Bubendorfer-Licht Dr. Marco Buschmann Karlheinz Busen Carl-Julius Cronenberg Britta Katharina Dassler Bijan Djir-Sarai Christian Dürr Hartmut Ebbing Dr. Marcus Faber Daniel Föst Otto Fricke Thomas Hacker Reginald Hanke Peter Heidt Katrin Helling-Plahr Markus Herbrand Torsten Herbst Katja Hessel Dr. Gero Clemens Hocker Manuel Höferlin Dr. Christoph Hoffmann Reinhard Houben Ulla Ihnen Olaf In der Beek Gyde Jensen Dr. Christian Jung Karsten Klein Dr. Marcel Klinge Daniela Kluckert Pascal Kober Dr. Lukas Köhler Carina Konrad Wolfgang Kubicki Konstantin Kuhle Alexander Kulitz Alexander Graf Lambsdorff Ulrich Lechte Christian Lindner Michael Georg Link (Heilbronn) Oliver Luksic Till Mansmann Dr. Jürgen Martens Christoph Meyer Alexander Müller Roman Müller-Böhm Frank Müller-Rosentritt Dr. Martin Neumann (Lausitz) Matthias Nölke Hagen Reinhold Bernd Reuther Dr. h. c. Thomas Sattelberger Christian Sauter Frank Schäffler Dr. Wieland Schinnenburg Matthias Seestern-Pauly Frank Sitta Judith Skudelny Dr. Hermann Otto Solms Bettina Stark-Watzinger Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann Benjamin Strasser Katja Suding Linda Teuteberg Michael Theurer Stephan Thomae Manfred Todtenhausen Dr. Andrew Ullmann Gerald Ullrich Johannes Vogel (Olpe) Sandra Weeser Nicole Westig Katharina Willkomm DIE LINKE Doris Achelwilm Gökay Akbulut Dr. Dietmar Bartsch Lorenz Gösta Beutin Matthias W. Birkwald Heidrun Bluhm-Förster Michel Brandt Christine Buchholz Dr. Birke Bull-Bischoff Jörg Cezanne Sevim Dağdelen Fabio De Masi Dr. Diether Dehm Anke Domscheit-Berg Klaus Ernst Susanne Ferschl Brigitte Freihold Nicole Gohlke Dr. Gregor Gysi Dr. André Hahn Heike Hänsel Matthias Höhn Andrej Hunko Ulla Jelpke Kerstin Kassner Dr. Achim Kessler Katja Kipping Jutta Krellmann Caren Lay Sabine Leidig Ralph Lenkert Stefan Liebich Dr. Gesine Lötzsch Thomas Lutze Amira Mohamed Ali Cornelia Möhring Niema Movassat Norbert Müller (Potsdam) Zaklin Nastic Dr. Alexander S. Neu Thomas Nord Petra Pau Sören Pellmann Victor Perli Tobias Pflüger Martina Renner Bernd Riexinger Eva-Maria Schreiber Dr. Petra Sitte Helin Evrim Sommer Kersten Steinke Friedrich Straetmanns Dr. Kirsten Tackmann Jessica Tatti Alexander Ulrich Kathrin Vogler Dr. Sahra Wagenknecht Andreas Wagner BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Luise Amtsberg Lisa Badum Annalena Baerbock Margarete Bause Dr. Danyal Bayaz Canan Bayram Dr. Franziska Brantner Agnieszka Brugger Dr. Anna Christmann Katharina Dröge Harald Ebner Matthias Gastel Kai Gehring Stefan Gelbhaar Katrin Göring-Eckardt Erhard Grundl Anja Hajduk Britta Haßelmann Dr. Bettina Hoffmann Dr. Anton Hofreiter Ottmar von Holtz Dieter Janecek Uwe Kekeritz Katja Keul Sven-Christian Kindler Sylvia Kotting-Uhl Oliver Krischer Stephan Kühn (Dresden) Christian Kühn (Tübingen) Renate Künast Markus Kurth Monika Lazar Sven Lehmann Steffi Lemke Dr. Tobias Lindner Dr. Irene Mihalic Claudia Müller Beate Müller-Gemmeke Dr. Ingrid Nestle Dr. Konstantin von Notz Omid Nouripour Friedrich Ostendorff Cem Özdemir Lisa Paus Filiz Polat Tabea Rößner Claudia Roth (Augsburg) Dr. Manuela Rottmann Corinna Rüffer Manuel Sarrazin Ulle Schauws Dr. Frithjof Schmidt Stefan Schmidt Charlotte Schneidewind-Hartnagel Kordula Schulz-Asche Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn Margit Stumpp Markus Tressel Jürgen Trittin Dr. Julia Verlinden Daniela Wagner Beate Walter-Rosenheimer Gerhard Zickenheiner Fraktionslos Marco Bülow Enthalten Fraktionslos Verena Hartmann Lars Herrmann Dr. Frauke Petry Abgeordnete, die sich wegen gesetzlichen Mutterschutzes für ihre Abwesenheit entschuldigt haben, sind in der Liste der entschuldigten Abgeordneten (Anlage 1) aufgeführt. Wir fahren in der Debatte fort. Das Wort hat die Kollegin Kerstin Tack für die SPD-Fraktion. ({0})

Kerstin Tack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004173, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Um bei BAP zu bleiben: „Verdammp lang her“. Verdammt lang her ist es, dass sich dieses Parlament entschieden hat, etwas für die Rente einer Zielgruppe zu tun, die lange gearbeitet und wenig verdient hat. Verdammt lang her – zehn Jahre lang hatten Leute Erwartungen auf eine solche Rente und sind enttäuscht worden. Heute ist Geburtstag der Grundrente in Deutschland; ein guter Tag! ({0}) Die Grundrente ist ein gutes Instrument. Sie ist sogar so gut, dass sich weder die Linken noch die Grünen trauen, sie abzulehnen. Dann kann sie so schlimm nicht sein. ({1}) Um es einmal sehr deutlich zu sagen: Viele, insbesondere Frauen, haben in der Zeit, in der sie gearbeitet haben, häufig wenig Lohn erhalten und nur in Teilzeit gearbeitet, weil sie keine Betreuungsinfrastruktur vorgefunden haben, wie wir sie heute mit Ganztagskitas, Ganztagsschulen und anderen Möglichkeiten haben. Sie haben sich selber zurückgenommen für eine gute Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Genau diesen Frauen, die diese Vereinbarkeit in ihrem Berufsleben trotzdem organisiert haben, das aber nur in Teilzeit konnten, sagen wir heute: Danke, dass ihr das gemacht habt. Für euch und viele andere haben wir heute die Grundrente auf den Weg gebracht. Ein richtig guter Tag! ({2}) Deswegen freuen wir uns nicht nur, dass wir sie heute einbringen, sondern wir freuen uns auch, dass sie ein Meilenstein ist. Den hätte es ohne uns nicht gegeben. Wir freuen uns, dass es nicht die gemacht haben, die es nicht können und die es noch beweisen müssen. Ein guter Tag für diese Regierung, ein guter Tag für Deutschland. Auf in eine gute Grundrente! ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Peter Weiß für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger! Es trennt uns jetzt nur noch meine Rede von der Abstimmung. Deshalb noch einmal eine kurze Zusammenfassung, worauf es wirklich ankommt: Die gesetzliche Rente ist bekanntlich lohn- und beitragsbezogen. Mit der Einzahlung in die Rentenversicherung erwerben wir uns den Anspruch, später eine Rente zu bekommen. Aber, meine sehr geehrten Damen und Herren, die Rente ist auch Wertschätzung, Wertschätzung für fleißiges, lebenslanges Arbeiten. Und diese Wertschätzung wird jetzt durch das Grundrentengesetz noch einmal richtig betont und unterstrichen; ({0}) denn wenn jemand, der in seinem Leben vielleicht nur wenig verdient hat und folglich auch wenig auf seinem Rentenkonto stehen hat, ({1}) Kinder erzogen hat, Angehörige gepflegt hat, erleben muss, dass er im Alter eventuell nur das bekommt, was man in der Grundsicherung auch ausgezahlt bekommt, also demjenigen finanziell gleichgestellt wird, der nie in das System eingezahlt hat, dann ist von Wertschätzung wenig übrig geblieben. Deswegen ist es richtig, dass wir diesen Zustand beenden. ({2}) Wer in die Rente eingezahlt hat, der muss auch besser dastehen als jemand, der nie in die Rente eingezahlt hat. ({3}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, dafür haben wir zwei wichtige Elemente in diesem Gesetz. Element eins. Niedrige Rentenanwartschaften werden aufgewertet. Aber diese Aufwertung erfolgt natürlich nur dann, wenn nicht noch über weiteres ansehnliches Einkommen verfügt wird. Deswegen ist es richtig, eine solche sozialpolitische Leistung der Rentenversicherung auch mit einer Einkommensanrechnung zu versehen. Jetzt muss ich einmal sagen: Ich verstehe die Kritik, die hier vorgetragen worden ist, überhaupt nicht. Entweder will man das Gießkannenprinzip einführen, oder man will Einkommen berücksichtigen. Dann muss man es auch prüfen, das ist auch Bürokratie. Es geht nicht, Gerechtigkeit ohne Einkommensprüfungen herzustellen. Und ich wette, dass diejenigen, die jetzt die Bürokratie beklagen, das Gießkannenprinzip beklagen würden, wenn wir es andersherum gemacht hätten. Deswegen ist die Kritik an diesem Gesetzentwurf unehrlich. ({4}) Element zwei. Wenn jemand doch auf Grundsicherung im Alter angewiesen ist, räumen wir einen Freibetrag ein. Wer gesetzliche Rente hat – das Gleiche gilt, wenn man private Rente oder Betriebsrente angespart hat –, dem verrechnen wir nicht alles zu 100 Prozent mit der Grundsicherung, sondern dem lassen wir etwas, und zwar mindestens 100 Euro, maximal 216 Euro im Monat. Auch das ist Anerkennung und Wertschätzung für fleißiges Arbeiten und Ansparen für das Alter. Das wird mit diesem Gesetzentwurf endlich auch für die gesetzliche Rente Realität. ({5}) Dann war auch die Finanzierung zu regeln. Der wichtigste Punkt für uns ist, weil es bei der Grundrente um eine sozialpolitische Leistung geht: Wir finanzieren das aus Steuermitteln und nicht aus Beitragsmitteln. Das ist eine wichtige Nachricht für alle Beitragszahlerinnen und Beitragszahler. Ja, wir als Parlament, als Staat bekennen uns dazu. Dafür gibt es zusätzliche Steuermittel. Und meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, im Herbst dieses Jahres beraten wir den Bundeshaushalt für 2021. Da erwarten wir von Hubertus Heil und von Olaf Scholz, dass das im Haushaltsentwurf klipp und klar drinsteht, jeder es nachlesen kann und jeder durch Handaufheben mitbestimmen kann. ({6}) Und dann machen wir mit diesem Gesetz, verehrte Kolleginnen und Kollegen, für die Zukunft eine klare Ansage. Wir schauen uns noch einmal die betriebliche Altersvorsorge an. Wir verdoppeln die Förderung der Geringverdiener für eine rein arbeitgeberfinanzierte betriebliche Altersvorsorge. Und wir erweitern den Kreis der Berechtigten. Bislang galt das nur für Bezieher von Einkommen bis zu 2 200 Euro. Künftig sind alle mit dabei, die ein Einkommen bis zu 2 575 Euro haben. Das sind noch einmal 2 Millionen Berechtigte mehr. Und wir haben zusätzlich miteinander verabredet, dass wir bis Oktober einen Vorschlag des Bundesfinanzministers erhalten, wie wir die sogenannte Riester-Rente, also die private kapitalgedeckte Altersvorsorge, vereinfachen, verschlanken, gängiger machen. Mit diesen beiden Ansagen machen wir Folgendes: Wir wollen, dass gerade auch die Geringverdiener in unserem Land künftig über eine zusätzliche Altersvorsorge verfügen, dass sie sich diese mit entsprechender Förderung und Unterstützung durch den Arbeitgeber wie durch den Staat aufbauen können. Denn unser Zukunftsmodell ist nicht, dass die Deutschen ein Volk von Grundrentenbezieher werden, sondern unsere Zukunftsvision ist, dass sich auch die Geringverdiener in unserem Land eine Altersversorgung aufbauen können, bei der sie weder auf Grundrente noch auf Grundsicherung angewiesen sind. ({7}) Wir wollen ein Alterseinkommen, von dem man leben kann, und zwar anständig leben kann.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Weiß, die Erläuterungen zu diesem Vorhaben müssen Sie jetzt tatsächlich auf den Herbst verschieben. Sie müssen zum Schluss kommen.

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich wollte doch gar nicht erläutern. Ich wollte meinen Schlusssatz sagen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Gut.

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen, deshalb ist das ein Gesetzentwurf, der die Rente stärkt, der aber auch für die Zukunft eine klare Ansage macht: Jawohl, wir wollen ein auskömmliches Alterseinkommen für alle Menschen, die in Deutschland arbeiten. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache.

Jutta Krellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004080, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Gewerkschafterin bin ich absolut verärgert und empört über das, was in Gütersloh passiert ist. Die katastrophalen Bedingungen in der Fleischindustrie waren lange vor Corona bekannt. Arbeiten unter unmenschlichen Bedingungen, zusammengepfercht in beengten Räumen wohnen und überlange Arbeitszeiten sind dabei die Regel. Zu Beginn der Pandemie hätte die Bundesregierung sofort eine klare verpflichtende Verordnung erlassen müssen. ({0}) Aber es kam dabei nichts anderes als Empfehlungen aus dem Arbeitsministerium heraus. Ende April hatten wir bereits die ersten großen Ausbrüche in der Fleischindustrie. Das Kabinett hat dann zehn Eckpunkte beschlossen. Aber bislang stehen sie nur auf dem Papier. Die Arbeitgeber dürfen weitermachen wie bisher. Und nun haben wir die Katastrophe: Tönnies, Westfleisch, Wiesenhof und wie sie alle heißen. Meine Damen und Herren, ich behaupte: Durch konsequentes Handeln wäre diese Katastrophe vermeidbar gewesen. ({1}) Was wir jetzt haben, ist das Ergebnis einer ausbeuterischen Unternehmenspraxis und einer verfehlten Politik. Gewinne über alles, Löhne drücken und Leute bescheißen! Oder wie kann man es nennen, wenn von den Arbeitern auch noch eine Messerabgabe verlangt wird? Im Klartext: Die Arbeiter müssen ihre Messer auch noch selbst bezahlen. ({2}) Erzählen Sie das mal einem meiner Kollegen im Maschinenbau. Die fragen Sie, ob Sie noch ganz sauber in der Birne sind. ({3}) Wann merken Sie, meine Damen und Herren der Bundesregierung, endlich, dass man Arbeits- und Gesundheitsschutz nicht alleine den Arbeitgebern überlassen darf? Missbrauch und Ausbeutung sind da eher die Regel, und das ist eine riesige Schweinerei. ({4}) Wir brauchen flächendeckende Kontrollen, scharfe Sanktionen, und ja, wir brauchen ein Verbot von Werkverträgen und Leiharbeit. ({5}) Allen Lobbyisten, die sagen, dass sie das Abschaffen des Geschäftsmodells „Werkverträge“ verfassungsrechtlich bedenklich finden, sage ich: Nein, verfassungsrechtlich bedenklich ist, wenn dieses ausbeuterische System ungeregelt weiterläuft. ({6}) Selbstverständlich müssen Aufsichtsbehörden endlich mit den nötigen Ressourcen ausgestattet werden, um Betriebsstätten und Unterkünfte, Schlachthofbetriebe und Subunternehmen flächendeckend zu kontrollieren. ({7}) Wenn es jetzt noch gelingt, Wahlen von Betriebsräten in diesem Bereich zu unterstützen und Bedingungen für gute Tarifverträge zu schaffen, dann gibt es endlich auch wieder gute Arbeit in der Fleischindustrie. Vielen Dank. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen, Karl-Josef Laumann. ({0})

Karl Josef Laumann (Minister:in)

Politiker ID: 11001294

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Verehrte Abgeordnete! Erst einmal ist es natürlich schön, wenn man nach vielen Jahren hier wieder einmal steht. Aber der Anlass, warum ich hier stehe, ist mir wichtig und zugleich sehr ernst. 8 752 Verstöße musste der nordrhein-westfälische Arbeitsschutz feststellen, als ich im Herbst vergangenen Jahres dem Arbeitsschutz von Nordrhein-Westfalen gesagt habe, dass er die 30 größten Betriebe der Fleischwirtschaft in Nordrhein-Westfalen an einem Tag konzentriert kontrollieren solle. In 26 der 30 Betriebe wurden gravierende Mängel beim Arbeitsschutz festgestellt. Im Zuge der Pandemiebekämpfung konnte Nordrhein-Westfalen den Arbeitsschutz erstmalig großflächig in die Wohnungen der Werkvertragsarbeitnehmer schicken. Ich habe Bilder von Wohnungen zu Gesicht bekommen, die wirklich in einem erbärmlichen Zustand gewesen sind. Bei 650 kontrollierten Unterkünften wurden 1 863 mittlere und gravierende Beanstandungen festgestellt. Wer angesichts dieser Ergebnisse von Einzelfällen oder schwarzen Schafen spricht, der verkennt die Realität in dieser Branche. Das muss man hier ganz deutlich feststellen. ({0}) Was passiert, wenn ein hochansteckendes Virus in einem solchen System auftritt, zeigen die mehr als 1 400 Fälle im Schlachtbetrieb Tönnies, aber auch viele Fälle in anderen Schlachthöfen der Bundesrepublik Deutschland, auch in weiteren Schlachthöfen in Nordrhein-Westfalen. Zu Beginn des Ausbruches in Rheda-Wiedenbrück konnte mir das Unternehmen nicht einmal sagen, wo die Werkvertragsarbeitnehmer wohnen, und behauptete, das sei aufgrund des Datenschutzes nicht möglich. Ich nenne ein solches System die organisierte Verantwortungslosigkeit. ({1}) Noch im Mai sagte der Verband der Fleischwirtschaft, dass bei einem Verbot der Werksverträge gravierende wirtschaftliche Schäden entstünden. Große Teile der Fleischproduktion würden dann ins Ausland verlagert. Auch einige Abgeordnete haben sich diese Auffassung zu eigen gemacht. Es las sich in manchen Stellungnahmen so, als würden der Vorschlag von Arbeitsminister Heil, aber auch meine inhaltsgleichen Vorschläge Unheil über unser Land bringen. Jetzt liest man, dass der Verband der Fleischwirtschaft den Beschluss der Bundesregierung unterstützt. Einige Unternehmen haben sogar schon angekündigt, zukünftig ausschließlich auf eigene Beschäftigte zu setzen. Ich frage mich schon, warum zuerst Horrorszenarien an die Wand gemalt wurden, wenn jetzt auf einmal alles geht. Warum verteidigen kluge Menschen ein solches System so vehement, wenn Missstände dort vorprogrammiert sind? Ich glaube, dass viele nicht wissen, welche Dimensionen die Fleischindustrie – ich spreche bewusst von einer Industrie – angenommen hat. Die zehn größten Konzerne schlachten 80 Prozent der Tiere. Allein Tönnies hat einen Marktanteil von rund einem Drittel. In der Regel sind in der Industrie die Löhne und die Arbeitsbedingungen gut. Dies gilt für die Fleischindustrie aber überhaupt nicht. Es ist auch völlig klar, warum die Bedingungen in der Fleischindustrie so sind, wie sie sind. Mithilfe von Werkverträgen haben es die Arbeitgeber in der industriellen Fleischwirtschaft – darauf lege ich Wert – geschafft, jegliche Form der Arbeitnehmermitbestimmung effektiv zu verhindern. Sowohl in Nordrhein-Westfalen als auch bundesweit sind Mitbestimmung und Tarifverträge im Bereich der industriellen Schlachtung und Zerlegung quasi nicht vorhanden. Dass es auch anders geht, macht Dänemark vor. Dort sind die Arbeitnehmer in der Regel direkt bei den Schlachthöfen angestellt. In der gesamten Fleischindustrie gibt es Tarifverträge. Jetzt liest man, dass Dänemarks Fleischindustrie in den letzten 15 bis 20 Jahren 4 000 bis 5 000 Arbeitsplätze an Deutschland verloren hat, weil Deutschland aufgrund der schlechten Arbeitsbedingungen günstiger produzieren könne. Ich finde das peinlich. Ich glaube, dass sich Ludwig Erhard bei dieser Form von Wettbewerb im Grab umdrehen würde. Wir müssen diesen Dumpingwettbewerb jetzt beenden, und zwar schnell. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Minister, gestatten Sie eine Frage oder eine Bemerkung aus der FDP?

Not found (Minister:in)

Nein. – Ich bin der Überzeugung, dass das Verbot der Werkverträge im Kernbereich der Schlachthöfe viele Probleme lösen wird, die wir seit Jahren nicht gelöst bekommen haben. Ich habe hier einige Diskussionen erlebt. Die Einführung des Mindestlohnes hat die Situation nicht verändert. Das GSA Fleisch, das 2017 verabschiedet wurde, hat die Situation nicht verändert. Also muss man jetzt die Systemfrage stellen. ({0}) Auch die weiteren Forderungen aus dem Kabinettsbeschluss sind gut und richtig. Digitale Zeiterfassung: Wie wollen wir denn die Einhaltung des Mindestlohns kontrollieren, wenn wir keine Zeiterfassung haben? Im GSA Fleisch steht, dass die Arbeitszeiten erfasst werden müssen. Wir haben die Dokumente gesichert. Aber es ist handschriftlich so festgehalten, dass man die Dokumente nicht entziffern kann. Dass man in einer Branche, wo man bei jeder Mettwurst sagen kann, von welchem Schwein sie stammt, die Zeit nicht digital erfassen kann, ist mir ein ganz großes Rätsel. ({1}) Natürlich brauchen wir auch höhere Geldbußen. Was jedoch weiterhin fehlt, ist eine verbesserte Möglichkeit zur Kontrolle der Unterkünfte. Ich möchte noch einmal wiederholen, dass der nordrhein-westfälische Arbeitsschutz bei der Kontrolle von 650 Unterkünften über 1 800 Verstöße festgestellt hat. Ohne die Pandemie hätte ich den Arbeitsschutz überhaupt nicht in die Unterkünfte schicken dürfen. Daher sind die Zustände dort so, wie sie sind. Das, was für Betriebsunterkünfte gilt, muss auch für von Arbeitgebern vermittelte und bereitgestellte Unterkünfte gelten, sodass der Arbeitsschutz auch jenseits einer Pandemie solche Wohnungen kontrollieren kann. ({2}) Dann gibt es noch ein anderes Problem: Bis die Arbeitsschützer in einem Schlachthof wirklich da ankommen, wo es rundgeht, durch alle Sicherheitsschleusen, alle Hygieneschleusen, vergeht sehr viel Zeit. Bis dahin kann man natürlich schon viel verändern. Also müssen wir zu einer anderen Kontrolldichte kommen. Ich habe entschieden, dass in Nordrhein-Westfalen in Zukunft auf den großen Schlachthöfen der Arbeitsschutz ständig präsent ist. Bei Veterinären, die auch ständig in den Schlachthöfen präsent sind, ist es so, dass diese bei den Kreisen angestellt sind und die Schlachthöfe die Dienstleistung, die die Veterinäre beim Tierschutz und Gesundheitsschutz erbringen, selbstverständlich über Gebühren bezahlen müssen. Ich sehe nicht ein, dass hier alleine der Steuerzahler verantwortlich ist. Ich möchte die Regelung, die seit Jahr und Tag für Veterinäre gilt, auch für den Arbeitsschutz haben, nämlich dass wir das über eine Gebührenordnung bezahlen lassen können. ({3}) Um das einmal deutlich zu sagen: Wenn die Menschen in den Schlachtbetrieben fest angestellt sind, dann wird sich was ändern. Dann werden sie natürlich auch mutiger. Dann werden sie sich mal einer Gewerkschaft anschließen. ({4}) Dann werden sie einen Betriebsrat wählen. Dann werden Tarifverhandlungen geführt. Und dann sind wir da, wo wir in der sozialen Marktwirtschaft hinwollen. Zum Schluss möchte ich zitieren aus den Kölner Leitsätzen meiner Partei, die jetzt 75 Jahre alt sind: Die menschliche Arbeit wird gewertet als sittliche Leistung, nicht als bloße Ware. … Die Lohn- und Arbeitsbedingungen werden tariflich geregelt. … Der Aufbau der Gewerkschaften und der sonstigen Berufsvertretungen ist zu sichern. Genau das möchte ich für die Fleischwirtschaft in den nächsten Jahren erreichen. Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich erteile der Kollegin Konrad das Wort zu einer Kurzintervention.

Carina Konrad (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004789, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Minister Laumann, Sie sprachen gerade von der organisierten Verantwortungslosigkeit, für die die Zeche im Moment gezahlt wird auf der einen Seite von den Arbeitnehmern, deren Arbeitsverhältnisse Sie hier zu Recht angesprochen haben, und auf der anderen Seite von den Landwirtinnen und Landwirten, die alles tun in ihren Ställen, um mehr Tierwohl in der jetzigen Zeit zu generieren, die aber im Moment einfach nicht wissen, wie es für sie auch angesichts der jetzigen Situation weitergehen soll. Ihr Ministerpräsident Laschet hat am 30. Juni gesagt – und damit bezog er sich wohl auf die Landesregierung und das Land Nordrhein-Westfalen –: „Hier wird jetzt streng nach Recht und Gesetz verfahren.“ Da hätte mich an dieser Stelle interessiert, auch nach dem, was Sie alles an Verantwortung, die jetzt zu übernehmen ist, an den Bund delegiert haben: Wie wurde denn vor dem 30. Juni in NRW verfahren? ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Wenn Sie mögen, können Sie erwidern.

Karl Josef Laumann (Minister:in)

Politiker ID: 11001294

Sehr geehrte Frau Abgeordnete, erstens wird in Nordrhein-Westfalen immer nach Recht und Gesetz verfahren. Zweitens werden Sie in ganz Deutschland kein Bundesland finden, in dem in den letzten Monaten – nicht nur während der Pandemie, auch vor der Pandemie – ein so starker Schwerpunkt im Arbeitsschutz gesetzt worden ist, was die Kontrollen auf Schlachthöfen angeht; sonst hätte ich die Zahlen ja nicht vorlesen können, die ich vorgelesen habe. ({0}) Ich habe den Abgeordneten aus Nordrhein-Westfalen in Bundestag und Landtag nach diesen Kontrollen eine umfangreiche Dokumentation mit den Ergebnissen dieser Kontrollen zur Verfügung gestellt. Natürlich blieb uns doch nichts anderes übrig, als nach den Vorkommnissen und der Virusverbreitung auf dem Schlachthof die 7 000 Leute erst einmal unter Quarantäne zu stellen. Wir mussten mit allen Mitteln versuchen, das Überspringen des Virus auf die Gesamtbevölkerung zu verhindern, und ich bin froh, dass es uns wahrscheinlich gelungen ist. ({1}) Der Gesundheitsschutz geht absolut vor. Jetzt haben wir durch eine große Reihentestung, denke ich, ziemlich gute Anhaltspunkte, dass das Virus nicht übergesprungen ist. Es sind ja auch schon in zwei Tagen diese 14 Tage um. Dann stellt sich die Frage: Wie können wir den Schlachthof langsam wieder anlaufen lassen oder überhaupt anlaufen lassen? Dazu muss es Hygienekonzepte geben. Dazu muss es Konzepte geben aus der Firma, wie man den Arbeitsschutz sicherstellen will, wie man die Einhaltung von Abständen in einer Pandemiesituation in der Firma sicherstellen will. Diese werden dann natürlich von den zuständigen Behörden bewertet, und dann kann auch ein gewisses Anlaufen dieses Schlachtbetriebes wieder möglich sein. Ich weiß sehr wohl, dass der Schlachtbetrieb wieder in Gang gesetzt werden muss, weil das für die Landwirtschaft absolut notwendig ist; da laufen Sie bei mir offene Türen ein. Aber der Gesundheitsschutz hat auch vor dieser Frage absoluten Vorrang, und danach werden sowohl die kommunalen als auch die Landesbehörden entscheiden. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordneten Jürgen Pohl für die AfD-Fraktion. ({0})

Jürgen Pohl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004856, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Verehrte Kollegen! Geschätzte Zuhörer an den TV-Geräten! Ganz ehrlich, ich hätte nie gedacht, dass ich als Abgeordneter des Deutschen Bundestages mal so etwas sagen würde, aber es muss tatsächlich gesagt werden: Als deutscher Staatsbürger schäme ich mich für die Zustände in der deutschen Fleischindustrie. ({0}) Was wir dort erleben, ist ein Rückschritt in die Zeit des Frühkapitalismus; es ist eine Form des modernen Sklavenhandels. Menschen werden als billige Arbeitskräfte bei Subunternehmen angemietet. An der Schlachtbank schuften sie bis zum Umfallen. Dann pfercht man sie in Billigunterkünften zusammen, und dafür wird noch teuer bezahlt. Meine Damen und Herren, diese einer sozialen Marktwirtschaft hohnsprechenden Zustände sind nicht neu. Wir von der AfD haben bereits 2017 nach unserem Einzug in den Bundestag diese Zustände angeprangert. Aber Union und Sozialdemokraten haben es bis zu diesem Zeitpunkt nicht für nötig befunden, diese Zustände zu beseitigen; das muss gesagt werden. ({1}) Werte Genossen von der SPD, sozial ist meistens nur noch Ihr Parteiname. Hand in Hand mit der Union hätten Sie Abänderung schaffen können. Ihr Genosse Sigmar Gabriel, der ja dort beschäftigt ist, lässt sich aber augenscheinlich von der Firma für anderes fürstlich bezahlen. Meine Damen und Herren, 55 Millionen Schweine haben die deutschen Fleischproduzenten 2019 geschlachtet. In deutschen Ställen stand davon nur ungefähr die Hälfte; der Rest kam aus dem Ausland. Es ist für Danish Crown billiger, die Schweinehälften nach Deutschland hin und wieder zurück zu transportieren, als sie selbst zu zerlegen. Da frage ich Sie: Wie ist das möglich in einem Hochsteuerland wie Deutschland, wo die Lohnnebenkosten über 20 Prozent betragen? Ich will es Ihnen sagen: Möglich ist das, weil über ein missbrauchtes Werkvertragssystem ein Heer an rumänischen und polnischen Arbeitnehmern über Sub-sub- und Subunternehmen wie Maschinen angemietet werden kann. Die Männer und Frauen rackern dann für 1 000 Euro brutto im Monat, und wenn ein Arbeitnehmer krank ist, zieht man ihm pro Tag 10 Euro vom Netto ab. Dazu kommt das Messergeld; wir hatten schon kurz darüber gesprochen. Die Industrie ist kreativ in diesen Fragen. Der Subunternehmer will auch was verdienen. Meine Damen und Herren, vor fünf Jahren haben die deutschen Fleischbetriebe eine Selbstverpflichtung abgegeben. Sie sagten, sämtliche in ihren Betrieben eingesetzten Beschäftigten sollten in einem in Deutschland gemeldeten, sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis stehen. Was ist daraus geworden? Nichts. Null. Bis heute ist die Fleischindustrie ausschließlich an größeren Gewinnmargen orientiert. Wenn einige Fleischbarone in ihrem Unternehmen knapp 7 Milliarden Euro Umsatz machen, aber keine Gewinne veröffentlichen, dann spricht das Bände. Da sollte man überlegen, wie diese Marge verringert wird, damit der Fleischpreis für die Verbraucher nicht steigt. Ich bin mir sicher: Es ist auch genügend Spielraum da, um einheimischen Arbeitnehmern vernünftige Löhne zu zahlen. Dann bräuchten wir keine Armada an osteuropäischen Dumping-Tagelöhnern. Dann müssten wir diese Debatte nämlich gar nicht erst führen. Also noch mal: Wer satte Gewinne macht, kann auch gute Löhne zahlen. Das ist die soziale Marktwirtschaft, für die wir kämpfen und für die wir stehen. Danke schön. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Bundesminister für Arbeit und Soziales, Hubertus Heil. ({0})

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist in verschiedenen Debatten gesagt worden, aber in dieser muss es auch noch mal gesagt werden: Diese Coronakrise ist wirklich wie ein Brennglas für den Blick auf unsere Gesellschaft: Wir sehen im Guten, was los ist; wir sehen im Schlechten, was los ist. Und ich muss schon sagen: Es ist, wie ich finde, bitter für unsere Gesellschaft, dass einige erst in dieser Coronakrise gelernt haben, was in der Fleischindustrie los ist. Es ist ja nicht so, dass es in der Politik nicht schon Anlässe und auch Vorstöße gegeben hätte, mit den Verhältnissen in diesem Bereich aufzuräumen, so von Andrea Nahles 2017 zusammen mit Karl Schiewerling an der Stelle hier im Parlament. Es gab immer wieder Aktionen. Aber wir haben dann immer zwei Dinge erlebt: Im parlamentarischen Verfahren haben Lobbyisten versucht, Gesetze abzuschleifen. Wenn sie es mal nicht geschafft haben, haben sie mit neuen Sub-Sub-Subunternehmerkonstruktionen bestehendes Recht umgangen. Und deshalb sage ich: Spätestens jetzt muss Schluss sein. Die Bundesregierung ist entschlossen, in diesem Bereich gründlich aufzuräumen, meine Damen und Herren, und das werden wir auch tun. ({0}) Und das heißt im Einzelnen, dass es um Verantwortung geht. Es geht um die Verantwortung von Unternehmern in allererster Linie für ihre Beschäftigten.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Minister Heil, entschuldigen Sie.

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Ja.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung aus der AfD-Fraktion?

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Ich würde gerne den Gedanken zu Ende führen und dann gerne eine Frage gestatten. Ich sage noch mal: Es geht hier um Verantwortung der Unternehmer für ihre Beschäftigten. – Hören Sie erst mal zu. Vielleicht kommt ja meine Antwort auch noch. Aber vielleicht haben Sie eine vorbereitete Frage. ({0}) Es geht mir um die Verantwortung der Unternehmen für ihre Beschäftigten. Es geht – Kollege Laumann, da sind wir uns einig – auch um die Verantwortung der Länder für Kontrollen. Und wenn wir ganz ehrlich sind, bei allem Engagement, das Sie in diesem Bereich gezeigt haben und das ich schätze: In vielen Bundesländern, auch in NRW – muss man ganz offen sagen –, sind Arbeitsschutzbehörden nicht so stark ausgestattet, wie sie es sein müssten. Deshalb haben wir uns miteinander verständigt, dass es verpflichtende Prüfquoten für die gesamte Wirtschaft geben muss, ({1}) weil Arbeitsschutz wichtig ist. Auch das haben wir alle gelernt: Vor Corona haben einige noch über Arbeitsschutz gesprochen, als sei es Bürokratie; da hat man sich über Paternoster und Teeküchen lustig gemacht. Heute sehen wir: Arbeitsschutz ist verdammt wichtig für unsere Gesellschaft und für die Beschäftigten. ({2}) Zweitens. Wir werden die digitale Arbeitszeiterfassung – –

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Heil, ich frage jetzt ein letztes Mal, weil es inzwischen schon zweimal das Begehren gibt, Ihnen eine Frage zu stellen oder eine Bemerkung zu machen, einmal aus der AfD-Fraktion –

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Ja.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

– und einmal von Kollegen Ernst aus der Linken.

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Wen nehmen wir denn zuerst, Frau Präsidentin?

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Natürlich denjenigen, der sich zuerst gemeldet hat.

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Das habe ich nicht gesehen. Wer war denn das?

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Bitte.

René Springer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004900, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Sehr geehrter Minister, am 3. Februar im Jahr 2015 besuchte der damalige Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel einen Tönnies-Fleischbetrieb in Rheda-Wiedenbrück in Nordrhein-Westfalen. Das Thema dort waren unter anderem die Werkverträge. Ich möchte kurz aus einer Regionalzeitung zitieren: Das System an sich nannte Gabriel ein „sinnvolles Instrument“. Dessen Missbrauch allerdings müsse bekämpft werden – wenn etwa mit Werkverträgen eine Scheinselbstständigkeit vorgegaukelt werde, Arbeitszeiten nicht korrekt erfasst oder Löhne nicht wie vereinbart gezahlt werden. Hier, kündigte Gabriel an, sollen die Kontrollen verschärft werden. In der Aussage der Bundesregierung in einer Drucksache wird nachgewiesen, dass die Zahl der Kontrollen der Finanzkontrolle Schwarzarbeit in NRW in dem Jahr, wo Sigmar Gabriel dort in der Fleischfabrik war, bei 98 lag. Im Jahr danach ist sie gesunken auf 38 Kontrollen, im Jahr danach auf 32 Kontrollen. In der Drucksache steht, im Jahr 2019 waren es 30 Kontrollen. Die Frage, die ich an Sie stellen möchte, ist: Warum kündigt ein SPD-Minister hier eine Verschärfung der Kontrollen an, und dann passiert genau das Gegenteil? Und wenn wir die Auswirkungen sehen, die sich über lange Zeit daraus ergeben haben, stellt sich mir auch die Frage: Warum werden die Probleme in der Verantwortung von SPD-Ministern nicht kleiner, sondern größer? Vielen Dank.

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Sehr geehrter Kollege, wenn Sie erlauben – da waren ja ein paar Unterstellungen drin –, würde ich Ihnen gerne antworten. Das Erste ist die Frage: Wie hält man es mit Werkverträgen? Werkverträge sind tatsächlich im Wirtschaftsleben etwas total Normales; sie wird es auch in vielen Bereichen weiter geben. Ich mache Ihnen mal ein Beispiel: Wenn Sie eine Firma hätten und sich einen Handwerker bestellen, der eine Sicherheitsanlage einbaut – das ist ein ganz normaler Werkvertrag. Das wird es immer geben. Im Rahmen der Vertragsfreiheit ist das vollkommen in Ordnung. Hier haben wir es mit dem Missbrauch von Werkverträgen in hohem Maße zu tun, mit Sub-Sub-Subunternehmern. Deshalb sage ich Ihnen – danke, dass ich die Gelegenheit habe, Ihnen das zu sagen –: Ich werde mit Werkverträgen und mit Leiharbeit in der Schlachtbranche Schluss machen. Wir werden das verbieten in diesem Bereich, weil wir das erlebt haben. ({0}) Zu Ihrer zweiten Frage zu den Kontrollen. Wir haben in den letzten Wochen und Monaten unter Führung des Bundesfinanzministers Olaf Scholz, der für den Zoll zuständig ist, die Fleischbetriebe in Deutschland kontrolliert. Über 130 Razzien hat es gegeben. Ich habe vorhin gesagt: Es sind verschiedene Behörden zuständig: für den Arbeitsschutz die Länder, der Zoll für die Schwarzarbeitskontrolle. Es sind erhebliche Verstöße ans Licht gekommen. Wir haben den Zoll personell aufgestockt. Und deshalb ist die Erfahrung, die wir in dieser Branche haben: Es nützen die schärfsten Regeln nichts, wenn man nicht auch kontrolliert. Das werden wir tun. Darauf können Sie sich verlassen. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Ernst bekommt das Wort zu einer Frage oder Bemerkung. Allerdings werde ich weitere Fragen und Bemerkungen im Rahmen der Rede des Ministers nicht zulassen.

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Schade eigentlich, Frau Präsidentin.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich ahnte das schon. ({0})

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Minister, Sie haben gerade angesprochen, dass eigentlich das Problem schon länger bekannt war. Ich zitiere aus der Zeitung: Schlechte Bezahlung, unwürdige Unterkünfte, Erniedrigung und Erpressung: Was sich in Schlachthöfen abspielt, ist für viele Kritiker mehr als Ausbeutung. Die Rede ist von Menschenhandel und organisierter Kriminalität. Man meint, das wäre gestern oder vorgestern in der Zeitung gestanden. Das ist vom 23. Juni 2013. Damals habe ich dazu eine Rede gehalten. Deswegen habe ich mich auch jetzt zu einer Bemerkung und zu einer Frage gemeldet. Ich habe damals eine Anfrage an die Bundesregierung gestellt; darauf habe ich eine Antwort bekommen. Aber Sie haben damals nicht regiert, sondern das waren die FDP und der Koalitionspartner, den Sie jetzt haben. Und dieser Koalitionspartner hat mir in Gestalt des Arbeitsministeriums geantwortet, nachdem ich das angesprochen habe, nachdem das alles bekannt war, vor sieben Jahren: Die Bundesregierung sieht zum jetzigen Zeitpunkt keinen Bedarf, den Abschluss von Werkverträgen stärker zu regulieren. Unternehmen steht es im Rahmen der geltenden Gesetze grundsätzlich frei, zu entscheiden, ob sie Tätigkeiten durch eigene Arbeitnehmer ausführen lassen oder Dritte im Rahmen von Werkverträgen beauftragen. – Das war die Antwort Ihres jetzigen Koalitionspartners. Sind Sie mit mir der Auffassung, Kollege Heil, dass, wenn Ihr jetziger Koalitionspartner und die FDP, die damals mitregiert hat und jetzt teilweise eine große Lippe riskiert, damals schon gehandelt hätten, wenn die damals schon so weit gewesen wären wie Sie heute und wie Herr Laumann heute – Gott sei Dank, dass Sie das Werkvertragsunwesen einschränken wollen –, dann das, was jetzt in der Fleischindustrie passiert, nicht mehr hätte passieren können, wenn man das früher geregelt hätte? ({0}) Und sind Sie – ich bin noch nicht ganz fertig – mit mir der Auffassung, dass wir jetzt wirklich alles tun müssen – denn die Verschlechterer von Gesetzentwürfen sind ja alle noch am Werke –, dass wir all denjenigen, die die alten Verhältnisse festschreiben wollen, übrigens nicht nur in der Fleischindustrie, sondern auch bei den Werften, zum Beispiel bei der Meyer Werft in Leer-Papenburg, jetzt wirklich die Fesseln anlegen müssen, sodass sie nicht wieder ein Gesetz verhindern, das sinnvoll und notwendig ist? ({1})

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Lieber Kollege Ernst, angesichts der Katastrophe – und ich sage „Katastrophe“ –, die wir gerade erleben, die der Kollege Laumann beschrieben hat, dass aus einem System der organisierten Verantwortungslosigkeit zur Ausbeutung von Menschen inzwischen sogar ein allgemeines Gesundheitsrisiko für die Bevölkerung geworden ist, und der Tatsache, dass ganze Landkreise wieder in den Lockdown mussten, weil sich welche nicht an die Regeln halten, widerstehe ich in diesem Zusammenhang mal der kleinkarierten Betrachtung, wer mal wo was gesehen hat. Ich kann nur allgemein feststellen, dass es leider Gottes manchmal Katastrophen bedarf, damit Menschen dazulernen. Das war zum Beispiel beim Atomausstieg bei einigen so, die das früher anders gesehen haben. Wichtig ist, dass dieses Parlament jetzt gemeinschaftlich handelt. Und dafür stehe ich in der Verantwortung – heute, nicht 2013. ({0}) Es muss jetzt gehandelt werden. Das müssen wir gemeinsam machen. Lieber Klaus Ernst, parteipolitische Auseinandersetzungen sind wichtig in diesem Parlament. Aber Verantwortung ist jetzt zu übernehmen. Ich habe vorhin von der Verantwortung der Unternehmer gesprochen. Die sind in allererster Linie in Verantwortung. Erstens geht es um die Verantwortung der Länder, und zwar egal wie sie regiert sind: schwarz, rot, grün. Ich gucke mal nach Baden-Württemberg; da wünsche ich mir auch schärfere Arbeitsschutzkontrollen. Das, was die Kollegin Mast in Pforzheim erlebt hat, ist nicht in Ordnung. ({1}) Das war weit vor Tönnies übrigens. Alle müssen sich ans Portepee fassen, und wir müssen dafür sorgen, dass die Einhaltung des Arbeitsschutzes in jedem Bundesland scharf kontrolliert wird – ob rot-rot-grün, ob rot-schwarz, was auch immer. ({2}) Da muss jede Landesregierung ran, und das werden wir per Bundesgesetz festlegen. Zweitens. Ich werde mich nicht davon abbringen lassen, im Kernbereich des Schlachtens und Zerlegens in der Fleischindustrie die Werkverträge und die Zeitarbeit, die Leiharbeit zu verbieten – ohne Wenn und Aber. ({3}) Meine Bitte an dieses Parlament ist: Ich werde im Juli den Gesetzentwurf dafür vorlegen. Wir werden das auf Basis der Eckpunkte im Kabinett beschließen. Die Frage, wann das in Kraft tritt, liegt dann auch in der Verantwortung dieses Parlaments – je schneller, desto besser. Aber meine Bitte ist, sich dann auf der Strecke des parlamentarischen Verfahrens tatsächlich nicht von irgendwelchen Lobbyisten, die viel Geld für Rechtsgutachten aufwenden werden, die viel Geld für Kampagnen aufwenden werden – – ({4}) – Ich sage Ihnen mal was an dieser Stelle: Sie sind doch ein Lobbyist dieser Branche; das haben wir doch hier im Parlament gelernt. Da sollten Sie sich mal ganz zurückhalten. ({5}) Ich will das mal an dieser Stelle sagen. Jeder kehre vor seiner eigenen Haustür an dieser Stelle. Ich bin Bundesminister für Arbeit und Soziales, und ich bin entschlossen, meiner Amtsverantwortung für die arbeitenden Menschen, und zwar egal wo sie geboren sind und wo sie herkommen, gerecht zu werden. Es ist nämlich tatsächlich eine Schande, dass Menschen aus Mittel- und Osteuropa, aus Bulgarien und Rumänien, in dieser reichen Gesellschaft ausgebeutet werden! ({6}) Das werden wir beenden, sage ich an dieser Stelle. ({7}) Das Dritte ist – das will ich Ihnen auch sagen –: Dieses Verhalten hat außenpolitischen Schaden angerichtet. Ich werde im August nach Rumänien fahren, da mich die Arbeitsministerin von Rumänien darum gebeten hat. Sie ist hergekommen, sie ist mit dem Auto von Bukarest nach Berlin gefahren. Das ist dort ein großes innenpolitisches Thema. Ich sage noch einmal: Egal wo die Menschen herkommen, die bei uns arbeiten, sie haben die gleichen Rechte und übrigens auch den gleichen Lohn verdient und vor allen Dingen den gleichen Gesundheitsschutz. Das ist keine Frage der Nationalität, das ist eine Frage des Anstands. Dafür interessieren Sie sich gar nicht; das wissen wir doch. ({8}) Deshalb, Kollege Laumann: Wir wollen das gemeinsam machen. Wir stehen alle in der Verantwortung. Die Bundesregierung wird diesen Gesetzentwurf beschließen. Dazu gehört übrigens auch, dass die Menschen, die in dieser Branche arbeiten – die Menschen in anderen Branchen übrigens auch –, egal wo sie herkommen, um ihre Rechte wissen. Deshalb hat der Deutsche Bundestag mit dem Entsendegesetz die faire Mobilität, die Beratung von Menschen aus Mittel- und Osteuropa gesetzgeberisch verankert und die Mittel dafür aufgestockt und heute mit dem Nachtragshaushalt – gestern im Haushaltsausschuss – noch mal aufgestockt. Ich finde das ganz, ganz wichtig, dass Menschen wissen – im Zweifelsfall auch in ihrer Muttersprache –, welche Rechte sie haben, wenn sie hier bei uns arbeiten. Wir werden in diesem Bereich aufräumen; das habe ich vorhin gesagt. Dazu sind wir entschlossen. Ich bitte dieses Parlament um Unterstützung. Ich bitte auch den Bundesrat um Unterstützung. Wir beide, Kollege Laumann, kommen aus Bundesländern – ich aus Niedersachsen, Sie aus Nordrhein-Westfalen –, in denen es Fleischstandorte größeren Umfangs gibt. Das Land soll auch Fleischstandort bleiben, aber zukünftig mit anständigen Arbeitsbedingungen, mit anständigen Löhnen, mit Kontrollen in den Unterkünften, ({9}) mit Standards für die Unterkünfte, mit digitaler Arbeitszeiterfassung und mit anständigen Arbeitsverträgen ohne Subunternehmertum. Dafür werden wir sorgen. Herzlichen Dank. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun der Abgeordnete Carl-Julius Cronenberg das Wort. ({0})

Carl Julius Cronenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004697, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestern hat Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft übernommen. So groß wie die Herausforderungen sind, vor denen Europa steht, so hoch sind die Erwartungen, die unsere europäischen Partner an uns haben. Da passt es nicht ins Bild, wenn Europa mit Blick auf die Zustände in der Fleischbranche Zweifel hat, ob in Deutschland Arbeitsschutz und Sozialstandards für alle gelten. Beschäftigte, die aus Bulgarien und Rumänien zu uns kommen – Herr Heil, ich bin Ihnen auch sehr dankbar für Ihre Worte –, müssen sich darauf verlassen können, dass für sie dieselben Maßstäbe gelten wie für alle anderen auch. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist eine Frage des Vertrauens in unseren Sozialstaat, dass geltendes Recht durchgesetzt wird und Regelungslücken wirksam geschlossen werden. ({1}) Darauf haben betroffene Arbeitnehmer einen Anspruch, genau wie anständige Unternehmen auch. Gesetzliche Maßnahmen zur Bekämpfung der Missstände in der Fleischbranche hat es in den vergangenen Jahren zur Genüge gegeben, zuletzt das Gesetz zur Sicherung von Arbeitnehmerrechten im Jahr 2017. Aber immer wieder ist es dubiosen Subunternehmen mit teilweise mafiösen Strukturen – das ist beschrieben worden – gelungen, Regelungslücken und Kontrolldefizite schamlos auszunutzen. Und ja, es gehört auch zur Wahrheit dazu, dass die Behörden viel zu lange viel zu oft weggeschaut haben. Herr Minister, Sie sprechen oft von organisierter Verantwortungslosigkeit; Herr Laumann, Sie auch. Aber abgesehen davon, dass der Staat seiner Verantwortung eben auch nicht immer gerecht geworden ist, hätte ich mir nicht vorstellen können, dass ausgerechnet ein ehemaliger SPD-Vorsitzender im Zentrum dieser Verantwortungslosigkeit einen hochdotierten Beratervertrag annimmt, sich sozusagen das Schnitzel vergolden lässt. ({2}) Spätestens mit dem verstärkten, teils massenhaften Coronainfektionsgeschehen in Fleischfabriken war Schluss mit Weggucken. Corona zwingt zu schnellem Handeln. Herr Laumann, Sie haben darauf hingewiesen: Es geht auch um die Versorgungssicherheit bei Lebensmitteln. Aber es geht eben auch darum, endlich zielgenaue Lösungsvorschläge für die Missstände, die Jutta Krellmann aufgezählt hat, in den Blick zu nehmen. Die Forderungen der Freien Demokraten rufe ich gerne noch einmal in Erinnerung. Erstens: betrieblicher Arbeitsschutz für alle Beschäftigten im Betrieb. Zweitens: Ausweitung der Arbeitsstättenverordnung auf private Sammelunterkünfte. Drittens: verpflichtende digitale Zeiterfassung. Und schließlich: die Taskforce „Fleisch“, die die Arbeit der Ebenen koordiniert. Aber erstens helfen mehr Gesetze allein noch nicht. Schon beim zentralen Thema Unterbringung – das werden wir dann sehen – wird ein Gesetz schnell an juristische Grenzen stoßen. Wenn Sie Werkverträge verbieten, verbessert sich der Zustand in den Unterkünften zunächst mal nicht. Beschäftigte wechseln den Arbeitgeber, aber nicht die Wohnung. Zweitens. Stellen Sie nicht Werkverträge mit Arbeitnehmerüberlassung auf eine Stufe! Leiharbeiter profitieren vollumfänglich, das wissen Sie, vom betrieblichen Arbeitsschutz. Die Auftragsspitzen müssen auch irgendwie abgearbeitet werden. Drittens. Wer die Arbeitnehmerüberlassung und Werkverträge pauschal angreift, der riskiert zu Recht den Vorwurf, dass es ihm in Wahrheit nicht um die Arbeitsbedingungen von Fleischarbeitern geht, sondern um die Ausmerzung wichtiger Instrumente in der Arbeitspolitik. ({3}) Das trifft dann auch freie Journalisten. Da machen wir nicht mit. ({4}) Ein Letztes. Die Fleischbranche stimmt jetzt neuerdings dem Verbot von Werkverträgen zu. Nun, ich weiß nicht, Herr Laumann; Sie kennen die Leute ja. Ich wäre da vorsichtig, will ich mal sagen. Lassen Sie doch die Tarifpartner einen Flächentarifvertrag aushandeln, der Werkverträge im Kernbetrieb ausschließt! Den erklären Sie dann für allgemeinverbindlich. Das geht schneller, kann in Pandemiezeiten flexibler angepasst werden und bietet als tarifliche Lösung immer mehr Rechtssicherheit. Jenseits von Corona verdienen Beschäftigte und Betriebe in der Fleischwirtschaft endlich faire Arbeitsbedingungen, ganz konkret, und dauerhafte Verbesserungen. Auf eine gründliche parlamentarische Debatte freue ich mich. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Beate Müller-Gemmeke für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Minister! Kolleginnen und Kollegen! Fleisch hat wie alle wertvollen Produkte seinen Preis. Wenn wir diesen Preis an der Kasse im Supermarkt nicht bezahlen, dann bezahlen andere diesen Preis. Das sind vor allem die Migrantinnen und Migranten aus dem EU-Ausland, die im Akkord für uns Tiere schlachten und dabei in extremer Form ausgebeutet werden. Verantwortlich dafür ist nicht der Markt, sondern Menschen, Unternehmer ohne Moral, die jeglichen Anstand verloren haben. Das ist in keiner Weise akzeptabel. ({0}) Wenig Lohn, katastrophale Arbeitsbedingungen, ausbeuterische Arbeitszeiten, schlechte Unterkünfte, natürlich keine Tarifverträge, keine Betriebsräte. Wer krank ist, verliert seinen Job. Deshalb arbeiten die Menschen, auch wenn sie krank sind, auch in Zeiten von Corona. Das System Fleischbranche ist menschenunwürdig. Damit muss endlich Schluss sein. ({1}) Der Handlungsbedarf und diese Fakten sind schon lange bekannt; passiert ist wenig. Jetzt beklagen Sie sich, Herr Minister Laumann, zum Beispiel gegenüber dem RedaktionsNetzwerk Deutschland, dass bislang alle Initiativen zum Verbot von Werkverträgen am Widerstand der Fleischbranche und ihrer Lobby gescheitert sind. Wie kann es sein, dass die Union – und damit seit 15 Jahren die Bundesregierung – sich nicht gegen die Fleischlobby durchsetzen kann? Für eine Regierungspartei ist das einfach nur peinlich. Auch damit muss endlich Schluss sein. ({2}) Wenn auch noch rauskommt, dass Sigmar Gabriel für Tönnies jetzt, im Jahr 2020, während der Coronapandemie als Berater tätig war, dann ist auch das unsäglich. ({3}) Es passt, dass Herr Tönnies auf einmal ankündigt, dass er in Zukunft auf Werkverträge verzichten wird. Das ist wieder ein durchsichtiges Ablenkungsmanöver, um in letzter Minute ein Gesetz zu verhindern. Die Antwort darauf kann nur sein: Die Zeit für freiwillige Selbstverpflichtung ist schon lange vorbei. ({4}) Deshalb fordern auch wir heute mit unserem Antrag konsequente gesetzliche Regelungen. Das Wichtigste ist – es wurde schon angesprochen –, dass die Beschäftigten im Kernbereich, also beim Schlachten und beim Zerlegen, direkt beim Schlachthof angestellt sein müssen. Werkverträge und Leiharbeit darf es nicht geben. Die Arbeitsverhältnisse, die es dann gibt, müssen aber auch wirklich scharf kontrolliert werden, und dafür, Herr Minister – ich weiß nicht, ob er noch da ist –, brauchen wir unbedingt eine Arbeitsinspektion. ({5}) Diese Forderungen sind zentral; denn die Ausbeutung der Beschäftigten basiert auf dem System Werkverträge. So stehlen sich die Fleischbarone seit Jahren aus der Verantwortung. Das Profitinteresse steht über allem, über Arbeits- und Gesundheitsschutz. Eben deshalb sind heute die 1 500 Beschäftigten bei Tönnies mit dem Coronavirus infiziert. Die Bundesregierung hat endlich reagiert und die Eckpunkte für die Fleischbranche beschlossen. Das Gesetz aber ist überfällig. Handeln Sie endlich, und zwar schnell, und bei den Werkverträgen vor allem konsequent! Denn freiwillig wird sich in der Fleischbranche nichts verändern. Vielen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Uwe Schummer das Wort. ({0})

Uwe Schummer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003631, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrtes Präsidium! Meine Damen! Meine Herren! Wettbewerb ohne Regeln – ich zitiere Ludwig Erhard, den Begründer der sozialen Marktwirtschaft – hat eine sich selbst zerstörende Kraft, und deshalb braucht jeder Wettbewerb einen Schiedsrichter, der Regeln setzt und dafür sorgt, dass sie auch durchgesetzt werden können. Das ist der Staat; das ist die Politik, der Gesetzgeber. Die Pandemie zeigt derzeit: In großen Schlachtbetrieben sind diese Regeln verloren gegangen. Kontrollen, gerade auch in NRW, zeigen: Schlachtbetriebe, die mit festangestellten Arbeitnehmern tätig sind, zeigen kaum Auffälligkeiten. Auffälligkeiten treten dort auf, wo Werkverträge außer Kontrolle geraten sind. Mit der Mentalität „Geiz ist geil“ werden in der Öffentlichkeit Verbraucher getäuscht und Landwirte unter Druck gesetzt. Wir erkennen heute: Wir bezahlen einen zu hohen Preis für billiges Fleisch. ({0}) Deshalb ist auch das, was Bundesministerin Julia Klöckner fordert, wichtig: dass wir Augenhöhe und faire Preise über die ganze Lieferkette im Lebensmittelhandel erreichen. Wer wie die Firma Tönnies nach drei Monaten Pandemie immer noch einen laxen Umgang mit Hygienestandards praktiziert und drei Wochen der Aufforderung des Landrates, die Adressen der Beschäftigten zu übermitteln, nicht folgt, der verspielt Vertrauen. Wer der Selbstverpflichtung der Fleischwirtschaft von 2015, mehr Stammbeschäftigte einzustellen, nicht folgt, der verspielt Vertrauen. Stattdessen: eine Kette von Skandalen. 2015: Mit Kolibakterien verseuchtes Fleisch für Tiernahrung soll entsorgt werden – und landet wo? In Kantinen. 2016 sterben acht Verbraucher, nachdem Fleischproduzent Sieber mit Listerien verseuchtes Essen auslieferte. 2019 sterben Menschen infolge einer bakteriellen Verseuchung durch Fleischprodukte der Firma Wilke. 2020: die Coronafälle. Nicht die Ausnahme, sondern die Regel sind die permanent wiederkehrenden Skandale, die auch töten. Der europäische Sozialkommissar Nicolas Schmit hat uns aufgefordert: „Wir müssen jetzt schnell handeln“. Wir müssen europäisch handeln, damit die Fleischindustrie wieder faire europaweite soziale Standards einhält, und zwar auch in Deutschland. Wir haben 2017 die Generalunternehmerhaftung eingeführt. Wir haben 2020 das Entsendegesetz geändert, die verbesserte Beratung „Faire Mobilität“ als Prävention für Skandale verstetigt und besser mit Finanzen ausgestattet. Denn die beste Prävention ist immer noch eine gute Beratung, zu wissen: Was sind meine Rechte, und was sind die Möglichkeiten, wenn ich in Deutschland arbeite? Notwendig bleibt eine stärkere Kontrolldichte. Beim Zoll müssen alle Planstellen besetzt sein. Wir haben sie aufgestockt; aber es gibt die Information, dass bis heute 20 Prozent der aufgestockten Planstellen immer noch nicht besetzt sind. Wir müssen die Planstellen auf die Straße bringen. Wir brauchen einen IT-gestützten Datenaustausch zwischen Finanzämtern, Zoll, Polizei und Kommunen. Es kann nicht sein, dass Akten noch transportiert werden und dass sie auf dem Weg schon mal verloren gehen. Da muss die Software, da müssen die IT-Möglichkeiten endlich verbessert werden. Unterkünfte sind keine Ferienwohnungen. Sie müssen, weil sie der Erwerbstätigkeit dienen, umfassend von allen Seiten, auch vom Arbeitsschutz, kontrolliert werden können. Unmöglich ist ein „Matratzengeld“, bei dem mehrere Beschäftigte sich eine Matratze teilen müssen. Das ist Ausbeutung; das ist ähnlich der Sklaverei. So etwas ist schon heute kriminell; aber der Kontrolldruck muss hier insgesamt verstärkt werden. Bei der Digitalisierung der Zeiterfassung, aber auch bei technischen Fragen wie Umlüftern, mehr Frischluft, besseren Filtern werden wir in der Arbeitsstättenverordnung tätig werden. Auch das Thema der Aerosole ist offenkundig eines, das angegangen werden muss. Aber: Der Schlüssel sind die Werkverträge. Schlachtbetriebe werden – so wird beispielsweise von Müller Fleisch berichtet – von Subunternehmen umworben, regulär Beschäftigte zu entlassen und auf sie und Werkverträge zu setzen. So erodiert die klassische Beziehung zwischen dem Arbeitgeber und dem Arbeitnehmer mit seinen Rechten, indem der Unternehmer die Flucht aus dieser Verantwortung betreibt. Deshalb sind Werkverträge in dem Bereich derzeit ein Instrument, um das regulierte, legale, sozial abgesicherte Arbeitsverhältnis zu zerstören. Deshalb muss die Politik da klar werden und handeln, so wie es Ludwig Erhard, wie es die soziale Marktwirtschaft einfordert. Die Deutsche Bischofskonferenz appelliert an die Politik – ich zitiere –, „ein auf Ausbeutung basierendes Geschäftsmodell“ in der Fleischwirtschaft „wirksam zu durchbrechen“. Diesem Appell werden wir folgen. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Uwe Witt für die AfD-Fraktion. ({0})

Uwe Witt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004937, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer an den TV-Geräten! Über Verbesserungen des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer in der Fleischindustrie brauchen wir eigentlich nicht zu diskutieren. Ich denke, alle Fraktionen im Deutschen Bundestag sind sich einig, dass Missstände beseitigt werden müssen. ({0}) Nur das Wie wird wie immer sehr unterschiedlich angegangen. Während wir der Meinung sind, dass es bereits ausreichend staatliche Behörden und Instrumente zur Durchsetzung längst gesetzlich festgeschriebener Standards gibt, sehen wir die größte Problematik in der Umsetzung bzw. Kontrolle. Wir benötigen keine zusätzliche Kontrollbehörde, wie es Die Linke plant. Wir benötigen eine Stärkung der vorhandenen Ämter durch Personalaufstockungen, Schulungen und vor allem konsequentere Durchsetzung der Richtlinien durch engmaschige Kontrollen in den Unternehmen. Werter Herr Laumann, die Zustände, die Sie hier zu Recht beklagt haben, hätten Sie durch effiziente Kontrollen auf Länderebene beseitigen können. Da stellt sich die Frage, warum Sie das nicht getan haben ({1}) oder warum erst Corona Sie zum Agieren brachte. Wenn, wie es die AfD und die Alternative Vereinigung der Arbeitnehmer seit Jahren fordert, eine Obergrenze für Leiharbeit und Werkverträge von 15 Prozent eingeführt wäre, gäbe es auch keine derartigen Missstände im Gesundheitsschutz der Arbeitskräfte. ({2}) Unsere Kollegen der Linken nutzen wieder einmal die Gelegenheit, unter dem Deckmantel von Arbeits- und Gesundheitsschutz Klassenkampfparolen zu verbreiten. Ihre weiteren Forderungen nach Stärkung von Betriebsräten und Gewerkschaften lesen wir in jedem Antrag der Linken. Diese stammen aus dem letzten Jahrhundert, wo das Ziel der Kommunisten die Einführung einer Räterepublik war. ({3}) In der Bundesrepublik Deutschland gilt aber nach wie vor das Prinzip der sozialen Marktwirtschaft. An die Adresse von Bündnis 90/Die Grünen muss ich wieder einmal erinnern, dass der Bürger nicht für dumm verkauft werden mag. ({4}) Sie postulieren: Fleisch muss teurer werden. ({5}) Glauben Sie wirklich, dass sich durch eine Verteuerung der Fleischpreise etwas an den Arbeits- und Gesundheitsbedingungen in den Schlachthöfen ändert? ({6}) Ja, Sie glauben so einen Unsinn wirklich. Sie glauben ja auch, dass sich durch einen Preis für CO2 das Klima verbessert. ({7}) Aber wo ich gerade beim CO2 angekommen bin: Bei Ihrem zwanghaften Kurs zur Einführung der E-Mobilität ist Ihnen der Gesundheitsschutz von Arbeitskräften so ziemlich schnurzpiepegal. ({8}) Denn es sind nicht Kobolde, liebe Frau Baerbock, die im Kongo Kobalt für die Produktion der E-Autos abbauen, sondern minderjährige Kinder, die entweder die Volljährigkeit nie erreichen oder erhebliche gesundheitliche Langzeitschäden davontragen. Hauptsache, die grüne Ökobourgeoisie in Deutschland fühlt sich wohl! ({9}) Ihr Verständnis für Gesundheitsschutz von Arbeitskräften ist, mit Verlaub gesagt, einfach nur heuchlerisch. Vielen Dank. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Katja Mast für die SPD-Fraktion. ({0})

Katja Mast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mein Vorredner hat klargemacht, dass er die Axt an die betriebliche Mitbestimmung und die Demokratie in diesem Land legen will. Das werden wir von der SPD und wird das ganze Haus – außer der AfD – niemals zulassen. ({0}) Aber kommen wir zum eigentlichen Thema. Das Thema ist, dass wir Masseninfektionen von Menschen aus Osteuropa in der Fleischindustrie in Deutschland haben. Und ja, der Fall Tönnies setzt dem mit über 1 500 Infizierten eine neue Krone auf. Bis dahin war der Fall Müller Fleisch der größte Pandemiefall in der Bundesrepublik Deutschland. Müller Fleisch hat seinen Sitz in Birkenfeld, direkt an der Stadtgrenze zu Pforzheim in meinem Wahlkreis. Das war schon Ostern. Es ist also nicht so, dass das Thema Pandemie erst jetzt aufgetaucht ist, nein, es war die ganze Zeit da. Was mich persönlich wahnsinnig aufregt – das sieht man jetzt im Kreis Gütersloh ganz gut –: Es ist nicht nur so, dass dort Menschen infiziert sind, dass Quarantäne verhängt wird und vieles Weitere. Wer trägt eigentlich die Kosten dieser Pandemiefälle? Wer bezahlt das eigentlich? Nachdem die Familien endlich wieder die Kinder in die Kita oder in die Schule schicken konnten und die Kinder sich gefreut haben, nachdem Pflegeeinrichtungen wieder geöffnet waren, sind sie jetzt wieder geschlossen. Es sind wieder die Familien in der Bundesrepublik Deutschland, dort in Gütersloh, die jetzt die Kosten der Pandemie tragen. Das können wir nicht zulassen. Es muss Schluss sein mit diesem Geschäftsmodell in der deutschen Fleischindustrie! Ich sage an dieser Stelle bewusst „Industrie“ und nicht „Handwerk“; denn genau darum geht es. Dieses Geschäftsmodell funktioniert doch so: Im Kernbereich der Produktion arbeiten Leute über Sub-Sub-Subkonstellationen mit Werkverträgen. Für die gilt keine Arbeitszeitregelung, für die gilt kein überprüfbares Arbeitsschutzgesetz und, und, und. Das liegt an mangelnden Kontrollen und vielem mehr; aber es sind eben keine Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer des Konzerns. Deshalb funktionieren viele der Kontrollen, die wir haben, nicht, auch in den Unterkünften nicht. Das ist nämlich der zweite Punkt. Die Leute leben in schäbigen Unterkünften, in Massen- und Sammelunterkünften, und auch dort finden Infektionen statt. Deshalb sind wir nicht erst seit Ostern, seit der erste große Pandemiefall aufgetreten ist, dazu bereit, zu sagen: Mit diesem Geschäftsmodell müssen wir in der Bundesrepublik Deutschland aufräumen. Arbeitsminister Heil hat klar dargestellt, worum es geht: Es geht um das Verbot von Leiharbeit und Werkverträgen im Kernbereich der Produktion. Es geht darum, Kontrollen und Kontrollmöglichkeiten zu intensivieren und auch Kontrollquoten festzuschreiben, damit Kontrollen stattfinden. Und es geht darum, über die elektronische Arbeitszeiterfassung dafür zu sorgen, dass die Arbeitszeitbestimmungen auch für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Fleischindustrie gelten. Das alles sind unsere Antworten. Wir führen keine Lifestyle-Debatten. Wir führen keine Debatten nach dem Motto: Das Schnitzel muss teurer sein; dann ist es schon gut für die Landwirtschaft und die Beschäftigten in der Fleischindustrie. – Nein, wir müssen es gesetzlich regeln. Wir dürfen keine Lifestyle-Debatten führen, sondern wir müssen das tun, wofür wir zuständig sind, –

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Mast.

Katja Mast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

– für das Gemeinwohl in der Bundesrepublik Deutschland zu sorgen. Deshalb freue ich mich auf die Gesetze, die wir im Herbst gemeinsam diskutieren werden. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Gyde Jensen für die FDP-Fraktion. ({0})

Gyde Jensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004941, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herzlichen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Freie Demokraten stehen wir hinter den Arbeitnehmern, und wir stehen – deshalb verteidigen wir sie hier auch regelmäßig – hinter Unternehmern und Arbeitgebern, und zwar, weil wir überzeugt sind, dass sie als ehrbare Kaufleute diese Gesellschaft bedeutend mitgestalten, weil ihr Innovationsgeist uns enormen Wohlstand beschert hat, ({0}) weil sie Verantwortung für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und die Gesellschaft übernehmen und weil sie ein persönliches Risiko tragen und im Zweifel dafür haften, wenn es Fehler gegeben hat. ({1}) Deswegen muss ich sagen: Wie bei der Firma Tönnies und Konsorten Menschen behandelt werden und wurden, ist nicht nur verachtenswert, sondern das ist beschämend. ({2}) Hier wird bestehende Marktmacht nicht für Fortschritt und Innovation genutzt, sondern für systematische Ausbeutung. So ein Verhalten, meine Damen und Herren – auch der Minister hat es angesprochen; wir sind uns da sicherlich einig –, hat überhaupt nichts mehr mit ehrbarer Kaufmannschaft zu tun. ({3}) Genau deshalb müssen wir hier genau hinsehen und verstehen, wie es in einer Branche mit über 125 000 Angestellten, wenn man Schlachtung und Zerlegung zusammennimmt, zu solchen eklatanten und systematischen Verstößen gegen Hygiene- und Arbeitsschutzmaßnahmen und gegen Würde und Anstand kommen konnte, und entsprechend gesetzliche Regelungen daraus ableiten. Liebe Bundesregierung – der Minister hat es angesprochen –, packen Sie das als offensichtlich bekannte Problem an der Wurzel, und bekämpfen Sie hier nicht nur Symptome. Der Minister hat sich abgemeldet; trotzdem möchte ich ihn direkt ansprechen. Herr Heil, unter der Federführung des FDP-Sozialministeriums in Schleswig-Holstein hat die Arbeits- und Sozialministerkonferenz bereits Ende 2019 einstimmig klare Arbeitsaufträge an Sie formuliert. Leider hat es darauf ein halbes Jahr gar keine Reaktionen von Ihrem Haus gegeben. Meine Damen und Herren, worum es in dieser Debatte doch gehen sollte und gehen muss, ist eine Verbesserung der Bedingungen genau für diejenigen, die unsere Nahrungsmittel herstellen. Wir müssen deswegen Kontrollmöglichkeiten verbessern. Minister Heil, Sie sagten selber: „Aber die schärfsten Regeln nützen nichts, wenn ihre Einhaltung nicht kontrolliert wird.“ Deswegen müssen aus unserer Sicht zwei Dinge in den nächsten Wochen ganz besonders wichtig sein – wir freuen uns da auf den Referentenentwurf aus dem BMAS –: Erstens. Sorgen Sie dafür, dass die staatlichen Arbeitsschutzbehörden der Bundesländer besser kontrollieren können. Ändern Sie die Arbeitsstättenverordnung, sodass die Kontrolleure auch Zugang zu scheinbar privat vermieteten Wohnräumen bekommen. Zweitens. Wir brauchen umgehend – es wurde hier angesprochen – eine flächendeckende, nicht manipulierbare, digitale Zeiterfassung für alle Beschäftigten, damit der Mindestlohn nicht durch unberücksichtigte Mehrarbeit unterlaufen werden kann. ({4}) Was man der Bundesregierung aber zugutehalten muss, ist, dass sie es im Gegensatz zu den Grünen – wir debattieren ja heute hier zwei Anträge – versteht, dass arbeitgeberseitig gestellter oder vermittelter Wohnraum bereits jetzt von der Arbeitsstättenverordnung eingeschlossen ist. Der Wortlaut im Antrag der Grünen ist deswegen falsch. Ich würde empfehlen, noch einmal in die entsprechende ASMK-Formulierung zu schauen. Meine Damen und Herren, diese ausbeuterischen Zustände in der fleischverarbeitenden Industrie – da sind wir uns hier alle einig – müssen beendet werden, und vor allen Dingen muss auf die Wahrung der Menschenwürde geachtet werden. Sie bringen nämlich eine ganze Branche in Verruf, also auch die kleinen und mittelständischen Unternehmen in der Fleischverarbeitung, die sich mit bedeutender Mehrheit an Vorgaben halten, die ausbilden und gute Löhne zahlen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Jensen, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Gyde Jensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004941, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. – Das sind genau die ehrbaren Kaufleute bei uns um die Ecke, hinter denen wir als Freie Demokraten stehen, hinter denen dieses Haus stehen sollte und die wir vor illegaler Wettbewerbsverzerrung schützen müssen. Vielen Dank.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Susanne Ferschl für die Fraktion Die Linke. ({0})

Susanne Ferschl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004715, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Das Schweinesystem in der Fleischindustrie ist seit Jahren bekannt. Es beutet Mensch und Tier aus. Mein Fraktionskollege Klaus Ernst hat vor sieben Jahren genau hier an dieser Stelle von „unterlassener Hilfeleistung“ gegenüber den Werkvertragsarbeitnehmern gesprochen. Geändert hat sich nichts. Die Ausbeutung lief weiter, bei Tönnies rollte der Rubel, Sigmar Gabriel hat auch noch etwas davon abbekommen, und jetzt ist ein ganzer Landkreis im Shutdown. Erst jetzt, nachdem auch Einheimische betroffen sind, rücken die Arbeitsbedingungen der überwiegend osteuropäischen Kolleginnen und Kollegen ins Scheinwerferlicht. Das ist doch skandalös! ({0}) Ministerpräsident Laschet aus Nordrhein-Westfalen behauptete auch noch, das Virus komme von dort. Nicht die rumänischen Kolleginnen und Kollegen haben das Virus verbreitet, sondern diese ausbeuterischen Arbeitsbedingungen, dieses ausbeuterische Schweinesystem hat dieses Virus verbreitet. ({1}) Die Bundesregierung will jetzt Werkverträge verbieten. Ich bin gespannt, wie sich die Union verhalten wird. Ich habe Ihnen zugehört, Herr Minister Laumann, und ich nehme Ihnen das auch ab. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob alle verstanden haben, worum es geht. Denn noch vor wenigen Wochen meinte Herr Straubinger von der CSU im Bayerischen Rundfunk, er halte nichts von strengeren Regelungen und – ich zitiere – es komme „darauf an, ob die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auch in ihrer Freizeit immer die Vorschriften des Abstandhaltens eingehalten haben“. Ja, wie zynisch ist das denn, ({2}) wenn man weiß, dass die Beschäftigten Schulter an Schulter arbeiten müssen und nach ihrer Zwölfstundenschicht zusammen im Minibus in ihre Massenunterkünfte gebracht werden? Da sucht man lieber wieder nach Sündenböcken, um vom eigenen politischen Versagen abzulenken. Deswegen hoffe ich, dass dieses Mal der Gesetzentwurf aus dem Ministerium Heil nicht wieder von der Union verwässert wird. ({3}) Dass es auch anders geht, zeigt ein Blick nach Dänemark: Stundenlöhne von 25 Euro, keine Werkverträge und Subunternehmen, Arbeitszeiten von 7,5 Stunden, eingehaltene Hygienevorschriften und zur Verfügung gestellte Schutzausrüstung und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. – Alles Dinge, die es in Deutschland in diesem Subunternehmertum nicht gibt. Mit dieser Schmutzkonkurrenz, mit diesem Lohndumping macht Deutschland die Arbeitsplätze in Dänemark und in anderen EU-Mitgliedstaaten kaputt. Da ist es doch auch kein Wunder, wenn es zu Beschwerden wegen unlauteren Wettbewerbs kommt. Deswegen muss damit jetzt Schluss sein! ({4}) Was wir nicht brauchen, sind freiwillige Verpflichtungen der Unternehmen. Wir brauchen auch keinen Mindestpreis beim Fleisch und auch keine wohlfeilen Appelle an die Verbraucher. Wir brauchen jetzt endlich klare Regelungen und Gesetze, um diesen Saustall auszumisten. ({5}) Nach der Rede des Herrn Minister heute gehe ich eigentlich davon aus, dass die SPD unserem Antrag zustimmen wird. Vielen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Friedrich Ostendorff für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Friedrich Ostendorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003604, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Endlich, endlich sind die Zustände, die viele von uns schon lange kannten, für jeden sichtbar: menschenverachtende Arbeits- und Lebensbedingungen zum einen, zum anderen super organisierte Verantwortungslosigkeit. Besonders die Zerlegebereiche in den Großschlachtstätten haben sich zu Turbovirenschleudern entwickelt. Täglich – das müssen wir uns einmal vorstellen! – wurden in Rheda-Wiedenbrück bei Tönnies 25 000 Schweine geschlachtet; jeden Tag, Tag für Tag. Tönnies hat offiziell 10 bis 12 Euro Schlachtkosten pro Tier; das sind die geringsten Schlachtkosten Europas. Jeder, der die Branche kennt, weiß, dass die Schlachtkosten gegen null gehen, weil es ja noch die Vermarktung des fünften Viertels gibt. Aber wir nehmen einmal die offiziellen Zahlen. Belgien, Dänemark und Holland beklagen seit Langem die extreme sklavische Ausbeutung, die hier in Deutschland mit Werkvertragsarbeitnehmern vorgenommen wird. Unsere handwerklich orientierten mittelständischen Schlachter, die es ja auch noch gibt, haben zum Vergleich rund 25 Euro Kosten, um ein Tier zu schlachten. Wie sollen sie dem Druck dieser Konkurrenz standhalten, der im Wesentlichen auf dem Rücken der Werkvertragsarbeitnehmer aus Rumänien und Bulgarien ausgetragen wird, liebe Kolleginnen und Kollegen? Den Preis dieses Billigfleischsystems, den bezahlen die Menschen, den bezahlen die Tiere, und den bezahlt auch die Natur. In der Landwirtschaft, ihrem nachgelagerten Bereich, gilt nur eine Maxime: Wachstum, Effizienz, Billigfleisch, Ausrichtung am Weltmarkt. Das brachte extrem spezialisierte Betriebe hervor, oligopolartige Marktstrukturen folgten. Wir sehen es in der Fleischindustrie, bei den Molkereien, wir sehen es im Lebensmitteleinzelhandel. Zwei Drittel, meine Damen und Herren, des Schweinefleisches werden über Sonderangebote verramscht. Mitte jeder Woche kommen ja die Angebote ins Haus geflattert; jeder kennt es. Diese Preise lügen, Kolleginnen und Kollegen. Sie lügen, das System ist schwach, das System ist krank. ({0}) Die Konsequenz daraus kann heute für uns doch nur die Wende sein, der Neubeginn: Raus aus diesem kaputten System! ({1}) Das heißt, wir müssen Lebensmittelproduktion in der Breite endlich neu denken. Wir müssen aufhören, an freiwilligen Vereinbarungen leidenschaftlich herumzubasteln, wie unsere Landwirtschaftsministerin das gerne gut, die sowieso nie kommen. Doch der Ernst der Lage, das Ausmaß der Katastrophe werden für viele erst jetzt sichtbar: wie hoch die wirklichen gesellschaftlichen Kosten dieser Produktion sind und wer sie eigentlich bezahlt. Wir brauchen den grundlegenden Wandel. Wir brauchen die große Veränderung in der Fleischproduktion. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir dieser menschenunwürdigen, tierverachtenden, naturzerstörenden Ungerechtigkeit ein Ende bereiten wollen, dann müssen wir das „Schneller, höher, weiter“, an das sich so viele in der Branche klammern, endlich beenden. ({2}) Es hat mich gefreut, dass einige CDU/CSU-Agrarpolitiker – ich hatte es nicht erwartet – offensichtlich eine Diskussion entfachen wollen – da kann man sie nur bestärken –, regionale Schlachthofstrukturen zu fördern und neu aufzubauen. ({3}) Viele Bäuerinnen und Bauern – das will ich Ihnen sagen – wollen die Veränderung; sie sind lange auf dem Weg. Helfen wir Ihnen doch gemeinsam! ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Max Straubinger das Wort. ({0})

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Emotionen gehen hoch, und das zu Recht angesichts der Coronafälle, die wir in Schlachtbetrieben und darüber hinaus feststellen. Ich möchte auch zum Ausdruck bringen: Es gibt nicht nur in Schlachtbetrieben Coronafälle, sondern sie gibt es auch woanders, zum Beispiel in großen Wohnanlagen. So wurde in Magdeburg eine große Wohnanlage mit 800 Menschen unter Quarantäne gestellt. Es ist meines Erachtens am Ende einer solch emotionsgeladenen Debatte – was auch richtig ist – durchaus wichtig, etwas zur Sachlichkeit zurückzukehren ({0}) und nicht nur von organisierter Verantwortungslosigkeit und von Ausbeutertum zu reden. Denn letztendlich haben wir großartige Produkte, die die Bäuerinnen und Bauern erzeugen, ({1}) aber gleichzeitig auch die Lebensmittelindustrie, und dazu gehören auch die Schlachtbetriebe. ({2}) Werte Damen und Herren, deshalb möchte ich feststellen, dass zuerst einmal unser Bedauern denjenigen gilt, die von Covid und Corona betroffen sind. Denen wünsche ich beste Gesundheit! Für die Zukunft hoffe ich, dass, wenn es in den Schlachtbetrieben durch Umwälzanlagen und sonstige Gegebenheiten eine besondere Anfälligkeit gibt, dies sehr schnell in technischer Hinsicht abgestellt werden kann, damit zukünftig Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von diesem Risiko nicht mehr betroffen sind; denn letztendlich geht es um die Gesundheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Das ist meines Erachtens sehr wichtig. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Straubinger, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Müller-Gemmeke?

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, gerne. ({0}) – Nein, nein, wir spielen nichts runter. Ein Blick auf die Realität und auf die Sachlichkeit schadet nicht in einer Diskussion über eine Gesetzgebung. ({1}) – Die Frau Müller-Gemmeke hat zuerst das Wort. Sie können sich später zu Wort melden.

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich bedanke mich zunächst bei der Frau Präsidentin und auch beim Kollegen Straubinger, dass Sie mir die Frage ermöglichen; ich kann es ganz kurz machen. – Herr Straubinger, es wird gerade häufig gesagt, dass die Coronapandemie im Prinzip wie ein Brennglas wirkt und dass es um diese Strukturen geht, die es in den Betrieben schon lange gibt und die es zu bekämpfen gilt. Ich habe gerade vieles von Ihnen gehört, und ich will eigentlich ganz einfach nur wissen: Werden Sie einen Gesetzentwurf unterstützen, wonach im Kernbereich eines Schlachthofs – beim Schlachten und Zerlegen – Werkverträge nicht mehr möglich sind? Ja oder nein?

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es wird einen Gesetzentwurf geben, und den werden wir dann sachgerecht beraten. ({0}) Natürlich wäre es wünschenswert, wenn im Kernbereich – wie groß man ihn auch macht – nur festangestellte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beschäftigt wären. Das ist in vielen Schlachthöfen, die wir jetzt im Brennpunkt haben, aber auch der Fall. Es ist ja nicht so, dass es zum Beispiel bei Tönnies nur Werkvertragslösungen gibt, sondern dort arbeiten auch sehr viele Festangestellte, die in ihrem Betrieb aber auch von der Pandemie betroffen waren. Das ist ja das Problem. Unabhängig davon, ob jemand festangestellt, Werkvertragsarbeitnehmer, Leiharbeitnehmer oder Zeitarbeitnehmer ist: Jeder in diesem Betrieb war betroffen. ({1}) Deshalb gilt es, dafür zu sorgen, dass die Arbeitsschutzbestimmungen, die Gesundheitsbestimmungen und die Hygienevorschriften dort insgesamt fest eingehalten werden. ({2}) Da vorhin geklagt wurde, dass wir jetzt so große Betriebe haben, möchte ich schon fragen: Warum haben wir die?

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage?

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gleich, Herr Präsident. – Weil wir vielfältigst mit Hygienevorschriften, Gesundheitsvorschriften usw. auch einen Beitrag dazu geleistet haben, dass es nur noch große Betriebe gibt, die das schultern und leisten können. Wir hatten Schlachthöfe vor Ort. Wie viele Schlachthöfe wurden in den Städten und Kommunen geschlossen? Warum wurden sie geschlossen? Weil sie diese Bedingungen nicht mehr erfüllen konnten oder wollten, weil zum Beispiel die Abwasserbeseitigung eine große Herausforderung war usw. Das ist auch ein Grund dafür, dass wir mittlerweile eine solche Konzentration von Großbetrieben haben, und diese Entwicklung sehen wir in der Landwirtschaft leider genauso.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Straubinger, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage, und zwar aus der Fraktion Die Linke?

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, gerne.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Ich möchte die Kolleginnen und Kollegen, die Zwischenfragen stellen, bitten, so lange stehen zu bleiben, bis die Frage aus Ihrer Sicht befriedigend beantwortet worden ist, weil das die einzige Chance ist, dass ich feststellen kann, ob die Redezeit wieder normal laufen kann. ({0})

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Doch, doch; das hat alles dazugehört, Frau Müller-Gemmeke.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin Krellmann, bitte. Sie haben das Wort.

Jutta Krellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004080, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Straubinger, vielen Dank, dass Sie die Frage zulassen.

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin ein diskussionsfreudiger Abgeordneter.

Jutta Krellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004080, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich würde da gerne noch mal nachhaken, weil ich finde, dass wir in der Diskussion ganz deutlich klargemacht haben – auch der Minister –, dass wir nicht über die kleinen Schlachtereien und auch nicht über die kleinen Metzgereien – wie immer sie auch heißen – reden. Wir reden über die Schlachtindustrie. Vor zwei Wochen stand in meiner Lokalzeitung in Hameln-Pyrmont, dass sich meine Landwirtschaftsministerin in Niedersachsen, Frau Otte-Kinast, dagegen ausspricht, dass Werkverträge verboten werden. Jetzt habe ich mitgekriegt, dass Frau Otte-Kinast an dieser Stelle ihre Position geändert hat; sie wird genau das mittragen. Ich frage mich, wieso das nicht auch in Bayern möglich ist. Das wäre etwas, womit man die Wettbewerbsfähigkeit an dieser Stelle wieder stärken könnte. Es kann doch wohl nicht wahr sein, dass es nach dieser Diskussion, die wir alle mitbekommen haben und die dramatisch ohne Ende war, noch Länder gibt, die sich einfach nicht bewegen, weil sie meinen, dass das, was da passiert, richtig ist. Dazu hätte ich gerne noch mal Ihre Meinung gewusst. ({0})

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Krellmann, herzlichen Dank für die Frage. – Es ist doch so, dass wir sehr viele Arbeitsschutz-, Gesundheitsschutz-, Hygiene- und sonstige Bestimmungen haben – auch der Berufsgenossenschaften. Der Kollege Karl-Josef Laumann – der Landesminister – hat es ja aufgezeigt, und er hat die Verstöße festgestellt, die zum Teil zweifelsohne sehr gravierend sind. Ich verstehe nur nicht, warum dann trotzdem nur 64 Bußgeldbescheide erlassen worden sind. ({0}) – Ja, sicherlich, sie wurden zusammengefasst; das ist schon in Ordnung. Es ist aber auch festzustellen, dass das Strafmaß nicht ausgeschöpft wurde und dergleichen mehr. Wenn Verstöße festgestellt werden, dann gilt es natürlich, diese auch abzustellen, und ich nehme an, dass das Landesministerium und die entsprechenden Landratsämter darauf spezialisiert sind, diese Verstöße abzustellen. Wir werden nie feststellen können, dass es eine verstoßfreie Arbeitswelt gibt. Auch in anderen Branchen wird es dies nicht geben. Wenn Verstöße festgestellt werden, dann ist es Aufgabe, dass sie abgestellt werden und dass es sie zukünftig nicht mehr geben wird. Ich glaube aber nicht, dass es ein Allheilmittel sein kann, den Werkvertrag zu verbieten. Mit dem GSA Fleisch haben wir 2017 eine Generalunternehmerhaftung für die Abführung der Sozialversicherungsbeiträge und dergleichen mehr eingeführt, Frau Kollegin Krellmann, und sie hat offensichtlich gewirkt. Zumindest habe ich heute nicht feststellen können, dass Kollege Landesminister Laumann Verstöße gegen die Bezahlung und die Einhaltung des Mindestlohnes dargelegt hätte. Das ist doch auch ein entscheidendes Moment. Wir haben mittlerweile einen sehr anziehungsfähigen, hohen Mindestlohn. ({1}) – Ja, natürlich. Es ist klar: Für Sie ist er immer zu niedrig. Wenn ich fordere, dass wir einen Branchenmindestlohn von 12 Euro einführen – als CSUler bin ich sehr dafür –, ({2}) dann werden Sie 13,50 Euro verlangen. ({3}) Das ist mir doch völlig klar; darüber brauchen wir gar nicht zu reden. ({4}) Es war also wichtig, diese Haftung einzuführen, und offensichtlich hat dieses Gesetz gewirkt. Deshalb frage ich mich, ob wir hier mit Verboten arbeiten müssen oder ob wir hier für die Einhaltung der Arbeitsschutzbestimmungen, der Gesundheitsschutzbestimmungen und anderer Vorschriften nicht auch eine Generalunternehmerhaftung einführen können. Es ist letztendlich geboten, Frau Müller-Gemmeke, sich hier in der Diskussion zu fragen, welches Instrumentarium das beste ist, um das Beste für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in dieser Branche zu erreichen. Das ist doch unser aller Anliegen, und darüber müssen wir uns in einer Diskussion doch auch austauschen. ({5}) – Für jedes Arbeitsverhältnis, Frau Müller-Gemmeke – ob es ein Leiharbeits-, Zeitarbeits- oder Werkvertragsverhältnis oder das Arbeitsverhältnis eines Festangestellten ist –, gelten die gleichen Arbeitsschutz- und Gesundheitsschutzbestimmungen und die gleichen hygienischen Anforderungen, die zu erfüllen sind. Man kann jetzt darüber klagen, dass es sich um einen Werkvertragsunternehmer handelt; denn bei diesem ist es zweifelsohne schwieriger, die Einhaltung der Bestimmungen zu kontrollieren; das gebe ich zu. Wenn ich aber eine Generalunternehmerhaftung für den Auftraggeber mit einführe: Wieso soll das nicht die Lösung sein? ({6}) Ich möchte der Diskussion nicht vorgreifen – auch um keinen Konflikt mit der Europäischen Union herbeizuführen. Wir haben Arbeitnehmer- und Dienstleistungsfreizügigkeit. Die meisten Verstöße werden wohl bei Werkvertragsunternehmen festgestellt, die nicht nach deutschem, sondern nach bulgarischem, rumänischem oder anderem Recht gegründet wurden und denen die entsendeten Arbeitnehmer eine A1-Bescheinigung vorlegen. Hier haben wir die meisten Probleme und die meisten Verstöße, die wir nicht haben wollen; darin sind wir uns alle einig. Es gilt, das hier in der Diskussion entsprechend zum Ausdruck zu bringen und für die Generalunternehmerhaftung zu werben und zu arbeiten. Ich bin überzeugt, dass wir dafür eine gute Grundlage haben. ({7}) Vor allen Dingen geht es aber darum: Wir haben hervorragende Lebensmittel – ganz gleich, ob sie konventionell oder biologisch produziert worden sind. Aber die Bäuerinnen und Bauern warten darauf, lieber Herr Landesminister, dass sie ihre Schweine wieder zur Schlachtung bringen können.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Schweine stehen nun in den Ställen, und die Ställe sind natürlich proppenvoll. Das darf so nicht sein. Abgesehen davon benötigt auch der Handel wieder Fleischware. In diesem Sinne wünsche ich gute Beratungen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege!

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin davon überzeugt, dass wir gute, sachorientierte Lösungen finden werden. Ich bedanke mich beim Herrn Präsidenten für die Geduld. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Sie hatten mit Sicherheit den längsten Redebeitrag. – Nächster Redner ist für die SPD-Fraktion der Kollege Rainer Spiering. ({0})

Rainer Spiering (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004410, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Sie treffen mich an als jemanden, der tief betroffen ist. Ich wohne – anders als Max Straubinger, der auch eine andere Wahrnehmung hat – mitten dort, wo die Schlachtungen alle stattfinden: 2 Kilometer zum Großzerleger WestCrown, 35 Kilometer zum größten Schlachthof Europas, zu Tönnies, 60 Kilometer zum größten Rinderschlachthof Europas, auch Tönnies-Eigentum, 80 Kilometer zur Schlachtung von Danish Crown. Ich bin in allen Betrieben gewesen. Um eines möchte ich Sie hier alle bitten: Verkennen Sie nicht, was diese Tötungsmaschinerie mit uns macht. Wer in einem solchen Maßstab Tiere in einer solch hohen Geschwindigkeit tötet, mit dem passiert etwas. Fahren Sie einmal vor die Werkstore und schauen sich an, wie ein Großteil der Kolleginnen und Kollegen aus Osteuropa – unter schäbigsten Bedingungen lebend, schlecht behandelt und ultraschlecht bezahlt – dieser Arbeit nachgehen muss. Das macht etwas mit unserem Land. Das macht etwas mit der Moral unseres Landes. Das, Kolleginnen und Kollegen, gehört abgestellt! ({0}) Ich appelliere hier dringend, gerade an die Kolleginnen und Kollegen von CSU und CDU, namentlich auch an den Kollegen Max Straubinger. Ich fand Minister Laumann und auch Hubertus Heil in ihren Ausführungen sehr gut nachvollziehbar. Die Gespräche mit den Managern dieser Firmen haben eines deutlich hervorgebracht: Sie jammern geradezu nach einer gesetzlichen Regelung, weil sie selbst überhaupt nicht dazu in der Lage sind, sich auf freiwilliger Basis zu einigen. Der Konkurrenzkampf zwischen ihnen ist so hoch, dass sie überhaupt keine Probleme damit haben, sich gegenseitig vom Markt zu fegen. Deswegen ist es für die gesamte Branche eine unglaublich wirksame Waffe, wenn der Sozialminister zusammen mit dem Land Nordrhein-Westfalen und hoffentlich auch mit dem Land Niedersachsen Werkverträge in der Schlachtindustrie hier in unserem Land nachdrücklich und ausdrücklich verbietet. ({1}) Dem Kollegen Straubinger sei gesagt: Ich verlange – das sage ich in allen Gesprächen, die ich zu Hause geführt habe – schon lange einen Grundlohn von 13,50 Euro. Das hat übrigens auch etwas mit Wertschätzung von Arbeit, mit Anerkennung von Arbeit zu tun. Und dann ist es mir auch völlig egal, ob die Kolleginnen und Kollegen aus Rumänien, Bulgarien, der Ukraine kommen. Mir geht es darum, dass sie ordentlich bezahlt werden. Und dann will ich Ihnen noch etwas dazu sagen, was auf diesem Markt passieren wird. In dem Moment, in dem die Betriebe höhere Löhne zahlen müssen, werden sie dies über den Preis weitergeben. Die Mär, dass diese Betriebe aus diesem Land verschwinden würden, ist doch völliger Humbug! Die getätigten Investitionen sind zu groß, die können gar nicht mehr woanders hin. Übrigens finden sie auch in keinem anderen Land diese Infrastrukturmaßnahmen, um permanent zu reparieren. Deswegen ist es ein Gebot der Stunde, ihnen das Handwerk zu legen und für die Kolleginnen und Kollegen dafür zu sorgen, dass sie anständige Bedingungen in diesem Land finden, und zwar unabhängig von der Kultur, unabhängig von der Nationalität, aus der sie kommen. Das kann dieses Haus schaffen. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank Herr Kollege Spiering. – Nächster Redner ist der Kollege Peter Weiß, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es nicht in Ordnung, dass in vielen Reden so getan wird, als hätte man in diesem Bereich noch nie etwas gemacht. Ich bin sehr stolz darauf, dass wir auf Initiative unseres damaligen Kollegen Karl Schiewerling, damals Vorsitzender der Arbeitsgruppe „Arbeit und Soziales“ der CDU/CSU-Fraktion, 2017 das GSA Fleisch verabschieden konnten, und zwar gemeinsam in einer Großen Koalition. Das GSA Fleisch war eigentlich eine klare Ansage und sah eine verschärfte Generalunternehmerhaftung vor. Eine Generalunternehmerhaftung, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, ist nicht nur eine rechtliche Hülle, sondern stellt auch einen Appell an eine moralische Verantwortung dar, die man hat. ({0}) Deswegen ist es umso enttäuschender, dass diese klare Ansage offensichtlich nicht bei jedem richtig und konsequent genug angekommen ist, ({1}) und ich bedaure eigentlich, dass wir rechtlich nachschärfen müssen. Wir haben in einem Eckpunktepapier, das das Kabinett verabschiedet hat, klargestellt, an welchen Stellen wir zusätzlich handeln wollen, um unsere Verantwortung als Politiker wahrzunehmen. Ich möchte Karl-Josef Laumann ein herzliches Dankeschön sagen, dass er seine Verantwortung, die er als Landesminister für Arbeit, Gesundheit und Soziales hat – er ist auch zuständig für die Arbeitskontrolle –, wahrnimmt und zu uns in den Bundestag gekommen ist. Ein herzliches Dankeschön für seinen klaren und eindeutigen Bericht! ({2}) Wir bekommen das nämlich nur hin, wenn wir Bundesgesetzgebung und die Verantwortung der Länder eng zusammenführen. Er hat uns für dieses Eckpunktepapier in einem Schreiben an die Bundeskanzlerin sehr präzise Vorschläge gemacht, so wie auch Hubertus Heil als zuständiger Bundesarbeitsminister Vorschläge gemacht hat. Beide Vorschläge sind ja auch in das Eckpunktepapier der Bundesregierung eingeflossen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, es geht nicht darum, eine bestimmte Form von Arbeitsgestaltung wie den Werkvertrag generell schlechtzureden. Es geht vielmehr darum, dafür zu sorgen, dass Werkvertragsgestaltungen über Sub- und weitere Subunternehmen nicht dazu führen, dass am Schluss niemand mehr Verantwortung wahrnimmt und Verantwortungslosigkeit herrscht. Das gilt es zu bekämpfen. ({3}) Und dann muss man in einer solchen Debatte auch über unsere Landwirtschaft reden. Unsere Landwirte produzieren hochwertige Lebensmittel, gutes Fleisch. ({4}) Ich finde, ein hochwertiges Lebensmittel ist nichts, was verramscht werden darf. Es wird immer nur davon gesprochen, dann werde alles teurer. Der Unterschied ist ja gar nicht so groß. Ich will ein Beispiel machen. In meinem Wahlkreis haben sich vor zwei Jahrzehnten 50 Landwirte zu einer Erzeugergemeinschaft zusammengeschlossen, haben ein eigenes kleines Schlachthaus gebaut, das wegen großer Nachfrage jetzt übrigens erweitert wird. Ich war erst letzte Woche bei ihnen und habe sie gebeten, mir zu sagen, was denn der Preisunterschied bei 1 Kilo Rinderfilet ist – um etwas Hochwertiges zu nehmen. Ich habe sie gefragt: Was ist der Preisunterschied bei 1 Kilo Rinderfilet, das ich bei euch kaufe, im Vergleich zu dem, das aus der Industrie kommt? Sie haben mir gesagt, der Preisunterschied pro Kilo ist 40 Cent. Egal ob man viel Geld oder wenig Geld verdient, 40 Cent pro Kilo Rinderfilet sind nicht die Welt. ({5}) Deswegen finde ich es gut, dass unsere Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner, die auch dieser Debatte beiwohnt, das Thema eines fairen Preises für gute Leistungen unserer Landwirte, für gutes Fleisch auch zu ihrem Thema gemacht hat. Darum geht es. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Um zum Schluss zu kommen, Herr Präsident: Wir werden per Gesetzgebung dafür sorgen, dass jeder seine Verantwortung konsequent wahrnimmt. Aber wir müssen auch als Gesellschaft sagen: Jawohl, wir stehen dazu, dass gute Landwirtschaftsprodukte auch ihren fairen Preis verdienen, und wir sind bereit, für diesen fairen Preis auch etwas zu tun. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Weiß. – Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Bernd Rützel, SPD-Fraktion. ({0})

Bernd Rützel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004392, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Bis in die 80er-Jahre hinein war es bei uns auf dem Land üblich, dass einmal im Jahr die Waschküche ausgeräumt wurde. Der ortsansässige Metzger kam, schlachtete ein Schwein, zerlegte es und verarbeitete es gleich. So war der Bedarf an Wurst, Schinken, Käse und Fleisch für Monate gedeckt.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Käse auch?

Bernd Rützel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004392, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Käse auch. Sie hören gut zu, Herr Präsident. Das finde ich gut. Diese Tradition ist aber seit den 90er-Jahren immer mehr verschwunden. ({0}) Es gibt das Fleischerhandwerk, das ehrliche Fleischerhandwerk, noch. Wohl denen, die noch einen Fleischer um die Ecke haben. Aber unser Hunger wird mittlerweile industriell von diesen großen Fleischfabriken gestillt. Ich konnte es nicht glauben; ich habe es vor ein paar Wochen selber gelesen: 30 000 Schweine werden in einer Fabrik an einem Tag geschlachtet, und das Tag für Tag. Das ist Wahnsinn, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir müssen uns schon fragen: Was sind uns denn Mensch und Tier wert? Wir haben schon zweimal eingegriffen, und zwar 2014, als wir dafür gesorgt haben, dass Mindestlohntarifverträge für alle Beschäftigten in der Fleischwirtschaft gelten, und 2017, als wir mit der Einführung der Generalunternehmerhaftung dafür gesorgt haben, dass der Besitzer einer Fleischfabrik dafür verantwortlich ist, dass auch Subunternehmer Sozialversicherungsbeiträge zahlen. Wir hier wissen es vielleicht bereits: Manches ist immer wieder umgangen worden. Aber jetzt weiß das auch die Öffentlichkeit; denn es ist durch die Coronapandemie deutlich herausgekommen. Jetzt gibt es eine breite Übereinstimmung darüber, dass Schluss sein muss mit Ausbeutung in dieser Branche. Deswegen bin ich froh, dass Hubertus Heil diese zehn Eckpunkte vorgelegt hat. Der Kern ist das Verbot der Werkverträge, der Leiharbeit; es soll aber auch mehr und besser kontrolliert werden. Auch die Arbeitszeit soll digital aufgezeichnet werden. Dann werden wir dort zu Verbesserungen kommen. Das werden wir tun; das müssen wir tun, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Wenn die Beschäftigten, die dort arbeiten, ausgenutzt werden, wenig Lohn bekommen, oftmals um ihren Lohn geprellt werden, in schlechten Unterkünften untergebracht sind und bis zur Erschöpfung arbeiten müssen, dann können und dürfen wir nicht zugucken. Wir müssen handeln. Wir sind es den Beschäftigten schuldig. Wir sind es uns allen als Verbraucherinnen und Verbraucher schuldig. Und wir sind es den Tieren schuldig, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich möchte sagen: Ja, Fleisch darf kein Luxusgut werden. Es darf aber auch keine Ramschware bleiben. Deswegen müssen wir anpacken. Deswegen werden wir anpacken, notfalls auch gern in einer Sondersitzung. Wir haben schon Sondersitzungen wegen anderer Themen in diesem Jahr gemacht. Vielen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Rützel. Entschuldigen Sie bitte meine erstaunte Zwischenfrage: „Käse auch?“ Ich habe in meinem hohen Alter noch immer die Fähigkeit, dazuzulernen. Ich habe zum ersten Mal in meinem Leben gehört, dass bei einer Schweineschlachtung Käse produziert wird. ({0}) – Fleischkäse! ({1}) Das ist ein sehr guter Zwischenruf aus der SPD-Fraktion. Es ist ja nicht immer alles intelligent, was von dort kommt, aber heute war es eine Fortbildung.

Detlev Spangenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004898, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Seitens des Petitionsausschusses haben wir ja nicht so oft Gelegenheit, hier ein paar Worte zu sagen; das liegt an der Struktur. Es geht hier um eine sehr wichtige Petition. Sie kommt von der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft. Mit dieser Petition wird ein Masterplan zur Rettung der Schwimmbäder gefordert. Die Schwimmfähigkeit in der Bevölkerung Deutschlands lässt nach, so heißt es in der Petition. Aus diesem Grund ist es sehr wichtig, dass wir zu diesem Thema mal reden. Die Grundlage der Rede ist im Ausschuss festgelegt, nämlich dass wir alle gemeinsam das gleiche Petitum abgeben, und es muss ein sehr starkes Petitum sein. In diesem Fall wird empfohlen, die Petition an das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat „zur Erwägung“ zu überweisen. Das heißt also: Alle Fraktionen geben das gleiche Petitum ab, die Obleute müssen beschließen, dass wir dazu reden, und das Thema muss vor allen Dingen wichtig sein. Die Wichtigkeit zeigen die fast 56 000 Unterschriften, mit denen die Petition unterstützt wird. Meine Damen und Herren, jeder in diesem Raum kann schwimmen und hat Schwimmunterricht gehabt; davon gehe ich aus. Aber für viele sieht das im Moment ganz schlecht aus. Die Petition beschreibt einen sehr traurigen Zustand. Das heißt, wir nehmen im Grunde in Kauf, dass der hoheitliche Auftrag, im Schulunterricht das Schwimmen zu erlernen, nur unzureichend erfüllt wird. Die in der Petition beschriebene Gefahr des Ertrinkens beim Baden kann traurige Realität werden und ist es auch. Außerdem verzichten wir auf die körperliche Ertüchtigung im Schwimmunterricht. Das Schwimmen ist eine gesundheitsfördernde Maßnahme; das Stichwort „Übergewicht“ müsste uns allen bekannt sein. Natürlich ist das keine originäre Aufgabe des Bundes. Es gibt auch Förderprogramme der Länder und Kommunen, die aber allein am Erfolg gemessen werden sollten, und der ist zurzeit, so auch die Petition, nicht vorhanden. Der Bund sollte überprüfen, inwieweit er hier Hilfe geben kann, wie er es zum Beispiel im Rahmen des DigitalPakts Schule tut. Meine Damen und Herren, mit der Petition wird ein bundesweiter Masterplan zur Rettung gefordert: mithilfe einer zu gründenden Gesellschaft, die im Laufe von zehn Jahren koordiniert und umgesetzt werden soll. Der Finanzbedarf dafür wird auf etwa 14 Milliarden Euro veranschlagt, zu tragen von Bund, Ländern und Kommunen. Die Petentin, die Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft, fordert zum Beispiel die Wiederauflage des Goldenen Planes, den es schon mal in den 60er-Jahren gab. Meine Damen und Herren, etwa 25 Prozent der Grundschulen haben laut forsa-Umfrage derzeit keinen Zugang zu einem Schwimmbad. Das ist problematisch. Damit steigt die Zahl der Kinder, die mit zehn Jahren nicht oder nicht sicher schwimmen können, auf circa 60 Prozent. Die Zahl der Badeunfälle bzw. der Ertrunkenen steigt an. Wir haben im Jahr über ein halbes Tausend Unfälle beim Baden, beim Schwimmen zu verzeichnen, weil Menschen nicht schwimmen können bzw. sich im Wasser nicht sicher bewegen können. Auch Freibäder sind von Schließungen betroffen – so die Petition –, und das sind ja Treffpunkte, Orte der Erholung und Entspannung; einkommensschwache Menschen machen dort teilweise Urlaub oder verbringen dort ihre Freizeit. Auch das ist ein wichtiges Thema. Meine Damen und Herren, Bäder sind laut der Petition Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge, Teil des kommunalen Gesundheitsangebotes. Ich denke, es ist ein ganz deutlicher Erfolg, dass diese Petition von allen im Ausschuss vertretenen Parteien einstimmig so gesehen wird. Das heißt, dass wir dieses starke und eindeutige Petitum „zur Erwägung“ empfehlen – das ist die zweitstärkste Empfehlung, die wir geben können –, sollte die Regierung wirklich beflügeln, hier schnell und unbürokratisch Abhilfe zu schaffen. Recht vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Spangenberg. – Der Abgeordnete André Hahn hat um das Wort zu einer Erklärung nach § 31 GO gebeten. Herr Dr. Hahn, Sie haben das Wort. ({0})

Dr. André Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004288, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am 25. September 2019 landete um 13.45 Uhr ein Boot der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft am Spreeufer vor dem Paul-Löbe-Haus, um den zahlreich erschienenen Abgeordneten aus allen Fraktionen öffentlichkeitswirksam eine Petition zur Rettung der Schwimmbäder zu überreichen, die insgesamt von fast 120 000  Menschen unterstützt wurde. Es wurden viele schöne Fotos gemacht, viele Abgeordnete versprachen in die anwesenden Kameras und Mikrofone, sich darum zu kümmern, sich für dieses Anliegen zu engagieren. Und heute schließen wir hier im Bundestag die Petition mit einer Beschlussempfehlung ab, durch die das darin verfolgte Anliegen der Bundesregierung bzw. dem Bundesinnenministerium zur Erwägung überwiesen und auch den Parlamenten der 16 Bundesländer zugeleitet wird. Ich war bei der Übergabe am 25. September ebenso anwesend wie bei der öffentlichen Sitzung des Petitionsausschusses am 9. Dezember und bei der Expertenanhörung des Sportausschusses am 15. Januar und möchte hier erklären, warum ich wie auch die anderen Abgeordneten der Fraktion Die Linke der Beschlussempfehlung zustimmen werden. Die Schwimmkompetenz in Deutschland ist innerhalb von 25 Jahren von über 90 Prozent der Bevölkerung auf unter 50 Prozent gesunken. Deutschland wird zum Nichtschwimmerland. Rund 60 Prozent der zehnjährigen Kinder können nicht sicher oder gar nicht schwimmen. Aber schwimmen können oder nicht schwimmen können entscheidet im Zweifel über Leben und Tod. In den 1960er-Jahren hatte fast jede größere Kommune ein eigenes Schwimmbad, auch durch staatliche Förderprogramme, und zwar in Ost wie in West. Zuletzt waren aufgrund von Finanznöten immer weniger Städte in der Lage, ihre Bäder zu sanieren und zu betreiben. Jedes Jahr werden etwa 100 Bäder in Deutschland geschlossen. Das alles hat natürlich auch Folgen für den Schwimmunterricht, der an vielen Schulen gar nicht mehr angeboten werden kann. Zudem gibt es eine soziale Schieflage; denn Einkommensschwächere und deren Kinder sind laut Statistik deutlich weniger schwimmfähig als der Bundesdurchschnitt. Viele können sich die Eintrittsgelder für Schwimmhallen oder kommerzielle Schwimmkurse schlichtweg nicht leisten. Deshalb haben meine Fraktion und ich persönlich seit fünf Jahren immer wieder gefordert, das Thema unter Federführung des Sportausschusses des Bundestags gemeinsam mit den verschiedenen Akteuren sowie den Vertretern von Ländern und Kommunen ergebnisorientiert anzugehen. Dabei sollte es neben der Wiederaufnahme eines Goldenen Plan Sport mit einem Programm zur Sanierung von Schwimmhallen auch um die Förderung des Schwimmunterrichts an den Schulen gehen, um eine Stärkung des Vereinssports sowie den Abbau von finanziellen und kulturellen Barrieren. Leider hat die Koalition dieses Ansinnen, insbesondere mit dem Verweis auf die angeblich fehlende Zuständigkeit, mehrfach abgelehnt. Ich verweise hier auf die Antwort der Bundesregierung vom 18. März 2015 auf meine diesbezüglichen schriftlichen Anfragen und auf die Debatte hier zur Aktuellen Stunde im Juni 2017, die Die Linke gefordert hatte. Deshalb bin ich der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft sehr dankbar dafür, dass und wie sie mit dieser Petition die Situation der Schwimmbäder auf die Agenda unseres Hauses hier im Bundestag gesetzt hat. ({0}) Die aktuelle Coronakrise hat leider auch spürbare Auswirkungen auf die Schwimmbäder und die Schwimmkompetenz. Seit März gibt es in Deutschland faktisch keinen Schwimmunterricht und keinen Schwimmsport mehr. Schwimmhallen und Freibäder waren geschlossen und sind nun – das ist von Bundesland zu Bundesland sehr unterschiedlich – immer noch und vielleicht auf lange Sicht nur sehr eingeschränkt nutzbar. Kommunen wie auch Sportvereinen fehlt zunehmend das Geld zum Betreiben und für die Sanierung von Schwimmbädern. Von daher steht die Frage im Raum, wie es nun mit dem Anliegen der Petenten weitergeht. Wird jetzt angesichts anderer drängender Probleme die Petition einfach zu den Akten gelegt und der von Innenminister Seehofer auf der DOSB-Mitgliederversammlung am 7. Dezember 2019 in Aussicht gestellte dritte Goldene Plan Sport auf unbestimmte Zeit verschoben? Ich hoffe nicht und erwarte, dass Bundesregierung und Bundesländer nach der heutigen Abstimmung auch endlich spürbare und nachhaltige Maßnahmen zur Rettung der Schwimmbäder ergreifen. Mit dem Antrag der Linken „Dritter Goldener Plan Sport – 10 mal eine Milliarde für Sportstätten in Deutschland“ auf Drucksache 19/20035 liegt bereits ein guter Vorschlag auf dem Tisch. Letzte Bemerkung, meine Damen und Herren. Morgen geht der Bundestag in die parlamentarische Sommerpause. Die Urlaubszeit steht bevor, und viele Menschen, junge wie ältere, zieht es ans Meer. ({1}) – Ich würde den Satz trotzdem gern zu Ende bringen, Herr Kollege. – Viele Menschen zieht es jetzt in den nächsten Tagen ans Meer und an die Seen. Ich hoffe und wünsche mir – ich denke, das wünschen wir uns alle; deshalb ist die Petition so wichtig und zu unterstützen –, dass es in diesem Sommer im Schwimmbereich möglichst wenig Unfälle und schon gar keine Toten zu beklagen gibt. Und deshalb ist es dringend geboten, etwas dagegen zu unternehmen und Schwimmbäder zu retten und, wo nötig, auch neue zu bauen. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Danyal Bayaz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004664, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Cum/Ex, P&R-Anlegerskandal, jetzt Wirecard – das Erste, was dem Bundeswirtschaftsminister letzte Woche dazu eingefallen ist – ich zitiere –: „Wir hätten eine solche Situation überall erwartet – nur nicht in Deutschland.“ Die Geschichte der Finanzskandale in unserem Land zeigt leider das Gegenteil. Wir müssen jetzt endlich aus den Fehlern lernen und Strukturen schaffen, damit effektiv geprüft wird. Das muss der Hauptzweck der Aufklärung sein, meine Damen und Herren. ({0}) Da hilft es jetzt nicht, wenn alle Beteiligten sich auf einmal als Opfer komplizierter Umstände darstellen: Der Finanzminister zeigt auf die Aufsicht. Der BaFin-Präsident verweist auf Regularien der EZB. Die Wirtschaftsprüfer EY sehen sich selbst betrogen. Der Wirtschaftsminister kündigt der DPR, der Deutschen Prüfstelle für Rechnungslegung, den Vertrag. Die DPR wiederum sieht sich selbst als Bauernopfer. Es gibt ja beim Fußball den Spruch: Nimm du ihn, ich hab ihn sicher. – Jeder verlässt sich auf den anderen. Keiner verteidigt den Ball. Und der Gegner, in unserem Fall ein krimineller Gegner, schießt mühelos ins Tor, meine Damen und Herren. Bei allem Respekt: Das ist kollektive Unverantwortlichkeit. ({1}) Ja, es wurde geprüft. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Es gibt das Sondergutachten von KPMG. Dieser Bericht wurde am 27. April 2020, also in diesem Jahr, vorgelegt. Auf Seite 16 kann man dort schwarz auf weiß nachlesen, dass auf Treuhandkonten rund 1 Milliarde Euro fehlt. Am 27. April wurde dieser Bericht vorgelegt! Was ist in der Zwischenzeit passiert? Der Aktienkurs ist kollabiert. Gegen den Vorstand wird ein Haftbefehl erlassen. Die Insolvenz von Wirecard wird beantragt. Nach alldem hat die DPR gestern eine Pressemitteilung veröffentlicht. Da heißt es – ich zitiere –: Nach Erhalt des vollständigen Berichts über die Sonderuntersuchung Ende April 2020 wurde dieser ausgewertet, das Unternehmen Wirecard noch einmal angeschrieben und die Antworten ausgewertet, sodass das Verfahren auf Ebene der DPR im Juli 2020 beendet sein dürfte. Im Juli 2020, also jetzt, wo das Unternehmen bereits insolvent ist! Meine Damen und Herren, wir haben es hier offenbar mit Strukturen zu tun, die effektive Prüfungen geradezu unmöglich machen. Der Finanzminister steht jetzt auch persönlich in der Verantwortung, jeden Stein umzudrehen, auch seinen eigenen. Er ist in der Pflicht, die Aufsicht so aufzustellen, damit sie endlich ihren Job machen kann, meine Damen und Herren. ({2}) Es hat allerdings jetzt nicht gerade einen vertrauenswürdigen Eindruck gemacht, wie der Finanzminister den Wirecard-Absturz letzte Woche kommentiert hat. Zuerst hat er ja erklärt: Die Aufsichtsbehörden haben echt hart gearbeitet. – Kurze Zeit später, Stunden später, hat er eine Kehrtwende hingelegt und hat gesagt, na ja, die Wirtschaftsprüfer und die Finanzaufsicht seien dann doch nicht so effektiv gewesen. Ich kann wirklich verstehen, dass ein hochbeschäftigter Finanzminister in einer akuten Coronakrise nicht jedes Detail im Blick haben kann. Aber diese Geschichte gibt es ja nun mal nicht erst seit gestern. Es gibt seit Jahren immer wieder Vorwürfe wegen gefälschten Bilanzen. Journalistinnen und Journalisten im Ausland haben den Finger immer wieder in die Wunde gelegt. Zum Dank wurden sie übrigens von staatlichen Behörden angezeigt. Wir sprechen hier von einem DAX-Konzern. Ich glaube, so was muss dann auch irgendwann mal im Laufe der Zeit über den Schreibtisch eines Ministers gegangen sein. Auch das muss Teil der Aufklärung sein, meine Damen und Herren. ({3}) Ja, die Finanzaufsicht ist eine wichtige, ist eine unverzichtbare Institution der sozialen Marktwirtschaft. Sie kann Vertrauen schaffen; sie kann aber auch welches zerstören. Damit sie Vertrauen schaffen kann, müssen die Strukturen stimmen. Dafür müssen da Leute arbeiten, die Probleme erkennen, die sie voraussehen, die nicht lockerlassen. Bei allem Respekt: Das können eben nicht nur Juristen sein. Da brauchen wir IT-Experten. Da brauchen wir Informatiker. Da brauchen wir auch Leute, die kriminalistisch denken können. Wenn man diese Experten haben möchte, dann muss man sie auch entsprechend gut bezahlen. Sonst kommen sie nicht; sonst laufen Staat und Aufsicht den Entwicklungen immer wieder hinterher, so wie die DPR, die heute noch die Bilanz von Wirecard prüft, um das rauszubekommen, was eigentlich schon jeder weiß und was in jeder Tageszeitung steht, meine Damen und Herren. Deswegen: Die Aufgabe des Finanzministers ist es jetzt, eine konsequente Neuaufstellung der Finanzaufsicht auf den Weg zu bringen – keine Minireform –, eine Neuaufstellung, die klare, verbindliche, effektive Strukturen schafft, die den technologischen Entwicklungen an den Märkten auch gerecht wird und die vor allem den nächsten Skandal verhindert. Sie haben da über die Sommerferien, glaube ich, die Aufgabe vor sich, genau das auszuarbeiten. Wir sind ganz gespannt auf Ihre Vorschläge. Herzlichen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner ist der Kollege Matthias Hauer, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Matthias Hauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004292, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Skandal um den Finanzdienstleister Wirecard hat den Finanzplatz Deutschland erschüttert. 1,9 Milliarden Euro, angeblich angelegt auf philippinischen Treuhandkonten: verschwunden oder nie dagewesen? Ein Drittel der Bilanzsumme des Unternehmens: eine Fata Morgana? Durchsuchungen, Haftbefehle, ewig andauernde Prüfungen, ein DAX-Konzern im Sturzflug: Da gibt es sehr viel aufzuklären. Dabei gehören Versäumnisse schonungslos auf den Tisch. Das sind wir Anlegern, Mitarbeitern, Investoren, aber auch allen anderen Akteuren am Finanzmarkt schuldig. Unternehmen und Finanzaufsicht müssen verlässlich und ordnungsgemäß agieren. Ein solcher Fall darf sich in Deutschland nicht wiederholen. Wir als CDU/CSU erwarten, dass der Skandal konsequent und lückenlos aufgeklärt wird, sowohl strafrechtlich als auch aufsichtsrechtlich und politisch. ({0}) Die bislang enthüllten Vorgänge bei Wirecard sind nicht nur ein Bilanzskandal. Sie sind ein einmaliger Vorgang in der deutschen Wirtschaftsgeschichte. Strafrechtlich ist zunächst die zuständige Ermittlungsbehörde, die Staatsanwaltschaft, in der Pflicht. Hier laufen die Ermittlungen. Wir haben die Erwartung, dass diejenigen, die Straftaten begangen haben, mit aller Härte des Gesetzes zur Rechenschaft gezogen werden. Aufsichtsrechtlich und politisch ist der Fall aber ebenso aufzuklären. Da komme ich nicht umhin – Dr. Bayaz hat es gerade auch schon erwähnt –, mich mit der ersten Reaktion unseres Bundesfinanzministers zum Fall Wirecard auseinanderzusetzen. Olaf Scholz hat am vorletzten Montag noch gesagt, die Aufsichtsbehörden hätten im Fall Wirecard ihren Job gemacht. – Das war in höchstem Maß irritierend. Was heißt „ihren Job gemacht“? Heißt das „Weiter so“? Heißt das „Alles richtig gelaufen“? Das klang jedenfalls nicht wie der Startschuss für eine dringend notwendige politische Aufarbeitung. ({1}) Und BaFin-Chef Felix Hufeld hat sich am selben Tag schon deutlich klarer geäußert. Er hat von einem „Desaster“ gesprochen. Immerhin äußert sich mittlerweile auch Olaf Scholz anders. Er muss raus aus der Defensive und mit konsequenter Aufklärungsarbeit beginnen. Wir haben dem BMF viele Fragen gestellt, auch zu seiner eigenen Rechts- und Fachaufsicht über die BaFin. Unser gemeinsames Ziel muss es sein, Lücken und Schwächen im Aufsichtsregime zu schließen. Gestern im Finanzausschuss ist uns Herr Hufeld auf unsere Fragen keine Antworten schuldig geblieben. Ich hoffe, das bleibt so. Wir dürfen erwarten, dass die BaFin nicht nur eine starke Aufsicht ist, sondern auch stark in der Aufarbeitung des Falls Wirecard mitarbeitet. ({2}) Zudem müssen wir klar beantworten, was Kernaufgaben der BaFin sind, und vor allem, was sie nicht sind. Dazu gehört zum Beispiel nicht das Führen von Vergleichswebsites für Bankgebühren; das hatten die Grünen in der letzten Sitzungswoche beispielsweise beantragt. Dazu gehört aber auch nicht die zusätzliche Aufsicht über 38 000 Finanzanlagenvermittler, was Anliegen der SPD ist. ({3}) Wir alle in diesem Hohen Hause sollten politisch dazu beitragen, dass sich die BaFin auf ihre Kernaufgaben konzentrieren kann. Das ist – Fall Wirecard lässt grüßen – bitter nötig. Zahlreiche Problemfelder gilt es nun in den folgenden Wochen und Monaten zu beleuchten. Vier will ich Ihnen exemplarisch nennen: Erstens: die Rolle der Wirtschaftsprüfer. Dazu wurde gerade schon einiges gesagt; dazu wird gleich Kollege Fritz Güntzler noch einiges mehr sagen. Deshalb will ich mich darauf beschränken, das anzusprechen. Punkt zwei: das zweistufige Verfahren der Bilanzprüfung. Wieso hat es Probleme nicht ans Licht gebracht? Hatte die BaFin das Recht, selbst tätig zu werden, Sonderprüfungen durchzuführen? Oder braucht die BaFin exakt solche Rechte in jedem Stadium des Verfahrens? Das gilt es zu klären. Der dritte Punkt: die Rolle der Deutschen Prüfstelle für Rechnungslegung. Wie kann es sein, dass die Prüfung weit über ein Jahr dauert? Die DPR hat betont, dass ihre Prüfungen derzeit streng nach den Vorgaben der Ministerien von Frau Lambrecht und Herrn Scholz erfolgen und dass sie – so steht es in der Pressemitteilung – von der Vertragskündigung durch die beiden Ministerien aus der Presse erfahren hat. Auch zu Ablauf und Dauer der Verfahren gibt es reichlich Klärungsbedarf. Vierter und letzter Punkt: die Beaufsichtigung von Fintechs. Ob ein Unternehmen Finanzholding oder Technologieunternehmen ist, hier muss Klarheit bei der Aufsicht her. Gerade bei großen Playern mit einem Labyrinth aus ausländischen Beteiligungen muss im Zweifel eine stärkere Aufsicht erfolgen. Abschließend bleibt festzustellen: Jetzt ist das Bundesfinanzministerium am Zug. Wir erwarten kurzfristig Antworten auf unsere Fragen. Ich nehme an, dass der Finanzminister heute nicht da ist, weil er gerade an der Beantwortung unserer Fragen intensiv arbeitet. Wir brauchen ein BMF-Konzept, aus dem hervorgeht, wie solche Unternehmen wirksamer kontrolliert werden können. Der Fall Wirecard erfordert unseren vollen Einsatz.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Kommen Sie zum Schluss, bitte.

Matthias Hauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004292, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Auch wenn morgen die parlamentarische Sommerpause beginnt, sage ich deutlich: Wir als Union stehen zur Aufklärung bereit, auch für mögliche Sondersitzungen des Finanzausschusses während der Sommerpause. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Hauer. Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, liebe Kolleginnen und Kollegen, will ich aus Fürsorgegründen darauf hinweisen, dass wir mächtig hängen; wir sind mit dem Sitzungsende schon bei Freitagmorgen. Ich bitte die Parlamentarischen Geschäftsführer, vielleicht schon jetzt mal darüber nachzudenken, welche Lösungsmöglichkeiten es im Laufe des Abends geben könnte, um die Sitzungsdauer doch wieder auf das Normalmaß zu reduzieren. Das war die ursprüngliche Absicht im Zusammenhang mit der Tatsache, dass wir jetzt auch am Mittwoch länger tagen. Es war nicht die Absicht, am Donnerstag über Mitternacht hinaus zu tagen. Also: Meine herzliche Bitte sollte vielleicht erhört werden. Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Kay Gottschalk, AfD-Fraktion. ({0})

Kay Gottschalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004731, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren und vor allen Dingen liebe Sparer! Vorab möchte ich erklären: Deutschland braucht keine Behörde, die hinterher – wie bei Prokon und P&R – erklären kann, was falschlief. Entweder muss die BaFin grundlegend reformiert und mit mehr Prüfungsrechten ausgestattet werden, oder sie gehört als unnützes Kostenmonster weg, meine Damen und Herren. ({0}) Übrigens, diese BaFin soll demnächst auch – der Kollege hat das gesagt – die Finanzvermittler überwachen. Lassen Sie es einfach! Meine Damen und Herren, der Fall Wirecard und die BaFin stehen Pate für: BaFin, Brücken, Banken – nix geht eigentlich mehr in Deutschland. Die Bananenrepublik Berlin – vielleicht bald Grauer Markt international! Das haben auch – das werde ich Ihnen gleich belegen – Sie hier zu verantworten, die schon etwas länger hier sitzen. Sie werden nämlich sehen: Die Geschehnisse um Wirecard werden in die Geschichte eingehen – ein Skandal und ein Krimi! Hätte es diesen Skandal nicht gegeben, meine Damen und Herren, Hollywood hätte ihn sich irgendwann ausgedacht. Denn alles ist da, was einen modernen Blockbuster eigentlich auszeichnet: ein Rising Star, am 24. September 2018 die Commerzbank aus dem DAX gedrängt und selbst in die erste Börsenliga aufgestiegen – auch da gestern interessante Ausführungen zu Herrn Hufeld –; Betrug und kriminelle Machenschaften – Mr. Kimble, nein, eher ein Vorstandsmitglied auf der Flucht –; Aufsichten und Wirtschaftsprüfer, die offenbar durch einfache Taschenspielertricks am Farbkopierer über den Tisch gezogen worden sind; ein Kompetenzgerangel und ein Hin- und Herschieben von Verantwortlichkeiten, wobei – wie immer in diesem Lande – am Ende niemand schuld gewesen sein will. Natürlich kann man zum aktuellen Zeitpunkt noch nicht genau sagen, was bei Wirecard passiert ist. Aber eins kann man mit Sicherheit sagen: Bei Wirecard handelt es sich definitiv um den größten deutschen Bilanzbetrug in der Geschichte des Leitindex DAX – ein ausgemachter Anlegerskandal! Die „FAZ“ titelt dazu richtig: „Im Fall Wirecard hat das System versagt“. Meine Damen und Herren, zu diesem System gehören auch Sie. Sie hätten in der Vergangenheit einfach den Schritt in die Zukunft wagen können und die Regularien so fassen müssen, dass ein Fintech wie Wirecard – woran auch eine Bank angehängt ist – unter die Gesamtaufsicht der BaFin kommt. Sie sind der Gesetzgeber, niemand anders. Schieben Sie jetzt bitte schön nicht die Schuld der BaFin an dieser Stelle zu oder den Wirtschaftsprüfern! Das ist an dieser Stelle nicht gerecht. Sie sind schon länger daran beteiligt. ({1}) Und immer wenn das System versagt, wird leider Geld vernichtet, das Geld der Anleger da draußen. Die Aktie rauschte von 104 Euro Mitte Juni auf nunmehr 1,42 Euro am 29. Juni. Wirecard war gerade für Kleinanleger wieder ein Hoffnungsschimmer. Wir wissen ja hier im Hohen Hause, dass die Deutschen ihr Geld lieber sparen, es bestenfalls unter das Kopfkissen packen, was bei Negativzinsen vielleicht sogar angezeigter ist. Aber mal ehrlich, wo sollen die Leute ihr Geld denn noch anlegen bei Negativzinsen oder Nullzinsen auf dem Sparbuch? Und jetzt passiert so was. Das ist doch eigentlich eine Farce. Der Präsident der BaFin sagte in einem Interview: „Das ist ein komplettes Desaster, das wir da sehen, und es ist eine Schande,“ – ja, es ist eine Schande – „dass so etwas passiert ist.“ Diese Aussage war wenigstens ehrlich, und das erwarte ich von Ihnen hier auch: dass Sie sich ehrlich machen. Denn als Gesetzgeber haben Sie hier komplett versagt, meine Damen und Herren. ({2}) „Der Spiegel“ schreibt dazu: „Nach Vorschrift ins Desaster“. Ich will das Auftreten des Präsidenten gestern nicht weiter kommentieren. Ich kann nur sagen: Wäre die BaFin für die Aufsicht von Atomkraftwerken – die wir leider dank Frau Merkel und ihrer missratenen Energiepolitik nicht mehr haben – verantwortlich, dann wäre ganz Europa längst verstrahlt. Denn eins ist klar: Alle hier – auch Sie im Saal – haben eklatant versagt. Und da werden wir als AfD in den nächsten Wochen klar und deutlich nachforschen. Wir werden nachfragen, wer wann wie an dieser Stelle versagt hat. Wir werden alle vorliegenden Indizien prüfen. Und wenn wir einen Untersuchungsausschuss oder einen Sonderbeauftragten brauchen, damit wir den Fall lückenlos aufklären können, dann müssen wir eben auch dafür sorgen. Das sind wir den Sparern in diesem Lande schuldig. ({3}) Ich werde zum Beispiel noch mal ganz genau wissen wollen, wie die Prüfungen bei der DPR, der Deutschen Prüfstelle für Rechnungslegung, von einem Mitarbeiter durchgeführt werden konnten, ohne dass bei der BaFin mal irgendjemand Interesse dafür gezeigt hat. Darüber hinaus ist im Zusammenhang mit der ominösen E-Mail zu klären, ob vielleicht schon im Jahre 2016 Hinweise über Cashflow-Schwankungen und Bilanzunregelmäßigkeiten der BaFin vorlagen. Herr Scholz – er ist jetzt nicht da –, Sie sollten tatsächlich einen Urlaubsstopp im ganzen Bundesfinanzministerium verfügen; denn wir müssen schnellstmöglich aufklären, und wir müssen vor allen Dingen nach der Sommerpause vernünftige Gesetzentwürfe vorlegen, damit das in der Tat keine Lippenbekenntnisse bleiben, was Sie hier sagen, –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege!

Kay Gottschalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004731, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

– damit dies in Zukunft nicht wieder vorkommt. Es bleibt zu hoffen, –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Kay Gottschalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004731, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

– dass der Albtraum Wirecard nicht so enden wird wie die Causa Hypo Real Estate, getreu dem Motto: Die Kleinen hängt man auf, und die Großen lässt man laufen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Kay Gottschalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004731, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Lassen Sie uns dieses Problem gemeinsam angehen. Danke. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Jens Zimmermann, SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Jens Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004603, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was bei Wirecard passiert ist, ist ganz eindeutig ein Skandal. Auch wenn wir alle Details noch immer nicht kennen, obwohl Heerscharen von Wirtschaftsprüfern ausgeschwärmt sind, um das aufzuklären – es ist noch vieles offen –, wissen wir: Wir reden hier ganz offensichtlich über Bilanzbetrug, über Marktmanipulation und über Milliardenbeträge. Deshalb brauchen wir jetzt eine konsequente Aufklärung der Situation. Es muss klargestellt werden, was schiefgelaufen ist, wer daran beteiligt war und warum es nicht verhindert werden konnte. Und – da stimme ich meinen Vorrednern voll und ganz zu – es müssen jetzt die richtigen Konsequenzen aus diesem Skandal gezogen werden. ({0}) Wenn ich mir anschaue, was der Finanzminister und die Justizministerin gemacht haben, dann kann ich nur sagen: Sie sind sofort einen ersten Schritt gegangen. Sie haben den Vertrag mit der DPR, mit einer der Institutionen, die keine gute Rolle in dieser Konstruktion gespielt haben, gekündigt. Das war ein erster, schneller Schritt. ({1}) Jetzt müssen wir im Zusammenhang mit der Aufklärung schauen, wie wir das Ganze neu aufstellen. Eine Sache ist klar: Hier war kriminelle Energie im Spiel, und nicht zu knapp. Der Schaden von ungefähr 2 Milliarden Euro – davon wissen wir bisher – ist nicht unerheblich. Aber es wurden Konten gefälscht. Es wurden Kontoauszüge vorgetäuscht. Und – das ist der zweite Teil – in diesem ganzen Umfeld gab es offenbar auch Insidergeschäfte. Die Staatsanwaltschaft München ermittelt dort. Diese Ermittlungen sollten wir abwarten, und wir sollten schauen, was dabei herauskommt. Aber das ist ein Teil der ganzen Geschichte. Die Frage, die uns doch alle umtreibt, lautet: Warum konnte die Aufsicht das alles nicht verhindern? Wir haben es schon gehört: Es handelt sich um eine auf den ersten Blick nicht vollkommen nachvollziehbare Zuständigkeit, mit der wir es zu tun haben. Das Ganze dreht sich um die Frage: Was ist Wirecard eigentlich für ein Unternehmen? Das ist eine Holding – da hängt auch eine Bank mit drin –; aber es ist eben nicht als Finanzholding eingestuft worden. Deshalb hatte die BaFin eben auch nur eingeschränkte Möglichkeiten, zuzugreifen und einzuschreiten. Wir müssen darüber diskutieren, wie wir das ändern können, wie wir einen schnelleren Eingriff ermöglichen können, meine Damen und Herren. ({2}) Doch es stellt sich ja auch so ein bisschen die Frage: Warum hat die BaFin nicht heute schon weiter gehende Eingriffsmöglichkeiten? Da ist es ganz spannend – vor allem, wenn die FDP zuhört –, mal ins Jahr 2004 zurückzuschauen, wo das entsprechende Bilanzkontrollgesetz verabschiedet wurde. Da haben ja einige hier in der Mitte und rechts irgendwie schon so ein bisschen gejubelt: Juchhe, das wurde 2004 von Rot-Grün verabschiedet. Aber das Interessante ist – wir haben noch ein bisschen genauer nachgeschaut –: Auch im Bundesrat wurde damals nämlich über das Bilanzkontrollgesetz diskutiert. Mein ehemaliger, geschätzter Kollege – ehemaliges Mitglied des Bundesbankvorstands – Carl-Ludwig Thiele hat hier an dieser Stelle am 1. September 2004 zu diesem Gesetz geredet. Er hat gesagt – ich zitiere –: In dem ursprünglichen Gesetzentwurf hatte die … BaFin … relativ weit gehende Eingriffsbefugnisse erhalten, die deutlich über die Formulierungen der EU-Richtlinie hinausgingen. Diese Gesetzespassagen sind deutlich entschärft worden. Dafür haben wir uns eingesetzt. Wir freuen uns, dass das so gekommen ist. ({3}) Das war der Kollege Carl-Ludwig Thiele 2004 an dieser Stelle in der Debatte um das Bilanzkontrollgesetz; ich will das ja nur mal an dieser Stelle erwähnen. ({4}) – Das war ein rot-grünes Gesetz, das im Bundesrat zustimmungspflichtig war. Sie können das alles mal nachlesen. Es ging die ganze Zeit in der Debatte darum, was der Bundesrat alles verhindert hat, was Rot-Grün alles an Behinderungen für den Finanzplatz Deutschland schaffen würde. Auch der Kollege Stefan Müller (Erlangen) hat sich dazu geäußert; das erzähle ich ein anderes Mal. Aber der Tenor war: Schwarz-Gelb hat verhindert, dass Rot-Grün der BaFin hier mehr Zugriffsmöglichkeiten gibt. ({5}) Deswegen freue ich mich dann auch auf die weiteren Diskussionen zu dem Punkt, meine Damen und Herren. ({6}) – Das ist nicht lachhaft. Das ist Teil der Geschichte der Frage, warum die BaFin nicht härter und schneller eingreifen konnte: ({7}) weil wir ihr offenbar nicht die notwendigen Mittel gegeben haben. Wir als SPD, meine Damen und Herren, sagen ganz klar: Jetzt ist es Zeit, dass die BaFin und die Aufsichtsbehörden die notwendigen Zugriffsmöglichkeiten bekommen, damit so was in Zukunft verhindert wird. Herzlichen Dank. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner ist der Kollege Frank Schäffler, FDP-Fraktion. ({0})

Frank Schäffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003834, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Zimmermann, Sie haben damals regiert, Sie haben dieses Gesetz gemacht, und deshalb müssen Sie auch die politische Verantwortung tragen. ({0}) Ihr Bundesfinanzministerium hat die Fach- und die Rechtsaufsicht über die BaFin. Deshalb müssen Sie sich auch zurechnen lassen, was die BaFin gemacht hat. ({1}) Die BaFin hat nichts gesehen, nichts gehört und nichts gesagt. Das ist das, was Sie sich anheften lassen müssen. ({2}) Stattdessen wollen Sie der BaFin immer neue Aufgaben geben. 38 000 Finanzanlagevermittler sollen zum nächsten Jahr unter die BaFin-Aufsicht gestellt werden. Kümmern Sie sich doch erst mal darum, dass die bestehenden Aufgaben der BaFin ausgeführt werden, und zwar richtig ausgeführt werden! ({3}) Es ist nicht so – das werden wir Ihnen noch nachweisen –, dass die BaFin nicht hätte eingreifen können. Ich sage Ihnen: Die BaFin hätte eingreifen müssen. Das zweistufige Verfahren sieht nämlich vor, dass die BaFin bei erheblichem Zweifel an der ordnungsgemäßen Durchführung der Prüfung durch die Prüfstelle hätte eingreifen können. Die ordnungsgemäße Prüfung umfasst nicht nur die Frage, ob die Prüfstelle das selbst leisten kann, sondern ob es auch andere Erkenntnisse gibt, wo sie zum Urteil kommt, dass die Prüfstelle nicht in der Lage ist, ordnungsgemäß zu prüfen. Und genau das war der Fall. Im Februar 2019 war klar, dass das eigentlich keine Aufgabe ist, die eine 25-Mann-Bude tatsächlich bewältigen kann. ({4}) Da muss das scharfe Schwert der BaFin kommen, um den Gerüchten auch tatsächlich nachzukommen und tatsächlich einem Ergebnis zuzuführen. Dass das nicht geschehen ist, müssen Sie sich vorwerfen lassen. ({5}) Wir werden das – das will ich Ihnen versprechen – parlamentarisch untersuchen. Wenn Sie da nicht mitmachen, dann wird dieser Fall nicht nur ein Fall von Herrn Hufeld und von Frau Roegele, sondern dann wird das ein Fall des Finanzministers. Denn er hat die Rechts- und Fachaufsicht über die BaFin. Und wenn er nicht Strukturen schafft, die dafür sorgen, dass man so einen Skandal rechtzeitig bearbeiten und tatsächlich kontrollieren kann, dann ist es auch sein Fall. Deshalb frage ich mich: Wo ist er heute eigentlich? ({6}) 20 Milliarden Euro Börsenkapitalisierung sind durch diesen Betrugsfall vernichtet worden. Börse kann nur funktionieren, wenn es auch tatsächlich Vertrauen gibt: Vertrauen in einen Rechtsstaat, Vertrauen in die Börse, Vertrauen in die Fachaufsicht. Aber wenn beide, die Börse und die Fachaufsicht, nicht richtig funktionieren, dann kann auch der Rechtsstaat nicht richtig funktionieren, und dann gibt es kein Vertrauen von vielen Tausend Anlegern in unsere Börse. Deshalb, glaube ich, ist es aktuell ganz notwendig, dass sich der Finanzminister schnell mit diesem Fall beschäftigt. An die Kollegen von der Union zum Schluss: Ich glaube, Sie müssen verhindern, dass dieses Projekt der Finanzanlagevermittler tatsächlich noch in diesem Jahr realisiert wird. ({7}) Wir müssen erst mal dafür sorgen, dass hier aufgeräumt wird, dass innerhalb der BaFin auch Strukturen überprüft werden. Es muss jeder Stein umgedreht werden, um zu prüfen, ob es vernünftig funktioniert, ob tatsächlich nur abgeheftet wird, ob diese Dinge auch wirklich angegangen werden. Das muss jetzt überprüft werden. Deshalb sind Übertragungen neuer Aufgaben an die BaFin ein völlig falsches Signal. Nicht nur Corona schadet zurzeit den Finanzanlagevermittlern, sondern auch der Finanzminister Olaf Scholz. Vielen Dank.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Schäffler. – Nächster Redner ist der Kollege Fabio De Masi, Fraktion Die Linke. ({0})

Fabio De Masi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004817, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Skandal um Wirecard ist eine Blamage für den Finanzplatz Deutschland. Wirecard galt lange als das Wunderkind der Deutschen Börse, und wir bekommen wieder eine alte Börsenweisheit bestätigt: Gier frisst Hirn. Wir müssen über Betrug sprechen, wir müssen aber auch über Aufsichtsversagen sprechen und, ja, wir müssen auch über Politikversagen sprechen. Keine Sorge: Jeder hier im Raum bekommt noch sein Fett ab. ({0}) Ich möchte hier für meine Fraktion festhalten: Es war meine Fraktion, die die ersten und einzigen Anfragen ({1}) zu einem sehr frühen Zeitpunkt zu den Vorwürfen gegen Wirecard gestellt hat, zwei Kleine Anfragen und zwei schriftliche Fragen. ({2}) – Ja, es gab im Anschluss auch eine Anfrage der FDP ({3}) zum Leerverkaufsverbot und zu den Vorwürfen gegen Journalisten. Ich zitiere mal, was der Kollege Schäffler zum Ergebnis dieser Anfrage gesagt hat. Er sagte, die BaFin habe richtig gehandelt. ({4}) Der Geschäftsführer der Jungen Liberalen hat mich dafür kritisiert, dass ich von „dunklen Kellern“ bei Wirecard sprach. Sprechen wir also über politische Verantwortung: Herr Altmaier stellt sich hierhin und sagt, ein solcher Skandal sei in Deutschland nicht denkbar gewesen. Dann hat er sich wohl noch nicht mit den Problemen der BaFin beschäftigt. Herr Scholz sagt an einem Tag, wo der Präsident der BaFin, Herr Hufeld, Kreide gefressen hat und von einer „Schande für Deutschland“ spricht, die BaFin habe einen harten Job gemacht. Ja, verehrte Damen und Herren, wenn das ein harter Job war, dann will ich nicht wissen, wie der schlechte Job aussieht. ({5}) Die Union will ich nur daran erinnern, dass man sich zum Beispiel in der Bayerischen Staatsregierung dafür auf die Schulter geklopft hat, dass Wirecard umsonst Coronahilfen für sie abgewickelt hat. Herr Gauweiler war sogar der Anwalt von Wirecard im Verfahren gegen die Journalisten der „Financial Times“. Insofern stünde Ihnen allen etwas Demut gut zu Gesicht. ({6}) Kommen wir aber zur Sache. Wirecard hat mutmaßlich ein Schneeballsystem entwickelt, Umsätze fingiert, und es fehlen 1,9 Milliarden Euro oder ein Drittel der Bilanzsumme. Die Commerzbank und die KfW stecken mit 300 Millionen Euro Krediten drin, damit auch der Steuerzahler, und deswegen ist es eine Katastrophe, dass die Finanzaufsicht hier gepennt hat. ({7}) Der Manager Jan Marsalek ist auf der Flucht. Ich möchte Herrn Marsalek übrigens an dieser Stelle ausrichten, dass die Haftbedingungen in Deutschland mutmaßlich erträglicher als in China oder auf den Philippinen sein dürften. ({8}) Meine Fraktion erwartet auch, dass diese Manager mit ihrem privaten Vermögen haften. ({9}) Es gab seit langer Zeit Berichte über Unregelmäßigkeiten und Geldwäsche bei Wirecard; denn Wirecard ist mit der Abwicklung von Zahlungen in der Pornoindustrie und außerhalb Schleswig-Holsteins mit illegalen Onlinewetten groß geworden. Die deutsche Finanzaufsicht hat Anzeige gegen Journalisten der „Financial Times“ gestellt, die kritisch berichtet haben. Der Vorwurf lautete, sie steckten mit Leerverkäufern, also Spekulanten, die auf fallende Kurse wetten, unter einer Decke. Die BaFin ist bis heute den Nachweis schuldig geblieben, dass die Journalisten Spekulanten vorab über ihre Berichte informiert hätten; denn auch Wirecard war über die Berichterstattung informiert. Die Vizepräsidentin der BaFin, Frau Roegele, die für diese Anzeigen in der Wertpapieraufsicht verantwortlich zeichnete, hat auch eine illustre Vergangenheit: Sie war Justiziarin der DekaBank und hat damals entschieden der Bank empfohlen, gegen Steuerbehörden in Deutschland zu klagen, weil sie ihr die kriminellen Cum/Ex-Erträge nicht mehr auszahlen wollten. Das zeigt: Wir haben ein fundamentales Problem, auch in der Finanzaufsicht zu viel Nähe zur Finanzindustrie. ({10}) Meine Fraktion hat der Auftritt von Herrn Hufeld im Ausschuss nicht überzeugt; denn er argumentiert ja so, dass er sagt: Im Prinzip ist Wirecard so was wie Volkswagen. ({11}) Da sind wir zuständig für die Bank, aber wir sind nicht zuständig für den Abgasskandal; denn das betrifft ja die Autos. – Wirecard baut aber keine Autos. Sie haben Technologie, um Finanzdaten abzuschöpfen, und sagen, dass sie mit dieser überragenden Technologie dann Kreditausfallrisiken zum Beispiel besser abschätzen können. Aber sie sind selbst nach Darstellung der BaFin in dieser Leerverkaufsverfügung ein Anbieter von Zahlungsdiensten. Einen Widerspruch konnte Herr Hufeld hier nicht auflösen. Er hat nämlich gesagt, dass man damals nicht in der Lage gewesen sei, sie als Finanzholding einzustufen, damit die BaFin mehr direkte Zugriffsrechte hat, dass er sich jetzt aber darum bemühe. Allerdings gab es seither keine rechtlichen Änderungen. Insofern glauben wir, dass Herr Hufeld nicht geeignet ist, die BaFin neu aufzustellen. ({12}) Wir müssen auch über die Haftung der Wirtschaftsprüfer sprechen; denn sie unterliegen einem fundamentalen Interessenkonflikt. Sie werden von den Unternehmen bezahlt, die sie auch prüfen sollen. Im „Spiegel“ stand, dass der Vorstand von Wirecard gerne in einem Boxstall zu Gast war, mit Zigarren, Whisky, Mädels – das ganze Programm – und den Wirtschaftsprüfern im Schlepptau. Das zeigt: Wir haben noch viel zu tun, und Die Linke wird dies wie in der Vergangenheit angehen. Wir laden Sie gerne dazu ein, mitzumachen. Vielen Dank. ({13})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege De Masi. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hans Michelbach, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für uns gilt der Grundsatz: Alle Finanzmarktteilnehmer müssen darauf vertrauen können, dass sie unter einem funktionierenden Schutz stehen, wenn sie in Firmen investieren, die im regulierten Markt gelistet sind. Das hat im Fall Wirecard nicht funktioniert. Wir haben den größten Fall von Bilanz- und Kapitalanlagebetrug. Das ist ein sehr ernster Vorgang, der dringend aufgeklärt werden muss. Der Fall Wirecard bedeutet einen massiven Vertrauensverlust für den Finanzplatz Deutschland. Er stellt einen Großschaden für Anleger und Banken, eine Blamage für unseren Wirtschaftsstandort dar, er zeigt ein Versagen in der Aufsicht, er wirft massive Fragen zur Qualität von Wirtschaftsprüfung auf. Meine Damen und Herren, ja, es ist geradezu unfassbar, dass sich 1,9 Milliarden Euro einfach so in Luft auflösen, dass sich ein DAX-Konzern quasi über Nacht in fast nichts auflöst. So etwas hat es noch nicht gegeben. Der Vorgang ist so unfassbar, weil es im Vorfeld ja nicht an Warnungen und Berichten über Ungereimtheiten bei Wirecard gefehlt hat – und das über Jahre, meine Damen und Herren! Aber diese Berichte und Warnungen haben weder bei der BaFin noch bei den Wirtschaftsprüfern von Ernst & Young zu den richtigen Entscheidungen geführt. Wir haben ja gemeinsam im Finanzausschuss vor einem Jahr das Thema Wirecard hochgezogen, und da wurde vom Bundesfinanzministerium und von der BaFin nichts gesagt – das muss man einmal feststellen –, obwohl klar war, dass hier etwas im Feuer ist. ({0}) Nur die Sonderprüfung der KPMG förderte ein Milliardenloch zutage, das die Bilanz von Wirecard geradezu pulverisierte. Meine Damen und Herren, das wirft viele, viele Fragen auf, die beantwortet werden müssen. Ja, das erwarten wir zum 15. Juli vom Bundesfinanzminister und keine Flucht in die rot-grüne Vergangenheit. Wir müssen klar und deutlich jetzt und heute die Nachlässigkeiten, die Fehleinschätzungen und Missstände aufklären. Das ist das Mindeste, was die Öffentlichkeit erwarten darf, und wir als Parlament sind dafür verantwortlich und zuständig. ({1}) Der Fall Wirecard braucht eine klare Prüfung und Antworten, keine Ausreden. Ich erwarte vom Bundesfinanzminister zügig Aufklärung der vielen noch offenen Fragen: Warum wurde Wirecard nicht im Ganzen als Finanzholding geprüft, sondern nur die ganz vorne einfach vorgestellte Wirecard Bank? Warum wurden Kritiker und sogar Journalisten von der BaFin durch Anzeigen bedroht? Warum hat die BaFin mit einem Leerverkaufsverbot das falsche Signal an den Finanzmarkt gesendet, bei Wirecard sei alles in Ordnung? Warum wurde die Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung beauftragt, die überhaupt nicht auf die Prüfung von Bilanzbetrug ausgerichtet ist? Man schiebt denen jetzt eine Schuld hin. Bilanzbetrug ist aber gar nicht deren Feld. Warum wurde nicht erkannt, dass die Bilanzrelationen nicht stimmen können? Das hätte man aus der heutigen Sicht eigentlich klar erkennen müssen. Und ich erwarte vom Bundesfinanzminister auch Vorschläge für eine stärkere Konzentration der Aufsicht auf die systemrelevanten Fälle ({2}) statt einer Ausweitung der Prüfung auf jeden kleinen Finanzanlagenvermittler, meine Damen und Herren. ({3}) Letzteres macht die IHK zufriedenstellend. Dieses Gesetz – und ich appelliere noch mal an den Koalitionspartner und an den Bundesfinanzminister – gehört jetzt einfach zurückgezogen und sollte nicht weiter vorangetrieben werden. ({4}) Das geht nicht. Man hat gesehen, dass es hier andere, wichtigere Aufgaben gibt. ({5}) Meine Damen und Herren, wir müssen zügig alles tun, um die Wiederholung eines Falles Wirecard zu verhindern. Die BaFin benötigt eine schlagkräftige Taskforce und selbst eine gründliche Prüfung. Um Prüfungen vornehmen zu können, müssen wir auch die Unabhängigkeit des Abschlussprüfers stärken. Nicht zuletzt muss die zehnjährliche Rotation bei den großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften überprüft werden. Der Rotationszeitraum muss deutlich verkürzt werden, um einer zu großen Nähe zwischen Prüfern und Geprüften vorzubeugen. Und abschließend: Wir brauchen eine klare Trennung zwischen Prüfung und Beratung. ({6}) Wir müssen also zügig nachrüsten, um das Vertrauen in den Finanzstandort Deutschland wiederherzustellen. Anleger müssen sicher sein, dass Finanzprodukte in Deutschland seriös und vertrauenswürdig sind. Das ist die Aufgabe, die wir haben – eine schwierige Aufgabe nach diesem Desaster. Vielen Dank. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Michelbach. – Nächster Redner ist der Kollege Stefan Keuter, AfD-Fraktion. ({0})

Stefan Keuter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004778, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Wir reden heute über den Fall Wirecard. Das Unternehmen ist insolvent, und es ist ein gigantischer Schaden für den Finanzplatz Deutschland entstanden, für die Anleger, sowohl die privaten als auch die institutionellen – gerade die institutionellen, die zum Teil unsere Altersvorsorge anlegen, sind hier gewaltig in Mitleidenschaft gezogen worden –, aber auch für die Kunden und Kooperationspartner der Wirecard AG. Ein DAX-Unternehmen mit Banklizenz geht pleite. Wie kann das passieren? Lassen Sie uns einmal eine Bestandsaufnahme machen. Bereits im letzten Jahr wurde die KPMG-Wirtschaftsprüfungsgesellschaft mit einer Teilprüfung von Unternehmenszahlen aus dem Jahr 2018 beauftragt. Das verlief ohne Erfolg. Die Wirtschaftsprüfer von Ernst & Young haben am 18. Juni 2020, also dieses Jahr, das Testat verweigert, weil Guthaben von 1,9 Milliarden Euro – wir lassen uns das einmal auf der Zunge zergehen: das sind 1 900 Millionen Euro – nicht auffindbar waren. Sie waren wahrscheinlich nicht existent oder sind weggekommen; ganz sicher sind wir uns da nicht. ({0}) Am 22. Juni dieses Jahres hat dann das Management von Wirecard eine Stellungnahme abgegeben und hat behauptet, mit überwiegender Wahrscheinlichkeit seien diese Gelder überhaupt nicht existent. Die Folge war der Insolvenzantrag, der dann schnell nachgeschoben wurde – wegen drohender Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung. Ja, was nun: drohende Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung? Beides schwer vorstellbar. Die Probleme müssen aber deutlich tiefer liegen. Denn wenn ein so großes Unternehmen in wirtschaftliche Schieflage gerät, dann kann man eine Kapitalerhöhung machen, dann können Gläubiger im Rang zurücktreten. Es gibt hier viele Möglichkeiten der Intervention, etwa die Stützung durch Banken. Das alles ist offensichtlich nicht gewollt. Also müssen die Probleme hier sehr, sehr tief liegen. Die Staatssekretärin Ryglewski gibt sich die Ehre, heute anwesend zu sein, ganz im Gegensatz zu unserem Bundesfinanzminister, den ich hier eigentlich erwarte. Vizekanzler Olaf Scholz – wir haben den größten Bilanzskandal und DAX-Skandal in der deutschen Nachkriegsgeschichte – hält es nicht für nötig, sich auf die Regierungsbank zu setzen. Das ist eine Riesenkatastrophe. Er war sonst auch in Sachen Wirecard relativ schmallippig, genauso wie die Staatssekretärin Ryglewski. Sie jedenfalls hat noch stockend in einer Erklärung behauptet, kritische Fragen müssten jetzt an die Wirtschaftsprüfer und die Aufsichtsbehörden gestellt werden. ({1}) Damit hat sie aber recht. Etwas substanziierter hat sich hier der Präsident der BaFin geäußert, der Felix Hufeld. Er sagte: Bereits Anfang 2019 gab es Infos von Whistleblowern, dass es ganz gigantische Probleme bei Wirecard gibt. Wir sprachen gerade eben über das schärfste Schwert; Herr Schäffler, Sie hatten das Wort in den Mund genommen. Ich musste eben bei Ihrer Rede schmunzeln, weil genau das der Felix Hufeld sagte. Er sagte, man hätte bereits als BaFin das schärfste Schwert geschwungen und der Deutschen Prüfstelle für Rechnungslegung, der DPR e. V., einem eingetragenen Verein, eine Aufforderung erteilt, sich doch mal Wirecard näher anzugucken. Das hat man auch getan. Da saß ein Prüfer dran. Als Anmerkung: Die Prüfdauer bei der DPR beträgt derzeit im Schnitt 13,1 Monate. Gut, die BaFin war das Problem erst mal los. Aber das eigentliche Problem ist dieses zweistufige Prüfsystem. Erst prüft die DPR, und dann erst hat die BaFin eine Zugriffsmöglichkeit. Wir können also hier von einem Versagen der DPR sprechen. ({2}) Das hat der Felix Hufeld auch bestätigt, dass er mit diesem Zustand nicht glücklich ist. An dieser Stelle kann ich an die Adresse der BaFin sagen: Wir sind damit auch überhaupt nicht glücklich. Die BaFin hat kein Ersatzvornahmerecht; das ist richtig. Aber die Tochter der Wirecard AG, die Wirecard Bank AG, liegt sehr wohl im Verantwortungsbereich der BaFin. ({3}) Die hätte man prüfen können. Aber ich habe das Gefühl, dass hier der Spruch gilt: Stumpf ist Trumpf. Wir machen stumpf unsere Prüfung der Bank, gucken nicht nach links, gucken nicht nach rechts, gucken uns gar nicht die Konzernverflechtungen an. Da schickt man erst mal die DPR hin. Das Hauptproblem aus meiner Sicht ist, dass man hier eine Einstufung als Technologieholding und nicht als Finanzholding hatte. Bei einer Finanzholding hätte die BaFin, auch ohne hier ein bisschen umsichtiger zu sein, auf die Machenschaften schon viel früher stoßen können. Der Präsident der BaFin sagte auch noch: Mit dem Wissen von heute könnte man durchaus eine Einstufung als Finanzholding rechtfertigen. Dann hätte man auch eine direkte Prüfmöglichkeit nach § 44 Kreditwesengesetz. – Das ist richtig. Aber hier erwarte ich von unserer obersten Bankenaufsichtsbehörde, dass sie ein bisschen über den Tellerrand hinausschaut, dass sie nach links schaut, dass sie nach rechts schaut und solche Skandale gerade im größten deutschen Leitindex, dem DAX, verhindert. In einem krisenhaften Umfeld ist ein zweistufiges Verfahren nicht optimal. Da stimme ich der BaFin zu. Natürlich kannten wir Berichte. Natürlich gab es Hinweise, nicht zuletzt von dem FT-Blogger Dan McCrum.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.

Stefan Keuter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004778, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ja. Herr Präsident, Sie sagten eben, dass Sie heute ein bisschen großzügiger sind. ({0}) Ich sehe trotzdem zu, dass ich zum Ende komme. Wer sind die Schuldigen? Die Schuldigen sind die Wirtschaftsprüfer. Die Schuldigen sind bei der DPR zu suchen, bei der BaFin, nicht zuletzt aber auch beim Bundesfinanzministerium und bei der Bundesregierung.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege!

Stefan Keuter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004778, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Wir haben es hier mit einem großen Sumpf zu tun; den müssen wir austrocknen. ({0}) Ich werde mich dafür einsetzen, dass wir einen Untersuchungsausschuss bekommen. Dann werden wir gucken, wer alles Verantwortung hierfür trägt. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Cansel Kiziltepe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004328, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das Glas ist so halb gefüllt.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Nein, Frau Kollegin, es ist ein neues Glas hingestellt worden. Es handelt sich um reines Wasser.

Cansel Kiziltepe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004328, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Unternehmen Wirecard ist das System Trump im deutschen DAX. Statt der Selbstkritik scheint dieses Unternehmen nur eins zu kennen: nämlich die Diffamierung des Gegners. Hier versuchte ein Unternehmen nicht, den Geist des Silicon Valley zu verkörpern, sondern die Scheinwelt der Prahler und Protzer. Diese Parallelwelt können und werden wir nicht dulden. ({0}) Der Umgang mit Kritik zeigt dies deutlich: Statt sie mit Fakten zu entkräften, scheint Wirecard nur Klagen und Unterstellungen als Antwort zu kennen. Diese Form von Kultur, sei es in der Politik oder in der Wirtschaft, darf in diesem Land keinen Platz haben; denn sie ist Ausdruck eines korrupten Systems, das wir nicht hinnehmen werden, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Die Aktienmarktanalysten hierzulande waren offenbar betrunken vom scheinbaren Erfolg eines deutschen Start-ups. In ihrem Rausch haben sie selber auch keine kritischen Fragen mehr gestellt und lieber gegen Journalisten aus London gepöbelt. Auch wenn wir vorsichtig sein müssen, seien wir doch ehrlich: Es waren investigative Journalisten, die viele Finanzskandale in den vergangenen Jahren aufgedeckt haben. Die Vorstellung, dass etwas über jede Kritik erhaben ist, nur weil es aus Deutschland kommt, hat in der Geschichte schon viel Leid ausgelöst. Und wir mussten wieder lernen, dass dieser nationale Stolz viel zu viele Menschen blind macht. Wirecard ist aber auch eine andere Lektion für uns, eine Lektion, die wir in den letzten Jahren nicht zum ersten Mal beobachten müssen: Dass immer wieder Betrüger am Werke sind, werden wir wohl nicht aufhalten können. Aber Wirecard zeigt uns, dass Vertrauen in die Selbstverwaltung ohne Aufsicht nicht ausreicht, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Ja, das reicht nicht aus. Wir müssen kontrollieren, und das im Zweifelsfall auch mehrfach. Denn es kann tatsächlich nicht sein, dass ein Betrug in diesem Ausmaß möglich ist und gleichzeitig alle von sich behaupten, ihre Aufgaben pflichtgemäß erfüllt zu haben. Ich frage Sie: Wie kann es sein, dass ein Viertel der Bilanz aus der Luft gegriffen ist, ({3}) obwohl eine der größten Wirtschaftsprüfungskanzleien dem Unternehmen jahrelang saubere Bücher bescheinigt hat? Wie kann das sein? Das System ist doch kaputt, wenn Wirtschaftsprüfer keine Kontoauszüge ihrer Kunden sehen wollen. Hier ist auch Wirtschaftsminister Altmaier gefragt. ({4}) Wo ist Herr Altmaier eigentlich? – Auch nicht da. Dem Wirtschaftsminister Altmaier obliegt nämlich die Aufsicht über die Wirtschaftsprüfer. Herr Altmaier muss uns erklären, wer für den Schaden durch die Wirtschaftsprüfer haftet, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({5}) Der Betrug bei Wirecard ist der größte Bilanzbetrug in Europa. Es ist aber nicht der erste Fall. Die Skandale in der Vergangenheit haben dazu geführt, dass die sogenannte Bilanzpolizei gegründet wurde, ein von Wirtschaftsverbänden getragener privatrechtlicher Verein. Genau dieses System hat in diesem Fall versagt. Was zeigt uns das? Es zeigt uns: Es gibt keine Selbstkontrolle der Wirtschaft. Diese Aufgabe muss vom Staat ausgeführt werden. Deshalb werden wir als SPD-Fraktion die Kontrollen straffen und die Aufsicht verbessern. ({6}) Und versetzen Sie sich mal in die Lage der Tausenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die jeden Tag ihre Lebensenergie Wirecard gewidmet haben. Diese Menschen mussten entdecken, dass sie ihre Zeit in den Erhalt einer Lüge investiert haben – mehr Schein als Sein –, eine Lüge, die dem Ego des Vorstandes und einiger testosterongeladener Menschen in der Finanzwelt diente. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Fall Wirecard zeigt uns auch, dass wir keine Aktienkultur als Leitkultur brauchen, nicht nur, weil die Idee der Leitkultur falsch ist, sondern auch, weil das Finanzsystem uns nur dienen kann, wenn wir ihm Ketten anlegen. Und ich sage Ihnen: Diese Ketten müssen verdammt schwer sein. Vielen Dank. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Lisa Paus, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wirecard ist wirklich ein beispielloser Bilanzskandal in Deutschland. Millionen von Anlegern sind betroffen. Da Wirecard ein DAX-Konzern ist, ist jeder Anleger mit einem Indexfonds dabei. Es ist ein massiver Schaden für den Finanzplatz Deutschland. Denn was 2018 mal so symbolträchtig zelebriert wurde – der „Spiegel“ titelte damals: Börsenstar Wirecard – Fintech-Unternehmen verdrängt Commerzbank aus dem DAX –, das zerplatzte eben nach nur zwei Jahren und entpuppte sich als riesige Seifenblase. Von den damals 200 Euro pro Aktie sind heute noch 3 Euro übrig, meine Damen und Herren. Und die verheerende Botschaft an die Welt aus Deutschland von heute lautet: In Deutschland kann ein Unternehmen mit einer Bilanz, die offenbar seit Jahren Luftbuchungen in Höhe von einem Drittel der Bilanz enthält, zu einem DAX-Konzern aufsteigen. Das kann nicht sein, meine Damen und Herren! Das ist ein Riesenskandal. ({0}) Angesichts dessen gab es zwar eine kurze Irritation; aber dann war die Flucht nach vorn von Finanzminister Scholz und Präsident Hufeld auch wirklich die einzige Möglichkeit. Denn Kleinreden ist bei dieser Angelegenheit wirklich überhaupt keine Option. Starke Worte alleine reichen aber eben auch nicht. Der Skandal muss konsequent und lückenlos aufgeklärt werden. Die Sitzung des Finanzausschusses gestern war dazu nur ein Auftakt, meine Damen und Herren, da noch ganz viel aufgeklärt werden muss. Aber zwei Dinge sind heute schon klar: Erstens. Es gibt massive Lücken und Schwächen im Aufsichtsregime für den digitalen Finanzmarkt und für Mischkonzerne, und dabei geht es im Kern nicht nur um die richtige Einordnung, also: War die Wirecard AG jetzt doch eine Finanzholding oder nur eine Technologieholding? Nur das Verschwinden von 1,9 Milliarden Euro machen einen Technologiekonzern noch nicht zu einer Finanzholding. Wir brauchen eine Anpassung der Regulierung für Bank-Tech-Mischkonzerne. Anders wird auch der massive Vertrauensverlust der Anlegerinnen und Anleger nicht zurückzugewinnen sein, meine Damen und Herren. ({1}) Zweitens ist auch heute schon klar, dass sich im Fall Wirecard mindestens zwei seit der Finanzkrise – also seit über zehn Jahren – bekannte große Problemfelder in Deutschland einfach potenziert haben, zu deren Lösung es seitdem auch bereits klare Vorschläge gibt, die aber von dieser Koalition seit Jahren blockiert werden. Das ist zum einen das Thema Wirtschaftsprüfung ({2}) und zum anderen das Thema BaFin. Zu den Wirtschaftsprüfungen. Seit elf Jahren hat mit EY eine der Big Four Wirecard geprüft, jahrelang testiert und nichts gemerkt. Offensichtlich sind ihnen die Luftbuchungen nicht aufgefallen, trotz Hinweisen seit Jahren. Das ist aber kein Einzelversagen; das hat eben leider Methode. Wenn die Prüfgesellschaft nur maximal 4 Millionen Euro Haftung befürchten muss, ({3}) wenn Unternehmen ihre Prüfer auswählen und 20 Jahre lang beauftragen oder eben auch kurzfristig kündigen können, wenn Prüfgesellschaften zugleich Beratergesellschaften sind, dann kommt eben am Ende Wirecard dabei raus, meine Damen und Herren. ({4}) Deswegen: Wir brauchen unabhängige Prüfer, wir brauchen die vollständige Trennung von Prüfung und Beratung, und wir brauchen auch eine stärkere Haftung von Wirtschaftsprüfern. Nach zehn Jahren Blockade der Koalition, Verwässerung auf europäischer Ebene, laxer Umsetzung in Deutschland finde ich: Das muss aufhören. Hier hat insbesondere Wirtschaftsminister Altmaier tatsächlich endlich zu liefern. Im Übrigen stimmt es: Eine nachgelagerte Bundesbehörde von ihm hat auch die Fachaufsicht, und von ihm ist da bisher überhaupt nichts zu hören. Zum Zweiten kommen wir tatsächlich auch noch einmal zum Thema BaFin. Ja, Wirecard ist ein besonders krasser Fall von Aufsichtsversagen. Aber er ist eben bei Weitem nicht der einzige. Er reiht sich vielmehr ein in eine lange, lange Liste. Mein Kollege Sven Giegold aus dem Europäischen Parlament sammelt seit nunmehr 48 Stunden Finanzskandale, die seit der Finanzkrise in Deutschland bekannt geworden sind, bei der die BaFin aber vorher nichts entdeckt hat. Wenn Ihnen noch welche bekannt sind, schicken Sie es bitte an uns oder an Sven Giegold direkt. Bereits jetzt, innerhalb von 48 Stunden, ist bei ihm eine Liste von 53 unterschiedlichen Fällen aufgelaufen, unter anderem auch die, die wir alle vielleicht noch kennen, zum Beispiel die Hypo Real Estate direkt im Zusammenhang mit der Finanzkrise. Damals hatte eben die BaFin die hochriskanten Geschäfte der Hypo Real Estate in Irland schlicht übersehen. Aber auch 2018 gab es zum Beispiel einen Finanzskandal beim Containeranbieter P&R. P&R hatte jahrelang Anlegern Container verkauft, die es gar nicht gab. Die BaFin hat davon nichts gemerkt. Und auch bei den inzwischen breitbekannten kriminellen Cum/Ex-Geschäften, die die Steuerzahler Milliarden gekostet haben, ist die BaFin nie aktiv geworden, obwohl sie den Wertpapierhandel beaufsichtigt.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Paus, kommen Sie zum Schluss.

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die BaFin nutzt ihre derzeitigen Kompetenzen nicht aus. Im Moment läuft es eben eher nach Vorschrift ins Desaster. Stattdessen brauchen wir einen Neustart der BaFin. Wir brauchen einen agilen Finanzwächter mit kriminalistischem Gespür. Deswegen in der Summe: Wir werden Sie jetzt tatsächlich daran messen, was Sie tun.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss, bitte.

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Erstens schonungslose Aufklärung, zweitens Regulierungslöcher stopfen und Novelle bei den Wirtschaftsprüfern sowie drittens ein echter Neustart bei der BaFin, meine Damen und Herren. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank Frau Kollegin. – Nächster Redner ist der Kollege Sepp Müller, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Sepp Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004832, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wirecard mausert sich langsam zum größten Finanzskandal in der Geschichte der Bundesrepublik. Was ist passiert? Vor 20 Jahren startete der Zahlungsdienstleister und wurde mittlerweile eines der größten Technologieunternehmen in Deutschland. Die Devise lautete: höher, weiter, schneller. Letzteres hat wahrscheinlich dazu geführt, dass zumindest augenscheinlich Tricksereien stattgefunden haben. Diese Tricksereien fanden in den Büchern von Wirecard statt. Wie ein süchtiger Kartenspieler hat Wirecard mit gezinkten Karten gespielt. Mit dem rasanten Wachstum expandierte das Unternehmen nach Asien. Aus Asien hören wir mittlerweile Meldungen, dass 1,9 Milliarden Euro fehlen, rund ein Drittel der Bilanzsumme. Warum ist das so schwierig? Stellen Sie sich vor, Sie bauen ein Haus und Sie wollen einziehen. Bei der Bauabnahme haben Ihnen die Bauingenieure gesagt: Alles ist gut. – Beim ersten Regen stellen Sie auf einmal fest, dass das Dach fehlt. Das ist umso erstaunlicher, weil am Planungstisch, hier bei Wirecard am Kartenspielertisch, auch noch viele andere Beteiligte saßen. Die anderen Beteiligten nahmen nämlich die Aussagen anscheinend für bare Münze: Wirtschaftsprüfer, Rate-Agenturen – Pardon, ich meine Ratingagenturen –, ({0}) unsere Finanzaufsicht und die Behörden vor Ort. Ich möchte an dieser Stelle aber ausdrücklich vor voreiligen Schlüssen und Beschuldigungen, ganz gleich in welche Richtung, warnen. Der Präsident der BaFin, unserer Aufsicht, hat gestern im Ausschuss klare Kante gezeigt und die Flucht nach vorne ergriffen. ({1}) Dennoch sind nicht alle Fragen an das BMF beantwortet worden. Nun stellen wir fest, dass die einen, die Linken, heute im „Spiegel“ seinen Rücktritt fordern. Ich hätte mich gefreut, wenn die Linken damals so konsequent gewesen wären bei Gregor Gysi, der als Parteivorsitzender der SED-PDS viel Geld in ein anderes Land gebracht hat, wobei immer noch nicht feststeht, wo das Geld ist. Wenn man da so konsequent gewesen wäre, dann wäre das richtig gewesen. ({2}) Auf der anderen Seite in diesem Haus ist wieder das „U“; da hören wir, dass ein Untersuchungsausschuss gefordert wird. Ich würde mich freuen, liebe AfD, wenn ihr überhaupt im Ausschuss anwesend wärt. Denn als Herr Hufeld befragt wurde, stand Ihr Finanzer vorne vor der Presse und gab die ersten Statements ab. Das kann gar nicht funktionieren. Also: Man muss nicht nach einem Untersuchungsausschuss rufen. Macht lieber eure Arbeit im Finanzausschuss! ({3}) Derzeit kratzen wir noch an der Oberfläche und sehen möglicherweise nur die Spitze des Eisberges. Daher sprechen wir uns als Unionsfraktion für die vollständige Aufklärung des Bilanzskandals aus: zuerst Transparenz, dann Konsequenz. ({4}) Transparenz und Konsequenz müssen hierbei die Leitmotive sein. Hier erwarte ich auch vom Bundesfinanzminister Verantwortungsübernahme. Ein einzelner Bilanzprüfer darf nicht zum Bauernopfer werden. Wir müssen uns über die zukünftige Aufstellung – das haben die Vorredner bereits gesagt – der BaFin unterhalten. Deswegen ist es ja interessant, dass gerade die Grünen diese Aktuelle Stunde beantragt haben. Ich erinnere nur daran, dass es gerade die Grünen sind, die fordern, dass mehr als 30 000 kleine Anlagevermittler von der BaFin überwacht werden sollen. Da frage ich mich schon, wie das zukünftig funktionieren soll, wenn unsere Aufsicht es nachweislich nicht geschafft hat, ein Technologieunternehmen zu beaufsichtigen. Im Fokus der Aufklärung sollten neben der BaFin gleichermaßen die Wirtschaftsprüfer sowie das Finanzministerium stehen. ({5}) Wirecard muss sich blank machen. Die Konzernstrukturen sowie die komplexen, weltweiten Beziehungen zu Partnerunternehmen müssen entworren und auseinanderdividiert werden. Wie konnte es so weit kommen, dass bei Wirecard 1,9 Milliarden Euro verschwinden? Sind sie Betrüger oder Opfer? Wir werden es herausfinden. Es gilt: zuerst Transparenz und dann Konsequenz. Wir brauchen eine starke Aufsicht. Damit diese besser funktioniert, müssen wir für unmissverständliche Regelungen sorgen, unter welchen Bedingungen ein Unternehmen unter die Aufsicht der BaFin fällt. ({6}) Mit Blick auf Entwicklungen am Markt wird schnell klar, dass zunehmend Fintechs in den Markt der Zahlungsdienstleister drängen. Die BaFin hatte ursprünglich die Banken, die Volksbanken und Sparkassen im Fokus, aber diese Fintechs nicht. Da müssen wir ansetzen. Es zeigt sich, dass zunehmend Synergien zwischen großen Playern wie Amazon und ING-DiBa entstehen, die jetzt bekundet haben, dass sie zusammenarbeiten wollen, um in den Markt der Banken zu drängen. Da muss unsere Aufsicht ansetzen. ({7}) Um aus den Fehlern des Falles Wirecard Lehren zu ziehen, muss der Aufsichtsrahmen den geschilderten Entwicklungen gerecht werden. Deswegen gelingt die Wahrung eines stabilen und vertrauenswürdigen Finanzplatzes nur dann, wenn wir Transparenz in den Fall bringen und dann konsequent handeln. Dafür stehen wir als Union. ({8})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner in dieser Debatte ist für die Fraktion der SPD der Kollege Lothar Binding. ({0})

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Vielleicht nur zwei Bemerkungen. Olaf Scholz ist im Moment beim Kommissionkollegium zur Vorbereitung der Ratspräsidentschaft und kann deshalb nicht hier sein. Ich glaube, dafür müssen wir hinsichtlich der übergeordneten Aufgabe Verständnis haben. ({0}) Zum Vorwurf der mangelnden Informationspolitik gestern. Wir hatten explizit verabredet, dass das BMF unsere Fragen schriftlich beantwortet, damit wir mehr Zeit für die Befragung von Hufeld haben. Deshalb sollten wir das heute nicht zum Vorwurf machen; das finde ich nicht ganz fair. ({1}) Wer hätte sich vor zwei Wochen vorstellen können, dass wir heute über einen solchen Betrug diskutieren! Ich hätte es mir nicht vorstellen können. Auch wenn ich alle Reden heute zusammennehme, muss ich sagen: Wir wissen alle nur: Es war komplex, es ist undurchdringlich, und es ist Bilanzmanipulation. Mehr wissen wir heute nicht. Also: Irgendwie ist der Gegenstand dieser Aktuellen Stunde noch nicht so richtig greifbar; aber wir tun immer alle so, als ob wir schon über alles richtig reden können. Wir wissen, dass eine der Big Four, EY, jahrelang Abschlüsse testiert hat, bei denen sich dann herausgestellt hat – ja, was hat sich eigentlich herausgestellt? Die haben nicht mal „Hier!“ geschrien, als sie von Whistleblowern und von der „Financial Times“ Hinweise bekommen haben, dass da was sein könnte, sondern die haben abgewartet. Dann wurde interessanterweise die KPMG von der Wirecard AG beauftragt, sie zu prüfen, weil sie sich reinwaschen wollten, und das ist schiefgegangen. Aber wenn die sich getraut haben, die KPMG zu beauftragen, denke ich mir: Da muss was dahinterstecken; denn die dachten ja, sie könnten sich reinwaschen. Das ist merkwürdig. Aber immerhin: EY hat nicht gezuckt. Na gut: Ihre Haftungssumme beläuft sich nur auf 4 Millionen Euro. Hans, du hast gesagt, die Wechselgeschwindigkeit sei mit zehn Jahren zu gering. Das stimmt. Wir wissen auch, dass die Prüfung und die Beratung zu trennen sind. Es gibt eine ganze Reihe von Sachen, die wir da angehen müssen. Also: Die Wirecard AG hat jedenfalls die Hinweise der „Financial Times“ offensichtlich ernster genommen als andere. Jetzt muss man auch die Feststellung treffen: Die Selbstreinigungskräfte der Wirtschaft haben nicht funktioniert. Das kann man sagen; das ist wirklich ein Desaster. Und dann frage ich mich, wer das eigentlich alles bezahlt. Wer ist eigentlich daran beteiligt? Sind das jetzt Laien, oder sind das Fachleute? Wer ist eigentlich in diesem ganzen Konglomerat beteiligt? Schauen wir mal auf die Aktionärsstruktur. Die Goldman Sachs Group hält 16 Prozent. Die kümmert sich ja auch darum, wo sie ihre 16 Prozent platziert, oder? Morgan Stanley, Société Générale, BlackRock, DWS Deutschland – die alle haben ihr Geld da investiert. Das sind ja Fachleute. Ich bin Laie; ich hätte es nicht gemerkt, wenn ich da eine Aktie gekauft hätte; aber das sind Fachleute. Dann: Die Commerzbank hat da einige Millionen reingegeben. Auch die Deutsche Bank, die LBBW, die österreichische Raiffeisen Bankengruppe geben Millionen in dieses Konglomerat, und keiner merkt was. Ist das nicht aberwitzig? Aber ich soll es merken, ich als Politiker, der hier sitzt? Ich kann nur sagen: Ich merke es nicht. ({2}) Ich meine aber auch: Wenn die Deutsche Börse ein Unternehmen in den DAX holt – die CoBa wurde damals verdrängt –, guckt man da nicht genauer hin? Also, von mir kann man es nicht erwarten, vielleicht von keinem hier; ich weiß es nicht. Aber die Börse kann doch merken, ob da was nicht stimmt, wenn ein Drittel der Bilanz – da brennt die Hütte – irgendwie nicht nachvollziehbar ist. Da hätte ich gedacht, dass sich jemand wundert. Auch die ESMA mit dem grenzüberschreitenden Blick – das ist ja ein bisschen das Problem: die Reichweite der BaFin mit entsprechender Jurisdiktion reicht ja nur bis zur deutschen Grenze – hätte vielleicht merken können, dass da mehr ist, als wir hier sehen. Übrigens gab es nicht nur Kritik der „Financial Times“. Es gab auch Kritik der SdK, der Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger. Da gibt es eine interessante Sache. Jeder weiß ja: Wenn einer einen Leerverkauf macht, also Short-Selling betreibt, dann hofft er, dass die Aktie fällt. Wenn diese Schutzgemeinschaft jetzt Kritik an einem Unternehmen übt, im Zuge dieser Kritik die Aktie fällt, gleichzeitig im Vorstand dieser Schutzgemeinschaft einer ist, der Short-Selling betreibt, dann redet er das Unternehmen schlecht, damit er selber mit Short-Selling Gewinne macht. Also, das ist eine super Kritik einer Schutzgemeinschaft. Da merkt man, wie dubios das ist. Ausschließen, dass nicht auch ein Journalist Vorteile vom Short-Selling haben kann, wenn er ein Unternehmen schlechtschreibt, kann man nicht. Ich unterstelle gar nichts – wieso sollte ich? –, aber ausschließen kann man es jedenfalls nicht. ({3}) Das gilt es zu prüfen. Ich will vielleicht noch mal kurz auf etwas anderes zurückkommen. Frank, du hast, offen gestanden, dem Jens Zimmermann nichts entgegenzusetzen gehabt; das muss man sagen. ({4}) Wir haben einen Diebstahl, und du beschimpfst die Polizei. Ich finde: Diese Trittbrettfahrernummer, zu sagen, dass, weil die BaFin in diesem Konglomerat aller Beteiligten möglicherweise nicht alle Zugriffsrechte hatte, man deshalb ja die Finanzanlagenberater nicht einfach unter Generalverdacht stellen könne, das ist ein bisschen billig. Da, glaube ich, muss man genauer nachschauen. ({5}) Ich glaube, diese unklare Lage dazu auszunutzen, ist schwierig. Was die BaFin insgesamt betrifft, wäre noch nachzuweisen, ob der Fehler nicht bei uns liegt; denn die Kompetenzbeschränkung der BaFin ist für mich eine Ursache dafür, dass wir nicht rechtzeitig alles entdeckt haben. Schönen Dank. ({6})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Das letzte Wort in dieser Aktuellen Stunde hat nunmehr der Kollege Fritz Güntzler für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Fritz Güntzler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004285, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Enron, FlowTex, Comroad, jetzt Wirecard – alles Bilanzskandale, die den Deutschen Bundestag und die Öffentlichkeit beschäftigt haben. Aber die Besonderheit dieses Falles ist, dass es zum ersten Mal ein DAX-Unternehmen im sogenannten Premiumsegment der Deutschen Börse betrifft. Ein solcher Fall ist für mich – Lothar Binding hat es eben auch schon gesagt – eigentlich unvorstellbar. Es handelt sich um ein Unternehmen mit 6 000 Mitarbeitern an 26 Standorten, ein vermeintliches Vorzeigetechnologieunternehmen mit Sitz in Deutschland. Wir waren alle ein wenig stolz, ein solches Unternehmen vorweisen zu können. Aber wir sehen, was daraus geworden ist: Im September 2018 ist es in den DAX aufgenommen worden – und nun diese Situation, die dazu führt, dass das Vertrauen in die Kapitalmärkte schwerstens erschüttert ist. Von daher – das haben, glaube ich, alle Redner hier in der Aktuellen Stunde heute herausgestellt – brauchen wir eine lückenlose Aufklärung der Sachverhalte, die dazu geführt haben, dass es zu dieser Insolvenz und zu den Verlusten bei den Anlegern gekommen ist. Ich bin da beim Kollegen Binding: Wir stehen da ganz am Anfang. Der Titel der Aktuellen Stunde heißt: „Versagen von Aufsicht und Wirtschaftsprüfung aufklären“. Da ist ja schon eine Unterstellung enthalten. Dass das nicht toll ist, was da ans Tageslicht gekommen ist, ist klar. Aber was dazu geführt hat, müssen und können wir erst dann analysieren, wenn wir genau wissen, was los ist. ({0}) Derzeit wissen wir ja gar nicht, wo die 1,9 Milliarden Euro sind, ob die überhaupt existiert haben. Ist nicht vielleicht sogar Wirecard der Betrogene? Ich glaube das eher nicht, aber theoretisch denkbar wäre eine solche Konstellation auch. Von daher sollten wir die sorgfältige Aufklärung abwarten. Diese sollte möglichst zügig erfolgen. Da erwarte ich von der Bundesregierung in Gänze, aber insbesondere vom BMF, dass dies zügig geschieht. Ansonsten haben wir parlamentarische Mittel – ein paar sind hier heute schon genannt worden –, die wir nutzen könnten, um dann weiter voranzugehen. Eines kommt mir in der Debatte eigentlich zu kurz: Wir reden viel über die Polizei, die den Einbrecher nicht gefangen hat, aber nicht über denjenigen, der den Einbruch vorgenommen hat. ({1}) Die Verantwortung für das Unternehmen, dafür dass es keine Unterschlagung und kein Fraud in den Unternehmen gibt, ({2}) tragen zunächst die Organe der Gesellschaft. Das ist hier der Vorstand, aber insbesondere auch der Aufsichtsrat. Über den Aufsichtsrat der Wirecard ist bis jetzt kaum gesprochen worden. Es gibt ja den Deutschen Corporate Governance Kodex, an den sich jede deutsche Aktiengesellschaft zu halten hat. Da sind Dinge aufgeführt, die bei Wirecard alle nicht gemacht worden sind. Abschluss vorlegen nach 90 Tagen: nie erfüllt worden. Die hatten bis vor fünf Jahren einen Aufsichtsrat mit drei Mitgliedern. Die hatten keinen Prüfungsausschuss. Jetzt haben sie fünf Mitglieder im Aufsichtsrat. Ein Unternehmen dieser Größenordnung mit fünf Aufsichtsräten alleine zu überwachen, halte ich für sehr schwierig. Von daher hätte man vielleicht schon viel früher auch bei diesen Punkten hinsehen sollen. Ein Punkt ist auch, dass man selbstkritisch guckt, ob man alles richtig gemacht hat. Über das zweistufige Prüfverfahren der BaFin ist ja gesprochen worden. Ich bin da ganz beim Kollegen Schäffler: Ich finde, die BaFin macht sich da einen ziemlich schlanken Fuß, einfach zu sagen: Wir hätten keine Möglichkeit gehabt. – Ein Blick ins Gesetz hilft dabei: Nach § 108 Wertpapierhandelsgesetz – das hat Kollege Schäffler eben schon mal ausgeführt – hätte die BaFin als Wertpapieraufsicht zugreifen können. ({3}) Sie hat es nicht getan. Wenn man davon ausgeht, dass die DPR zu lange geprüft hat – dazu kann ich gleich vielleicht noch was sagen –, dann hätte man die Möglichkeit gehabt. Aber man kann sich jetzt nicht einfach rausreden und sagen: Wir hatten gar keine Möglichkeit. ({4}) Die zweite Baustelle – Stichwort: Finanzholding – ist auch ein interessantes Thema. Aber da frage ich mich: Warum hat die BaFin den Gesetzgeber nicht kontaktiert ({5}) und uns mal gesagt: „Das ist ein Problem; gestaltet die Regelung so, dass es eine Finanzholding wird“? ({6}) Immer hinterher zu kommen, warum sie was nicht hat machen können, halte ich für schwierig. Von daher muss die BaFin beobachtet werden und müssen genau die Reformen, die hier angesprochen wurden, durchgesetzt werden. Zur DPR. Dazu kann man viel sagen. Es kommt mir vor, als wenn es hier ein Bauernopfer gegeben hat, so schnell, wie man diesen Vertrag gekündigt hat. ({7}) Für mich ist auffällig: nicht mit sofortiger Wirkung, sondern mit Wirkung zum 31. September 2021. – Also die sollen, obwohl sie so schlecht sind, trotzdem noch weiterarbeiten. Das halte ich für verfehlt. ({8}) Ich glaube, dass die DPR in ihrem Rahmen richtige Arbeit gemacht hat. Das Problem ist: Wir haben ihr die falschen Instrumente gegeben. Sie kann ja überhaupt keine Zwangsmaßnahmen ergreifen. Sie ist auf die Kooperation der Unternehmen angewiesen. Von daher ist vielleicht die Lösung – die DPR als privatrechtlicher Verein ohne diese Instrumente – nicht die richtige; darüber können wir ja reden. Aber jetzt denjenigen, dem man keine Werkzeuge zum Handeln gibt, zum Schuldigen zu erklären, halte ich doch für sehr problematisch. ({9}) Abschließend vielleicht noch ein Wort zu den Wirtschaftsprüfern. Man ist als Berufskollege natürlich sehr betroffen, wenn so was passiert. Man sieht ja schon, dass es da ein paar Schwierigkeiten gab. Ich empfehle mal, den Bestätigungsvermerk zum Konzernabschluss 2018 zu lesen. Dort sind die Dinge schon als umfassender Prüfungssachverhalt geschildert; aber anscheinend hat man daraus keine Konsequenzen gezogen. Das muss man sich noch mal ein bisschen näher angucken. Aber das wird sich auch die APAS angucken. Wir haben ja extra eine staatliche Stelle geschaffen, die die Wirtschaftsprüfer bei diesen kapitalmarktorientierten Unternehmen beaufsichtigen soll. Da ist natürlich spannend, was die gemacht haben. Das Problem, das wir in all diesen Bereichen haben, ist: Alle sind zur Verschwiegenheit verpflichtet. – Von daher ist es gar nicht so einfach mit der Aufklärung; denn die DPR kann nichts sagen, die APAS kann nichts sagen, EY kann nichts sagen. Da haben wir ein größeres Problem. Eine letzte Bemerkung zu der Haftungsfrage. Die Haftung ist nicht bei 4 Millionen Euro gedeckelt; ich höre das immer wieder. Im HGB ist geregelt: Das gilt nur bei Fahrlässigkeit. – Wenn das wirklich zu einem Fall führt, glaube ich nicht, dass nur Fahrlässigkeit vorliegt, und dann ist die 4-Millionen-Grenze weg. Dann hätte EY ein anderes Problem. Ich hoffe mal für die Kollegen, dass dem nicht so ist. Jetzt danke ich für Ihre Aufmerksamkeit. Ich hoffe, dass wir gemeinsam an dem Fall kräftig arbeiten werden. ({10})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Damit haben wir keine weiteren Redner mehr, und die Aktuelle Stunde ist beendet.

Dr. Karl Heinz Brunner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004256, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wen hat wohl die Covid-19-Pandemie in diesem Lande am meisten getroffen? Keine Branche und deren Kundinnen und Kunden, die Verbraucherinnen und Verbraucher, war so getroffen wie die Reisebranche. Sie war so getroffen, weil von einem Tag auf den anderen das Reisen nicht mehr möglich war, Menschen ihre Träume vom Urlaub, vom Verreisen, von der Erholung, vom Wieder-zu-sich-Finden nicht verwirklichen konnten und die Reiseveranstalter die Reisen nicht mehr anbieten konnten, aber zuvor bereits weltweit Buchungen bei Fluggesellschaften, Hotels, in der Gastronomie durchgeführt hatten. Kurzum: eine für die Betroffenen bittere Situation. Eine bittere Situation, die zu wirtschaftlichen Verwerfungen führen musste, ja, geführt hat, die zur Folge haben, dass 1,2 Millionen Beschäftigte in der Reisebranche in diesem Land vor der Frage stehen, ob ihr Arbeitsplatz erhalten bleibt. Es stellt sich die Frage, ob die Reisewirtschaft in Deutschland weiterhin so aussehen kann, wie sie bisher ist: überwiegend durch kleine, mittelständische Unternehmen geprägt, durch die zwei, drei, vier Mann oder Frau großen Betriebe, nicht durch die großen Ketten, sondern durch das Reisebüro um die Ecke, den Reiseveranstalter, den man kennt. Wie nun einen klugen Vorschlag erarbeiten, mit dem auf der einen Seite die Reisebranche gerettet und die Arbeitsplätze in diesem Land erhalten werden können und durch den auf der anderen Seite den Verbraucherinnen und Verbrauchern der Schutz gegeben wird, den sie in einem sozialen Rechtsstaat wie der Bundesrepublik Deutschland zu Recht erwarten? Eine Lose-lose-Situation wäre es gewesen, wenn wir die Verbraucherinnen und Verbraucher zu den Reiseveranstaltern geschickt und sie aufgefordert hätten: Hol dir an dieser Stelle sofort dein Geld zurück, das dir zusteht, weil du die Reise nicht antreten konntest. – Das hätte letztendlich in großem Maße zu Insolvenzen bei den Reiseveranstaltern geführt. Außerdem hätte es dazu geführt, dass – jeder kennt das aus dem Insolvenzrecht – es nur noch eine entsprechende Quote gibt nach dem Windhundprinzip: Der Erste bekommt noch alles; im Insolvenzverfahren gibt es nur noch eine kleine Quote. – Es hätte nur Verliererinnen und Verlierer gegeben. Der nunmehr vom Kabinett auf Vorlage des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz am 27. Mai unterbreitete Vorschlag – so sehe ich dies – ist eine gute, eine kompromissfähige und vor allen Dingen eine sozial abgesicherte Lösung zum einen für die Reisebranche und zum anderen, um den Menschen, die gebucht haben, zu helfen. ({0}) „Abgesicherte Gutscheinlösung“ nennen wir dies. Dass ein Gutschein angeboten wird, deren Annahme auf freiwilliger Basis geschieht, der damit nicht nur dem Unternehmen die Chance bietet, den Kunden zu halten und eine neue Leistung zu erbringen, sondern auch dem Kunden die Chance gibt, seine Urlaubsreise, seinen Traum zu einem späteren Zeitpunkt zu erfüllen, ist ein guter Vorschlag. Dass das möglich ist, ist nicht nur den Politikerinnen und Politikern des Rechts- und Verbraucherausschusses, dem Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, sondern vor allen Dingen unseren Tourismusleuten wie der Kollegin Gülistan Yüksel und dem Kollegen Rützel zu verdanken ({1}) – ja, Kollege Lehrieder auch; jeder lobt seine eigenen Leute –, die die gesamte Branche in den Blick genommen haben. Vor allem haben sie mit uns dafür gesorgt, dass es eine insolvenzfeste Absicherung bei den Gutscheinen gibt, um den Verbraucherinnen und Verbrauchern zu ermöglichen, auch im Falle einer immer möglichen Insolvenz innerhalb des Zeitraums sicher ihr Geld wiederzusehen und ihre Reise antreten zu können. Ich freue mich, dass wir diesen Gesetzentwurf heute verabschieden können, weil wir damit einen guten Schritt weitergegangen sind. Mit diesem guten Schritt haben wir gezeigt, dass wir zum einen den wirtschaftlichen Sachverstand haben, die Unternehmen zu halten, aber zum anderen auch die soziale Ausgewogenheit im Blick haben, um den Verbraucherinnen und Verbrauchern Schutz zu geben. Und ich freue mich für die vielen Verbraucherinnen und Verbraucher, die in der Zwischenzeit – bis sie ihre Weltreise antreten – zum Beispiel im Wahlkreis vom Kollegen Rützel – Main-Spessart – oder bei mir im Allgäu Urlaub machen können. Dort können sie auch ein wenig Kraft tanken, um dann im nächsten Jahr mit dem Gutschein eine vielleicht größere Reise anzutreten. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Ich bitte um Zustimmung zum Gesetzentwurf. ({2})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als nächster Redner kommt Dr. Lothar Maier für die Fraktion der AfD. ({0})

Prof. Dr. Lothar Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004812, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! Die Geschichte des unter den Bedingungen von Covid-19 modifizierten Reisevertragsrechts ist eine Geschichte der handwerklichen Stümperei, wie wir sie in diesem Haus zum Glück nur selten erlebt haben. ({0}) Aufgescheucht durch Hunderttausende Reiseverträge, die nicht erfüllt werden konnten, und damit auch durch die gezahlten Gelder, die nicht zurückgekommen sind, legte die Regierung einen Gesetzentwurf vor, der einen Zwangsgutschein vorsah. Was passierte? Die EU-Kommission hob den Finger, und, schwupp, schon war der Gesetzentwurf wieder weg. Nach ein paar Wochen kam ein neuer Gesetzentwurf. Der Gutschein war noch da, aber jetzt war er freiwillig und mit einer Staatsgarantie unterlegt. Wunderbar – dachte ich mir damals auch, aber ich habe seinerzeit auch an dieser Stelle dazugesagt: Passen Sie auf, dass die EU-Kommission nicht kommt, auf Artikel 107 AEUV hinweist und sagt: Das ist eine Beihilfe. – Was tat sie? Genau das. Damit war auch der Entwurf wieder weg. Jetzt kommt ein neuer Entwurf. Der Gutschein ist immer noch freiwillig, und die Staatsgarantie ist auch immer noch da, aber mit einer Garantieprämie, die vermeiden soll, dass das Ganze als eine Beihilfe gewertet wird – in der Hoffnung, dass die EU-Kommission mitmacht. Diese Garantieprämie wird natürlich auf die Reisepreise draufgelegt. Damit verteuert sich das Reisen. Gerade in dieser Zeit, in der die Tourismuswirtschaft mit dem Rücken an der Wand steht, wollen Sie das Reisen verteuern. Das ist eine besonders geniale Idee. Die Versicherungswirtschaft läuft im Übrigen Sturm gegen diese Regelung, weil sie sie – das befürchtet sie – mit Kosten belastet, die bei den Vertragsabschlüssen gar nicht absehbar waren. Vielleicht steht die nächste Nachbesserung auch schon vor der Tür. Man könnte an vielen Stellen in diesem Gesetzentwurf ansetzen und diese im Einzelnen kritisieren, aber ich glaube, es ist an der Zeit, auch einmal in den Blick zu nehmen, wie manchmal in diesem Hause und in dieser Regierung Gesetze zustande kommen. Ein paar Referenten – mit oder ohne Lobbyhilfe – basteln einen Entwurf. Sie holen sich auch noch den einen oder anderen Sachverständigen, von dem sie annehmen, dass er ihre Linie unterstützt. Der Entwurf wird vorgelegt. Manchmal machen wir auch noch eine Anhörung dazu, um deren Ergebnis sich niemand kümmert, am allerwenigsten die Regierung. Ich habe hier in dieser Legislaturperiode selber mehrfach erlebt, dass Gesetzentwürfe beschlossen wurden, noch bevor auch nur das Protokoll der Anhörung vorlag. ({1}) – Ihre eigene Fraktion hat in Landesparlamenten schon gegen die Verabschiedung von Gesetzen geklagt, weil das Protokoll bei der Beschlussfassung nicht vorlag. Sie sollten sich dabei also ganz bestimmt ganz zurückhalten. ({2}) Noch eines: Es gibt in anderen Parlamenten – übrigens auch in dem von Ihnen so hoch geschätzten EU-Parlament – und in der EU-Kommission Techniken, mit denen man versucht, unerwünschte Folgen von Gesetzen möglichst systematisch vorab zu erfassen; das sind die sogenannten Ex-ante Impact Assessments. Es würde unserem Hause wohl anstehen, gelegentlich auch mal auf solche Verfahren zurückzugreifen, die wohl bewährt sind und die es bei besonders wichtigen Gesetzen wert sind, auch angewandt zu werden, um solche Katastrophen zu verhindern, wie sie hier mit dem Reisevertragsrecht passiert sind. Die letzten fünf Sekunden meiner Redezeit schenke ich Ihnen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist der Kollege Thorsten Frei. ({0})

Thorsten Frei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004276, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich kann nahtlos an die sehr gute Rede des Kollegen Dr. Brunner anknüpfen, der die Rahmenbedingungen für den Gesetzentwurf, den wir heute verabschieden werden, sehr gut dargelegt hat. Natürlich haben wir in dieser Zeit der Covid-19-Pandemie eine ganze Reihe von Gesetzen machen müssen, um die Folgen dieser Pandemie – nicht nur die sozialen, die gesundheitlichen und die gesellschaftlichen, sondern auch die ökonomischen – so gut als möglich einzudämmen. Wir haben das Grundgesetz geändert, wir haben Nachtragshaushalte beschlossen; wir haben also vieles getan. Im Bereich der Reisewirtschaft – Sie haben das richtig dargelegt – haben wir es mit so dermaßen dramatischen Sonderfaktoren zu tun, dass es nicht ausreicht, das einfach nur als einen Teil der Wirtschaft zu betrachten, sondern wir brauchen hier zusätzlich auch individuelle Lösungen, um der Reise- und Tourismuswirtschaft helfen zu können. Es gibt – Sie haben es erwähnt – 2 300 Reiseveranstalter und 11 000 Reisebüros mit 70 000 Beschäftigten in Deutschland. Es ist also tatsächlich ein großer Wirtschaftsbereich. Sie haben die indirekt Beschäftigten in der Tourismuswirtschaft noch mit dazugerechnet. Es ist wichtig, dafür eine Lösung zu finden und einen Beitrag dazu zu leisten, dass durch die Pandemie nicht bewährte und über Jahre und Jahrzehnte aufgebaute gesunde Wirtschaftsstrukturen zusammenbrechen. Genau deshalb gibt es diese Antwort, die, wie ich finde, sehr gut für diesen Bereich passt, bei dem es nicht nur darum geht, dass der Umsatz im ersten Quartal 2020 gegenüber dem Vorquartal um 23 Prozent eingebrochen ist – noch stärker als im Bereich des Flugverkehrs und so stark wie seit 2008 nicht mehr –, sondern auch darum, dass die Leute darüber hinaus auch noch jeden Tag zur Arbeit gehen mussten, um das Geld wieder zurückzubezahlen, das bereits gezahlt und an andere Reiseveranstalter, Omnibusunternehmen, Flugunternehmen und Hotels weitergeleitet worden ist und häufig nicht oder erst zu spät zurückkam. Hinzu kommt dann auch noch, dass es keine Provision für die ja ordnungsgemäß geleistete Arbeit gibt, weil die Reise nicht durchgeführt wurde. ({0}) Es ist also wirklich eine extreme Situation, auf die wir dann eben auch eine passgenaue Antwort finden müssen. Wir hätten – das ist erwähnt worden – lieber eine verpflichtende Gutscheinlösung gehabt, und die Europäische Kommission hat sich mit Sicherheit nicht mit Ruhm bekleckert, als es darum ging, in einer besonderen Krisensituation auch Flexibilität an den Tag zu legen. ({1}) Man kann nicht Krisen bekämpfen, indem man sagt: Wir haben unsere Grundsätze des Verbraucherschutzes, die wichtig sind, und sind nicht bereit, das Ganze auch nur andeutungsweise in Bezug zu setzen. ({2}) Deswegen haben wir diese Lösung gewählt; sie ist auch gut. Wir haben die Gutscheine durch die staatliche Absicherung attraktiv gemacht. Wir haben alles dafür getan, dass die Menschen guten Gewissens auch einen Gutschein wählen können, weil sie für den Fall, dass sie ihn bis Ende nächsten Jahres nicht einlösen können, eben auch Alternativen haben. ({3}) Darüber hinaus darf man eines nicht vergessen: Wir haben mit der freiwilligen Gutscheinlösung jetzt eine individuelle Lösung gefunden. Das ist aber natürlich nur ein Teil des Ganzen. Das 25-Milliarden-Euro-Überbrückungshilfenpaket, das für kleine und mittelständische Unternehmen gilt, gilt ausdrücklich ja auch für die Reisewirtschaft. Wenn die Voraussetzungen des Umsatzrückgangs im April und im Mai vorliegen und wenn die weiteren Voraussetzungen für die Folgemonate gegeben sind, dann kann eben in den nächsten drei Monaten bis zu 150 000 Euro an kleine und mittlere Unternehmen ausgezahlt werden. Und es ist nicht nur das! Wir haben auch im Steuerrecht vieles verändert – das ist vorher angesprochen worden –, beispielsweise bei dem Verlustrücktrag, den Abschreibungen, der Mehrwertsteuer, der Körperschaftsteuer. All das hilft den Unternehmen – auch in der Reisewirtschaft. Nicht zu vergessen sind auch die Regelungen im Insolvenzrecht! Deswegen muss man sagen: Es ist ein Teil, ein Mosaikstein in einem größeren Bild. Es ist eine umfassende Antwort auf die Krise und deswegen auch die klare Botschaft an die Reisewirtschaft: Wir haben euch nicht vergessen. Mit diesem Gesetz unterstützen wir euch passgenau. Herzlichen Dank. ({4})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die FDP der Kollege Roman Müller-Böhm. ({0})

Roman Müller-Böhm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004833, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir beraten hier heute, kurz vor der parlamentarischen Sommerpause, final über die Einführung von freiwilligen Gutscheinen im Pauschalreiserecht. Eigentlich, muss ich sagen, weiß ich nicht so recht, ob ich lachen oder weinen soll. ({0}) Ich könnte lachen, weil es im Grunde ein Witz ist, dass von dieser Bundesregierung erst nach knapp vier Monaten ein Vorschlag mit freiwilligen Gutscheinen auf den Tisch gelegt wird. ({1}) Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Diese Lösung hätten Sie bereits in Woche eins der Krise mit breiter Mehrheit hier im Parlament beschließen können. Was Sie gemacht haben, ist im Grunde nichts anderes, als sich die Latte auf 2,50 Meter zu legen, aber dann nicht drüberzuspringen, sondern drunter herzulaufen, und das ist wirklich beschämend für diese Bundesregierung. ({2}) Es ist halt eben dann doch zum Weinen, weil in dieser Sitzungswoche vor der Sommerpause klar geworden ist, dass die Bundesregierung, genauer gesagt: vor allem die SPD – da muss man den Adressaten klar benennen –, dem Tourismus in diesem Land einfach nicht helfen möchte. Ich frage mich dann immer: Was haben Sie eigentlich gegen diese Menschen? Oder anders formuliert: Was haben die Menschen Ihnen getan? ({3}) Oft wurde gesagt, dass die freiwillige Gutscheinlösung hier nur ein Baustein der Lösung sei. Dann frage ich Sie nur: Wo sind denn der zweite und der dritte Baustein der Lösung? Ich kann sie nicht finden. ({4}) – Nein, es gibt sie nicht. Machen wir mal eine Bestandsaufnahme: Einführung der Soforthilfen. Da können wir ja mal gerne ein bisschen näher reinzoomen. Gerade wurden die Reisebüros schon genannt. Da ist halt eben noch nicht absolut final geklärt, ob denn nun auch die nicht verdienten Provisionen im Rahmen des Pakets ersatzfähig sind. Da wurden zwar seitens Herrn Lehrieder und des BMWi Versprechungen gemacht – ich persönlich glaube Ihnen das ja auch gerne –, aber schwarz auf weiß sehe ich bis heute nur leider nichts. Und das ist nach wie vor ein Problem. ({5}) Die KfW-Kredite und natürlich auch der Wirtschaftsstabilisierungsfonds in der Form sind leider für die kleinen und mittleren Unternehmen eben nicht brauchbar. Deswegen haben Sie sich jetzt anscheinend die lange herbeigeredeten Gutscheine gewünscht. Ich kann nur sagen: Auch das ist im Grunde inzwischen zu spät, weil das Vertrauen der Kundinnen und Kunden einfach verloren ist. Kurzum: Diese Lösungen helfen nicht. Und wenn Sie mir nicht glauben, dann fragen Sie gerne mal die Leute vor Ort. Ich kann Ihnen da auch gern ein paar Tausend E-Mails weiterleiten, die wir beantwortet haben. Ich kann Ihnen auch gern persönliche Gespräche mit den Leuten vermitteln. Ich habe mich mit denen getroffen. Da sind einige fleißige Touristiker dabei, die gern von Ihnen die Antwort erhalten würden, die Sie immer noch schuldig sind. Denn es fehlt nach wie vor an zwei Dingen: erstens an Geld und zweitens an einer klaren Perspektive, wann das Geschäft denn nun wirklich wieder aufgenommen werden kann. Das gilt übrigens nicht nur für Reisebüros und Reiseveranstalter. Wer es nicht mitbekommen hat: Heute waren ein paar Tausend Schaustellerinnen und Schausteller vor dem Brandenburger Tor, die ebenfalls eine tolle Branche darstellen und mit ihren knapp 50 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern echt zu kämpfen haben. Auch sie fordern eine klare Perspektive und eine klare Aussage dazu, wann es endlich wieder für sie möglich ist, ordentlich zu arbeiten. ({6}) Zu guter Letzt will ich Ihnen noch etwas sagen. Wissen Sie, ich bin wirklich nicht naiv; ich weiß, dass Anträge und Vorschläge der Opposition hier nie durchkommen. Das ist aber auch okay; ich will keine Systemkritik üben. ({7}) Aber früher war es dann wenigstens so, dass gute Ideen von der Koalitionsmehrheit irgendwann dann mal abgeschrieben wurden ({8}) und mit eigenem Namen neu eingebracht wurden. Liebe SPD, ich fordere Sie auf: Schreiben Sie gerne bei uns ab. Ich möchte Ihnen da hinterher gar keinen Vorwurf machen. Machen Sie endlich was. Warten wir nicht noch mal vier Monate. Herzlichen Dank. ({9})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion Die Linke die Kollegin Kerstin Kassner. ({0})

Kerstin Kassner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004324, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat: Die jetzt vorliegende Regelung ist eine Lösung für so manches Reisebüro, für so manchen Reisenden. Aber es ist so, wie es der Deutsche ReiseVerband heute schreibt: Es ist so etwas wie ein Soufflé – es sieht gut aus, aber fällt ganz schnell in sich zusammen. Ich kann Ihnen auch sagen, weswegen es zusammenfällt: weil nämlich nur 10 bis 20 Prozent – ich hatte bei einigen Reisebüros angerufen –, in der Spitze bis zu 30 Prozent, tatsächlich von dem Angebot Gebrauch machen. Und da muss ich Ihnen sagen: Ich habe großen Respekt vor denen, die von der freiwilligen Gutscheinlösung Gebrauch machen – einerseits vor den Reisenden, weil es ein Riesenkompliment und Dankeschön für die Reisebüros ist, andererseits vor den Reisebüros, weil sie mit ihrer fleißigen, engagierten Arbeit so viel Eindruck bei ihren Kundinnen und Kunden hinterlassen haben, dass sie das für sie machen. Das ist eine tolle Sache, und da kann man nur Danke sagen. ({0}) Allerdings ist damit die Kuh eben noch lange nicht vom Eis. Ich habe zum Beispiel ein Schreiben von einem Reiseveranstalter bekommen, der gleichzeitig auch ein Reisebüro betreibt. Darin schreibt er zum Beispiel: Wir haben inzwischen einen KfW-Kredit abgerufen, um nicht alle privaten Reserven, die fürs Alter gedacht sind, jetzt aufzubrauchen. Aber auch privat haben wir sehr viel Geld nachgeschossen. Anders können wir unsere Rückzahlungsverpflichtungen nicht erfüllen. Neue Provisionen und Margen beim Veranstalter konnten bisher kaum verdient werden. Wir wissen nicht, ob wir das vollständig überleben werden und alle Mitarbeiter halten können bzw. die Azubis nach der Ausbildung übernehmen können. Beim Stichwort „Azubis“ fiel mir wieder ein, dass sich eine kämpferische Tourismuskauffrau-Azubine an uns gewandt hat – an viele Kollegen, nehme ich an – und gesagt hat, sie kämpfe um ihren Beruf, sie lebe dafür und sie wolle, dass ihr Reisebüro erhalten bleibt. Ich habe bei ihr nachgefragt, und sie sagt: Ja, wir sind weiter am Kämpfen, aber die Sorgen werden nicht weniger. Eine Solo-Selbstständige, die sich an uns gewandt hat, sagt: Ich kann leider nicht mehr anders. Ich habe gestern einen Halbtagsjob angenommen, wo ich nun drei Tage in der Woche arbeiten muss, und es hat sich nichts geändert. Wir sind weitestgehend damit beschäftigt, bestehende Aufträge umzubuchen. Neue Reisen werden kaum abgeschlossen, und damit entfällt natürlich auch die Möglichkeit, Geld zu verdienen. – Und das ist das Entscheidende, was jetzt gebraucht wird. Deshalb sage ich in Richtung des Wirtschaftsministeriums: Gucken Sie doch mal bei den Überbrückungshilfen unter Punkt 13 nach. Dazu ist in den FAQs geschrieben: Die Reiseveranstalter bis 249 Mitarbeiter, die ihre Dienstleistung direkt und nicht über Reisebüros anbieten, sollen ausgeschlossen werden. – Das kann doch nicht wahr sein. Gerade diese brauchen wir. Und wir wollen doch nicht, dass nur drei große übrig bleiben und alle anderen, die kleinen – 10 000 und mehr –, sterben. Also sorgen Sie dafür, dass gerade sie an den Überbrückungshilfen partizipieren können. ({1}) Ich würde dringend empfehlen, dass wir das auf den Weg bringen, dass wir das im Auge haben. Dann kann dieses Soufflé noch in voller Höhe genossen werden. Ich wünsche, dass diese Reisebüros bestehen bleiben. Und ich hoffe, Sie alle tun dafür, was Sie können. Vielen Dank. ({2})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Markus Tressel. ({0})

Markus Tressel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004178, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit 16 Wochen kämpft die Reisebranche ums Überleben. Und jetzt, nach 16 Wochen, klären wir die Frage der berühmten Gutscheine abschließend; Kollege Müller-Böhm hat es ja schon angesprochen. Dieses Gesetz zu den Gutscheinen, liebe Kolleginnen und Kollegen, hätte schon vor Monaten kommen müssen, ({0}) ganz zu Beginn dieser Krise, als Verbraucher, Veranstalter und Reisebüros Sicherheit gebraucht hätten. Zu diesem Zeitpunkt wären auch viele noch bereit gewesen, freiwillige Gutscheine zu akzeptieren. Die Bundesregierung hat aber wochenlang auf Zwangsgutscheine gesetzt und damit auch an hilfsbereite Verbraucher ein fatales Signal gesendet. Sie wollten die Verbraucher zur Bank machen und sich selbst aus der Verantwortung nehmen. Das war Ihre Strategie, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Da warten, auch bei den Airlines – das muss man auch sagen – und bei vielen Veranstaltern, immer noch Tausende auf ihr Geld, zum Teil seit Monaten. Glauben Sie, dass ein Großteil dieser Kunden jetzt freiwillig Gutscheine von diesen Unternehmen akzeptieren wird? Das wäre zu hoffen, aber ich habe da große Zweifel; das muss ich deutlich sagen. Der TUI und der Lufthansa haben Sie in Liquiditätsengpässen geholfen. Das ist völlig richtig. Aber: Sorgen Sie jetzt dafür, dass die Unternehmen, die Hilfe bekommen haben, endlich auch die Kundengelder zeitnah an die Kundinnen und Kunden zurückzahlen. ({2}) Das ist nicht nur verbraucherpolitisch geboten, das ist auch ökonomisch sinnvoll, weil wir dringend Neugeschäft brauchen – Kerstin Kassner hat es gesagt –, und das geht nur mit zufriedenen Kunden. Alles in allem: Der freiwillige Gutschein ist nur Teil einer Lösung für die Tourismuswirtschaft, und die Krise wird ja absehbar weiter anhalten. Einige Reiseveranstalter und auch Reisebüros haben schon Insolvenz angemeldet. Wir haben in unserem Antrag, der ja heute hier zur Mitberatung vorliegt, schon vor zwei Monaten Lösungsvorschläge gemacht, die die gesamte Branche unterstützen sollten. Und Sie haben diesen Antrag blockiert. Gleichzeitig haben Sie aber selbst in diesen Wochen nichts vorgelegt und haben viel Zeit verstreichen lassen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Für viele war es bereits zu spät, als Sie endlich was vorgelegt haben. Und ich sage Ihnen: Einige Unternehmen sind auch an Ihrer wochenlangen Lethargie und Ihrer Unverbindlichkeit in dieser schwierigen Situation gescheitert. Das müssen Sie sich am Ende zuschreiben lassen. Sie haben jetzt das eine oder andere auf den Weg gebracht. Das ist richtig. ({4}) Aber ich sage auch, liebe Kollegin Hiller-Ohm: Das wird am Ende nicht ausreichen. ({5}) Der Rettungsfonds für die Reisewirtschaft ist aus unserer Sicht nicht vom Tisch – und dreimal nicht, wenn die Krise noch lange anhalten wird. ({6}) Insofern brauchen wir wirksame Instrumente zum Erhalt der Strukturen bei den Veranstaltern, im Vertrieb und auch in den Destinationen. Und wir müssen endlich die Breite und die Dynamik der Veränderung der Branche im Blick haben. Denken Sie nur an das Messe- und Kongressgeschäft; da ist viel in Bewegung, auch durch die Digitalisierung, die wir in den vergangenen Wochen erlebt haben. Deshalb ist unser Antrag, der heute hier vorliegt, weiterhin aktuell, auch wenn Sie ihn mit Ihrer Verzögerungstaktik ({7}) monatelang vor sich her geschoben haben. Wir müssen jetzt gemeinsam dafür sorgen, dass die Rettung der Tourismuswirtschaft weitergeht. Das wird auch bitter nötig sein. Niemand – das sage ich an dieser Stelle auch ganz deutlich – sollte glauben, mit dem Konjunkturprogramm hätte man da jetzt genug getan. Deshalb: Nehmen Sie unseren Antrag jetzt als Auftakt für die weitere Debatte! ({8}) Deswegen bitte ich Sie heute auch um Ihre Zustimmung zu diesem Antrag, weil da viele wertvolle Vorschläge drin sind, wie wir dieser Branche wirklich wirksam helfen können. Diese Fragen werden sich auch weiterhin stellen. Herzlichen Dank. ({9})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion der SPD die Kollegin Gülistan Yüksel. ({0})

Gülistan Yüksel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004448, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Coronavirus bedroht nicht nur Leben, sondern auch Lebensgrundlagen der Menschen. Die Regierung unterstützt deshalb Beschäftigte und Unternehmen mit einer Vielzahl von Hilfsprogrammen. Mit zahlreichen Gesetzesänderungen, Kurzarbeitergeld, Soforthilfen und Kreditprogrammen schützen wir Arbeitsplätze und Existenzen. ({0}) Ich bin sicher, dass wir auch mit dem neuen Konjunkturpaket von historischer Größe sehr viel bewegen werden, auch für die Reisebranche. Neben diesen branchenübergreifenden Hilfen schaffen wir auch spezifische Lösungen, heute mit dem freiwilligen Gutschein. Dieser mildert nicht nur die Liquiditätsengpässe der Veranstalter, er schützt auch die Reisenden; denn der Gutschein ist staatlicherseits gegen Insolvenz abgesichert. Wer ihn bis Ende 2021 nicht einlöst, bekommt sein Geld unverzüglich und sofort ausgezahlt. ({1}) Die freiwilligen Reisegutscheine sind dabei nur ein Teil der Gesamtlösung für die Reisebranche. So haben wir uns bei den Überbrückungshilfen erfolgreich dafür eingesetzt, dass die Kosten für Auszubildende zu den förderfähigen Fixkosten zählen. Gekämpft haben wir auch dafür, dass alle ausgefallenen Provisionen der Reisebüros ebenfalls zu den förderfähigen Fixkosten zählen. ({2}) Und nicht nur das: Auch die den Provisionen vergleichbaren Margen kleinerer Veranstalter sollen nun den Fixkosten zugerechnet werden können. ({3}) Die Regelung wird, natürlich nachdem alle Bundesländer hier zugestimmt haben, in Kürze in Kraft treten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte kurz noch auf zwei Punkte der Oppositionsanträge eingehen. Die Grünen kritisieren in ihrem Antrag unter anderem, dass Sozialunternehmen oder Vereine wie Jugendherbergen teilweise durch das Raster der Hilfspakete fallen. Diese Kritik ist überholt; denn auch hier hat die Regierung gehandelt: Neben den Überbrückungshilfen können gemeinnützige Unternehmen über ein KfW-Sonderprogramm Mittel beantragen. Allein für dieses Sonderprogramm stellt der Bund 1 Milliarde Euro bereit. Die FDP wiederum fordert neben den Reisegutscheinen, Ausbildungsbetriebe und deren Auszubildende zu unterstützen. Auch das tun wir, mit einer Ausbildungsprämie für kleine und mittlere Unternehmen; das ist eine konkrete Verbesserung für die ausbildungsintensive Tourismusbranche. ({4}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, Verbesserungen für die Menschen in der Tourismusbranche wollen wir auch auf europäischer Ebene haben. Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft bietet uns seit gestern eine gute Chance dafür. Die SPD-Fraktion setzt sich daher für eine europäische nachhaltige Tourismusstrategie ein – um diese und zukünftige Krisen gemeinsam gut meistern zu können. Herzlichen Dank, und bleiben Sie gesund! ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist der Kollege Sebastian Steineke. ({0})

Sebastian Steineke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004417, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bereits vor zwei Wochen – das ist richtig – haben wir in erster Lesung über dieses Gesetz beraten. Wir haben uns ausführlich ausgetauscht. Ich freue mich, dass wir die Ausschussberatungen so zügig zu Ende gebracht haben; das war ja ein wesentliches Ziel. Wenn ich es richtig verstanden habe, werden dem Gesetzentwurf heute eine ganze Reihe Fraktionen zustimmen. Das ist, glaube ich, bei aller Diskussion über den Gesetzentwurf ein gutes Zeichen. Ich glaube, wir müssen einmal festhalten – das haben die meisten heute schon gesagt –: Die Reisebranche ist natürlich massiv betroffen – viele können das in ihren Regionen nachempfinden –, von den Reisebüros bis hin zu den kleinen Hotels; das ist unstreitig. Deswegen wissen wir auch, dass wir heute nur einen ganz kleinen Baustein liefern können. Die anderen Bausteine – das hat der Kollege ja schon angemerkt – sind zum Teil schon da; sie werden nachher von unseren Tourismuspolitikern auch noch mal vorgestellt. Ich glaube, man sollte ehrlicherweise einmal sagen: Man muss hier am heutigen Tag nicht jede Lösung schlechtreden. ({0}) Ich glaube, wir haben eine gute Variante gefunden, um gegen die Probleme anzugehen. Es ist völlig klar: Auch wir hätten uns das schneller gewünscht – das ist unstreitig –; auch aus unserer Sicht ist zu viel Zeit ins Land gegangen. Das hätten wir schneller haben können. Wir hatten auch andere Ideen; das ist bekannt. Wir hätten uns natürlich auch einen Fonds vorstellen können. Der ist zurzeit nicht möglich. Trotzdem müssen wir uns darüber unterhalten, wie wir weitere Maßnahmen bauen, um der Reisebranche besser zu helfen. ({1}) Ein ganz wesentlicher Faktor – und wir sollten noch einmal festhalten: das war ein ganz klares Ziel der Union – ist, dass es keine Zwangsgutscheine geben wird und dass wir das ganze Thema nicht auf dem Rücken der Verbraucherinnen und Verbraucher austragen werden. Dieses klare Ziel haben wir, glaube ich, mit diesem Gesetzentwurf auch erreicht. Durch die staatliche Absicherung können wir tatsächlich am Ende – die Prozentzahlen sind hier genannt worden; wir hoffen, dass es in diesen Größenordnungen bleibt – auch eine kleine Hilfestellung leisten. Ich will noch auf zwei Änderungen eingehen, die wir gemacht haben – so weit zu dem Thema, es würden keine Änderungen vorgenommen; Kollege Maier hat es gesagt; aber das stimmt eben nicht –: Wir haben uns auch eine Änderung des Bundesrates noch mal angesehen und die 14-Tage-Regelung fixiert. Das ist, glaube ich, recht wichtig. Eine andere Regelung, die drinsteht, nämlich die Garantieprämie, hätten wir – das sage ich deutlich – nicht gebraucht. Da muss man einmal ein klares Wort nach Brüssel richten: Es kann doch nicht ernsthaft so sein, dass die Kommission sagt: „Macht mal freiwillige Gutscheine“, und, wenn wir sie dann machen, sagt: Liebe Freunde, das könnte aber ein beihilferechtliches Problem geben; schreibt da noch mal was rein! – Ich finde, da muss sich Brüssel einmal hinterfragen, wie so etwas abläuft. Das geht aus unserer Sicht auf keinen Fall. ({2}) Die freiwillige Gutscheinlösung ist ein Angebot. Wir hoffen, dass sie von vielen angenommen wird. Ich glaube, dass wir mit diesem Angebot dann auch ein bisschen helfen können. Weitere Maßnahmen müssen folgen. Ich hoffe, dass uns viele heute bei dem Gesetzentwurf auch folgen können. Vielen Dank. ({3})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Letzte Rednerin in der Debatte ist die Kollegin Kerstin Vieregge für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Kerstin Vieregge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004924, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Coronakrise ist für die gesamte Tourismusbranche verheerend, und die Krise ist bei Weitem noch nicht überstanden. Die Lage ist ernst; das haben wir durch intensive Gespräche mit Unternehmen in den Wahlkreisen und einer Vielzahl von Verbänden aufgenommen, verstanden und auch dementsprechend gehandelt. Die von uns beschlossenen Maßnahmen, von Kurzarbeit über Kredite bis hin zu Direktförderungen – Frau Kollegin Yüksel hat eben Weiteres ergänzt –, wurden hier ausgiebig debattiert. Sie sorgen dafür, dass wir den Unternehmen der Branche über diese herausfordernde Zeit helfen können, obwohl der Umsatz einiger Unternehmen im Vergleich zum Vorjahr um über 90 Prozent zurückgegangen ist. Wir wissen, dass sich viele in der Branche noch weiter gehende Unterstützung und Sonderregelungen gewünscht hätten. Die vorliegenden Oppositionsanträge enthalten ein paar konstruktive Punkte, die wir ebenfalls befürworten und in den letzten Wochen auch umgesetzt haben. Wir sorgen für Liquidität in den Sommermonaten. Wir haben es geschafft, dass beispielsweise erstattete Provisionen als Betriebskosten angerechnet werden, und haben gemeinnützigen Vereinen und Organisationen den Zugang zu den Hilfspaketen ermöglicht. ({0}) Die weiteren Vorschläge der Oppositionsfraktionen sind entweder nicht finanzierbar oder aber würden zu einem Übermaß an Bürokratie führen, was weder Politik noch Wirtschaft gutheißen kann. Wir von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion verfolgen einen anderen Weg: Wir möchten den Unternehmerinnen und Unternehmern vor Ort Möglichkeiten aufzeigen, wie man aus dem Krisenmodus wieder in den Leg-los-Modus kommen kann. Gerade für kleine und Kleinstbetriebe ist die aktuelle Situation eine riesige Herausforderung. Darum habe ich gemeinsam mit Facebook und dem DEHOGA Bundesverband ein Webinar initiiert, das den Unternehmen der Tourismusbranche die Möglichkeiten und Chancen des Onlinemarketings aufzeigt. So schlimm die Krise auch ist, für viele Regionen Deutschlands, gerade im ländlichen Raum – beispielsweise für meine Heimat Lippe –, ist die diesjährige Entwicklung zum Urlaub im eigenen Land eine große Chance für einen langjährigen Aufwärtstrend; denn dieses Jahr heißt es eben nicht New York, Rio oder Tokio, sondern Nordsee, Allgäu und besonders Teutoburger Wald. Wenn die einzelnen Regionen überzeugen, ist ein Wiedersehen sehr wahrscheinlich. Meine Damen und Herren, die Coronakrise hat sehr deutlich gemacht, wo unsere Stärken liegen, wo noch Verbesserungsbedarf besteht, aber auch, welche Chancen vorhanden sind, die wir bisher ungenutzt ließen. Digitalisierung, Onlinekommunikation und Urlaub im eigenen Land sind nur eine Auswahl der Trends, mit denen wir uns in den nächsten Jahren beschäftigen werden. Zudem appelliere ich an alle Urlaubsuchenden, die lokalen Reisebüros und ‑veranstalter vor Ort zu unterstützen. Auch wenn Onlinebuchungen verlockend sind: Langfristig brauchen wir alle einen Ansprechpartner um die Ecke. Wir haben tolle Regionen in Deutschland, die zu besuchen sich lohnt. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen mit Abstand eine besonders schöne Sommerzeit. ({1})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Damit schließe ich die Aussprache.

Katja Suding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004910, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Im vergangenen Schuljahr ist coronabedingt circa ein Drittel des Unterrichts ausgefallen. Bildungsforscher sagen: Unsere Kinder bezahlen das im Durchschnitt mit rund 3 bis 4 Prozent geringerem Erwerbseinkommen, über das gesamte Berufsleben gerechnet. Dieser niederschmetternde Befund darf uns nicht kaltlassen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Bildungs- und Lebenschancen sind in Deutschland ungleich verteilt; das wissen wir alle. Der wochenlange Unterrichtsausfall hat dieses Problem allerdings dramatisch verschärft. Das System Schule ist vor unser aller Augen zusammengebrochen. Schonungslos hat die Coronakrise die digitalen Defizite an deutschen Schulen für uns alle sichtbar gemacht. ({1}) Während in anderen Ländern der Unterricht von heute auf morgen digital stattfinden konnte, waren viele Schulen hierzulande darauf völlig unvorbereitet. Wochenlang haben wir die Bildungschancen junger Menschen auf der Straße liegen lassen. Meine Damen und Herren, das ist ein Armutszeugnis. ({2}) Den meisten Schulen fehlt es schlicht am Nötigsten für den digitalen Unterricht: keine didaktisch ansprechenden digitalen Lerninhalte, keine funktionierenden Lernplattformen, um Übungsaufgaben hochzuladen, keine Lernmanagementsysteme, um den Lernfortschritt der Schüler zu beobachten und individuell zu unterstützen, und nicht zuletzt heillose Überforderung der Lehrkräfte mit ungeklärten Datenschutzfragen. Was für eine Farce in Anbetracht des großen Engagements vieler Schüler, Lehrkräfte und Eltern, die das Schuljahr doch noch zu retten versuchten. ({3}) Dieser Totalausfall muss ein Weckruf sein. Gefragt wäre jetzt die Bildungsministerin. Ganz kurz ist sie ja auch im März aufgetaucht für ein paar zusätzliche Mittel für die Tablets bedürftiger Schüler, die Schul-Cloud und IT-Administratoren. Alles richtig, aber davon ist in den Schulen gar nichts angekommen. Rund 5,5 Milliarden Euro hat das Bundesbildungsministerium im DigitalPakt Schule vor über einem Jahr dafür bereitgestellt. Doch die versauern auf dem Konto der Bundesregierung. Lediglich ein Bruchteil, nämlich 125 Millionen Euro, wurden den Schulen bislang ausbezahlt; das sind gerade einmal 2,5 Prozent des Gesamtvolumens. Und was macht Ministerin Karliczek? Statt einen Weg zu finden, wie das Geld an die Schulen kommt, zuckt sie nur mit den Schultern und zeigt auf die Länder. Frau Karliczek, das ist Arbeitsverweigerung. ({4}) – Großartig, vielleicht mag es ihr jemand ausrichten. Wir Freien Demokraten wollen, dass die Mittel des DigitalPakts endlich an den Schulen ankommen. Dafür müssen wir die bürokratischen Hürden im Antragsverfahren drastisch senken. Weder Schulen noch Schulträger haben Zeit und Personal, um Hunderte Seiten Anträge und Hinweisblätter durchzuarbeiten. Für einen Volljuristen ist es vielleicht machbar, für jeden Schulleiter ist es aber eine Zumutung. Ändern Sie das endlich, damit die Mittel aus dem DigitalPakt endlich bei den Schulen ankommen, Frau Karliczek. ({5}) Dass die Digitalisierung an Schulen nur mit guten Konzepten gelingen kann, ist richtig. Allerdings hilft es niemandem, das Rad neu zu erfinden. Nicht jede Schule muss Zeit mit der Entwicklung eines schuleigenen Medienkonzeptes vergeuden. Standardisierte Rahmenkonzepte gibt es schon heute, und Schulen sollten sie nutzen, erproben und währenddessen anpassen können. Dass das bisher nicht möglich ist, ist eine absolute Ressourcenverschwendung. ({6}) Und zum Schluss: Das allein wird nicht reichen, um die Möglichkeiten digitaler Bildung voll zu nutzen. Neben der digitalen Infrastruktur muss auch in Lernmanagementsysteme, Lehr- und Lernmaterialien, Administratoren, Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften, Datenschutzstandards und Vorgaben investiert werden. Das alles muss ineinandergreifen. Dafür brauchen wir den DigitalPakt 2.0 dringender denn je. Unser Konzept liegt längst auf dem Tisch. Setzen Sie es endlich um, Ministerin Karliczek. Die Bildungschancen einer ganzen Generation stehen auf dem Spiel. ({7})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Ronja Kemmer für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Ronja Schmitt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004617, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegen auch der FDP, zunächst einmal will ich sagen: Den ersten Sätzen Ihres Antrags kann man absolut zustimmen. Es ist natürlich so: Die Schulschließungen in der Coronazeit sind eine historische Ausnahmesituation gewesen. Und ja, das Lernen von zu Hause war ein Kraftakt für Schüler, für Eltern, aber natürlich vor allem auch für die Lehrkräfte. Aber, ich glaube, man kann schon sagen – dem stimme ich hundertprozentig zu –: Es ist an wirklich vielen Orten viel Engagement, viel Einsatz gezeigt worden. Dafür möchte an dieser Stelle einfach auch einmal Danke sagen. ({0}) Dann kommen wir aber auch leider schon zum Dissens. Sie schreiben in Ihrem Antrag, dass im „bürokratischen DigitalPakt Schule“ erst 150 Millionen Euro abgerufen worden sind. Das ist so weit erst einmal richtig. Dass Sie aber mit Blick auf die Versäumnisse den DigitalPakt an sich schlechtreden und vor allem auch ständig infrage stellen, was bis dato erreicht worden ist, was auch mit Ihrer Fraktion mühsam ausgehandelt worden ist, können wir Ihnen so leider nicht durchgehen lassen. ({1}) Für uns ist die Digitalisierung von Bildung und Schulen eben mehr, als dass der Bund nur die Kosten übernimmt. Manchmal habe ich das Gefühl, nach Ihren Vorstellungen hätte es gereicht: Wir lassen hier ein, zwei Helikopter vollgepackt mit Kisten voller Tablets und Laptops losfliegen, schmeißen die schön über der Republik ab, und damit wäre es getan. ({2}) Ganz so einfach ist es aber eben leider nicht. Deswegen gehört es auch dazu, dass wir verhindern müssen, dass jetzt Technik angeschafft wird, die dann in einem halben Jahr irgendwo in die Abstellkammer kommt, da verstaubt; das ist in vielen Ländern leider in der Vergangenheit auch immer wieder geschehen. Wir müssen dafür sorgen, dass diese Technik auch entsprechend anschlussfähig ist für die Zukunft. Dafür braucht es Konzepte, auch pädagogische Konzepte; denn die Technik allein macht den Unterricht eben noch lange nicht. ({3}) Wir brauchen schnelle Lösungen, klar; aber wir brauchen eben auch effiziente und nachhaltige Lösungen, ({4}) damit die Technik auch im nächsten und übernächsten Jahr im Unterricht eingesetzt werden kann. Und was noch viel wichtiger ist: Wir müssen auch die Lehrkräfte in den Prozess einbinden. ({5}) Wir müssen die Lehrkräfte beim Thema Bildung einbinden, damit sie die Konzepte mitentwickeln; denn wenn sie das nicht tun, dann ist am Ende auch klar, dass wir keine digitalen Kompetenzen vermitteln können. Die Lehrkräfte haben eine Schlüsselrolle bei dieser Frage. ({6}) Die Förderrichtlinien – das gehört zur Einordnung dazu – sind erst jetzt von den Bundesländern entwickelt worden, viele erst im letzten Herbst oder im letzten Winter. Und Sie kritisieren, dass die Prozesse in den Ländern oftmals zäh laufen; das stimmt auch. Aber dann schauen wir doch einmal genau hin: Wie schaut es denn in Ländern aus, in denen Sie Verantwortung tragen, zum Beispiel in Rheinland-Pfalz oder in NRW? Ich kann Ihnen da nur eines sagen: Beim Thema Mittelabfluss sind die Top-3-Bundesländer Baden-Württemberg, Niedersachsen und Sachsen. Dort sind die Kultusminister alle entweder von der CDU oder von der SPD. ({7}) Also, bevor Sie uns hier im Bund ständig für Probleme, für die wir gar keine Zuständigkeit haben, die Schuld in die Schuhe schieben: Machen Sie erst einmal in den Ländern die Hausaufgaben, und sorgen Sie dafür, dass die Mittel auch entsprechend abfließen. ({8}) Wir haben als Koalition im Bund gezeigt, dass wir den Herausforderungen begegnen können und dass wir das auch schnell tun. ({9}) Wir haben jetzt in der Krise – ganz konkret – mit dem DigitalPakt 100 Millionen Euro für den Bereich Onlineplattformen und auch für die Beschaffung digitaler Lerninhalte zur Verfügung gestellt. Wir haben weitere 15 Millionen Euro für das Projekt „Schul-Cloud“ zur Verfügung gestellt; denn viele Länder haben ihre Schulen damit nicht ausgestattet, oder die Infrastruktur war bis dato nicht vorhanden. Und wir haben jetzt zuletzt das Sofortausstattungsprogramm für mobile Endgeräte in Höhe von einer halben Milliarde Euro aufgesetzt, um Schülerinnen und Schüler zu unterstützen, die die entsprechende Ausstattung nicht haben. ({10}) – Kollege Sattelberger, die Vereinbarung ist in wenigen Wochen getroffen worden; sie ist am Montag auch vom letzten Bundesland unterzeichnet worden; das heißt, es geht konkret in die Umsetzung. Von daher ist Ihre Kritik hier überhaupt nicht angebracht. ({11}) Wir haben als Union immer Sympathie – das will ich abschließend sagen –, wenn es darum geht, Bürokratie abzubauen. ({12}) Deswegen ist der Grundtenor Ihrer Stoßrichtung auch nicht falsch; aber dann kommen Sie bitte auch mit Vorschlägen, die wirklich konkret etwas nutzen. Einfach nur zu sagen: „Jetzt geben wir das Geld aus, und die Konzepte folgen dann irgendwann viel später“, ist für uns kein zustimmungsfähiger Vorschlag. Bitte beim nächsten Mal taugliche Vorschläge vorlegen! Dann können wir gerne in Zukunft darüber diskutieren. ({13})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der AfD der Kollege Dr. Michael Espendiller. ({0})

Dr. Michael Espendiller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004711, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Zuschauer im Saal und bei YouTube! Die Magentasozialisten von der FDP haben wieder einen Antrag zum hippen Thema „Digitalisierung in der Bildung“ rausgehauen. Ich muss leider sagen, liebe Kollegen von der FDP: Ihr habt den Schuss echt noch nicht gehört! Dieser Antrag geht nämlich völlig an der Realität unserer Schulen vorbei. Der Antrag geht sogar voll am Thema Digitalisierung vorbei; denn das Hauptproblem bei Corona waren ja nicht fehlende Endgeräte oder Ideen für Konzepte, sondern fehlendes WLAN, überlastete Netze und fehlendes Krisenmanagement. ({0}) Aber ginge es nach euch, liebe Magentas, würden wir in unseren Schulen nur noch Vollidioten heranziehen, die ein paar Online-Erklärvideos auf den Tablets schauen und das dann lernen nennen. ({1}) Wir sind gerade dabei, eine Kultur des mimimi zu etablieren, anstatt Leistung zu fordern. Zu Ihrem Antrag: Sie stellen die steile These auf, dass die Mittel aus dem DigitalPakt Schule nur deshalb nicht abgerufen werden, weil die Vorschriften zu kompliziert sind. Deswegen beantragen Sie, dass die entsprechenden Vorschriften bis Ende 2021 nicht angewendet werden sollen. Ich habe mir das einmal angesehen, und ich muss sagen: Wenn die Schulen es tatsächlich nicht schaffen würden, online zu gehen, sich ein paar Seiten durchzulesen, die Anforderungen zu erfüllen, dann sollte man sie auch nicht auf unsere Kinder loslassen. ({2}) Ich kenne unsere Schulleiter, und ich kenne unsere Schulen, und ich weiß ganz genau, dass das hier nicht das Problem ist. Da sind Sie nämlich voll auf dem Holzweg, liebe FDP, und das auch schon seit Beginn dieser Legislaturperiode. Seit zwei Jahren erzähle ich Ihnen zu diesem Thema, dass wir unsere Schulen und Lehrer mit einem Berg an Aufgaben und Arbeit alleine lassen. Einige Beispiele: Statt Förderschulen zu stärken, sollen unsere Lehrer eine falsche Vorstellung von Inklusion vorantreiben. Sie sollen nebenbei die Hauptlast der Integration schultern. Die Lehrer sollen demnächst auch Ökopropaganda betreiben; das nennen sie dann schön „Bildung für nachhaltige Entwicklung“, und das soll in jedem Fach eingebaut werden. ({3}) Und dann soll natürlich die Digitalisierung dazukommen. Meine werten Kollegen Politiker, Sie müssen vollkommen verrückt sein. ({4}) Wir haben in allen Schulformen Lehrermangel, zu große Klassen und einen mangelhaften Betreuungsschlüssel. Das sind die Probleme, an die wir ranmüssen. Jetzt rede ich seit mittlerweile zwei Jahren hier zu diesem Thema, und es passiert nichts. ({5}) Wir bekommen nicht mehr Lehrer. Unsere Lehrer bekommen nicht mehr Zeit für die Unterrichtsvorbereitung oder für die Weiterbildung. Wir brauchen mehr Personal! Wann geht das endlich in Ihre Köpfe rein? Sie können nicht immer mehr Aufgaben übertragen und gleichzeitig das Personal nicht aufstocken. Gerade in der Coronakrise haben wir Schulen und Lehrer erlebt, die sich von jetzt auf gleich auf die Socken gemacht haben, um ihren Unterricht bestmöglich auf die Bedingungen einzustellen, und das digital. Und auch hier wurden sie wieder mal alleine gelassen, weil es weder in den Ministerien in den Ländern noch im Bund Notfallpläne gab, wie man mit so einer Situation umzugehen hat. ({6}) Trotzdem haben die Lehrer das Beste daraus gemacht. Ja, es gab auch ein paar schwarze Schafe, und es lief auch bei Weitem nicht perfekt; aber den Digitalisierungssprung in der Bildung, den wir dadurch gemacht haben, können wir aktuell alle sehen. Und dafür braucht auch niemand die liebe FDP. ({7}) Vielleicht haben Sie deshalb in Ihrem Antrag auch nicht ein einziges Wort des Dankes für unsere Lehrer übrig, die in der Coronakrise vor Ort massive Arbeit geleistet haben, oder für die Lehrer, die die Doppelbelastung des Homeoffice und Homeschooling gleichzeitig geschultert haben. Grundsätzlich – das will ich noch anfügen – können wir uns gerne über digitale Lernkonzepte unterhalten. Aber wir von der AfD wollen, dass unsere Schüler zuerst in den traditionellen Kulturtechniken des Lesens, Schreibens und Rechnens sattelfest sind. ({8}) Gleichberechtigt daneben soll dann Informatik gerne als vierte Kulturtechnik antreten. Dafür brauchen wir aber mehr denn je eine starke Präsenzkultur an den Schulen und genügend motivierte Lehrer. Den Antrag der FDP lehnen wir deswegen ab. Danke. ({9})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion der SPD die Kollegin Marja-Liisa Völlers. ({0})

Marja Liisa Völlers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004942, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor genau einem Monat war ich mit dem niedersächsischen Kultusminister Grant Hendrik Tonne in meinem Wahlkreis unterwegs. ({0}) Wir haben zwei Förderbescheide im Rahmen des DigitalPaktes übergeben. Das einzig Ärgerliche an diesem sonst sehr schönen Termin: Die Mittel hätten zugegebenermaßen nicht erst vor vier Wochen ankommen dürfen, sondern bereits vor vier Jahren; hätte die damalige Bundesbildungsministerin Johanna Wanka den Start des DigitalPakts nicht verzögert. ({1}) – Oh nein, Herr Schipanski. – Das ist Geschichte. Jetzt lamentieren wir nicht weiter, sondern arbeiten weiter. Ich glaube, das ist das Beste in dieser Situation. Hier machen es sich die Kolleginnen und Kollegen der FDP-Fraktion in meinen Augen ein bisschen einfach. Sie kritisieren in Ihrem Antrag, dass die Mittel einfach nicht schnell genug abgerufen werden, schreien aber im gleichen Atemzug nach einem zweiten DigitalPakt. Da fehlt mir irgendwie die Logik. Vor allem: Wie sollen wir den Lehrkräften vor Ort, zum Beispiel in meiner Heimat, erklären, die in Zeiten des Fernunterrichts ihre Schülerinnen und Schüler kaum erreichen, wie man das mit einem zweiten DigitalPakt beschleunigen kann? Es tut mir leid, irgendwie klappt das nicht. ({2}) Insbesondere Kinder und Jugendliche, die aus finanziell nicht gut ausgestatteten Familien kommen, werden in Ihrem Antrag überhaupt nicht erwähnt. ({3}) Sehr geehrte Damen und Herren, ja, es hat zu lange gedauert, bis der DigitalPakt an den Start ging. Aber er ist eine wunderbare, eine ausgezeichnete Grundlage, um nun von Bundesseite aus schnell Geld an die Schulen in unseren Ländern zu geben. Die Kollegin Kemmer hat eben aufgezählt, in welchen Bundesländern das schon gut funktioniert. Wir als Koalition in Berlin haben uns einige Gedanken gemacht und weitere tolle Ideen auf den Weg gebracht. Wir haben bereits im März die Förderbestimmungen so geändert, dass auch digitale Bildungsinhalte gefördert werden können. Mit 100 Millionen Euro haben wir die Länder dabei unterstützt, ihre Lernplattformen auszurollen. Wir geben zusätzlich eine halbe Milliarde Euro, damit nach den Sommerferien auch die Schülerinnen und Schüler mit einem Laptop oder Tablet lernen können, deren Familien sie nicht unterstützen können. Der Bund wird in diesem Jahr mit einer weiteren halben Milliarde Euro bei der Ausbildung und Finanzierung von IT-Administratoren in den Schulen einsteigen. Ich glaube, darauf können wir alle stolz sein. ({4}) Ich will gar nicht sagen, dass wir uns auf dem Erreichten ausruhen sollen – überhaupt nicht. Das nächste Schuljahr steht vor der Tür, und niemand von uns im Hause und draußen in Deutschland weiß, wie es nach den Sommerferien mit dem Infektionsgeschehen weitergeht. Was passiert, wenn der Sommer vorbei ist und der Herbst beginnt? Wir müssen also unsere Schulen so fit machen, dass sie auf die unterschiedlichen Situationen angemessen und gut reagieren können. Wir als SPD-Bundestagsfraktion haben uns dazu schon Gedanken gemacht und in einem Positionspapier 15 Maßnahmen formuliert. Diese werden wir natürlich in den nächsten Wochen und Monaten mit allen Beteiligten debattieren. Schließen möchte ich als Lehrerin, Herr Präsident, wenn ich das darf, mit einem ganz großen Dank an die vielen Lehrkräfte in Deutschland, die sich tolle Gedanken gemacht haben, um die Schülerinnen und Schüler in der Coronakrise toll zu unterstützen, aber auch an die vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Schulen, die alles dafür getan haben, dass die Kinder möglichst gut unterrichtet werden. Herzlichen Dank von mir. ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion Die Linke die Kollegin Dr. Birke Bull-Bischoff. ({0})

Dr. Birke Bull-Bischoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004688, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Präsident! Die Schulschließungen in der Coronakrise haben so einiges zutage gefördert. Erstens. Wir sind immer noch unglaublich dürftig – um nicht zu sagen: schlecht – aufgestellt in Sachen Lernen mit digitalen Mitteln. Ich war am vergangenen Freitag in einer Schule in Sangerhausen im Landkreis Mansfeld-Südharz. Wir wollten die Arbeit mit den kleinen Calliope minis beginnen. Die Kollegen und Kolleginnen waren hochmotiviert, die Geräte alle da. Was fehlte, war leistungsfähiges Internet. Das gibt es nur in der ersten Etage. Wir kommen an vielen Schulen einfach nicht dazu, endlich loszulegen. Es scheitert an den Basics. Und das, meine Damen und Herren, lässt einem mittlerweile die Fußnägel nach oben rollen. Das muss sich endlich ändern. ({0}) Zweitens. Vor dem Coronavirus sind nicht alle gleich. Diese Krise zeigt einmal mehr drastische soziale Ungleichheit in unserer Gesellschaft. Die Bildung ist mindestens ein Brennglas dafür. Für die einen sind diese Wochen eine interessante Herausforderung gewesen, eine Investition in die Zukunft, man entwickelt alle Kompetenzen, wenn auch nicht alle erforderlichen. Die anderen fühlen sich schlichtweg abgehängt, weil sie keinen Computer, keinen Laptop, keinen Drucker haben. Sie können sie sich nicht leisten. Sie haben kein Geld für Papier, geschweige denn für ein leistungsfähiges WLAN. Das schafft Resignation. Wir hängen diese jungen Menschen ein weiteres Mal ab. Hier ist nicht ein Jahr verloren, sondern hier sind sechs Jahre verloren. Da hat die FDP recht. ({1}) Drittens. Die Krise zeigt auch: Lernen bleibt ein sozialer Prozess. Der ist nicht allein mit digitalen Mitteln zu bewältigen. Mit Verlaub, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, so langsam führt uns Ihr Hype in Sachen Digitalisierung auf einen schrägen Pfad. Er verstellt den Blick auf wichtige zentrale Probleme des Bildungswesens: Lehrermangel, der Mangel an Schulsozialarbeit, der Mangel an vernünftigen modernen inklusiven Schulgebäuden. Das finde ich schwierig. ({2}) Zwei Kritiken haben wir an Ihrem Antrag. Durch den Mangel an digitaler Infrastruktur schlägt die Stunde der Lobbyisten. Mir geht es nicht darum, alle privatwirtschaftlichen Initiativen herauszuhalten, aber ein Dorn im Auge ist uns sehr wohl der Einfluss der ganz großen Player. Wir sagen: Wir bleiben dabei: Bildung gehört in die öffentliche Hand und auch öffentlich finanziert. ({3}) Vorrang muss hier Pädagogik haben. Letzte Bemerkung: Ich finde es – ehrlich gesagt – bedauerlich, dass die Frage der sozialen Ungleichheit bei Ihnen immer nur ein verbales, mündliches Anliegen bleibt. Wichtig ist nämlich: Wir brauchen eine digitale Grundsicherung, und das dauerhaft, so dass man sich nicht jedes Mal mit Gerichten streiten muss. Wenn Sie das einmal ändern, dann klappt es auch mit der Zustimmung. ({4})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Nächste Rednerin in der Debatte ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Margit Stumpp. ({0})

Margit Stumpp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004909, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Damen und Herren! Die Hoffnung stirbt zuletzt. Es zeugt schon von einer optimistischen Grundhaltung, wenn man glaubt, diesen DigitalPakt noch beschleunigen zu können. Ich will nicht so weit gehen, dass ich sage: „Ein totes Pferd soll man nicht reiten“, aber ein Kaltblüter wird nicht mehr zum Rennpferd; da kann man sich noch so anstrengen. ({0}) Hätte Ministerin Karliczek die Digitalisierung angesichts der Krise tatsächlich beschleunigen wollen, hätte sie ein Förderprogramm Digitalisierung aufgelegt und hätte nicht an diesen ohnehin mager ausgestatteten DigitalPakt angedockt. ({1}) Schon vor der Krise war doch klar: Die meisten Schulen stehen in puncto Digitalisierung noch ganz am Anfang. Ein Grund dafür ist die derzeitige Struktur des Bildungsföderalismus. Die Lasten sind unfair verteilt. Arme Kommunen, die das Geld für Digitalisierung nicht hatten, werden jetzt bei wegbrechenden Steuereinnahmen noch weiter unter Druck geraten. Wie sollen die da noch Digitalisierung stemmen? Ein zeitlich befristeter DigitalPakt, der Betriebs- und Wartungskosten am Ende doch wieder auf die Kommunen abwälzt, ist kontraproduktiv. ({2}) Vor diesem Hintergrund ist es auch völlig unverständlich, dass die riesigen Konjunkturpakete vielen zugutekommen, Bildung, der Rohstoff für die Zukunft, aber vergleichsweise wenig abbekam. Das zeigt, welche Prioritäten diese Koalition und auch die nicht anwesende Ministerin setzen. ({3}) Stattdessen müssen gerade die Schulen, die digital noch ganz am Anfang stehen, bei denen also der größte Handlungsbedarf besteht und Eile geboten ist, die größten bürokratischen Hürden meistern. Der Grund dafür ist, dass gerade diese Schulen eben noch kein Medienentwicklungskonzept hatten. Für eine digitale Grundausstattung, die digitale Pflicht, braucht man aber auch kein Medienentwicklungskonzept. ({4}) Gerade um diese Pflicht geht es doch bei vielen Schulen, wenn sie zu Beginn des nächsten Schuljahres für hybriden Unterricht fit sein sollen. Das könnte gelingen, wenn sich Bund und Länder auf eine grundsätzliche Basisstruktur einigen und die Checklisten zügig in die Schulen gegeben würden, um hier die Lücken zu füllen. Der Ansatz ist doch für alle Schulen gleich: Jede Schule braucht ein technisches Fundament; das haben wir gerade schon gehört: Breitbandanschluss, WLAN-Ausleuchtung, ausreichend Endgeräte für Lehrkräfte, für Schülerinnen und Schüler sowie Administration. Schulen brauchen ein organisatorisches Fundament. Dazu gehören Mail-Adressen für Lehrkräfte, für Schülerinnen und Schüler, ein Lernmanagementsystem, Zugang zu einer Cloud und all diese Dinge. Und Lehrkräfte brauchen ein pädagogisches Fundament. Das heißt Aus- und Weiterbildung. Außerdem brauchen Schulen und Schulträger Orientierung, natürlich auch für eine komplizierte Antragstellung, aber vor allem für die Auswahl von Hard- und Software, nicht nur für die digitale Pflicht, sondern auch für die digitale Kür. Das kann eine gute Begleitung und eine Bundeszentrale für digitale und Medienbildung, wie wir sie schon vor der Krise vorgeschlagen haben, tatsächlich leisten. ({5}) Die Hoffnung stirbt zuletzt. Wir hoffen mit der FDP auf die Einsicht, dass Entbürokratisierung tatsächlich nottut und Bildung endlich, endlich als gesamtpolitische Verantwortung verstanden wird. Deswegen stimmen wir Ihrem Antrag zu. ({6})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächstes spricht für die Fraktion der CDU/CSU die Kollegin Dr. Dietlind Tiemann. ({0})

Dr. Dietlind Tiemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004918, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon schön, Ihnen, liebe Kollegin Suding, hier zuzuhören, sind wir uns doch, glaube ich, alle darin einig, dass die Schulen, die Schulträger und alle, die daran beteiligt sind, von der Coronakrise so wie wir alle kalt erwischt wurden. In Kommentarspalten der Medien gewann man ja schon den Eindruck, wir seien, was die Schulen betrifft, dem völligen Untergang geweiht. An dieser Stelle – das hat insbesondere die Kollegin Völlers, glaube ich, sehr schön hervorgehoben – haben wir großen Dank zu sagen: ein Stück weit natürlich den Schülerinnen und Schülern, weil sie ja am stärksten betroffen waren, aber natürlich auch den Lehrern, den Kräften, die in den Schulen tätig sind, aber ganz besonders auch den Eltern. ({0}) Das sollte man an dieser Stelle wirklich auch mal deutlich machen. Sie haben vieles geleistet, sie haben vieles ausgeglichen, bei dem man sich am Anfang überhaupt nicht vorstellen konnte, dass das möglich ist. Aber ich denke – auch darin sind wir uns nahezu einig; hier zumindest war das aus den Worten der Kollegen schon zu hören –, dass die Coronakrise die bekannten Probleme im Bildungssystem verstärkt hat. Das ist so. Wir wissen, wo die Sorgen sind. Wir wissen, dass der DigitalPakt, insbesondere wenn es um die Erschließung der Schulen und der Bildungseinrichtungen geht, noch nicht in ausreichendem Maße umgesetzt ist. Wir wissen, dass die Ausbildung der Lehrer immer noch schleppend vorangeht, dass wir Defizite bei den Möglichkeiten der Lehrer haben, IT-Kenntnisse umzusetzen. Wir wissen natürlich auch, dass Lerninhalte noch nicht so digitalisiert sind und so zur Verfügung stehen, wie wir es brauchen würden. Dennoch – ich glaube, das ist an dieser Stelle sehr wichtig, liebe Kollegen der FDP –: Wenn Sie hier und heute so einen Antrag stellen, dann würde man vielleicht auf den Gedanken kommen, zu sagen: Na ja, alter Wein in neuen Schläuchen hilft uns auch nicht weiter. Sie haben es ja mit dem Kultusministerium in NRW unter Beweis gestellt – wenn man etwas erreichen will, kann man es auch schaffen –: Sie sind doch nicht sehr weit gekommen. Es ist zwar schön, wenn Sie hier kluge Anträge stellen, deren Richtigkeit überhaupt nicht bestritten wird, aber es geht auch um die Umsetzung. ({1}) – Nein, nein, wir haben da schon die gleiche Auffassung. Es geht einfach darum: Sie könnten ja mal unter Beweis stellen, wie es geht. Aber Sie machen es nicht, weil Sie es einfach nicht können. Sie jammern rum, dass die Anträge zu schwierig sind. Sie sagen einfach, dass da zu viele Formalitäten sind. Aber auch diese sollten Sie zwischenzeitlich kennen. Ich bin ja noch nicht so lange hier dabei, aber ich höre immer wieder, dass Sie versuchen, dem Bund das zuzuschieben, was in der Verantwortung der Länder liegt. ({2}) Bisher wurden in Nordrhein-Westfalen erst 6,6 Millionen Euro abgerufen. Dazu kann man einfach nur sagen: Na ja, angesichts 1 Milliarde Euro, die sie haben könnten, ist da noch ein bisschen Luft nach oben. Jetzt bringt die FDP den Antrag „Weniger Bürokratie wagen – DigitalPakt Schule beschleunigen“ ein. Wenn Sie meinen, Sie könnten es besser als alle anderen, dann könnten Sie das mal unter Beweis stellen.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Frau Tiemann, gestatten Sie eine Zwischenfrage von den Grünen?

Dr. Dietlind Tiemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004918, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Natürlich.

Dr. Anna Christmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004694, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, vielen Dank, Frau Kollegin. – Sie haben ja eingangs den Dank an die Schülerinnen und Schüler wiederholt, an die Lehrerinnen und Lehrer, die jetzt in Corona vieles gemeistert haben. Dieser Dank ist sicher richtig und zu unterstützen. Ich glaube aber, viel mehr als einen Dank haben diese Menschen es doch verdient, dass wirklich jetzt auch die Voraussetzungen geschaffen werden, dass digitales Lernen in der Schule möglich wird. Das ist das, was Eltern, Schülerinnen und Schülern und Lehrerinnen und Lehrern wirklich hilft, nicht unbedingt die Tatsache, dass wir jetzt die ganze Zeit Dankesreden halten. Da, glaube ich, ist es weniger produktiv, die ganze Zeit mit dem Finger aufeinander zu zeigen, wer hier wofür zuständig ist. Das interessiert diese Menschen nämlich auch alle ziemlich wenig. ({0}) Vielmehr ist doch die Frage: Warum ist der DigitalPakt zu so einer Digitalisierungsverhinderungsgeschichte für die Digitalisierung an unseren Schulen geworden? ({1}) Seit Jahren steht dieser DigitalPakt im Raum. Wir mussten bis dieses Jahr warten, bis überhaupt mal Geld fließt. Es sind wahnsinnig hohe Hürden. Meine Kollegin hat darauf hingewiesen: ({2}) Medienentwicklungspläne für jede Steckdose, für jeden Breitbandanschluss, den man haben möchte. Was wollen Sie denn tun, damit dieser DigitalPakt jetzt tatsächlich auch Fahrt aufnimmt und in Anspruch genommen wird? Das ist doch hier die entscheidende Frage und nicht, wer für was genau zuständig ist. ({3})

Dr. Dietlind Tiemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004918, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Kollegin, danke für die Frage. Sie macht noch einmal deutlich, dass wir das, was wir als Bund zu tun hatten, getan haben und noch mehr. Wir haben nicht nur Geld zur Verfügung gestellt. Wir haben, um den Kommunen zu helfen, sogar das Wichtigste, das wir haben, nämlich das Grundgesetz, geändert, ({0}) um die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass er dann in Ländern und Kommunen umgesetzt wird. Wenn das nicht geht, könnten wir beide vielleicht mal Hilfe anbieten – ich kann gut schippen –, damit die Leitungen bis hin zu den Schulen schneller verlegt werden. Aber ich glaube, das ist nicht unsere Zuständigkeit. ({1}) Wir haben die Rahmenbedingungen zu schaffen, und wir müssen immer wieder deutlich machen, wie die Umsetzung erfolgt. Vielleicht komme ich noch mal ganz kurz zu dem Antrag der FDP, der wirklich nicht dazu angetan ist, von uns die Zustimmung zu bekommen. Wissen Sie, wenn Sie – ich bezeichne es mal als DigitalPakt 1.0 – hier einfach nur deutlich machen, wo noch große Schwächen sind, wenn wir jetzt noch während der Fahrt, die wir jetzt langsam begonnen haben aufzunehmen, die Änderungen durchführen, die Sie vorgeschlagen haben, dann kommen wir nicht weiter. Auch da kann man nur sagen: Eine Verschlankung der Vorschriften haben die Länder vorzunehmen. Die Verwaltungsvereinbarung – ich danke dem Ministerium dafür noch mal ganz herzlich –, die zwischen dem Bund und den Ländern geschlossen wurde, hat 20 Seiten. Sie ist sehr differenziert und sehr aussagefähig; daran kann man sich ein Beispiel nehmen. Den Vorschlag, ein Portal zu schaffen, das vielleicht übersichtlicher ist, oder auch das, was Sie alles vorgeschlagen haben, kann man umsetzen. Aber bitte üben Sie es vor Ort. Jetzt geht es darum, den DigitalPakt 1.0 umzusetzen und vielleicht auch schon an 2.0 zu denken. Auch da sind wir ja bei Ihnen und sehen, dass das im Folgenden notwendig ist. Aber auch da gibt es Erfahrungen: Überholen, ohne einzuholen, hat schon mal nicht funktioniert. ({2}) Das heißt: Lassen Sie uns den DigitalPakt 1.0 umsetzen. Dann sind wir in der Situation, in der wir den Lehrerinnen und Lehrern, den Schülern und vor allen Dingen auch den Eltern zur Seite stehen. Wissen Sie, ich war lange genug Oberbürgermeisterin. Die Stadt, aus der ich komme, hat für alle Schulen Medienkonzepte entwickelt. Diese liegen beim Land. Das Land aber sammelt. Erst wenn alle vorliegen, werden sie bestätigt, und dann wird Geld angefordert. Darüber kann man sehr unterschiedlicher Auffassung sein. Damit kommt man nicht so sehr weiter. Aber ein Wort zu dem, was wir hier heute gesagt haben. Es war ein Schulleiter, der erklärt hat: Wissen Sie, lassen Sie uns einfach mal ein bisschen in Ruhe arbeiten. Dann kommen wir auch voran, und dann machen wir die nächsten Schritte. Herzlichen Dank. ({3})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist für die Fraktion der SPD der Kollege Markus Paschke. ({0})

Markus Paschke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004371, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. – Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ja, wir haben – das ist, glaube ich, doch unbestritten – noch erhebliche Defizite bei der Digitalisierung in allen Lebensbereichen. Das brauchen wir uns nicht immer wieder zu erzählen. Das wissen wir, und wir arbeiten daran, dass sich das ändert. Gerade die Coronapandemie stellt unser Bildungssystem auf die Probe und hat gute und auch schlechte Seiten ziemlich deutlich an die Oberfläche gebracht, wie in allen Lebensbereichen. Wir wissen, dass Schulen, Lehrkräfte, Eltern sowie Schülerinnen und Schüler Unheimliches geleistet haben in der Zeit, als die Schulen dicht waren. Wir wissen auch, dass sie auf Unterstützung aus der Politik angewiesen sind. Im Mai 2019 haben wir den DigitalPakt Schule auf den Weg gebracht. Das sind 5,5 Milliarden Euro. Ich finde, das ist ein guter Anfang. Das müssen wir jetzt umsetzen, und zwar gemeinsam mit den Ländern. Moderne Bildungs- und Betreuungseinrichtungen sind für die Teilhabe unserer Kinder und für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf von zentraler Bedeutung. Es liegt nun auch an den Ländern, den DigitalPakt zügig umzusetzen. In dem Bundesland, aus dem ich komme – Niedersachsen, das wurde schon ein paarmal lobend erwähnt; das kann man so fortführen –, klappt das. Dort findet jetzt die Umsetzung der 500 Millionen Euro für die technische Ausstattung der Schulen statt. Das wurde noch vor den Sommerferien auf den Weg gebracht, sodass nach den Ferien alle loslegen und anpacken können. Damit ist sichergestellt, dass alle Kinder auch digital teilhaben können. ({0}) Es bedarf aber auch guter und vernünftiger Planung bei der Koordination von Hardware, Software, Service und Wartung in der digitalen Infrastruktur; denn kopflose Schnellschüsse sind in dieser Frage ziemlich teuer und meistens auch ziemlich wirkungslos. Das Chaos unterschiedlicher Systeme ist letztendlich nicht beherrschbar und viel zu teuer. Die Länder machen – zumindest im Hinblick auf Niedersachsen kann ich das sagen – hier einen guten Job. Den Antrag der FDP würde ich bestenfalls als „gut gemeint“ bewerten. Aber er ist leider nicht vernünftig zu Ende gedacht. Die Zuständigkeit der Länder in Bildungsfragen haben wir im Grundgesetz gar nicht geändert. Vielmehr haben wir mit der Änderung nur dafür gesorgt, dass wir uns unterstützend beteiligen dürfen. Ich bin auch überzeugt, dass diese Zuständigkeit bei unseren Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten gut aufgehoben ist. – Ich merke, dass ich meine Redezeit schon wieder leicht überzogen habe. Ein letzter Satz noch. Was mir wichtig ist, ist die soziale Frage. Die Bildungskrise darf nicht zur sozialen Krise werden. Das heißt, wir dürfen keine Schülerinnen und Schüler zurücklassen. Wir müssen sicherstellen, dass alle an der digitalen Bildung in Zukunft auch teilhaben können. Deswegen brauchen wir die digitale Lernmittelfreiheit für alle Schülerinnen und Schüler. Packen wir es an! Wir, die SPD, setzen uns ein für mehr Bildungsgerechtigkeit. Danke schön. ({1})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Damit schließe ich die Aussprache.

Dr. Roy Kühne (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004334, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Zuhörerinnen und Zuhörer! Liebe Kollegen des Deutschen Bundestages! Wir sprechen heute über ein Gesetz, das eine gewisse Historie hat. Wir hatten im letzten Jahr das Thema RISG auf dem Schirm, und da wurde ganz klar gesagt: So geht es nicht. – Daraus entstand das IPReG. Ich möchte mich hier noch mal ganz persönlich bei all denen bedanken, die an der Evaluation dieses Gesetzes mitgearbeitet haben. Das sind nicht nur die Kollegen des Deutschen Bundestages. Das sind vor allen Dingen auch viele Angehörige, die uns zu Hause persönlich angesprochen haben, die uns angerufen haben, die uns persönliche E-Mails geschickt haben. Schließlich geht es um die Nächsten, um die Liebsten, um ihre Angehörigen, die in Wohnformen, in stationären Einrichtungen oder zu Hause gepflegt werden. Und noch mal: Wir müssen uns, glaube ich, wenn wir heute über dieses Gesetz debattieren, genau überlegen, warum dieses Gesetz da ist, und dürfen nicht einfach sagen: Es ist jetzt da, weil wir die Idee hatten, ein Gesetz zu machen. – Dafür gab es glasharte Gründe. Wir alle können uns sicherlich noch an den Aufschrei erinnern: Missbrauch von Pflegeleistungen, 2016 der Begriff „Pflegemafia“, Fehlversorgung von zu Pflegenden. Sogar von Opfern war die Rede. Dann kam der Aufschrei – sicherlich wurde der eine oder andere Gesundheitspolitiker genauso wie ich angesprochen –: Wie konntet ihr das zulassen? War euch das nicht klar? – Es gibt Kopfschütteln bei vielen Menschen, weil es doch eigentlich klar sein muss, was da passiert. Aus einer Hand kommt Geld für eine Leistung im Gesundheitssystem, und keiner kriegt mit, dass hier ein Missbrauch stattfindet. Der Schaden von 1 Milliarde Euro kann nicht einfach – das muss man auch ganz klar sagen – wegdiskutiert werden. Was mich auch persönlich, als Mensch, der seit 20 Jahren im Gesundheitssystem arbeitet, gestört hat, ist, dass das durchaus auf viele fleißige Pflegedienste, viele fleißige Leute einfach ein schlechtes Licht warf: Betrügt ihr? Was tut ihr da? Kontrolliert euch keiner? Wollt ihr euch bereichern? – Ich glaube, eines können wir alle im Deutschen Bundestag hier sagen: Mit Pflege kann man sich in Deutschland nicht bereichern. Die Ursache sind – das wurde mehrfach klar gesagt – fehlende Transparenz, fehlende Kontrolle, und das gerade in Deutschland. Dabei geht es nicht um Kontrolle um ihrer selbst willen, sondern um Kontrolle zum Schutz von Patienten, zur klaren Erbringung von guten Leistungen für Menschen, die schutzbedürftig sind. Von der Seite her sage ich ganz klar: Das IPReG ist notwendig. ({0}) – Danke. – Ich möchte noch mal ganz klar sagen, dass das IPReG einfach das Resultat aus der Reaktion auf Missstände ist. Natürlich haben wir die Möglichkeit gehabt, viele Sachen zu ändern. Ich möchte auf zwei kleine Sachen eingehen. Es wird natürlich die Frage gestellt, wenn man ein Gesetz macht: Wozu macht man es, also welche Bedingungen herrschen? Man kann schon fragen: Wie wird Therapie vor Ort erbracht, wie wird Pflege vor Ort erbracht? Was kommt dabei raus? Die Antwort kann sehr unterschiedlich sein. Ich möchte bloß den Rahmen skizzieren. Meine Kollegin Frau Maag hat die Frage gestellt: Wie soll denn zum Beispiel in einer kleinen Wohnung die Pflege so gewährleistet sein, dass das Ganze für den Patienten qualitativ gut durchgeführt wird? Das soll nicht heißen, dass es nicht möglich ist. Meine Mutter hat jahrelang meinen pflegebedürftigen Vater in einer kleinen Wohnung gepflegt. Ich möchte im Namen von CDU und CSU ganz klar sagen: Niemand möchte pflegebedürftige Menschen aus ihrem häuslichen Umfeld rausnehmen. ({1}) Aber: Jeder hat das Recht, zu Hause gut gepflegt zu werden, auch der, der sich nicht äußern kann. Dafür ist das Gesetz richtig und wichtig. Da danke ich auch unserem Minister, dass er ganz klar betont: Wir reden über Menschen, die sich vielleicht nicht wehren können. Auch dafür sind wir verantwortlich als Politiker. ({2}) Noch mal: Für den Fall, dass der MD feststellt, dass da irgendwas zu Hause nicht stimmt, haben wir eine Zielvereinbarung. Da bin ich den Kollegen von der SPD sehr dankbar dafür, dass wir diesen Schritt gemacht haben. Wir reden miteinander. Die Krankenkassen, die Bedürftigen, auch diejenigen, die gepflegt werden, werden gefragt. Und erst diese gemeinsame Kommunikation führt zu einem Ergebnis. Niemand nimmt niemanden irgendwo raus; Punkt. ({3}) Deshalb, meine Damen und Herren, finde ich dieses Gesetz wichtig. Denn es berührt Menschen, Menschen, die uns fragen: Entscheidet ihr über unseren Kopf? Hier muss man ganz klar sagen: Nein, wir entscheiden mit euch zusammen im Interesse der zu Pflegenden. – Und das ist wichtig. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({4})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der AfD der Kollege Uwe Witt. ({0})

Uwe Witt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004937, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer hier im Saal und an den TV-Geräten! Inzwischen ist es Tradition geworden, dass die Gesetzentwürfe aus dem Hause Jens Spahn nicht nur die Gemüter erhitzen, sondern auch unsere Bürger auf die Straße treiben, seien es die Proteste gegen das Gesetz zur Zwangsmasernimpfung, die Überlegungen zur Zwangscoronaimpfung oder nun das Intensivpflegegesetz mit der Zwangseinweisung in Heime. ({0}) Lieber Herr Spahn, wir leben in einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft. Auch wenn Sie das Wort „Zwang“ niemals aussprechen: Alle Ihre Gesetzentwürfe gehen immer in die Richtung einer teilweisen Entmündigung unserer Bürger. Daher freue ich mich, dass die Proteste vieler Betroffener und Behindertenverbände zu einer Korrektur des Intensivpflegegesetzes geführt haben und der Passus, der die Selbstbestimmungsrechte eines Intensivpflegepatienten ausgehebelt hätte, nun ersatzlos gestrichen wurde. ({1}) ln ihren Änderungsanträgen hat die Koalition den Gesetzentwurf in wichtigen Punkten nachgebessert. Versicherte mit Intensivpflegebedarf dürfen, angelehnt an die aktuelle Regelung, Pflegefachkräfte selbst beschaffen. Die Koalition verankert auch den Sicherstellungsauftrag der Krankenkasse im Intensivpflegegesetz. Das entspricht unseren Änderungsanträgen, die gestern im Ausschuss diskutiert wurden. ({2}) – Stellen Sie eine Frage; dann gebe ich Ihnen eine Antwort. Ich war im Ausschuss für Arbeit und Soziales und habe dort geredet als behindertenpolitischer Sprecher. Noch eine Frage? ({3}) Dennoch ist Ihr Gesetz, Herr Minister Spahn, noch voller kleiner Teufel, die ja bekanntlich im Detail stecken. Sie scheuen sich weiterhin, eine klare Regelung für den Wunschort der Leistungserbringung zu schaffen. Jetzt soll „berechtigten Wünschen“ der Versicherten entsprochen werden. Doch wer definiert „berechtigte Wünsche“? Diese Formulierung schafft wieder einmal eins, nämlich Rechtsunsicherheit und nicht unerheblichen Verwaltungsaufwand. Warum war überhaupt eine Novellierung des Intensivpflegegesetzes vonnöten? Es geht um Leistungsmissbrauch, wie Sie richtig sagten, im großen organisierten Stil. Doch nicht die Leistungsberechtigten haben die Krankenkassen geprellt, sondern bandenmäßige Pflegedienste, oftmals mit osteuropäischem Hintergrund. Die Intensivpflege kostete 2018 die gesetzliche Krankenversicherung 1,9 Milliarden Euro. Wie hoch der Anteil an betrügerisch ergaunerten Abrechnungen liegt, lässt sich zurzeit nur mutmaßen. Nun sollen durch das Intensivpflegegesetz Einsparungen im dreistelligen Millionenbetrag entstehen. Doch ob es diesen Anforderungen gerecht wird, ist fraglich. Denn an pflegebedürftigen Menschen sparen zu wollen, statt endlich massiv gegen die schwarzen Schafe der Pflegebranche vorzugehen, halte ich für moralisch sehr bedenklich. ({4}) Doch nun zu unseren eigenen Anträgen. Deutschlands Krankenhäuser, Rehakliniken und auch Kurbetriebe leiden immer noch unter den Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus. Ein Regelbetrieb zur Behandlung normaler Patienten wird immer noch durch die Regierung verhindert. Die AfD-Fraktion fordert, die Coronamaßnahmen in Krankenhäusern, Kurkliniken, Rehaeinrichtungen und Seniorenheimen auf den Prüfstand zu stellen und die dort geltenden Coronaregelungen auf Angemessenheit und Sinnhaftigkeit zu prüfen. Gerade in Seniorenheimen ist es zu kasernenartiger Isolation unserer alten Mitbürger gekommen, unter der die Bewohner und deren Angehörige zu leiden hatten. Derartige Einschränkungen der Grundrechte sind unverzüglich einzustellen. ({5}) Der Staat zahlt immer noch Geld für das unnötige Freihalten von Betten über den Rettungsschirm der Regierung. Dieser Fehlanreiz muss umgehend beseitigt werden, damit der Regelbetrieb – selbstverständlich unter Beachtung der erforderlichen Hygienemaßnahmen – endlich wieder aufgenommen werden kann. Herr Präsident, ich komme zum Schluss. Mit einem besonders sensiblen Thema befasst sich unser Antrag zur Frühreha. In Deutschland gibt es gravierende Defizite in der Versorgung von Schwerstverletzten bzw. bei deren Reha. Aufgrund der pauschalisierten Abrechnung im DRG-System liegt es im finanziellen Interesse der Krankenhäuser, Patienten schnellstmöglich wieder zu entlassen. Wir benötigen ein fachübergreifendes, flächendeckendes Netz an Einrichtungen, die eine Frühreha sicherstellen können. Dieses Versorgungsnetz hilft, verfrühte Entlassungen oder Verlegungen aus den Akutkrankenhäusern zu verhindern. Vielen Dank. ({6})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion der SPD die Kollegin Heike Baehrens. ({0})

Heike Baehrens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Zuhörerinnen und Zuhörer! Es ist der Sozialverband VdK, der bundesweit für sozialrechtliche Expertise steht und die Rechte und Interessen von Patienten und Menschen mit Behinderungen nachdrücklich vertritt. ({0}) Da ist es ja fast wie ein Ritterschlag, dass der VdK das heute zur Abstimmung stehende Gesetz lobt. Ich denke, wir haben viel erreicht. Der Zugang zur Rehabilitation wird erleichtert, und das bedeutet mehr Selbstständigkeit und Lebensqualität. Bei der geriatrischen Reha wird es keine langwierigen Genehmigungsverfahren mehr geben, und wir stärken die Rehakliniken, damit sie im Wettbewerb um gutes Personal mithalten können. Wir haben aber vor allem sehr viel erreicht für diejenigen Menschen, die aufgrund einer schwerwiegenden Erkrankung wie ALS oder wegen schwerster Traumata nach einem Unfall dauerhaft auf intensivmedizinische Versorgung angewiesen sind. Es ist gut, dass viele sich zu Wort gemeldet, nachdrücklich ihre Sorgen zum Ausdruckt gebracht und ihre Interessen vertreten haben. Das hat zu wesentlichen Veränderungen in diesem Gesetzgebungsverfahren geführt. ({1}) Wir sorgen mit diesem Gesetz dafür, dass sie weiterhin gut versorgt werden und dass ihre Selbstbestimmung und bestmögliche Teilhabe am gesellschaftlichen Leben gewährleistet wird. Den berechtigten Wünschen der Betroffenen ist zu entsprechen – das steht wortwörtlich im Gesetz –, und dafür haben wir als SPD-Fraktion besonders gekämpft. ({2}) Selbstverständlich sind die Krankenkassen nach wie vor in Kooperation mit den Leistungserbringern für die Sicherstellung einer bedarfsgerechten Versorgung verantwortlich. Werden Mängel in der pflegerischen Versorgung festgestellt, sind diese durch geeignete Nachbesserungsmaßnahmen in angemessener Zeit zu beseitigen. „Nicht ohne uns über uns“: Diesem Motto der internationalen Behindertenbewegung tragen wir Rechnung. Denn es wird keine einseitige Entscheidung der Krankenkassen mehr geben. Sie haben zukünftig mit dem Versicherten unter Beteiligung der Leistungserbringer eine Zielvereinbarung zu schließen, angelehnt an das bewährte Teilhabeverfahren, das wir mit der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention im Bereich der Eingliederungshilfe eingeführt haben. ({3}) Wir stärken mit einem weiteren Änderungsantrag, im Ausschuss vorgelegt, das persönliche Budget, damit das Pflegesetting auch weiterhin selbst organisiert werden kann im Arbeitgebermodell, indem eben multiprofessionell in bewährter Kooperation von Fachpflege, Pflegeassistenz und Betreuungskräften zusammengearbeitet werden kann. ({4}) An dieser Stelle – das ist für mich vielleicht ungewohnt, aber ich will es heute mal machen – danke ich den Kolleginnen und Kollegen der Union, die diesen Weg nach sehr intensiven Verhandlungen mit uns gemeinsam gehen. ({5}) Ich danke Ihnen und Ihrem Team, Herr Minister Spahn, dass Sie, obwohl Sie in den letzten beiden Wochen, glaube ich, mehrmals über Ihren eigenen Schatten springen mussten, mit uns bis zur letzten Minute konstruktiv und zielführend gerungen haben. ({6}) Es hat sich gelohnt; denn die Rahmenbedingungen für die außerklinische Intensivpflege werden entscheidend verbessert, und wir stemmen uns gemeinsam dem Missbrauch entgegen. Das war auch dringend nötig; denn wir wissen beispielsweise aus den Berichten der bayerischen Taskforce, dass es bei zwei Drittel der 130 zugelassenen Intensivpflegedienste auffällige Befunde gab, und bei 47 dieser Dienste wurde die Staatsanwaltschaft eingeschaltet. Prüfungen müssen sein, um Qualität sicherzustellen. Intensivpflege-WGs, die betrügerische Absichten verfolgen, muss die rote Karte gezeigt werden. Prüfungen müssen sein, um die Spreu vom Weizen zu trennen. ({7}) Für dieses Gesetz zu kämpfen, war außerdem dringend nötig, damit mehr schwerstkranke Menschen wieder ohne Beatmungsgeräte leben können. Zu viele Patienten werden zu früh aus dem Krankenhaus entlassen und dann dauerhaft invasiv beatmet. Deswegen schaffen wir die Grundlage dafür, dass alle Chancen der Entwöhnung schon während der Krankenhausbehandlung erkannt werden und die Überleitung aus der stationären in die ambulante Versorgung optimiert wird, indem das Weaning-Potenzial, wo immer möglich, genutzt wird. ({8}) Was für ein Gewinn an Lebensqualität, wenn Patienten ohne Tracheostoma nach Hause zurückkehren und ihrer Arbeit wieder nachgehen können! Das wird zukünftig häufiger gelingen. Im Übrigen sorgen wir für eine echte Wahlmöglichkeit für den besten Ort der medizinischen und pflegerischen Versorgung; denn die häusliche Versorgung wird nicht teurer. Gleichzeitig muss nun aber auch niemand die stationäre Versorgung aus Sorge vor einer finanziellen Überforderung scheuen; denn die Kosten für die stationäre medizinische Versorgung inklusive Unterbringung, Verpflegung und Investitionskosten werden zukünftig von den Krankenkassen übernommen. Wir als SPD-Fraktion freuen uns, dass wir dieses wichtige Gesetz heute beschließen können. Kritisch werden wir weiter beobachten, ob der politische Wille des Gesetzgebers auch von den Krankenkassen umgesetzt werden wird. Ich denke, der Spagat ist gelungen. Das Gesetz schafft die Grundlage für eine bessere Versorgung in der außenklinischen Intensivpflege und für weniger Fehlanreize und Missbrauch. Vor allem aber wird es für mehr Selbstbestimmung und Lebensqualität sorgen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion der FDP die Kollegin Nicole Westig. ({0})

Nicole Westig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004931, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit fast einem Jahr zittern Betroffene vor dem Gesetzentwurf, den wir heute hier abschließend beraten. Menschen mit Intensivpflegebedarf leben in Angst, künftig gegen ihren Willen im Heim untergebracht zu werden. Auf den allerletzten Metern sind uns die Regierungsfraktionen nun entgegengekommen. Das Damoklesschwert des Heimzwangs wurde entschärft, ist aber noch nicht stumpf. Dies wurde erreicht durch Zusammenstehen der demokratischen Oppositionsfraktionen und bemerkenswerte öffentliche Proteste von Betroffenen. ({0}) Mein besonderer Dank geht deshalb an Laura Mench und alle anderen, die ihren Protest deutlich gemacht haben, sei es öffentlich oder nichtöffentlich. ({1}) Vieles ist erreicht worden. Arbeitgebermodell und 28-Tage-Regelung werden beibehalten, ambulante und stationäre Versorgung wurden finanziell angepasst. Dennoch halten wir, Grüne, Linke und Freie Demokraten, weiterhin an unserem Änderungsantrag fest; ({2}) denn wir sehen das Grundrecht auf Selbstbestimmung im vorliegenden Gesetzentwurf nach wie vor eingeschränkt. Bei der Frage nach dem Leistungsort der Versorgung soll künftig den „berechtigten Wünschen“ der Menschen mit entsprochen werden – immerhin. Aber wir fragen uns: Wer entscheidet darüber, ob ein Wunsch berechtigt ist? In der UN-Behindertenrechtskonvention steht nicht etwa, dass das Recht, selbst zu bestimmen, wo man lebt, davon abhängt, dass man einen berechtigten Grund dafür nennt. Und wenn es bei den nun vorgesehenen Zielvereinbarungen unterschiedliche Auffassungen zur Versorgungssicherheit gibt, wer hat dann das letzte Wort? Oft genug gibt es eben keine Augenhöhe zwischen Versicherten und Kassen. Oft genug ist das ein Kampf David gegen Goliath. Und, liebe Frau Baehrens, auch Frau Bentele hat in ihrer Presseerklärung gesagt, sie will den Kassen genau auf die Finger schauen, wenn diese nicht kooperieren. ({3}) Wir werden das notfalls vor den Sozialgerichten angreifen. Im Gesetzentwurf fehlt auch, dass der Sicherstellungsauftrag eindeutig bei den Kassen liegt. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der GroKo, Sie halten an jährlichen Prüfungen fest. Wir sind der Meinung: Wenn eine Prüfung ein positives Ergebnis hatte, kann das Intervall auch auf bis zu drei Jahre verlängert werden. Mit unserem gemeinsamen Änderungsantrag sowie dem Entschließungsantrag der Freien Demokraten sorgen wir dafür, dass das hier vorgelegte Gesetz der UN-Behindertenrechtskonvention entspricht. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der GroKo, Sie sind uns und allen Betroffenen weit entgegengekommen. Das nehmen wir sehr positiv auf. ({4}) Aber lassen Sie uns auch noch den letzten Schritt gehen. Lassen Sie uns das Damoklesschwert „Heimunterbringung gegen den Willen der Betroffenen“ gemeinsam begraben. Vielen Dank. ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke ist die Kollegin Pia Zimmermann. ({0})

Pia Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004454, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Damen und Herren! Auf den Rängen sind ja noch einige liebe Kolleginnen und Kollegen. Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz ist heute unser Thema. Ich möchte dazu berichten. Die LIGA Selbstvertretung, ein Zusammenschluss von 13 bundesweit tätigen Selbstvertretungsorganisationen, zudem von Menschen mit Behinderung geführt, kommentiert Ihren Entwurf des IPReG heute in einer Pressemitteilung. Denn das sind die Betroffenen, und die möchte ich heute hier zu Wort kommen lassen. Die LIGA-Sprecherin Dr. Sigrid Arnade spricht von einer verschleierten Salamitaktik. Ich zitiere: Die Grundrechte der Betroffenen – also der Menschen, die auf Beatmung angewiesen sind – werden beschnitten; sie müssen immer wieder um eine bedarfsgerechte Versorgung kämpfen; und die Krankenkassen versuchen, sich aus der Leistungspflicht zu verabschieden. Meine Damen und Herren, es kann doch wirklich nicht wahr sein, dass Menschen ihren Lebensmittelpunkt nicht selbst bestimmen können. Sie sollen sich jährlich gegenüber den Krankenkassen beweisen müssen, denjenigen, von deren gutem Willen sie letztendlich abhängig sind. Frau Arnade beschreibt das so: Mit einer diabolischen Taktik haben die Krankenkassen zusammen mit Teilen der Gesundheitsverwaltung die Öffentlichkeit und Politiker*innen hinters Licht geführt. Meine Damen und Herren, es ist doch ganz offensichtlich: Es kommt Ihnen nicht darauf an, dass die Menschen mit Behinderung oder Menschen mit Intensivpflegebedarf ein selbstbestimmtes Leben führen können. Es kommt Ihnen auch nicht darauf an, die ganz persönlichen, individuellen Bedürfnisse dieser Menschen zu sehen. Sie reduzieren sie ausschließlich auf ihre Handicaps. ({0}) In der Altenpflege sagen Sie, Herr Spahn: Ambulant vor stationär. Bei Menschen mit Intensivpflegebedarf soll es auf einmal anders laufen. Sie machen sich die Welt auch, wie es Ihnen gefällt: immer schön die kostengünstige Variante. Und Sie handeln entgegen der UN-Behindertenrechtskonvention, indem Sie das Selbstbestimmungsrecht der Menschen missachten, und das missachten wir. ({1}) Und nicht nur das: Sie spalten einmal mehr die Gesellschaft in diejenigen, die sich gute, individuelle Pflege leisten können, und diejenigen, die es nicht können. Auch das missachten wir. ({2}) Meine Damen und Herren, wenn Sie die Finanzierung der Pflege nicht schleunigst auf gesunde Füße stellen, wird Ihnen der Laden um die Ohren fliegen. Wenn Sie die Finanzierung der Pflege nicht schleunigst revolutionieren, werden Sie nicht ein einziges Problem vernünftig lösen können. Sie sagen, Sie wollen mit diesem Gesetzentwurf Versorgungsqualität verbessern. Bei diesem Ziel gehe ich sogar mit. Aber weil die Fraktion Die Linke dieses Ziel teilt, können wir diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen. Ihr Gesetzentwurf löst diesen Anspruch nämlich nicht ein. Eines, Herr Spahn, kann ich Ihnen versprechen. Ich werde Ihnen bei der Umsetzung dieses Gesetzes sehr genau auf die Finger schauen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss, bitte.

Pia Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004454, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Damit bin ich nicht alleine. Die Betroffenen lassen sich nicht abspeisen; das haben sie in den letzten Monaten eindrücklich bewiesen. Wir brauchen einen runden Tisch für außerklinische Intensivpflege, um die Qualität zu sichern, egal wo diese Pflege erbracht wird. Denn darauf kommt es an, –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss.

Pia Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004454, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

– und nicht auf Ihre Einsparungen. Herzlichen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Danke sehr. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, die Sitzungsleitung hat gewechselt. Ich möchte ein paar verwaltungsleitende Hinweise geben. Wir haben noch drei Redner hier. Es passiert den drei Rednern, die jetzt reden, nichts. Aber ab dem nächsten Tagesordnungspunkt werde ich sehr sorgfältig auf die Einhaltung der Redezeiten achten. Ich werde dann auch keine Zwischenfragen und Kurzinterventionen mehr zulassen. Wir sind momentan bei 0.30 Uhr. ({0}) – Ja, mag alles sein. Deshalb kündige ich das ja an, damit keiner Ärger bekommt. – Aber wir haben eine Verantwortung auch gegenüber den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Deutschen Bundestages. Wie gesagt, bei diesem Tagesordnungspunkt gilt das noch nicht, weil Herr Oppermann so großzügig war; deshalb bin ich das auch. Aber ab dem nächsten Tagesordnungspunkt wird das wieder sehr strikt gehandhabt. Als nächste Rednerin hat die Kollegin Kordula Schulz-Asche, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort. ({1})

Kordula Schulz-Asche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004405, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit über einem Jahr verfolgt die Bundesregierung mit dem sogenannten Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz eine Reihe von Zielen, die hier im Hause eine große Mehrheit finden würden. Wir alle hier wollen die Qualität der außerklinischen Intensivpflege verbessern. Wir alle hier wollen die kriminellen Machenschaften einiger endlich unterbinden. Wir alle wollen die Potenziale der Beatmungsentwöhnung ausschöpfen; denn wir wissen, was das für eine Verbesserung, einen Zugewinn an Lebensqualität bedeutet. Auch falls es keiner Verbesserung bedürfte, würden die Regelungen im Bereich der Rehabilitation auf Zustimmung treffen. ({0}) All das hätten wir hier vor Monaten beschließen können. Deswegen ist die Frage, Herr Minister Spahn: Warum haben Sie das nicht getan? ({1}) Diese Frage stelle ich hier, weil die in dem Gesetz enthaltenen Regelungen zur außerklinischen Intensivpflege von Anfang an in eklatantem Widerspruch zu den Selbstbestimmungsrechten der betroffenen Menschen und zur UN-Behindertenrechtskonvention standen. ({2}) Sie haben nicht auf den Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung, Herrn Dusel, gehört. Sie haben nicht auf die Petitionen und auf die Proteste gehört. Sie haben nicht auf die Anhörung im Bundestag gehört. Nach einem Jahr intensivster Diskussionen haben Sie sich erst in dieser Woche am Dienstag, wahrscheinlich auf Druck der SPD, zu Änderungen hinreißen lassen. Aber auch damit ist für uns keine Rechtssicherheit für die betroffenen Menschen gegeben, auch damit keine Garantie, dass selbstbestimmtes Leben im eigenen Zuhause weiter möglich ist. Darum muss es uns allen doch gehen, meine Damen und Herren. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus den Reihen der SPD-Fraktion? Die ehemalige Bundesministerin Ulla Schmidt hätte eine Frage.

Kordula Schulz-Asche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004405, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, gerne.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Nur eine. Bitte.

Ulla Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002019, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin Schulz-Asche, ich bin mir immer nicht so ganz sicher, ob auch Sie alle von der Opposition das Gesetz so, wie es jetzt formuliert ist, gelesen haben. ({0}) – Doch. Kann man noch zuhören? – Ich glaube, dass ich hier unbestritten auch als jemand stehe, der für die Rechte der Menschen mit Behinderung und für die Umsetzung der Behindertenrechtskonvention eintritt. Aber das, was auch wir hier im Bundestag in der Frage der Umsetzung der Behindertenrechtskonvention, in der Frage des Bundesteilhabegesetzes und in der Frage des Selbstbestimmungsrechts gemacht haben, ist genau das, was jetzt hier zum Tragen kommt und was der Unterschied ist zu dem, was vorher im Entwurf war, wo stand, dass den Wünschen zu entsprechen ist, soweit die Qualität gesichert ist. – Hier steht: „Berechtigten Wünschen der Versicherten ist zu entsprechen.“ Punkt. „Berechtigt“ ist ein sozialrechtlich höchstrichterlich sehr klar definierter Begriff. ({1}) Dann kommt: Es ist Aufgabe der Krankenkasse, dafür zu sorgen und zu prüfen, ob die Qualität sichergestellt ist oder wie sie sichergestellt werden kann. Dann kommt, dass dazu alle die, die wir im Teilhabeverfahren haben, mit an einen Tisch müssen. Es gibt nicht mehr das Problem, dass die Krankenkasse einfach die Leistung verweigern kann. Sie sind alle gehalten, miteinander daran mitzuwirken. Wenn es hier um Intensivpflege geht und wenn wir Vereinbarungen machen, dann hat das doch etwas damit zu tun, dass wir die Versicherten oder die, die sie betreuen, auch in diesen Prozess einbeziehen wollen, sodass nicht einfach nur die anderen darüber entscheiden, was passiert. Deshalb frage ich Sie, ob Sie das genauso gelesen haben; denn ich wundere mich schon über die Kritik, die hier aufkommt, auch in vielen Debatten, die gerade über Behindertenpolitik geführt werden. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, geben Sie jetzt Ihre Antwort.

Kordula Schulz-Asche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004405, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Liebe Frau Kollegin Schmidt, Sie wissen, dass ich Sie sehr schätze und dass Sie auch in unserer Gesellschaft aktuell gerade für die Menschen mit Behinderung eine sehr, sehr wichtige Rolle spielen. Wir wissen auch – wir haben es in dieser Woche auch gehört –, dass die Verbesserungen, die in dieser Woche vorgenommen wurden, sehr stark auf Ihre Interventionen zurückzuführen sind. Dafür möchte ich Ihnen auch im Namen der betroffenen Menschen ausdrücklich danken. ({0}) Wenn Sie mir gerade zugehört haben, bin ich, wie gesagt, auch gern bereit – ich habe ja jetzt noch zwei Minuten –, in meiner Rede fortzufahren. Ich habe bisher eigentlich vor allem Minister Spahn und die Verschleppung des bisherigen Verfahrens kritisiert, weil die anderen Teile dieses Gesetzes gar nicht schlecht sind. Ich habe auch gesagt, dass das, was in dieser Woche gemacht wurde, durchaus Verbesserungen sind, aber trotzdem nicht zu Rechtssicherheit führt und deswegen auch weiterhin von uns kritisiert wird. Wenn Sie mir erlauben, würde ich auch genau darauf jetzt weiter eingehen, an welchen Punkten wir die gleiche Problematik fortgesetzt sehen. Sie haben es gerade angesprochen: Den Wünschen der Betroffenen ist zu entsprechen. – Das ist sozusagen die Analogie zum SGB IX. Wir haben aber in diesem Gesetz auch Betroffenengruppen, die nicht durch das SGB IX abgedeckt sind. Deswegen sehen wir hier keine grundsätzliche Problemlage für alle Betroffenengruppen geklärt. Für die Versorgungsschwierigkeiten sind nach wie vor die Betroffenen zuständig. Wir sind aber der Meinung, dass es dringend geboten ist, dass die Kassen den Sicherstellungsauftrag zu erfüllen haben. Das steht nicht in Ihren Änderungsanträgen. ({1}) Für uns ist auch nicht absehbar, was die Zielvereinbarungen für die Betroffenen bedeuten, wenn zum Beispiel keine Erfolge von wem auch immer definiert werden. Das sind meiner Meinung nach drei wesentliche Punkte, die nach wie vor in der jetzigen Regelung zu kritisieren sind ({2}) Deswegen ist für uns immer noch nicht ausgeschlossen, dass die Betroffenen gegen ihren Willen in eine stationäre Einrichtung umziehen müssen. Das ist der Kernpunkt. Die Selbstbestimmung ist für uns das Hauptthema. Deswegen halten wir, die drei Oppositionsfraktionen aus dem demokratischen Lager, unseren Änderungsantrag aufrecht. ({3}) – Ja. – Wieso ist jetzt die Zeit schon vorbei?

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, keine Zwiegespräche, weil die Rednerin sonst nicht zum Schluss kommt, worum ich sie jetzt dringend bitte.

Kordula Schulz-Asche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004405, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Genau. – Deswegen halten wir an unserem Änderungsantrag fest. Uns geht es vor allem um die Selbstbestimmung der Betroffenen. Wir sehen die nach wie vor nicht wirklich gewährleistet. Sie haben durch die einjährige Verschleppung, durch das unzureichende Verfahren eher dafür gesorgt, dass das Vertrauen bei vielen Menschen verspielt wurde. Ich hoffe, dass wir das in irgendeiner Form wiedergutmachen können. Aber dieser Bereich ist wirklich ein zentraler Punkt der Versorgung.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Kordula Schulz-Asche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004405, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir haben einen Entschließungsantrag mit Verbesserungsvorschlägen eingebracht. Wir werden den Regierungsentwurf für dieses Gesetz ablehnen. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner ist der Bundesminister Jens Spahn. ({0})

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gesundheitsversorgung zu verbessern, auch dort, wo es Qualitätsmängel gibt, wo es berechtigte Ansprüche und Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger und der Betroffenen gibt, das ist genau einer der Schwerpunkte unserer Gesundheitspolitik in den letzten zwei Jahren. So reiht sich dieses Gesetz zur Verbesserung in der Intensivpflege und übrigens auch in der Rehabilitation ein in eine ganze Reihe weiterer Gesetzgebungsverfahren, die in gleicher Art und Weise zu Veränderungen und Verbesserungen führen; auch das ist mir wichtig. Es geht nicht nur um das Ergebnis und den Inhalt. Es geht auch um das Verfahren, in dem wir miteinander beraten haben – Beratungen, Debatten, ein Gesetzgebungsprozess, der am Ende konstruktiv, kritisch – ja – zu Veränderungen und Verbesserungen führt. Ich verstehe Gesetzgebung im Deutschen Bundestag – und das nicht nur als Bundesminister, sondern auch als Mitglied des Bundestages – doch genau mit diesem Zweck versehen, nämlich dass man durch Beratungen Gesetze besser macht. Dafür machen wir doch diesen ganzen Prozess miteinander. ({0}) Deswegen wundere ich mich immer, dass es dann am Ende kritisiert wird, wenn wir zu Änderungen kommen. Ich verstehe Debatten eigentlich genau als Mittel, um zu Verbesserungen, Kompromissen und Lösungen zu kommen, und zwar zu Lösungen für intensivpflichtige Patienten: 24 Stunden, 7 Tage die Woche, ein sehr sensibler Bereich. Man wundert sich: Wir haben in so vielen Bereichen des Gesundheitswesens, in kleinsten und größeren, Qualitätsvorgaben. Aber in diesem sensiblen Bereich gibt es bisher keine einheitlich definierten Qualitätsvorgaben. Es gibt an zu vielen Stellen keine Kontrolle, und das ändern wir zum Schutz und zur Unterstützung derjenigen, die sich zu oft selbst gar nicht wehren können. Es dient ihrem Schutz. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Minister, erlauben Sie zwei Zwischenfragen aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und aus der Fraktion der AfD? Ich weise darauf hin, dass dies Ihre Redezeit locker um einige Minuten verlängern wird.

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Quasi verdoppelt.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Zunächst, genau. ({0})

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Bitte schön.

Corinna Rüffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004390, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Schulz-Asche beschwert sich, dass sie nicht genügend Zeit hatte. Na ja, aber egal. – Sie haben gesagt – das ist auch völlig richtig –, dass ein Gesetz im Verfahren verbessert werden soll. Aber was wir hier haben – ich habe dieses Gesetz wirklich von Anfang an begleitet und beobachtet, Öffentlichkeitsarbeit dazu gemacht, mit Aktivisten geredet, mit Leuten, die beatmet werden – – ({0}) – Und jetzt seien Sie mal ruhig! Denn das hier ist kein Konflikt zwischen den drei demokratischen Oppositionsfraktionen und der SPD. Halten Sie einfach einmal die Luft an! Ich will jetzt etwas mit Herrn Spahn klären. ({1}) Sie haben von Anfang an gewusst, dass es eine Gruppe von dauerhaft beatmeten Patienten gibt, bei denen es auch keine Entwöhnung geben kann, die zu Recht befürchtet hat – weil der erste Entwurf in dieser Frage ganz klar gewesen ist –, dass es grundsätzlich die Möglichkeit geben soll, dass der MDK über eine Verlegung in besondere Wohnformen entscheiden können soll. Jetzt muss man sagen: Wir sind 50 Wochen später, und diese Menschen und ihre familiären Strukturen haben 50 Wochen lang richtig Angst gehabt. Schon wenn es darum geht, eine Schulbegleitung zu beantragen, und das abgelehnt wird, ist das für Familien richtig brutal hart. Ich weiß nicht, Herr Minister, ob Sie sich vorstellen können, was es bedeutet, wenn Familien 50 Wochen lang, wenn Menschen 50 Wochen lang Angst davor haben, in ein Heim verlegt zu werden. Warum haben Sie, Herr Minister, nicht vorher eingelenkt? Warum haben Sie nicht an der Stelle signalisiert, dass Sie einsehen, dass es gesetzliche Klarheit braucht, um hier das Selbstbestimmungsrecht von Menschen mit Behinderungen klar zu regeln? ({2}) Warum haben Sie das nicht gemacht, sondern haben diese Leute in Angst gelassen? Und warum haben Sie gestern im Gesundheitsausschuss sinngemäß behauptet, dass für diese Angst die Oppositionsfraktionen zuständig seien, dass wir diese Angst ausgelöst hätten? Warum haben Sie das gesagt, wenn doch im Entwurf klar gewesen ist, dass diese Angst berechtigt gewesen ist? Warum haben Sie dieses Leid verursacht, Herr Minister? ({3})

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Zuerst einmal: Soweit ich mich erinnere, waren Sie gar nicht anwesend. Aber unabhängig davon – – ({0}) – Ja, ich finde schon: Wenn man hier zitiert, dann sollte man wenigstens dabei gewesen sein. ({1}) – Waren Sie dann zugeschaltet? Sie waren jedenfalls nicht im Raum. Dann entschuldige ich mich. ({2}) – Was regt ihr euch denn – – ({3}) Ich habe Sie nicht gesehen. So. Sie waren zugeschaltet, was ich nicht wusste. Wir müssen uns alle offensichtlich daran gewöhnen, dass wir Ausschusssitzungen mittlerweile so machen, dass wir uns nicht mehr alle gegenseitig sehen. Das ist doch jetzt gar kein Anlass zur Empörung. ({4}) Zum Zweiten habe ich ab dem ersten Entwurf – ich kann mich noch sehr genau erinnern an den ersten Tag der Debatte; ich habe diese nämlich mindestens genauso intensiv geführt wie Sie, ob Sie es mir glauben oder nicht, und am Ende mit dem gleichen Ziel –, ab dem ersten Tag gesagt, dass das, was Sie gerade wieder unterstellt haben, zu keinem Zeitpunkt unsere Absicht und unser Ziel gewesen ist und dass wir am Ende eine Gesetzesformulierung finden werden, die genau das sicherstellt. Genau das habe ich vom ersten Tag an gesagt – vom ersten Tag an. ({5}) Dann muss man sich schon die Frage stellen, ob, wenn ich das als Bundesminister sage und auch die Koalition das vom ersten Tag an sagt, es dann richtig ist, jeden Tag aufs Neue entsprechende Äußerungen zu machen. Diese Frage stelle ich schon. ({6}) Wir haben vom ersten Tag an gesagt, dass wir das nicht wollen und dass wir sicherstellen wollen, dass das nicht passiert. Wir werden es sicherstellen, und wir tun es auch.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Minister, wir haben eine weitere Zwischenfrage. ({0}) – Bitte, es macht keinen Sinn, auf diese Art und Weise in eine Zwiesprache einzutreten. Sie haben das Wort, Herr Kollege.

Martin Sichert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004892, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank. – Herr Minister, Sie haben ganz zu Anfang Ihrer Rede gesagt, dass das Ziel sein muss, die Gesundheitsversorgung zu verbessern. In ein ähnliches Horn hat heute früh der Bundesfinanzminister Olaf Scholz gestoßen, der gesagt hat: Es muss unser Ziel sein, mit den 218 Milliarden Euro, die jetzt an Schulden auf Bundesebene neu aufgenommen worden sind, den Sozialstaat auszubauen. Wir haben aber hier ein Gesetz, bei dem vom „Wunsch“ weggegangen wurde zum „berechtigten Wunsch“ – der natürlich auch eine Wirtschaftlichkeitsprüfung impliziert. Ja, es wurde einiges verbessert. Aber es steht jetzt immer noch der „berechtigte Wunsch“ drin, und es droht immer noch, dass Tausende bis Zehntausende Euro Zuzahlungen auf die Patienten zu Hause zukommen. ({0}) Die Menschen in diesem Land sind keine Ware. Es geht um das Seelenheil der Menschen, die bei ihrer Familie, bei ihren Verwandten zu Hause sein wollen, die sagen: „Wir haben in den Pflegeheimen teilweise katastrophale Situationen“, und die sich dann tatsächlich dort abgeschoben fühlen. Die Frage, die ich an Sie habe, ist: Wir haben heute früh 218,5 Milliarden Euro neue Schulden beschlossen. Wir sehen, die Bundesregierung ist jederzeit bereit, Hunderte Milliarden Euro teure Versprechen einzugehen, wenn es um irgendwelche Finanzierungsprogramme der Europäischen Union geht. Warum versucht man hier, die paar Euro bei den Schwächsten der Gesellschaft einzusparen? ({1})

Jens Spahn (Minister:in)

Politiker ID: 11003638

Der Umstand, dass gerade ein Vertreter Ihrer Fraktion hier eine solche Bemerkung macht, würde mich jetzt zu vielerlei Kommentaren veranlassen können; die spare ich mir jetzt an dieser Stelle. ({0}) – Na ja, also wie Sie sich insbesondere zu dieser besonders betroffenen Gruppe von Menschen, die Unterstützung brauchen, verschiedentlich äußern, Vertreter Ihrer Partei, und sich dann hier so hinzustellen: Das ist nicht nur doppelzüngig, da fielen mir auch noch manch andere Worte zu ein. Das will ich Ihnen einmal klipp und klar sagen. ({1}) Aber unabhängig davon, sagen wir auch sehr klar – und wir machen auch die entsprechenden Regelungen –, dass eben nicht der Geldbeutel darüber entscheiden soll, sondern Notwendigkeiten, und vor allem auch Notwendigkeiten zur Erbringung der notwendigen Qualität und zur Erfüllung der Bedürfnisse. Dazu gehört, dass wir auch in großem finanziellen Umfang Eigenbeteiligungen, Zuzahlungen, 2 000 bis 3 000 Euro im Monat für stationäre Pflege wegnehmen – ein Wunsch, der von vielen Familien an uns herangetragen worden ist. Die gesagt haben: Für unsere familiäre Situation und die Situation des Pflegebedürftigen wäre eine stationäre Unterbringung eigentlich besser; aber wir können sie uns nicht leisten. – Und darauf geben wir eine klare Antwort: Die Kosten werden in Zukunft übernommen. ({2}) Auch im ambulanten Bereich machen wir qualitativ einen großen Sprung nach vorn. „Berechtigte Wünsche“ – Frau Kollegin Schmidt hat darauf hingewiesen – ist ein bekannter Begriff, auch schon aus dem SGB IX. Aber drehen Sie das einmal um: Was heißt denn das? Was ist denn das Gegenteil von einem „berechtigten Wunsch“? Sie wären doch die Ersten, die infrage stellen würden, wenn auch die finanziert würden. ({3}) – Da bin ich mir aber ziemlich sicher. Unabhängig davon haben wir hier qualitativ einen ziemlichen Fortschritt für die Betroffenen. Dass nämlich die Zielvereinbarung über die Nachbesserung sowohl in der Pflege wie möglicherweise auch baulich alle an einen Tisch bringt, auch die anderen Sozialversicherungsträger und Kostenträger, ob es die Jugendhilfe ist, ob es die Eingliederungshilfe ist, ob es andere Beteiligte sind, das hat es vorher so nicht gegeben, im SGB V – Krankenversicherung – schon gar nicht. Das ist ein qualitativer Schritt nach vorne für die Menschen, die besonderen Schutz und besondere Unterstützung brauchen. ({4}) Sie brauchen auch Kontrolle von Qualität an bestimmten Stellen; es ist gerade schon angesprochen worden. Wir haben es erlebt, dass Pflegedienste Pflegefachkräfte abgerechnet und in Rechnung gestellt haben – es geht hier teilweise um 20 000, 25 000 Euro im Monat für diese Intensivpflege – und Hilfskräfte oder zu wenig Personal eingesetzt haben. Wir haben es erlebt, dass im dritten Stock einer kleinen Altbauwohnung, ohne dass irgendjemand davon wusste, fünf Wachkomapatienten, Beatmungspatienten, die gar keine Chance hatten, sich zu wehren, unter sehr schwierigen Umständen gepflegt worden sind und es an keiner Stelle irgendeine Kontrolle gegeben hat. Genau diese Art von Pflege wollen wir nicht mehr haben, nämlich zum Schutz und zur Unterstützung derjenigen, die sich selbst nicht wehren können. ({5}) Das bringt mich zu den beatmeten Patienten, zum Teil mit Luftröhrenschnitt. Experten sagen uns, dass bis zu zwei Drittel der beatmeten Patienten in Deutschland eigentlich von dieser Beatmung entwöhnt werden könnten. Zwei Drittel! Sie werden aber nicht entwöhnt wegen organisatorischer, struktureller Probleme in den Abläufen und wegen falscher finanzieller Anreize. Es ist auch eine Form von Selbstbestimmung über den eigenen Körper und das eigene Leben, dass man nicht länger künstlich beatmet wird, als es notwendig ist. Das stellen wir nach langer Debatte endlich ab. Auch das ist aus meiner Sicht notwendig. ({6}) Ich will dabei ausdrücklich sagen, dass ich die Sorgen verstehe. Ich habe mindestens so viele Gespräche geführt wie alle anderen Kolleginnen und Kollegen hier auch. Hier geht es für die Betroffenen, die Angehörigen, alle Beteiligten um viel, um sehr viel. Deswegen ist mir eines ganz wichtig: Hier geht es nicht um Heimzwang, hier geht es um Qualitätspflicht, um eine Pflicht zur Qualität zum Schutz und zur Unterstützung derjenigen, die besondere Unterstützung brauchen, die besondere Hilfe brauchen, die aber eben an vielen Stellen auch für sich selbst entscheiden können und entscheiden wollen. Genau das leistet dieses Gesetz, und daher bitte ich um Ihre Zustimmung. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Minister Spahn. – Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Dr. Georg Nüßlein, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Es ist schon spannend, zu erleben, wie sich die Opposition hier mühsam abarbeitet an einer vermeintlichen Ausgangsformulierung, an etwas, was vielleicht hätte passieren können, an Sorgen, die man selber dann noch in der emotionalen Art und Weise, wie wir es gerade gehört haben, intensiv verstärkt, um dann dagegen argumentieren zu können. Ich könnte jetzt sagen: Das ist blamabel. – Das will ich an dieser Stelle gar nicht tun. Ich will sagen: Das ist ein Kompliment an das Endergebnis, an das Gesetz, das wir heute beschließen. ({0}) Und weil ich jetzt auch erlebt habe, dass sich die Opposition nicht so tief in die Details, insbesondere in Änderungsanträgen, einarbeitet, will ich es bei ein paar grundsätzlichen Anmerkungen belassen. Erstens. Dieses Gesetz ist getragen von dem Grundsatz „Reha vor Pflege“; ganz klar. Zweitens. Wir tun mit diesem Gesetz sehr, sehr viel dafür, dass Menschen mit Behinderung oder Pflegebedarf ein möglichst langes selbstbestimmtes Leben führen können. Und da ist es schon zwanghaft, wenn man so etwas macht wie Sie, wenn Sie davon reden, dass wir einen Heimzwang einführen wollen. Das ärgert mich; das sage ich ganz ehrlich. ({1}) – Na ja. – Man kann natürlich politische Debatten auch so emotional führen, wie Sie sie an dieser Stelle führen. Ich rate Ihnen dazu, sich zurückzunehmen, zu lesen, was wir gemeinsam entwickelt haben. Dann kommen Sie zumindest zu dem Ergebnis wie vorhin die geschätzte FDP-Kollegin, die immerhin gesagt hat: Das Endergebnis ist gut. – Das unterscheidet Sie, die FDP, von der Allianz der Opposition, die ein bisschen eigentümlich ist; aber immerhin. Drittens. Wir verbessern die Qualität und insbesondere die Qualitätskontrolle in der Intensivpflege. Und der Minister hat vorhin beredte Beispiele dafür geliefert, warum das wichtig ist. Meine Damen und Herren, Sie werden bei verständiger Würdigung der Sachlage auch nicht bestreiten können, dass bei diesem Gesetz der Patient mit seinen berechtigten Interessen im Mittelpunkt steht, die die Frau Schmidt vorhin beschrieben hat: auf der einen Seite daheim gepflegt zu werden, aber auf der anderen Seite auch qualitativ gut gepflegt zu werden. Und das ist doch das Anliegen, das wir an dieser Stelle in Einklang gebracht haben, und deshalb wäre es schön gewesen, wenn Sie das entsprechend gewürdigt hätten. Ich glaube, das ist unterm Strich ein sehr, sehr gutes Gesetz, das wir lange und intensiv beraten haben und bei dem am Schluss etwas herauskommt, wofür man durchaus eintreten kann. ({2}) Deshalb bitte ich um Zustimmung und darum, eben nicht das Ausgangsthema zu kritisieren, sondern wirklich etwas dafür zu tun, dass Sie auch einmal als Opposition zeigen:

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege.

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir haben es gelesen, wir haben es verstanden, und wir haben es unterstützt. Vielen herzlichen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Nüßlein. – Damit schließe ich die Aussprache.

Christian Petry (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004605, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Geldpolitik der EZB leistet seit Jahren einen großen Beitrag zur Stabilisierung der europäischen Volkswirtschaften. Viele von uns haben noch den Satz von Draghi im Kopf, als er in der Krise auf die Frage, was er denn tun würde, geantwortet hat: Whatever it takes. – Allein die Aussage hat schon dazu geführt, dass es Stabilität im Euro-Raum gab; denn Psychologie ist auch in diesem Bereich die halbe Miete. Nun haben wir am 5. Mai ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts bekommen. Dazu könnte man jetzt viel sagen; das werden wir auch in der Diskussion tun. Worüber ich nichts sagen werde, ist die Qualität des Urteils; das ist weniger mein Punkt. Ich möchte eher dazu ausführen, was man an Positivem aus diesem Urteil ziehen kann, was wir für Schlüsse ziehen und was wir heute verabschieden. Das PSPP-Programm ist keine monetäre Staatsfinanzierung – das wurde dort eindeutig festgestellt –, ({0}) vielmehr abgedeckt durch die Aufgabe der Europäischen Zentralbank, die Preisstabilität im Euro-Raum zu sichern. ({1}) Zum Urteil gilt es aus meiner Sicht festzuhalten: Die europäische Integration als Aufgabe ist im Grundgesetz verankert. Die Europäische Union leistet diese Integrationsaufgabe. Die EZB ist unabhängig und sichert für unsere Volkswirtschaft die notwendige Preisstabilität. Die Wahrung europäischen Rechts und die Prüfung der Auslegung der europäischen Verträge ist ausschließlich Aufgabe des Europäischen Gerichtshofs. ({2}) Der Anleihekauf über das PSPP ist verhältnismäßig. Diese Prüfung der Verhältnismäßigkeit macht die EZB. Die macht nicht der Deutsche Bundestag, die macht nicht das Verfassungsgericht, und die macht auch nicht die Bundesregierung. Dies ist Aufgabe der EZB, und dies hat sie auch – ich werde es noch ausführen – nach unserer Auffassung ausreichend getan. Die Verhältnismäßigkeit wurde immer geprüft. ({3}) Wir als Deutscher Bundestag haben in vielfältiger Weise das Tätigwerden der EZB oder der Bundesbank in unsere Entscheidungen einfließen lassen: Anhörungen wie jüngst im Finanzausschuss und im Europaausschuss, Berichte und Diskussionen mit Vertretern der EZB und der Bundesbank wie kürzlich mit Herrn Weidmann, Besuche bei der EZB oder der Bundesbank haben wir durchgeführt und uns informieren lassen, Sachstandsberichte des Wissenschaftlichen Dienstes. Auch der Beschluss der EZB vom 3. und 4. Juni ist abrufbar, in dem dargelegt wird, wie die Prüfung stattgefunden hat. Uns wurden auch die jüngsten Unterlagen zur Verfügung gestellt, aus denen hervorgeht, dass das PSPP systematisch in Bezug auf die Verhältnismäßigkeit geprüft wurde. Die einzelnen Maßnahmen, wie dargelegt wurde, wurden dem Bundestag zur Verfügung gestellt, und wir haben sie in unsere Debatten einfließen lassen. Der nun gewählte Weg, wie wir ihn hier beschreiten, schafft darüber hinaus mehr Transparenz und somit noch mehr Vertrauen. Erkennbar wurden die Vor- und Nachteile immer abgewogen. Umfang und Anteile am Gesamtvolumen der verschiedenen Ankäufe im Hinblick auf die mögliche monetäre Staatsfinanzierung wurden ausreichend beachtet. Es ist daher nur folgerichtig, dass wir heute feststellen, dass der Beschluss des EZB-Rates und unser eigenes langjähriges Handeln genügen, um die Anforderungen des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zu erfüllen. ({4}) Die Bundesrepublik Deutschland ist fest in der Europäischen Union verankert. Die europäische Integration ist Aufgabe unseres Grundgesetzes. Sie hat den Frieden in Europa gesichert, die staatliche Einheit ermöglicht und zu Wohlstand und sozialem Fortschritt beigetragen. Das ist eine klare Haltung, wie wir in Deutschland zu Europa stehen. Dieser Haltung schließen sich in unserer Resolution dreieinhalb Fraktionen an. Darauf können wir stolz sein. ({5}) Bei der FDP scheint es eine gewisse Spaltung zu geben. ({6}) Da gibt es die Proeuropäer wie Michael Link, Konstantin Kuhle, und da gibt es die anderen, die eher die national orientierten Interessen nach vorne treiben, wie mein Fußballkollege Frank Schäffler – das ist ganz klar; mit dem habe ich mich noch einmal darüber unterhalten. Wissen Sie, woran man die Spaltung bei Ihnen merkt? Wenn einer von dem zweiten Block redet, klatscht immer die AfD. Da braucht man sich gar nicht viel Mühe zu geben, das merkt man daran. Das sollte Ihnen in diesem Punkt zu denken geben. ({7}) Vielleicht ist es Ihnen möglich, dass man die proeuropäische Seite – Sie haben viele gute Proeuropäer in Ihren Reihen – stärker einbringt. ({8}) Über die Forderung der Linken und der Grünen nach einer rechtlich verankerten Berichtspflicht kann man natürlich nachdenken. ({9}) – Ja, man kann auch laut dazwischenschreien; das geht immer. Kopfnoten wären gar nicht so schlecht bei Ihnen. – Ich persönlich kann mich auch der Forderung von Fabio De Masi und der Linken anschließen, dass man über eine Erweiterung und Veränderung des Auftrags der EZB reden kann. Auch dem kann ich mich anschließen. ({10}) Wir werden das diskutieren müssen. Die Konstruktionsmängel im Euro-Raum sind seit dem Start da; das wussten wir von Anfang an. Für die Zukunft heißt das doch nur, dass wir weiter daran arbeiten, diese Mängel zu beseitigen, ({11}) etwa dass die EZB nicht mehr wie in den letzten zehn Jahren von der Politik alleingelassen wird, den Mangel an Vergemeinschaftung im Bereich der Wirtschafts- und Fiskalpolitik hin zu einer echten Fiskalunion, ({12}) das Fehlen eines europäischen Währungsfonds. Dazu gehört auch eine institutionelle Weiterentwicklung der Union, etwa eigene finanzielle Einnahmen, ein koordiniertes Steuerrecht, etwa um Großkonzerne endlich effektiver besteuern zu können, und eigene Steuereinnahmen. ({13}) Das stammt im Übrigen nicht ausschließlich von mir. Das hat unser Präsident Wolfgang Schäuble gestern im Europaausschuss so eins zu eins gefordert. Ich habe alles mitgeschrieben; ich fand das gut. ({14}) Kolleginnen und Kollegen, wir stellen heute fest, dass den Vorgaben des Urteils des Bundesverfassungsgerichts schon immer entsprochen wurde. Wir werden mutig und entschlossen Europa voranbringen. Deutschland wird nur mit Europa seine starke Stellung und seine offene Gesellschaft gegenüber den Kräften in der Welt behaupten können. ({15}) Nutzen wir gemeinsam diese Chance für ein offenes, freies, friedliches, ökologisch starkes und sozial gerechtes Europa. Erteilen wir Kleingeistern und Nationalisten eine Absage! Besonders die junge Bevölkerung wird uns dies danken. Stimmen Sie der vorliegenden Beschlussempfehlung zu! Dokumentieren Sie damit, dass wir die Vorgaben einer sehr begrenzten Betrachtungsweise der europäischen Realität durch das Bundesverfassungsgericht als erfüllt ansehen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Bitte kommen Sie zum Schluss.

Christian Petry (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004605, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. Glück auf! ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Ich weise darauf hin, weil wir in unserem Plenarsaal neue Gäste haben, dass ich konsequent auf die Einhaltung der Redezeiten achten werde. Zwischenfragen und Kurzinterventionen werden ab diesem Tagesordnungspunkt nicht mehr zugelassen. Nächster Redner für die AfD-Fraktion ist der Kollege Peter Boehringer. ({0})

Peter Boehringer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004675, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist bemerkenswert, welchen Aktionismus der Altparteien ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum bereits seit fünf Jahren laufenden PSPP-Programm auslösen konnte. ({0}) Inzwischen liegt uns sogar eine Liste des bundestagseigenen Europareferats vor, die dokumentieren soll, wie akribisch man sich hier im Hause doch um eine Kontrolle der enormen EZB-Macht bemüht habe. Interessanterweise beinhaltet diese Liste seit 2017 übrigens sehr viele AfD-Initiativen, die Sie allesamt abgelehnt haben. ({1}) Teilweise wollten Sie sie gar nicht zulassen, doch nun will man damit gegenüber dem Gericht eifrig offiziell dokumentieren, der Bundestag sei der vom Gericht geforderten Integrationsverantwortung doch ganz klar nachgekommen. Acht von elf Plenardebatten zur EZB-Politik fanden aufgrund von AfD-Initiativen statt. ({2}) Sieben von zehn einschlägigen Anträgen stammen alleine von unserer kleinen Fraktion – ebenso sechs von elf einschlägigen Anfragen. Von der Bundesregierung kam dagegen praktisch gar keine Aktivität. Wenn Bundestag und Bundesregierung die absehbaren Folgeklagen zu PSPP in Karlsruhe bestehen sollten, dann könnte das durchaus auch an den von Ihnen zutiefst abgelehnten AfD-Anträgen liegen. Doch geschenkt! ({3}) Sie haben sich formell nun endlich um die geforderte Verhältnismäßigkeitsprüfung bemüht, wenn auch fünf Jahre zu spät und vor allem ungenügend; denn spätestens seit 2015 war klar, dass OMT und PSPP die deutsche Haushaltssouveränität letztlich aushebeln. ({4}) Der Bundestag hätte nicht nur die Billionenentscheidungen, die hier eben kleingeredet wurden, viel früher auf Verhältnismäßigkeit prüfen, sondern dazu vor allem auch eine „verbotene monetäre Staatsfinanzierung“ feststellen müssen. ({5}) Der Integrationsverantwortung werden wir nicht mit einer von Karlsruhe erzwungenen Eildebatte zu PSPP gerecht, und es genügt auch kein unverbindlicher monetärer Dialog in nichtöffentlichen Zirkeln oder gar über unsere Geheimschutzstelle, wie am Montag geschehen. Schon im Lissabon-Urteil des BVerfG von 2009 steht – ich zitiere –: „Die rechtliche und politische Verantwortung des Parlaments erschöpft sich insoweit nicht in einem einmaligen Zustimmungsakt“. Nur mit regelmäßigen Debatten hier im Plenum mit der Möglichkeit zu Beschlussanträgen noch vor der Umsetzung neuer EZB-Ankaufprogramme kommen wir unserer Verantwortung nach. Genau dies beantragen Kollege Peterka und ich sowie die AfD-Fraktion heute. Leider steht im Gemeinschaftsantrag der Altparteien dazu nichts. Der FDP-Einzelantrag enthält dagegen auch unsere Dauerrede. Hier werden wir zustimmen, auch wenn unser eigener Antrag noch etwas weitergeht. Das aktuelle PEPP-Programm der EZB mit einem Volumen von 1 350 Milliarden Euro werden wir gerichtlich prüfen lassen. Der Rechtsauffassung „monetäre Staatsfinanzierung“ haben sich neben der AfD Vertreter völlig unterschiedlicher Gruppierungen angeschlossen, darunter die ehemaligen Chefvolkswirte der EZB Issing und Stark, Ex-Bundesbankpräsident Schlesinger und sogar ein von den Linken bestellter Sachverständiger sowie das bundestagseigene EU-Referat. ({6}) Seit wenigen Tagen liegt nun die seit fünf Jahren vermisste Dokumentation der EZB zur Verhältnismäßigkeit von PSPP vor. Ich stelle fest, dass diese zuerst den Medien zugespielt wurde und erst sehr spät uns Abgeordnete über die Geheimschutzstelle erreicht hat. Das ist leider eine übliche Unsitte. ({7}) – Okay, um diesem Einwand zu begegnen: teilweise über die Geheimschutzstelle. ({8}) Inhaltlich kommen wir bei der Prüfung von PSPP zu einem anderen Ergebnis als die EZB. Die Folgen der permanenten Manipulation der Staatsanleihenmärkte sind für Sparer, Rentner, Mieter, künftige Steuerzahler sowie Immobilienkäufer verheerend. Es droht das künstliche Aufblähen aller Vermögensmärkte. Die Nullzinsen führen zur Zombifizierung der Wirtschaft und zudem zu Umverteilungen von Arm nach Reich. Am Ende steht eine Depression und ganz zum Schluss gar ein Währungscrash. ({9}) Unsere im Ergebnis vernichtende Abwägung „PSPP-Billionen gegen all diese Nachteile“ teilt übrigens auch eine neue Studie der Commerzbank. Daraus zitiert: „Insgesamt bleiben selbst auf der Grundlage von Studien der EZB Zweifel an der Verhältnismäßigkeit der Anleihenkäufe“. Es ergeben sich aus den Käufen „große Risiken für die Finanzstabilität“.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.

Peter Boehringer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004675, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Das sagt die EZB selbst. Sie betont, dass die negativen Auswirkungen einer expansiven Geldpolitik mit deren Dauer zunehmen würden. Das sind genügend Gründe – damit komme ich zum Schluss –, diese Auswirkungen nach inzwischen zehnjähriger Dauer immer kritischer zu beobachten, zu bewerten und zu stoppen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, jetzt haben Sie noch einen Satz.

Peter Boehringer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004675, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Nachdem der Präsident angemahnt hat, mein letzter Satz: Ich protestiere gegen die völlig ungenügende Behandlung dieses Billionenthemas im Bundestag in absurd kurzen 30 Minuten. Herzlichen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Nächster Redner ist der Kollege Andreas Jung, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Andreas Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003780, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will zu dem Antrag sprechen, den meine Fraktion gemeinsam mit der SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hier einbringt. Worum geht es dabei? Uns wurden vom Bundestagspräsidenten Unterlagen übermittelt, die ihm wiederum von der Bundesregierung zur Verfügung gestellt wurden. In diesen Unterlagen wird über die Beratungen der EZB zu dem PSPP-Programm berichtet. Sie sind auch öffentlich zugänglich. Der Beschluss vom 3. und 4. Juni sowie die Beratungen der EZB dazu sind seit etwa einer Woche teilweise auf der Homepage in deutscher Sprache einsehbar. Wir kommen zu der Auffassung, dass durch das, was dort dokumentiert wurde – insbesondere dieser Beschluss und die Beratungen, die dazu stattgefunden haben –, dargelegt ist, dass eine Verhältnismäßigkeitsprüfung der EZB zum PSPP-Programm stattgefunden hat. Wir sind der Auffassung, dass die Geeignetheit, die Erforderlichkeit und die Angemessenheit geprüft wurden, dass die geldpolitischen Ziele mit den wirtschaftspolitischen Auswirkungen abgewogen wurden und dass damit der Maßgabe des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Mai dieses Jahres entsprochen wird. ({0}) Genau darum geht es in dem Antrag, genau das ist es, was das Bundesverfassungsgericht uns aufgegeben hat. Es geht ausdrücklich nicht um eine politische Bewertung dieses Programmes oder anderer Programme, und es geht nicht um eine politische Stellungnahme zu diesem Programm. Diese Diskussion führen wir hier und werden wir hier weiter führen, aber in diesem Antrag geht es um die Frage: Hat eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vor dem Beschluss der EZB stattgefunden? – Und das hat Konsequenzen. Ich finde es ein starkes Signal, dass die vier genannten Fraktionen diesen Antrag einbringen. Es ist ein starkes Signal, wenn der Deutsche Bundestag mit dieser breiten Mehrheit zu diesem Ergebnis kommt. ({1}) Das ist erstens ein Signal nach Frankfurt. Warum? Weil die Bundesbank im Lichte dieser Dokumente und im Lichte des Urteils des Bundesverfassungsgerichts darüber zu entscheiden hat, ob die Bundesbank weiter am PSPP-Programm teilnimmt. Die Entscheidung wird dort getroffen. Wenn man zu der Auffassung kommt, eine Verhältnismäßigkeitsprüfung habe stattgefunden, dann ist jedenfalls nach unserer Auffassung klar, dass die Bundesbank nicht aus dem Programm aussteigen muss. Sie kann also weitermachen, wenn sie eine entsprechende Entscheidung trifft. Zweitens ist das ein starkes Signal nach Karlsruhe. Ganz selbstverständlich setzen wir Urteile des Bundesverfassungsgerichts – auch dieses Urteil – um. Wir haben eine Integrationsverantwortung, und diese Integrationsverantwortung bedeutet, dass wir das Integrationsprogramm beobachten, dass wir auf die Umsetzung hinwirken ({2}) und dass wir dabei in besonderer Weise die Verhältnismäßigkeit im Blick haben. Im konkreten Fall haben wir dieser Maßgabe entsprochen, und das dokumentieren wir heute auch mit unserem Antrag und dem Beschluss dazu. Es geht aber darüber hinaus; es ist eine kontinuierliche Aufgabe. Es ist schon darauf hingewiesen worden: Der Bundestag hat auch in der Vergangenheit in vielfacher Weise seine Integrationsverantwortung wahrgenommen: durch Anfragen einzelner Abgeordneter, durch Kleine Anfragen von Fraktionen, durch Parlamentsdebatten, durch Anträge, die hier beraten und beschlossen wurden, ({3}) durch Beratungen in den Ausschüssen, durch Gespräche im Haushaltsausschuss, im Finanzausschuss, im Europaausschuss mit den Präsidenten von EZB und Bundesbank, durch Unterrichtungen der Bundesregierung und in vielfacher Weise darüber hinaus – etwa auch durch Fachgespräche. Im Lichte des Urteils des Bundesverfassungsgerichts werden wir jetzt noch einmal beraten, wie wir unsere Integrationsverantwortung aufbauend auf all den beschriebenen Formaten noch klarer, noch besser, noch kontinuierlicher, noch konsequenter wahrnehmen können. Darüber finden derzeit intensive Gespräche beim Bundestagspräsidenten und zwischen den Fraktionen statt. Das ist nicht die Aufgabe für heute, aber das werden und müssen wir nach der Sommerpause umsetzen, weil für uns völlig klar ist: Wir werden dieser Integrationsverantwortung kontinuierlich, dauerhaft, konsequent nachkommen. Wir werden unsere parlamentarischen Rechte und Pflichten wahrnehmen und unserer Verantwortung gerecht werden. ({4}) Drittens ist das auch ein klares Signal nach Brüssel. Und dieses Signal heißt: Ja, wir werden unserer Integrationsverantwortung gerecht, und das tun wir auf Basis des Grundgesetzes. – Unser Grundgesetz ist eine Verfassung, die integrationsoffen und europarechtsfreundlich ist. Das kommt in der Präambel und in den Bestimmungen des Grundgesetzes zum Ausdruck. ({5}) Es besteht für uns überhaupt kein Zweifel, dass wir die Unabhängigkeit der EZB sowie der Bundesbank achten, dass wir die Urteile des EuGHs sowie des Bundesverfassungsgerichts achten.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Andreas Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003780, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Und es ist zuvörderst Aufgabe des Europäischen Gerichtshofs – so formulieren wir es im Antrag, und das ist auch die Wortwahl des Bundesverfassungsgerichts –, über die Anwendung und Auslegung europäischen Rechts, der europäischen Verträge zu befinden, das zu befördern und entsprechend Recht zu sprechen. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Sie haben jetzt noch einen Satz. Dann entziehe ich Ihnen das Wort.

Andreas Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003780, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Auf dieser Grundlage setzen wir darauf, dass es, wo immer es ein Spannungsfeld gibt, in einer guten Kooperation von EuGH und Bundesverfassungsgericht gelingt, dieses Spannungsfeld aufzulösen. Wir werden diesem Antrag heute aus den genannten Gründen zustimmen. Ich glaube, damit machen wir einen wichtigen Schritt in dieser Debatte. Herzlichen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Jung, Sie haben das große Glück, dass es noch weitere Redner der CDU/CSU gibt. Ich muss jetzt dem Kollegen Michael Frieser bedauerlicherweise eine Minute von seiner Redezeit abziehen, weil Sie 50 Sekunden überzogen haben. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind schon fast bei einem Sitzungsende von 1 Uhr heute Nacht. Es gibt einen dringenden Appell von mir ({1}) – ja, das mag sein – an die Parlamentarischen Geschäftsführer, wirklich darüber nachzudenken, wie man das etwas verkürzen kann. ({2}) Denn wir hatten uns darauf verständigt – – ({3}) – Ich verkürze keine Debatte. Sie waren auch 40 Sekunden drüber, Herr Boehringer. Wenn Sie in der Fraktion nicht mehr Redezeit haben, tut mir das leid. Das ist keine Frage des Präsidiums; ich habe darauf hingewiesen. Ich lasse das nicht mehr zu, weil wir wirklich eine Verantwortung haben, nicht nur gegenüber den Menschen in diesem Land und uns selbst, sondern auch gegenüber den Bediensteten des Deutschen Bundestages. Manche kommen nach 1 Uhr nämlich gar nicht mehr nach Hause – damit Sie das einmal wissen! ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, der nächste Redner ist der Kollege Dr. Florian Toncar. ({5})

Dr. Florian Toncar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003856, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Danke schön, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Bundesverfassungsgericht hat am 5. Mai entschieden, dass das Anleihekaufprogramm PSPP der Europäischen Zentralbank kompetenzwidrig sei, weil die EZB, so das Gericht, nicht nachvollziehbar dargelegt habe, dass es die Verhältnismäßigkeit des Programms geprüft habe. Wir Freien Demokraten haben dieses Urteil begrüßt, weil wir in der Tat auch der Auffassung sind, dass auch oder gerade eine unabhängige Institution wie eine Notenbank nicht frei von Kontrolle selbst bestimmen darf, was ihr Mandat sein soll, sondern dass die Grenzen des Mandats eben auch von jemandem kontrolliert werden müssen. ({0}) Das Gericht hat dem Bundestag aufgegeben, auf eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit hinzuwirken. Die EZB hat dann in der Ratssitzung am 4. Juni über einen neuen Ratsbeschluss – exakt wie vom Bundesverfassungsgericht gefordert – eine solche Prüfung durchgeführt und hat sie über die Bundesbank auch dem Deutschen Bundestag übermittelt. Bei allen Differenzen – ich komme gleich darauf – hinsichtlich der Haltung der EZB in der Sache erkenne ich auch an, dass das, was Transparenz und Dialogbereitschaft gegenüber einem nationalen Parlament, wie es der Deutsche Bundestag ist, anbelangt, neue Maßstäbe setzt. Wir werden von dem damit verbundenen Angebot aktiv Gebrauch machen und mit der EZB über Geldpolitik sprechen. Das müssen wir auch tun. Auch wenn wir heute aus der Mitte des Parlaments heraus feststellen, dass es eine Verhältnismäßigkeitsprüfung gegeben hat und dass damit auch die Pflicht, darauf hinzuwirken, die das Gericht dem Bundestag übergeben hat, nicht mehr weiter nachgekommen werden muss, so muss doch auch und weiterhin darüber gesprochen werden, ob das, was die EZB macht, eigentlich richtig ist. Ich will drei Gründe nennen, warum ich glaube, dass man bei exzessiven, dauerhaften Staatsanleihekäufen allergrößte Vorsicht walten lassen muss: Erstens. Wenn Staatsanleihen von der Notenbank gekauft werden, ist das etwas anderes, als wenn ein Zins gesetzt wird; denn Staatsanleihekäufe haben eine strukturelle Nähe zur monetären Staatsfinanzierung. Das ist gar nicht zu vermeiden; das liegt in der Natur dieses Instruments. Deswegen muss man da viel, viel genauer hinschauen. Und je länger es andauert und je mehr Geld hineingeht, umso größer ist die Gefahr, dass die Grenze zur Staatsfinanzierung überschritten wird. ({1}) Zweitens. Anleihekäufe haben einen weiteren Nachteil: Sie können Fehlanreize setzen und dazu führen, dass nationale Regierungen sich plötzlich darauf verlassen, dass immer weiter gekauft wird, sodass notwendige Reformen unterbleiben. Wenn das passiert, machen Anleihekäufe die europäische Volkswirtschaft nicht stärker, sondern schwächer, und das Ziel, das die EZB vorgibt zu verfolgen, wird gerade verfehlt. Deshalb ist es so kritisch, was da in diesem Umfang passiert. ({2}) Drittens. Eines wird oft übersehen, wenn wir über Unabhängigkeit von Notenbanken sprechen: Wenn eine Notenbank zu viel Forderungen gegenüber einem einzelnen Schuldner, einem Staat hat, dann kann sie irgendwann gar nicht mehr unabhängig handeln, und dann hat ein Stück weit dieser Staat die Notenbank in der Hand. Wenn wir eine unabhängige Notenbank haben wollen, dann müssen wir auch gucken, dass sie sich nicht zu sehr gegenüber einer Partei exponiert. Genau deshalb haben die Freien Demokraten heute neben der Feststellung, dass uns die Verhältnismäßigkeitsprüfung vorgelegt wurde, auch Vorschläge gemacht, wie wir das dauerhaft hier im Bundestag umsetzen können, uns dauerhaft damit beschäftigen können.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.

Dr. Florian Toncar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003856, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vor allem muss das EZB-Mandat präzisiert werden, damit es mit Anleihekäufen – auch durch eine Obergrenze – in Zukunft nicht so weitergehen kann. Das ist der Weg, für den wir werben. In diesem Sinne freue ich mich auf die Diskussion hier im Parlament über dieses Thema. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Toncar. – Nächster Redner ist der Kollege Fabio De Masi, Fraktion Die Linke. ({0})

Fabio De Masi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004817, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Herr Boehringer, Sie haben bemängelt, dass als Nachweis der Integrationsverantwortung auch darauf hingewiesen wird, dass man AfD-Anträge abgelehnt hat. Ja, was gibt es denn für einen größeren Nachweis für die Integrationsverantwortung als die Ablehnung von Anträgen Ihrer Fraktion? ({0}) Es ist zwar völlig legitim, auch über den Euro zu diskutieren und ihn zu kritisieren; aber Sie wollen den Euro nicht reparieren, Sie wollen Europa abfackeln. Und Feuerteufel gibt es in Europa schon genug. ({1}) Das Bundesverfassungsgericht hat aufgetragen, dass die EZB Anleihekäufe besser begründen solle. Sie soll auf die wirtschaftlichen Nebeneffekte achten. Wir haben durchaus unsere Kritik an der ökonomischen Begründung des Urteils; denn jede Zinsentscheidung hat natürlich enorme wirtschaftliche Effekte auf Beschäftigung, auf Investitionen, auf die Finanzmärkte. Wir glauben, dass die EZB ihre Anleihekäufe hinreichend dargelegt hat. Aber wir glauben auch: Der Kern ist ein politisches Problem. Wir haben das Verbot der monetären Staatsfinanzierung in Europa, das heißt, die EZB darf Banken, aber nicht Staaten finanzieren. Die EZB muss von daher permanent so tun, als würde sie keine Staaten finanzieren, und in diese Wunde legt das Verfassungsgericht seinen Finger. Nun ist es aber so, dass international zahlreiche Zentralbanken – die kanadische Zentralbank hat das lange getan, die britische Zentralbank – natürlich auch Staaten finanzieren, wenn es erforderlich wird, weil sonst ein künstliches Insolvenzrisiko besteht. ({2}) Denn die EZB ist die einzige Institution, die in Euro nie pleitegehen kann. In Großbritannien droht keine Hyperinflation. Wir haben Massenarbeitslosigkeit und leerstehende Fabriken. Und die EZB hat immer noch das Instrument des Inflationsziels. Herr Toncar, wenn Sie hier von der Unabhängigkeit der Zentralbank sprechen, will ich Ihnen sagen, dass Ihr Antrag einen direkten Eingriff in das Inflationsziel der Europäischen Zentralbank vorsieht. ({3}) Von daher: Man darf nicht immer Unabhängigkeit predigen, wenn sie einem passt, und sie ablehnen, wenn einem die Geldpolitik nicht passt. ({4}) Wir glauben, dass es ein Fehler war, dass bei den Anleihekäufen Auflagen gemacht wurden, die überhaupt nichts mit der Geldpolitik zu tun hatten, Lohn- und Rentenkürzungen zum Beispiel, die die Nachfrage weiter gehemmt haben und von daher unterstützt haben, dass das billige Geld der Zentralbank in die Finanzmärkte, nicht in die reale Wirtschaft fließt. In diesem Zusammenhang will ich sagen, dass wir hier auch über andere Auflagen diskutieren könnten, zum Beispiel nachhaltige Staatsfinanzen durch die Austrocknung von Steueroasen. ({5}) Meine Fraktion ist der Auffassung, dass wir eine Änderung des Mandats der Europäischen Zentralbank brauchen – so wie das zum Beispiel Herr Südekum, der unter anderem die Regierung berät, fordert, wie das viele internationale Ökonomen fordern. Wir werden uns zu dem Antrag der anderen Fraktionen enthalten, weil er uns nicht weitgehend, nicht kritisch genug ist. Wir werden den Antrag der FDP ablehnen, trotz einiger Vorschläge, die wir selber auch unterstützen, zum Beispiel einen geldpolitischen Dialog mit einem Fragerecht gegenüber der Bundesbank, wie wir das aus dem Europäischen Parlament kennen. Vielen Dank. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege De Masi. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Dr. Franziska Brantner. ({0})

Dr. Franziska Brantner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004255, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Drei Punkte: Erstens. Gut, dass wir einen Weg gefunden haben, der die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank und der Bundesbank gewährleistet und trotzdem die Abwägungen der Europäischen Zentralbank aus den Jahren 2014/15 transparenter macht. Ich bin froh, dass auf unseren Druck hin vier der sieben Dokumente jetzt doch außerhalb der Geheimschutzstelle zugänglich sind. Herr Boehringer, außer das zu beklagen haben Sie ja nichts getan. Es ist nicht auf Ihren Druck hin öffentlich gemacht worden, sondern aus der Opposition waren es Florian Toncar und ich, die da Druck gemacht haben, dass die Dokumente veröffentlicht werden. ({0}) Sie motzen nur, wir handeln. ({1}) Es ist trotzdem ärgerlich, dass in einem zentralen Dokument sehr viele Stellen geschwärzt sind, und das, obwohl sie in der Geheimschutzstelle sind; das finde ich nicht akzeptabel. ({2}) Zweitens. Gut, dass wir so deutlich die Rolle des Europäischen Gerichtshofs und die Rechenschaftspflicht der EZB gegenüber dem Europäischen Parlament noch mal betont und damit die Rollen der Akteure sehr deutlich kommuniziert haben. Drittens. Wenn man die Abwägungen aus den Jahren 2014/15 liest, wird auch klar, dass damals eine starke fiskalische Antwort der Mitgliedstaaten eine Alternative gewesen wäre. Das war eine Alternative. Die Mitgliedstaaten haben aber nicht gehandelt. ({3}) Deswegen ist es gut und richtig, dass wir jetzt in dieser Krise fiskalische Antworten im Rahmen des Recovery Fund finden. ({4}) Aber es ist auch klar, dass die Euro-Zone an sich auch in Zukunft eine echte Fiskal- und Wirtschaftspolitik und einen europäischen Währungsfonds braucht, und ich hoffe, dass Karlsruhe diesen Weg nicht versperren wird. Eine gemeinsame Währung braucht nämlich entweder eine expansive Geldpolitik oder eine gemeinsame Fiskalpolitik. Falls Karlsruhe beides verhindern sollte, dann würde sich das Bundesverfassungsgericht gegen unser Grundgesetz stellen. Das ist nämlich europafreundlich. ({5}) Erlauben Sie mir noch kurz ein Wort zum FDP-Antrag. Ihre Forderung nach einem EZB-Kontrollausschuss im Bundestag ist brandgefährlich. Wenn wir als Bundestag so einen Ausschuss einrichten, dann machen das morgen zehn andere Parlamente, und dann ist die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank futsch. ({6}) Das hat mit solider Wirtschafts- und Finanzpolitik gar nichts mehr zu tun. Deswegen lehnen wir Ihren Antrag ab. Ich finde aber, dass wir als Bundestag gegenüber der Bundesbank die gleichen Rechte bekommen sollten, wie sie das Europäische Parlament gegenüber der Europäischen Zentralbank hat. Wir sollten es uns nicht nehmen lassen, das jetzt in bzw. nach der Sommerpause auf den Weg zu bringen. Ich danke Ihnen. ({7})

Mario Mieruch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004822

Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine sehr geehrten Damen und Herren! Fassen wir zusammen: Die EZB kontrolliert sich selbst, die EZB entscheidet selbst, welche Unterlagen sie der Bundesregierung zur Verfügung stellt, und die Bundesregierung wiederum entscheidet selbst, welche Unterlagen sie diesem Hohen Haus vorlegt. Nun sind einige dieser Unterlagen öffentlich, andere können wir seit Montag in der Geheimschutzstelle betrachten. Hand aufs Herz: Wer von Ihnen hat sich die 160 Seiten angeschaut, die wir da anschauen können, von denen eine ganze Menge geschwärzt ist? ({0}) – Sehr gut, wunderbar, freut mich. Ich war auch da. Seit heute ist die Hälfte davon sogar auf Deutsch verfügbar. Das ist auch sehr schön und hat sicherlich auch dem einen oder anderen geholfen. ({1}) Wenn aber viele Leute nicht da waren: Woher wissen Sie eigentlich, worüber Sie heute abstimmen? ({2}) Und dann gibt es einen Punkt: Wer von Ihnen – Hand aufs Herz – kennt die Beschlüsse der EZB über die Verlust- und Risikotragung, wenn das alles schiefgeht, was man da macht? Wer kennt das? Wer könnte das jetzt sagen? Keiner. Also, worüber stimmen wir hier eigentlich ab? Wie können Sie verantwortungsvoll abstimmen? Und wie haben Sie von Montag bis heute die Debatte mit den Steuerzahlern, mit den Unternehmern über dieses ganze Thema geführt und darüber, was auf sie zukommt, wenn es in die Hose geht? Wann und wie haben Sie das getan? ({3}) Ich habe fertig.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Mieruch. – Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Michael Frieser, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Michael Frieser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004034, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin jetzt ein bisschen verwirrt. Also, wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass man keine Ahnung vom Zusammenspiel von EZB und Bundesbank und davon hat, wie diese Institutionen miteinander umgehen, dann haben wir das gerade gehört. Da brauchen wir sicherlich keine Lehrstunde. ({0}) Ich bin dem Kollegen Jung aber sehr, sehr dankbar, dass er für das Bundesverfassungsgericht einmal erklärt hat, worum es heute geht. Es geht nicht um den Streit und um die Frage von Mechanismen zur Kontrolle des Inhaltes von Politik. Das Bundesverfassungsgericht – welches Gericht denn sonst, wenn nicht dieses Gericht? – hat zum Ultra-vires-Schwert gegriffen, aber es hat natürlich nicht damit zugeschlagen. Deshalb war, ehrlich gesagt, diese reflexartige Form des Widerstandes – da ging es bis zum Vertragsverletzungsverfahren – aus meiner Sicht nicht unbedingt notwendig. Es geht darum: Europa ist kein Bundesstaat. Deshalb sind Bundestag und Bundesregierung natürlich aufgerufen, die Überschreitung von Grenzen, aber auch andere Auslegungen und eine Neuschaffung von Kompetenzen zu kontrollieren. ({1}) Warum? Weil wir für ein Europa werben. Wir werben auch für Vertrauen in die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank. Aber das können wir nur tun, wenn wir den Prozess dieser Geldmarktpolitik auch mitbeurteilen können und in gewisser Weise auch einen Einblick haben. Das nennt man „Integrationsverantwortung“. Dieser werden wir gerecht, nicht nur mit dieser Debatte heute, sondern auch mit der Zurkenntnisnahme der Unterlagen. Worum geht es aber gerade nicht? Es geht nicht darum, Vorgaben für Geldpolitik zu machen; es geht nicht darum, sich ersatzweise in die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank einzumischen, die der Unabhängigkeit der Bundesbank nachgebildet ist, sondern es geht darum, dass wir den Menschen deutlich machen: Sicherlich, es gibt einen Prozess der Verhältnismäßigkeit, den man ständig, auch in der Zukunft, im Blick hat. ({2}) Das kann man von uns verlangen. Das ist unser Ansatzpunkt. Das ist das, was das Bundesverfassungsgericht von uns verlangt. Deshalb, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen: Es geht schon darum, dass man jeden Eindruck vermeidet, dass man es auf jeden Fall besser weiß. Geldmarktpolitik geht immer dann in die Irre, wenn sie der bloßen politischen Auseinandersetzung geopfert wird. Das ist genau die Lehre, die wir aus der jahrzehntelangen fehlerhaften Geldpolitik gezogen haben. Deshalb kommt es immer darauf an, dass wir diese Vorgaben als Prozess begleiten. Dafür gibt es mehrere Ansätze, über die wir selbstverständlich gerne miteinander reden. Der Monetäre Dialog, das, was die Kollegen im Europäischen Parlament tun, das, was uns an Unterlagen zur Kenntnis gelangt, aufgrund dessen wir es dann beurteilen können: Am Ende des Tages existiert er, der Prozess der Überprüfung der Verhältnismäßigkeit dieses Anleiheprogramms. Wir haben es unseren Bürgern verbindlich versprochen, dass wir über die Einhaltung dieser Grenzen wachen können – ohne uns in eine Geldmarktpolitik einzumischen, die an dieser Stelle gerade nicht unsere Angelegenheit ist. Das ist unsere Integrationsverantwortung; das ist das, wofür wir auch bei den Bürgern in diesem Land, in Europa und in Deutschland, werben müssen. Vielen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Frieser. – Damit schließe ich die Aussprache.

Agnes Malczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004106, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist in dieser Woche das vierte Mal, dass wir hier im Deutschen Bundestag über die Europäische Union debattieren – völlig zu Recht in der Woche, in der die deutsche Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union beginnt. In den Debatten zuvor waren sich alle demokratischen Fraktionen einig: Die Europäische Union muss solidarischer, souveräner und krisenfester werden. Dieses richtige Ziel gibt es aber nicht zum Nulltarif. ({0}) Bei den anstehenden Verhandlungen im Juli geht es um das große Ganze, und es geht auch um das ganz große Geld, um ein Wiederaufbauprogramm, das der historischen Dimension der Coronakrise wirklich gerecht wird, und um einen EU-Haushalt für die gesamten nächsten sieben Jahre. Für uns als Grüne ist dabei eines ganz klar: Der Kampf gegen die Klimakrise muss Toppriorität haben. ({1}) Das ist übrigens auch die Meinung der Menschen in unserem Land, die das im heutigen DeutschlandTrend zur Toppriorität erklärt haben. Der Green New Deal darf nicht nur ein schönes Schlagwort von Ursula von der Leyen bleiben, sondern er muss jetzt mit Leben gefüllt und mit Geld unterfüttert werden. Zu mehr Klimaschutz gehört aber auch eine Verkehrswende hin zu einer nachhaltigen Mobilität. Es gehört eine Agrarpolitik dazu, die Umweltschutz, Tierwohl und gesunde Lebensmittel zusammendenkt. Es braucht aber auch Solidarität in einem sozialen Europa, Vorsorge im Gesundheitsbereich und kluge Investitionen in Digitalisierung. ({2}) Es ist richtig, dass es Geld nur für diejenigen geben soll, die Demokratie und Rechtsstaatlichkeit achten. Gerade wenn die USA aktuell beim globalen Krisenmanagement ausfallen und China ohne Rücksicht auf Menschenrechte seine Interessen in der Welt skrupellos durchsetzt, braucht es ein weltpolitikfähiges Europa, aber auch internationale Solidarität in dieser Krise mit den Schwächsten auf der Welt. ({3}) Europa darf nicht zum Spielball der geopolitischen Interessen anderer werden, sondern muss ein relevanter Player auf der Weltbühne sein. ({4}) Meine Damen und Herren, all diese Aufgaben kosten. Es wird offensichtlicher denn je, dass die EU endlich mehr Eigenmittel braucht. Es liegen sehr kluge, konkrete Vorschläge der Kommission und auch des Parlaments auf dem Tisch. Die Zeit für eine Besteuerung von Digitalkonzernen, für einen CO2-Grenzausgleich und für eine Plastiksteuer ist jetzt. Die Bundesregierung muss aufhören, das zu blockieren oder auf die lange Bank zu schieben. ({5}) Bei all den Unterschieden haben mich die ersten Wochen der Coronakrise an die Flüchtlingssituation vor fünf Jahren und erst recht an die große Finanz- und Wirtschaftskrise vor zehn Jahren erinnert. Das nationale egoistische Klein-Klein vertieft die Gräben in Europa und verhindert zum Schaden aller wirksame Lösungen. Der Vorstoß von Angela Merkel und Emmanuel Macron hat Bewegung ermöglicht und Hoffnung gebracht. Bei mir nimmt leider gerade die Sorge zu, dass dieser historische Moment gefährdet wird bzw. verspielt werden könnte, wenn sich zum Beispiel einige Staaten dafür einsetzen, dass das Geld aus dem Wiederaufbauprogramm stärker als bisher geplant von den Mitgliedstaaten wieder zurückgezahlt werden muss. Das gefährdet doch, dass gerade diejenigen Staaten, die besonders hart von der Krise getroffen worden sind, wieder auf die Beine kommen. Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf: Schützen Sie diesen neuen Moment der Solidarität, erhalten Sie das wiedergewonnene Vertrauen, und verhindern Sie genau das in den Verhandlungen! ({6}) Mir macht aber auch das Positionspapier der Union Sorge, das Sie diese Woche beschlossen haben. Sie und Ihre Kanzlerin haben mit den alten ideologischen Dogmen gebrochen, um eine Einigung möglich zu machen, aber jetzt kehren Sie genau zu den falschen alten finanzpolitischen Positionen zurück. Besonders ärgert mich der Vorstoß der Konservativen im Europäischen Parlament, die jetzt den Klimaschutz auf Eis legen wollen. Meine Damen und Herren, wir haben jetzt die Chance, die Folgen der Pandemie zu meistern und uns für künftige Krisen besser zu wappnen. Vor allem haben wir die Chance, eine Antwort auf die größte Krise unserer Zeit zu geben: die drohende Klimakatastrophe. Wir müssen diese Chance nutzen. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss, bitte.

Agnes Malczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004106, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Eine starke Europäische Union ist nicht nur ein historisches Friedensprojekt und Garant unseres Wohlstands, sondern unsere wichtigste Zukunftsinvestition. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Brugger. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Katrin Staffler, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Katrin Staffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004901, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Europa ist es wert“: Europa ist es wert, dass wir in dieser schwierigen Situation einander Halt geben, dass wir einander unterstützen und gemeinsam in die Zukunft schauen. Europa ist es wert, dafür zu kämpfen. – Möglicherweise ist Ihnen das bekannt vorgekommen. Das steht nämlich in Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen. Dem kann ich auch vollumfänglich zustimmen. Was allerdings den Rest Ihres Antrags anbelangt, habe ich, ehrlich gesagt, so meine Bedenken. Natürlich müssen wir gerade jetzt in der aktuellen Krise nach vorne schauen. Und ja, natürlich müssen wir auch die Chancen, die sich aus der Krise ergeben, erkennen und ergreifen. Allerdings scheinen die Grünen die Chancen insbesondere darin zu sehen, dass wir den mehrjährigen Finanzrahmen mit grün gefärbter Ideologie überfrachten. Und bevor Sie sich jetzt aufregen ({0}) – sind alle schon eingeschlafen? –: ({1}) Selbstverständlich ist der Klimawandel eine der größten Herausforderungen unserer Zeit, und es ist nur richtig und auch wichtig, dass wir für diese Herausforderung gemeinsam nach Lösungen suchen. Aber das müssen wir auch in anderen Bereichen tun und in anderen Bereichen die Basis für eine gute Zukunft legen. Die Grünen fordern in ihrem Antrag, dass wir alle Bereiche des EU-Haushaltes auf den Klimaschutz ausrichten, und genau da liegt das Problem; denn wenn wir alle Bereiche auf eine Herausforderung ausrichten, dann ignorieren wir alle anderen Herausforderungen. ({2}) Damit sorgen wir ganz sicher nicht für eine stabile Zukunft, ganz im Gegenteil. Was wir nämlich stattdessen brauchen, sind höhere Investitionen in Sicherheit, in Infrastruktur, in Digitalisierung, in künstliche Intelligenz, in Forschung und in Entwicklung. Damit schaffen wir den Schritt in eine gute Zukunft. ({3}) Was wir ganz bestimmt nicht brauchen, ist die muntere Forderung nach verschiedensten zusätzlichen Steuern aus dem Antrag der Grünen, damit man die gigantischen Forderungen, die Sie aufstellen, auch finanzieren kann. Die EU ist kein Staat, und deswegen soll sie sich auch nicht verhalten wie ein Staat. Sie möchten – zu Recht – Populismus bekämpfen. Aber das Gegenteil werden wir erreichen, wenn wir willkürlich am Bürger vorbei immer höhere Steuern erheben. Wo wir gerade beim Thema Krisenbewältigung waren: Es wird auch nicht ausreichen, dass wir nur auf die aktuelle Krise reagieren. Wir müssen die Gefahr von kommenden Krisen erkennen, und wir müssen uns darauf vorbereiten. Wir müssen dafür sorgen, dass wir auch in Zukunft wettbewerbsfähig bleiben, und dafür brauchen wir Innovationen, die, nebenbei gesagt, übrigens auch einen großen Beitrag zum Klimaschutz leisten können. Eines ist mir besonders wichtig: Es muss uns gelingen, dass wir erstklassige Forschung noch besser in die Praxis bringen. Wir haben fantastische Forschung innerhalb der Europäischen Union. Dennoch gelingt es uns nicht, dass wir diese Forschung noch besser in wirtschaftliche Innovation transformieren. Das ist, als würde man nobelpreiswürdige Entdeckungen machen und hinterher vergessen, dass man sie veröffentlicht. Innovation ist der Schlüssel zur Wettbewerbsfähigkeit der Zukunft. Deswegen brauchen wir natürlich viel Geld für Forschung und Entwicklung. Wir müssen aber auch den nächsten Schritt Richtung Anwendung machen. Ein weiteres Thema, das mich umtreibt, ist, dass wir innerhalb der EU darauf achten müssen, Rechtsstaatlichkeit zu erhalten. Um es an dieser Stelle ganz klar zu sagen: Für mich ist die europäische Idee eine Idee von Toleranz, eine Idee von Frieden und von Gemeinschaft. Genau für diese Werte müssen wir innerhalb der Europäischen Union einstehen, und zwar nicht nur nach außen und bei den anderen gucken, sondern auch nach innen. ({4}) Deswegen begrüßen wir es als Unionsfraktion, dass sich die Kommission in ihrem jährlichen Bericht über die Rechtsstaatlichkeit mit den Situationen in den jeweiligen Mitgliedstaaten befassen wird; denn Rechtsstaatlichkeit muss für uns die Grundvoraussetzung für den Erhalt von Mitteln aus dem mehrjährigen Finanzrahmen sein. ({5}) Es ist relativ wenig überraschend, dass die AfD damit nicht einverstanden ist. Ein Mitgliedstaat mit einer „souveränen politischen Ausrichtung“ müsse Vorhaben der EU-Kommission verwerfen dürfen. Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, nach der Logik dürfte die AfD auch aufgrund ihrer souveränen politischen Ausrichtung ohne Fahrkarte in der Bahn fahren, und hinterher dürften wir das dann selbstverständlich weder kontrollieren noch sanktionieren. ({6}) Das ist spannend, Herr Kleinwächter; denn solche Ideen findet man normalerweise eher bei den Kollegen von der anderen Seite des Hauses. Wir jedenfalls lehnen so was ab. ({7}) Zuletzt möchte ich noch über den Zeitplan sprechen. Es gibt den Vorwurf im Antrag der Grünen, die Bundesregierung habe Zeit und Vertrauen in der EU verspielt. Dem möchte ich an dieser Stelle ganz entschieden widersprechen. Vertrauen gewinnt man doch nicht dadurch, dass man vorschnell irgendwelche Gelder der Bürger ausgibt, sondern dadurch, dass man gewissenhafte Entscheidungen trifft und sorgfältig abwägt. Und ja, natürlich müssen wir in dieser Krisensituation schnell handeln, und viele Mittel werden natürlich wegen der anhaltenden Krise auch sofort gebraucht; aber die Lösungen dürfen eben nicht nur schnell, sondern sie müssen auch gut durchdacht sein. Deswegen müssen wir sicherstellen, dass die Haushaltsmittel effektiv, zukunftsorientiert und vor allem nach ganz klaren Kriterien und Bedingungen verwendet werden. ({8}) Meine Damen und Herren, ich habe es eingangs gesagt: Europa war es wert, Europa ist es wert, und Europa bleibt es auch wert. Und in diesem Sinne müssen wir die Vergangenheit gemeinsam überwinden. Wir müssen in der Gegenwart zusammenhalten und solidarisch bleiben, dann können wir gemeinsam mutig in die Zukunft gehen. Vielen Dank. ({9})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Staffler. – Nächster Redner ist für die Fraktion der AfD der Kollege Dr. Harald Weyel. ({0})

Prof. Dr. Harald Weyel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004932, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Präsident! Kollegen und Zuschauer, insbesondere an den Bildschirmen! Ich greife einen Punkt auf; zu den Zahlen ist viel gesagt worden. Ich möchte mich auf einen qualitativen Aspekt beschränken, wenn es nämlich darum geht, die Gelder zu konditionieren – Punkt 20 im Riesenantrag, dem Wunschkonzert der Grünen –, „mit europäischen Geldern europäische Werte zu schützen“ usw. usf., „damit Regierungen in Mitgliedsstaaten mit systematischen Rechtsstaats-Defiziten EU-Mittel nicht mehr zugutekommen.“ Da muss man sich natürlich auch fragen, inwieweit Deutschland selbst zu einem solchen Problemfall geworden ist. Die Verquickung von höchstrichterlichen Ämtern – Stichwort „Bundesverfassungsgericht“, der letzte Fall war Harbarth, 2011 war es der ehemalige Ministerpräsident des Saarlandes Müller, und dergleichen mehr – und auch die Weisungsgebundenheit der Staatsanwaltschaften sind Themen, die man da problematisieren könnte. Es zielt ab auf eine Konditionierung der Visegradstaaten – nicht nur Ungarn – und der Gegner dieser fragwürdigen Mehrheitsentscheidungen – das Ganze soll quasi in seinem Kern transformiert werden; so sagt es ja auch die Kanzlerin mittlerweile –, die diese Multikultipille nicht schlucken wollen. Auf die zielt das direkt ab. Da soll also konditioniert werden, während wir feststellen müssen: Bei den anderen Sachen wird überhaupt nichts mehr konditioniert. Es ist also keine Kofinanzierung bei den regulären Fonds mehr nötig, und diese Geldschleuder – Next Generation EU genannt – verschenkt das Geld ja gleich, also keine Kofinanzierung, keine Konditionierung, weder für Zins- noch für Rückzahlungsmodalitäten; das ist alles nicht vorgesehen. Diese Art von Programmatik ist zu verwerfen, und in der Coronarhetorik und ‑panik, mit der Sie ja so gerne arbeiten, sind diese Programme eigentlich nur noch als Superspreader ökonomischer Unvernunft zu bezeichnen. ({0}) Dazu kann man ja wirklich nur gratulieren, dass das die neue Logik und die neue Programmatik geworden ist, die alle bestehenden Probleme verschärft und die alle noch offenen Probleme ins Land holt – im wahrsten Sinne des Wortes – und nur verschlimmert. Angesichts dieser Situation und der gleichzeitigen Forderung „Wegfall der Vetorechte“ – Verschlimmbesserung der Mehrheitsentscheidungen – kann man eigentlich auch nur noch mal anmerken, was Professor Sinn schon 2017/2018 anmerkte: dass vor dem Hintergrund des Brexit und des Wegfalls der Minderheitenrechte – Minderheiten übrigens nicht nur bezogen auf Personen gemäß Artikel 2 des EU-Vertrags, sondern auch auf Staatengruppierungen – der Minderheitenschutz gänzlich wegfällt bei dieser oktroyierten Mehrheitsentscheidung, die noch dazu mit Geld versüßt bzw. erzwungen werden soll. Ja, es wäre also eher fällig – Ratspräsidentschaft hin oder her oder gerade deswegen –, eine Änderungskündigung auszusprechen, dass die Minderheitenrechte in der EU in diesen Abstimmungsverfahren geschützt werden. Das ist nämlich jetzt ganz und gar nicht der Fall. Tür und Tor sind schon ohne diese juristische Möglichkeit geöffnet, allein durch die Willenserklärung, die Sie in diese Richtung abgeben: unkonditioniert, wenn denn die ideologische Zielsetzung stimmt, und ohne Rückzahlungsmodalitäten Geld zu verschenken; eine Eigenfinanzierung ist nicht mehr notwendig. Also, hören Sie auf damit, diesem falschen Trieb zu folgen, und vor allen Dingen – nicht nur bei den Visegradstaaten – widerstehen Sie den Verlockungen und der Peitsche des Sugardaddys aus Brüssel! Danke für diese Hilfe. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Weyel. – Als Nächster spricht zu uns Herr Staatsminister Michael Roth für die Bundesregierung. ({0})

Michael Roth (Gast)

Politiker ID: 11003213

Schönen guten Abend! Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Gemeinsam. Europa wieder stark machen.“: Das ist das Motto unserer Ratspräsidentschaft, die gestern begonnen hat, und wir haben jetzt sechs Monate Zeit, dieses wunderbare Motto mit Leben zu füllen. Was für eine menschliche, wirtschaftliche und soziale Katastrophe erleben wir derzeit in Europa und weltweit! Über 100 000 Menschen in Europa sind an oder mit Corona gestorben. Deswegen muss es unser gemeinsames und wichtigstes Ziel sein, dass wir so schnell wie irgend möglich solidarisch und geschlossen aus dieser schweren Krise kommen ({0}) und dass wir vor allem den Staaten, die am stärksten von der Pandemie betroffen sind, helfen; denn aus eigener Kraft alleine werden sie das nicht schaffen. ({1}) Ich will mich ja mit den Herren dieser Fraktion nicht weiter auseinandersetzen. Aber bitte legen Sie doch mal eine andere CD auf! Wenn man Ihnen so zuhört, könnte man wirklich meinen, dass Sie nach der Coronapandemie die größte Gefahr für Arbeitsplätze und für wirtschaftlichen Wohlstand in Europa sind, ({2}) weil Sie immer noch nicht kapiert haben, dass es in unserem eigenen Interesse liegt, dass es unseren Partnern, unseren Nachbarstaaten in der Europäischen Union gut geht. ({3}) Wenn es den anderen nicht gut geht, sind auch Arbeitsplätze, ist auch soziale Stabilität in Deutschland massiv gefährdet. ({4}) Sie nähren hier die Saat des Hasses und der Missachtung. ({5}) Immer die gleiche Leier: Abschottung. ({6}) Sie haben den menschengemachten Klimawandel geleugnet, Sie haben die massiven Auswirkungen der Coronapandemie auf den Menschen geleugnet, und Sie leugnen Solidarität in Europa. Das ist Gift für uns alle! ({7}) Deutschland hat gemeinsam mit Frankreich gezeigt, dass Solidarität mehr ist als ein Lippenbekenntnis. Wir haben mit unserem Vorschlag, der ein Volumen von 500 Milliarden Euro umfasst, deutlich gemacht, was wir jetzt brauchen: eine umfassende, eine ambitionierte, eine weitreichende Lösung, damit wir aus der Krise herauskommen. Aber es geht nicht, wie ich das oftmals lese, auch nicht im Haushalt, um einen Wiederaufbau. Wir wollen nicht in die Vor-Corona-Zeit zurück. Wir wollen einen Aufbruch in die Zukunft, einen nachhaltigen Aufbruch, einen sozialen Aufbruch und einen solidarischen Aufbruch. ({8}) Das heißt, wir wollen das Geld, das wir jetzt zur Verfügung stellen, in den sozial-ökologischen Umbau Europas investieren, in den Klimaschutz, in den sozialen Zusammenhalt, in eine nachhaltige Weiterentwicklung unserer Wirtschaft, damit Arbeitsplätze auch in 10 oder 20 Jahren sicher sind. ({9}) Und es geht darum, dass wir die massiven sozialen und wirtschaftlichen Ungleichgewichte, die es in der Europäischen Union nach wie vor gibt, beheben, dass wir sie abmildern und lindern. ({10}) Es geht auch um das wichtige Thema Geschlechtergerechtigkeit. ({11}) Wir haben mit den Schwedinnen und Schweden durchgesetzt, dass bei allen Ausgaben darauf geachtet werden soll, dass Männer und Frauen gleichermaßen von der Politik der Europäischen Union profitieren. ({12}) Auch das ist ein Europa der Zukunft. ({13}) Es darf nicht um Gießkannenpolitik gehen, sondern wir müssen jetzt genau darauf achten, dass das Geld dahin kommt, wo es am dringendsten gebraucht wird. Es wird schwierig werden. Ich kann den Kolleginnen und Kollegen nur zustimmen: Wir müssen jetzt wirklich auf die Tube drücken. Wir brauchen möglichst rasch ein klares Signal der Bürgerinnen und Bürger, dass die politisch Verantwortlichen gemeinsam verstanden haben, dass wir jetzt ein Signal der Handlungsfähigkeit setzen müssen, dass wir das hinbekommen, obwohl es in der Europäischen Union nach wie vor massive Unterschiede gibt. Aber Kompromissfähigkeit wird vor allem auch von uns eingefordert; denn wir haben jetzt eine besondere Rolle: Wir müssen Brücken bauen. Wir müssen den Laden zusammenhalten. Deswegen kann ich auch nicht versprechen, dass alles, was wir einfordern, am Ende auch umgesetzt wird. Aber ein Punkt – ich habe mich heute sehr über den Beitrag der Kollegin Katrin Staffler gefreut – ist für uns ganz besonders wichtig: Wenn wir schon so viel Geld ausgeben wie noch nie in der Geschichte des vereinten Europas, dann muss klar sein, dass es nicht nur um wirtschaftliche Fragen und binnenmarktrelevante Fragen geht, sondern es geht vor allem darum, die Europäische Union als Rechts- und Wertegemeinschaft zu stärken. ({14}) Deshalb fordert die Bundesregierung zwei neue Instrumente: Das erste Instrument ist ein Rechtsstaatscheck im Rat, dem sich alle Mitgliedstaaten zu unterziehen haben, damit deutlich wird: Wir brauchen endlich wieder ein gemeinsames Verständnis von Grundwerten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Ein zweites Instrument – nicht weniger umstritten in der Europäischen Union – ist glasklar: Die Staaten, die systematisch die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit brechen, müssen zukünftig mit weniger Geld aus Brüssel rechnen. Auch das ist Solidarität und Glaubwürdigkeit. ({15}) Für diese Politik bitte ich Sie von Herzen um Unterstützung. Es wird auch darum gehen, dass wir Akzeptanz bei unseren Bürgerinnen und Bürgern gewinnen, dass wir jetzt auch weiter mutig und ambitioniert bleiben. Da hoffe ich auf Ihre Unterstützung. Ich bedanke mich. Sie können sich darauf verlassen, dass die Bundesregierung in den nächsten sechs Monaten alles dafür tun wird, dass die Europäische Union solidarischer, sozialer, souveräner und handlungsfähiger wird. Das ist im Interesse der Bürgerinnen und Bürger Deutschlands. Vielen Dank. ({16})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Staatsminister. – Nächster Redner ist der Kollege Gerald Ullrich, FDP-Fraktion. ({0})

Gerald Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004923, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Bisher zahlt Deutschland jährlich 28 Milliarden Euro in den EU-Haushalt ein. Ab 2021 werden es laut Schätzung des Auswärtigen Amtes circa 13 Milliarden Euro mehr sein, wobei allein schon 6,5 Milliarden Euro auf das Ausscheiden des Vereinigten Königreichs zurückzuführen sind. Die FDP kritisiert nicht die Höhe; das muss ich an dieser Stelle ganz klar sagen. Wir wollen um Gottes willen auch keine Nettozahlerdiskussion wieder haben. Unsere Debatte geht in die Richtung, dass wir eine sinnvolle Verwendung dieses Geldes wollen. Bisher gehen 70 Prozent des Haushaltes für die Gemeinsame Agrarpolitik und für die Kohäsion drauf. Deswegen ist natürlich wenig Geld für die anderen Aufgaben da. Der nächste MFR, wie wir ihn uns vorstellen, darf nur größer werden, wenn er einen europäischen und damit auch deutschen Mehrwert hat. ({0}) Wir müssen die haushalterische Steinzeit schlicht und einfach hinter uns lassen und das Geld in die neuen Herausforderungen stecken, die es gibt. Ich nenne nur drei Themen: Forschung, Klimaschutz und natürlich auch Schutz der Außengrenzen. Zu diesen 41 Milliarden Euro kommen circa 25 Prozent der 500 Milliarden Euro, die bis jetzt als Zuschüsse beim Wiederaufbaufonds geplant sind. Das ist jede Menge Geld. Zusätzlich soll es auch noch Kredite in Höhe von 250 Milliarden Euro geben, die von der EU aufgenommen werden. Dazu stellen wir uns zwei Fragen. Zum einen: Müssen es wirklich Zuschüsse in Höhe von 500 Milliarden Euro sein, die wir aufnehmen, im Vergleich zu den Krediten in Höhe von 250 Milliarden Euro? Zum anderen: Wie sorgen wir vor allen Dingen dafür, dass es keine Rosinenpickerei gibt, dass sich die Länder nicht nur die Zuschüsse heraussuchen, sondern dass sie auch die Kredite mitnehmen? Die Bundesregierung muss sicherstellen, dass neben den Zuschüssen auch die Kredite genommen werden. Wir stellen uns vor: Hat ein Land ein Projekt mit 3 Milliarden Euro im Aufbau- und Resilienzplan, dann können davon 2 Milliarden Euro über Kredite ausgereicht werden und 1 Milliarde Euro über Zuschüsse. Dann wissen wir wenigstens, dass das Geld für beides abfließt. Wir dürfen uns dort keine Rosinenpickerei erlauben. ({1}) Letzten Donnerstag hatten wir im Europaausschuss den Haushaltskommissar Hahn zugeschaltet. Er stellte seinen Vorschlag für eine starke makroökonomische Konditionalität im Wiederaufbaufonds vor. Seine Formel lautet: Zahlungen nur gegen Reformfortschritte. – Ich betone: erst Reformfortschritte und dann Zahlungen. Genau das ist das, was wir brauchen. Wenn die Länder Reformfortschritte machen, dann werden sie auch in der Lage sein, die Kredite, die sie sehr zinsgünstig bei der EU aufnehmen, zurückzuzahlen. Ansonsten halten wir das für ein großes Problem. Wenn Kommissar Hahn das schon für den Wiederaufbaufonds plant, dann fragen wir uns natürlich: Warum wird das nicht für den gesamten EU-Haushalt geplant? Wir könnten uns vorstellen, dass damit sehr viele Ziele erreicht würden. Ein letzter Punkt – Frau Staffler hat es gesagt –: Sie wollen keine neuen Steuermittel der EU haben. Wir haben aber gestern von unserem Bundestagspräsidenten, von Herrn Schäuble, das genaue Gegenteil gehört. Er möchte die haben.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Gerald Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004923, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte seien Sie die letzte Brandmauer für uns. Ich möchte, dass die CSU das nicht zulässt. Wir werden es auch nicht zulassen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege.

Gerald Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004923, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich denke, wir können uns darauf einigen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Ullrich, kommen Sie bitte zum Schluss.

Gerald Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004923, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die CDU hat es mit ihrer Alimentierungspolitik übertrieben. Es ist nicht genug Geld da für Deutschland und für die EU. Das soll auf diese Art und Weise verborgen werden. Danke. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Nächster Redner ist der Kollege Thomas Nord, Fraktion Die Linke. ({0})

Thomas Nord (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004122, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir sprechen hier über den mehrjährigen Finanzrahmen der Europäischen Union für die Jahre 2021 bis 2027 und über Anträge der Grünen, der FDP und der AfD zum Thema. Ich konzentriere mich auf zwei Punkte. Der neue mehrjährige Finanzrahmen wird in schwierigen Zeiten debattiert; das war hier mehrfach zu hören. Brexit und Coronakrise überlagern und bestimmen die Debatte. Aber auch ohne diese Krisen wäre es höchste Zeit, die bisherige Politik der Europäischen Union, die ja nachhaltig von Deutschland geprägt wurde, zu verändern. Die Linke hat das hier im Bundestag jahrelang gefordert. Das jetzt von den Regierungen in Paris und Berlin vorgeschlagene Wiederaufbauprogramm ist ein längst fälliger Paradigmenwechsel in der Finanzpolitik der EU und der Bundesregierung, den wir grundsätzlich unterstützen. ({0}) Gemeinsam mit dem regulären MFR werden den Mitgliedstaaten mehr als 1,8 Billionen Euro zur Verfügung stehen, um drängende Aufgaben zu realisieren. Wir unterstützen, dass die EU-Kommission zur gemeinsamen Kreditaufnahme bevollmächtigt wird, halten auch die Forderungen nach Eigenmitteln der Europäischen Union für richtig. Die Einführung der in der Diskussion stehenden Finanztransaktionsteuer gehört schon lange zu unseren Forderungen. Auch eine Digitalsteuer oder eine Plastiksteuer hat unsere Zustimmung. ({1}) Viele der im Antrag der Grünen formulierten Vorschläge zum Einsatz der Mittel können wir durchaus unterstützen. Das Wichtigste aber ist, das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Politik der EU und ihre Institutionen wiederherzustellen. Dieses ist nämlich schwer erschüttert. In Italien haben 70 Prozent der Menschen kein Vertrauen mehr in die Europäische Union. In Frankreich gehen noch 40 Prozent zur Wahl. 60 Prozent der EU-Bürgerinnen und -Bürger gehen davon aus, dass etablierte Parteien sich nicht für sie interessieren. Bei Menschen mit geringem Einkommen liegt dieser Anteil sogar bei 73 Prozent. Das sollte uns nachdenklich machen. ({2}) Die soziale Frage und die Frage „Wer zahlt für die Krise?“ gehören deshalb ins Zentrum der Debatte. Die Initiative für ein EU-weites Kurzarbeitergeld war gut. Armutsfeste Mindestlöhne in allen Mitgliedstaaten müssten jetzt folgen. ({3}) In den Anträgen der Grünen, der FDP und der AfD wird die Konditionalisierung von Mitteln der EU bei Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit durch Mitgliedstaaten thematisiert. Die AfD fordert dazu auf, solche Vorstöße zu ignorieren, und die Grünen wollen diese sanktionieren. Die FDP fordert eine makroökonomische Konditionalisierung von EU-Mitteln. Diesem Vorschlag fehlt jede vertragsrechtliche Grundlage. Hier sollen Mitgliedstaaten geschurigelt werden. Das lehnen wir klar ab. Zugleich gilt: Wer Mitglied in der EU ist, ist es aus freiem Willen. Pacta sunt servanda. ({4}) Daher ist es richtig, gegen Rechtsstaatsverstöße vorzugehen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Thomas Nord (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004122, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Allerdings muss die Feststellung eines Verstoßes wiederum in einem rechtsstaatlichen Verfahren erfolgen. Die bisherigen Vorschläge dazu überzeugen nicht. Eine weitere Debatte erscheint mir unabdingbar. Herzlichen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Nord. – Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Dr. André Berghegger, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. André Berghegger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004252, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft findet in Zeiten größter Herausforderungen statt. Aber sie bietet natürlich auch große Chancen für Weichenstellungen in der Zukunft. Die Schwerpunkte der Arbeit werden natürlich in der Bewältigung der Coronafolgen und in der Erholung der europäischen Wirtschaft liegen. Das liegt ja schließlich auf der Hand. Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen ist zugegebenermaßen umfangreich. Ihn durchzieht aber ein roter Faden: Für fast alle Bereiche fordern Sie ziemlich viel Geld, das zur Verfügung gestellt werden soll. Über die Details will ich gar nicht reden. Ich mache mir nur große Sorgen wegen der Finanzierung, die Sie vorschlagen. ({0}) Unsere Haltung zu Euro-Bonds kennen Sie: Wir lehnen sie in der gesamtschuldnerischen Haftung nach wie vor ab. Dabei bleiben wir auch. ({1}) Haftung und Verantwortung gehören für uns zusammen. Sie haben mal eben ganz leicht die Einführung europäischer Steuern vorgeschlagen: Ganz so einfach ist das nun mal nicht. – Wir haben das heute schon gehört – ich möchte es gerne noch mal aufnehmen –: Das Recht, Steuern zu erheben, ist ein – nicht das einzige – Kriterium für einen Staat. Die Europäische Union ist ein Staatenverbund, aber kein Bundesstaat. Dabei soll es auch bleiben. ({2}) Deswegen sehen wir europäische Steuern sehr, sehr kritisch. ({3}) Der Antrag der FDP ist diskussionswürdig. Aber ich finde, in einigen Punkten kann man anderer Meinung sein, und das bin ich auch. Ein Beispiel ist das Rabattsystem. Das Rabattsystem finden wir als Zeichen fairer Lastenverteilung unter den europäischen Mitgliedstaaten gut. Deswegen wollen wir es im Grundsatz auch behalten. Vor allen Dingen schlagen Sie vor, Mittel sollten vorwiegend als Kredite verteilt werden. Selbst wenn ich dafür als Haushälter eine gewisse Sympathie habe, so ist das nicht realistisch. Wir müssen die Schuldentragfähigkeit in den Mitgliedstaaten schließlich berücksichtigen. Am Ende wird das ein angemessenes, ausgewogenes Verhältnis zwischen Krediten auf der einen und Zuschüssen auf der anderen Seite sein. ({4}) Der Antrag der AfD bezieht sich im Wesentlichen darauf, dass Sie kritisieren, dass die Gewährung von Leistungen aus dem europäischen Haushalt an die Einhaltung von rechtsstaatlichen Kriterien gebunden wird. Ich kann dazu nur sagen: Europa ist nicht nur eine Wirtschafts-, sondern auch eine Wertegemeinschaft. Zu einer Wertegemeinschaft gehört natürlich ein großer Grundkonsens über rechtsstaatliche Prinzipien. Das ist eine Selbstverständlichkeit. Die Zahlung von europäischen Mitteln an die Einhaltung einer Selbstverständlichkeit zu koppeln, finde ich durchaus nachvollziehbar und unterstützenswert. ({5}) Unsere eigenen Rahmenbedingungen – einige möchte ich Ihnen gerne vortragen – zum Wiederaufbauinstrument „Next Generation EU“: Natürlich muss dieses Instrument einmalig, befristet und zielgerichtet sein. ({6}) Der Stabilitäts- und Wachstumspakt muss so schnell wie möglich wieder zur Geltung kommen. Derzeit ist er nur ausgesetzt. Aber man sieht doch an unserem Beispiel und der jahrelangen soliden Haushaltspolitik, dass solide Haushalte erst Handlungsspielräume eröffnen und nicht den Spielraum einengen. ({7}) Das gilt natürlich auch auf der europäischen Ebene. Vor allen Dingen muss dieses Instrument die passende Dimension haben. Um es bildlich auszudrücken: Die Bazooka darf nicht zu klein, aber auch nicht zu groß sein. Haushaltsreste oder „reste à liquider“ helfen uns nicht weiter. Die Mittel müssen ankommen. Sie müssen schnell abfließen. Sie müssen umgesetzt werden. Da helfen nicht Planzahlen, sondern nur passende Instrumente. Die Investitionen auf der europäischen Ebene müssen natürlich einen europäischen Mehrwert erreichen: 5G-Netze, gemeinsame Außengrenzensicherung, Verteidigungspolitik etc. Aber sie sind sicherlich nicht nur eine Budgethilfe für die Mitgliedstaaten. Vor allen Dingen muss dieses neue Instrument solide finanziert werden. Es kann ja nicht sein, dass man auf der einen Seite die Ausgaben dezidiert beschreibt, aber auf der anderen Seite deren Finanzierung in die ferne Zukunft verlegt und völlig vage hält. Die Ausgaben auf der einen Seite und die Finanzierung auf der anderen Seite sind zwei Seiten derselben Medaille und sollten auch möglichst zeitnah und zeitgleich entschieden werden. ({8}) Zum mehrjährigen Finanzrahmen. Er muss natürlich ein Mix aus Zukunftsthemen, wie Klimaschutz, Digitalisierung, Forschung und Entwicklung, und aus bewährten Politikfeldern, wie Landwirtschaft und Kohäsionspolitik, sein. Wenn wir das so anlegen, dann haben wir, glaube ich, gute Chancen, diese schwierige Phase zu meistern und vor allen Dingen die Europäische Union zukunftsfest und wettbewerbsfähig aufzustellen. Deutschland wird dabei einen erheblichen, einen größeren finanziellen Anteil leisten als vor der Krise; gar keine Frage. Das ist für uns Ausdruck größter Solidarität mit unseren Nachbarn, und das aus voller Überzeugung. ({9}) Vor allen Dingen aber müssen wir am Ende unsere Leistungsfähigkeit im Blick behalten. Zu der finanziellen Leistungsfähigkeit kann man nur sagen: Der Rückstoß des Wumms darf uns am Ende nicht umhauen. Vielen Dank fürs freundliche Zuhören. ({10})

Carsten Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003815, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir diskutieren heute eine Verordnung der Bundesregierung, die dazu dient, dass wir Haushaltsmittel dafür verwenden, den Anstieg der EEG-Umlage pro Kilowattstunde abzubremsen und tatsächlich auch ins Gegenteil umzukehren. Meine Damen und Herren, wir verwenden dafür auch Mittel aus dem Energie- und Klimafonds. Dieses Ansinnen ist nach meiner Überzeugung und nach der Überzeugung unserer Fraktion, der Unionsfraktion, vollkommen richtig; denn wir wollen die privaten Haushalte gerade in dieser schwierigen Zeit und auch die Wirtschaftsbetriebe von Stromkosten entlasten. Das ist aus meiner Sicht sehr wichtig, weil wir die Akzeptanz der Energiewende weiter befördern müssen. Wir müssen sie im Übrigen auch noch ausbauen. Dafür ist eben auch die Preisgestaltung ein wesentlicher Faktor. Meine Damen und Herren, ich sehe allerdings diese heute vorliegende Verordnung – das will ich durchaus sagen – in zweierlei Hinsicht etwas kritisch. Wir müssen nämlich aufpassen, dass wir uns nicht ohne Not in ein beihilferechtlich stürmisches Fahrwasser begeben. Ich will Ihnen das kurz illustrieren. Wir haben im März vergangenen Jahres einen großen Erfolg vor dem EuGH verbuchen können, als festgestellt worden ist, dass das EEG 2012 mit den EU-Beihilfevorschriften in Einklang steht; darüber haben wir in diesem Hause mehrfach diskutiert. Wir haben im Übrigen auch gesagt, dass das die Grundlage für eine sehr weitgehende Entbürokratisierung in diesem durchaus intensiv geregelten Bereich sein wird. Meine Damen und Herren, wir haben uns im Übrigen auch Gutachten darüber erstellen lassen und sind der festen Überzeugung – diese haben wir auch gestützt gefunden –, dass sich diese grundsätzliche Einschätzung des EuGH eben auch auf das EEG 2014 und 2017 erstreckt.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, erlauben Sie mir, dass ich Sie kurz unterbreche. – Ich möchte darauf hinweisen, dass ich es als unangemessen empfinde, wenn es längere Gespräche auf der Regierungsbank gibt. ({0})

Carsten Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003815, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sie haben ohne Zweifel recht. Die Kollegen haben allerdings sowieso kein besonderes Interesse und keinen besonderen Sachverstand beim Thema Energiepolitik.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Bei Letzterem kann ich es nicht beurteilen, Herr Kollege.

Carsten Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003815, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber ich! Dann machen Sie den ersten Teil und ich den zweiten.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Wunderbar.

Carsten Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003815, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber die merken es auch gar nicht.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Ich habe Ihre Redezeit angehalten.

Carsten Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003815, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das ist klar. – Wir haben den erwähnten Erfolg im letzten Jahr erzielt. Meine Damen und Herren, wir dürfen ihn nicht einfach so preisgeben. Auch die Bundesregierung erkennt – das ist erst mal der richtige Schritt – diese idealerweise bahnbrechende Wirkung des EuGH-Urteils. Aber wir müssen unglaublich aufpassen, dass wir mit der Unterstützung der EEG-Umlage aus allgemeinen Mitteln das EEG-Regime beihilferechtlich nicht dauerhaft infizieren. ({0}) Deswegen müssen wir auf diesen wichtigen Punkt, der zugegebenermaßen eine sehr fachliche Diskussion erfordert, besonderes Augenmerk legen. Wenn das passiert, was ich beschrieben habe, hat das möglicherweise erhebliche Auswirkungen auf den Industriestandort Deutschland. Das wäre von uns in der gerade angesprochenen krisenhaften Situation überhaupt nicht zu vertreten. ({1}) Wir müssen vielmehr Industriepolitik in unserem Land beflügeln. Das kann nur funktionieren, indem wir uns Handlungsspielräume auch in der Energiepolitik erhalten. Im Übrigen – das ist der zweite Aspekt – darf es nicht zu einer Mittelkonkurrenz kommen. Es darf nicht passieren, dass wir durch die Verwendung von EKF-Mitteln für die EEG-Umlage andere wichtige Vorhaben, die mit EKF-Mitteln refinanziert sind, gefährden. Ich nenne Ihnen als Beispiele die Energieeffizienz und das große Thema „erneuerbare Wärme“, das in der Koalition zugegebenermaßen auch nicht vollkommen unumstritten ist. Wir wünschen uns da durchaus etwas mehr Bewegung von unserem Koalitionspartner, ({2}) um beispielsweise erneuerbare Wärme aus Biomasse künftig noch stärker zu ermöglichen. Wir müssen allerdings auch die Frage der Wasserstoffgesellschaft in den Blick nehmen. Auch das ist ein Thema, das gegebenenfalls beihilferechtlich besonders schwierig zu handhaben sein wird. Die Reallabore der Energiewende will, ehrlich gesagt, niemand wirklich gefährden. Das zentrale Problem ist allerdings nicht – ich will keinesfalls falsch verstanden werden – diese Verordnung. Ich habe gesagt, dass wir da einige problematische Ansatzpunkte sehen. Wir müssen das Problem allerdings viel mehr grundsätzlich angehen. Das heißt, wir müssen uns um das beihilferechtliche Regelwerk kümmern. Wir müssen darauf achten, dass uns das Beihilferecht der EU, insbesondere bei den Fragen einer ambitionierten Industriepolitik, einer nachhaltigen, klugen und klimaschützenden Energiepolitik, nicht viel zu enge Fesseln anlegt. Anders kann es uns nämlich nicht gelingen, beispielsweise die Bereiche Verkehr, Wärme, Energieindustrie zu dekarbonisieren. Wir brauchen Gestaltungsspielraum. Den dürfen wir mit den Maßnahmen, wie wir sie heute vielleicht andeuten, keinesfalls gefährden. Meine Damen und Herren, ich will an dieser Stelle die Gelegenheit nutzen, mich an die Bundesregierung zu wenden, und die Erwartung insbesondere der Unionsfraktion deutlich herausstellen, dass wir uns wünschen, dass Sie sich umgehend an die Arbeit machen, die Handhabung der EEG-Umlage so auszuformen, dass wir eine beihilferechtskonforme Senkung haben, dass wir nicht gleichzeitig das gesamte EEG-Regime beihilferechtlich infizieren, dass wir die Spielräume für eine industriefreundliche und umweltfreundliche Energiepolitik haben und dass wir – das wird auf jeden Fall erreicht – die Akzeptanz für die Energiewende nicht verspielen. Wir bremsen mit der heute zu beschließenden Maßnahme den Stromkostenanstieg. Wir verkehren die Entwicklung der EEG-Umlage ins Gegenteil; sie wird sinken. Das ist im Grundsatz eine richtige Maßnahme. Sie muss dann auch konsequent richtig zu Ende geführt werden. Vielen Dank. ({3})

Steffen Kotré (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004791, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der einzige Zweck der Änderung dieser Verordnung ist es, Kosten zu verschleiern. ({0}) Denn die Strompreise schießen ja durch die Decke. Genau den entsprechenden Anteil nimmt man jetzt und versteckt ihn dann beim Steuerzahler. Noch hat der Stromkunde die Möglichkeit, auf seine Rechnung zu schauen, und er sieht dann ganz genau, wie teuer die Strompreise eigentlich sind. Aber das wird jetzt geändert. Der Steuerzahler muss bluten gerade für die überschießenden Kosten. Wir haben mit die höchsten Strompreise in der Welt. Das beschädigt unseren Standort. Wir haben schon seit 2000 eine Deindustrialisierung der stromintensiven Industrie. Schuld daran ist die Energiewende. Schuld daran sind die Windräder hier in unserem Land und die Photovoltaikanlagen, die instabilen erneuerbaren Energien. ({1}) Die Windenergieanlagen sind eine alte Technologie. ({2}) Wir kennen sie. Sie ist schon tausend Jahre alt. Windmühlen haben früher Getreide gemahlen. Natürlich gibt es technologischen Fortschritt, und Windmühlen sind nicht mehr notwendig. Aber diesen technologischen Fortschritt will man in der Energieversorgung gar nicht anerkennen. Wir machen einen Rückschritt. Wir gehen genau ins Mittelalter. ({3}) Diese Windmühlen sollen jetzt unsere Energieversorgung stabilisieren? Das ist doch überhaupt nicht zu verstehen. Das ist, wie gesagt, ein Rückschritt. ({4}) Die Windenergieanlagen sind nicht nachhaltig. Die Rotorblätter sind nicht wiederzuverwenden; sie sind nicht recycelbar. Die Fasern, die aus den Rotorblättern im Falle einer Havarie rauskommen, verseuchen Landstriche, gefährden Menschen- und Tierwohl. ({5}) Auch geschützte Tierarten werden durch Rotorblätter der Windenergieanlagen getötet. Der jüngste Fall: Der Betreiber einer Windenergieanlage, eines solchen Industrieparks, muss sich jetzt vor Gericht verantworten. Ein Rotmilan, ein Vertreter einer geschützten Art, ist durch ein Rotorblatt getötet worden. Das zeigt einmal mehr, dass Windenergieanlagen – überhaupt diese ganze Technik – nicht nachhaltig sind. ({6}) Nachhaltig und zukunftsfähig, das ist unser Energiemix, wie wir ihn noch vor Jahren hatten, inkludiert die Kernenergie. Schauen wir uns mal den Energieerntefaktor der Kernenergie an: Er beträgt zwischen 75 und 100. ({7}) Das heißt, die Energie, die wir über den gesamten Lebenszyklus des Prozesses bei der Kernenergie hineinstecken, beträgt im Output das 75- bzw. 100-Fache. Jetzt schauen wir uns mal die Windenergie an. Da ist es gerade mal das 4-Fache, das heißt ein Fünfundzwanzigstel dessen, was wir hier an Energie ernten können. Das zeigt noch mal die Rückwärtsgewandtheit dieser Technologie, deren Lebensdauer unter anderem mit dieser Verordnung noch siechend in die Länge gezogen wird. ({8}) Die Kernenergie ist sicher. Die Anlagen in Tschernobyl und Fukushima sind mit unseren nicht zu vergleichen. Wir haben die sichersten Kernkraftwerke hier in Deutschland – gehabt. Vielleicht haben wir sie immer noch; das weiß ich nicht. Aber wenn wir sie nicht mehr haben, dann ist das die Schuld Ihrer Politik, meine Damen und Herren ({9}) Die Links-Grünen sind nun leider für die faktenfreie Hysterie auf diesem Gebiet verantwortlich. ({10}) Wenn sich einmal der Nebel Ihrer wohlstandsvernichtenden Nebelkerzen lichtet, dann wird man sehen, was das Ergebnis gewesen ist. Wir haben hier hysterische Menschen. Wir haben Technologie verhindert, und wir haben Wohlstand vernichtet. Das ist Ihnen anzulasten, allerdings auch in Zusammenarbeit mit der CDU/CSU, die hier historisch versagt hat und – nur weil sie einige Wählerstimmen mehr haben möchte – diese links-grüne Politik mitgetragen hat –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Kommen Sie zum Schluss, bitte, Herr Kotré.

Steffen Kotré (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004791, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

– und eben Steigbügelhalter für diese links-grüne, wohlstandsvernichtende Politik ist –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen, bitte.

Steffen Kotré (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004791, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

– und damit eben auch Wohlstand verhindert hat. ({0}) Das schwächt im Übrigen auch die Demokratie.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, bitte! Sie haben noch einen Satz, und dann entziehe ich Ihnen das Wort.

Steffen Kotré (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004791, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ich bitte Sie, darüber nachzudenken. Danke schön. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Nächster Redner ist der Kollege Timon Gremmels, SPD-Fraktion. ({0})

Timon Gremmels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004732, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! ({0}) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Ich möchte zunächst einen Satz zur AfD sagen – mehr fällt mir dazu nicht ein, aber ein Satz muss es sein –: Wenn Sie hier von Faktenfreiheit reden, dann fällt das auf Sie zurück. Die Rede gerade war völlig faktenfrei. ({1}) Das Gute am EEG ist, dass es transparent und nachvollziehbar ist. Auf der Stromrechnung eines jeden Kunden steht unten drauf, wie hoch die EEG-Umlage ist und was er damit für die Energiewende tut, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({2}) Wenn wir das Prinzip mal umrechnen würden auf die Kosten von Atom und Kohle, dann kämen wir auf eine atomar-fossile Umlage von über 10 Cent, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({3}) Da sehen Sie doch, was teuer ist. Nicht die erneuerbaren Energien sind teuer, ({4}) teuer ist Atomkraft, teuer ist Kohle, meine sehr verehrten Damen und Herren. Deswegen beraten wir heute die Änderungen der Erneuerbare-Energien-Verordnung. Das darf man aber nicht losgelöst machen, sondern man muss im Gesamtkontext sehen, was diese Koalition schon auf den Weg gebracht hat: ({5}) Wir haben im letzten Jahr endlich ein Klimaschutzgesetz auf den Weg gebracht. ({6}) Wir haben uns zur Klimaneutralität verpflichtet. Das ist sehr positiv, meine sehr verehrten Damen und Herren. Und dass wir als erstes Land in Europa ({7}) – und da sind wir auch stolz drauf – sowohl aus der Atomkraft als auch aus der Kohlekraft morgen aussteigen werden, ({8}) ist ein guter Weg für Deutschland. Wir sind da Vorreiter bei den erneuerbaren Energien; und da sind wir stolz drauf, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({9}) Und: Deutschland ist das erste europäische Land, das einen CO2-Preis für die Sektoren Wärme und Verkehr eingeführt hat, und zwar mit Svenja Schulze, unserer Umweltministerin. Auch darauf sind wir stolz. Der CO2-Preis wird zum 1. Januar 2021 auf den Weg gebracht, ({10}) und das ist auch gut so. ({11}) Und was machen wir heute? Heute ändern wir die Erneuerbare-Energien-Verordnung. Damit haben wir viel erreicht. Vor allem: Alle Maßnahmen, die wir in diesem Bereich treffen, sind sozial gerecht. Das ist eine kleine Verordnung, die wir heute ändern, aber mit einer sehr großen Wirkung für die Menschen, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({12}) Wir werden sicherstellen, dass sozusagen der CO2-Preis in das EEG-Umlage-Konto fließt ({13}) und somit auch für die Menschen die EEG-Umlage reduziert wird; und das ist gut so. ({14}) – Rufen Sie doch nicht so dazwischen. Ich habe auch die Kollegen der FDP gerade gehört, die da gerade zwischengerufen haben. Darauf habe ich nur gewartet. Wissen Sie was, meine sehr verehrten Damen und Herren, wann hatten wir denn die größte Erhöhung der EEG-Umlage? In welcher Regierungszeit war denn das? Das war nämlich, als Sie regiert haben. Da ist die EEG-Umlage am stärksten angestiegen, weil Sie damals etwas versäumt haben. Sie haben nämlich damals Folgendes gemacht: Sie haben die energieintensive Industrie rausgenommen – was gut ist –, aber Sie haben die fehlenden Einnahmen nicht aus der Steuerkasse bezahlt, sondern Sie haben die Kosten umgelegt auf alle Verbraucherinnen und Verbraucher. Sie waren es, die die Energie teuer gemacht haben, meine sehr verehrten Damen und Herren von der FDP. ({15}) Sie waren es, und Sie haben ja gleichzeitig noch den Atomausstieg damals rückgängig gemacht. Und heute wollen Sie von all dem nichts mehr wissen. Sie sollten einfach mal in Protokolle früherer Sitzungen schauen. So war es. ({16}) Sie tragen da die größte Verantwortung. Deswegen entspricht das, was Sie hier gleich vortragen werden, Frau Weeser, Krokodilstränen. Nichts anderes werden Sie hier vergießen. ({17}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir handeln als Sozialdemokraten. Mit 11 Milliarden Euro in 2021 sorgen wir dafür, dass die Erneuerbare-Energien-Umlage gesenkt wird; ({18}) auf 6,5 Cent wird sie gedeckelt. Das ist sinnvoll, und das werden die Menschen auch in ihren Portemonnaies fühlen und spüren. Frau Präsidentin, lassen Sie mich zum Schluss sagen: Wir wollen da heute nicht aufhören, sondern wir wollen weitermachen. Wir wollen zusehen, dass wir die Ausbaupfade für erneuerbare Energien umsetzen werden. Wir werden morgen erstmals das 65-Prozent-Ziel im Gesetz verankern, und danach werden wir das für die einzelnen Sektoren durchdeklinieren. Zum Schluss noch zwei Punkte: Wir werden den Mieterstrom einführen. Herr Altmaier, wir warten immer noch auf Ihren Gesetzentwurf. Vor einem Jahr im Juni haben Sie dem Parlament versprochen, dass es ein Mieterstromgesetz geben wird. Darauf warten wir immer noch, Herr Altmaier.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Und ich warte auf das Ende Ihrer Rede. ({0})

Timon Gremmels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004732, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin, darauf habe ich nur gewartet. Ich wünsche euch und Ihnen noch einen schönen Abend. Alles Gute! Glück auf! ({0})

Sandra Weeser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004929, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Gremmels, ich glaube, Sie haben vergessen, dass sich seit 2012 – und wir sind seit 2013 ja gar nicht mehr in der Regierung – die EEG-Umlage verdoppelt hat. Jetzt frage ich nur mal: Welche Partei war denn zu dieser Zeit in der Regierung? ({0}) Aber um es jetzt mal vorwegzunehmen – ich hatte eben schon eine interessierte Voranfrage der CDU-Kollegen, und ich sage es jetzt direkt –: Grundsätzlich begrüßen wir als FDP-Fraktion hier im Bundestag natürlich das Vorhaben der Bundesregierung, die EEG-Umlage künftig schrittweise über den Bundeshaushalt zu finanzieren. ({1}) – Jetzt lasst mich doch mal zu Ende reden hier. – Wir freuen uns dabei vor allem über Ihre Erkenntnis, dass das Umlagesystem des EEG nicht mehr zeitgemäß ist. Deswegen müssen wir auch die EEG-Umlage schnellstmöglich auslaufen lassen. ({2}) Aber für die Wirkung der Deckelung der EEG-Umlage kann ich Sie jetzt nicht loben, Herr Lenz. Sie ist zwar Teil Ihres Konjunkturpakets, aber es hilft der Konjunktur, ehrlich gesagt, herzlich wenig. ({3}) Das machen nämlich die Zahlen deutlich: Gegenüber der aktuellen EEG-Umlage bedeutet die Deckelung eine Senkung um lediglich 3,8 Prozent. Wenn man dann schaut: Die EEG-Umlage 2020 macht durchschnittlich 36,4 Prozent der Stromkosten eines Unternehmens aus. Da kommen wir insgesamt auf eine tatsächliche Senkung von 1,4 Prozent. In einem privaten Haushalt ist es noch weniger; da sind es nämlich nur noch 0,8 Prozent. Das zeigt doch ganz klar, dass diese Maßnahmen gar nicht zur Belebung der Konjunktur beitragen können. Okay, die Deckelung hält den Status quo, ja, und sie verhindert auch einen massiven Anstieg der EEG-Umlage. Trotzdem kostet diese minimale Senkung der EEG-Umlage ganze 11 Milliarden Euro. Dass 11 Milliarden Euro eingesetzt werden, um lediglich den Status quo zu erhalten – sorry –, das zeigt, welche finanziellen Ausmaße die verfehlte Energiewendepolitik der Bundesregierung angenommen hat. ({4}) Den Status quo zu erhalten, sehr geehrte Damen und Herren, ist ja Ihr erklärtes politisches Ziel. ({5}) Wir als Freie Demokraten haben da noch ein bisschen mehr vor. So darf es bei der anstehenden EEG-Reform unserer Meinung nach nicht weitergehen. ({6}) – Jetzt hören Sie doch mal auf, dazwischenzureden. Lassen Sie mich doch endlich mal hier in Ruhe meine Rede halten. ({7}) Wir fordern Sie auf – nach 20 Jahren und nach einem Anteil von über 50 Prozent Erneuerbarer an der Stromerzeugung –: Beenden Sie endlich die EEG-Förderung! Die Verschiebung in den Haushalt darf aber auch nicht die Ineffizienz dieses Systems kaschieren. Wir brauchen eine umfassende Reform der staatlichen Anteile am Strompreis, damit wir hier auch krisenfest werden. Lassen Sie die EEG-Umlage ganz auslaufen und erneuerbare Energien mit neuen Finanzierungsformen ausbauen! ({8}) Das, Herr Altmaier, wäre die Konsequenz aus Ihren Ankündigungen der letzten Jahre. Und hören Sie auf, den Strom und die Energiewende in Deutschland selbst unnötig teuer zu machen! Denn das freut die Geringverdiener, das freut die zukünftigen Generationen, das freut den Mittelstand, und das freut – da bin ich ganz sicher – auch den Bundesrechnungshof. Herzlichen Dank. ({9}) – Selbstverständlich! ({10}) – Das gehört zur Opposition dazu, oder? ({11})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Sandra Weeser. – Nächster Redner: für die Fraktion Die Linke Lorenz Gösta Beutin. ({0})

Lorenz Gösta Beutin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004672, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Coronakrise trifft besonders einkommensschwache Haushalte stark. Nehmen wir einmal eine vierköpfige Familie: Die Mutter hat vielleicht vorher in Vollzeit gearbeitet; jetzt ist sie auf Kurzarbeit angewiesen. Der Mann hat seinen 450-Euro-Job verloren. – Die Familie mit ihren zwei Kindern muss sich um ihre Existenz Sorgen machen, muss sich darum Sorgen machen, ihre Miete bezahlen zu können. Als Linke sagen wir in dieser Situation: Wir brauchen eine gerechte Verteilung von Einkommen und Vermögen. Wir brauchen eine Vermögensteuer. Wir brauchen einen Mindestlohn von 12 bis 13 Euro, von dem die Menschen wirklich gut überleben können. ({0}) Und wir müssen Schluss machen mit Leiharbeit und Werkverträgen, mit der Ausbeutung auch in der Fleischindustrie und in anderen Betrieben. Das wäre in dieser Krise das richtige Konjunkturprogramm. ({1}) Diese vierköpfige Familie hat noch ein weiteres Problem. Sie muss nämlich Extraprofite von Unternehmen finanzieren, auch aus der Fleischindustrie. Warum das? Viele Großunternehmen, auch Unternehmen der fossilen Industrie, aber eben auch der Fleischindustrie, sind von der Umlage für die erneuerbaren Energien befreit. Konkret bedeutet das: Diese Unternehmen, auch aus der Fleischindustrie, müssen niedrigere Strompreise bezahlen als die Endverbraucher/-innen. ({2}) Diese Preise werden auf alle Endverbraucher/-innen umgelegt. Da wir die Situation haben, dass viel mehr Strom am Markt ist, als nachgefragt wird, sind die Börsenstrompreise, also die Strompreise ohne Umlagen und Steuern, stark gesunken. Die Unternehmen machen Extraprofite, und unsere vierköpfige Familie muss dafür bezahlen. Wir sagen: Damit machen wir Schluss. ({3}) Das Problem geht noch weiter: Der Ökostrom hat in den Jahren 2011 bis 2018  70 Milliarden Euro eingespart. ({4}) Das Problem: Dieses Geld ist eben nicht in den Taschen der Familien gelandet; es ist in den Taschen der Energieversorger und der Unternehmen gelandet. Genau da liegt das Problem. Wir als Linke sagen nämlich: Selbstverständlich wollen wir Schluss machen mit der Ausbeutung von Mensch und Tier in Fleischfabriken, Schluss machen mit der Massentierhaltung. Aber gehen Sie doch mit uns einen ersten Schritt. Es ist wichtig, die Erneuerbare-Energien-Umlage abzusenken. Aber es wäre noch mehr notwendig, diese Ausnahmen für die Fleischindustrie, für klima- und umweltschädliche Unternehmen abzubauen. ({5}) Damit könnte man Haushalte um 8 Milliarden Euro entlasten. Das wäre nicht nur gut für Klima und Umwelt und für unser aller Gesundheit; das wäre dann auch gut für unsere vierköpfige Familie. Vielen Dank. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Lorenz Gösta Beutin. – Die nächste Rednerin: Dr. Julia Verlinden für die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Julia Verlinden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004429, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im letzten Herbst gingen 1,4 Millionen Menschen zu den größten Klimademonstrationen aller Zeiten in Deutschland auf die Straße. Währenddessen beschlossen Sie von der Koalition in einer Nachtsitzung einen CO2-Preis von nur 10 Euro pro Tonne. Hätten Sie lieber noch mal darüber geschlafen! ({0}) – Eben, genau. Es ist nämlich uns Grünen zu verdanken, dass wir ab Januar zumindest mit 25 Euro pro Tonne CO2 einsteigen. Im Vermittlungsausschuss haben wir dann nämlich für einen wirksamen CO2-Preis gekämpft und uns gemeinsam darauf verständigt, dass mit den Einnahmen die EEG-Umlage gesenkt wird; ({1}) denn das hilft gleich doppelt: Fossile Energien wie Erdgas, Heizöl, Diesel und Benzin bekommen schrittweise einen ökologisch fairen Preis. Damit wird es attraktiver, endlich auch im Verkehr und bei der Heizung in CO2-freie Technologien zu investieren. ({2}) Gleichzeitig wird durch die sinkende EEG-Umlage der Strom günstiger, und das gibt Impulse für die Sektorenkopplung. Statt der Ölheizung wird es dann die Wärmepumpe und statt des Schummel-Diesels das Elektroauto. Das ist der Weg in die Zukunft. ({3}) Aber: Sektorenkopplung ist dann sinnvoll, wenn wir erneuerbaren Strom nutzen. Ob Elektrifizierung im Wärme- oder im Verkehrssektor oder Wasserstoff für die Industrie, durch Elektrolyse hergestellt: Wenn die Stromnachfrage steigt und das mit Egal-Strom passiert, also auch mit Kohlestrom aus dem Netz, sollen dann etwa die Kohlemeiler noch ein bisschen länger laufen? Nein! Das, Kolleginnen und Kollegen von der Union und der SPD, kann es ja wohl nicht sein. Immerhin haben wir bisher in 2020 schon über 50 Prozent erneuerbaren Strom gehabt. Minister Altmaier hat sich damit ja auch schon geschmückt. Aber sein Verdienst ist es wahrlich nicht. ({4}) Ab nächstem Jahr stehen voll funktionstüchtige Wind- und Solaranlagen vor einem großen Fragezeichen, weil diese Bundesregierung es nicht schafft, passende Regeln für Anlagen zu schaffen, die nach 20 Jahren EEG-Finanzierung weiter grünen Strom produzieren könnten. ({5}) Die Bundesregierung hätte sich auch etwas mehr Mühe bei dem geben können, was sie uns hier heute vorlegt. ({6}) Jetzt tätigen Sie einfach große Zahlungen in das EEG-Konto. Damit wird das ganze EEG ziemlich sicher wieder ein Fall für die Beihilfeleitlinien der EU. Dabei wäre das gar nicht unbedingt nötig gewesen. Sie hätten auch die Teile des EEG, die schon beihilfetechnisch von der EU-Kommission akzeptiert sind, herauslösen und aus dem Haushalt finanzieren können. ({7}) Warum gehen Sie nicht an die Industrieausnahmen heran, um die Senkung der EEG-Umlage umzusetzen? Wie erklären Sie den Menschen in Deutschland, dass weiterhin Großschlachtereien auf Kosten der anderen Stromkunden Strompreisrabatte erhalten und dass von den Dächern demnächst voll funktionsfähige Solaranlagen womöglich wieder abgebaut werden, weil die GroKo sich nicht rechtzeitig gekümmert hat? ({8}) Es reicht deshalb nicht aus, wenn Sie nun planen, die EEG-Umlage zu senken. Es braucht den Ausbau der erneuerbaren Energien, und zwar schneller als je zuvor. Dann kann die Energiewende vorankommen, aber nicht, wenn man so halbe Sachen macht wie die Große Koalition in dieser Legislaturperiode. ({9})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Julia Verlinden. – Nächster Redner: Dr. Andreas Lenz für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Andreas Lenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004339, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, wir ändern heute die Verordnung zum EEG. Wir entlasten dadurch die Verbraucher, und zwar signifikant. Diese technische Änderung wird dazu führen, dass die Einnahmen aus dem Emissionshandel in die EEG-Umlage fließen genauso wie Mittel aus dem Konjunkturpaket. Allein im beschlossenen Konjunkturpaket sind für die Jahre 2021 und 2022  11 Milliarden Euro dafür vorgesehen. Wir werden also die größte Entlastung der Verbraucher bei den Strompreisen in der Geschichte der Bundesrepublik umsetzen, meine sehr geehrten Damen und Herren. Wir werden dadurch auch den coronabedingten drohenden Anstieg der EEG-Umlage kompensieren. Jetzt ist ja die Frage: Warum steigt die EEG-Umlage durch Corona? Es ist so, dass die EEG-Umlage sich aus der Differenz zwischen Börsenstrompreis und der garantierten Einspeisevergütung berechnet. Da durch Corona die Nachfrage nach Strom signifikant gesunken ist, ist natürlich die Differenz zwischen Börsenstrompreis und Einspeisevergütung entsprechend angestiegen. Das werden wir ausgleichen, meine sehr geehrten Damen und Herren. Klar ist ja auch, dass nicht die aktuell in Betrieb genommenen Anlagen das EEG teuer machen, sondern die Anlagen aus der Vergangenheit. Deshalb ist damit zu rechnen, dass die EEG-Umlage insgesamt Mitte der 20er-Jahre auch wieder sinken wird. Wettbewerbsfähige Strompreise, meine sehr geehrten Damen und Herren, sind wesentlich für die Ersatzinvestitionen der stromintensiven Industrie am Standort Deutschland. Wir setzen aber auch ein Signal an das verarbeitende Gewerbe, an das Handwerk insgesamt. Wir schauen, dass der Strompreis in Deutschland bezahlbar bleibt. ({0}) Wir treiben mit der Senkung der EEG-Umlage aber auch wasserstoffbasierte Technologien voran. Deshalb ist es aus dieser Sicht heraus gut und richtig, was wir machen. Gleichzeitig will ich aber auch nicht verhehlen, dass wir schon Sorge haben, dass wir das positive Urteil des EuGH vom März 2019 durch die jetzige Regelung mehr als gefährden. Das Urteil besagt, dass die EEG-Umlage eben keine Beihilfe ist. Mit einer Teilfinanzierung der EEG-Umlage aus Steuermitteln fällt das EEG unter Umständen vollständig unter den EU-Beihilferahmen. Dies bedeutet lange Abstimmungsrunden mit der Kommission, mit der Wettbewerbskommissarin und eben oftmals auch gerade keine Planungssicherheit für die Unternehmen. Ich möchte an dieser Stelle besonders hervorheben, dass für uns klar ist, dass die Besondere Ausgleichsregelung, also die Befreiung für stromintensive Industrien, die im internationalen Wettbewerb stehen, in keiner Weise gefährdet werden darf. ({1}) Die Besondere Ausgleichsregelung ist integraler Bestandteil der Energiewende. Sie darf nicht in Gefahr geraten. Ich sage dies in aller Deutlichkeit, aber auch in aller Eindringlichkeit. Insgesamt muss man ja auch sagen, dass die Energiewende hilft, europäische Zielvorgaben insgesamt umzusetzen. Allein deshalb ist die Befassung der Kommission mit sämtlichen Energiethemen an sich aus meiner Sicht schon fraglich. Das sollte der Kommission gerade auch hinsichtlich der Anstrengungen im Hinblick auf die Umsetzung des sogenannten European Green Deals klargemacht werden, klargemacht werden auch auf höchster Ebene. Dies ist also ein Arbeitsauftrag von der Fraktion im Parlament an die Regierung. Auch sollte uns die jetzt zu beschließende Änderung der Verordnung nicht davon abhalten, eine Abgaben- und Umlagenreform insgesamt auf die Agenda zu setzen. In diesem Sinne ist die heutige Änderung ein erster Schritt. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({2})

Johann Saathoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004393, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir schaffen mit dieser Verordnung die gesetzliche Grundlage dafür, dass die EEG-Umlage auch einen Einnahmetatbestand erhält. Es geht darum, dass die EEG-Umlage künftig mit Haushaltsmitteln stabilisiert werden kann. Es geht also faktisch auch um die Entlastung der Bürgerinnen und Bürger bei der EEG-Umlage in ihrem Strompreis. Und das ist neu. Liebe Kolleginnen und Kollegen, was ist der größte Feind von neu? Der Satz: Das haben wir ja noch nie gemacht. – Oder, Frau Präsidentin, wie wir auf Plattdeutsch sagen: Dat hebben wi ja noch nooit maakt. Das ist aber nicht nur neu, sondern auch notwendig, weil wir mit dem Brennstoffemissionshandelsgesetz auch eine Belastung der Bürgerinnen und Bürger beschlossen haben, also quasi mit dem nationalen CO2-Preis in den Sektoren Verkehr und Transport sowie im Wärmesektor. Bei dem Beschluss dieser Belastung bei Kraftstoffen und Heizkosten haben wir die Entlastung bei den Strompreisen vorgesehen. Dafür schaffen wir heute die Rechtsgrundlage. Meine Damen und Herren, die EEG-Umlage kann mit dieser Verordnung erstmals stabilisiert werden. Das ist eine gute Botschaft. ({0}) Es ist wichtig, dass wir tatsächlich mehr noch als früher miteinander über die Frage der Finanzierung der EEG-Umlage sprechen, auch wenn das heute nur ein kleiner schrittweiser Einstieg ist. Denn erneuerbare Energie wird auch dank des EEGs immer günstiger und ist längst günstiger als Atomenergie, längst günstiger als fossile Energie, wenn man alle Kosten miteinbezieht. Das muss man an dieser Stelle ganz klar sagen. ({1}) Auch klar ist, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wir brauchen viel mehr erneuerbare Energien, um unsere Klimaziele zu erreichen. ({2}) Wir brauchen viel mehr erneuerbare Energien, um unsere Energiesouveränität zu erhöhen, was ja einige ganz besonders wollen. Und wir brauchen viel mehr erneuerbare Energien, um von der Stromwende endlich auch zu einer echten Energiewende zu kommen und Wasserstoff vernünftig einsetzen zu können. ({3}) Für uns Sozialdemokraten, liebe Kolleginnen und Kollegen, war nie die Frage, ob die Erneuerbaren vielleicht zu teuer sein könnten. ({4}) Wir wollten immer darüber reden – und jetzt wollen wir es noch mehr –, ob die Lastenverteilung eigentlich noch gerecht erfolgt. Das wird die Frage der Zukunft sein. ({5}) Viel mehr als bisher werden wir die Verteilung der sozialen Lasten beim Klimaschutz in den Fokus nehmen, damit wir die Menschen auf dem Weg in eine klimaneutrale Gesellschaft nicht verlieren, damit wir sie nicht an solche Rattenfänger verlieren, ({6}) die den Leuten irgendwelche Pseudofakten vorlegen und dann meinen, sie könnten damit Wählerstimmen gewinnen, ({7}) damit die Leute davon überzeugt sind, dass der Weg, den wir in der Energiewende miteinander gehen wollen, gemeinsam gegangen wird. Heute machen wir den ersten Schritt dafür. Herzlichen Dank. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Johann Saathoff. – Damit schließe ich die Aussprache.

Caren Lay (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004088, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zu Beginn der Coronapandemie waren wir uns noch einig, dass Mieterinnen und Mieter vor Kündigungen geschützt werden sollen. Niemand sollte während der Pandemie seine Wohnung verlieren. ({0}) Wer wegen Corona sein Geschäft schließen musste oder seinen Job verlor, der konnte wenigstens in der Wohnung bleiben oder sein Geschäft behalten. Mieten konnten gestundet werden. Zehntausende haben alleine in den ersten Wochen von dieser sinnvollen Regelung Gebrauch gemacht. Aber seit gestern ist sie ausgelaufen. Die Regierung hätte mit einem einfachen Beschluss dafür sorgen können, sie wenigstens um drei Monate zu verlängern. Viele Familien hätte das ruhiger schlafen lassen können. Aber Sie haben es nicht geschafft, diesen Kündigungsschutz mitten in der Pandemie auszuweiten. Das, meine Damen und Herren, ist wirklich eine Schande. ({1}) Nun muss ja jede und jeder, der in Kurzarbeit ist oder keinen Auftrag bekommt, befürchten, seine Wohnung oder seinen Laden zu verlieren. Auch der Strom kann wieder abgestellt werden. Das ist wirklich unverantwortlich. ({2}) Dabei sind sich Mieter und Gewerkschaftsbund einig, dass die Krise erst jetzt, in den kommenden Monaten, auf die Mieten durchschlägt. ({3}) Sachverständige befürchten, dass schon bald 10 Millionen Mieterinnen und Mieter betroffen sein können. Wenn wir jetzt nicht handeln, dann droht die nächste große Verdrängungswelle aus den Innenstädten. Und das darf nicht sein. ({4}) Dass Sie kein Herz für Mieter haben – Sie zum Beispiel, Herr Luczak –, das wissen wir ja. Aber dass Sie als eine angeblich wirtschaftsfreundliche Partei auch Gewerbetreibende – auch um die geht es heute – so im Regen stehen lassen, dafür habe ich wirklich null Verständnis. ({5}) Denn Sie waren es ja, die Union, die mal wieder vor dem Druck der Immobilienlobby eingeknickt ist und die Verlängerung dieser sinnvollen Regelung im Kabinett blockiert hat. Das geht so nicht, meine Damen und Herren! ({6}) Aber auch der SPD – das muss ich an der Stelle leider sagen – kann ich die Kritik nicht ersparen. Ich weiß, Sie wollten die Verlängerung. Aber Sie haben in den letzten Wochen hier 9 Milliarden Euro Mehrausgaben für die Rüstung durchgewunken und 0 Milliarden Euro für den sozialen Wohnungsbau durchgesetzt. 9 Milliarden Euro werden der Lufthansa geschenkt, aber Sie schaffen es nicht, diesen Kündigungsschutz auszuweiten. Wie haben Sie denn da verhandelt? Das verstehe ich einfach nicht. ({7}) Meine Damen und Herren, das Parlament ist der Souverän. Wir haben heute die Möglichkeit, diesen schweren Fehler, diesen groben Fehler der Bundesregierung zu korrigieren und unserem Antrag, dem Antrag der Linksfraktion, zuzustimmen – heute. Wir beantragen als Linke eine Sofortabstimmung. Nun ist mir signalisiert worden, dass die Koalition das nicht will. Also, da bin ich ja jetzt mal gespannt. Sie wollen das doch jetzt nicht bis auf den September verschieben oder, weil es Ihnen irgendwie unangenehm und peinlich ist, in den Schutz, in das Dunkel der Ausschüsse verschieben? So geht es nicht! Der Kündigungsschutz muss verlängert werden, und zwar hier und heute! ({8}) Meine Damen und Herren, das alles kann nur der erste Schritt sein; das wissen wir als Linke, das haben wir immer gesagt. Zwangsräumungen während der Pandemie wollen wir grundsätzlich ausschließen und nicht wie die AfD auch noch erleichtern. ({9}) Wie absurd ist das denn? ({10}) Keine Mieterhöhungen während der Pandemie! Auch das sollte doch selbstverständlich sein. Wir müssen auch klar definieren, ab wann eine Mietsenkung in der Pandemie legal und möglich ist, übrigens nicht nur für die Wohnungsmieter, sondern gerade auch für die Ladenbesitzer, denen das vielleicht helfen würde. ({11}) Wir sind uns als Linke einig: Auch die Vermieterseite muss ihren Beitrag in dieser Krise leisten. ({12}) Und für Kleinvermietende – das will ich ganz klar sagen – wollen wir einen Härtefallfonds einrichten, um auch sie zu unterstützen. Zu guter Letzt: Sammelunterkünfte müssen in der Krise aufgelöst werden. Obdachlose und Geflüchtete dürfen nicht die Verlierer sein. Das Recht auf Wohnen muss für alle gelten, auch und gerade während der Coronapandemie. ({13})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Caren Lay. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Dr. Jan-Marco Luczak. ({0})

Dr. Jan Marco Luczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004100, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Lay, Sie haben ja recht. Wir waren uns in der Tat am Anfang, zu Beginn der Coronapandemie, einig, dass wir selbstverständlich Mietern helfen müssen, und genau das haben wir doch getan. Wir haben ein kraftvolles Paket auf den Weg gebracht, mit dem wir Kündigungen für die Monate April, Mai und Juni ausgeschlossen haben, weil es uns als Koalition wichtig war, dass die Menschen, die jetzt wirtschaftliche Sorgen haben, nicht auch noch Angst haben müssen, ihr Dach über dem Kopf zu verlieren. Deswegen haben wir das gemacht, und ich finde es auch nach wie vor richtig, dass wir das so auf den Weg gebracht haben. ({0}) Aber man muss auch sehen, dass das natürlich ein tiefgreifender Eingriff in bestehende Verträge ist. Und da, wo es auf der einen Seite Mieter gibt, gibt es auf der anderen Seite eben auch Vermieter, und die treffen wir mit dieser Regelung genauso. Da muss man schon mal genau hinschauen. ({1}) So wie Sie das jetzt hier darstellen – dass in jedem Falle die Mieter immer die Schwächeren sind –, ist es doch nicht. ({2}) Sie kennen doch ganz genau den Fall Adidas, wo ein Milliardenkonzern auf einmal unter Berufung auf diese Regelung gesagt hat: „Jetzt zahle ich meine Miete nicht mehr“, und der Vermieter auf der anderen Seite auf einmal in ganz arge wirtschaftliche Bedrängnis gekommen ist. Genau das ist doch der Punkt: Wir müssen hier zu einer differenzierten Lösung kommen, und genau das haben wir auch gemacht. ({3}) Wir sagen: „Das ist ein tiefgreifender Eingriff“ – das wird, glaube ich, auch niemand von Ihnen bezweifeln –, und dafür brauchen wir eine Rechtfertigung. Die Rechtfertigung war, dass wir am Anfang noch keine Instrumente hatten, um die wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise abzumildern, und unsere sozialen Sicherungssysteme eben nicht so schnell und so flexibel darauf haben reagieren können. Die innere Logik dieses Kündigungsmoratoriums war, dass wir gesagt haben: Wir brauchen diese Zeit, diese drei Monate, um unsere sozialen Sicherungssysteme zu ertüchtigen. – Und genau das haben wir auch gemacht. Wir haben flexibilisiert. Wir haben die Hilfen unbürokratisch und schnell ausgestaltet. Wir haben das Wohngeld flexibilisiert. ({4}) Wir haben das Kurzarbeitergeld eingeführt. Wir haben die Regelung bezüglich der Kosten der Unterkunft so gestaltet, dass es bei all den Menschen, die jetzt, weil sie vielleicht wirklich in wirtschaftliche Not gekommen sind, ALG II beziehen müssen, keiner Vermögensprüfung bedarf. Es muss auch niemand aus seiner Wohnung ausziehen, weil sie zu groß, weil sie nicht angemessen ist. All das haben wir ausgesetzt. Wir haben zahlreiche Hilfsmaßnahmen auf den Weg gebracht, von den großen DAX-Konzernen bis hin zu den Solo-Selbstständigen. Ich will Ihnen mal was sagen: Diese Hilfen wirken; diese Hilfen funktionieren. Gerade einmal 0,3 Prozent der Mieterinnen und Mieter im großen Berliner Wohnungsverband BBU mit 700 000 Wohnungen haben um Stundung gebeten. ({5}) Das zeigt: Wir haben entschlossen gehandelt, und die Maßnahmen, die wir auf den Weg gebracht haben, haben tatsächlich auch gewirkt. ({6}) Jetzt sind wir in einer Situation, in der wir sehen, dass die Maßnahmen wirken. Wir alle miteinander haben das Ziel, dass wir die Wirtschaft langsam wieder ans Laufen bekommen, damit wir wieder Schritte in Richtung Normalität gehen können. Es eint uns doch hier, dass wir mit Wumms aus der Krise herauskommen wollen, wie unser Koalitionspartner sagen würde. ({7}) Deswegen haben wir als Unionsfraktion gesagt: Es wäre doch jetzt ein fatales Signal, wenn wir nach drei Monaten, in denen wir Schritte in Richtung Normalität gehen, sagen würden: Jetzt verlängern wir alle diese Maßnahmen, die am Anfang der Krise richtig gewesen sind. – Jetzt, wo wir schon ein paar Schritte weiter sind, wo wir darauf reagiert haben, wo wir flexibilisiert haben, wo wir unbürokratisch Hilfe leisten können, die auch funktioniert, da wäre es doch genau das falsche Signal. Deswegen haben wir gesagt: Wir können einer solchen Verlängerung nicht zustimmen. – Ich glaube, dass es richtig ist, nicht zuzustimmen. Wir müssen jetzt unsere Kräfte darauf konzentrieren, die Hilfsmaßnahmen so anzupacken, dass wir wirtschaftliche Kraft entwickeln. Wir haben heute den Nachtragshaushalt, ein Milliardenpaket, beschlossen und damit ein riesiges Zukunfts- und Kraftpaket auf den Weg gebracht. Damit müssen wir den Menschen Hoffnung geben, dass sie wieder Arbeit haben, dass sie Hilfe bekommen und dass wir wieder zur Normalität zurückkommen – und jetzt nicht solche sozialistischen Planspiele machen, wie es Die Linke uns mit ihrem Antrag vorgibt. Das machen wir nicht mit. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Jan-Marco Luczak. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Jens Maier. ({0})

Jens Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004811, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das, was uns hier von den Linken vorgelegt wurde, das sogenannte Soforthilfeprogramm, macht den Eindruck, als habe die Antifa aus Leipzig an Sie, Frau Lay, einen Wunschzettel übergeben, ({0}) den Ihre Mitarbeiter ein wenig aufgearbeitet haben und den Sie dann ins Parlament eingebracht haben. Mehr ist das nicht. ({1}) Sie fordern in Ihrem Antrag allen Ernstes ein Moratorium für Mieterhöhungen, ein Verbot von Zwangsräumungen und eine Senkung der Nettokaltmiete um 30 Prozent. ({2}) Warum eigentlich nur um 30 Prozent? Warum nicht um 50 oder 80 Prozent? ({3}) – Ja, oder 100 Prozent. Dann sollen Sammelunterkünfte aufgelöst werden, und sogenannten Geflüchteten soll angemessener Wohnraum dezentral zur Verfügung gestellt werden. ({4}) Wo soll das sein, Frau Lay? Bei Ihnen zu Hause, oder wo soll das sein? ({5}) So steht es hier geschrieben. Das ist eine Liste der Grausamkeiten für jeden Vermieter, besonders für den privaten Vermieter, der ein, zwei Wohnungen hat und über diesen Weg seine Altersvorsorge betreibt. Das dämmert auch den Linken. Deshalb ist man auf die tolle Idee gekommen, für gebeutelte Vermieter Härtefallfonds einzurichten. ({6}) Wofür die Coronapandemie so alles herhalten muss! Welchen Schwachsinn man damit als notwendige Maßnahme verkaufen kann! ({7}) Denn eins ist doch klar: Wenn das Realität würde, was die Linken hier wollen, dann hängt die Vertragstreue des Mieters allein von seinem guten Willen ab, insbesondere wenn Zwangsräumungen verboten werden sollen. Damit, Frau Lay, schaffen Sie das Paradies für den Unredlichen! Sie von den Linken, Sie wollen die dunkle Seite stärken. Wir von der AfD wollen, dass es heller wird in Deutschland. Wir wollen die Redlichen schützen. ({8}) Mit unserem Entwurf eines Gesetzes zur Einführung einer Schonfristzahlung bei ordentlichen Kündigungen von Wohnraummietverträgen wollen wir Mietern die Möglichkeit eröffnen, einen drohenden Wohnraumverlust ganz abwenden zu können, wenn sie mal in Zahlungsschwierigkeiten gekommen sind. Nach unseren Vorstellungen soll das möglich sein, wenn die säumigen Mieter vor dem Ablauf von zwei Monaten nach Eintritt der Rechtshängigkeit des Räumungsanspruchs ihrer Zahlungsverpflichtung nachträglich in Gänze nachgekommen sind und sich dadurch wieder redlich gemacht haben. Eine derartige Regelung existiert momentan im Gesetz nur für Fälle von außerordentlichen Kündigungen. ({9}) Diese Rechtslage ist inkonsequent, und wir wollen, dass diese Regelung auch auf die ordentliche Kündigung erstreckt wird. Es kann nicht sein, dass der Mieter durch nachträgliche Zahlung zwar die außerordentliche Kündigung unwirksam machen kann, die ordentliche Kündigung aber bestehen bleibt und er dann doch seine Wohnung verliert. Hier sehen wir Änderungsbedarf. Wer sich redlich macht und zahlt, muss davon auch einen Vorteil haben, der darf seine Wohnung nicht verlieren. ({10}) Und dann muss natürlich dafür gesorgt werden, dass es den Unredlichen, den Schädlingen an den Kragen geht. ({11}) Das sind die sogenannten Mietnomaden, also Leute, die von Anfang an keine Miete zahlen wollen, die die an sie vermieteten Räume mutwilligem Vandalismus aussetzen und die plötzlich spurlos die Wohnräume verlassen. Gegen diese Leute muss entschlossen vorgegangen werden. ({12}) Sie schaden den Vermietern in erheblichem Umfang; sie schaden aber auch den redlichen Mietern. Denn viele Vermieter, die das schon mal durchhaben, die schon mal durch Mietnomaden geschädigt wurden, vermieten lieber gar nicht mehr oder nur unter Bedingungen, die von manchen redlichen Mietern als entwürdigend empfunden werden müssen. Dementsprechend sieht unser Entwurf mehrere Änderungen von zivilprozessualen Vorschriften vor, um zügige Verfahren gegenüber Mietnomaden zu ermöglichen. Dazu gehören ein früher erster Termin zur mündlichen Verhandlung innerhalb von sechs Wochen nach Klageerhebung, eine Verkürzung der Räumungsfrist auf maximal sechs Monate sowie die Entpflichtung des Gerichts davon, Mietnomaden vor Erlass einer einstweiligen Verfügung anzuhören. Das hat Sinn. Was die Linken wollen, ist Unsinn. Vielen Dank. ({13})

Ulli Nissen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004363, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland hat die Coronakrise bislang sehr gut gemeistert. Die von der rot-schwarzen Bundesregierung ergriffenen Maßnahmen wirken. Für Mieterinnen und Mieter gab es ein umfassendes Leistungspaket. Bei der Grundsicherung haben wir für sechs Monate die Vermögensprüfung ausgesetzt und übernehmen die volle Miethöhe. Beim Wohngeld haben wir die Antragstellung deutlich vereinfacht. Kernpunkt unserer Aktivitäten war der verbesserte Kündigungsschutz für Mieterinnen und Mieter. Die Menschen sollen ihr Zuhause nicht verlieren. Wegen coronabedingter Mietschulden zwischen April und Juni darf nicht gekündigt werden. Die Verpflichtung zur Zahlung der Miete bleibt natürlich bestehen. Von Anfang an gab es eine Option zur Verlängerung dieser Regelung. Viele, die von Einkommensverlusten betroffen sind, konnten anfänglich die Miete noch zahlen. Inzwischen steigt die Zahl derer, die ihre Miete nicht mehr oder nur noch zum Teil zahlen können. SPD-Justizministerin Christine Lambrecht wollte deshalb den verbesserten Kündigungsschutz bis zum 30. September verlängern und hat dazu eine Verordnung vorgelegt. Leider haben dies die CDU- und CSU-geführten Ministerien bisher blockiert. Gerade im Corona-Lockdown haben die Menschen umso mehr gemerkt, wie wichtig die eigene Wohnung ist. Es gibt viele gute Vermieterinnen und Vermieter – ich nenne sie „Mietdelfine“ –, ({0}) die sicherlich auch jetzt versuchen, gute Regelungen zu finden. Aber es gibt leider auch Miethaie – die Ätzenden –, ({1}) die jede Möglichkeit nutzen, ihre Mieterinnen und Mieter zu vertreiben. ({2}) In meinem Frankfurter Wahlkreis habe ich gerade die Machenschaften der Firma WPS kennengelernt. Nur ein kleiner Auszug aus deren Methoden: Haustürschlösser werden beseitigt, jeder kann ins Haus – ein sehr ungutes Gefühl für die Bewohnerinnen und Bewohner. Aus einem Haus zieht die letzte Mieterin wegen Angst aus, nachdem des Nachts wohl öfter fremde Menschen durch das Haus liefen. Letzte Woche wurde versucht, die Wohnungstür einer Mieterin, die in der Wohnung war, aufzubrechen, angeblich weil die Wohnung vermessen werden sollte. Die versenden schikanöse, unberechtigte Mieterhöhungsankündigungen nach Modernisierungen, wo anstatt einer Erhöhung um 140 Euro eine Erhöhung um 330 Euro angekündigt wird. Solche Summen können sich die wenigsten leisten. ({3}) Dafür steht darunter der „nette Absatz“, dass Sonderkündigungen durch die Mieterinnen möglich sind, worauf WPS vermutlich sehr hofft. Einziges Ziel solcher miesen Schikanen: Die Wohnungen sollen entmietet werden, damit sie danach als Luxuseigentumswohnungen teuer verkauft werden können. Zu diesen Methoden machen wir am 6. Juli in Frankfurt einen Mahnrundgang „Den Miethaien auf der Spur“. Treffpunkt: Matthias-Beltz-Platz, 18.30 Uhr. Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU, lassen Sie den widerlichen Miethaien nicht die Chance, die Coronasituation zu nutzen, um die Mieterinnen und Mieter zu vertreiben! Tragen Sie dazu bei, dass die Menschen ihr Zuhause nicht verlieren! Stimmen Sie jetzt der Verlängerung auf dem Verordnungswege zu! Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Ulli Nissen. ({0}) Wollen Sie zuhören, was die Kollegen der AfD alles an Kommentaren haben? ({1}) – Ja, Sie müssen noch ein bisschen lauter sein, Herr Hilse, ({2}) dann wird es noch besser aufgeschrieben, was Sie alles so von sich geben um diese Uhrzeit. ({3}) Nächste Rednerin: für die FDP-Fraktion Katharina Willkomm. ({4})

Katharina Kloke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004783, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Linke behauptet, die Coronapandemie führt zu Wohnungslosigkeit, und das Mietmoratorium der Regierung war unzureichend. Tatsächlich gibt es bislang keine Krise auf dem Wohnungsmarkt aufgrund der Coronakrise, ({0}) und das Mietmoratorium der Regierung war unnötig. Es ist vielmehr ein Schritt der Selbstkorrektur, dass sich in der Koalition auch mal der Wirtschaftsflügel der Union ({1}) durchsetzt und das Moratorium nicht verlängert wird. Die Linke hingegen ist nicht korrekturfähig. Ihr geht es auch gar nicht um die Überbrückung einer zeitlich begrenzten Coronaphase, die für viele Mieterinnen und Mieter schwierig ist. Es geht ihr auf dem Wohnungsmarkt immer noch ums große Ganze: den Kapitalismus zu überwinden, die Privatautonomie zu untergraben. ({2}) Denn nichts anderes bedeutet es, wenn Sie alle Kündigungen ausschließen, Räumungen verbieten und die Kaltmiete pauschal um 30 Prozent absenken. Dann ist da der Härtefallfonds, den Sie vorschlagen. Positiv daran ist: Sie erkennen an, dass es a) Privatvermieter tatsächlich gibt und dass b) auch diese von den Verwerfungen auf dem Wohnungsmarkt hart getroffen werden. Ihr Fonds soll schnelle, unbürokratische Hilfen gewähren. Schaut man dann in die Hauptstadt und macht den Praxistest, sieht man, was passiert, wenn Linke, Grüne und SPD „schnell und unbürokratisch“ helfen. Der Bund hat Coronahilfen für Kleinunternehmer und Selbstständige bereitgestellt. In Berlin beträfe das 170 000 Unternehmen. Der rot-rot-grüne Senat hat aber 209 000 Anträge bewilligt; das sind 40 000 extra. „Es ging … zu wie am Geldautomaten“, schreibt das „Handelsblatt“. ({3}) Noch zwei Punkte zu Ihrer Forderung, das Mietmoratorium zu verlängern. Erstens. Bislang haben auf 1 000 Mieter gerade mal 3 eine Mietstundung beantragt. Diese geringe Zahl verwundert auch nicht; denn nur bei 6 von 1 000 Mietverhältnissen gab es überhaupt Mietrückstände. Zweitens. Bleiben Sie bitte konsistent! Als es um Reisebüros ging, sagten Sie noch: Kredite helfen nicht. Die müssen zurückgezahlt werden; das ist schlicht unmöglich. ({4}) Für die Mieter aber fordern Sie letztlich genau das. Auch eine gestundete Miete muss irgendwann bezahlt werden. Das Problem wird nur zeitlich und zulasten des Vermieters verschoben. Sollte das dicke Ende der Coronakrise noch kommen, bereiten wir uns darauf vor – aber mit Augenmaß. Wir Freien Demokraten fordern deshalb seit Monaten, dass der Bund ein zeitlich befristetes Sonderwohngeld einführt. Das ist unter den gegebenen Umständen das beste Instrument. Vielen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Katharina Willkomm. – Nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Canan Bayram. ({0})

Canan Bayram (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004665, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nur wer eine Wohnung hat, kann auch zu Hause bleiben. ({0}) Das ist ein vernünftiger Grund, weswegen der Kündigungsschutz für Mieterinnen zu Beginn der Pandemie mit breiter Mehrheit im Deutschen Bundestag beschlossen wurde. ({1}) Zu Beginn der Pandemie haben sich die Mieterinnen kurz die Hoffnung gemacht, dass ihre Sorgen und Nöte ernstgenommen werden und die Gelegenheit besteht, dass Verbesserungen für Mieterinnen erfolgen. ({2}) Nun lassen Sie von der Koalition die Mieterinnen im Stich, obwohl die Pandemie noch längst nicht vorüber ist, meine Damen und Herren. ({3}) Das Mindeste, was Sie den Mieterinnen schuldig sind, wäre, diese Verantwortung durch Verlängerung der Rechtsverordnung zum Kündigungsschutz wahrzunehmen, damit Gewerbe- und Wohnraummieterinnen in der Coronapandemie geschützt sind. ({4}) Ich hatte die Bundeskanzlerin mit Schreiben vom 22. Juni darum gebeten, aber nicht mal das bekommen Sie hin. In der Coronapandemie werden wie unter einem Brennglas die grundsätzlichen Probleme unserer Gesellschaft sichtbar, meine Damen und Herren. Die Mieterinnen und Mieter sind unzureichend vor Kündigungen geschützt. Das wollen wir ändern, und das müssen wir auch ändern. ({5}) Mit unseren Anträgen wollen wir erstens ein Sicher-Wohnen-Programm auflegen, damit alle Mieterinnen und sogar die Vermieterinnen gut durch diese Coronakrise kommen. ({6}) Zweitens wollen wir mit unserem Antrag „Mieterschutz stärken“ ({7}) den Kündigungsschutz und das Minderungsrecht im Interesse der Mieterinnen deutlich verbessern. ({8}) Das heißt, wir wollen Eigenbedarfskündigungen einschränken, und bei Mängeln wollen wir das Minderungsrecht der Mieterinnen erleichtern, meine Damen und Herren. ({9}) Sie von der Koalition hingegen verweisen auf das Wohngeld, in Kenntnis dessen, dass es wegen der faktisch nicht zeitnahen Bewilligung ins Leere laufen wird. Nichts kriegt der Mieter bei Ihnen! ({10}) Wir müssen doch verhindern, dass Menschen ihre Wohnung verlieren, und wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen ihre Mieten bezahlen können, und zwar nicht nur zu Coronazeiten, meine Damen und Herren. ({11}) Kurzum: Wir wollen den Mieterinnenschutz stärken. Sie allerdings lassen die Mieterinnen nicht nur im Stich, sondern Sie nehmen deren Sorgen und Nöte noch nicht einmal ernst. Dafür, meine Damen und Herren von der Koalition, sollten Sie sich tatsächlich mal anständig schämen. ({12}) Dabei sollte doch klar sein, dass wir gerade in der Not niemanden zurücklassen dürfen. Was Sie hier machen, insbesondere Herr Luczak, ist eine Kampfansage an die Adresse der Mieterinnen. Der nächste Häuserkampf geht auf Ihr Konto! ({13})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön, Canan Bayram. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Karsten Möring. ({0})

Karsten Möring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004356, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man dem klugen, etwas zynischen Satz von Winston Churchill folgt, man solle keine gute Krise verpassen, um sie zu nutzen, dann muss man das allerdings viel intelligenter machen, als Die Linke das versucht und die Grünen zum Teil auch. ({0}) Es hilft nämlich gar nichts, wenn man Anträge, die man schon jahrelang stellt, nur noch mit dem Thema Corona verziert und meint, jetzt hätte man einen Grund, das durchzusetzen. ({1}) Es ist in Wirklichkeit so, dass wir in Deutschland die besten und weitgehendsten Kündigungsschutzregelungen haben. ({2}) Die funktionieren, und das ist auch gut so. Aber dann soll man es auch nicht übertreiben. Die Verbesserungen und die Einschränkungen, die wir am Anfang der Coronazeit vorgenommen haben, haben sich bewährt. Sie haben sich aber auch überlebt, weil nämlich die Notwendigkeit, sie in Anspruch zu nehmen, ganz offensichtlich minimal ist. Das rechtfertigt nicht, solche Regelungen zu verstetigen. Und noch eines: Wenn wir in zwei Monaten, in drei Monaten, in einem halben Jahr tatsächlich in einer Wiederholungssituation wären, dann wären wir die Letzten, die diese Möglichkeit nicht noch einmal neu auflegen. ({3}) Wenn es notwendig ist, tun wir das. Zurzeit ist es nicht notwendig. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben diese Thematik am 13. Mai, glaube ich, zum ersten Mal in der ersten Lesung behandelt. Ich habe damals zum Antrag der Grünen gesagt: Das, was Sie vorschlagen, komme zu spät – wir hatten längst gehandelt –, und es sei auch zu kompliziert mit der Regelung über die KfW. – Wir haben im Ausschuss beraten. Da gab es keine neuen Argumente. Deswegen kann ich mich darauf beschränken, zu sagen: Es bleibt, wie es ist. Wir werden der Empfehlung des Ausschusses folgen und diese Regelung auch jetzt wieder ablehnen. Ich möchte nur eines ergänzen. Die FDP hat neulich die Regierung gefragt, und die Regierung konnte die Frage nicht beantworten: Wie sieht es mit dem Instrument Wohngeld in dieser Situation aus? – Ich habe mich gestern mal in Köln schlaugemacht. Das ist nicht repräsentativ, es ist auch nicht das maximal Mögliche, was im Land denkbar ist. Die Stadt Köln bewältigt durch freiwillige Mehrarbeit die Anträge auf Wohngeld, weil die Zahl insgesamt überschaubar und beherrschbar ist. Diejenigen mit einer Einkommensminderung haben Anspruch auf Wohngeld – ohne Vermögensprüfung, ohne Rücksicht auf die Wohnungsgröße. Das sind die sonst geltenden Einschränkungen, die haben wir weggenommen, um flexibler reagieren zu können, und das funktioniert auch. ({5}) Das ist das Instrument, das am schnellsten und besten wirkt. Wenn Sie mit dem Argument kämen: „Was ist denn mit denen, die überhaupt kein Einkommen mehr haben?“, dann könnte ich nur sagen: Für die gilt auch nicht die Regelung zum Wohngeld – das ist ja nur eine Minderung der Belastung –, sondern für die gelten zum Beispiel die Regelungen im SGB II mit der Zuständigkeit des Jobcenters. Von daher: Wir haben das Instrumentarium; es funktioniert. Mieter und Vermieter haben ein ordentliches Verhältnis zueinander, in dem sie auch diese Probleme lösen. Wenn jetzt jemand kommt und mir sagt: „Ich kenne aber einen, da ist es ganz übel gelaufen“, dann würde ich den Vermieter anrufen und sagen: Willst du den ganzen Vermieterstand in Verruf bringen? – Ich würde auch sagen: Ich finde 50 Vermieter, die sich mit ihren Mietern, die in Schwierigkeiten gekommen sind, einigen – ohne Rückgriff auf staatliche Möglichkeiten. ({6}) Frau Präsidentin, ich ende pünktlich. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Sehr gut. Guter Mann, Karsten Möring. Herzlichen Dank. Auf die Sekunde. Ich danke Ihnen sehr. Nächste Rednerin – wieder zurück im Bundestag –: Mechthild Rawert für die SPD-Fraktion. ({0})

Mechthild Rawert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003825, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Werte Präsidentin! Werte Kolleginnen! Liebe Zuschauende! Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wollen die dreimonatige Verlängerung des – leider, leider – ausgelaufenen Kündigungsmoratoriums für Mietzahlungen, Verbraucherdarlehen sowie Energie-, Wasser- und Telefonabrechnungen. Unsere Ministerin Lambrecht steht Ihnen jederzeit für neue Verhandlungen darüber zur Verfügung. ({0}) Wir wollen dies für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, wegen der ökonomischen Vernunft und aus Solidarität mit den sozial Schwächeren. Wir als verantwortliche Parlamentarierinnen und Parlamentarier mahnen vollkommen zu Recht: Die Coronapandemie ist noch nicht vorbei! ({1}) Mir ist es darum völlig schleierhaft, warum Sie, werte Kollegen und Kolleginnen von der Union, gerade für Menschen mit geringem und mittlerem Einkommen die Pandemie samt ihrer sozialen Auswirkungen für beendet erklärt haben. ({2}) Fakt ist: Aufgrund Ihres Widerstandes sind seit gestern Mieterinnen und Mieter sowie Gewerbetreibende, die coronabedingt unverschuldet Einkommenseinbußen erleiden, wieder dem Kündigungsrisiko ausgesetzt. Ich finde das dramatisch, und ich finde es auch unsozial. ({3}) Es geht hier doch nicht um ein Gnadenbrot. Vermietern geht die Miete auch nicht verloren; sie wird nur gestundet bis 2022. Deswegen gehen wir als SPD geschlossen konform mit der Forderung von Sozial- und Wohlfahrtsverbänden, vom Mieterbund, von Gewerkschaften, aber auch vom Deutschen Hotel- und Gaststättenverband, DEHOGA, nach einer dreimonatigen Verlängerung des Kündigungsmoratoriums. Da wir beide ja aus dem wunderbaren Kreis Tempelhof-Schöneberg kommen, Herr Luczak, ({4}) lese ich mir natürlich Ihre Post besonders gründlich durch. Sie haben gesagt: Die SPD trägt auf dem Rücken der privaten Vermieter ein längst entschiedenes ideologisches Gefecht aus. – Ärgert mich der Satz? Nein, nicht die Bohne. ({5}) – Ja. ({6}) – Ich zeige es Ihnen. – Ein solcher Satz sagt ja mehr über den Sender selbst aus. Ihre Unionspolitik für die Mitte ist nämlich eine Politik für den Eigentümerverband Haus & Grund und den Spitzenverband der Wohnungswirtschaft GdW. Mit einer Politik der echten Mitte, nämlich der hart arbeitenden Menschen mit ihren Sorgen und Problemen, ({7}) hat das nichts, aber auch gar nichts zu tun. ({8}) Geben Sie Ihre Widerstände auf! Lassen Sie uns erneut verhandeln! Denn Sie haben recht: Wir wollen die Wirtschaft, vor allen Dingen aber die Gesellschaft ans Laufen bringen, damit es uns allen gut geht. Guten Verlauf. ({9})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Mechthild Rawert. ({0}) Letzter Redner in dieser Debatte: für die CDU/CSU-Fraktion Alexander Hoffmann. ({1})

Alexander Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004304, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Eine Pandemie wie die durch Covid-19 ausgelöste ist für uns alle eine Herausforderung. Ich glaube, fraktionsübergreifend müssen wir alle ein Ziel haben: Wir müssen die Menschen zusammenbringen, statt die Gesellschaft zu spalten. ({0}) Wenn ich aber Ihren Antrag lese, dann stelle ich fest, dass Sie genau Letzteres machen: Sie spalten. – Sie nehmen Ihre Ideologie, werfen ihr dann das Deckmäntelchen der Pandemiefolgenabfederung über und fordern dann völlig unverhältnismäßig und völlig überzogen Dinge, wie zum Beispiel keinerlei Zwangsräumung mehr – so steht es drin – und keine Kündigung von Wohnungen und Gewerbeimmobilien. Da muss ich sagen: Da bleiben Fragen offen. Dann wundere ich mich über die Grünen, die im Ausschuss tatsächlich sagen: Dieser Antrag geht uns nicht weit genug. – Das sollte Ihnen zu denken geben. Wenn Sie irgendwann mal Regierungsbeteiligung in diesem Land anstreben, empfehle ich Ihnen ernstlich, sich mal mit Artikel 14 Grundgesetz – das betrifft das Eigentum – auseinanderzusetzen. ({1}) Dann reden wir über die SPD. Auch da – das muss ich ganz ehrlich sagen – kann ich mich nur wundern. Gehen wir doch mal in die Details. Keinerlei Zwangsräumung, Kollegin Rawert, haben Sie ja gerade gut gefunden. Das sind dann die Fälle, wo zum Beispiel der Mieter seinen Vermieter bedroht; da wollen Sie keine Zwangsräumung. Das sind die Fälle, wo jemand absichtlich zwölf Monate keine Miete zahlt; da wollen Sie keine Zwangsräumung. ({2}) Keine Kündigung für Wohnungen und Gewerbeimmobilien. Kollegin Rawert, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, von Grünen und von den Linken, ({3}) das sind dann die Fälle, die der Kollege Luczak vorhin gemeint hat: Das ist dann der Konzern Adidas, der Milliardengewinne einstreicht, sich zurücklehnt und sagt: „Meine Miete zahle ich nicht“, und Sie können nicht einmal kündigen. Das wollen Sie Ihren Wählerinnen und Wählern tatsächlich erklären? ({4}) Sie fordern all das, obwohl es nicht erforderlich ist. Schauen wir uns mal die Zahlen an. Es gibt Erhebungen aus Berlin, die besagen, dass im März 0,34 Prozent der Mieter eine Mietenstundung beantragt haben; im April waren es ganze 0,28 Prozent. Und dafür – halten wir es fest – sind Sie bereit, das Grundrecht auf Eigentum – ich sage es jetzt mal drastisch – einfach das Klo hinunterzuspülen. ({5}) Das Schlimmste ist, dass Sie damit bewirken, dass dies der Sargnagel für den investiven Wohnungsmarkt ist. ({6}) Wir alle wissen, dass wir bezahlbaren Wohnraum nur schaffen, wenn Menschen bereit sind, in diesen Wohnungsmarkt zu investieren. Sie haben mit Ihrem Mietendeckel in Berlin schon sehr viel Schaden angerichtet, und mit solchen Anträgen wird es nicht besser. 2019 sind in Berlin 2,7 Milliarden Euro in den Wohnungsmarkt investiert worden, geplant waren 3,2 Milliarden Euro. Da sage ich Ihnen: Herzlichen Glückwunsch! Lernen Sie doch einfach mal daraus, und lassen Sie beim Thema Mieten mal die Ideologie beiseite.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Hoffmann.

Alexander Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004304, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Alexander Hoffmann. – Damit schließe ich die Aussprache.

Michael Donth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004262, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste auf den Tribünen! Wenn in wenigen Monaten auf dänischer Seite am Fehmarnbelt die Bagger anrollen, dann untermauern unsere Nachbarn damit etwas, was uns besonders in der letzten Zeit der Grenzschließungen nochmals eindrücklich geworden ist, nämlich das hohe Gut eines vereinten Europas mit offenen Grenzen, das auch mit dem transeuropäischen Schienennetz noch näher zusammenrückt. Jetzt ist es an uns, unseren Teil des Versprechens einzulösen; denn unsere europäischen Nachbarn verlassen sich auf uns. Sie verlassen sich darauf, dass wir unsere Staatsverträge und Vereinbarungen einhalten – von der Schweiz mit der Rheintalbahn bis nach Dänemark mit der Fehmarnbeltquerung. ({0}) Gleichzeitig müssen wir sicherstellen, dass diejenigen, die von diesem Ausbau als Anwohner nicht nur profitieren, bestmöglich vor den Nachteilen dieser Projekte geschützt werden. Deshalb schauen wir uns gemäß unseres Beschlusses aus 2016 solche wichtigen europäischen Projekte im Einzelfall an, um dann über zusätzlichen Lärmschutz zu entscheiden, der über das gesetzlich vorgegebene Maß hinausgeht. Allerdings darf dabei die volkswirtschaftliche Sinnhaftigkeit nicht verloren gehen. ({1}) Heute geht es um die Ausbaustrecke Lübeck‒Puttgarden. Viele Einzelfragen – von der Trassenführung bis zu zahlreichen sogenannten Schutzfällen – konnten in den Dialogforen besprochen und dank konstruktiver Zusammenarbeit gemeinsam mit der Bahn beantwortet werden. Dafür an dieser Stelle meinen herzlichen Dank allen Beteiligten! Sie haben diesen Entwurf durch Ihr Mitwirken noch besser gemacht. ({2}) Aber da gibt es noch Ruppersdorf – Sie alle werden es kennen –, ({3}) dessen Bewohner heute schon die Autobahn im Vorgarten haben und nun durch die geplante Bahntrasse auf der anderen Seite komplett eingekesselt würden. Das verhindern wir mit unserem Antrag. Dafür wollen wir 10 Millionen Euro zusätzlich ausgeben. Da bleiben in einer sehr wichtigen Tourismusregion zum Schluss drei Campingplätze übrig, wie beispielsweise das Ostseecamp Lübecker Bucht, deren Gäste im Zelt womöglich nicht ausreichend durch die dort geltenden Lärmgrenzwerte geschützt werden können. Für diesen Schutz stellen wir nochmals 2 Millionen Euro zur Verfügung. ({4}) Es gibt auch die Bewohner an der Bestandsstrecke in Lübeck, die keinen gesetzlichen Anspruch auf Lärmsanierung haben, weil die Strecke eben nicht ausgebaut wird. Auch hier gibt der Bund 34,8 Millionen Euro zusätzlich aus, um diesen Schutz zu ermöglichen. ({5}) Das sind nur drei Beispiele. In Summe geben wir für diese und andere Beispiele 232 Millionen Euro zusätzlich für Lärmschutz, Erschütterungsschutz und Ähnliches aus. Ganz konkret bedeutet das: Wir erfüllen die Forderungen des Dialogforums zum sogenannten Vollschutz vor Lärm und Erschütterungen mit knapp 140 Millionen Euro. Wir beteiligen uns zur Entlastung der Kommunen an der Anpassung der Bahnhöfe entlang der Strecke. Den Hauptteil trägt das Land Schleswig-Holstein; 5 Millionen Euro kommen von uns. Wir verbinden mit den Bundesmitteln natürlich die Hoffnung, dass in Anerkennung der bisher langen und konstruktiven Konsensprozesse keine weiteren rechtlichen Schritte das Bauvorhaben unnötig verzögern werden. Intensiv diskutiert haben wir in der Koalition die Vorschläge bezüglich Bad Schwartau. Hier greifen natürlich auch die Maßnahmen zum Vollschutz und die Maßnahmen gegen die Erschütterungen, die wir unterstützen. Die Bahn hat dafür plädiert, die Strecke weiterhin ebenerdig zu führen. Die Stadt wollte allerdings von Anfang an einen 7 Meter tiefen Trog zwischen der Schwartau auf der einen und der Autobahnbrücke auf der anderen Seite. In langer Diskussion entstand die Kompromisslösung, den Trog an der tiefsten Stelle mit 3,20 Meter zu führen. In Anerkennung dieses langen Diskussionsverfahrens und der vielfältigen Bemühungen stellen wir für diese Lösung die notwendigen 50 Millionen Euro zur Deckung der Mehrkosten zur Verfügung. ({6}) Jetzt sind die Verantwortlichen vor Ort wieder am Zug. Nach neun Jahren Ringen um gute Lösungen im Dialogforum und Jahren der Planung, die ein Schienenprojekt in Deutschland im Moment allein bis zu diesem Punkt hier braucht, können wir nicht verstehen, dass man solche Projekte immer wieder von Neuem auf den Prüfstand stellen will, und deshalb lehnen wir auch den Antrag der Grünen ab; denn so bekommen wir in Deutschland keine zusätzlichen Züge und keine zusätzlichen Güter auf die Schiene und auch den Deutschland-Takt nicht gebacken. ({7}) Ich erlaube mir, auch die Kollegin Hagedorn, die heute hier sitzt, anzusprechen, weil ich entsetzt war, als ich gestern in der Presse ihre Aussage gelesen habe. ({8}) Wenn der Sprecher des Dialogforums, Herr Dr. Jessen, von unserem gemeinsamen Antrag – dem Antrag von CDU/CSU und SPD – als „Krönung der gemeinsamen Arbeit im Dialogforum“ spricht und diesen Kompromiss ausdrücklich lobt, dann wäre es doch auch an Ihnen, sich Herrn Dr. Jessen und Ihrer eigenen Fraktion anzuschließen; ({9}) denn in vielen konstruktiven Gesprächen haben sich die Vertreter der Bahn, des Dialogforums, von Land, Kreis und Kommunen vor Ort und hier im Bundestag für eine gute und vertretbare Lösung eingesetzt. Wenn Sie das jetzt bei über 50 Millionen Euro für Bad Schwartau als „Billigvariante“ abqualifizieren, ({10}) mit der die Stadt, wie Sie sagen, abgespeist würde, dann fehlt mir jedes Verständnis. ({11})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Kommen Sie bitte zum Schluss, sonst muss ich das von der Redezeit Ihres Kollegen abziehen.

Michael Donth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004262, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte mich ausdrücklich bei meinen Fraktionskollegen Alois Rainer, Ingo Gädechens, Gero Storjohann und dem Bahnbeauftragten Enak Ferlemann für ihr Engagement bedanken – und auch bei meiner Kollegin und meinem Kollegen von der SPD, Frau Lühmann und Matthias Stein. Vielen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Wie heißt der Ort, den wir alle kennen? ({0}) – Vielen Dank, Herr Donth. – Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen wirklich, die Redezeiten einzuhalten. Wir haben uns darauf verständigt, möglichst schnell durchzukommen, weil wir sehr stark in Verzug sind. – Nächster Redner: Wolfgang Wiehle für die AfD-Fraktion. ({1})

Wolfgang Wiehle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004933, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Per Zug von Hamburg nach Kopenhagen in weniger als zweieinhalb Stunden, kürzere Wege für Güterzüge von und nach Skandinavien: Das soll die neue Bahnverbindung möglich machen, um die es heute geht. ({0}) Im Mittelpunkt des Projekts steht ein Tunnel durch den Fehmarnbelt von Deutschland nach Dänemark. Es gibt einen Staatsvertrag über das Projekt, und in Dänemark wird längst an den Zulaufstrecken gebaut. Mit dem Ausbau der Zulaufstrecke zwischen Lübeck und Puttgarden, über die wir heute reden, sind wir in Deutschland deutlich später dran als die Dänen. ({1}) Infrastruktur hat ihren Preis – beim Neubau und auch in der Instandhaltung. Dazu eine Bemerkung zu der heute Vormittag doch arg kurz geratenen Debatte über die Krisenpakete: Dass der Bund die Deutsche Bahn AG als staatseigenes Unternehmen bei der Erhaltung der Infrastruktur mit Kapitalerhöhungen unterstützt, ist durchaus nachvollziehbar. Dass er aber für coronabedingte Löcher in der Kasse denselben Weg wählt, ist es nicht. ({2}) Hier mahnt die AfD eine Lösung an, die der ganzen Bahnbranche hilft und nicht nur dem Staatskonzern. ({3}) Hier und jetzt geht es um Infrastruktur, die unzweifelhaft staatliche Aufgabe ist. Durch ein überregional so bedeutendes Projekt wie dieses, das Skandinavien besser an Deutschland anbindet, entstehen vor Ort Probleme zum Beispiel durch Bahnlärm und Eingriffe in die Landschaft. ({4}) Die gesetzlichen Regeln sichern den Anliegern der Neubauabschnitte mehr Lärmschutz zu als denen, die ein paar Kilometer weiter wohnen – an einem Streckenabschnitt, den es in der benötigten Form heute schon gibt, der aber eine wesentlich höhere Verkehrsbelastung bekommt. ({5}) Da ist es sinnvoll, dass wir vonseiten des Bundestages mit übergesetzlichen Maßnahmen für ergänzenden Schutz vor Lärm und Erschütterungen sorgen. ({6}) Auch die verbesserte Trassenführung in Bad Schwartau in einer Troglage unterstützt die AfD gerne, ({7}) wobei ein 7 Meter tiefer Trog deutlich hilfreicher wäre als einer mit 3,2 Metern Tiefe. Der Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen geht einigermaßen in die richtige Richtung. In manchen Punkten bleibt er aber im Unklaren. ({8}) 100 Millionen Euro sollen für Lärmschutz noch draufgesattelt werden, aber man kann aus dem Antrag nicht genau herauslesen, für welche Maßnahmen im Einzelnen. Ob tatsächlich in jedem einzelnen Fall die Lärmschutzwand besser ist als Schallschutzfenster, müsste auch gründlicher abgewogen werden. ({9}) Deshalb werden wir von der AfD uns hierzu der Stimme enthalten. Die Kollegen von den Grünen legen uns ein Papier auf den Tisch, ({10}) aus dem man herauslesen muss: Am liebsten würden sie den Staatsvertrag kippen und das Projekt abblasen. ({11}) Wenn das aber nicht gelingt, dann müsse das Projekt mit dem maximalen Aufwand drumherum versehen werden. Das ist doch nichts anderes, meine Damen und Herren, als das übliche Gestänker gegen große Projekte, das wir aus dieser Richtung schon lange kennen! ({12}) Da wünsche ich den Kollegen von der Unionsfraktion viel Vergnügen mit dem neuen Koalitionspartner ab 2021 – das ist doch die heimliche oder auch unheimliche Idee vieler, die Herr Merz, immerhin Ihr früherer Fraktionsvorsitzender, letzte Woche offen ausgesprochen hat. ({13})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Nein, nicht „zum Thema“, sondern zum Schluss. ({0})

Wolfgang Wiehle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004933, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. – Mit einer solchen grünen Politik bringt man unser Land nicht voran. ({0}) Andere mögen sich damit plagen. Wir von der AfD-Fraktion lehnen den grünen Antrag auf jeden Fall ab. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke, Herr Wiehle. – Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Kirsten Lühmann. ({0})

Kirsten Lühmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004101, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Anwesende! „Meilenstein für menschenfreundliches Bauen“ oder „Schlag ins Gesicht der Bevölkerung“ – das sind die Schlagzeilen, die wir heute in der Presse lesen konnten. Und es dürfte Sie nicht verwundern, dass ich eher zu dem „Meilenstein für menschenfreundliches Bauen“ tendiere. Ich werde auch kurz erklären, warum das so ist. ({0}) Wir geben mit diesem Antrag 232 Millionen Euro für zusätzlichen Schutz aus – Schutz für die Bevölkerung, die bei dem Bauprojekt zusätzlichem Lärm und Erschütterungen ausgesetzt ist. 232 Millionen Euro – das ist weiß Gott kein Schlag ins Gesicht der Bevölkerung, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Wir haben gehört, das seien angeblich nur 40 Prozent der Forderung. Ich sage Ihnen ganz deutlich: Das Dialogforum hat keine Euro-Forderung gestellt, sondern es hat Kernforderungen aufgestellt. ({2}) Sie haben gesagt, was sie erreichen wollen. Die Bahn hat gesagt, was das kostet, und hat uns gesagt: Überlegt, ob ihr es umsetzen wollt. Jetzt lassen Sie uns mal die Kernforderungen durchgehen: Erstens: Gesamtlärmbetrachtung. Wir haben gesagt: Ja, das wollen wir. – Die Berechnungsmodelle liegen noch nicht vor. Darum können wir noch nicht exakt sagen, wie viel es ist. Vor allen Dingen wissen wir noch nicht, ob wir an der Bahn bauen müssen oder an der Autobahn. Wenn wir das aber wissen, werden wir das Geld zur Verfügung stellen. Erfüllt! Zweitens: Vollschutz. Wir geben das Geld, um den gesamten verlangten Vollschutz auszuführen. Drittens: für die Campingplätze und touristischen Einrichtungen erhöhter Lärmschutz. Viele dieser Forderungen werden schon durch den Vollschutz erfüllt, einige bleiben noch offen, unter anderem bei drei Campingplätzen. Für ihre Erfüllung stellen wir zusätzliches Geld zur Verfügung. Forderung fast komplett erfüllt! Viertens: Lärmminderung und Erschütterungsminderung im Bestand, in diesem Fall in Lübeck. Forderung zu 100 Prozent erfüllt! Fünftens: Umfahrung von Ratekau. Forderung zu 100 Prozent erfüllt! Sechstens: Lärmschutz in Sierksdorf. Diese Forderung erfüllen wir zu 100 Prozent. Dort gibt es eine zweite Forderung: Sie möchten dort die Böschung verändern. Herr Minister Buchholz, wir haben gesagt: Das ist eine sinnvolle Forderung. – Allerdings bitten wir da das Land, zu überlegen, ob Sie diese Kosten übernehmen können. Ich bitte Sie einfach, dort in Diskussionen einzutreten. Ich glaube, das ist ein guter Kompromiss. Siebtens: Eisenbahnkreuzungen. Forderung erfüllt! Die Kommunen zahlen aufgrund unserer Gesetzesänderung nichts mehr. ({3}) Achtens: Bahnhofsumbau. Auch hier hat das Land dankenswerterweise gesagt, dass es einen Großteil der Kosten übernimmt. Von den Restkosten übernehmen wir fast alles, nämlich 5 Millionen Euro. Forderung zu 99 Prozent erfüllt! Neuntens: Sundquerung als Tunnel plus zusätzlichen Lärmschutz. Forderung zu 100 Prozent erfüllt! Ich gebe zu: In Bad Schwartau konnten wir nicht jede Forderung erfüllen. Wir haben dort nicht den 7-Meter-Trog. Aber auch der würde nicht alle Schutzfälle lösen. Ich verstehe die Bevölkerung; ich verstehe den Bürgermeister dort, ({4}) dass er weiter diskutieren will, auch vor Gericht. Aber ich sage Ihnen ganz ehrlich: Wenn Sie sich diese Liste angucken, dann erkennen Sie, dass wir so gut wie alle Forderungen erfüllt haben. Ich danke der Bevölkerung, die dies in langen, schwierigen Verhandlungen mit sehr viel Sachverstand ermöglicht hat, und ich hoffe, dass die Bevölkerung anschließend bei den Baumaßnahmen entsprechend geschützt wird. Herzlichen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kirsten Lühmann. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Torsten Herbst. ({0})

Torsten Herbst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004746, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir reden nicht allein über ein wichtiges nationales Verkehrsvorhaben, wir reden nicht allein über ein wichtiges grenzüberschreitendes Projekt, sondern wir reden über ein echtes europäisches Verkehrsprojekt, weil die Fehmarnbeltquerung inklusive unserer Hinterlandanbindung Dänemark, Skandinavien enger mit Deutschland verbindet und am Ende die transeuropäische Achse bis zum Mittelmeer stärkt. Wir als Freie Demokraten befürworten deshalb dieses Projekt. ({0}) Die Vorteile liegen aus unserer Sicht auf der Hand: Der Fahrweg verkürzt sich deutlich. Es werden mehr Kapazitäten auf der Schiene geschaffen. Und wir haben attraktive Fahrzeiten, die manchen Flug überflüssig machen. Das ist ein Gewinn, meine Damen und Herren, für den Personenverkehr, für den Frachtverkehr, und es ist auch ein Gewinn für die Umwelt. Deshalb, meine Damen und Herren, verstehe ich auch nicht, was die Grünen hier für ein Spiel treiben. Denn in der Theorie sind sie es, die im Verkehrsausschuss immer für die Verlagerung von Verkehr auf die Schiene plädieren. ({1}) Wenn es konkret wird, sind sie dagegen. Es ist wie bei den Stromtrassen. Das ist doch bigott, meine Damen und Herren. ({2}) Natürlich gibt es bei so einem Verkehrsvorhaben immer auch Betroffenheiten vor Ort. Deshalb begrüße ich es ausdrücklich, dass hier zu einem sehr frühen Zeitpunkt eine umfassende Öffentlichkeitsbeteiligung stattgefunden hat, angestoßen von der damaligen CDU/FDP-Landesregierung. ({3}) Ich glaube, in den Jahren, in denen da diskutiert wurde, wurden wirklich alle Argumente gehört und ausführlich abgewogen. Heute ist die Zeit für die Entscheidung, meine Damen und Herren, und nicht für weitere Verzögerungen. ({4}) Das ist auch eine Frage unserer eigenen Handlungsfähigkeit in Deutschland. Und es ist eine Frage unserer Verlässlichkeit im Umgang mit unseren europäischen Partnern; denn wenn wir den Staatsvertrag mit Dänemark, den wir unterzeichnet haben, nicht erfüllen, meine Damen und Herren, dann braucht sich unser geschätzter Verkehrsminister Bernd Buchholz bei den dänischen Kollegen im Norden gar nicht mehr sehen lassen. Das wäre peinlich, meine Damen und Herren. Auch deshalb muss dieses Projekt heute grünes Licht bekommen. ({5}) Es ist natürlich auch ein Stück weit ein Spiegel unserer eigenen Langsamkeit bei der Infrastrukturplanung: Seit Anfang der 1990er-Jahre wurde darüber diskutiert. Der Staatsvertrag wurde 2008 unterzeichnet. Die Dänen hatten nach sieben Jahren Baurecht, und wir in Deutschland warten immer noch auf die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts und haben kein Baurecht. Ich glaube, das zeigt: Wir sollten uns ein Beispiel an unseren dänischen Nachbarn nehmen. ({6}) Meine Damen und Herren, eine Industrienation braucht eine andere Einstellung zu Ausbau und Modernisierung von Verkehrswegen. Ich wünsche mir mehr Fortschrittsbegeisterung. Ich glaube, dass wir heute eine positive Entscheidung treffen. Ich hoffe auf grünes Licht vom Bundesverwaltungsgericht. Zeigen wir, dass Deutschland seinen Beitrag leistet, damit dieses große europäische Verkehrsvorhaben in die Realität umgesetzt werden kann! Vielen Dank. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Torsten Herbst. – Es ist beim 0:0 geblieben. Hier sitzt jemand aus Heidenheim. Deswegen habe ich das jetzt gesagt. ({0}) Nächste Rednerin: für Die Linke Sabine Leidig. ({1})

Sabine Leidig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004089, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Wir reden heute über eine Verkehrsverbindung zwischen Schleswig-Holstein und Dänemark. Dort, wo bisher die Fährverbindung mit dem schönen Namen „Vogelfluglinie“ Menschen und Güter ans andere Ufer bringt, soll in Zukunft in einem gigantischen, 18 Kilometer langen Tunnel durch die Ostsee eine Eisenbahnstrecke und eine vierspurige Autobahn ({0}) von der Urlaubsinsel Fehmarn auf den Belt führen: die Feste Fehmarnbeltquerung. Die Pläne dafür sind fast 30 Jahre alt, und sie waren von Anfang an umstritten. ({1}) Die Linke lehnt dieses Verkehrsbeschaffungsprogramm ab. ({2}) Das Großprojekt wird voraussichtlich 9,5 Milliarden Euro teuer. 6 Milliarden Euro trägt Dänemark, 3,5 Milliarden Euro entfallen auf die sogenannte Hinterlandanbindung, die Deutschland zu schaffen hat. ({3}) Was heute auf der Tagesordnung steht, ist der Ausbau der Eisenbahnstrecke. Über sie ist in der Region – das haben Sie erzählt – intensiv diskutiert worden, damit der Zugverkehr, vor allem der Güterzugverkehr, den Bewohnerinnen und den Besucherinnen ({4}) in den Städten und in den Kurorten nicht zur Last wird. Dafür sind besondere übergesetzliche Lärmschutzmaßnahmen notwendig und auch vorgesehen. ({5}) Die Koalition beantragt hier, einen großen Teil davon zu finanzieren. Das ist schon mal gut. Aber wir werden uns enthalten; denn es reicht nicht. Wir sind der Meinung, dass Bahnstrecken so bürgerfreundlich wie möglich ausgebaut werden müssen. ({6}) Und wir wehren uns entschieden gegen die Geldverschwendung, die darin besteht, dass neue Autobahnen gebaut werden und dass Bundesstraßen mehrspurig ausgeweitet werden. ({7}) Mit diesen Maßnahmen fördern Sie nämlich Lkw- und Autoverkehr. Und mit einer solchen Verkehrspolitik muss endlich Schluss sein. ({8}) Sie passt überhaupt nicht zum notwendigen Klimaschutz, zu dem sich die EU verpflichtet hat. Das wäre auch die Grundlage, auf der Sie mit der dänischen Regierung reden müssten. Ersparen Sie uns alle weiteren vielspurigen Autobahnen! Ein Eisenbahntunnel wie zwischen Calais und Dover wäre eine gute Alternative für gute Nachbarschaft. ({9}) Vielen Dank. ({10})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Sabine Leidig. – Sitzen auch Bremer Abgeordnete hier im Raum? ({0}) Ich habe gerade böse Blicke kassiert, wobei die Bremer eher traurig gucken müssten. Nächster Redner: Dr. Konstantin von Notz für Bündnis 90/Die Grünen. ({1})

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Feste Fehmarnbeltquerung steht sinnbildlich für eine völlig verkorkste Verkehrspolitik der letzten Jahrzehnte, und das ist vor allen Dingen eine Verkehrspolitik der Großen Koalition. ({0}) Der Staatsvertrag stammt aus dem Jahr 2008. Schon damals lagen alle massiven Probleme dieses Projekts offen auf dem Tisch. Dennoch weigert sich die Bundesregierung bis heute, all die offenen Fragen ernsthaft zu beantworten. ({1}) Stattdessen schwadroniert man – auch hier heute – in blumigster Beratersprache vom „Jahrhundertprojekt“, von einer „neuen europäischen Verkehrs-Aorta“. All das ist Quatsch, und Sie wissen es. Ein echter verkehrlicher Nutzen war nie gegeben. Sie verbuddeln 4 Milliarden Euro – 4 Milliarden Euro! – für die Anbindung eines Tunnels, eine Planung aus dem Kalten Krieg, von vor über 30 Jahren. ({2}) – Ja, Kalter Krieg; da schlägt das Herz höher, ja? ({3}) Entlang des Eisernen Vorhangs wurde dieses Projekt geplant, für lächerliche 10 000 Fahrzeuge am Tag – dafür baut man nicht einmal eine Umgehungsstraße. ({4}) Sogar als Innenpolitiker kann man verstehen: Es gibt keinen verkehrlichen Nutzen, eine verkehrliche Realität ist nicht gegeben. ({5}) Es findet auch keine Verlagerung von Verkehr auf die Schiene statt – das können Sie hundertmal behaupten –, sondern eine Verlagerung von der Schiene auf die Schiene, ({6}) eine Verlagerung Richtung Osten. Gleichzeitig wird eine seit Jahren bewährte Fährverbindung mit vielen guten Arbeitsplätzen gefährdet. Das Motto „from road to sea“ wird ad absurdum geführt. ({7}) Der „Spiegel“ hat bereits vor zehn Jahren – vor zehn Jahren! – vor dem Milliardengrab am Fehmarnbelt gewarnt. Rechnungshof und Rechnungsprüfungsausschuss – für die Freaks, die das Steuergeld beschützen wollen – ({8}) sprechen genauso lange von nicht absehbaren Risiken für die öffentlichen Haushalte. Die ökologischen Risiken, meine Damen und Herren, sind mindestens so groß wie die ökonomischen: Die Querung liegt in einem hochsensiblen, mehrfach geschützten EU-Flora-Fauna-Habitat, dem einzigen deutschen Schweinswalaufzuchtgebiet. ({9}) Jetzt kommen auch noch die Riffe hinzu, Herr Abgeordneter Scheuer. ({10}) Gegen den Planfeststellungsbeschluss gibt es 13 000 Einwände von deutscher Seite. ({11}) Vor dem Bundesverwaltungsgericht werden demnächst acht Klagen verhandelt, und die haben gute Aussicht auf Erfolg. ({12}) Dieses 4-Milliarden-Euro-Projekt – das gehört zur parlamentarischen Wahrheit dazu – war Ihnen noch nicht mal eine Anhörung wert. Das ist parlamentarisch unter aller Kanone, meine Damen und Herren. ({13}) Zum Schluss: Sie haben jahrelang mit Tausenden von Freiwilligenstunden Ehrenamtliche im Dialogforum eingespannt. Ihre eigene Staatssekretärin sagt: Billigvariante, riesige Enttäuschung für Ostholstein. ({14}) Ich sage Ihnen etwas – vielleicht weiß man das in Reutlingen nicht –: Schleswig-Holstein hört nicht hinter Lübeck auf, ({15}) der Zug fährt dann auch nicht in den Himmel oder so, sondern dahinter kommen Kreise: Herzogtum Lauenburg, Stormarn, der Hamburger Rand. Da fahren dieselben 830 Meter langen Güterzüge laut durch. ({16}) – Es ist nicht Ihr Wahlkreis, Herr Gädechens, ich weiß. – Und wie viele Euro wurden investiert? Null Euro. ({17}) Erklären Sie das einmal den Menschen!

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das wird nicht funktionieren. Ganz herzlichen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön, Konstantin von Notz. – Herr Scheuer, wir hatten vor ein paar Stunden besprochen: keine Zwischenfragen und keine Kurzinterventionen. ({0}) – Sie haben es mit Zwischenrufen gelöst, genau. Nächster Redner: Ingo Gädechens für die CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Ingo Gädechens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004036, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin, wenn das Pult noch ein bisschen runtergehen würde, wäre es gut. ({0}) Und wenn die Redezeit noch nicht laufen würde, wäre es noch besser. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das, was der Kollege von Notz eben hier abgefeuert hat, war eigentlich die Debatte: Feste Fehmarnbeltquerung, ja oder nein? Diese Debatte führen wir aber zu diesem Tagesordnungspunkt gar nicht, sondern wir reden darüber, wie wir beim Bau der Schienenhinterlandanbindung die Menschen vor Lärm und Erschütterungen schützen können. ({1}) Der heute vorliegende Antrag ist große klasse. Otto Fricke hat heute Morgen, als es um den Nachtragshaushalt ging, die Bundesratsbank als Geisterbank tituliert. Da es um schleswig-holsteinische Themen geht, freue ich mich, dass nicht nur der Landesverkehrsminister Buchholz anwesend ist, sondern auch Staatssekretärin Gerken. ({2}) Das ist Ausdruck dessen, dass das ein wichtiges Thema ist. Es geht um 232 Millionen Euro, die hier gemeinsam von den Koalitionären für übergesetzlichen Lärmschutz beantragt werden; es wurde von den Vorrednern bereits gesagt. Wir haben die gesetzlichen Standards in den letzten Jahren erheblich erhöht, um die Menschen vor Bahnlärm zu schützen. Jetzt packen wir hier übergesetzlich noch etwas drauf. Das kann nicht die Regierung empfehlen, das kann nur der Bundestag entscheiden, das müssen wir entscheiden. Für mich als Wahlkreisabgeordneter, der auf der Insel Fehmarn lebt, ist die Entscheidung eine gute Entscheidung. Ich möchte mich bei einigen Akteuren namentlich bedanken: Stellvertretend möchte ich den Sprecher des Dialogforums Christoph Jessen sowie den Sprecher des Projektbeirates, Bürgermeister Thomas Keller, nennen, die der Debatte beiwohnen und heute die Früchte ihrer harten Arbeit in den Gremien einfahren. ({3}) Der Dank gilt natürlich auch dem Fachausschuss. ({4}) Ich bedanke mich bei Michael Donth – er hat bereits die wesentlichen Punkte genannt; daher bleibt es mir erspart, diese Punkte zu wiederholen –, ich bedanke mich bei unserem verkehrspolitischen Sprecher Alois Rainer, aber auch bei den SPD-Kollegen. Kirsten Lühmann hat auch eben die wesentlichen Punkte genannt. Ihnen danke ich besonders, dass Sie sich bei der besonderen Thematik, nämlich einer möglichen Troglösung in der Stadt Bad Schwartau, persönlich sehr kundig gemacht haben, auch vor Ort waren. Es wird die Schwartauer nicht freuen, dass Sie zu diesem Ergebnis gekommen sind, ({5}) aber zu irgendeinem Ergebnis müssen wir kommen. ({6}) Ich hätte mir vielleicht auch lieber die Sieben-Meter-Troglösung gewünscht. Aber die jetzige Lösung geht immer noch über das gesetzliche Maß hinaus und wird die Menschen schützen. ({7}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, in der Debatte sind alle Punkte genannt worden. Es ist hier abgehakt worden – auch von der Kollegin Lühmann –, was alles von den Kernforderungen, die aus dem Projektbeirat genannt wurden, erfüllt worden ist. Das will ich jetzt nicht noch einmal wiederholen. Mit dieser Lösung bleiben das Land und die Kommunen von den Kosten für den übergesetzlichen Lärmschutz verschont. Gerade deshalb würde ich mich freuen, wenn das Land Schleswig-Holstein eigene Mittel zur Verfügung stellen würde – über die bereits zugesagten Gelder für Eisenbahnkreuzungen und Bahnhofsvorplätze hinaus –, die helfen könnten, weil wir in Sierksdorf eine Forderung auch nicht erfüllen können. Wenn das Land hier einspringt, wäre das wirklich sehr, sehr gut. ({8}) Ich habe natürlich auch die stille Hoffnung, dass das Land an anderer Stelle vielleicht noch einspringt. Normalerweise ist es ja so, dass die Forderungen der Länder an den Bund dann doch erheblich sind. So wurden sie ja auch in der Zeitung zitiert: sie hätten sich da schon etwas mehr gewünscht. ({9}) Ich denke, fast eine Viertelmilliarde, das ist ein erheblicher Schluck aus der Pulle, insbesondere wenn man sagen muss – da bitte ich Sie, die Diskussion von heute Morgen um 9 Uhr zu rekapitulieren, als wir über den Nachtragshaushalt diskutiert haben –: Die schönen Zeiten mit einer schwarzen Null und sprudelnden Steuereinnahmen sind leider vorbei. Vor diesem Hintergrund ist es ein riesiger Erfolg, dass es uns heute gelingt, fast eine Viertelmilliarde für übergesetzlichen Lärmschutz nach Ostholstein zu bringen; ich bewerte das jedenfalls so. Ich hoffe, dass die Maßnahmen jetzt auch schnell realisiert werden. Von dem Disput, der Beurteilung von Frau Hagedorn – Schlag ins Gesicht – haben wir gehört. Ich empfinde das nicht so. Ich danke für die konzentrierte Arbeit und für diesen Entwurf. Wir werden jedenfalls zustimmen. Vielen Dank. ({10})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Ingo Gädechens. – Der letzte Redner in dieser Debatte ist für die SPD-Fraktion Mathias Stein. ({0})

Mathias Stein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004904, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was wir heute hier beschließen, ist die Krönung der Arbeit des Dialogforums. Das sage nicht ich, das sagt der Sprecher des Dialogforums, Herr Dr. Christoph Jessen. Ich finde, er hat recht. ({0}) Wir beschließen, fast eine Viertelmilliarde Euro für übergesetzliche Schutzmaßnahmen von Lübeck bis Ostholstein zur Verfügung zu stellen. Das ist keine Selbstverständlichkeit; denn dafür gibt es keinen rechtlichen Anspruch. Aber es ist immens wichtig für die Akzeptanz vor Ort. Als Parlamentarierinnen und Parlamentarier wissen wir, dass neue Bahnstrecken gerade für Menschen in der Nähe der Trasse mehr Lärm, mehr Erschütterungen und auch heftige Eingriffe in die Natur bedeuten. Genau da setzen die 230 Millionen Euro an. Das Geld ist das eine. Die eigentliche Arbeit – das Ringen um die besten Maßnahmen, den besten Weg – ist vor Ort, im Dialogforum geleistet worden. Im Ergebnis standen beim Dialogforum fünf Kernforderungen an Bund und Land. Für die konstruktive, kompetente Arbeit im Dialogforum bedanke ich mich bei allen Beteiligten; das ist ein Musterbeispiel für gute Beteiligung. ({1}) Dank allein hilft allerdings nicht weiter. Deshalb habe ich gemeinsam mit unserer verkehrspolitischen Sprecherin Kirsten Lühmann seit fast einem Jahr Gespräche mit Vertreterinnen und Vertretern des Dialogforums, der Deutschen Bahn und auch der Stadt Bad Schwartau geführt, um die Forderungen detailliert bewerten zu können. Für uns als SPD war sehr schnell klar, dass wir den größten Teil der Forderungen unterstützen. Ich freue mich ausdrücklich, dass die Kollegen von der Union seit Juni an unserer Seite sind und diese Forderungen unterstützt haben. ({2}) Mit unserem Koalitionsantrag erfüllen wir die Kernforderungen des Dialogforums nahezu vollständig. Wir geben mehr als 160 Millionen Euro für Maßnahmen zum Schutz vor Lärm und Erschütterungen an der Trasse aus. Lübeck und Ostholstein werden bei der Gesamtlärmbetrachtung berücksichtigt. Das Bundesverkehrsministerium – insofern freue ich mich, dass Herr Scheuer anwesend ist – ({3}) muss noch ordentlich Gas geben in der Frage der Gesamtlärmbetrachtung. ({4}) Da müssen Sie noch kräftig Gas geben. Das steht im Koalitionsvertrag, das muss noch umgesetzt werden. Wenn Sie das genauso schnell umsetzen wie die Pkw-Maut, dann ist mir da nicht bange. ({5}) In Ratekau verhindern wir, dass die Siedlungen zwischen Autobahn und Bahntrassen eingekesselt werden. In Sierksdorf gibt es den geforderten Trog. Auch in Bad Schwartau hätten wir gerne eine akzeptable Lösung gefunden. Trotz vieler Gespräche, Vermittlungsversuche, Alternativvorschläge ist das leider nicht gelungen. Die von der Stadt Bad Schwartau geforderten Maßnahmen hätten so große Kosten verursacht, dass für alle anderen Maßnahmen kein Geld mehr zur Verfügung gestanden hätte. Zudem wäre wahrscheinlich die Strecke zwischen Lübeck und Kiel für längere Zeit gesperrt gewesen. Beides war für uns an dieser Stelle leider nicht akzeptabel. Dennoch stellen wir 50 Millionen Euro für eine Lösung in Bad Schwartau bereit. Wir finden: Der Antrag, den wir hier vorgestellt haben, ist eine sehr gute Lösung für die gesamte Region Lübeck und Ostholstein. Ohne die großartige Arbeit des Dialogforums wäre das nicht möglich gewesen. Ich danke und wünsche viel Kraft für die Zukunft – auch des Dialogforums – bei der Umsetzung der weiteren Maßnahmen. Vielen Dank. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Mathias Stein. – Damit schließe ich die Aussprache.

Margit Stumpp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004909, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! „Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir“, diese geradezu vernichtende Kritik – sie bezog sich auf die Philosophieschule – stammt von Seneca, ist 2000 Jahre alt. Das mag manche von Ihnen erstaunen, klingt diese Kritik doch erschreckend aktuell. Klar ist: Die Zielsetzung von Schule muss eine andere sein: Nicht für die Schule, für das Leben lernen wir. Wenn wir dieses Ziel erreichen wollen, müssen wir uns fragen: Für welches Leben, für welche Gesellschaft sollen junge Menschen lernen? Seit Einführung der allgemeinen Schulpflicht durch die Weimarer Verfassung vor nun über hundert Jahren hat sich unsere Gesellschaft zum Glück sehr verändert: Sie ist unter anderem demokratischer, diverser und digitaler geworden. Das sind Prozesse, die parallel ablaufen und sich manchmal auch gegenseitig beschleunigen. Das heißt, unsere Lebensverhältnisse und unsere Gesellschaft verändern sich ständig und immer schneller. Darauf muss Schule vorbereiten. ({0}) Fragt sich, welche Schule. Wenn wir in unsere Schulen schauen, sehen viele noch aus wie vor hundert Jahren: Bänke, Stühle, Lehrerpult, Tafel. Außer den Farben des Mobiliars hat sich leider nicht viel geändert, sogar die Sitzordnung ist noch gleich – eine optische Bestätigung, dass sich auch die Lernformen kaum geändert haben. Kurz: Mit alten Methoden und Strukturen sollen Schülerinnen und Schüler auf eine Gesellschaft vorbereitet werden, die sich dramatisch weiterentwickelt hat. Das kann so nicht funktionieren. ({1}) Natürlich trifft die Analyse nicht auf alle Schulen zu, und natürlich ist Schule ein bisschen demokratischer geworden. Diverser sind trotz unseres selektiven Schulsystems auch Schülerinnen und Schüler. ({2}) Bei den Lehrkräften sieht es leider ganz anders aus. Digital aufgestellt sind nur wenige, obwohl Konrad Zuse seinen Z1 schon vor achtzig Jahren vorgestellt hat. Die Erkenntnis ist, nicht erst seit der Krise: Die Schule braucht dringend ein Update. Dazu legen wir heute unseren Antrag vor. Die Vorschläge sind nur ein erster Schritt, aber ein wesentlicher. Unsere Leitlinien sind Teilhabe und Chancengerechtigkeit. Uns ist wichtig, dass das Schulsystem für jedes Kind gleiche Chancen auf beste Bildung gewährleistet. ({3}) Digitalisierung darf hier die Schere nicht weiter öffnen, sie muss dazu beitragen, sie zu schließen. ({4}) Technik folgt Pädagogik. Alle Schulen brauchen eine digitale Basis, möglichst schnell und ohne bürokratische Hürden; darüber haben wir heute schon gesprochen. Schulen und Schulträger brauchen Orientierung. Dazu kann eine Bundeszentrale für digitale und Medienbildung beitragen. Schulen dürfen nicht von großen Techkonzernen abhängig werden, die scheinbar einfache Lösungen bieten, aber dafür Daten abziehen und Abhängigkeiten schaffen. ({5}) Lehrkräfte brauchen Entlastung durch multiprofessionelle Teams, auch in Form von dauerhafter technischer Unterstützung. Die SPD hat das inzwischen anscheinend verstanden – für Einsicht beim Koalitionspartner, was dauerhafte Finanzierung und konsequentes Regierungshandeln betrifft, reicht es wohl leider noch nicht. Ein qualitativ hochwertiges Ganztagsangebot ist ein weiterer Beitrag zu mehr Chancengerechtigkeit. Dabei muss Inklusion natürlich immer mitgedacht werden. Wichtig ist uns auch ein Schwerpunkt mit einem Aufholprogramm für Schulen in benachteiligten Quartieren, damit die Schulen Defizite nicht manifestieren, sondern ausgleichen. ({6}) Last, but not least beschreiben wir Maßnahmen, die geeignet sind, die durch die Krise entstandenen zusätzlichen Nachteile möglichst zeitnah auszuarbeiten. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, die Mängel in unserem Schulsystem sind offensichtlich, und sie sind nicht neu. Schülerinnen und Schüler, Eltern und Lehrkräfte erwarten zu Recht, dass Politik diese Mängel endlich behebt, und es ist ihnen egal, welche Ebene zuständig ist. Ich bin Ingenieurin und Pädagogin. Beide Professionen sind durch die Gewissheit geprägt: Aufgaben löst man nicht durch Verbote, sondern durch Kreativität und Kooperation. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Margit Stumpp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004909, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wenn unsere Bildungsstrukturen dies verhindern, dann müssen wir das ändern, damit der Schule das gelingt, was ich mir – die Werder-Fans sehen es mir nach – auch für den FC Heidenheim wünsche: den Aufstieg in die erste Liga. Herzlichen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Margit Stumpp. – Ronja Kemmer für die CDU/CSU-Fraktion gibt ihre Rede zu Protokoll. ({0})

Nicole Höchst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004753, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Die Coronamaßnahmenkrise hat auch etwas Gutes: Sie offenbarte einmal mehr die Grenzen der viel gepriesenen Digitalisierung des Bildungswesens. Die schulschließungsbedingte Phase des Onlinelernens lässt eine ganze Generation von Schülern dem Lernstoff noch mehr hinterherhinken, als es ohnehin schon der Fall war. Auch der DigitalPakt Schule konnte hieran rein gar nichts ändern. „Das Deutsche Schulbarometer Spezial Corona-Krise“ kommt zu dem Ergebnis, dass flächendeckender digitaler Ersatzunterricht die Bildungschancengleichheit, gelinde gesagt, killt. Offensichtlich kann weder Onlinelernen noch stundenlanges Sitzen vor eckigen Bildschirmen den Präsenzunterricht und den Kontakt mit dem Lehrer annähernd ersetzen. ({0}) Das hat verheerende Auswirkungen auf die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft. Die Lehre aus der Krise muss deshalb sein, unser Schulsystem auf den zukünftigen Alltag und Epidemiesituationen gleichermaßen vorzubereiten, und zwar so, dass ein Präsenzunterricht unter Beachtung aller gebotenen Schutzmaßnahmen möglich ist. Die Grünen nutzen die Krise, um weiterhin die ideologische Axt an unser Schulsystem zu legen. ({1}) Ihre Forderungen nach einem Ganztagsschulsystem ab der Grundschule und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für Sozial-, Medien- und Theaterpädagogen lehnt die AfD-Fraktion selbstverständlich ab. ({2}) Das beschleunigt nur das absehbare Waterloo der deutschen Bildungsnation. Der FDP-Antrag offenbart ein verqueres Bild der Lebensrealität vieler Schüler unseres Landes. Die FDP kennt für alle Herausforderungen der Gegenwart nur eine Lösung: maximale Digitalisierung. Diese ist aber – letztendlich – gefühllos, kalt und eine Vorbereitung auf George Orwells „1984“. ({3}) Wohin führt seelen- und gottlose Digitalisierung ohne Maß und Verstand? ({4}) Zum beziehungsuntauglichen Schüler mit möglichst ideologisch verpixelter Weltsicht. ({5}) und digitaler Demenz. ({6}) Wir stehen bereits vor den Trümmern unserer Bildungslandschaft. Die größten Verlierer sind unsere unschuldigen Kinder. ({7}) Nur die Alternative für Deutschland fordert, was unsere Schulen wirklich brauchen: mehr Lehrkräfte, kleinere Klassen, eine bessere digitale und technische Infrastruktur, geschulter pädagogischer Umgang mit Digitalität und die Finanzierung von Hygienemaßnahmen – um nur einige der 13 Forderungen aus unserem Antrag zu nennen. Unser pragmatischer Antrag mit Bildungsbodenhaftung hilft, unser Schulsystem pandemiekrisensicher zu machen und dabei Bildungsgerechtigkeit wiederherzustellen. ({8}) Lehrkräfte, die an allen, vordersten Fronten unserer Zukunftsgesellschaft kämpfen, werden wesentlich entlastet. Meine Damen und Herren, Kinder sind unser höchstes Gut und die Zukunft unserer Gesellschaft. Ihre Gesundheit, ihr Schutz und ihre Bildung haben allerhöchste Priorität. Die Menschen von heute wie morgen werden durch Bildung in die Lage versetzt, als mündige Bürger eigenständig und eigenverantwortlich in den Kommunikationswelten zu handeln. Sie sollen durch humane und humanistische Bildung immun gemacht werden gegen Ideologisierung, Fanatismus, virtuell bedingte Abhängigkeiten sowie Vereinsamung und Entmenschlichung. ({9}) Bildung ist für die AfD mehr als ein antrainierter, reflexartiger kulturmarxistischer Kompetenzoutput. ({10}) Wir wollen Menschen bleiben mit all unserer Urteilskraft und unserem Tatendrang, mit Würde und unserem freien Willen – in Einigkeit und Recht und Freiheit. Guten Abend. ({11})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön, Frau Höchst. – Die nächste Kollegin, Marja-Liisa Völlers von der SPD-Fraktion, gibt ihre Rede zu Protokoll ({0})

Dr. h. c. Thomas Sattelberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004869, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unser Schulsystem entspricht in Normalzeiten oft dem eines Schwellenlandes – wenn man die Analphabetenquote betrachtet. In Zeiten von Corona entspricht es dem frühen Mittelalter, ({0}) insbesondere deswegen, weil Deutschland bei digitaler Bildung himmelweit zurückliegt. Was die Grünen heute vorlegen, habe ich in weiten Teilen mit Fieberthermometer im Coronakrankenbett schon in meinem Antrag im März geschrieben sowie im Thesenpapier „Lehren aus der Corona-Krise“. So viel Übereinstimmung heute, liebe Grüne, das rührt mein Herz. ({1}) Laut Schulbarometer haben nur 36 Prozent der Lehrkräfte ihre Schüler über Onlineplattformen erreicht. In der Schweiz und in Österreich – da gibt es noch mehr Verschwörungstheoretiker, die einen auf Orwell machen – haben dagegen fast doppelt so viele Lehrkräfte ihre Schüler erreicht: 60 bzw. 65 Prozent. Dass Deutschland bei diesem Thema in der Krise versagt, darunter leiden insbesondere die finanziell Schwachen und die ohnehin schon Bildungsferneren. ({2}) Angela Merkel hat 2008 die „Bildungsrepublik Deutschland“ ausgerufen. Heute haben wir keine Bildungsrepublik Deutschland, sondern in Teilen eine Bildungsarmutsrepublik, und das ist beschämend. ({3}) Genauso beschämend war der schwarz-rote Auftritt heute Nachmittag beim DigitalPakt Schule, der war so desaströs, dass sich heute kaum noch einer hierher traut, um eine zweite Rede zu halten. Union und SPD spielen ein billiges Schwarzer-Peter-Spiel, sie schieben alles auf die Länder und tragen keine Sorge für ein einigermaßen solides nächstes Schuljahr. Meine Damen und Herren, Schulpflicht hat zwei Seiten: Kinder müssen zur Schule gehen, und der Staat hat die verdammte Pflicht, ihnen Unterricht zu bieten, ({4}) und zwar analog wie digital, Präsenzunterricht wie Distanzunterricht. Die Koalitionsfraktionen, die Bildungsministerin, sie üben sich im Beamtenmikado und haben dabei leider auch noch eine richtige Glückssträhne. ({5}) Bund und Länder haben immer noch keine Positivliste seriöser Onlineanbieter erstellt. Das wäre der einzig krisenfeste Weg für stabilen Unterricht nach den Sommerferien. Corona schüttelt unsere Schulen durch, und Union und SPD benehmen sich wie Schönwetterkapitäne. Was wir jetzt brauchen: Erstens: Fortbildungspflicht für Lehrkräfte. Sie steht in jedem Schulgesetz, aber niemand setzt sie bei digitaler Bildung durch. Zweitens: Schulen rasch eine rechtssichere Auswahl bei digitalen Lernplattformen, bei Tools und bei Content ermöglichen. Drittens: alles gegen die digitale Spaltung tun, Mittelabruf entbürokratisieren, Onlinelernen für alle sicherstellen, Digitalpakt 2.0. Viertens: all den Lehrerinnen und Lehrern, Schülerinnen und Schülern, die jetzt den Schub der Digitalisierung nutzen wollen, auch die Freiheit dazu geben. Meine Damen und Herren, dieses Land braucht keine Paukanstalten, sondern soziale Talentbiotope – in Präsenz wie in Distanz. Recht herzlichen Dank. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Thomas Sattelberger. – Die nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Dr. Birke Bull-Bischoff. ({0})

Dr. Birke Bull-Bischoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004688, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Unser Bildungssystem ist in der Tat in keinem guten Zustand – Margit Stumpp hat einiges davon illustriert –, und hier ist zuallererst in der Tat Politik gefragt. Und Lehrerschelte – das muss man auch mal ganz klar sagen – brauchen wir hier nicht. ({0}) Stattdessen muss man Dank und Ermutigung an die Kolleginnen und Kollegen übermitteln, die sich unter schwierigen Bedingungen aufgemacht haben und das Beste daraus gemacht haben. Ich denke, mindestens drei Punkte sind nötig, um zu zeigen: Wir haben aus der Krise gelernt. Erster Punkt. In der Tat: In Sachen „Digitales Lernen“ müssen wir endlich raus aus dem Steinzeitalter. Wir brauchen hier Licht am Ende des Tunnels. In Sachsen-Anhalt sind es 45 Prozent der Haushalte, die keinen oder nur schlechten Internetzugang haben. Die Ausstattung mit sogenannten mobilen Endgeräten ist in Deutschland generell unterdurchschnittlich. Das muss sich ändern, und zwar schnell, meine Damen und Herren. ({1}) Eines sei aber auch gesagt: Die Geschichten der AfD aus dem digitalen Gruselkabinett haben mit moderner Bildung so viel zu tun wie der Fisch mit dem Fahrrad. ({2}) Was uns Linken an der Stelle aber ebenso besonders wichtig ist: Bei der sozialen Spaltung, die jetzt zutage getreten ist, darf es nicht bleiben. Die einen sind davon genervt, dass die Internetverbindung nicht stabil genug ist, die anderen haben keinen Computer, ({3}) haben nicht das Geld für einen Laptop, für einen Drucker, für notwendiges Verbrauchsmaterial. Öffnen Sie das Bildungs- und Teilhabepaket! Das wäre unter den jetzigen Bedingungen eine schnelle und pragmatische Lösung. Mit Ihrem 500‑Millionen-Euro-Sofortprogramm sind Sie in der Tat im Schneckentempo unterwegs. ({4}) Auf diese Art und Weise werden die Krise und deren Folgen auf dem Rücken armer Kinder ausgetragen. ({5}) Zweiter Punkt. Lehrkräfte und Schulsozialarbeiterinnen dürfen keine Mangelware bleiben. Wir haben hierzu Forderungen und Vorschläge aufgeschrieben. Sie sind diskutiert, aber leider abgelehnt worden. Wir sammeln gerade in Sachsen-Anhalt Unterschriften für ein Volksbegehren, und es gibt kaum etwas, was so anschlussfähig an die Erfahrungen von Eltern und Großeltern ist wie der Mangel an Lehrern, meine Damen und Herren. ({6}) Dritter Punkt. Wir brauchen mehr Geld für moderne und inklusive Schulen. Manche Schulen haben in der Tat immer noch den Charme von längst vergangenen Zeiten: Kinder sitzen in der Busformation. Das ist ein Anhaltspunkt dafür, dass sich Lernen zu Frontalunterricht zurückentwickelt. Hygiene klappt nicht, wenn die Schulklos nicht funktionieren. Und die KfW, die Kreditanstalt für Wiederaufbau, attestiert uns Jahr für Jahr einen Investitionsstau zwischen 40 und 50 Milliarden Euro. ({7}) Das ist die falsche Prioritätensetzung, meine Damen und Herren. Wir brauchen die richtige, und das ist eine Offensive in Bildung. ({8}) Dann klappt es nämlich auch mit der Bildungsrepublik Deutschland. ({9})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Birke Bull-Bischoff. – Dr. Michael von Abercron und Ulrike Bahr geben ihre Reden zu Protokoll.

Gitta Connemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003514, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir stehen heute am Ende eines langen Wegs. ({0}) 2003 bestätigte die Weltgesundheitsorganisation: Tabak macht krank, Tabak tötet, Nikotin macht süchtig. – Deshalb darf Werbung dafür eigentlich nicht mehr erlaubt sein. Seitdem sind 17 Jahre vergangen. In dieser Zeit sind alle Argumente pro und kontra Tabakwerbung ausgetauscht worden – rechtliche, gesundheitliche, wirtschaftliche. Wer davon in besonderer Weise ein Lied singen kann, ist Christian Schmidt; denn er war in der letzten Legislaturperiode der Erste, der versucht hat, einen Gesetzentwurf durch dieses Parlament zu bringen. Insoweit stellvertretend für all diejenigen, die sich für dieses Thema eingesetzt haben, an dich: Vielen Dank! ({1}) Nicht jede Debatte war fair. Auch hier wurden Nebelkerzen gezündet, insbesondere in der letzten Debatte von der FDP: Wir würden den Menschen das Rauchen verbieten, wir würden die Werbung verbieten. – Falsch, Schall und Rauch! Darum geht es nicht. Es geht hier heute nur um eine einzige Frage: Kann ein 15‑Jähriger die Folgen einer Entscheidung überblicken, die sein Leben verändern kann? ({2}) Weiß ein Jugendlicher, dass schon die erste Zigarette krank machen kann, auch die E-Zigarette? Blei, Nickel, Chrom landen in der Lunge, und auf das Konto von Tabak gehen Krebs, Schlaganfälle, Herzinfarkte. Weiß ein Jugendlicher, dass Tabak tötet? 121 000 Menschen bezahlen den Griff zur Zigarette mit ihrem Leben – allein in Deutschland, jedes Jahr. Eine Stadt wie Göttingen stirbt, übrigens qualvoll. Weiß ein Jugendlicher, dass jedes Nikotinprodukt süchtig macht? Nikotin hat eine höhere Suchtpotenz als Heroin, egal ob aus einer Zigarette, einem Verdampfer oder einem Erhitzer. Nikotin erreicht spätestens in 20 Sekunden das Gehirn, „Shake and Vape“ lässt grüßen. – Nein, ein Jugendlicher weiß das nicht. Woher auch? Plakate zeigen keine Lungenkarzinome, sie zeigen Lebensgefühl – heute nicht mehr mit Cowboys oder dem „Duft der großen weiten Welt“, sondern mit entspannten jungen Menschen, die das Leben genießen und entspannt rauchen oder dampfen. Das wirkt. Der Griff zur ersten Zigarette erfolgt eben nicht als Erwachsener. Der Griff zur ersten Zigarette erfolgt durchschnittlich im Alter von 14,8 Jahren. Und in der letzten Anhörung bestätigten die Sachverständigen: Ein Jugendlicher, der mit Werbung in Berührung kommt, wird doppelt so häufig zur Zigarette greifen als sein Gegenüber. – Werbung wirkt. Deshalb wird auch dafür gezahlt: 235 Millionen Euro pro Jahr. Und jetzt noch einmal die Frage an uns alle: Kann ein 15-Jähriger die Folgen einer solchen Entscheidung überblicken? Die Antwort für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion lautet: Nein, er kann es nicht, und deshalb haben wir die Pflicht, ihn zu schützen. ({3}) E-Zigarette, Erhitzer, Verdampfer – ohne Frage gibt es Unterschiede zwischen den Produkten. In der Anhörung wurde diskutiert, ob es sich um Ausstiegsinstrumente oder Einstiegsdrogen handelt. Aber eines ist bereits heute gesichert: Auch E-Zigaretten mit Nikotin machen süchtig. Und für Jugendliche sind Aromen wie Erdbeere und Co absolut verlockend. Das Bundesinstitut für Risikobewertung warnt deshalb auch: Gebt Acht, was ihr in euch reinpfeift. Die E-Zigarette ist kein Wellnessprodukt. ({4}) Wir differenzieren in diesem Gesetzentwurf bei den Werbebeschränkungen – Schritt für Schritt. Tabak wird anders behandelt als die E-Zigarette. ({5}) Meine Damen und Herren, eine Frage bleibt: Wo fangen wir an, wo hören wir auf? ({6}) Ist das Nächste das Verbot von Alkohol oder Süßigkeiten? ({7}) Die Antwort lautet: Nein. – Darauf gebe ich Ihnen mein Wort. ({8}) Denn es gibt kein Produkt, das mit Tabak vergleichbar wäre. Tabak ist einmalig. Es ist das einzige legale Produkt, das bei bestimmungsgemäßem Konsum krank macht und tötet, von der Suchtpotenz von Nikotin ganz zu schweigen! Damit sind Alkohol oder Zucker nicht zu vergleichen. Bei bestimmungsgemäßem Gebrauch machen diese Produkte weder krank noch abhängig. Ein Glas Wein macht noch keinen Alkoholiker, ein Schokoriegel keine Fettleber. Hier macht die Dosis das Gift. Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieser Gesetzentwurf – nach 17 Jahren – basiert auf den Grundlagen von wissenschaftlichen Erkenntnissen. Am Montag gab es eine Anhörung. Alle acht Sachverständigen, egal von welcher Fraktion berufen, forderten Werbeverbote für Tabak und Nikotin – alle acht! Wer heute also gegen diesen Gesetzentwurf stimmt, stimmt nicht nur gegen Sachverstand. Wer heute gegen diesen Gesetzentwurf stimmt, stimmt auch gegen die Gesundheit von Jugendlichen. ({9}) Deshalb fordere ich Sie auf: Lassen Sie uns bitte heute einen Endpunkt setzen, damit junge Menschen eine gesunde Zukunft haben. Vielen Dank. ({10})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Gitta Connemann. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Wilhelm von Gottberg. ({0})

Wilhelm Gottberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004730, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Gesetzentwurf beinhaltet die weitere Verschärfung des schon bestehenden Werbeverbotes für Tabakerzeugnisse. Nun soll ein rigides Totalverbot jedweder Außenwerbung eingeführt werden. Neu im Gesetzentwurf ist das Werbeverbot für E‑Zigaretten. Die Zielsetzung des Gesetzes ist, Jugendliche und junge Erwachsene schon frühzeitig vom Rauchen abzuhalten. Die hohen gesundheitlichen Risiken des Rauchens und der Aspekt des Jugendschutzes lassen das strikte Werbeverbot zweckmäßig erscheinen. Der Gesetzentwurf unterstellt, dass es in hohem Maße die Tabakwerbung ist, die junge Menschen zu Rauchern werden lässt. Das geschehe zum Beispiel durch raffinierte Werbetexte, die speziell das Lebensgefühl der heranwachsenden Generation ansprechen. Für die AfD ist das nicht der entscheidende Punkt. Ein knappes Drittel der Menschen in Deutschland raucht. Geraucht wird in den Familien, auf Schulhöfen, ({0}) im Kollegenkreis, bei kleinen und großen Feierlichkeiten und in Mußestunden. Jede Woche gibt es im Fernsehen mindestens ein Dutzend Krimis, Kriegsfilme oder Heimatfilme mit intensiven Raucherpassagen. ({1}) Junge Menschen lernen durch Vorbilder und Nachahmung. Werbeverbote schaffen da keine Abhilfe. Die Schaffung von Raucherzonen und Nichtraucherzonen hält das Thema aktuell. Gleichwohl ist diese Maßnahme sinnvoll, um das Passivrauchen einzuschränken. Die Befürworter eines allumfassenden Werbeverbots verweisen auf den deutlichen Rückgang des Tabakkonsums im letzten Jahrzehnt und machen dafür das schon bestehende Werbeverbot verantwortlich. Das überzeugt nicht. ({2}) Der Tabakkonsum ist deutlich gesunken, weil der Gesetzgeber das Rauchen teuer gemacht hat. In den letzten 15 Jahren wurde die Tabaksteuer achtmal angehoben. Begründet wurde das mit der Notwendigkeit der Einnahmeerhöhung für den Bund. Tatsächlich gab es einmal die Begründung, dass die Krankenkassen unterstützt werden müssten, weil sie für die negativen Folgen der Rauchererkrankungen zu zahlen haben. Ein anderes Mal war die Begründung, konjunkturstützende Maßnahmen zu finanzieren. „Rauchen für die Konjunktur“ machte damals in der Republik die Runde. Die Tabaksteuer ist nach der Mineralölsteuer die zweitwichtigste Einnahmequelle für den Bund. ({3}) Keine Bundesregierung kann ein Interesse daran haben, dass die Einnahmen aus der Tabaksteuer schrumpfen. Sie betrug im Jahr 2005 wie auch im Jahr 2019  14,3 Milliarden Euro. Eine weitere Erhöhung der Tabaksteuer würde den Schwarzhandel, der heute schon beachtlich ist, ({4}) in die Höhe treiben und graduell das Rauchen auf die Oberschicht beschränken. ({5}) Es ist zu befürchten, dass mit dem totalen Werbeverbot zumindest unterschwellig eine Stigmatisierung der Raucher erfolgt. Auch deshalb können wir dem Gesetzentwurf nicht zustimmen. ({6}) Rauchen ist für viele Menschen ein Stück Lebensqualität. ({7}) Wie sehr haben doch die früheren Bundeskanzler Erhard, Brandt und Schmidt ihr Raucherbedürfnis öffentlich zelebriert! ({8}) Originalton Helmut Schmidt: Schwierige Situationen erfordern Nerven und Zigaretten. ({9}) Es gibt deutliche Hinweise, dass der starke Rückgang der Raucherquoten in England und in den USA mit dem Aufkommen der E‑Zigaretten zusammenhängt. Deswegen ist das Verbot der E‑Zigaretten nicht der Weisheit letzter Schluss. In Großbritannien wird die E‑Zigarette von großen gesundheitspolitischen Organisationen und von staatlicher Seite als Mittel zur Nikotinentwöhnung gefördert.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Kommen Sie bitte zum Schluss. ({0})

Wilhelm Gottberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004730, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ich bin sofort fertig, Frau Präsidentin. – Die erwartete Zielsetzung des Gesetzentwurfs kann mit dem rigiden Werbeverbot nicht erreicht werden. Der Gesetzentwurf ist abzulehnen. Um uns nicht dem Vorwurf auszusetzen, die AfD würde präventiven Jugendschutz verhindern, werden wir uns der Stimme enthalten. ({0}) Gute Nacht. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön. – Der nächste Redner für die SPD-Fraktion, Rainer Spiering, gibt seine Rede zu Protokoll. ({0}) Damit ist der nächste Redner hier am Redepult Dr. Gero Hocker für die FDP-Fraktion. ({1})

Dr. Gero Clemens Hocker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004754, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Aussage des Zitats, dass die Freiheit des Einzelnen an der Stelle enden muss, wo die Freiheit eines anderen unverhältnismäßig eingeschränkt würde, ist Grundkonsens in einer Demokratie, und das ist auch das Wesen von Toleranz. Deswegen ist es gut und richtig, dass der Gesetzgeber im Bund und in den Ländern in den letzten Jahren und Jahrzehnten umfassende Nichtraucherschutzgesetzgebungen auf den Weg gebracht hat und dass es heute quasi undenkbar ist, dass Menschen am Arbeitsplatz, im Büro, in öffentlichen Verkehrsmitteln oder in gastronomischen Betrieben rauchen. ({0}) Unsere Gesellschaft, verehrte Kolleginnen und Kollegen, bewegt sich nach unserer Auffassung gegenwärtig aber in die genau entgegengesetzte Richtung. Unser Eindruck ist, dass politische Akteure, dass politische Parteien immer mehr in einen Überbietungswettbewerb eintreten, bei dem es darum geht, wer erwachsene Menschen vor im Grunde allgemeinen Lebensrisiken besser zu bewahren in der Lage ist. Wir haben in den letzten Jahren in diesem Hohen Hause und in den Landesparlamenten die Gefahren des Zucker- und Salzkonsums, die Gefahren des Straßenverkehrs, die Gefahren, die von Kaminen, von Hunden und vom Fahrradfahren ausgehen, und die Gefahren des aktiven und passiven Rauchens diskutiert, und jedes Mal, wenn der Gesetzgeber das zum Anlass nimmt, um Freiheiten zu beschränken, nimmt er den Menschen ein Stück weit auch Selbstbestimmung, ({1}) dann nimmt er den Menschen auch ein Stück weit Lebensqualität. Das muss an dieser Stelle auch erwähnt werden, verehrte Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Ich sage den Kollegen von CDU/CSU und SPD ganz ausdrücklich, dass sie sich mit diesem Selbstverständnis auf dem besten Weg in einen Nannystaat befinden, der Menschen, selbstbewussten Bürgern, vormacht, sie könnten absolute Sicherheit in einer offenen, freien Gesellschaft erreichen. Sie erreichen damit aber häufig genug weder Schutz noch Sicherheit. Die Verbindung von Schwarz und Grün ist in diesem Zusammenhang sehr schmuddelig geworden, verehrte Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Ich sage es Ihnen ganz ausdrücklich: Noch nicht einmal Ihre Argumentation, dass Sie Menschen schützen wollen, ist in sich konsistent und schlüssig; denn wenn Sie tatsächlich den Schutz der Menschen im Blick hätten, dann müssten Sie zur Kenntnis nehmen, dass 98 Prozent derjenigen, die zur E-Zigarette greifen, früher Raucher gewesen sind ({4}) und die E-Zigarette ganz bewusst als Instrument zur Rauchentwöhnung verwenden. ({5}) Sie erschweren Menschen den Schritt zu weniger gesundheitsschädlichen Alternativen, ({6}) weil Sie meinen, diese Menschen vor sich selber schützen zu müssen, obwohl sie das überhaupt nicht wollen. Ich sage es Ihnen ganz ausdrücklich: Sie verhalten sich wie der berühmte Pfadfinder, der den Anspruch hat, jeden Tag irgendeine gute Tat zu vollbringen, deshalb der alten Dame über die Straße hilft und überhaupt nicht zur Kenntnis nimmt, dass diese alte Dame die Straße gar nicht überqueren möchte. ({7}) Vielen Dank. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön, Dr. Hocker. – Nächster Redner: Niema Movassat für die Fraktion Die Linke. ({0})

Niema Movassat (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004114, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Hocker, Ihr Parteifreund Jan Mücke, der früher hier im Bundestag und Staatssekretär war, ist heute ja Geschäftsführer des Deutschen Zigarettenverbandes, und ich muss sagen: Man könnte den Eindruck gewinnen, er hätte Ihre Rede geschrieben. ({0}) Die deutsche Tabakindustrie macht mit ihren gesundheitsschädlichen Produkten jedes Jahr Umsätze im zweistelligen Milliardenbereich. Wir als Linke finden es gut, dass die Koalition die Tabakwerbung endlich weiter einschränken möchte, nachdem das Thema jahrelang durch die Blockade der CDU/CSU verschleppt wurde. ({1}) Denn wissenschaftliche Studien zeigen ganz klar, dass Tabakwerbung ein Risikofaktor ist: Je mehr Tabakwerbung Kinder und Jugendliche sehen, desto eher fangen sie mit dem Rauchen an. – Deshalb heißt Jugendschutz: Tabakwerbung umfassend verbieten. ({2}) Das führt zum großen Aber beim Gesetzentwurf der Koalition: Man merkt ihm an, dass er ein Kompromiss nach einer langen Auseinandersetzung mit den CDU-Freunden der Tabaklobby ist. Von einem umfassenden Werbeverbot kann leider nicht die Rede sein. Über 60 Prozent der Werbeausgaben der Tabakindustrie fließen in Sponsoring und Promotion, nämlich jedes Jahr fast 150 Millionen Euro. Diese Werbeformen sprechen vor allem Jugendliche an und sollen nach dem Willen der Koalition weiterhin erlaubt sein. So wird sich die Tabakindustrie, wenn sie bald keine Außenwerbung mehr tätigen darf, noch mehr darauf konzentrieren, Partys und Festivals zu sponsern. Was Sie auch nicht verbieten, ist die Werbung in den etwa 100 000 Verkaufsstellen von Tabakprodukten, also in Supermärkten, Tankstellen und Drogerien. Kinder, Jugendliche, Nichtraucher und auch Raucher, die gerne aufhören würden, werden also weiterhin massiv mit Werbung konfrontiert werden. Ihr Werbeverbot hat mehr Löcher als ein Schweizer Käse. ({3}) Und wir brauchen – das muss ich auch sagen – ein umfassendes Werbeverbot sofort und nicht erst ab 2022! ({4}) Außerdem ist ein Tabakwerbeverbot, um mal ein bisschen grundsätzlicher zu werden, nur eine Maßnahme der Tabakkontrolle. Über 1 Million Kinder schuften auf Tabakplantagen im globalen Süden. Ihr Recht auf Gesundheit und Bildung wird von Tabakkonzernen mit Füßen getreten. Diese ausbeuterischen Arbeitsbedingungen im Tabakanbau sind zudem gesundheitsgefährdend – wegen des Kontakts mit dem Nervengift Nikotin. Deutschland ist weltgrößter Zigarettenexporteur, importiert den Rohtabak aus diesen Ländern und profitiert von diesen unhaltbaren Arbeitsbedingungen. Zugleich sterben in Deutschland jährlich etwa 120 000 Menschen frühzeitig infolge des Konsums von Tabakprodukten. Bei der Tabakindustrie stehen also ganz eindeutig Profite vor Menschenrechten und Menschenleben. ({5}) Wir als Linke sagen: Menschen vor Profite! ({6}) Vor allem zum Schutz von Kindern und Jugendlichen hierzulande und im globalen Süden müssen die Tabakkonzerne in die Schranken gewiesen werden. Liebe Koalition, Ihr geplantes Tabakwerbeverbot ist nur ein kleiner Fortschritt, aber weil Ihr Gesetzentwurf in die richtige Richtung geht, werden wir heute als Linke zustimmen. Zugleich werden wir weiter für eine umfassende Tabakkontrolle kämpfen. Danke schön. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Niema Movassat. ({0}) – Ich habe den Zuruf nicht verstanden; aber wir können es im Protokoll nachlesen. – Nächste Rednerin: Dr. Kirsten Kappert-Gonther für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({1})

Dr. Kirsten Kappert-Gonther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004773, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Geht es Ihnen wie mir? Wenn ich an einen Cowboy denke, sehe ich ihn mit Zigarette im Mund. Was für ein Klischee! ({0}) Ursache dafür ist die Werbung, die uns alle, bewusst oder unbewusst, seit Jahrzehnten begleitet. Gut, dass damit jetzt Schluss ist! ({1}) Denn nicht nur mehrere dieser Marketingcowboys, sondern viele Millionen Menschen sind über die Jahrzehnte an den Folgen des Rauchens gestorben. Neue Konsumenten und in den letzten Jahren vor allem auch Konsumentinnen ({2}) werden schon in jungen Jahren von der Werbung abgeholt und viel länger, als ihnen selber lieb ist, im wahrsten Sinne des Wortes bei der Stange gehalten. Nun endlich bekommen Jugend- und Gesundheitsschutz Vorrang vor Gewinninteressen. ({3}) Das war ein dickes Brett. Es hat viel zu lange gedauert – 17 Jahre, möglicherweise sogar noch länger –, und Teile der Union haben hier massiv gebremst. Ich bin dankbar für so viele Mitstreiterinnen und Mitstreiter, die beharrlich geblieben sind, auch innerhalb der Union gegen den Strom geschwommen sind, sodass wir jetzt zu diesem Ergebnis gekommen sind. ({4}) Ein ganz besonderes Danke geht aber auch an die Menschen in der Zivilgesellschaft, die sich seit Jahren für Gesundheits- und Jugendschutz einsetzen: das Deutsche Krebsforschungszentrum, SumOfUs, Bündnis Nichtraucherschutz, Unfairtobacco und viele andere. Danke, dass ihr nie aufgegeben habt! ({5}) Doch reicht das Gesetz, das wir heute beschließen, aus? Es ist ohne Frage ein Meilenstein, mit dem wir endlich zu allen anderen EU-Staaten aufschließen, in denen längst keine Cowboys und Cowgirls mehr eine trügerische Nikotinwelt versprechen. Wir müssen den Blick aber auch auf neue Werbestrategien richten, vor denen die WHO immer warnt. Und die WHO ist auch hier eine gute Ratgeberin. ({6}) Vor diesem Hintergrund entpuppt es sich als unnötiges Trostpflaster für die Industrie, dass sie für Tabakerhitzer und E-Zigaretten weiter – mit langen Übergangsfristen – werben darf. In der Anhörung gab es sehr deutliche Töne von den Sachverständigen: Auch diese Werbung braucht kein Mensch. ({7}) Ihr zusätzlicher Alibiantrag kann über diese Lücke leider auch nicht hinwegtäuschen. Wir, Bündnis 90/Die Grünen, hätten uns deutlich schnellere und umfassendere Regelungen gewünscht; denn was man für richtig hält, kann man doch auch gleich tun. ({8}) Dieses Gesetz ist aber ein so entscheidender Schritt für mehr Gesundheitsschutz, und es war so lange überfällig, dass wir heute gerne zustimmen. Vielen Dank. ({9})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön, Dr. Kirsten Kappert-Gonther. – Da vorher ein Zwischenruf oder eine Kommentierung von der AfD kam, die wir aber nicht richtig gehört haben, werden wir das im Protokoll überprüfen lassen. ({0}) – Ich werde das tun, was ich tun kann. Wir werden das im Protokoll überprüfen – ob Ihnen das passt oder nicht. ({1}) – Wenn Ihre Bemerkung keines Ordnungsrufs würdig ist, dann werden Sie keinen bekommen, ({2}) und wenn wegen Ihrer Bemerkung ein Ordnungsruf nötig ist, dann werden Sie diesen Ordnungsruf bekommen, werter Kollege. ({3}) Die nächste Rednerin in dieser Debatte: Daniela Ludwig für die CDU/CSU-Fraktion. ({4})

Daniela Raab (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003613, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist in der Tat kein Geheimnis: Rauchen ist das größte vermeidbare Gesundheitsrisiko überhaupt. Wer raucht, hat eine im Schnitt zehn Jahre kürzere Lebenszeit. Bei der ein oder anderen Rede hatte man den Eindruck, wir wollten das Rauchen verbieten. Damit es hier ganz klar wird: Nein, wir verbieten das Rauchen nicht, es liegt immer noch in der Eigenverantwortung des Einzelnen, was er tut und was er lässt. Wir verbieten schlicht und ergreifend die Werbung für ein Produkt, das tötet, ({0}) das krank macht und die Volkswirtschaft im Jahr Millionen kostet. Darum – um nicht mehr und nicht weniger – geht es heute. Ja, es war ein steiniger Weg, liebe Frau Kappert-Gonther, keine Frage. Sie erinnern sich: In den 80er-Jahren ritt tatsächlich noch der Cowboy durch die Prärie, wir alle haben ihn mit Zigaretten verbunden. Den Cowboy gibt es nicht mehr, ({1}) das Pferd bedauerlicherweise auch nicht. ({2}) Die Zigaretten gibt es noch. Aber wir sind der sehr deutlichen Überzeugung, dass wir für Zigaretten keine Außenwerbung mehr brauchen. Sehr viele Kolleginnen und Kollegen haben das sehr sachlich angesprochen: Werbung wirkt vor allem bei jungen Menschen, denen die Festigung fehlt, in ihrem Alltag zu unterscheiden: Was soll mich verführen, ist aber eigentlich, in Wahrheit, schlecht für mich?- Natürlich wirkt Werbung; darum kostet sie auch so viel, darum wird sie betrieben, vor allem auch an Stellen, wo sich junge Leute treffen: an Bushaltestellen, im Kino, im Internet natürlich. Und darum wird auch für E-Zigaretten geworben, und zwar, wohl gemerkt, nicht für E-Zigaretten als Umstiegsprodukt, sondern für E-Zigaretten als attraktives, wohlschmeckendes Einstiegsprodukt. ({3}) Deswegen ist richtig, dass wir auch diese Werbung unterbinden, ({4}) deswegen ist es richtig, dass wir künftig genauer hinschauen, nicht nur bei den nikotinhaltigen E-Zigaretten übrigens, sondern auch bei den nikotinfreien, die es mittlerweile gibt. ({5}) Denn auch hier haben wir den Suchtfaktor, den Abhängigkeitsfaktor und im Zweifel auch einen gesundheitsschädlichen Faktor. Ich bin sehr glücklich, dass uns dieses Paket jetzt gelungen ist. Ich habe es gerade gesagt: Es war ein steiniger Weg. Manchmal braucht man bisschen bis zur besseren Einsicht. So ist das nun einmal. Ich bin mittlerweile wirklich froh darum, dass wir es geschafft haben, liebe Gitta Connemann, im letzten halben Jahr diesen Gesetzentwurf gemeinsam mit unserem Koalitionspartner zu schnüren. Vielen Dank dafür! ({6}) Ich glaube, das ist ein wirklich gutes Werk geworden. Ich glaube, es ist auch ausgewogen, in der Abstufung der Fristen, aber eben auch mit dem klaren Hinweis darauf, liebe Julia Klöckner, dass wir stärker darauf schauen müssen, was tatsächlich in den Produkten enthalten ist. Auch hier haben wir eine gemeinsame Verantwortung. Ich habe heute oft etwas gehört von Verfassungsbruch und Einschränkung der wirtschaftlichen Freiheit und Einschränkung der persönlichen Freiheit. Rauchen ist schon etwas sehr Spezielles. Im Gegensatz zu Süßigkeiten, mit denen ich mich selber schädige, schädige ich mit Rauchen nicht nur mich selber. Wir haben heute noch gar nicht über das Passivrauchen gesprochen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen. ({7}) Das ist ein massiver Punkt. Hier werden nämlich Menschen ungefragt mitgeschädigt, ob sie es wollen oder nicht. Deswegen war es richtig, 2007 mit dem Nichtraucherschutzgesetz den ersten Schritt in die richtige Richtung zu gehen und in öffentlichen Einrichtungen, Bars und Gaststätten das Rauchen zu verbieten. Wer kann sich heute überhaupt noch daran erinnern, dass er beim Abendessen in einem schönen Restaurant vom Rauch anderer eingequalmt wird? Kein Mensch mehr. Selbst die Raucher sagen mittlerweile, das war eine gute Entscheidung. Ich bin mir relativ sicher, auch viele erwachsene Raucher sagen: Es ist eine gute Entscheidung, wenn die Werbung unterbunden wird; denn wir wissen, dass wir uns eigentlich selber schädigen, wir möchten aber nicht, dass die Jugend sich selber schädigt. ({8}) Darum geht es heute: Es geht um Gesundheitsschutz, es geht um Jugendschutz. Es geht nicht um das Wohlergehen der Tabakindustrie; darum müssen wir uns, glaube ich, tatsächlich keine Sorgen machen. Vielen herzlichen Dank. ({9})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Daniela Ludwig. – Die letzte Rednerin in dieser Debatte ist für die SPD-Fraktion Nezahat Baradari. ({0})

Nezahat Baradari (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004947, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ja, wir haben den Cowboy nicht mehr, aber wir haben anderes: Slogans. „Don’t be a Maybe“, „Do your thing“ oder „Liberté toujours“, sind das nicht tolle Slogans, die einem Freiheit, Selbstbestimmung und Coolness vermitteln? Mit solch einer markanten Werbung warben und werben Zigarettenhersteller für Tabakprodukte. Diese kommen leider insbesondere bei den Heranwachsenden gut an. Nicht umsonst stieg der Werbeetat der Tabakindustrie für Außenwerbung auf aktuell beachtliche 96 Millionen Euro. Laut einer Studie des Kieler Instituts für Therapie- und Gesundheitsforschung steigt das Risiko bei Jugendlichen, die regelmäßig mit Werbung für E-Zigaretten in Kontakt kommen, auf sagenhafte 142 Prozent an, dass sie auch tatsächlich E-Zigaretten konsumieren. Dies trifft übrigens auch auf herkömmliche Zigaretten oder Shishas zu. Laut aktuellem Forschungsbericht der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung rauchen 7 Prozent der 14- bis 17-Jährigen und rund ein Viertel der 18- bis 25-Jährigen. Es wurde bereits gesagt: Ein Drittel der Bevölkerung in Deutschland raucht. In anderen Ländern gibt es schon längst strengere Restriktionen für Tabakwerbung. In der Folge nahm in Großbritannien oder auch in Schweden die Zahl der Raucher ab. ({0}) Mit dem Zweiten Gesetz zur Änderung des Tabakerzeugnisgesetzes haben wir heute die Chance, hier endlich auch in Deutschland etwas zu ändern. In Zukunft dürfen Tabakerzeugnisse weder durch Außenwerbung noch durch Werbung in Kinofilmen für Kinder und Jugendliche beworben werden. Dies gilt ebenso für Tabakerhitzer und elektronische Zigaretten mit oder ohne Nikotin. Über die gesundheitlichen Gefahren wurde hier berichtet. Hinzu kommen auch die gefährlichen Aromastoffe, die den Einstieg in eine Nikotinsucht bei Kindern und Jugendlichen besonders fördern. Damit es klar ist: Der Rauch einer einzigen, ersten Zigarette reicht aus, um bei Heranwachsenden im Gehirn einen bestimmten Mechanismus in Gang zu setzen, mit dem Suchtverhalten erzeugt wird. Ich kann Ihnen sagen, dass auch Passivrauchen gerade bei Kindern sehr gefährlich ist. Ich bin Kinder- und Jugendärztin, schon seit über 25 Jahren, und ich kann berichten, dass viele kleine Kinder von rauchenden Eltern in die Praxis kommen, die buchstäblich aus dem letzten Loch pfeifen. 121 000 Tote pro Jahr in Deutschland, das sind in fünf Jahren ungefähr 600 000 Menschen – eine vermeidbare Problematik. Wir müssen hier, insbesondere im Sinne der Kinder und Jugendlichen, etwas ändern. Um es klarzustellen: Niemand verbietet Ihnen, dass Sie rauchen, ob herkömmliche Zigarette oder E-Zigarette. Sie können eine ganze Badewanne voll Zigaretten rauchen. Darum geht es nicht. Es geht um den Schutz der Kinder und Jugendlichen, nicht um die Erwachsenen. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Kommen Sie zum Schluss bitte.

Nezahat Baradari (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004947, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Connemann, ich hätte mir ein bisschen mehr Ehrlichkeit von Ihnen gewünscht; denn Sie als CDU/CSU haben dieses Gesetz blockiert, es hätte schon in der letzten Legislaturperiode durchkommen können. Nichtsdestotrotz –

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Nein. Kommen Sie jetzt bitte zum Schluss.

Nezahat Baradari (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004947, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

– freue ich mich, dass es heute klappt, auch wenn noch Lücken bestehen. Vielen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Nezahat Baradari. – Damit schließe ich die Aussprache.

Axel Knoerig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004073, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir wollen heute eine Änderung des Telemediengesetzes beschließen. Damit wird die EU-Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste in deutsches Recht umgesetzt. Innerhalb der EU werden derzeit zahlreiche Regulierungen ins Medienrecht aufgenommen. Anlass sind vielfache Verstöße gegen den Datenschutz und nutzerfeindliches Verhalten der großen Onlineplattformen. So plant die EU-Kommission ein neues Gesetzespaket zu digitalen Dienstleistungen. Damit soll ein moderner Rechtsrahmen für digitale Dienste und Plattformen geschaffen werden. Parallel läuft eine umfassende Öffentlichkeitsbeteiligung. Ebenso liegt der EU-Kommission der neue deutsche Medienstaatsvertrag zur Notifzierung vor. Dieser löst den alten Rundfunkstaatsvertrag ab, um neue Medienformen wie soziale Netzwerke entsprechend miteinzubeziehen. Dabei gelten dieselben Vorgaben der EU-Richtlinie für audiovisuelle Mediendienste wie beim Telemediengesetz. Meine Damen und Herren, die neuen Rechtsvorschriften gelten jetzt für die klassischen Rundfunkanstalten sowie alle fernsehähnlichen Angebote. Wir reagieren damit auf die Veränderung im Netz. Vor allem geht es um die Videosharingplattformen YouTube, Facebook, Instagram, Snapchat und TikTok. Hier laden die Nutzer tagtäglich Millionen von Videos hoch. Der Markt ist unübersichtlich geworden und sehr groß. Es gibt hierzulande keine statistische Erfassung und daher auch keine offiziellen Zahlen zu den Nutzern. Eine Studie im Auftrag der Bayerischen Landeszentrale für neue Medien hat in 2019 allein über 40 000 YouTube-Kanäle identifiziert. In Deutschland wurden im letzten Jahr rund 1 Milliarde Abonnenten erreicht, und für die Hälfte der Anbieter – das sind die sogenannten Influencer und YouTuber – stellen die Erlöse über YouTube die wichtigste Einnahmequelle dar. Der Bereich Onlinevideowerbung verzeichnet ein enormes Wachstum. In 2018 allein lag der Umsatz bei 650 Millionen Euro; das war gegenüber dem Vorjahr ein Plus von 20 Prozent. Prognosen zufolge wird dieser Markt bis 2023 auf über 1 Milliarde Euro anwachsen. Meine Damen und Herren, die unklare Marktsituation bei den Videosharingplattformen wollen wir nun regeln. Dazu wird im Telemediengesetz insbesondere § 10 ergänzt. Dieser sieht vor, dass neue Meldeverfahren für Beschwerden eingeführt werden. Die Plattformen müssen Funktionen einrichten, damit Nutzer rechtswidrige Inhalte entsprechend melden können. Die Plattformen müssen ein Verfahren zur Prüfung und Abhilfe solcher Beschwerden entwickeln. Außerdem wird die sogenannte Listenpflicht eingeführt, das heißt, jeder Diensteanbieter muss sein Herkunftsland angeben. So wird auch der Bestand an Plattformen entsprechend erfasst. Meine Damen und Herren, diese Punkte regelt die wirtschaftsbezogene Umsetzung der EU-Richtlinie für audiovisuelle Medien. Weitere Inhalte werden im Deutsche-Welle-Gesetz geregelt. Diese Änderungen beschließen wir auch heute. Das betrifft drei Schwerpunkte: erstens die schrittweise Bereitstellung barrierefreier Angebote für Menschen mit Behinderung, zweitens die Kennzeichnung von Inhalten hinsichtlich des Jugendschutzes und drittens die sogenannte Impressumspflicht. Hier wird vor allen Dingen eine deutliche Kennzeichnung bei kommerzieller Nutzung vorgesehen. Werberelevante Regelungen – wir haben es gerade gehört – werden über das Tabakerzeugnisgesetz geregelt. Dazu gehört das besprochene Werbeverbot für Tabakprodukte in den genannten Medien. Weitere inhaltliche Anforderungen werden im Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität sowie im Netzwerkdurchsetzungsgesetz geregelt. Meine Damen und Herren, mit den Anpassungen reagieren wir auf die Entwicklungen im Markt. Wir wollen damit bei den Onlinediensten die Inhalte entsprechend wettbewerbsfähiger machen und vor allen Dingen auch den Verbraucherschutz stärken. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Axel Knoerig. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Martin Renner. ({0})

Martin Erwin Renner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004862, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine sehr geehrten Herren! Der vorliegende Entwurf ist wieder ein wunderbares Beispiel, wie über den Umweg der Europäischen Union Gesetze hierzulande implementiert werden. Gesetzgebung heißt einmal mehr, man setzt EU-Vorgaben in nationales Recht um und verabschiedet sich dadurch sogleich und zugleich wieder ein Stück weit von der eigenen, nationalen Souveränität. Beides ist hier offenkundig mehrheitlich gewünscht. ({0}) Manche nennen das Demokratie, ich nenne das beschämend. Eine weitere Schande dieser Regierung ist es, dass sie auch der freien Meinungsäußerung des eigenen Bürgers ({1}) zunehmend mit Misstrauen und Argwohn begegnet, den eigenen Bürger immer weiter einschränkt, bespitzelt und ihn letztlich zur Denunziation aufruft. ({2}) Zwei Dinge werden im Telemediengesetz maßgeblich verändert. Anbieter von Videosharingplattformen müssen fortan ein Verfahren einrichten und vorhalten, sodass Nutzer vermeintlich rechtswidrige Inhalte melden können, sie müssen ein Verfahren zur Prüfung und Abhilfe eingehender Beschwerden einrichten. ({3}) Wir kennen die dazugehörige Debatte bereits aus dem unseligen Zensurgesetz, Entschuldigung, aus dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz. ({4}) Wenn die linke Tageszeitung „taz“ gesinnungssatt und diffamierungsstolz primitiven Hass und Hetze gegen unsere Polizeibeamten publiziert, ({5}) dann führt man ein Gespräch unter Demokraten, wie es die Frau Bundeskanzler gestern in der Regierungsbefragung gesagt hat. Wenn der normale Bürger sich im Netz im Ton vergreift, dann macht man es allerdings nicht so wie diese Demokraten, nein, dann wird gemeldet, denunziert und obrigkeitlich geprüft oder genauer gesagt: Man lässt melden bzw. denunzieren und lässt prüfen. ({6}) Den juristischen und bürokratischen Ärger haben, analog zum Netzwerkdurchsetzungsgesetz, die Plattformanbieter. ({7}) Und um diese schön gängeln zu können, werden die Mitgliedstaaten der EU verpflichtet, ständig aktualisierte Listen der in ihrem Land beheimateten Mediendienstleister und Videosharingplattformen vorzuhalten und diese an die EU-Kommission zu übermitteln. Zwar heißt es in diesem Entwurf, dass die Behörden ein Auskunftsverlangen an die entsprechenden Anbieter versenden können – das liest sich hübsch –, daraus wird aber am Ende ein Muss werden. Wir haben es also mit einem neuen amtlich geführten Register zu tun. Halleluja, wir haben ein weiteres Melde- und Überwachungsinstrument geschaffen. Man könnte das effiziente Gesetzgebung nennen. Es bleibt allerdings überdeutlich die Frage im Raum: Effizient für wen? ({8}) Effizient für die demokratische Meinungsfreiheit des Bürgers in den freiheitlich-demokratischen Mitgliedstaaten? Oder eher effizient für den supranationalen Überwachungsstaat? ({9}) Die Urheber dieses Änderungsgesetzes sind also die Nornen, die den Faden unserer schicksalhaften Unfreiheit spinnen, also die EU-Kommission. Die Bundesregierung unterwirft sich einmal mehr, nimmt wieder einmal Abstand von unseren nationalen Souveränitätsrechten, und das Ganze unter dem Deckmantel der für notwendig erachteten Überwachung wirtschaftlich selbständig agierender Unternehmen. Wir hatten schon einmal von „1984“ gehört. ({10}) Wissen Sie, „1984“ von Orwell war kein Roman, sondern eine Warnung. Danke schön, meine Damen und Herren. ({11})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön, Martin Renner. – Falko Mohrs für die SPD-Fraktion gibt seine Rede zu Protokoll ({0}) Dr. Petra Sitte redet jetzt für die Fraktion Die Linke. ({1})

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke schön. – Nach der Rede fällt mir ein alter Radlerspruch ein: Platt und flach kann jeder. ({0}) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Änderungen am Telemediengesetz – Herr Knoerig hat es ja schon gesagt – setzen vor allem europäisches Recht um. Das ist wenig spektakulär. Dennoch lässt sich an der Vorlage zeigen, dass die Bundesregierung an so mancher Stelle der Mut verlassen hat. Sie hätte einiges anders regeln können. Das trifft auch auf die Koalitionsfraktionen zu. Das beginnt zum Beispiel mit der Regelung zu barrierefreien Angeboten der Deutschen Welle. Wir sind der Auffassung, hier wäre deutlich mehr gegangen, zumal wir es als Haushaltsgesetzgeber selbst in der Hand haben, hier nötige Spielräume zu schaffen. Es geht weiter mit den Vorgaben, wie Videoplattformen mit der Meldung illegaler Inhalte umgehen sollen. Da kann ich nur sagen: Nun rächt sich die überstürzte und unüberlegte Einführung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes vor drei Jahren. ({1}) Statt das Thema der Rechtsdurchsetzung auf Plattformen einheitlich anzugehen, treffen Sie verschiedene rechtliche Regelungen, und zwar je nachdem, wie groß die Plattform ist und um welchen juristischen Tatbestand es geht. Meine Damen und Herren, bei einem für die Meinungsfreiheit so sensiblen Bereich brauchen wir keinen Schnellschuss nach dem anderen, sondern eine ernsthafte, gemeinsame, gründliche Auseinandersetzung und eine Lösung, die nicht auf privatisierte oder automatisierte Rechtsdurchsetzung zurückgreift. Schließlich rede ich über einen Punkt, der sich überhaupt nicht mehr in dem Entwurf wiederfindet. In den letzten Jahren haben Europäischer Gerichtshof und Bundesgerichtshof eine Regelung im Telemediengesetz, die eigentlich auf WLAN-Netze gemünzt war, zu einem Einfallstor für Netzsperren bei Urheberrechtsverletzungen werden lassen. Davor – das will ich hier anmerken – hatten wir gewarnt. ({2}) Die Bundesregierung hätte nun versuchen können, diese beunruhigende Entwicklung einzudämmen. Sie hätte es versuchen können. Wir hätten gern diskutiert, durch welche gesetzlichen Regelungen die gerichtliche Auslegung pro Netzsperren zu erschweren gewesen wäre. Was aber hat die Bundesregierung stattdessen gemacht? Sie hat eine Formulierung getroffen, die die gerichtliche Auslegung pro Netzsperren sogar noch gestärkt hätte. Das ist nicht nachvollziehbar. ({3}) Insofern fragt man sich: Was haben die Koalitionäre gemacht, wozu haben sie sich durchgerungen? – Zu gar nichts. Sie lassen einfach den alten, umstrittenen Text stehen und überlassen wieder alles den Gerichten. Das finde ich schon ziemlich kleinmütig. ({4}) Im Geiste von Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz hätten Sie versuchen können, mit diesem Gesetz auch Änderungsbedarf für die europäischen Regelungen zu signalisieren, damit Netzsperren ein für alle Mal ausgeschlossen werden können. Danke schön. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Petra Sitte. – Margit Stumpp für Bündnis 90/Die Grünen gibt ihre Rede zu Protokoll wie Hansjörg Durz für die CDU/CSU und Martin Rabanus für SPD-Fraktion

Dr. Johannes Fechner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004270, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Wir beraten heute ein wichtiges Gesetz. Es gibt in Deutschland rund 60 Millionen Handynutzer, Handys sind also weit verbreitet. Sie haben sehr gute Kameras und sind klein und handlich. Natürlich missbraucht jetzt nicht jeder Handynutzer die Möglichkeit, mit dem Smartphone zu fotografieren. Aber es gibt eben doch eine gewisse Anzahl – leider zunehmend – von Menschen, die Frauen unter den Rock fotografieren oder verstorbene Unfallopfer fotografieren. Es gibt diese Menschen. Wir können es nicht länger dulden, dass es hierzu keinen Straftatbestand gibt. Wir können es nicht hinnehmen, dass derart in Persönlichkeitsrechte, in den intimsten Lebensbereich von Bürgerinnen und Bürgern, eingegriffen wird. Deswegen ist dieses Gesetz ein gutes Gesetz, meine lieben Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Mit dem Gesetz stellen wir zum einen das sogenannte Upskirting unter Strafe. Upskirting bedeutet, dass ein Täter einer Frau unter den Rock fotografiert. Im schlimmsten Fall verbreitet er dieses Foto dann auch noch im Internet. Das ist besonders rücksichtslos; denn es erfolgt ja überraschend, und die Frauen haben keine Möglichkeit, sich dagegen zu wehren. Und dann ist der Schock verständlicherweise groß, wenn die Bilder im Internet auftauchen. Das können wir nicht dulden. Wir müssen hier die Intimsphäre schützen. Deswegen stimmen wir heute diesem Gesetzentwurf gegen Upskirting zu, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Ich möchte mich ganz herzlich beim Justizministerium für den guten Gesetzesvorschlag bedanken. Ein ausdrückliches Lob und Dankeschön auch an die Berichterstatter! Ich möchte hier Esther Dilcher – nicht nur, weil sie ihre Rede zu Protokoll gegeben hat – und Ingmar Jung ausdrücklich benennen. ({2}) Ein Dankeschön – das ist mir jetzt wirklich wichtig – geht auch an die beiden Damen, die eine Petition, die von vielen Menschen unterzeichnet wurde, eingereicht haben, und zwar an Hanna Seidel und Ida Sassenberg, die mit ihrem Engagement und mit dieser Petition das Thema vorangetrieben und dadurch einen wichtigen Beitrag geleistet haben, dass wir heute hier diesen Gesetzentwurf haben. Ich möchte auch sagen, dass sich viele Promis dafür eingesetzt haben. Da möchte ich nur Emma Watson und Keira Knightley nennen, die sich auch zur Rechtslage hier in Deutschland positioniert haben. Auch da ein herzliches Dankeschön! Das war wichtiger Rückenwind für dieses Gesetz. ({3}) Leider gibt es einen weiteren – man muss schon fast sagen – Trend; ich kann ihn nicht nachvollziehen. Ich finde es unfassbar, dass Menschen tatsächlich verstorbene Unfallopfer fotografieren und diese Bilder dann über das Netz verbreiten. Das kann man nicht nachvollziehen, aber leider gibt es das, und es nimmt zu. Es ist nicht nur für die betroffenen Angehörigen ein schlimmer Anblick, wenn sie das sehen. Oft werden auch die Rettungskräfte durch die Gaffer und deren Sensationsgier behindert, sodass dann noch Schlimmeres passiert und Verletzte nicht gerettet werden können. Auch deswegen müssen wir hier ganz klar sagen: Das wollen wir unter Strafe stellen. Solche Handlungen wollen wir auf keinen Fall weiter dulden, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({4}) Wir haben uns, wie bei jeder Verschärfung des Strafgesetzbuches, auch hier – das möchte ich ausdrücklich sagen – natürlich gefragt: Brauchen wir das? Das Strafrecht soll ja nur Ultima Ratio sein. Man könnte ja sagen: Eigentlich gebietet es der Anstand, dass man Frauen nicht unter den Rock fotografiert oder dass man Verstorbene nicht knipst. Aber es gibt solche gesellschaftlichen Entwicklungen, und offensichtlich haben diesen Anstand viele Menschen leider zunehmend nicht mehr. Deswegen müssen wir hier den strafrechtlichen Schutz für die betroffenen Personen verbessern, und das machen wir mit diesem Gesetz. Stimmen wir also dem heute zu! Das ist ein gutes und wichtiges Gesetz. Vielen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Fechner. – Der nächste Redner: für die AfD-Fraktion Tobias Matthias Peterka. ({0})

Tobias Matthias Peterka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004850, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen! Es tut mir leid, aber die Reden zu dritten Beratungen von Gesetzentwürfen gebe ich nie zu Protokoll, auch nicht nachts um zwölf. ({0}) Zu später Stunde geht es erneut um Änderungen des Strafgesetzbuches. Grundsätzlich geht das auch gar nicht in die falsche Richtung, vor allem, wenn man sich neben dem Schutz gegen Gaffer gleich auch dem wichtigeren Anliegen zuwendet, nämlich dem Schutz gegen despektierliches Fotografieren von – quasi immer – jungen Frauen und Mädchen. Die Sitzungspause naht und damit der Sommer in diesem Land – ein Sommer, in dem wieder viele Frauen nicht ins Freibad gehen werden, weil sie sich fürchten müssen, Opfer der lokalen Partyszene und deren Handys zu werden. ({1}) Daher sage ich zur Strafbarstellung des Fotografierens unter die Kleidung sowie jetzt auch des Intimbereichs an sich: Ja, endlich! Die Verortung im Sexualstrafrecht passt natürlich auch. Mit unserem Antrag wäre aber eine umfassendere Verknüpfung mit dem zivilrechtlichen Schutz möglich gewesen, als Auffanglösung. Schlecht, dass diese Chance vertan wurde! ({2}) Weiter müsste ich der Frau Ministerin, wenn sie da wäre, noch eines verraten: Straftatbestände sind schön und gut, aber leider gibt es inzwischen bei uns einen unheiligen Dreiklang: Erstens. Taten werden nicht gemeldet oder angezeigt, da der Bürger resigniert. Zweitens. Gemeldete Taten werden nicht verfolgt, weil Polizei und Staatsanwaltschaft überlastet sind. Drittens. Angeklagte werden vor Gericht mit Einstellung, Bewährung oder sonstigen Wattebäuschen beworfen, ({3}) da nicht sein kann, was nicht sein darf, ({4}) dass nämlich unser Rechtsstaat von ganzen Bevölkerungsgruppen nicht mehr respektiert und infrage gestellt wird. ({5}) Und da könnten die panischen Umschreibungen wie „Partyszene“ ganz amüsant sein, wenn das, was hier vorgeht, nicht so bitterernst wäre. ({6}) Endlich wurde das Upskirting einmal erfasst – immerhin! Das ganze Problem dahinter wird aber gerade nicht gesehen. Da gab es dann zum Beispiel eine Anhörung im Rechtsausschuss, und alle redeten um den Elefanten im Raum herum, dass Loriot seine Freude daran hätte, nämlich dass migrantische Milieus der deutschen Bevölkerung, der deutschen Gesellschaft ihren Stempel aufdrücken – viel zu oft, viel zu unwidersprochen ({7}) und zunehmend zum Schaden unseres Rechts- und Kulturstaates. ({8}) Und nein, es geht hier nicht um das Restaurant um die Ecke oder aufrichtige Integrationsbemühungen, die es gibt. Es geht hier um frauenfreie Schwimmbäder, rechtsfreie Clanstrukturen und polizeifreie Stadtviertel. ({9}) Wir doktern auch beim Upskirting nur an Symptomen herum. Wenn nämlich nach einer Tat einmal die oben genannten zwei ersten Widerstände – Resignation und Überbelastung – überwunden sind, dann gibt es regelmäßig vor Gericht zu geringe Strafen. Bewährung ist in manchen Kreisen einfach ein Freispruch – und Kettenbewährung bei der x-ten Tat eine Lachnummer. Wir fordern daher einen Befreiungsschlag: zuverlässig härtere Strafen bei Mehrfachtätern, bei Gewalttaten, bei Drogendelikten, aber auch bei Eigentumsdelikten oder Upskirting. Ab der dritten Straftat muss zwingend die Regel gelten: Drei Strikes, und du bist raus, übrigens egal, welcher Herkunft du bist. ({10}) Es muss zwingend Haftstrafen in der oberen Hälfte des Strafrahmens geben. Ja, das ist eine bittere Medizin, aber die Wadenwickel helfen nicht mehr. Der Rechtsstaat muss Zähne zeigen – im Interesse aller friedlichen Bürger und der Zukunft unserer Demokratie. Genau so hoch müssen wir das hängen. Ich prophezeie es Ihnen: Eines Tages kommt in Deutschland eine Drei-Strikes-Regel. Hilflose Einzelmaßnahmen werden nämlich definitiv in den Graben führen. Lieber gleich hier und jetzt auf die AfD hören! Aber ich weiß: Manche wollen eben erst den ganz großen Blechschaden. Vielen Dank. ({11})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön. – Dann kommen wir zum nächsten Redner, der auch der letzte Redner ist, der leibhaftig reden wird: Ingmar Jung für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Ingmar Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bevor ich was zur Sache sage, lassen Sie mich vielleicht zunächst mal ein paar Worte zu dem sagen, was wir eben gehört haben. Wissen Sie, Herr Peterka, Sie machen das jedes Mal so: Am Ende eines Gesetzgebungsverfahrens kommen auf einmal Sachen, die man das allererste Mal hört, die im Ausschuss keine Rolle gespielt haben. Weil hier irgendwo eine Kamera ist oder man einfach was für Facebook machen will, wird irgendwas mit Migration gesagt. Da versuchen Sie jedes Mal, am Thema vorbeizureden. Wenn es so schlimm ist, dass das, was Sie unbedingt hören wollen, in der Anhörung keine Rolle spielt, hätte ich mal einen Vorschlag: Schlagen Sie doch mal einen Sachverständigen vor. – Es war wieder keiner von der AfD benannt. Die Fragen wurden alle nicht gestellt, und hier beschweren Sie sich, dass es keine Rolle gespielt hat. Das ist doch wirklich kein legitimes Verhalten. ({0}) – Dafür, dass Sie keine Sachverständigen benennen, sind wir verantwortlich? Das ist ja um 0.08 Uhr – das muss ich mir wirklich merken – die Krönung der Zwischenrufe. Herzlichen Glückwunsch! Unglaublich! ({1}) Ich will zu den zwei Teilen des Gesetzentwurfes auch noch was sagen. Wir haben – das haben wir schon gehört – die Situation mit den Gaffern. Das ist ein wirklich unerträgliches Verhalten, das immer mehr zunimmt. Unterhalten Sie sich mal mit Rettungsdiensten, mit Leuten, die da vor Ort sind und bei ihrer Rettungsarbeit nach Unfällen behindert werden, die damit zu kämpfen haben, dass auf der Gegenseite kein Stau entsteht, und sich damit zu beschäftigen haben, dass sie ihre eigentliche Rettungsarbeit nicht machen können, weil die Leute lieber stehen bleiben und Fotos machen. Dass wir im Moment die Situation haben, dass Strafbarkeit nur dann gegeben ist, wenn hilflose Personen betroffen sind, aber nicht, wenn möglicherweise Tote betroffen sind, ist ein Zustand, der nicht hinzunehmen ist. Denn eines muss man doch auch mal sehen: Es ist nicht nur pietätlos, wenn man Fotos von gerade verstorbenen Personen macht und sie möglicherweise auch noch verbreitet, sondern das ist für die Angehörigen, die plötzlich in einer ganz schwierigen persönlichen Situation sind, einfach auch unerträglich. Deswegen ist es richtig, dass wir diese Strafbarkeitslücke jetzt schließen. ({2}) Ebenso wichtig ist der Bereich des Upskirtings und Downblousings. Da will ich jetzt nicht alles wiederholen, was Herr Dr. Fechner bereits an richtigen Sachen vorgetragen hat. Ich will aber eine Sache sagen, die uns schon sehr wichtig ist: Ich glaube, dieses Gesetzgebungsverfahren ist ein guter Beweis dafür, dass das parlamentarische Verfahren einen Sinn macht und dass auch – anders als uns gelegentlich vorgeworfen wird – die Anhörung eine echte Rolle spielt und wir Dinge daraus übernehmen. Wir haben jetzt zum Beispiel die entsprechende Norm ins Sexualstrafrecht überführt, und da gehört sie im Übrigen auch hin. Darüber haben wir lange miteinander diskutiert. Wenn man sich länger damit befasst und sich die Betroffenen, die Sachverständigen und diejenigen anhört, die die Petition in Gang gesetzt haben – Herr Fechner hat sie angesprochen –, dann erscheint es natürlich schon logisch, dass diese Norm in den Abschnitt der Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung gehört. Es mag zwar sein – das wurde in der Anhörung vorgetragen –, dass es Täter gibt, die das als Mutprobe betreiben, bei denen es darum geht, ein tolles Bild zu machen, aber wenn man es einmal aus der Opferperspektive betrachtet, dann erkennt man, dass die Opfer doch nicht deshalb betroffen sind, weil das Recht am eigenen Bild an der Stelle verletzt ist, sondern weil der höchst intime – auch sexuell intime – Bereich verletzt ist. Deswegen ist es richtig, die Norm bei den Sexualstraftaten einzuordnen. Das bringt ja auch prozessual einiges mit sich: Fragen der Privatklage und Ähnliches. Deswegen bin ich froh, dass wir diese Änderung noch vorgenommen haben, und bitte nehmen Sie alle zur Kenntnis: Auch die Regierungsfraktionen hören gerne mal auf die Anhörungen, wenn da Richtiges vorgetragen wird. ({3}) Erlauben Sie mir ein letztes Wort, weil das in den letzten Tagen öfter diskutiert wurde: Wir haben jetzt keine Regelungen in Bezug auf die einfachen Nacktaufnahmen getroffen. Das Thema hat in der Anhörung am Rande eine Rolle gespielt; darüber wurde diskutiert. Da ist auch eine Strafbarkeitslücke, aber wir waren uns am Ende einig, dass es eine andere Gesamtkonstellation ist, dass eine andere Tätermotivation dahintersteckt, dass sich die entsprechenden Situationen aus der Opferperspektive ganz anders darstellen. Und vor allen Dingen war das kein zentrales Thema der Anhörung. Wir haben in der Anhörung aber auch über diese Problematik gesprochen und festgestellt, dass es da viele kleine Detailprobleme gibt. Deswegen lade ich alle herzlich ein: Lassen Sie uns doch vielleicht ein eigenes Gesetzgebungsverfahren betreiben, in dem wir auch für diesen Sachverhalt eine Regelung finden. Ich darf mich abschließend auch noch mal beim Ministerium und beim Koalitionspartner für die wirklich gute Zusammenarbeit hier herzlich bedanken, und ich möchte Herrn Dr. Fechner zustimmen: In der Tat überprüfen wir bei Verschärfungen des Strafrechts immer, ob sie denn richtig sind. Auch wenn wir uns da nicht immer einig sind, glaube ich: Hier ist es sogar noch richtiger, als es bei anderen Verfahren manchmal war. Ich schenke Ihnen jetzt etwas weniger Zeit, als ich dachte, und wünsche Ihnen allen um 0.12 Uhr einen frohen Feierabend. Gute Nacht! Herzlichen Dank. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Wir sind noch nicht fertig; es wird noch abgestimmt.