Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen und natürlich vor allen Dingen sehr geehrter Herr Präsident! Ich möchte in meinen einführenden Worten heute, da es der 1. Juli ist und die deutsche Ratspräsidentschaft beginnt, dazu Stellung nehmen. Heute übernimmt Deutschland in einer schwierigen Zeit für ein halbes Jahr den Vorsitz im Rat der Europäischen Union. Natürlich wird unsere Ratspräsidentschaft von der Coronaviruspandemie, den Bemühungen zu ihrer Eindämmung und der Bewältigung ihrer Folgen geprägt sein.
Ich habe Sie vor zwei Wochen hier an dieser Stelle um Unterstützung für den beispiellosen Aufbauplan gebeten, mit dem wir die wirtschaftliche und soziale Erholung in Europa gemeinsam angehen wollen. Der Europäische Rat hat sich vor zwei Wochen erstmals damit befasst, und wir waren uns einig, dass wir in einer außergewöhnlichen Situation Lösungen brauchen, die besonders sind, damit Europa stark aus dieser außergewöhnlichen Krise hervorgehen kann.
Ich muss Ihnen sagen, dass die Positionen der Mitgliedstaaten noch weit auseinanderliegen. Der Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel, hat für den 17. Juli zu erneuten Beratungen eingeladen. Zur Vorbereitung werden noch viele Gespräche notwendig sein, bei denen wir – in diesem Falle auch ich als rotierende Ratspräsidentschaft – dem Ratspräsidenten eng zur Seite stehen werden. Ich unterstütze ihn also dabei, eine zügige Einigung zu erreichen, damit die wirtschaftliche Erholung auch wirklich rechtzeitig und nachhaltig möglich ist.
Besonders wichtig ist mir, dass die wirtschaftliche Erholung allen zugutekommt und wir nicht nur Beschäftigung, Einkommen und Unternehmen sichern, sondern ganz besonders auch den Zusammenhalt in Europa stärken. Dazu gehört auch, dass die Chancen der jungen Menschen in Europa zu sichern sind. Wir setzen uns deshalb in unserer Ratspräsidentschaft auch für die Stärkung der sogenannten Jugendgarantie, also die Möglichkeit für jeden jungen Menschen, Arbeit zu bekommen, ein.
Doch in den kommenden sechs Monaten werden wir nicht allein die Krisenbewältigung vorantreiben, sondern auch intensiv daran arbeiten, wie wir in den Schlüsselfragen „Klimaschutz“, „digitale Souveränität“ und „Europas Rolle in der Welt“ Zukunft gestalten können. Das habe ich ja auch vor zwei Wochen ausführlich dargelegt.
Heute möchte ich noch auf eine weitere Herausforderung unserer Ratspräsidentschaft hinweisen, nämlich auf die Frage des künftigen Verhältnisses der Europäischen Union zum Vereinigten Königreich. Die Fortschritte in den Verhandlungen sind hier – um es zurückhaltend zu formulieren – sehr übersichtlich. Wir haben mit Großbritannien vereinbart, jetzt diese Verhandlung zu beschleunigen, um im Herbst noch ein Abkommen zu beschließen, das bis zum Ende des Jahres ratifiziert werden müsste. Ich werde mich weiterhin für eine gute Lösung starkmachen. Aber wir müssen und sollten in der EU und auch in Deutschland für den Fall vorsorgen, dass ein Abkommen doch nicht zustande kommt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Erwartungen an die deutsche Ratspräsidentschaft sind hoch. Ich darf im Namen der ganzen Bundesregierung sagen, dass wir entschlossen sind, alles dafür zu tun, dass wir als Europäerinnen und Europäer gemeinsam vorankommen,
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in und für Europa und mit unseren internationalen Partnern. Dabei bitte ich Sie auch, in Ihren Kontakten zu den Parlamenten in den Mitgliedstaaten für die Ziele der deutschen Ratspräsidentschaft zu werben; denn nur mit der Unterstützung aus den nationalen Parlamenten aller Mitgliedstaaten werden wir die großen Herausforderungen auch bewältigen können.
Lassen Sie uns also das Motto unserer Ratspräsidentschaft mit Leben erfüllen: „Gemeinsam. Europa wieder stark machen.“
Herzlichen Dank.
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Damit kommen wir zur Befragung, und die erste Frage stellt der Kollege Dr. Gottfried Curio, AfD.
Frau Kanzlerin, die „taz“ druckte wenige Tage vor den Gewaltexzessen in Stuttgart, Polizisten gehörten auf den Abfall, da seien sie unter ihresgleichen. Diese Volksverhetzung, diese Verletzung der Menschenwürde und diesen Angriff auf die Ordnungsmacht des Staates wollten Sie nicht vom Innenminister rechtlich überprüft sehen. Der verantwortliche Dienstherr selbst sollte sich nicht vor seine Leute stellen. Sie wollten eher die Verunglimpfungsfreiheit der Linkspresse geschützt sehen, meinten gar, Derartiges sei wohl legitime Meinungsäußerung.
Ist Ihnen klar, dass Sie den Minister an genau dem hindern, wofür Sie ein Netzwerkdurchsetzungsgesetz gemacht haben, das jetzt de facto zur Zensur normaler freier Meinungsäußerung gebraucht wird, während bei der „taz“ wirklich Hassrede zu unterbinden gewesen wäre? Sie verhindern hier ein politisches Zeichen gegen die, die unseren Sicherheitskräften hinterrücks in den Rücken treten.
Ich frage Sie: Wie kommen Sie dazu, den Innenminister davon abzuhalten, diese Hetze gegen die Leute, die für unseren Staat den Kopf hinhalten, durch Rechtsprechung unterbinden zu lassen? Reichen Ihnen 19 verletzte Polizisten in Stuttgart nicht?
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Der Bundesinnenminister hat die Unterstützung der gesamten Bundesregierung und natürlich auch der Bundeskanzlerin dafür, dass er sich hinter die Polizisten stellt, dass Polizisten unseren Schutz brauchen. Dass es höchst besorgniserregend ist, finden wir alle. Dass die Anschläge oder die Angriffe auf Polizisten zugenommen haben, das ist eine besorgniserregende Entwicklung. Darauf haben wir im Übrigen eine Antwort gegeben, indem wir Gesetze gemacht haben, die die Polizisten auch schützen.
Zweitens. Ich unterstütze den Innenminister darin, dass er den Artikel – wir haben Pressefreiheit; das wissen Sie sicherlich –
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zum Anlass genommen hat, um ein Gespräch mit dem Presserat und mit der „taz“ zu führen, um genau über die Fragen der Grenzziehung zu sprechen. Ich halte das für genau den richtigen Weg, und deshalb hat der Bundesinnenminister meine volle Unterstützung.
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Herr Kollege Curio, eine Nachfrage.
Frau Kanzlerin, Sie bringen den Innenminister von seiner Klageabsicht de facto ab: Er kommt mit seiner Meinung zu Ihrem Gespräch und kommt mit Ihrer Meinung wieder heraus. Ist es, weil Sie nach dem Prinzip regieren: „Hauptsache, die Linkspresse steht zu uns“, weil Sie das seit Jahren brauchen für Ihre Linksverschiebung der Union? Früher wäre doch so eine Ferne zu den eigenen Sicherheitskräften gar nicht möglich gewesen. Sehen Sie eigentlich überhaupt, dass Sie mit alldem wie auch mit der Verhinderung einer gebotenen Strafanzeige die Union bis zur Unkenntlichkeit nach links verschoben haben und die Interessen unseres Landes verraten?
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– Linksextremistisch, ja. Danke.
Frau Bundeskanzlerin.
Ich weiß nicht, Herr Präsident, ob die Herrschaften sich erst mal untereinander austauschen wollen. Ich kann dazu nur Folgendes sagen: Ich weiß nicht, was Sie wissen.
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Ich habe jedenfalls eine Eigenschaft, und die heißt: Ich berichte nicht aus internen Gesprächen. – Der Bundesinnenminister hat die auch. Insofern sage ich nur, dass ich glaube, dass wir eine absolut richtige Reaktion zeigen, indem wir einerseits uns hinter unsere Polizisten und Sicherheitsbeamten stellen.
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– Kann ich ausreden?
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Herr Kollege Curio, Sie haben Ihre Frage gestellt. Jetzt antwortet die Bundeskanzlerin.
Zweitens: indem wir da, wo wir es für notwendig halten, das Gespräch suchen. So geht man unter Demokraten miteinander um.
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Die nächste Frage stellt die Kollegin Gabriela Heinrich, SPD.
Frau Dr. Merkel, ich möchte Ihnen eine Frage zu Nord Stream 2 stellen, dem europäisch-russischen Projekt. An der Finanzierung sind fünf Unternehmen aus vier europäischen Ländern beteiligt. Die Frage ist: Was bedeuten die bereits in Kraft getretenen Sanktionen bzw. auch die angedachten Sanktionen jetzt für die Finanzierung der Unternehmen, die daran beteiligt sind? Welche Unterstützung kann die Bundesregierung diesen Unternehmen angedeihen lassen?
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Wir haben es erst mal mit einem Wirtschaftsprojekt zu tun, das natürlich auch politische Implikationen hat. Deshalb hat die Bundesregierung sehr viel Kraft darauf verwendet, mit der Ukraine einen Transitgasvertrag für die nächsten Jahre zu verhandeln, um die Ukraine eben nicht von dem Transit von russischem Gas und damit auch von der Einnahme von Transitgebühren abzuschneiden. Wir glauben allerdings, dass die Art der exterritorialen Sanktionen, wie sie von den Vereinigten Staaten von Amerika verhängt werden, nicht unserem Rechtsverständnis entspricht und
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somit auch nicht die jetzt laufenden Beratungen. Dennoch muss man zugestehen, dass sich dadurch der Bauverlauf erschwert. Wir glauben trotzdem, dass es richtig ist, dieses Projekt fertigzustellen, und in diesem Sinne agieren wir.
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Die nächste Frage stellt die Kollegin Gyde Jensen, FDP.
Herzlichen Dank. – Frau Bundeskanzlerin, 50 UN-Experten haben am vergangenen Freitag China die Missachtung fundamentaler Menschenrechte vorgeworfen; darunter waren Dutzende Sonderberichterstatter der UN sowie weitere UN-Menschenrechtsexperten. In einer gemeinsamen Erklärung, die sie verabschiedet haben, verurteilten sie nicht nur die massiven Einschränkungen in Hongkong – massive Bürgerrechtseinschränkungen, die jetzt durch das von Peking verabschiedete Sicherheitsgesetz in Kraft getreten sind – und die kollektive Repression in Regionen wie Xinjiang, sondern sie forderten darüber hinaus eine Sondersitzung des UN-Sicherheitsrates zum Vorgehen Chinas in diesen Regionen und in Hongkong sowie die Einsetzung eines UN-Sonderberichterstatters für China.
Deutschland übernimmt den EU-Ratspräsidentschaftssitz und zusätzlich heute auch für einen Monat den Vorsitz im UN-Sicherheitsrat. Meine Frage an Sie ist: Werden Sie für eine Sondersitzung zu China im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen stimmen und damit das Thema Menschenrechte ganz oben auf die Tagesordnung setzen, und werden Sie sich für einen UN-Sonderberichterstatter zu China einsetzen oder das zumindest mit unterstützen?
Ich glaube, dass wir Transparenz brauchen in Fragen der Menschenrechte; das ist die Position der Bundesregierung. Die Außenminister der Europäischen Union haben heute zum Beispiel zu dem Sicherheitsgesetz in Hongkong eine Stellungnahme verabschiedet, die ich mir natürlich auch zu eigen mache. Hier wird eine große Besorgnis über dieses Gesetz geäußert, und auch die Menschenrechtsfragen stehen in unseren bilateralen Gesprächen mit China inklusive dem Menschenrechtsdialog, den wir gerne in diesem Jahr noch fortsetzen wollen, immer wieder auf der Tagesordnung. Deutschland wird sich auch im Rahmen der Präsidentschaft des UN-Sicherheitsrates sicherlich für diese Transparenz einsetzen.
Trotzdem wissen wir aus leidvoller Erfahrung, dass die Harmonie im UN-Sicherheitsrat in vielen wichtigen Fragen nicht sehr groß ist, was ich außerordentlich bedauere. Aber wir werden uns dafür, dass diese Menschenrechtsfragen auf die Tagesordnung kommen, sicherlich auch einsetzen. Ich habe mit dem Bundesaußenminister – das muss ich der Wahrheit halber sagen – noch nicht darüber gesprochen. Wir haben viele andere dringende Themen, zum Beispiel Syrien, humanitäre Zugänge usw. Aber Deutschland wird sicherlich kein Hindernis sein, darüber zu sprechen. Das sehen Sie an der Stellungnahme der EU-Außenminister heute.
Nachfrage, Frau Kollegin?
Ja, ich habe eine Nachfrage direkt zum Sicherheitsgesetz, das verabschiedet wurde. Es gibt darin einige neue Regelungen, die anscheinend direkt für nicht in Hongkong Ansässige, für Non-Residents, gelten sollen. Der Artikel 38 besagt, dass damit die Verurteilung dann teilweise sogar in Mainland China, im Staatsgebiet der Volksrepublik, stattfinden kann. Meine Frage da noch einmal: Werden Sie und wird die Bundesregierung sicherstellen können, dass kein deutscher Staatsbürger Opfer von dieser Gerichtsbarkeit wird und der chinesischen Strafjustiz durch diesen Artikel 38 unterliegt?
Wir werden zumindest alles daransetzen, so wie wir das überall auf der Welt tun, dass unsere Staatsbürger geschützt sind.
Florian Hahn, CDU/CSU, stellt die nächste Frage.
Frau Bundeskanzlerin, heute beginnt die Ratspräsidentschaft Deutschlands. Eine Überschrift, die ich heute dazu gelesen habe, war: Riesige Erwartungen treffen auf gewaltige Herausforderungen. – Ich glaube, das trifft es tatsächlich ganz gut. Wir stehen coronabedingt europaweit vor großen wirtschaftlichen Problemen; das gilt aber auch für Deutschland. Airbus hat heute angekündigt, 17 000 Arbeitsplätze abzubauen. Wir werden im Vergleich zum letzten Jahr über 600 000 Arbeitslose mehr zählen müssen. Meine Frage ist: Wie wollen wir angesichts dieser Situation bei wirtschaftlich wichtigen Themen, also bei Fragen der Innovation, der Wettbewerbsfähigkeit, des Wettbewerbsrechts und der digitalen Souveränität, in dieser Ratspräsidentschaft voranschreiten?
Sie sprechen die Themen an, die jetzt natürlich auch mit dem sogenannten Aufbaufonds angegangen werden sollen, damit bei einbrechenden Steuereinnahmen diese ganzen Zukunftsthemen nicht auf der Strecke bleiben. Die Europäische Kommission hat ja folgenden Vorschlag zum Aufbaufonds gemacht: dass sie die länderspezifischen Empfehlungen für jeden Mitgliedstaat nimmt, auf die Defizite bezüglich der Zukunftsfähigkeit hinweist und darauf achtet, dass das Geld, das jedem Land entsprechend seiner Betroffenheit von der Pandemie zugeteilt wird, genau in diese Richtung ausgegeben wird. Da gehören dann natürlich Fragen der Erhaltung unserer strategischen Fähigkeiten, des Aufbaus neuer Fähigkeiten, der digitalen Souveränität dazu. Da muss jeder Mitgliedstaat natürlich seinen Beitrag leisten.
Die besondere Anstrengung ist ja auch genau dadurch gerechtfertigt, dass wir jetzt, sozusagen in einer Zeit, wo wir wirtschaftlich schon alles tun müssen, um wettbewerbsfähig zu bleiben, einbrechende Steuereinnahmen haben und uns deshalb Handlungsfähigkeit durch diesen Wiederaufbaufonds schaffen. Wir werden auch das Thema Wettbewerbsrecht und Dinge, die kein Geld kosten, also Bürokratieabbau, auf die Tagesordnung setzen und haben beim Wettbewerbsrecht einen deutsch-französischen Vorschlag ausgearbeitet, den wir der Kommission zur Verfügung stellen wollen, weil wir gerade hier mehr auf die Global Champions, die sich auch in Europa entwickeln können, setzen.
Nachfrage, Herr Kollege Hahn?
Die Ratspräsidentschaft steht ja unter dem Motto „Gemeinsam Europa wieder stark machen“. Wir merken oder beobachten, dass gerade Befürchtungen bei vielen Ländern da sind, dass wir durch die Krise ökonomisch noch weiter auseinanderdriften. Wie wollen wir jetzt sozusagen diese Gemeinsamkeit in den nächsten sechs Monaten stärken und diese Befürchtungen entkräften?
Indem wir mit dem Wiederaufbaufonds ein zusätzliches Mittel zum europäischen Haushalt haben, das allerdings nicht nach dem Bevölkerungsschlüssel eingesetzt wird; vielmehr geht es um Betroffenheit. Damit stellen wir sicher, dass Länder, die stärker betroffen sind oder eine schlechtere Ausgangsposition haben, nicht weiter abdriften und die Lücke der Wettbewerbsfähigkeit nicht größer wird. Wir stellen damit auch sicher, dass der Binnenmarkt weiterhin gut funktionieren kann, was ja auch in unserem, im deutschen Interesse ist.
Allerdings sage ich dazu: Allein europäische Maßnahmen können die Wettbewerbsfähigkeit nicht erhalten, sondern wir brauchen in jedem Mitgliedstaat natürlich auch eigene zusätzliche Anstrengungen, um die Schwächen zu überwinden, so wie wir das als Bundesregierung oder als Deutschland mit unserem eigenen Konjunkturprogramm machen. So müssen es alle anderen zu Hause auch machen.
Susanne Ferschl, Die Linke, stellt die nächste Frage.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, die aktuelle Krise zeigt erneut, dass prekäre Beschäftigung und Niedriglöhne keinen sozialen Schutz bieten und die gesellschaftliche Spaltung weiter befördern. Befristete und Leiharbeiter verlieren als erste ihren Job, Beschäftigte in Subunternehmen werden ausgebeutet, wie der Fleischskandal aktuell zeigt, und Minijobber sind überhaupt nicht abgesichert. Bislang hat es die Bundesregierung nicht einmal geschafft, die sachgrundlose Befristung, so wie im Koalitionsvertrag vereinbart wurde, einzuschränken; hauptsächlich aufgrund des Widerstands der Union. Ich frage Sie ganz konkret: Was wollen Sie unternehmen, um für gute, sichere und gut entlohnte Arbeit zu sorgen, damit die Menschen und die Beschäftigten in diesem Land keine Zukunftsängste haben müssen?
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Ich will es noch einmal sagen: Wir erleben im Augenblick durch die Coronapandemie den wahrscheinlich seit Langem stärksten Wirtschaftseinbruch, den wir je gesehen haben. Das heißt, es wird leider Auswirkungen auf dem Arbeitsmarkt geben. Dass wir heute 6,8 Millionen Kurzarbeiter haben, zeigt, welche Brücken wir bauen. Sie haben aber recht: Zum Beispiel bestimmte Beschäftigungsverhältnisse – 450-Euro-Beschäftigungsverhältnisse – sind davon nicht erfasst. Wir bauen hier andere Brücken. Das wissen Sie auch.
Es liegen sehr ernste Zeiten vor uns; das muss ich ganz deutlich sagen. Wir reagieren dort, wo es notwendig ist, zum Beispiel aktuell angesichts des Fleischskandals damit, dass wir Werkverträge in genau diesem Bereich verbieten werden. Wir haben bei der Post zum Beispiel die Generalunternehmerhaftung eingeführt, um auch bei Subunternehmen die Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen möglich zu machen. Das heißt also, die Bundesregierung reagiert. Und trotzdem bleibt es eine sehr ernste Zeit, in der wir leben. Das wird sich auch in den nächsten Monaten noch zeigen.
Nachfrage?
Frau Bundeskanzlerin, die Kassen der Sozialversicherung leeren sich. Sie haben es angesprochen: Arbeitslosigkeit steigt, Kurzarbeit steigt. Statt eines soliden Finanzierungskonzepts hat jetzt die Bundesregierung eine Deckelung der Sozialversicherungsbeiträge auf 40 Prozent beschlossen. Stimmen Sie mit mir überein, dass letztendlich höhere Löhne dazu beitragen würden, die Kassen zu füllen, und können Sie Leistungskürzungen ausschließen?
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Ich muss ehrlich sagen: Ich erwarte selten Unterstützung aus Ihrer Richtung, aber dass Sie die Deckelung der Sozialversicherungsbeiträge und die Tatsache, dass die ausfallenden Einnahmen durch Steuergeld ersetzt werden, also dass der Bund dafür eintritt, kritisieren, das finde ich bemerkenswert.
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Sie wissen doch genau: Die Sozialversicherungsbeiträge sind die Steuern derjenigen, die unterhalb der Steuerpflichtigkeit verdienen, also gerade der Kleinverdiener.
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Und dass wir die höhere Arbeitslosigkeit nicht dadurch abbilden, dass alle mehr Arbeitslosenversicherungsbeiträge zahlen, sondern dass wir diese deckeln und Steuerzuschüsse geben, das ist genau die richtige Antwort für diejenigen Menschen, die wenig verdienen. Dass Sie das kritisieren, finde ich irgendwie komisch.
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Oliver Krischer, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Bundeskanzlerin, am Freitag plant die Koalition die Verabschiedung eines Kohleausstiegsgesetzes. Die Bundesregierung – ich glaube, auch Sie persönlich – hat immer gesagt, dass das Ergebnis der Kohlekommission eins zu eins in diesem Gesetz umgesetzt werden soll. Und in der Tat ist es so, dass Betreiber, Länder und Beschäftigte mit großen Milliardenbeträgen – ich formuliere es mal so – üppig bedient werden. Einzig und allein beim Klimaschutz wird ganz erheblich von dem Ergebnis der Kohlekommission abgewichen; das Ergebnis der Kommission wird nicht umgesetzt. Das geht so weit, dass Kommissionsmitglieder davon sprechen, dass das Ergebnis aufgekündigt wird. Sie sagen: Der Gesetzentwurf, hätte er in der Kommission zur Abstimmung gestanden, hätte nie die notwendige Mehrheit bekommen. Das ist objektiv so. Daran kommt man nicht vorbei. Meine Frage an Sie ist: Wann und warum wurde entschieden, einseitig vom Kommissionsergebnis abzuweichen bzw. davon abzuweichen, das Gesetz im Sinne des Klimaschutzes deutlich zu verbessern?
Ich würde sagen: Erstens ist es ein großer Schritt, wenn wir am Freitag Verlässlichkeit in den Ausstieg aus der Kohleverstromung bringen. Die Ergebnisse der Kommission sind dahin gehend in den Kernpunkten aufgenommen, dass wir das Ausstiegsdatum und die Möglichkeit, es entsprechend vorzuziehen, wenn Revisionen und Überprüfungen das hergeben, weiter erhalten.
Zweitens. Was den Klimaschutz und die Maßnahmen, gerade die Bepreisung von CO2, anbelangt, bin ich sehr froh, dass wir Ende letzten Jahres einen breiten Konsens, inklusive Bundesrat, wo die Grünen immer mit dabei sind, gefunden haben. Das ergänzt das Kohlepaket.
Drittens. Ich bin sehr dankbar, dass es die Kohlekommission gab. Ohne sie wären wir heute nicht dort, wo wir heute sind. Und dass sie mit den bereitgestellten 40 Milliarden Euro knauserig bei der Entschädigung und Begleitung des Strukturwandels war, kann man auch nicht sagen.
Insofern haben wir ganz schön zu tun, um den Strukturwandel sozialverträglich zu gestalten. Das machen wir aber gerne.
Nachfrage?
Herzlichen Dank, Frau Bundeskanzlerin, für Ihre Erläuterung. Sie haben nur leider nicht auf meine Frage geantwortet. Sie lautete, wann und wo entschieden worden ist, dass bei Fragen des Klimaschutzes vom Kommissionsergebnis abgewichen wird. Deshalb frage ich konkret nach: Warum ist entschieden worden, dass beispielsweise der Tagebau Garzweiler zur energiepolitischen Notwendigkeit erklärt werden soll? Wann ist entschieden worden, dass die Abschaltreihenfolge der ostdeutschen Braunkohlekraftwerke nach hinten verschoben wird? Wann ist entschieden worden, dass gegen das Votum der Kohlekommission zur Feier des Kohleausstiegs das Kraftwerk Datteln in Betrieb gehen soll? Ich könnte Ihnen eine Reihe weiterer Punkte aufzählen. Sie müssten mir erläutern, wo und wann genau entschieden worden ist, dass man ganz bewusst vom Votum der Kohlekommission abweichen will.
Wir haben verschiedene Gespräche geführt. Es ging zum Teil auch um die Detailbetrachtung: Wie gehört ein Tagebau zum Beispiel mit dem Produzenten zusammen? Wie sind die Eigentumsverhältnisse? Da haben sich schon noch mal Verschiebungen ergeben. Im Grundsatz folgen wir dem Ausstiegspfad und den Vorgaben, was die Produktionsmenge anbelangt. Wir folgen dem Pfad einigermaßen – ich weiß, dass wir Hänger haben in der Mitte der 20er-Jahre –, aber trotzdem glaube ich: Wir haben etwas Großes geschafft. Dass wir die Ergebnisse der Kohlekommission eins zu eins umsetzen, haben wir nicht gesagt. Wir haben gesagt: Wir folgen dem Duktus. Dass es da vielleicht auch Enttäuschungen bei den Mitgliedern gibt, dass sie sich noch mehr erwartet hätten, das glaube ich. Ich finde aber, insgesamt ist das ein ganz wichtiger Schritt, den wir jetzt gehen.
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Die nächste Frage stellt der Kollege René Springer, AfD.
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Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Bundeskanzlerin, die Coronamaßnahmen der Bundesregierung und der Länderregierungen haben zu verheerenden Auswirkungen auf dem Arbeitsmarkt geführt. Stand heute Morgen haben wir 637 000 coronabedingte Arbeitslose. Im Zeitraum März bis Mai gab es einen Anstieg der Arbeitslosigkeit bei Deutschen um 19 Prozent, bei Ausländern um 24 Prozent. Für 12 Millionen Menschen ist Kurzarbeit angezeigt worden; das ist jeder dritte sozialversicherungspflichtige Beschäftigte. Wir haben viele Kurzarbeiter, die nicht mehr in die Beschäftigung zurückkehren werden. Zugleich sehen wir, dass mit dem 2019 beschlossenen Fachkräfteeinwanderungsgesetz ausländische Arbeitskräfte angeworben werden und dass dort keine Vorrangprüfung mehr vorgesehen ist. Für uns als AfD-Fraktion stehen die heimischen Beschäftigen und die, die jetzt ihren Job verloren haben, an erster Stelle. Meine Frage an Sie ist: Stehen diese Beschäftigte auch für Sie und die Bundesregierung an erster Stelle? Sind Sie bereit, von hier ein Signal auszusenden und das Fachkräfteeinwanderungsgesetz auszusetzen, zumindest aber die Vorrangprüfung wieder einzuführen? – Danke sehr.
Ich bin nicht dazu bereit, dass Fachkräfteeinwanderungsgesetz auszusetzen.
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Sie wissen, dass uns Fachkräfte in ganz bestimmten Bereichen fehlen, die für die Wettbewerbsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland und für den Erhalt weiterer Arbeitsplätze unabdingbar sind. Natürlich haben wir eine schwierige Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Die gibt es aber nicht, weil wir politisch falsch entschieden haben, sondern deshalb, weil eine Pandemie über die Welt gekommen ist. Und ich bin sehr froh, dass wir durch kluge Maßnahmen Leben retten konnten,
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was woanders ganz anders aussieht, und dass wir gleichzeitig alles dafür tun, unsere Wirtschaft so stark wie möglich aus dieser Krise herauskommen zu lassen und vielen Menschen Beschäftigungsmöglichkeiten zu bieten.
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Nachfrage, Herr Kollege?
Ja. – Ich möchte noch mal auf das Thema Zuwanderung bzw. auf die Folgen Ihrer gescheiterten Zuwanderungspolitik zu sprechen kommen. Wir haben heute 2 Millionen Ausländer im Hartz-IV-Bezug, wir haben 100 000 Ausländer, die ununterbrochen seit 15 Jahren Hartz IV beziehen. 100 000 Ausländer! Auf der anderen Seite haben wir Beschäftigte, die um 4 Uhr aufstehen und nach 35 Jahren Berufserfahrung zum Mindestlohn arbeiten und die dann noch Steuern zahlen, um diesen Irrsinn zu finanzieren.
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Was sagen Sie diesen Menschen heute? Wie wird es weitergehen?
Ich finde, man sollte nicht schon in einer Frage eine Spaltung der Gesellschaft anlegen, die so überhaupt nicht existiert.
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Ich glaube, dass es unter dem Strich richtig war und ist, dass wir humanitär gehandelt haben und auch heute an verschiedenen Stellen humanitär handeln.
Ich glaube zweitens, dass es wichtig ist, dass wir Zuwanderung, Migration und Flucht steuern und ordnen; da sind wir vorangekommen, aber längst nicht am Ende des Weges. Das wird auch in der Ratspräsidentschaft eine große Rolle spielen.
Drittens sind diejenigen, die eine Zuwanderungsgeschichte haben – Sie haben es ja selbst gesagt –, im Zweifelsfall sogar stärker sozial betroffen, zum Beispiel weil manche noch nicht das entsprechende Bildungsniveau erreicht haben. Ich muss Ihnen aber eines sagen: Neulich hat unsere Familienministerin – ich habe ein Filmchen, ein Video darüber gesehen – jungen Schülern, die 2015/2016 zu uns gekommen sind und jetzt ihr Abitur mit Eins gemacht haben, ihr Zeugnis übergeben.
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Es gibt auch diese Geschichten; vielleicht könnten Sie auch mal auf die in Ihren Ausführungen eingehen.
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Dr. Johannes Fechner, SPD, stellt die nächste Frage.
Frau Bundeskanzlerin, gestern lief der Kündigungsschutz für die Mieterinnen und Mieter aus. Befristet bis zum 30. Juni war die Kündigung ausgeschlossen. Der Deutsche Mieterbund hat, wie ich finde, sehr eindrücklich dargelegt, dass viele Mieterinnen und Mieter in wirtschaftlicher Not sind; Sie haben selber gesagt, dass wir mit steigenden Arbeitslosenzahlen rechnen müssen. Auch aus dem Gaststättengewerbe hören wir die klare Forderung, dieses Moratorium zu verlängern.
Deswegen habe ich kein Verständnis dafür, dass Sie und die Unionsmitglieder des Bundeskabinetts dem Vorschlag der SPD, das Moratorium zu verlängern und eine Kündigung in den Monaten Juli, August und September auszuschließen, nicht zugestimmt haben. Ich finde, wir können die Mieterinnen und Mieter in dieser schwierigen Situation nicht im Regen stehen lassen.
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Ich möchte dazu nur so viel sagen: Wir haben innerhalb der Bundesregierung eine vielschichtige Diskussion darüber geführt; die möchte ich jetzt nicht im Detail ausführen. Aber egal: Die Entscheidung haben wir uns nicht leicht gemacht. Wir haben uns in der Abwägung, dass diese Regelung ein sehr tiefgreifender Eingriff in die Vertragsfreiheit ist und dass es auch Vermieter gibt, die sehr große wirtschaftliche Probleme haben, entschieden, dass wir es angesichts der anderen Unterstützungsmaßnahmen – zum Beispiel erhalten Mittelständler nicht nur Kredite, sondern durch das Programm des Wirtschaftsministers Peter Altmaier auch Zuschüsse – verantworten können, diese Maßnahme nicht zu verlängern; das sage ich aus voller Überzeugung. Mittelständische Unternehmen, die aufgrund von wirtschaftlichen Einbußen mit der Mietzahlung in Verzug geraten, können jetzt Zuschüsse beantragen. Ich glaube, das ist der mildere Eingriff in die Vertragsfreiheit. Denn ich kenne auch Vermieter, die ziemlich unruhig waren; wenn sie sechs Monate lang keine Mieteinnahmen haben, geraten sie selber in Schwierigkeiten.
In der Gesamtsumme glaube ich, dass wir durch neue Instrumente Vorsorge getroffen haben, sodass die Verlängerung nicht notwendig ist. Aber darüber gab es einen Dissens; das ist richtig.
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Nachfrage?
Ja. – Frau Bundeskanzlerin, ich finde, da haben Sie die Dramatik der Situation nicht ganz begriffen. Insbesondere Alleinerziehende oder kleine Firmen haben jetzt große Sorgen, über die Runden zu kommen. Viele von ihnen hatten Rücklagen, mit denen sie über die Monate März, April und auch noch Mai gekommen sind; die sind jetzt aber aufgezehrt. Deswegen wäre meine Nachfrage, ob das jetzt eine komplette Absage an ein solches Kündigungsmoratorium ist oder ob die Bundesregierung heute hier zumindest die Zusage geben kann, dass sie die Situation im Auge behält und, wenn sich die Lage verschärft, wovon wir leider ausgehen müssen, ein solches Kündigungsmoratorium doch wieder einführt.
In dem Gesetz sind die Regelungen ja sowieso bis zum 30. Juni 2020 befristet gewesen. Es war erst mal auf drei Monate angelegt. Es hätte eine Ministerverordnung mit Zustimmung des Bundeskabinetts geben müssen, um die Frist bis Ende September zu verlängern. Davon haben wir jetzt nicht Gebrauch gemacht. Ende September läuft das Gesetz aus.
Wir betrachten alles und haben alles im Blick; das wissen Sie. Wir haben ganz ungewöhnliche Entscheidungen sehr schnell getroffen. Aber ich kann heute keine Zusagen machen. Ich hoffe vor allen Dingen, dass wir nicht immer wieder über diese schwierigen Situationen sprechen müssen, sondern die Wirtschaft wieder ans Laufen kriegen. Daran sollten wir arbeiten. Wir kümmern uns um die verschiedenen Fallkonstellationen wirklich sehr intensiv.
Danke sehr. – Gerald Ullrich, FDP, stellt die nächste Frage.
Vielen Dank. – Frau Bundeskanzlerin, ich habe eine Frage bezüglich der GWB-Novelle. In den vergangenen Monaten haben die digitalen Plattformen und der Onlinehandel generell durch die Coronakrise einen großen Schub erhalten. Hingegen sind kleinere Handelsunternehmen, Mittelständler und, wie wir in den letzten Tagen erfahren haben, auch große Unternehmen von dieser Krise stark betroffen.
In den vergangenen Monaten wurde die Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen immer wieder verschoben. Es gab einen Referentenentwurf vom Januar; im Kabinett wurde er, glaube ich, Anfang März behandelt. Die Novelle wurde aber immer wieder verschoben, weil es Probleme zwischen der Justizministerin und dem Wirtschaftsminister gab. Die Wissenschaft mahnt inzwischen schon, dass wir als größte Volkswirtschaft in Europa endlich ein Gesetz verabschieden müssen, da es sonst zu starken Schäden kommen kann. Deshalb meine Frage: Werden Sie sich verstärkt dafür einsetzen, dass der Widerspruch oder die Blockadehaltung des Justizministeriums aufgehoben wird und dort endlich mit dem Wirtschaftsministerium zusammengearbeitet wird, damit wir in Kürze hier auch über einen Gesetzentwurf Ihrer Bundesregierung reden können?
Ich habe just am Wochenende mit dem Bundeswirtschaftsminister über die GWB-Novelle gesprochen. Ich finde, sie muss kommen und sie ist notwendig. Die Justizministerin steht dieser GWB-Novelle auch gar nicht so ablehnend gegenüber; ich sage das, damit hier kein falscher Eindruck entsteht. Manchmal gibt es so was, was man in der Politik „Pakete“ nennt; das ist nicht das einzige Gesetz, das noch nicht auf die Tagesordnung gekommen ist. Wir werden über die Sommerpause intensiv daran arbeiten, damit Sie im Herbst über eine GWB-Novelle beraten können. Ich halte sie auch für notwendig.
Nachfrage, Herr Kollege?
Ja, gerne. – Die GWB-Novelle ist natürlich, wie gesagt, sehr wichtig – schön, dass Sie das auch so sehen –, aber sie ist nur ein kleiner Schritt in Richtung eines europäischen Digitalrechtes und Wettbewerbsrechtes. Deutschland hat seit heute die EU-Ratspräsidentschaft inne. Werden Sie sich im nächsten halben Jahr dafür einsetzen, dass es auch in Europa ein Digitalgesetz gibt, und denken Sie, dass wir dazu eine eigene Behörde brauchen?
Na ja, von der FDP gleich nach einer Behörde gefragt zu werden, ist schon ein bisschen erstaunlich; damit habe ich jetzt nicht gerechnet.
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Wir werden in Europa auf jeden Fall neue rechtliche Regelungen brauchen, übrigens nicht nur im Digitalbereich, was das Wettbewerbsrecht anbelangt, sondern insgesamt, wie ich auf die Frage des Kollegen Hahn hin schon gesagt habe. Ich glaube, dass wir bezüglich der Wettbewerbsfähigkeit gegenüber dem Rest der Welt auch auf europäischer Ebene erheblichen Nachholbedarf haben. Wir werden uns genau dafür einsetzen, im digitalen Bereich, aber auch in anderen Bereichen.
Gunther Krichbaum, CDU/CSU, stellt die nächste Frage.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Bundeskanzlerin, mit der Übernahme der Ratspräsidentschaft ist natürlich ein hohes Maß an Erwartungen verbunden. Ein Schwerpunkt unserer Ratspräsidentschaft soll ja die Außen- und Sicherheitspolitik sein. Ich möchte in diesem Kontext den Blick auf etwas anderes lenken, nämlich auf den NATO-Einsatz Sea Guardian. Hier gab es am 10. Juni 2020 einen Zwischenfall: Türkische Schiffe haben sich den französischen Schiffen genähert, die eigentlich nichts anderes machen wollten, als ein großes Schiff, ein Frachtschiff unter tansanischer Flagge, zu kontrollieren. Daraufhin wurde auf die französischen Schiffe Feuerleitradar gerichtet.
Der Vorfall wird in Frankreich als sehr ernst bewertet. Auf NATO-Ebene wurde auch schon eine Untersuchung eingeleitet. Meine Frage ist: Wie bewertet die Bundesregierung diese Vorkommnisse gegenüber Ländern und Partnern innerhalb des gemeinsamen Bündnisses, nämlich der NATO?
Wir nehmen das auch sehr ernst. Ich habe mit dem französischen Präsidenten über diesen Vorfall gesprochen. Es wird in der NATO untersucht, was dort stattgefunden hat; der Untersuchungsbericht ist noch nicht fertig. Aber wir sollten alles daransetzen, dass sich unter NATO-Mitgliedstaaten solche Vorfälle nicht wiederholen. Das ist sehr ernst.
Danke sehr. – Eine Nachfrage?
Eine Nachfrage sei mir gestattet. – Wir begrüßen es, denke ich, auch in der satten Mehrheit im Europaausschuss, dass eben eine sehr enge Verbindung mit Frankreich besteht. Wir stimmen uns in zentralen Politikbereichen ab, auch über die Triopräsidentschaft hinweg, was sehr gut ist, weil ja Frankreich dann in der ersten Jahreshälfte 2022 die Ratspräsidentschaft übernimmt.
Noch mal den Blick auf die Türkei gelenkt: Nach meiner Wahrnehmung gibt es bis zum heutigen Tage keine kohärente EU-Strategie im Hinblick auf die Türkei. Gibt es denn schon erste Verständigungen zwischen der Bundesregierung und Frankreich in dieser Hinsicht, erste Schritte in diese Richtung zu unternehmen? Sie hatten ja vor wenigen Tagen ein Treffen mit Präsident Macron. Vielleicht können Sie hier auch noch berichten, was Gegenstand dieses Treffens und dieser Unterredungen war.
Ja, wir brauchen eine kohärente Türkei-Strategie. Sie muss mindestens zwei Elemente umfassen: auf der einen Seite die Tatsache, dass wir strategisch miteinander verbunden sind, dass wir zum Beispiel gemeinsam in der NATO sind. Aber auch die Bewältigung der Flüchtlingsfrage gelingt nur – Stichwort: EU-Türkei-Abkommen –, wenn man hier auch miteinander Absprachen trifft, weil man das Ganze sonst auf dem Rücken der Menschen austrägt. Wir haben das Thema Libyen, wir haben das Thema Syrien mit sehr, sehr vielen Facetten.
Auf der anderen Seite haben wir natürlich an vielen Dingen Kritik zu üben, auch was Menschenrechtsfragen in der Türkei anbelangt. Und beides zusammenzubekommen, ist sehr wichtig. Wir haben jetzt die Erschwernis, dass die Türkei vor Zypern und Griechenland Bohrungen durchführt, worüber es eine große Kontroverse gibt. Hier arbeiten wir daran, dass wir wieder zu Gesprächen zwischen den Betroffenen kommen, wie es zum Beispiel auch bis 2016 der Fall war.
Also, Deutschland versucht hier, den verschiedenen Facetten im Verhältnis zur Türkei gerecht zu werden. Das ist nicht immer einfach, und das gelingt nur mit Frankreich zusammen. Da haben Sie vollkommen recht.
Nicole Gohlke, Die Linke, stellt die nächste Frage.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Bundeskanzlerin, als wissenschaftspolitische Sprecherin meiner Fraktion erreichen mich in diesen Tagen sehr viele Hilferufe von Studierenden. Hunderttausende Studierende haben ihre Nebenjobs verloren und können von den Eltern jetzt auch nicht mehr so wie früher unterstützt werden. Bei vielen steht sogar die Frage im Raum, ob ein Studienabbruch droht.
Statt jetzt einfach das BAföG zu öffnen – das wäre ja eine ziemlich naheliegende Lösung gewesen –, hat Ihre Bildungsministerin lediglich Kredite zur Verfügung gestellt und bietet damit eigentlich nur die Option einer Verschuldung für die jungen Menschen an. Es gibt nur für ganz wenige Studierende die Möglichkeit einer Überbrückungshilfe von maximal 500 Euro.
Auch im Konjunktur- und Zukunftspaket der Regierung fehlen die Studierenden völlig. Ich finde, es steht in keinem Verhältnis, wenn die Regierung für die jungen Menschen so wenig Geld zur Verfügung stellt, aber auf der anderen Seite die Förderung der Rüstungsindustrie im Konjunkturpaket mit 10 Milliarden Euro bepreist.
Sie sagen ja – das haben Sie gerade eingangs ausgeführt –, Ihnen liegen die Chancen der jungen Menschen am Herzen. Dann frage ich Sie: Welche zusätzlichen Maßnahmen planen Sie zur Unterstützung von Studierenden?
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Es darf ja nicht der Eindruck entstehen, dass es jetzt kein BAföG mehr gibt. Die Frage war ja nur: Öffnen wir BAföG sozusagen für alle, die betroffen sein könnten? Das wollten wir nicht – auch aus Gründen der Ordnungspolitik, sage ich jetzt mal. Deshalb haben wir dieses Kreditprogramm gemacht. Ich glaube, dass das ein erster wichtiger Schritt ist.
So wie eben gesagt wurde, müssen wir uns natürlich die Situation der Studierenden weiter anschauen. Aber ich glaube, für den jetzigen Zeitpunkt ist der erste Schritt sehr wichtig.
Nachfrage?
Ja, gerne. – Also, wenn es bei den jetzigen Maßnahmen der Bundesregierung bleibt, dann wird diese Krise auch im Bildungsbereich zu einer ganz massiven weiteren sozialen Spaltung führen. Von einem möglichen Studienabbruch, den ich jetzt gerade skizziert habe, sind ja vor allem diejenigen betroffen, die aus nichtakademischen Haushalten kommen, diejenigen, die keine wohlhabenden Eltern haben. Wie wollen Sie diese Spaltung in Arm und Reich, die wir im gesamten Bildungsbereich haben und die sich jetzt auch im Hochschulbereich fortführt, verhindern?
Erstens will ich mal sagen: Seitdem ich Bundeskanzlerin bin, ist die Zahl der Studierenden an deutschen Hochschulen rasant gestiegen. Das kann also keine so schlechte Politik gewesen sein; da stimmen Sie mir sicherlich zu.
Zweitens bekommen ja gerade die, die aus Elternhäusern kommen, in denen die Eltern nicht so viel verdienen, BAföG. Insofern sehe ich jetzt nicht das Problem, das Sie gerade aufmachen.
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– Ja, dass ich hier alle auf einmal überzeuge, das kann auch nicht gelingen.
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Luise Amtsberg, Bündnis 90/Die Grünen, stellt die nächste Frage.
Frau Bundeskanzlerin, die Situation auf dem Mittelmeer beunruhigt mich und meine Fraktion in vielerlei Hinsicht enorm: die Lager in Griechenland, die Zurückdrängung von Geflüchteten, die nach wie vor hohe Zahl von ertrinkenden Menschen im Mittelmeer, das Fehlen einer europäischen Lösung.
Im Rahmen des 20. Flüchtlingsschutzsymposiums hat der Parlamentarische Staatssekretär Stephan Mayer – er ist auch heute anwesend – gesagt, dass er es für falsch hält, dass die evangelische Kirche mit einem eigenen Schiff in das Seegebiet aufbricht, um Menschen zu retten. Er sagte auch, dass es keine europäisch koordinierte Seenotrettung braucht. Begründet hat er das mit der Operation EUNAVFOR MED Irini, von der wir aber wissen, dass sie in einem ganz anderen Einsatzgebiet operiert. Diese Mission gibt ja den Mitgliedstaaten auch die Möglichkeit, sich im Falle von zu vielen Rettungen aus dem Seegebiet zurückzuziehen. Das ist also mitnichten eine Lösung.
Deshalb möchte ich auch wegen der vielen unterschiedlichen Äußerungen, die wir immer wieder vernehmen, von Ihnen gerne wissen, ob Sie eine europäisch koordinierte Seenotrettung für richtig halten, ob Sie sich auch im Rahmen der Ratspräsidentschaft dafür einsetzen werden.
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Ich halte es erst einmal für richtig und wichtig, dass wir es schaffen, die Migration sehr viel besser zu steuern. Alle diese Seenotrettungen, egal ob sie über die Europäische Union durchgeführt werden oder ob sie als private Seenotrettungen durchgeführt werden, sind immer nur die zweitbeste Lösung; denn wir müssen eigentlich verhindern, dass Menschen sich überhaupt so in Gefahr bringen.
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Deshalb werden wir auch weiter daran arbeiten, dass wir gerade auch in Libyen Bedingungen schaffen, mit denen der UNHCR arbeiten kann. Ich weiß, dass wir davon weit entfernt sind. Wir teilen übrigens alle die Besorgnisse: Sowohl das, was zwischen der Türkei und Griechenland auf der Ägäis stattfindet, als auch das, was auf dem Mittelmeer zwischen Italien und Libyen stattfindet, ist alles andere als zufriedenstellend. Deshalb hat das Bundesinnenministerium auch das Thema „europäische Asylpolitik“ als ein wichtiges Thema für die Ratspräsidentschaft benannt.
Wir wissen aber alle, dass wir das nicht so schnell lösen können. Bis dahin müssen wir natürlich humanitär handeln; das ist richtig. Aber wir dürfen auch nicht den Eindruck erwecken, dass sich Menschen sozusagen in eine gefährliche Situation bringen sollen; denn wir sehen tragischerweise, dass viele Menschen ihr Leben auf diesem Weg verlieren.
Nachfrage, Frau Kollegin?
Gerne, vielen Dank. – Die eine oder andere Situation, in der wir auch direkt in der Verantwortung stehen, sind die jetzt wiederholten, zahlreich dokumentierten und illegalen Push-backs, die Rückweisung von Geflüchteten an europäischen Land- und Seegrenzen. Sie werden sicher mit mir übereinstimmen: Ja, es sind unsere gemeinsamen Grenzen, unsere Werte, und es ist inakzeptabel, wenn internationales und europäisches Recht an dieser Stelle gebrochen werden.
Deshalb auch hier noch mal eine Frage. Die Rückweisungen sind mittlerweile so dokumentiert, dass sich dazu keine Fragen mehr stellen. Was nicht gelingt, ist die Aufklärung und das Zur-Rechenschaft-Ziehen der Verantwortlichen, weil immer wieder auf andere Akteure verwiesen wird. Findet das im Frontex-Verbund statt? War es die griechische Küstenwache? – Werden Sie sich im Rahmen der kommenden Monate dafür einsetzen, dass solche Vorfälle lückenlos aufgeklärt und vor allen Dingen die Verantwortlichen dann auch zur Rechenschaft gezogen werden? Denn dieser Vorgang beschädigt Europa und seine Werte massiv.
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Wir wollen Völkerrecht und internationales Recht natürlich einhalten; das ist absolut richtig. Ich werde mich vor allen Dingen dafür einsetzen, dass es gar nicht erst zu solchen Situationen kommt, sondern dass wir mit der Türkei besprechen, dass solche Situationen nicht entstehen; denn wir stehen natürlich in einem Spannungsverhältnis. Was wir bei dem Schutz der Außengrenzen zum Beispiel an der Landgrenze zwischen der Türkei und Griechenland erlebt haben, das war im Grunde Politik auch auf dem Rücken von Flüchtlingen, und das darf sich nicht wiederholen. Dafür werde ich mich vor allen Dingen einsetzen.
Wo es zu Rechtsverletzungen kommen sollte, werden wir uns auch dafür einsetzen, das aufzuklären. Darum geht es nicht. Aber es ist kein Mechanismus, sich sozusagen immer in Gefahr bringen zu müssen, um eine EU-Außengrenze zu überwinden, sondern wir brauchen geregelte Abkommen mit den Nachbarstaaten. Dazu gehört eben auch die Türkei, und dafür werde ich mich weiter einsetzen. Dafür bin ich bedauerlicherweise oft sehr kritisiert worden. Ich sehe aber keine andere Möglichkeit, die humanitärer wäre, als dass wir auch mit finanzieller Unterstützung dafür sorgen, dass die Flüchtlinge dort, wo sie leben, gut leben können, und dass wir ansonsten geordnet und geregelt zwischen Staaten verabreden, was wir miteinander tun.
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Die nächste Frage stellt der Kollege Leif-Erik Holm, AfD.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Bundeskanzlerin, am 15. Mai ist in Mecklenburg-Vorpommern eine Frau zur Landesverfassungsrichterin gewählt worden, die einer als linksextremistisch eingestuften Vereinigung angehört, der Antikapitalistischen Linken. Sie hat sie sogar mitgegründet, und sie hat sich bisher nicht davon distanziert. Im Gegenteil: Bis heute verharmlost sie den Mauerbau. Sie verhöhnt die Mauertoten, ist bei einer Gedenkminute im Landtag sogar demonstrativ sitzen geblieben. Sie hat wohl auch in DDR-Zeiten als Bürgermeisterin Republikflüchtlingen das Haus abgepresst.
Eine solche Frau zur Verfassungsrichterin zu wählen, ist aus meiner Sicht unerträglich. „Unerträglich“, das war auch die Wortwahl des Verfassungsschutzchefs Haldenwang in der Sache. Der CSU-Generalsekretär Blume hat getwittert: „Wer Verfassungsfeind ist, kann kein Hüter der Verfassung sein“. Das ist absolut richtig. Was er leider vergessen hat: dass seine Schwesterpartei, Ihre Partei, in Gestalt der CDU-Landtagsfraktion in Mecklenburg-Vorpommern dieser Wahl zugestimmt hat. Teilen Sie also die Auffassungen von Herrn Haldenwang und von Herrn Blume, und was folgt aus dieser Position?
Ich teile die Positionen dieser Verfassungsrichterin absolut nicht. Das brauche ich, glaube ich, nicht weiter zu begründen.
Es hat im Landtag ein sehr komplexes Verfahren mit vielen Implikationen gegeben.
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– Ich weiß, wovon ich spreche. Dass Ihnen das nicht gefällt und dass Sie es lieber gehabt hätten, die CDU hätte mit Ihnen zusammen dagegengestimmt, kann ich verstehen. Das hat sie aber nicht gemacht. So ist ein sicherlich unbefriedigendes Ergebnis herausgekommen. Ich respektiere aber die Entscheidungsabwägung der Kolleginnen und Kollegen im Landtag Mecklenburg-Vorpommern.
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Es ist manchmal Politik, dass man auch zu Resultaten kommt, die nicht umfassend gut sind.
Nachfrage?
Danke. – Diese Antwort überrascht mich jetzt schon ein bisschen, weil wir wissen, dass Sie da auch sehr laut und deutlich reagieren können. Zum Beispiel wiesen Sie bei einem Staatsbesuch in Südafrika darauf hin, dass ein FDP-Mann nicht Ministerpräsident in Thüringen werden könne und dass das rückgängig gemacht werden müsse. Daher hätte ich mir von Ihnen auch jetzt in der Sache mal eine klare Antwort gewünscht; denn soweit ich weiß, gibt es in Ihrer Partei auch einen Unvereinbarkeitsbeschluss. Also stellt sich schon die Frage, wie es möglich ist, dass eine solche Verfassungsrichterin mit den Stimmen der CDU gewählt werden kann. Da würden sich die Bürger tatsächlich, glaube ich, mal eine starke Positionierung von Ihnen wünschen.
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Ich habe das gesagt, was ich dazu gesagt habe. Dass das nun nicht umfassend befriedigend ist, kann ich gut verstehen.
Josephine Ortleb, SPD, stellt die nächste Frage.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Bundeskanzlerin, die Coronapandemie zeigt, dass Frauen bei der Krisenbewältigung an vorderster Front, in der ersten Reihe stehen. In den Führungsetagen der Wirtschaft sehen wir aber, dass Frauen in der vordersten Reihe massiv unterrepräsentiert sind. Deswegen ist meine Frage: Wie stehen Sie als Bundeskanzlerin zu den Vorschlägen unserer Ministerinnen Franziska Giffey und Christine Lambrecht, die Quote für Frauen in Vorständen auf mehr Unternehmen auszuweiten und eine Mindestvorgabe für Vorstände einzuführen?
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Ich bin mit der Ministerin in einem engen Gespräch. Ich möchte aus dem Gang der Gespräche nichts hier schon verraten, weil wir noch nicht am Ende der Gespräche sind. Ich halte es für absolut unzureichend, dass es immer noch börsennotierte Unternehmen gibt, in denen nicht eine einzige Frau im Vorstand ist.
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Das ist ein Zustand, den man nicht vernünftig finden kann.
Wir haben gesehen, dass infolge der Quotenregelung in den Aufsichtsräten sich plötzlich genügend Frauen gefunden haben. Jetzt geben Sie mir noch ein bisschen Zeit, mit der Ministerin weiter zu beraten.
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– Ich kenne die Grenzen meiner Amtszeit; da brauchen Sie sich keine Sorgen machen. Die habe ich öffentlich verkündet.
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Natürlich geben wir Ihnen die Zeit. Trotzdem zeigt uns die momentane Situation, dass wir das vielleicht beschleunigen müssen, um die Situation zu ändern. Deswegen erlauben Sie mir ganz konkret die Nachfrage: Setzen Sie sich mit uns gemeinsam dafür ein, dass wir die Mindestvorgabe für Frauen in Vorständen in den von Ihnen angesprochenen Unternehmen gesetzlich festlegen?
Schauen Sie, ich setze mich dafür ein, dass wir für gute Lösungen gute Mehrheiten bekommen.
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Christine Aschenberg-Dugnus, FDP, stellt die nächste Frage.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Bundeskanzlerin, unter welchen Voraussetzungen ist nach Ihrer Ansicht eine epidemische Lage von nationaler Tragweite, die der Bundesregierung ja Sonderrechte gewährt, nicht mehr vorhanden? Und zeigen nicht die derzeitigen Vorfälle, dass die Bewertung der Situation gerade regional, auf Landesebene erfolgen muss?
Mit Sicherheit ist sie nicht erforderlich, wenn wir einen Impfstoff und Medikamente haben. Aber die epidemische Lage ist ja auch vorher schon zeitlich begrenzt worden. Das war ja auch ein Wunsch des Deutschen Bundestages, den ich absolut verstehe.
Darüber, inwieweit wir davon sprechen können, dass wir wirklich regionale Begrenzungen haben, oder inwieweit es eine große Gefahr gibt, dass jetzt gerade, wenn viele Menschen hin- und herfahren, beispielsweise in den Urlaub, sich das Virus wieder weiter ausbreiten kann, haben wir noch keine abschließenden Erkenntnisse. Deshalb glaube ich, dass jetzt nicht die Stunde ist, nach der Beendigung der epidemischen Lage zu fragen, sondern wirklich alle Kraft darauf zu setzen, die lokalen Ereignisse auch lokal zu halten.
Nachfrage?
Gerne. – Wir haben ein wissenschaftliches Gutachten erstellen lassen. Danach ist eine epidemische Lage dann gegeben, wenn eine Überforderung des öffentlichen Gesundheitswesens vorliegt und die Länder nicht eigenständig in der Lage sind, das zu regeln.
Da komme ich jetzt zu der Frage: Sehen Sie wirklich die zentrale Steuerung als weiterhin erforderlich an? Heißt das nicht, dass Sie dann indirekt auch sagen: „Herr Laschet in Nordrhein-Westfalen und Herr Söder in Bayern sind dazu nicht mehr in der Lage; deswegen bedarf es einer zentralen Steuerung auf Bundesebene“?
Das ist ja nicht schwarz und nicht weiß. Der Landkreis Gütersloh hat zum Beispiel darum gebeten, dass die Bundeswehr dorthin geht und unterstützt. Das ist auch in großem Umfang geschehen. Genau das werden wir auch weiter tun, wenn das als notwendig angesehen wird.
Wir haben in unserem Konjunkturprogramm auch erhebliche Mittel bereitgestellt, um den Öffentlichen Gesundheitsdienst zu stärken, weil die Kontaktnachverfolgung gewährleistet sein muss. Gerade bei den vielen Hygienekonzepten, die gemacht worden sind, steht der Öffentliche Gesundheitsdienst unglaublich unter Stress. Ich bin den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dort sehr dankbar für das, was sie leisten.
Das heißt, wir sind, gemessen an der Anfangszeit, ein Stück vorangekommen. Aber ich persönlich sage Ihnen, dass ich in Bezug auf die Ausbreitung des Virus nicht ruhig bin – Sie vielleicht auch nicht – und dass ich deshalb glaube, dass wir gut daran tun, jetzt nicht einfach zu sagen: Wir sind raus aus der Gefahr. – Ich glaube auch, dass wir sehr sorgsam mit den zusätzlichen Kompetenzen des Bundes in der epidemischen Lage umgehen und das mit dem Parlament eng diskutieren. Das werden wir in der verbleibenden Zeit auch weiter so machen.
Gibt es eine Zusatzfrage? – Herr Kollege.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Ich möchte auf das Gutachten zurückkommen. Dieser Begriff „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ ist der juristische Begriff, der extrem weit gehende Eingriffe in Menschenrechte und in Bürgerrechte begründet. Dann kann sie nach dem Gutachten, aber auch nach meiner persönlichen Überzeugung doch nur gerechtfertigt sein, wenn dringendster Handlungsbedarf besteht.
Ich kann Folgendes einfach nicht verstehen, aber vielleicht können Sie mir da helfen: Wenn in Gütersloh und an einigen anderen Orten örtlich große Infektionszahlen bestehen, wieso müssen dann in drei Vierteln des Bundesgebietes, wo es kaum Infektionen gibt, dieselben Begrenzungen gelten, wie sie zum Beispiel in Gütersloh angemessen sind? Das kann ich nicht verstehen; auch juristisch kann ich es nicht verstehen.
Juristisch kann ich Ihnen da auch wenig helfen, weil ich keine Juristin bin. Ich kann das jetzt nur zur Kenntnis nehmen, dass Sie als Jurist Schwierigkeiten haben.
Politisch sage ich Ihnen, dass die Lage, die jetzt in Gütersloh, in Berlin-Neukölln oder bei dem Caterer am Starnberger See in Bayern aufgetreten ist, an jeder Stelle in der Republik jederzeit entstehen kann. Ich weiß nicht, ob wir dann jeweils ein Gesetz so und ein Gesetz so machen sollen. Ich glaube, dass wir doch auch durch die permanente Überprüfung durch die Gerichte zur Einschränkung der Grundrechte, die wir vornehmen, und aufgrund der Tatsache, dass so geurteilt wird, dass manches akzeptiert wird, anderes aber auch wieder infrage gestellt wird, eine offene, demokratische Atmosphäre haben, trotz der epidemischen Lage, und eben nicht unverhältnismäßig von den Möglichkeiten Gebrauch machen, sondern in der epidemischen Lage heute völlig anders agieren, als wir das am Anfang der eingeführten Maßnahmen getan haben. Das ist verhältnismäßig; das ist richtig. Aber die Situation ist so unsicher, dass ich die epidemische Lage weiter für gegeben halte.
Danke sehr. – Dann stellt die nächste Frage die Kollegin Dr. Anja Weisgerber, CDU/CSU.
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, die Themen Nachhaltigkeit und Klimaschutz spielen ja in der EU-Ratspräsidentschaft eine zentrale Rolle; das ist auch gut so. Klimaneutralität bis 2050 ist das Ziel für Europa. Deutschland geht mit dem Klimapaket ja mit gutem Beispiel voran. Wie motivieren wir die anderen Staaten Europas, hier mitzuziehen und nachzuziehen und auch die Klimaneutralität zu ihrem Ziel zu erklären?
Wir haben von allen Mitgliedstaaten außer Polen schon die Zusage, dass man sich zur Klimaneutralität 2050 bekennt. Polen hat hier noch einige Zeit gebraucht, um sich den Weg auszuarbeiten, wie man das schaffen will. Eine Möglichkeit ist, dass man zum Beispiel diejenigen, die vom Strukturwandel besonders betroffen sind, durch den Just Transition Fund, also durch den Fonds, der diesen Strukturwandel begleitet, unterstützt.
Die Kommission hat jetzt erfreulicherweise auch sehr dafür gesorgt, dass in dem Wiederaufbaufonds die Transformationsmittel noch mal gestärkt wurden, und ich hoffe, dass das dann ein zusätzlicher Anreiz ist, um die Klimaneutralität 2050 eben auch für alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu verankern.
Ein sehr erfolgreiches Instrument, um Klimaschutz voranzubringen, ist der Emissionshandel. Gerade im Bereich Industrie und Energie zeigt sich, dass wir auch hier den CO2-Ausstoß nachhaltig reduzieren können. Wir führen den Emissionshandel in Deutschland jetzt auch für die Sektoren Wärme und Verkehr ein. Was können Sie dazu beitragen, dass wir auf europäischer Ebene auch die anderen Staaten dazu motivieren, auch in diesen Sektoren den Emissionshandel mit einzuführen, in ganz Europa?
Wichtig ist, dass wir immer wieder deutlich machen, dass wir für eine geraume Zeit zwei Handelssysteme brauchen, dass wir jetzt also nicht den Emissionshandel für die Industrie sofort mit dem Verkehrs- und Wärmeemissionshandel verschmelzen können; da gibt es manchmal Sorgen. Dann wären die Vermeidungskosten im Verkehr zu gering. Das würde sich dann zulasten der Industrie auswirken. Das dürfen wir nicht tun. Wir setzen uns dafür ein. Die Kommissionspräsidentin hat Sympathie erkennen lassen; sie will das Thema aber, glaube ich, erst im ersten Halbjahr 2021 angehen.
Vorher werden wir jetzt noch was anderes machen müssen, nämlich im Blick auf die Klimaneutralität 2050 die 2030-Ziele neu verhandeln und dann das Burden Sharing, also die Lastenaufteilung zwischen Mitgliedstaaten, neu bestimmen. Das wird wahrscheinlich in die deutsche Ratspräsidentschaft fallen, und das wird ein ziemlich harter Brocken werden.
Danke sehr. – Die nächste Frage stellt der Kollege Klaus Ernst, Die Linke.
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Herr Präsident! Frau Kanzlerin! Es geht um die Rettung der Lufthansa, eigentlich eine richtige und durchaus akzeptable Sache, die auch wir unterstützt haben. Nur, die Auflagen, die Sie an die Beschäftigung gebunden haben, erscheinen mir deutlich zu dürftig. Es ist nun so, dass 9 Milliarden Euro fließen und gleichzeitig die Zahl der Beschäftigten reduziert werden soll.
Meine erste Frage: Warum haben Sie die Rettung dieses Konzerns zumindest nicht an die Auflage gebunden, dass sich mit dem Betriebsrat oder mit der Gewerkschaft über den Beschäftigungsabbau geeinigt werden muss? Denn das hätte die von Ihnen oft sehr gelobte und befürwortete Tarifautonomie in diesen Fragen gestärkt.
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Zweitens. Warum ist es Ihnen nicht gelungen, zum Beispiel wenigstens hinzukriegen, dass der Aufsichtsrat dieses Unternehmens auch vonseiten der Regierung besetzt wird, vonseiten der Administration, von uns? Nun darf sich die Lufthansa den eigenen Kontrolleur selbst aussuchen; das erscheint mir etwas seltsam.
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Ich will mal daran erinnern, dass die Lufthansa vor der Coronapandemie ein sehr anerkanntes global aufgestelltes Unternehmen war und völlig unverschuldet, nämlich durch die Pandemie, in eine Lage gekommen ist, in der sie nun wirklich dramatische Einbußen – wenn man das so überhaupt schon ausreichend beschreibt – hinzunehmen hat.
Wir wollen, dass die Lufthansa wieder global wirtschaftlich agieren kann. Dafür haben wir ihr die Voraussetzung gegeben. Wir glauben aber nicht, dass wir der Lufthansa, indem der Staat den Aufsichtsrat stellt und wir bestimmen, wie viel in der Zeit nach der Coronapandemie geflogen wird, und damit auch, wie hoch die Zahl der Beschäftigten ist, einen Gefallen tun. Das ist halt der Unterschied zwischen unseren und Ihren Auffassungen; das ist so. Das manifestiert sich jetzt auch am Beispiel Lufthansa.
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Herr Kollege Ernst.
Für diese Haltung kann ich ja durchaus Verständnis entwickeln. Nur, die Frage ist: Wenn jetzt der Kontrolleur von dem bestimmt wird, der ihn kontrolliert, also wenn praktisch die Lufthansa einen Aufsichtsrat bestellt, der sie kontrollieren soll,
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wenn sie selbst ihren Kontrolleur bestellt, glauben Sie nicht, dass es unter solchen Voraussetzungen eher dazu kommt, dass es – egal was der Vorstand macht – zu einem Abnicken kommt? Ich war selber in mehreren Aufsichtsräten. Ich kann Ihnen sagen: Da war es immer so, dass eher die Aufsichtsräte, die nicht mit dem Unternehmen zusammenhingen, dann tatsächlich die kritischen waren. Wäre das für die Beschäftigung nicht sinnvoller?
Wir haben ja jetzt nicht die Mehrheit an der Lufthansa erworben – aus guten Gründen –, sondern wir haben uns sehr genau überlegt, in welchem Maße wir einsteigen, und in diesem Maße sprechen wir natürlich auch mit – aber über Personen unseres Vertrauens und nicht über den Staat. Die Idee, dass der Lufthansa-Vorstandsvorsitzende einfach mal den Aufsichtsrat aussucht: Auch Sie wissen, dass wir anders zusammengesetzte Aufsichtsräte haben, als dass die Vorstände die Aufsichtsräte bestimmen. So. Und das wird aus einer Mixtur gemacht. Sie finden, da ist zu wenig Staatseinfluss. Wir finden, da ist genau das Richtige getan worden. Das unterscheidet uns. Wir wollen, dass die Lufthansa nicht verlernt, wirtschaftlich zu handeln in einem global ziemlich umkämpften Umfeld, damit sie weiter ein starkes Unternehmen ist, das aus Deutschland kommt.
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Friedrich Ostendorff, Bündnis 90/Die Grünen, stellt die nächste Frage.
Frau Bundeskanzlerin, Sie äußerten hier am 13. Mai Ihre Unzufriedenheit mit den Zuständen in den Großschlachthöfen. Wir haben in den letzten Wochen viel dazu erfahren. Ich will Ihnen sagen – persönlich –: Ich bin seit 52 Jahren Bauer und habe vor 45 Jahren für einige Jahre in einem Großschlachthof gearbeitet. Was hat sich verändert? Es ist immer schlimmer geworden! Es war damals unsäglich, und heute ist es noch unsäglicher. Die Bedingungen der Menschen dort sind nie besser geworden; sie sind immer schlechter geworden.
Neben dem Beschreiben der Zustände: Was soll ich verstehen, ich als Mensch, der als Bauernjunge Recht und Gesetz gelernt hat, wenn mein Ministerpräsident mir gestern erklärt, die Kooperation zwischen Schlachthaus und Landesregierung sei zu Ende, jetzt werde Recht und Gesetz gelten? Ich hatte gedacht, es gelte schon immer; aber das will ich jetzt gar nicht mit Ihnen diskutieren.
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Meine Frage geht vielmehr woandershin. Die zuständige Bundesministerin hat erklärt: Wir wollen die Großschlachthöfe dezentralisieren. – Wie sieht Ihr Fahrplan dazu genau aus? Ist das abgestimmt? Was kann ich darunter verstehen? Wie werden die Abläufe sein, dass wir jetzt endlich zu humanen Bedingungen für die Tiere und für die Menschen, für die Bauern und Bäuerinnen, die dahin liefern, kommen?
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Erstens. Also, Recht und Gesetz galt und gilt immer – das habe ich als Pastorentochter gelernt, konnte es aber die ersten 35 Jahre meines Lebens noch nicht ganz so am eigenen Leibe erfahren. Umso wichtiger ist mir, dass es heute so ist.
Zweitens. Wir werden die Werkverträge für diese Branche abschaffen, weil sie durch Sub-Sub-Sub-Subunternehmen so ausgenutzt wurden, dass das nicht verantwortbar ist.
Drittens werden damit vielleicht die Kosten steigen – ich nehme das an –; das ist aber auch in Ordnung so.
Dann wird es auch wieder bessere Wettbewerbsbedingungen geben, sodass sich vielleicht auch kleinere Schlachthöfe bilden können. Das wäre zu erstreben.
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Wir erleben es bei Molkereien, wir erleben es bei Schlachthöfen: Die Konzentration im Lebensmittelbereich, dazu die Abnahmekonzentration, das ist für die Bauern ein großes Problem.
Leider sind die Zustände aber auch in Schlachthöfen, die von Bauern sozusagen mitgestaltet werden, nicht immer so ideal, dass man jetzt sagen würde: Das ist schon das Vorbild – weil der Druck einfach da ist und weil die anderen Preistreiber sind; das weiß ich schon. Und deshalb muss da was verändert werden.
Nachfrage, Herr Kollege?
Ja. – Meine Nachfrage geht dahin: Wir haben am Freitag eine Debatte über das Papier zum Umbau der Tierhaltung, das von Ex-Bundesminister Jochen Borchert und seiner Kommission erarbeitet worden ist – ein Papier, an dessen Erarbeitung weite Teile der gesellschaftlichen Gruppen beteiligt wurden, an dem viele mitgearbeitet haben, so wie ich es nicht kenne. Ich kann mich nicht erinnern, dass es möglich war, zwischen Landwirtschafts-, Umwelt- und Tierschutzverbänden so breit aufgestellt zu gemeinsamen Vereinbarungen zu kommen.
Wenn wir das jetzt am Freitag beschließen: Wie bringen Sie mit Blick auf die Bemühungen der Erzeugerinnen und Erzeuger, der Bauern und Bäuerinnen – das ja da ist, man spürt es; die Bauern und Bäuerinnen sind bereit, umzubauen; sie sind bereit, den Weg zu gehen – hier Verlässlichkeit rein, möglicherweise über die Tierwohlabgabe, die Jochen Borchert vorschlägt? Wie ist da Ihr Weg? Wie wollen Sie auch denjenigen, denen es dann möglicherweise noch etwas schwerer fällt, gutes Fleisch zu kaufen, den sozialen Ausgleich ermöglichen? Was werden wir dort zu erwarten haben? Wird es bei Hartz IV, wird es beim Mindestlohn Nachbesserungen geben?
Die Bestimmung von Hartz-IV-Sätzen beinhaltet ja immer auch einen ganzen Warenkorb, und dazu gehören natürlich auch Lebensmittel, dazu gehört auch Fleisch. Wenn Fleisch also teurer würde, dann würde sich das sicherlich auch in der Berechnung des Hartz-IV-Satzes niederschlagen.
Aber – fangen wir mal andersherum an –: Wir haben jetzt 300 Millionen Euro im Konjunkturprogramm zur Verfügung gestellt, damit relativ schnell Stallumbau stattfinden kann. Ich finde es ganz wichtig, dass wir diesen Prozess so gestalten, dass wir nicht zum Schluss keine Bauern mehr in Deutschland haben, die Tiere halten; davon haben wir dann auch nichts gewonnen.
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Ich freue mich, dass es vielleicht – ich bin ganz vorsichtig – eine Chance gibt, dass nach dem Kastenstandsurteil im Bundesrat über die umstrittene Kastenhaltung abgestimmt wird und dass der damit verbundene Umbauprozess auch wirklich in Gang kommen kann. Wir wissen alle, dass das mehrere Jahre dauern wird. Das ist nicht von heute auf morgen zu machen; aber wir müssen beim Tierwohl unbedingt etwas tun.
Ich glaube, wenn wir auch der Bevölkerung offen gegenübertreten und sagen: „Wir wollen Tierhaltung in Deutschland, wir wollen sie aber zu vernünftigen Bedingungen; wir haben mit dieser Borchert-Kommission gezeigt, dass gemeinsam mehr möglich ist, als wir dachten, und jetzt gehen wir diesen Weg mal ohne Schaum vorm Mund und nehmen die Bauern mit“ – Sie haben recht: viele Bauern sind da auch schon ein Stück weiter –, dann haben wir was Wesentliches geschafft, sind aber längst noch nicht an dem Punkt, wo wir sein müssten.
Dass viele Rinder oder Schweine aus dem Ausland, aus Dänemark zum Beispiel, hier in Deutschland geschlachtet werden, weil es hier so schön billig ist und man es bei sich zu Hause nicht machen kann, das halte ich nicht für den erstrebenswerten Vorgang, sondern das zeigt nur, dass wir an dieser Stelle auch preislich was tun müssen. Dann muss man auf der sozialen Seite schauen, dass das nicht Menschen vom Fleischessen ausschließt; das ist okay. Aber es kann nicht der Punkt sein, dass Fleisch möglichst billig ist und Tiere möglichst leiden, damit es möglichst sozialverträglich ist. Das ist ja genau das Schwierige: Wirtschaft, Ökologie und Soziales zusammenzubringen.
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Damit beende ich die Regierungsbefragung. Ich bedanke mich bei der Frau Bundeskanzlerin und füge die guten Wünsche – ich vermute, des ganzen Hauses – für die heute beginnende Ratspräsidentschaft an.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Zeit, in der wir heute die Ratspräsidentschaft übernehmen, könnte wohl nicht herausfordernder sein. Das hängt nicht nur damit zusammen, dass es in der Europäischen Union eine Vielzahl von Dossiers gibt, über die seit Jahren ohne Ergebnis verhandelt wird – von Finanzfragen bis zu Migrationsfragen –, sondern auch damit, dass die Covid-19-Pandemie das vereinte Europa nun endgültig vor seine bislang größte Bewährungsprobe stellt – politisch, wirtschaftlich und nicht zuletzt auch hinsichtlich des Vertrauens in die Handlungsfähigkeit Europas insgesamt.
Einer aktuellen Umfrage zufolge hält EU-weit der Großteil der Menschen die Reaktionen der Europäischen Union auf die Coronakrise für unzureichend. Das hat aber weniger etwas damit zu tun, dass die Menschen keine positive Haltung gegenüber der Europäischen Union hätten. Im Gegenteil: Die Mehrheit wünscht sich laut einer Studie mehr Integration, mehr Zusammenarbeit und auch mehr Europa. Für unsere Präsidentschaft muss das ein doppelter Auftrag sein: Wir müssen die in der Krise allzu offensichtlich gewordenen Fehler und Versäumnisse der Vergangenheit abstellen – dazu haben wir allen Schwierigkeiten zum Trotz auch eine Chance –, und parallel müssen wir die Weichen für eine nachhaltige Zukunft stellen.
Der Schlüssel dafür liegt in zwei Begriffen, die so etwas wie die Kurzfassung unseres Präsidentschaftsprogrammes sind: Solidarität und Souveränität. Nur wenn Europa im Inneren solidarisch zusammenhält – das haben wir ja gerade in den letzten Wochen und Monaten gesehen – und noch enger zusammenwächst, wird es auch an Schlagkraft gewinnen und souverän nach außen auftreten können. Wir müssen ganz einfach akzeptieren: Wir leben in einer Zeit einer neuen Großmächtekonkurrenz zwischen den USA, Russland und China, und es gibt kein einziges Land in Europa, das alleine in der Lage ist, seine Werte und Interessen in dieser Situation zu behaupten. Wir können es nur als Europäer tun, und deshalb ist das ein Leitmotiv unserer Ratspräsidentschaft für die kommenden sechs Monate.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Euro- und Finanzkrise und die Auseinandersetzung um Flucht und Migration haben in den letzten Jahren die Gräben zwischen unseren Ländern in der EU vertieft, weil es auch an Solidarität gefehlt hat, und diesen Fehler dürfen wir nicht wiederholen. Deshalb haben Deutschland und Frankreich mutige Vorschläge für einen echten europäischen Aufbauplan raus aus der Krise vorgelegt.
Doch das ist erst der Anfang. Entscheidend wird am Schluss die Antwort auf die Frage sein, ob es uns gelingt, Europa nicht nur durch diesen Plan im Ergebnis nachhaltiger, sozialer, widerstandsfähiger und innovativer zu machen. Es geht um wirtschaftliche Erholung und die Rettung von Arbeitsplätzen, es geht um Klimaschutz und die Stärkung unserer Gesundheitssysteme, und es geht darum, Engpässe abzustellen – etwa bei der Medikamentenversorgung –, ohne dadurch den freien Handel auf den Kopf zu stellen.
Die Einigung auf den mehrjährigen Finanzrahmen und das Aufbauinstrument wird daher die Nagelprobe auf unserem Weg aus der Krise und deshalb erst einmal auch die oberste Priorität unserer Präsidentschaft sein. Davon hängen unsere Zukunft und die Zukunft Europas ab.
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Die Sorgen der Bürgerinnen und Bürger in der EU wollen wir dabei in den Mittelpunkt stellen. Zum ersten Mal in der Geschichte werden die Bürgerinnen und Bürger in der EU im Rahmen der SURE-Initiative eine Unterstützungsleistung wie unser Kurzarbeitergeld bekommen. Und wir wollen mit einem europäischen Rahmen für nationale Mindestlöhne, einer europäischen Arbeitslosenrückversicherung sowie einer stärkeren Rechenschaftspflicht in den weltweiten Lieferketten noch weitergehen.
Als wäre das auch noch nicht genug, wollen wir auch die komplexen und schwierigen Verhandlungen mit Großbritannien über unser zukünftiges Verhältnis – das wird eine der großen Pflichtaufgaben dieser Präsidentschaft sein – bis zum Jahresende abschließen. Und auch dabei kommt es auf den Zusammenhalt der Mitgliedstaaten an. Aber wir müssen auch schon zum jetzigen Zeitpunkt ganz klar feststellen, dass erst mal London – und das kommt einem alles wie ein Déjà-vu vor – klar sagen muss, ob es künftig noch eng an die Europäische Union angebunden sein will. Und daran bestehen im Moment – zumindest angesichts der Tatsache, wie die Verhandlungen geführt werden, wenn man es überhaupt „Verhandlungen“ nennen kann – ernsthafte Zweifel. Im Ergebnis hängt es davon ab, auf welche gemeinsamen Regeln und Standards wir uns überhaupt noch verständigen können. Wir wollen das, und wir werden auch daran hart arbeiten.
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Ebenso, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind Zusammenhalt und Solidarität auch bei der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems entscheidend – auch ein Thema, das uns schon viel zu lange in der Europäischen Union beschäftigt, ohne dass es eine Lösung gegeben hat. Und deshalb lautet unsere Botschaft an die Bremser: Europäische Solidarität bemisst sich nicht allein in Euro bei Haushaltsverhandlungen; europäische Solidarität braucht es auch beim Umgang mit Flucht und Migration. Und das werden wir in den kommenden sechs Monaten auch einfordern.
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Noch etwas ist untrennbar mit Solidarität verbunden, nämlich die Fähigkeit, europäische Werte und Interessen in einer immer härteren Großmächtekonkurrenz zu behaupten. Das ist das, was ich eben schon einmal als europäische Souveränität bezeichnet habe. Die Pandemie hat uns unsere strategischen Abhängigkeiten, und zwar in alle Himmelsrichtungen, schonungslos vor Augen geführt. Und hier Veränderungen herbeizuführen, ist das zweite große Ziel unserer Präsidentschaft.
Wir brauchen gegenüber China den engen Schulterschluss aller 27 Mitgliedstaaten. Ich will einmal zu den aktuellen Entwicklungen rund um das neue Sicherheitsgesetz in Hongkong sagen: Das zeigt uns ja gerade, wie notwendig es ist, als Europäische Union in Gänze darauf zu reagieren. China muss seine Zusagen, die es der internationalen Staatengemeinschaft gegeben hat, einhalten und die Rechte und Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger Hongkongs wahren.
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Das werden wir als Europäische Union einfordern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, solche Erwartungen werden jedoch nur dann gehört – und darauf kommt es an, nicht nur in den nächsten sechs Monaten –, wenn wir sie eben geschlossen an Länder wie China richten. Und daran werden wir arbeiten. Wir wollen deshalb auch das EU-China-Treffen der Führungsspitzen so schnell wie möglich nachholen und im Vorfeld eine kohärentere EU-China-Politik entwickeln.
In unsere Ratspräsidentschaft fallen auch die US-Wahlen im November. Wir wollen dafür sorgen, dass Europa dann mit einer klaren Zukunftsagenda für die transatlantische Partnerschaft auf die neue Administration, unabhängig davon, wie sie aussieht, zugehen kann. Und, meine Damen und Herren, ich will Ihnen noch etwas sagen – es gibt ja den einen oder anderen, der Hoffnungen für den Ausgang der Präsidentschaftswahlen hat –: Ich bin fest davon überzeugt, dass das veränderte transatlantische Verhältnis nicht in erster Linie davon abhängig sein wird, wer die Präsidentschaftswahlen gewinnen wird. Vielmehr hat sich das transatlantische Verhältnis in den letzten Jahren – im Übrigen, wenn man genau hinschaut, über die letzten vier Jahre hinaus – verändert. Wir brauchen auch dafür eine Strategie. Und die ist nicht in erster Linie davon abhängig, wer im nächsten Jahr im Weißen Haus sitzen wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in unserer unmittelbaren Nachbarschaft liegt der westliche Balkan. Auch er wird ein Thema sein, bei dem wir uns engagieren müssen, weil wir hier eine Perspektive schaffen wollen. Diese Länder wollen eine europäische Perspektive.
Meine Damen und Herren, jede Krise hat ihre eigene Sprache. Von der Euro- und Finanzkrise blieben uns Worte wie „Troika“ und „Rettungsschirm“. In der Flüchtlingskrise waren es „AnkER-Zentren“ und „Transitzonen“. Von der Coronakrise kann hoffentlich mehr bleiben als „Social Distancing“ und „Maskenpflicht“. Deshalb lassen Sie uns in den nächsten Monaten gemeinsam dafür sorgen, dass Solidarität und Souveränität diese Krise überdauern, und uns für alles wappnen, was noch kommen wird.
Herzlichen Dank.
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Kollege Bystron erhält Gelegenheit für eine Kurzintervention.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister, Sie haben die beiden Begriffe „Solidarität“ und „Souveränität“ genannt. Gleichzeitig haben Sie gesagt, Sie möchten die Solidarität einfordern. Da muss es doch allen Ländern in Mittel- und Osteuropa angst und bange werden, wenn Sie im Rahmen der deutschen Ratspräsidentschaft von ihnen etwas einfordern wollen. Und Sie haben es im gleichen Atemzug auch schon genannt: Sie sagen, Sie möchten die Verteilung von Migranten in Europa einfordern, also im Prinzip erzwingen.
Sie haben uns heute Morgen im Ausschuss gesagt – der tschechische Minister war gestern hier –, Sie hätten die Sorgen und Nöte der Visegradländer wahrgenommen. Und trotzdem wollen Sie da mit dem Kopf durch die Wand. Möchten Sie das noch einmal überdenken, bitte? Mittel- und Osteuropa folgen Ihnen da seit Jahren nicht, und diese Länder und die Menschen in diesen Ländern möchten das nicht. Also bitte: Diktieren Sie nicht hier aus Berlin solche Sachen, die diese Länder nicht möchten.
Danke.
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Vielen Dank. – Ich kann Ihnen keine Hoffnung machen. Ich werde das nicht überdenken, weil ich fest davon überzeugt bin,
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dass die Europäische Union für die, die ihr angehören, Pflichten und Rechte mit sich bringt. Viele in der Europäischen Union profitieren in einem ungeheuren Ausmaß von der Europäischen Union – finanziell, aber eben nicht nur finanziell.
Es gibt auch andere Dinge, die wichtig sind, denen wir uns in den Grundwerten der Europäischen Union verschrieben haben. Die gelten aber auch für alle. Und deshalb kann man innerhalb der Europäischen Union nicht nur Rechte für sich in Anspruch nehmen, sondern muss auch den Pflichten, die man hat, nachkommen. Und das wird ein Thema in der deutschen Ratspräsidentschaft werden.
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Vielen Dank. – Wir fahren in der Debatte fort. Als Nächster spricht für die Fraktion der AfD deren Vorsitzender Dr. Alexander Gauland.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Mathematikunterricht der Grundschule lernen die Kinder, sich in Zahlenräumen zurechtzufinden, die immer größer werden – zuerst von 1 bis 10, dann bis 100, dann bis 1 000 usw. Später lernen die Menschen dann, was die richtig großen Zahlenräume sind und wer sich in ihnen bewegt –
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Astrophysiker zum Beispiel und EU-Finanzpolitiker.
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Seit es die Europäische Union gibt, ist das Verhältnis der Deutschen zur Milliarde ein geradezu intimes geworden. In der Regel fließen diese Milliarden in ein Land, das angeblich gerettet werden muss. Täglich grüßt nicht das Murmeltier, sondern die Milliarde aus der Zeitung oder den TV-Nachrichten. Irgendwo in Deutschland müssen sie ja wachsen, diese Milliarden.
Frau von der Leyen ließ sich nicht lumpen und brachte Ende vergangenen Jahres sogar die Billion ins Spiel. Das sind 1 000 Milliarden Euro – nur so zum Zahlenraumverständnis: eine Eins mit zwölf Nullen. So viel werde die EU ausgeben, um Europa bis 2050 in den ersten klimaneutralen Kontinent der Erde zu verwandeln. Damit stand auch das Motto der deutschen Ratspräsidentschaft fest.
Bekanntlich, meine Damen und Herren, kam etwas dazwischen: Ein Virus aus Asien durchkreuzte diese frommen Pläne. Die Fridays-for-Future-Teenager konnten erfahren, wie sich eine echte Krise anfühlt, und mussten in den Lockdown.
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Und nun hören wir in den Nachrichten von dreistelligen Milliardenbeträgen gegen die Nachwirkungen des Corona-Lockdowns, die zusammen beinahe auf jene Summe hinauslaufen dürften, die Frau von der Leyen zur Bändigung der Weltgeißel Kohlendioxid ausgeben wollte.
Statt in die CO2-neutrale Wirtschaft wird das Geld zunächst also in die Coronafolgenbeseitigung fließen. Wir haben nur eine bange Frage an die Bundesregierung und die EU-Führung: War’s das dann, oder wollen Sie immer noch 1 Billion für Gretas Märchenwelt nachschießen?
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Die Coronakrise hat der Brüsseler Bürokratie buchstäblich ihre Grenzen aufgezeigt – Herr Minister, da bin ich ganz anderer Meinung als Sie –: Sie hat gezeigt, wie wenig die EU in der Lage ist, die Probleme der Bürger Europas zu lösen. Als es ernst wurde, zogen sich die Menschen in ihre nationalen Klausuren zurück, und das wird auch weiter so sein.
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Die Fixierung von EU-Kommission und Bundesregierung auf allerlei grüne Illusionen und den Fundamentalumbau von Wirtschaft und Gesellschaft sind ebenso falsch wie die Tendenz, immer mehr Kompetenzen auf die europäische Ebene zu verlagern.
Inmitten der täglichen Meldungen über Corona und den anstehenden Wiederaufbau Europas ist beispielsweise eine Nachricht nahezu untergegangen: Italien wäre ohne die Alimente der EZB pleite. Im April und Mai hat einer Reuters-Meldung zufolge die EZB fast alle neuen Schulden Italiens aufgenommen. Niemand sonst auf dem Kapitalmarkt war noch zum Kauf italienischer Staatspapiere in größerem Umfang bereit. Diese faktische Staatsfinanzierung über die Notenpresse ist nicht nur ein Bruch aller europäischen Verträge, sondern sie führt unweigerlich in die Inflation.
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Zugleich erfahren wir, dass Deutschlands jährlicher Beitrag zum EU-Haushalt nach den Plänen der Europäischen Kommission in den kommenden Jahren um 42 Prozent steigen soll. Meine Damen und Herren, man muss es immer von Neuem sagen: Diese EU ist unter der Maßgabe gegründet worden, dass kein Land für die Schulden eines anderen haftet.
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Italien hat ein deutlich höheres Pro-Kopf-Vermögen als Deutschland. Deutschland ist keineswegs reich, wie immer von interessierter Seite behauptet wird, sondern leistungsfähig. Ich habe keine Ahnung,
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wie die Bundesregierung den Deutschen erklären will, dass sie jetzt wahrscheinlich die deutlich wohlhabenderen Italiener retten sollen. Stattdessen, meine Damen und Herren, ist es eher an der Zeit, Illusionen aufzugeben und die Italiener und die Griechen in eine eigene Währung zu entlassen,
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die von einer in Rom und Athen verantworteten Wirtschafts- und Sozialpolitik gestützt oder eben auch geschwächt wird, je nachdem.
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Meine Damen und Herren, diese EU steht in Flammen, und zwar nicht nur finanziell. Herr Macron hat im Februar erklärt, er wolle die an islamische Separatisten verlorenen Teile der Republik zurückerobern.
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In diesen verlorenen Gebieten der Republik lässt sich heute besser kein Weißer blicken, erst recht kein Jude und auch keine Frau, die meint, über ihr Aussehen selbst bestimmen zu dürfen. Die Osteuropäer, denen unsere EU-Zentralisten verbindliche Migrantenquoten aufzwingen wollen – Herr Maas hat das auch wieder getan –, werden genau hingehört haben. Wer etwas gar nicht erst verliert, muss es auch nicht zurückerobern, und so wird es für die Osteuropäer bleiben.
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Wir sind zwar noch nicht so weit wie in Frankreich, aber auf dem Wege. Am 22. Mai erhielt das Polizeipräsidium Duisburg ein Schreiben, in dem es hieß – ich zitiere mit Genehmigung des Präsidenten –:
… Duisburg-Marxloh ist unser Stadtteil. … Wir verbieten allen Ungläubigen, unseren Stadtteil zu betreten. Alle Polizisten, Journalisten und auch andere Ungläubige werden wir mit Waffengewalt vertreiben oder töten. … Allahu akbar …
Die von den Medien wundersam schnell vergessene Party- und Eventszene in Stuttgart, in der Boris Palmer viele Zugewanderte ausgemacht hat, hat einen weiteren Blick in eine Zukunft eröffnet, die mit jener goldenen Zukunft, wie sie in EU-Hochglanzbroschüren gepriesen wird und wie sie der Herr Minister gerade wieder angepriesen hat, wenig zu tun hat.
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Dort, meine Damen und Herren, kommen solche desillusionierenden Tatsachen nicht vor. Die europäischen Nationen werden die meisten Probleme vor ihrer eigenen Haustür lösen müssen. Brüssel wird es nicht für sie tun. Die zweite deutsche Ratspräsidentschaft könnte sonst die letzte sein.
Ich bedanke mich.
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Vielen Dank. – Als Nächstes spricht für die Fraktion der CDU/CSU die Kollegin Dr. Katja Leikert.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Gauland, aus der Zeitung grüßt nicht täglich das Murmeltier mit irgendwelchen mathematischen Zahlenspielen, sondern wenn wir morgens die Zeitungen aufschlagen, dann lesen wir von „der größten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg“ oder von „Europas Stunde null“.
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Die gegenwärtige Lage in Europa ist sehr ernst.
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Wir erwarten einen EU-weiten Wirtschaftseinbruch von mehr als 7 Prozent. Allein in Deutschland sind 7 Millionen Menschen in Kurzarbeit, so viel wie nie zuvor.
Es ist das Restaurant bei mir um die Ecke – ich weiß nicht, wie es bei Ihnen aussieht –, das von der Schließung bedroht ist.
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Es sind Hunderte von Flugzeugen, die mehr am Boden stehen, als dass sie fliegen, und es sind die Strände in Kroatien, Italien und Spanien, die so leer sind wie nie zuvor. In dieser Situation hilft eben kein vorurteilbeladenes Fingerzeigen, wie Sie das immer machen
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mit Ihrem Italien-Bashing, und es hilft kein Durchlavieren oder etwa der Rückzug ins nationale Kleinklein.
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Wir von der CDU/CSU-Fraktion wollen, dass Europa gerade in schwierigen Zeiten zusammenhält und mit einem intelligenten Zukunftsprogramm gestärkt aus der Krise hervorgeht.
Mit der heute beginnenden Ratspräsidentschaft leiten wir die Neuausrichtung Europas ein. Was stellen wir uns da vor? Wir brauchen weder einen Hamilton- noch einen Trump- oder gar einen Xi-Jinping-Moment. Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen einen echten Europamoment. Damit meine ich: Wir in Europa müssen selbstständiger und widerstandsfähiger und eben auch schneller werden. Und genau das haben wir getan: Wir haben ein großes Hilfspaket auf den Weg gebracht – der Minister hat es ausgeführt –, und aktuell debattieren wir ein großes Finanzpaket von 500 bis 750 Milliarden Euro an Darlehen und Zuschüssen für die Stärkung Europas.
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– Hören Sie zu, wofür wir das brauchen.
Die Erwartungen an die deutsche Ratspräsidentschaft sind hoch, mit diesem Geld das Richtige zu tun. Für uns als CDU/CSU-Fraktion ist auch ganz klar: Die Gelder müssen an Reformprogramme gebunden sein. Sie müssen transparent vergeben werden, dies muss kontrolliert werden, und es muss einen klaren Rückzahlplan geben.
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Auch der Zweck ist klar: Die Mittel sind ausschließlich für die Krisenbewältigung zum Beispiel im Gesundheitswesen und für Zukunftsinvestitionen einzusetzen.
Lassen Sie mich drei zentrale Punkte hervorheben, die zeigen, wie wir jetzt die Europäische Union stärken können.
Erstens müssen wir den Binnenmarkt weiterentwickeln. Dass von den 100 wertvollsten Plattformen in der Welt gerade einmal 3 Prozent aus Europa kommen, ist einfach zu wenig. Es ist ein klarer Auftrag an uns: Wir müssen unseren digitalen Binnenmarkt mit eigenen europäischen Champions stärken. Auch hier handeln wir bereits. Mit Gaia-X bauen wir eine europäische Dateninfrastruktur auf, und, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen genau das: mehr digitale Souveränität und weniger Absatzmarkt für Amazon und Alibaba.
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Zweitens müssen wir unsere Wirtschaft wettbewerbsfähiger machen. Wir müssen dabei den Fokus stärker auf Wettbewerbe außerhalb der Europäischen Union legen. Sie erinnern sich alle bestimmt an die gescheiterte Fusion von Siemens und Alstom. Genau deswegen begrüße ich das vor zwei Wochen von der Kommission vorgelegte Weißbuch zur Gewährleistung fairer Wettbewerbsbedingungen. Es darf in der jetzigen Situation eben nicht sein, dass Impfstoffhersteller aufgekauft oder Arzneimittel knapp werden. Auch ein KUKA 2.0 darf es so nicht geben. Mit solchen Shoppingtouren von Drittstaaten in Europa muss jetzt Schluss sein.
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Drittens müssen wir jetzt in die nachhaltige Transformation unserer Wirtschaft investieren. Als Hanauer Abgeordnete kenne ich mich gut mit Märchen aus. Aus Hanau kamen die Brüder Grimm, Herr Gauland.
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Es ist aber sicherlich kein Märchen, wenn wir vom weltweiten Klimawandel sprechen. Wir von der Union begrüßen den Green Deal der Kommission ausdrücklich. Dazu haben wir uns ehrgeizige Ziele gesetzt. Ich erzähle meinen Kindern gerne Märchen, aber ich erzähle ihnen auch gerne von dem Klimaziel, das wir uns gesetzt haben:
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bis 2050 die Europäische Union klimaneutral zu machen.
Das erfordert von uns allen eine große Anstrengung: unser Wirtschaftsleben und unseren privaten Konsum auch wirklich nachhaltig zu gestalten. Die Kommission bringt in den nächsten sechs Monaten die EU-Biodiversitätsstrategie und die Kreislaufwirtschaftsstrategie nach vorne. All das werden wir positiv und natürlich auch kritisch begleiten.
Abschließend lassen Sie mich bitte noch ein Anliegen deutlich machen, das mir besonders wichtig ist, weil die Europäische Union ja mehr ist als Binnenmarkt und Währungsunion. Wir möchten ein Europa, in dem das Wertvollste, was wir haben – unsere Kinder –, auch sicher ist. Die letzten Erkenntnisse zu dem Pädophilen-Netzwerk mit 30 000 Tatverdächtigen in Nordrhein-Westfalen sind einfach widerwärtig. Ich brauche hier nicht auszuführen, dass der Rechtsstaat seine Mittel maximal ausschöpfen muss, um Kindesmissbrauch und die seuchenhafte Verbreitung von Kinderpornografie schlagkräftig zu bekämpfen. Meine Fraktion hat sich dafür schon lange eingesetzt. Daher begrüßen wir, dass die Europäische Union im Juli einen Aktionsplan zur Bekämpfung von Kindesmissbrauch vorlegen wird. Dieser wird von uns während unserer Ratspräsidentschaft unterstützt. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den anderen Fraktionen, bitte machen Sie alle mit.
Ich freue mich auf eine engagierte und hoffentlich ergebnisreiche Zeit der deutschen Ratspräsidentschaft.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der FDP der Kollege Alexander Graf Lambsdorff.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! An die deutsche Ratspräsidentschaft werden große Erwartungen geknüpft. Das macht sich überwiegend an der Person der Bundeskanzlerin fest, die als längstdienende Regierungschefin in der Europäischen Union viel Erfahrung hat und großes Vertrauen genießt. Aber wenn man auf ihre Minister und deren Ressorts guckt, dann sieht das ganz anders aus. In der Coronakrise hat Deutschland europapolitisch maximalen Schaden angerichtet.
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Mit der Ausfuhrsperre durch Innenministerium und Gesundheitsministerium zu Anfang März, als in Italien die Menschen bereits starben und die emotionale Belastung dort enorm war, hat diese Bundesregierung den Binnenmarkt kaputtgemacht.
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Ich will es ganz deutlich sagen – Herr Maas, Sie haben das damals verteidigt –: Es war die Bundeskanzlerin, die hier im Bundestag gesagt hat, dass das ein Fehler ihrer Minister war und dass Deutschland wegen unserer integrierten Wertschöpfungsketten einen offenen Binnenmarkt braucht. Ich hoffe, dass alle Ressorts, alle Ministerien während der Präsidentschaft jetzt wirklich europäisch denken. Namens der Fraktion der Freien Demokraten wünsche ich der Bundesregierung viel Glück für eine gelungene Präsidentschaft für unser gemeinsames Europa.
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Wir stehen – die Kollegin Leikert hat es gerade gesagt – vor einem Herbst der Unternehmenspleiten und der Arbeitsplatzverluste. Wir sehen Europa auf dem Weg in eine Wirtschaftskrise und auch in eine soziale Krise. Deswegen ist aus Sicht meiner Fraktion eines klar: Diese Präsidentschaft muss eine Wirtschaftspräsidentschaft werden. Ich will in diesem Zusammenhang drei Themen ansprechen: den mehrjährigen Finanzrahmen, also die Haushaltsplanung, das Erholungsprogramm „Next Generation EU“ und den Brexit.
Wir erwarten bei der mehrjährigen Haushaltsplanung Modernität und Flexibilität. Wir erwarten – wir Freie Demokraten stehen dazu – auch einen größeren Haushalt. Modern, das heißt, es muss in Forschung investiert werden. Die transeuropäischen Netze in den Bereichen Digitalisierung, Verkehr und Energie müssen gestärkt werden gegenüber den alten Politiken von Kohäsion und Strukturverteilungsmechanismen. Wir wollen einen flexibleren Haushalt, in dem es mehr gegenseitige Deckungsfähigkeit gibt. Wir wollen einen größeren Haushalt, dessen Mittel richtig ausgegeben werden: nicht Nachfragepolitik und Strohfeuer entzünden, sondern angebotsorientiert Wettbewerbsfähigkeit steigern.
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So wird Europa aus der Krise kommen. Die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten müssen aus der kommenden Wirtschaftskrise herauswachsen. Das ist völlig klar.
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Kommen wir zu „Next Generation EU“, dem Plan der Kommission. Er soll zielgerichtet und schnell sein. Aber ist er das wirklich? Das ist die Coronaantwort der Europäischen Kommission, aber von den 750 Milliarden Euro sind gerade einmal 9 Milliarden für den Gesundheitssektor vorgesehen. Zielgerichtet geht in meinen Augen anders. Es soll schnell gehen, heißt es, aber alles soll das reguläre Haushaltsverfahren der Europäischen Union durchlaufen. Es gibt weder eine mittelfristige Finanzplanung noch einen Haushalt für 2021. Warum spielt die Europäische Investitionsbank keine stärkere Rolle? Warum setzt man nicht stärker auf Kredite statt auf Zuschüsse? Warum holt man nicht die Bank, die schon mit dem Juncker-Fonds bewiesen hat, dass sie es kann, dazu und stärkt sie? Mehr Kredite, weniger Zuschüsse, zielgerichteter und schneller – daran werden wir diese Präsidentschaft messen.
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Die Kanzlerin hat in einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ bezüglich der Brexit-Verhandlungen gesagt: Der Ball liegt in London. – Das stimmt natürlich bis zu einem gewissen Punkt. Aber mir klingt das etwas zu passiv, ehrlich gesagt. Ich erwarte schon, dass die Bundesregierung sich dafür einsetzt, dass wir zumindest ein schlankes Rahmenabkommen vor Ende des Jahres hinbekommen. Denn eines ist klar: Dass nach dem Coronaschock jetzt noch ein ungeordneter Austritt Großbritanniens aus dem Binnenmarkt obendrauf gesetzt wird, das kann sich wirklich niemand wünschen. Deswegen erwarten wir mehr Einsatz für das Abkommen. Mehr als 30 000 deutsche Unternehmen handeln jeden Tag mit Großbritannien. Die brauchen keinen Schock. Die brauchen ein entsprechendes Rahmenabkommen. Auch daran werden wir Sie messen.
Mein letzter Punkt, der für uns Liberale besonders wichtig ist: Wir wollen, dass die Rechtsstaatlichkeit gestärkt wird. Wir wollen, dass in Ungarn, wo das Parlament fast abgeschafft wurde, dass in Polen, wo kurz vor der Präsidentschaftswahl das Wahlrecht noch hopplahopp geändert werden sollte,
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ein Bewusstsein dafür entsteht, dass, wer die Werte Europas mit Füßen tritt, nicht mit vollen Händen die Mittel Europas absahnen kann.
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Wir werden Sie daran messen, ob es gelingen wird, eine starke Rechtsstaatskonditionalität in die Haushaltsplanungen einzubauen. Wir Liberale werden darauf sehr genau achten.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Alexander Ulrich für die Fraktion Die Linke.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Europa wieder stark machen“, das Motto der deutschen Ratspräsidentschaft beinhaltet, dass Europa schwach ist, und Europa ist tatsächlich in vielen Punkte schwach: das totale Versagen in der Flüchtlingspolitik, Austerität als die falsche Antwort auf die Finanz- und Euro-Krise und dann auch noch der Austritt Großbritanniens. In vielen Punkten ist Europa richtig schwach, das hat die Coronapandemie einmal mehr deutlich gezeigt; denn es ging nicht um Solidarität, jeder war nur für sich. Wenn wir so weitermachen, wird Europa tatsächlich zugrunde gehen.
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Herr Außenminister, Sie haben gesagt, Sie kämpfen während der Ratspräsidentschaft für ein souveränes Europa. Aber wir brauchen nicht nur einen China-Dialog. Wir brauchen vor allen Dingen auch einen transatlantischen Dialog mit den USA; denn was mit Nord Stream 2 passiert, ist ein Angriff auf die Souveränität Europas, auf die Souveränität europäischer und deutscher Entscheidungen. Da braucht es eine klare europäische Antwort.
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Wenn wir nicht deutlich machen, dass wir es nicht zulassen, dass die USA über unsere Energiepolitik bestimmen, und dass wir uns von den USA nicht unsere demokratischen Entscheidungen diktieren lassen, dann hat Europa abgedankt. Das können wir nicht zulassen. Daran werden wir Sie im nächsten halben Jahr messen.
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Wir sagen: Europa wird nur dann wieder ein Projekt der Menschen, wenn es sozialer wird. Nehmen wir den Wiederaufbaufonds. Die Kollegin von der CDU hat eben gesagt: Das muss an strikte Reformen gebunden werden. – Wir alle wissen, was strikte Reformen bedeuten. Wir wollen die Gesundheitspolitik in den einzelnen Ländern durch den Aufbaufonds stärken. Es war doch die Austeritätspolitik der Troika, die dafür gesorgt hat, dass in vielen südeuropäischen Ländern das Gesundheitswesen vor die Wand gefahren wurde.
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Deshalb muss es wieder aufgebaut werden. Ihre Art von Reformpolitik lehnen wir als Linke ab. Wir brauchen echte Solidarität und kein Diktat nach dem Motto: Betreibt Sozialabbau, dann bekommt ihr europäisches Geld. – Das ist der völlig falsche Weg.
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Wir begrüßen auch, dass es so etwas wie einen europäischen Mindestlohn geben wird. Wir als Linke sagen, er müsste bei 60 Prozent des Durchschnittseinkommens des jeweiligen Landes liegen. Wenn Deutschland zum Vorreiter eines europäischen Mindestlohns werden will, dann ist das, was gestern von der Mindestlohnkommission beschlossen worden ist, eine Farce. Zum 1. Januar soll der Mindestlohn um 15 Cent steigen. Das ist lächerlich. Wir als Linke lehnen das ab. Wir fordern: 12 Euro sofort und dann 60 Prozent des Durchschnittseinkommens in allen europäischen Ländern.
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Wenn wir über den mehrjährigen Finanzrahmen reden, ist es dringend notwendig, deutlich zu machen: Solidarität ist keine Einbahnstraße. Wenn Länder sich weigern, in der Flüchtlingshilfe mitzuhelfen, dann muss ihnen der Geldhahn zugedreht werden. Mit dem mehrjährigen Finanzrahmen und mit dem Wiederaufbaufonds hätten wir das Druckmittel, dies endlich durchzusetzen. Wenn an einer Stelle Solidarität verweigert wird, kann es auch an anderer Stelle keine Solidarität geben. Das muss jetzt endlich durchgesetzt werden.
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Mein letzter Punkt. Wir warten schon seit mindestens zehn, elf Jahren auf die versprochene Finanztransaktionsteuer. Auch jetzt wäre es dringend notwendig, zu sagen: Wir wollen endlich, dass diejenigen, die von der Krise bisher profitiert haben, zur Kasse gebeten werden. Jetzt müsste die Finanztransaktionsteuer eingesetzt werden. Durch den mehrjährigen Finanzrahmen und durch den Wiederaufbaufonds hätte man ein Druckmittel, das endlich europäisch umzusetzen.
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Ich komme zum Schluss. Wir brauchen auch eine Digitalsteuer, damit endlich die Amazons, die Googles usw. zur Kasse gebeten werden; denn diese Krisengewinner sollten endlich auch Steuern zahlen und sich nicht vom Acker machen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Als Nächste spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Dr. Franziska Brantner.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Heute ist ein besonderer Tag. Es ist der Beginn der deutschen Ratspräsidentschaft; die letzte ist 13 Jahre her. Das ist eine große Verantwortung, die Deutschland heute übernimmt, die Verantwortung, die Weichen in dieser besonderen Zeit so zu stellen, dass die EU nach der Krise besser dasteht als zu Beginn: ökologischer, sozialer und souveräner. Dafür braucht es jetzt ein starkes europäisches Konjunkturprogramm und einen starken siebenjährigen Haushalt.
Es ist gut und richtig, dass diese Regierung sich mit der französischen auf europäische Anleihen geeinigt hat. Aber jetzt muss es auch darum gehen, wofür diese Gelder ausgegeben werden. Bis jetzt diskutiert diese Regierung in Brüssel nur über die Rückzahlungsmodalitäten und nicht über die Verwendung der Gelder.
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Das reicht eben nicht. Bis jetzt ist da gar nichts verbindlich. Wir müssen dafür sorgen, dass die Gelder verbindlich in den Klimaschutz und in die Digitalisierung investiert werden.
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Das Europäische Parlament hat vorgeschlagen, dass 30 Prozent dem Klimaschutz dienen und 10 Prozent der Biodiversität. Es gibt unzählige Regierungen, unter anderem die französische, die sich diesem Ziel angeschlossen haben. Worauf warten Sie noch, liebe Bundesregierung? Schließen Sie sich endlich diesem Ziel an!
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Es ist tragisch, zu sehen, wie Manfred Weber in Brüssel den Green Deal Ihrer Kommissionspräsidentin von der Leyen torpediert. Indem er jetzt sagt: „Der Green Deal muss auf Eis gelegt werden“, verpasst er die große Zukunftschance, die in dieser Krise liegt. Es ist unverantwortlich, dass das von Ihnen aus der CDU/CSU kommt.
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Zweitens müssen wir mit diesen Konjunkturmilliarden auch echte europäische Projekte voranbringen. 85 Prozent der Gelder sind für rein nationale Projekte vorgesehen. Dabei wissen wir, dass wir in die europäische Infrastruktur investieren müssen. Schienennetze, Energienetze, grüne Wasserstoffstrategie,
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5G-Netz, digitale Infrastruktur – das sind europäische Infrastrukturen, die wir brauchen; die gibt es nicht umsonst. Wann sollen wir anfangen, darin zu investieren, wenn nicht jetzt? Machen Sie endlich den Anfang, und bringen Sie das als Bundesregierung voran!
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Apropos Warten: Worauf wartet Herr Scholz eigentlich noch bei der Digitalsteuer? Die USA haben klipp und klar gesagt: Wir wollen keine OECD-Lösung bei der Digitalsteuer. Herr Scholz sagt zu dem Programm für die Ratspräsidentschaft wieder: Wir setzen auf eine OECD-Lösung. – Verdammt noch mal, fangen Sie endlich an mit einer europäischen Lösung! Was für ein klareres Signal aus Washington brauchen Sie eigentlich noch, um hier endlich europäisch voranzugehen?
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Herr Maas, unterschreiben Sie keinen Haushalt, der nicht den Rechtsstaat und die Demokratie zur Bedingung macht. Demokratiezerstörer dürfen keine europäischen Steuerzahlergelder bekommen. Es ist unglaublich, dass Ungarn und Polen als einzige Länder immer noch nicht der Europäischen Staatsanwaltschaft beigetreten sind, die gegründet wurde, um dem Betrug im Umgang mit EU-Geldern nachzugehen. Es sind die zwei Länder – Ungarn und Polen –, die sich weigern, der Europäischen Staatsanwaltschaft beizutreten. Ich finde das wirklich nicht mehr nachvollziehbar. Kämpfen Sie dafür, dass diese Länder endlich beitreten!
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Liebe Union – ich kann es Ihnen nicht ersparen; ich werde es in jeder Rede wiederholen –, schließen Sie endlich Orbans Fidesz-Partei aus der konservativen Parteienfamilie aus. Das ist das politische Zeichen, auf das ganz Europa wartet.
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Wir haben in dieser Krise gemerkt, wie abhängig wir sind in den Bereichen der Medizin und der Schutzgüter. Wir haben gesehen, wie reflexhaft nationale Grenzen geschlossen werden; Herr Lambsdorff hat es gesagt. Wir haben sogar Exportverbote gesehen; das hätte ich mir nie vorstellen können.
Wir haben gesehen, wir verwundbar wir sind. Die deutsche Ratspräsidentschaft muss jetzt eine europäische Gesundheitsunion voranbringen, eine grenzüberschreitende Taskforce gründen, damit die Zusammenarbeit der Gesundheitsämter vor Ort jetzt anläuft. Es ist mir nicht verständlich, warum Herr Seehofer weiterhin diese grenzüberschreitende Taskforce ablehnt. Da stellt sich mir die Frage, ob er in der nächsten Krise einfach unbedingt wieder die Grenzen schließen will. Wenn das nicht sein Ziel ist, dann muss er jetzt handeln und jetzt Vorbereitungen treffen, damit wir in einer Krise nicht wieder auf Grenzschließungen angewiesen sind. Dieses Handeln erwarte ich von einer Ratspräsidentschaft.
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Es ist auch Zeit, den Handel neu aufzustellen. Wir wissen, dass es nicht gut ist, wenn wir mit Blick auf die Beschaffung von Masken zu 97 Prozent auf China angewiesen sind. Es könnte auch jedes andere Land sein: 97 Prozent Abhängigkeit ist nicht nachvollziehbar. Deswegen brauchen wir eine eigene europäische Produktion, und auch die müssen wir jetzt voranbringen.
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Mit Blick auf fairen Handel: Ich verstehe es nicht, warum diese Bundesregierung jetzt darauf drängt, das Mercosur-Abkommen durchzupeitschen,
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obwohl einige europäische Länder gesagt haben, dass sie eindeutig dagegen sind; Österreich, Frankreich und weitere. Und sie haben recht, es abzulehnen: Weil es zur Vernichtung des Regenwaldes beiträgt und weil es schweigt zur Verletzung von Menschenrechten.
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Frau Merkel, nutzen Sie diese Chance, um ein neues Abkommen anzufangen, ein faires, ökologisches und soziales Abkommen, das Menschenrechte respektiert.
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– Das ist kein Protektionismus, sondern das ist ein fairer Handel.
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Herr Johnson will kein Abkommen, Herr Maas. Seit Jahren sagt Herr Johnson, dass sein präferiertes Ziel ist: No Deal. Und weil das so ist und das Datum für eine Verlängerung jetzt abgelaufen ist, bitte ich Sie inständigst, endlich mehr zur Vorbereitung dieses Szenarios zu tun. Wir müssen die Unternehmen besser vorbereiten auf dieses Szenario, und zwar europaweit, damit wir nicht im Zweifel im Herbst gezwungen sind, Kompromisse zu machen, die de facto den Binnenmarkt zerstören.
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Lassen Sie mich enden mit einem Zitat von Goethe, mit Ihrer Erlaubnis, Herr Präsident.
Goethe immer.
Goethe immer. – „Es ist nicht genug, zu wissen, man muß auch anwenden; es ist nicht genug, zu wollen, man muß auch tun.“
In diesem Sinne: Eine gute Ratspräsidentschaft!
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Vielen Dank. – Nächster Redner für die Fraktion der SPD ist der Kollege Johannes Schraps.
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Verehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir hätten uns für unsere heute beginnende Ratspräsidentschaft sicherlich andere und bessere Umstände gewünscht, klar. Niemand kann mit Sicherheit vorhersagen, wie lange uns diese Pandemie mit ihren wirtschaftlichen und sozialen Folgen noch weiter verfolgen wird. Wenn Deutschland ab heute für sechs Monate den Vorsitz im Rat der Europäischen Union übernimmt, dann ist unsere Präsidentschaft ganz zwangsläufig auf gewisse Weise eine Coronapräsidentschaft. Ein großes Ziel ist damit für uns natürlich auch schon klar: Wir wollen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass Europa gemeinsam und solidarisch durch diese Krise kommt.
Neben Corona gibt es noch weitere drängende Themen. Heiko Maas hat von Pflichtaufgaben gesprochen: Sowohl den Brexit und die Verhandlungen zum zukünftigen Verhältnis zwischen EU und Vereinigtem Königreich müssen wir bis Jahresende abschließen als auch die Verhandlungen für den kommenden mehrjährigen Finanzrahmen der Europäischen Union.
Diese Themen werden natürlich viele Kapazitäten binden, die wir gerne in andere Themen gesteckt hätten; doch wir haben in der Vergangenheit gelernt, teilweise lernen müssen, mit Herausforderungen und auch mit Krisen umzugehen.
Nach der Finanzkrise 2008/2009 haben wir große Fortschritte bei der Stärkung der Euro-Zone gemacht. Heute können wir uns darin bestätigt sehen, dass die Reaktionen auf die damalige Krise die richtigen waren. Die danach eingesetzten Instrumente haben uns in der aktuellen Situation die Möglichkeit eröffnet, sehr schnell auf die Krise zu reagieren. Müssten wir diese Instrumente jetzt erst einführen, wir wären lange nicht so gut auf die coronabedingte Rezession vorbereitet, wie das heute der Fall ist.
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Auch deshalb ist, liebe Kolleginnen und Kollegen, mit Blick auf das geplante EU-Wiederaufbauprogramm eine gestärkte Euro-Zone genau das, was wir jetzt brauchen.
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Gut wäre, den Recovery Fund – so wie das in den letzten Tagen besprochen wurde – tatsächlich auch über EU-Eigenmittel zu finanzieren. Wir brauchen zukünftig Gelder, die direkt in den EU-Haushalt fließen. Es wäre deshalb außerordentlich wünschenswert – die Kollegin Brantner hat es angesprochen –, wenn Finanzminister Olaf Scholz in der Bundesregierung und auch bei den europäischen Partnern Unterstützung für seine Pläne findet, europäische Steuerquellen zu erschließen. Eine Einigung auf einen Vorschlag zum Wiederaufbaufonds wäre in jedem Fall ein ganz wichtiges Zeichen europäischer Solidarität, gerade für die Länder, die bisher nicht so gut durch die Krisensituation gekommen sind wie wir.
Wir haben in den letzten Jahren aber noch etwas anderes gelernt: Wenn die EU Mittel vergibt, ohne auf die Einhaltung europäischer Werte und Prinzipien zu pochen, dann kann es passieren, dass diese Prinzipien tatsächlich vernachlässigt werden. Die EU ist aber nicht nur eine Wirtschaftsgemeinschaft; die EU ist auch eine Wertegemeinschaft. Deswegen ist es ganz wichtig, dass Heiko Maas das eben auch auf die Nachfrage noch mal so deutlich gesagt hat. Um sie als solche auch zu schützen, halte ich es für zwingend notwendig, dass wir die Auszahlung aus dem EU-Haushalt mit Rechtsstaatskriterien verknüpfen.
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Die EU-Mittel müssen einbehalten werden können, wenn im Rahmen eines Monitoringverfahrens substanzielle Mängel bei der Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit festgestellt werden. Antidemokraten dürfen sich nicht mit EU-Geldern finanzieren können, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen.
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Wir unterstützen deshalb ganz ausdrücklich, dass die Bundesregierung auch beim Thema Rechtsstaatlichkeit einen ganz deutlichen Akzent setzt, trotz der eben genannten Notwendigkeiten, denen bis Jahresende entsprochen werden muss. Ebenso wichtig ist es, dass wir als Koalitionsfraktionen durch das Einbringen eines gemeinsamen Rechtsstaatsantrags gerade noch rechtzeitig zur Ratspräsidentschaft in dieser Woche auch ein parlamentarisches Signal in diese Richtung setzen.
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Im Februar habe ich hier ausnahmsweise mal mit Krawatte gestanden – die einen oder anderen werden sich daran erinnern; das war die Ratspräsidentschaftskrawatte der letzten deutschen Ratspräsidentschaft von 2007 –, und das habe ich gemacht, auch wenn sie in dem Moment vollkommen aus der Mode war, um daran zu erinnern, dass wir auch 2007 unter schwierigsten Bedingungen in die Präsidentschaft gestartet sind.
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Aber nach den gescheiterten Verfassungsreferenden in den Niederlanden und in Frankreich haben wir damals gemeinsam mit Slowenien und mit Portugal den Vertrag von Lissabon auf den Weg und Europa damit wieder in die Spur gebracht, verehrte Kolleginnen und Kollegen, und das wollen wir auch diesmal wieder hinbekommen.
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Denn auch dieses Mal sind die Voraussetzungen schwierig und die Herausforderungen riesig, gar keine Frage. Aber auch dieses Mal starten wir wieder gemeinsam mit Portugal und Slowenien in eine Triopräsidentschaft, und deshalb bin ich absolut überzeugt davon, dass wir auch dieses Mal mit ganz viel Herzblut und mit ganz viel Begeisterung starke Impulse setzen können, damit auch zukünftige Generationen von der Europäischen Union mit ihren Freizügigkeiten, mit den demokratischen Grundlagen und ihrer wirtschaftlichen Stärke profitieren können.
Wir wollen ein stärkeres und innovativeres Europa, wir wollen ein gerechteres Europa, in dem es sich überall gut leben lässt. Wir wollen ein nachhaltiges Europa, das beim Klima- und Umweltschutz entschlossen vorangeht, und wir wollen ein Europa der gemeinsamen Werte.
Die Kollegin Leikert kennt die Gebrüder Grimm aus Hessen. Herr Gauland, ich komme aus Hameln. Da kennen wir den Rattenfänger, und da lernen wir von klein auf, dass dem nicht hinterherzulaufen ist.
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Deshalb nutzt auch kein Lamentieren über die Umstände dieser Ratspräsidentschaft, sondern es geht nur um gemeinsames Anpacken. Nur wenn es unseren Nachbarn in der EU gut geht, dann geht es auch uns gut. Seien wir also füreinander da, seien wir ein solidarisches Europa!
Ich bedanke mich herzlich für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion der FDP die Kollegin Gyde Jensen.
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Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man der Kanzlerin und dem Außenminister in den vergangenen Wochen ganz genau zugehört hat, wenn sie über die anstehende EU-Ratspräsidentschaft gesprochen haben, dann klang das nach sechs Monaten Coronaschadensbegrenzung. Deutschland als größte Volkswirtschaft in der EU, als bevölkerungsreichstes Land der EU, als Scharnier zwischen den westlichen und östlichen Mitgliedstaaten, diesem Land hätte es gut zu Gesicht gestanden, mit einem kraftvollen, einem zukunftsweisenden Programm der EU die Strahlkraft zurückzugeben, die dieses großartige Projekt verdient.
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Doch statt an einem solchen Programm zu arbeiten, denkt sich die Bundesregierung lieber Rechtfertigungen aus und versucht, schon mal prophylaktisch dafür zu sorgen, dass Erwartungen gesenkt werden.
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Zu dieser Ambitionslosigkeit gesellte sich in der letzten Zeit eine völlig unkoordinierte Welle von Versprechungen und hektischen Ankündigungen. Zum Beispiel erklärte Minister Müller zum Internationalen Tag gegen Kinderarbeit ganz medienwirksam, den Kampf gegen Kinderarbeit zum Schwerpunkt dieser Ratspräsidentschaft zu machen. Im aktuellen Programm allerdings taucht dieses Wort überhaupt nicht mehr auf.
Dieses Vorgehen offenbart ein ganz grundsätzliches Haltungsproblem. Der Großen Koalition fehlt es nämlich auf eklatante Weise an ernsthafter gemeinsamer Gestaltungsbereitschaft, vor allem in der deutschen Außenpolitik. Das macht mir Sorgen; denn als Inhaberin der EU-Ratspräsidentschaft wird die Bundesregierung diese gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik natürlich ganz bedeutend mitgestalten müssen.
Deutschland hat jetzt im Juli zeitgleich die EU-Ratspräsidentschaft und für einen Monat den Vorsitz im UN-Sicherheitsrat. Hier könnte die Bundesregierung richtige Schlagkraft entwickeln – könnte. Wir bräuchten diese Schlagkraft der Doppelpräsidentschaft aktuell mehr denn je, nämlich dabei, das Verhältnis der EU zur Volksrepublik China von Grund auf neu aufzustellen, den „more robust approach“, wie Josep Borell es genannt hat. Stattdessen aber hält die Kanzlerin beinahe schlafwandlerisch an der Doktrin, an dem Narrativ „Wandel durch Handel“ fest, und vorhin in der Kanzlerinbefragung hier sagte sie sogar, sie habe noch nicht mit Außenminister Maas zum Umgang mit der derzeitigen Situation zwischen China und Hongkong gesprochen, weil – ich zitiere – es auch andere wichtige Themen gebe. – Mit Verlaub, Frau Bundeskanzlerin, Herr Minister: So viel Zeit muss sein.
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Aber es ist schon abzusehen, dass sich die Bundesregierung hier vor allem als Bremsblock und eben nicht als Gestalterin betätigen wird.
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Vorgestern hat Präsident Xi das Sicherheitsgesetz für Hongkong unterzeichnet, einen Blankoscheck, um alle Kritiker im In- und Ausland mundtot zu machen, und hat damit einen Völkerrechtsbruch besiegelt.
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Heute sagte Minister Maas im ZDF-„Morgenmagazin“, dass wir uns als EU jetzt sehr schnell sehr klar gegenüber China verhalten müssen.
Herr Außenminister, ich hätte da einen Vorschlag für Sie: Das „sehr schnell“ haben Sie leider schon verwirkt. Bei dem „sehr klar“ haben Sie noch die Möglichkeit, zu wirken. Aber statt hier darum zu bitten, dass China Freiheiten in Hongkong achtet, was es nicht tut, müssen wir doch hier vielmehr ein Signal setzen,
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Sie im Rahmen der Ratspräsidentschaft, indem Sie als erste Amtshandlung auf EU-Ebene entsprechende personenbezogene Sanktionen gegen KP-Funktionäre anstreben und den EU-China-Gipfel absagen. Es ergibt momentan keinen Sinn, auf dieser Ebene zu diskutieren.
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Packen Sie diesen Systemwettbewerb mit der Volksrepublik jetzt voller Ernsthaftigkeit und, wie die Kanzlerin es in der Regierungserklärung ankündigte, mit Leidenschaft an, und zeigen Sie, dass Sie nicht nur sechs Monate verwalten, sondern verstanden haben, dass es in dieser Geopolitik auf deutlich mehr ankommt.
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Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Unionsfraktion der Kollege Florian Hahn.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorweg möchte ich etwas zu Ihnen sagen, Herr Kollege Gauland. Was ich im Geschichtsunterricht in der Schule gelernt habe, ist, dass Ihr politischer Ansatz der Spaltung und Ihr Nationalismus Millionen Menschen und einen ganzen Kontinent in Krieg, in Verderben und in den Abgrund gestürzt hat, und deswegen ist meine Erkenntnis daraus, dass ein geeintes Europa der Schlüssel für Frieden, Freiheit und Wohlstand für uns alle ist.
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Heute übernehmen wir die EU-Ratspräsidentschaft, und ich habe eine Überschrift gelesen, die da hieß: Riesige Erwartungen treffen auf gewaltige Herausforderungen. – Ich finde das tatsächlich sehr treffend. Wenn ich mir das Präsidentschaftsprogramm der Bundesregierung anschaue, sehr geehrter Herr Außenminister, dann kann ich nur sagen: Ich glaube, das Programm wird schon mal den Erwartungen und den Herausforderungen gerecht. Ich möchte ein paar Punkte aus meiner Sicht und aus Sicht meiner Fraktion dazu nennen.
Wir brauchen einen gemeinsamen wirtschaftlichen Wiederaufbau. Angesichts der Coronapandemie ist schnelle Hilfe für die am stärksten von der Krise betroffenen Länder gefordert. Deshalb ist der Erholungsfonds das richtige Zeichen in einer Krise, in die ganz Europa unverschuldet geraten ist. Der Erholungsfonds muss aber ein Ausnahmefall bleiben. Die Rückzahlungen der Kredite darf man nicht der nächsten Generation allein aufhalsen, sondern man muss so früh wie möglich damit beginnen, diese dann auch wieder abzubauen, und zwar mit einem klaren Tilgungsplan.
Wir brauchen einen zukunftsorientierten Haushalt. Wir setzen dabei auf Augenmaß. Neue und erweiterte Aufgaben der EU müssen abgebildet sein, zum Beispiel Investitionen in die digitale und die ökologische Wende und in den Bereichen Verteidigung, Migration und Grenzschutz, aber auch traditionelle Politikfelder wie die Landwirtschaft.
Klar ist aber auch: Deutschland kann hier nicht überbelastet werden. Deswegen bestehen wir weiterhin auf unsere Rabatte, und deswegen lehnen wir weiterhin eine Umverteilung und jede Form von Transferunion ab.
Wir müssen außerdem rasch zu einer soliden Haushaltsführung zurückkehren. Wegen der Folgen der Coronapandemie hat die EU die Haushaltsregeln außer Kraft gesetzt. Langfristig führt jedoch kein Weg an einer soliden Haushaltsführung vorbei. Deshalb müssen wir uns dafür einsetzen, dass der Stabilitäts- und Wachstumspakt stabil bleibt und nicht aufgeweicht wird.
Wir brauchen eine nachhaltige ökologische und digitale Transformation. Klar ist: Corona hat den Klimawandel nicht aufgehalten. Wir müssen weiter ambitioniert bleiben, aber mit Vernunft und Augenmaß.
Das ist auch nichts anderes als das, was Manfred Weber in diesem Zusammenhang geäußert hat, als er nicht etwa gesagt hat: „Wir wollen nichts mehr von dem Green Deal wissen“, sondern er gesagt hat: Wir müssen das vor dem Hintergrund der Coronapandemie überprüfen; denn Nachhaltigkeit bedeutet eben nicht nur Klimaschutz, sondern Nachhaltigkeit bedeutet, Klimaschutz, soziale Auswirkungen und wirtschaftliche Entwicklung unter einen Hut zu bringen. – Nichts anderes hat Manfred Weber gesagt, und dazu stehen wir. Da hat Manfred Weber recht.
Wir brauchen einen verbesserten Schutz der Außengrenzen und eine effektive Steuerung der Migration. Wir wollen eine partnerschaftliche Zusammenarbeit mit dem Vereinigten Königreich erreichen; aber es muss auch einen Unterschied machen, ob jemand Mitglied der Europäischen Union ist oder nicht.
Wir brauchen auch eine europäische Perspektive für die Länder des Westbalkans. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion bekennt sich ausdrücklich zur europäischen Perspektive für die Länder des westlichen Balkans.
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Zuletzt haben wir die Tür für Albanien und Nordmazedonien aufgestoßen. Jetzt liegt es an den Ländern, die Chance zu ergreifen und tatsächlich durchzugehen.
Herr Hahn, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bystron?
Nein. – Wir brauchen außerdem ein zukunftsfähiges Europa. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt die Pläne der Bundesregierung, die Konferenz zur Zukunft Europas im zweiten Halbjahr 2020 unter deutscher Ratspräsidentschaft in Gang zu setzen. Damit wird die notwendige Debatte über die künftigen inhaltlichen und institutionellen Ausgestaltungen der Europäischen Union angestoßen.
Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Das Motto „Gemeinsam. Europa wieder stark machen“ finde ich gut. Die Alternative für Deutschland wäre das, was die AfD vorschlägt: alleine, ohne Europa, zu schwach zu werden: zu schwach, um die Coronakrise zu bewältigen; zu schwach, um die sicherheitspolitischen Herausforderungen zu meistern; zu schwach, um wirtschaftlich erfolgreich zu sein; zu schwach, um dem Klimawandel zu begegnen; und zu schwach, um unseren Wohlstand und unsere sozialen Errungenschaften zu bewahren.
Deswegen sage ich: „Gemeinsam. Europa wieder stark machen.“ Während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft liegt das Schicksal Europas maßgeblich auch in unseren Händen. Packen wir es gemeinsam an – für eine gute Zukunft Europas.
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Vielen Dank. – Als Nächster spricht der Kollege Andrej Hunko für die Fraktion Die Linke.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu den zahlreichen Erwartungen an die deutsche Ratspräsidentschaft und zu deren Herausforderungen ist in den letzten Tagen leider noch eine dazugekommen, und zwar die Ausweisung der EU-Botschafterin Isabel Brilhante aus Venezuela aufgrund der gerade beschlossenen Verschärfung der EU-Sanktionen gegen Venezuela. Herr Außenminister Maas, ich denke, es ist ein völlig falsches Signal, kurz vor der EU-Ratspräsidentschaft, mitten in der Coronakrise – die ist in Lateinamerika gerade auf dem Höhepunkt – dieses Signal zu setzen. Wir kritisieren das sehr deutlich und denken, das ist falsch.
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Ich weiß, da gibt es einen Unterschied zu den US-Sanktionen. Aber die EU-Sanktionen flankieren natürlich die wirklich kriminellen US-Sanktionen. Ich will einfach noch mal daran erinnern, was der UN-Generalsekretär António Guterres anlässlich der Coronakrise gesagt hat: Es ist nicht die Zeit für Sanktionen. Es ist die Zeit für Solidarität, nicht für Ausschluss. – Dem schließen wir uns ganz klar an.
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Man kann natürlich über verschiedene Entwicklungen in verschiedenen Ländern dieser Welt, zum Beispiel in Venezuela, unterschiedlicher Auffassung sein: wer Präsident ist, wie die Wahlen waren, wer jetzt Parlamentspräsident ist. Der Parlamentspräsident Luis Parra wurde ja jetzt von der EU sanktioniert. Aber ich glaube, was nicht geht, ist, dass ein Teil der Staaten der Welt, in dem Fall rund 50 Staaten, sagt: „Du bist legitim, du bist nicht legitim, und wir setzen jetzt mit Sanktionen und einem Wirtschaftskrieg durch, dass du an die Regierung kommst“, während etwa 100 andere Staaten es wiederum anders sehen. Das ist keine regelbasierte internationale Politik; das ist nicht völkerrechtskonform.
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Ich denke, das Zusammenfallen von Vorsitz im UN-Sicherheitsrat und EU-Ratspräsidentschaft sollte dafür genutzt werden, Völkerrecht, Multilateralismus und eine regelbasierte Ordnung, wie Sie oft sagen, zu stärken und nicht weiter dieses Unwesen zu treiben, das in der internationalen Politik Einzug gehalten hat: immer mehr zu sanktionieren, wenn einem was nicht passt; wir haben zum Beispiel heute hier über Nord Stream 2 diskutiert. Das muss durchbrochen werden! Nutzen Sie die Chance jetzt in dem, ich sage mal, deutschen zweiten Halbjahr, das wir haben, für eine völkerrechtskonforme internationale Politik!
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Gunther Krichbaum.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland übernimmt die Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union in einer sehr schwierigen Situation. Es sind in der Tat große Herausforderungen, und die Erwartungen sind genauso groß. Graf Lambsdorff, wir wissen beide, dass Ratspräsidentschaften in der heutigen Zeit allenthalben eher überschätzt werden. Gleichwohl ist es tatsächlich jetzt an uns, wichtige Akzente zu setzen.
Es klang schon an, auch bei Johannes Schraps: 2007 haben wir die Präsidentschaft in einer analog schwierigen Situation übernommen. Die Situation war nach den negativen Referenda in den Niederlanden und Frankreich über die europäische Verfassung denkbar verfahren. Es gab dann den Ehrgeiz, diese europäische Verfassung, die ja gescheitert war, in der Substanz zu retten. Das hat in der Tat – das würde ich schon sagen wollen – zu gut 90 Prozent die deutsche Ratspräsidentschaft auch geschafft.
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Bis zum heutigen Tag bin ich froh, dass es nicht 100 Prozent waren, weil sonst der Vertrag „Vertrag von Berlin“ und nicht „Vertrag von Lissabon“ heißen würde. Wir müssen mit diesem Etikett „Vertrag von Berlin“ den Brexit und vieles andere mehr managen und Rechtsstaatlichkeit einfordern. Das könnte sehr leicht auch als eine Majorisierung in der Europäischen Union empfunden werden.
Aber – das hat Johannes Schraps genauso zu Recht auch betont – wir sind in eine Triopräsidentschaft eingebettet; das sichert die Kontinuität. Ich würde sogar den Blick noch darüber hinaus werfen wollen, weil in der ersten Jahreshälfte 2022 Frankreich die Ratspräsidentschaft übernehmen wird. Das ist auch der Grund dafür, warum wir heute schon mit Frankreich vieles in der Substanz abstimmen, so auch die EU-China-Strategie. Der Gipfel in Leipzig, der für September anberaumt war, wurde jetzt verschoben. Gleichwohl gilt es natürlich, diese Themen dann auch anzupacken.
Die großen Herausforderungen sind ohne jeden Zweifel der Zusammenhalt der Europäischen Union als solche und die Redynamisierung der europäischen Wirtschaft. Die Zahlen hat Katja Leikert vorhin schon genannt: rund 6,7 Prozent Wirtschaftsrückgang allein in der Bundesrepublik Deutschland, 7,7 Prozent – das ist noch mehr – in der EU. Machen wir uns nichts vor: In der Breite der Bevölkerungen sind diese Wirkungen noch gar nicht angekommen. Aber die Flutwelle kommt; das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Deswegen ist es auch so wichtig, dass wir jetzt die Maßnahmen ergreifen, jetzt die Instrumente zur Verfügung stellen. Es war wichtig und gut, dass Deutschland und Frankreich, Angela Merkel und Emmanuel Macron, hierzu einen Kompromiss haben auf den Tisch legen können.
Graf Lambsdorff, ein Punkt, auf den ich gerne eingehen möchte: Warum Zuwendungen und nicht Kredite? Nehmen wir nur mal als Beispiel Portugal. Portugal hat heute eine Staatsschuldenquote von ungefähr 117 Prozent. Würden wir nur mit Krediten arbeiten, wäre das Land schnell wieder bei 140, 150 Prozent Staatsschuldenquote und damit zurückkatapultiert in die Zeit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2009/2010, mit allen Konsequenzen, mit der Angreifbarkeit, mit Wetten der Finanzmärkte gegen Länder, gegen den Euro. Ob die EZB dann die Kraft hätte, ein „Whatever it takes 2.0“ aufzulegen? Ich habe meine Zweifel.
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Deswegen ist das Vorgehen gut. Rein merkantil betrachtet, können wir von deutscher Seite schon sagen: Ja, das sind alles unsere Märkte. – Wir haben also ein durchaus eigenes Interesse daran, dass die Länder um uns herum nicht notleidend werden.
Aber das alleine macht Europa nicht aus. Es geht um wesentlich mehr. Es geht um den Zusammenhalt, um die Solidarität. Das ist die Europäische Union.
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Zusammen können wir mehr bewirken als jeder Mitgliedstaat für sich alleine. „Gemeinsam. Europa wieder stark machen.“ – das muss die Losung sein. Wenn wir das berücksichtigen bei den jetzt anstehenden Verhandlungen zum mehrjährigen Finanzrahmen, zu den Coronahilfen, natürlich auch bei den Themen Rechtsstaatlichkeit, Klimaschutz, Digitalisierung, aber vor allem auch, wenn es um die Bewältigung des Brexits geht, wenn es darum geht, wichtige Akzente in der Außen- und Sicherheitspolitik zu setzen, dann ist das ein guter Kompass.
Eine letzte Bemerkung sei mir noch gestattet im Hinblick auf Europa. Wir sollten ganze Regionen auch wieder stärker beachten. Das gilt insbesondere für Südosteuropa und die Balkanregion. Jetzt sind die Amerikaner mehr und mehr – man muss schon fast sagen – im Regiestuhl. Man darf daran erinnern, dass Herr Thaci sozusagen schon in der Maschine nach Washington saß, die dann aber wieder umdrehte, nachdem eine Anklage gegen ihn eröffnet wurde. Das zeigt, dass wir als Europäische Union wieder mehr in den Driving Seat zurückmüssen, dass wir wieder zum handelnden Akteur werden müssen. Denn der Balkan ist eine Region, die wir stabilisieren müssen; wir sind auch eine Stabilitätsunion.
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Denn nur Stabilität gibt Sicherheit in Europa, und daran haben wir ein großes Interesse.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Jürgen Hardt für die Fraktion der CDU/CSU.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, dass die deutsche Bundesregierung bei dieser Ratspräsidentschaft mehr auf dem Schreibtisch hat als je irgendeine andere Ratspräsidentschaft eines Landes zuvor; darum ist sie nicht zu beneiden. Ich glaube auch, dass von den übrigen 26 EU-Mitgliedern einige ganz schön froh sind, dass es jetzt ausgerechnet Deutschland trifft, diese Arbeit zu leisten und zu schultern.
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Das ist auch Ausdruck von Respekt und Anerkennung gegenüber unserem Land und unserer Leistungsfähigkeit – auch in europäischen Fragen.
Da ist die Frage der mehrjährigen Finanzplanung der Europäischen Union. Da ist natürlich die Frage des Brexits, die von uns gelöst werden muss. Da ist die Frage der Bewältigung der Coronafolgen. Allein das ist schon genug für zwei Jahre Präsidentschaft; es muss jedoch in sechs Monaten geleistet werden. Es wäre eine tolle Sache, wenn es darüber hinaus gelänge, noch in dem einen oder anderen Politikfeld klare deutsche Präsidentschaftsakzente zu setzen, die über das hinausgehen, was an Pflichtaufgaben vorliegt.
Da denke ich in erster Linie natürlich an die notwendige Stärkung der Europäischen Union in der Außen- und Sicherheitspolitik. Ich glaube, dass es der deutschen Bundesregierung gut ansteht, wenn sie die Säule der europäischen Zusammenarbeit in der Außen- und Sicherheitspolitik auch in ihrer Präsidentschaft stärkt. Wenn ich durch das Programm gehe, weiß ich, dass das auch so ist.
Ich möchte einige Aspekte herausgreifen.
Wie geht die Europäische Union mit China um? Der EU-China-Gipfel ist, glaube ich, aus Coronagründen verschoben worden. Aber es gibt natürlich auch eine ganze Reihe von politischen Gründen, warum dieser Gipfel zum jetzigen Zeitpunkt nicht stattfinden kann. Was den Investitionsschutz angeht, sind wir uns mit China eben noch nicht einig.
Was augenblicklich in China mit Blick auf Hongkong abgeht, ist unakzeptabel. Ich finde es gut, dass die Europäische Union heute Mittag dazu eine gemeinsame Erklärung abgefasst hat. Ich könnte mir sie fast mit noch ein bisschen schärferen Zähnen vorstellen. Aber das ist eben das Dilemma, wenn etwas einstimmig zustande kommen muss. Es wäre schön, wenn gerade bei solchen Dingen, wenn es um Menschenrechts- oder Völkerrechtsfragen in Drittländern geht, die Europäische Union die Kraft hätte, zum Mehrheitsprinzip überzugehen, und man vielleicht doch noch die eine oder andere Formulierung schärfer fassen könnte. Aber es ist natürlich ein wesentlich gewichtigeres Signal, wenn die EU gemeinsam gegenüber China wegen Hongkong auftritt, als wenn das jeder einzelne Mitgliedstaat tun würde und dann genau geguckt werden würde: Wer hat welchen Zungenschlag?
Von daher: klare Verurteilung dessen, was in Hongkong los ist; im Übrigen auch klare Verurteilung dessen, was China gegenüber der Minderheit der Uiguren macht. Die stalinistischen Umerziehungslager und das, was wir daraus hören, ist ein ungeheurer Skandal; da können wir nicht wegschauen. Deswegen brauchen wir eine EU-China-Strategie.
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Außenpolitisch erhoffe ich mir etwas mit Blick auf das Verhältnis der EU zu Russland. Vielleicht ist da etwas drin – keine grundsätzliche Veränderung, aber vielleicht in Bereichen, in denen eine Zusammenarbeit dringend notwendig ist. Wir müssen uns, glaube ich, als Europäische Union an der Seite Finnlands mit Russland allein schon darüber verständigen, wie wir mit dem hohen Norden umgehen, wie wir mit den Bodenschätzen der Arktis umgehen, wie wir Regeln finden und bestimmte Entwicklungen, die dort drohen, verhindern. Ich glaube, dass im Übrigen auch Russland ein Interesse daran hat, in Wirtschafts- und Standardfragen mit der EU enger zusammenzuarbeiten. Vielleicht ist sogar in diesem Feld ein Impuls möglich.
Ich hoffe, dass wir bei Lateinamerika und den Mercosur-Verhandlungen ein Stück vorankommen. Ich freue mich, dass dies im Programm drinsteht und wir vielleicht doch ganz konkret eine Chance haben, dieses wichtige Handelsabkommen ein gutes Stück voranzubringen.
Ich setze darauf, dass sich die Sahelpolitik der Europäischen Union weiterentwickelt. Ja, der geplante Gipfel der Europäischen Union mit der Afrikanischen Union ist eine große Chance, als EU insbesondere im zivilen und stabilisierenden Bereich ein Stück voranzugehen. Und wenn es zum Markenzeichen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft werden würde, dass wir auch in der Afrika- und speziell in der Sahelpolitik ein gutes Stück vorankommen, wäre das super.
Ich denke auch an die PESCO, die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit im Bereich der Sicherheitspolitik. Es ist eine ganze Reihe von Projekten auf dem Weg. Eines ist im Übrigen die Stärkung der Logistik, der Möglichkeit, die nötige Infrastruktur zu haben, damit man sich in Europa mit militärischen Ausrüstungen und mit Truppen sicher bewegen kann. Ich könnte mir vorstellen, dass auch das ein schönes Investitions- und Konjunkturprogramm ist. Man sollte mal überlegen, ob man die Investitionen, die sowieso vorgesehen sind, gegebenenfalls nicht ein Stück vorzieht.
Ich möchte schließlich sagen, dass ich mir von der deutschen Regierung erhoffe, dass wir mit dem Westbalkan, speziell Nordmazedonien und Albanien, ein Stück vorankommen. Klarheit und Wahrheit – bei dem, was uns von diesen Ländern trennt, aber auch bei dem, was uns eint. Auch das könnte das Ergebnis der Präsidentschaft sein.
Ich wünsche alles Gute, viel Glück und vor allem Erfolg bei der Präsidentschaft.
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Vielen Dank. – Damit ist die Aussprache beendet.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Deutschland und Israel sind und bleiben auf besondere Weise durch die Erinnerung und das Gedenken an die Shoah verbunden. Hierin liegt auch die bleibende Verantwortung Deutschlands.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir tun, wie ich finde, gut daran, dieses Bekenntnis zu unserer Verantwortung für Israel dem voranzustellen, worüber wir heute und wahrscheinlich auch in den nächsten Tagen, gegebenenfalls Wochen, intensiv diskutieren werden. Deshalb bin ich froh, dass wir diesen Satz auch in dem vorliegenden Koalitionsantrag noch einmal bekräftigt haben.
Als Deutschland und Israel vor 55 Jahren diplomatische Beziehungen aufgenommen haben, hätte sich kaum jemand vorstellen können, wie eng unsere Länder heute miteinander verbunden sind. Auch das ist ein Grund gewesen, weshalb ich Anfang Juni Israel besucht habe – als erstes außereuropäisches Land nach Ausbruch der Coronapandemie, als erster ausländischer Minister zu Gesprächen mit der frisch vereidigten Koalitionsregierung in Israel. Mit meinem neuen Amtskollegen Gabi Aschkenasi habe ich eine Vereinbarung zur weiteren Förderung der Holocaustgedenkstätte Yad Vashem unterzeichnet. Dank der Mittel, die der Deutsche Bundestag dafür bereitstellt, können wir die Erinnerungsarbeit bis 2031 weiterhin mit jährlich 1 Million Euro unterstützen. Herzlichen Dank an den Deutschen Bundestag für diese wichtige Entscheidung!
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Meine Damen und Herren, der Anlass der Reise war aber natürlich vor allem die Sorge davor, dass Israel, und zwar ab dem heutigen Tag, Schritte zur Annexion von Teilen des Westjordanlandes unternehmen könnte, so wie das die Koalitionsparteien der neuen Regierung miteinander vereinbart haben. Damit stehen die Friedensvereinbarungen von Oslo auf dem Spiel und auch der berechtigte Wunsch der Palästinenser, selbstbestimmt in einem eigenen Staat zu leben. Dieser Wunsch würde in weite Ferne rücken.
Deshalb war es auch mir persönlich wichtig, die Sorge darüber, die nicht nur ich habe, sondern viele in der internationalen Staatengemeinschaft und – ich bin mir sicher – auch viele hier, von Angesicht zu Angesicht zum Ausdruck zu bringen. Denn auch das gehört zu unserer Freundschaft mit Israel: nicht zurückzuschrecken – auch vor schwierigen Themen nicht.
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Es ging dabei nicht allein um die rechtliche Bewertung einer aus unserer Sicht völkerrechtswidrigen Annexion. Für uns gilt weiter die verhandelte Zweistaatenlösung. Einseitige Grenzverschiebungen lehnen wir ab, und wir werden sie auch nicht anerkennen.
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Es ging, liebe Kolleginnen und Kollegen, vor allen Dingen auch um die weitreichenden Folgen, die ein solcher Schritt für die Sicherheit Israels und die Stabilität der gesamten Region hätte. Was würde eine Annexion für die ohnehin angespannte Sicherheitslage in den palästinensischen Gebieten bedeuten, was für die Sicherheitszusammenarbeit zwischen Israel und den Palästinensern und was für das Verhältnis zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn, vor allen Dingen Jordanien, die eindringlich vor einer Annexion warnen, weil sich im Übrigen auch viele palästinensische Flüchtlinge bereits über viele Jahre in Jordanien aufhalten?
Es geht jetzt – und davon bin ich fest überzeugt – darum, Raum für Diplomatie zu schaffen, Raum, den wir nutzen wollen, ja, den wir auch nutzen wollen als Ratspräsidentschaft innerhalb der Europäischen Union, aber auch im Vorsitz des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. Vor wenigen Tagen haben die gegenwärtigen und die zukünftigen europäischen Mitglieder des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen sehr deutlich ihre Bereitschaft für einen Dialog mit allen relevanten Konfliktparteien zum Ausdruck gebracht, und wir haben gegenüber beiden Parteien unsere Bereitschaft bekräftigt, sie bei der Suche nach Lösungen zu unterstützen, wenn sie denn endlich bereit wären, direkt miteinander zu reden, sei es durch die Wiederaufnahme des Nahostquartetts oder durch die Schaffung eines alternativen multilateralen Formates. Dabei ist unsere Botschaft klar, und an ihr wird sich auch nichts ändern: Frieden lässt sich nicht durch einseitige Schritte erreichen, sondern nur durch ernstzunehmende Verhandlungen.
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Dafür, liebe Kolleginnen und Kollegen, braucht es die Bereitschaft beider Seiten, auch die Bereitschaft der palästinensischen Seite. Auch darum habe ich dort geworben in Gesprächen mit dem Ministerpräsidenten der palästinensischen Behörde, Mohammed Schtajjeh, die ich im Anschluss an meinen Besuch in Jerusalem gemeinsam mit meinem jordanischen Kollegen Ayman Safadi, der in dieser Frage außerordentlich engagiert ist, geführt habe.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, als EU-Ratspräsidentschaft und als Vorsitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen tragen wir in dieser Frage in diesen Tagen eine ganz besondere Verantwortung, und zwar für Frieden und Stabilität in Israel und der Region, im Nahen Osten insgesamt. Und wir werden uns dieser Verantwortung stellen. Deutschland fühlt sich Israel verpflichtet; das ist ein Teil unserer historischen Verantwortung. Das gilt aber genauso für die Einhaltung der Grundsätze des Völkerrechtes. Und wenn sich daraus ein Konflikt ergeben sollte, dann müssen wir das auch aushalten. Dazu zu schweigen, ist keine Alternative.
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Das werden wir auch nicht, und das müssen dann auch die aushalten, die dafür verantwortlich sind.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Minister. – Der nächste Redner ist für die Fraktion der AfD der Kollege Dr. Anton Friesen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Liebe Bürger! Das Wichtigste, Herr Außenminister, haben Sie hier nicht gesagt, nämlich dass es innerhalb der Europäischen Union bislang keinerlei Konsens gibt, was die Israel-Politik angeht. Diesen Konsens gibt es schlicht und einfach nicht, und wir werden sehen, ob Deutschland es schafft, einen solchen im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft herzustellen.
Das ist nämlich auch der Unterschied zwischen Deutschland und Israel: Der jüdische Staat betreibt eine national gesinnte, realistische Politik; Deutschland betreibt einen irrationalen Wertefundamentalismus, der sich Außenpolitik nennt.
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Deswegen sind ja auch die veröffentlichte Meinung und die politische Klasse in Deutschland so antiisraelisch. Die deutschen Meinungs- und Politmacher kriegen kalte Schweißperlen auf der Stirn, wenn sie bloß über eine Politik nachdenken, die nationale Interessen vertritt. Tja, wie kann man nur? Wie kann es Israel wagen, etwas, was auf der Hand liegt und im nationalen Interesse Israels ist, zu unternehmen?
Das sogenannte Westjordanland, also Judäa und Samaria,
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besteht nach den Osloer Verträgen aus drei Gebieten: A, B und C. Israel hat nun im überparteilichen Konsens – sowohl von Benjamin Netanjahu als auch von Benny Gantz getragen – beschlossen, israelisches Zivilrecht auch auf das Gebiet C anzuwenden, was übrigens schon seit dem Sechstagekrieg von der israelischen Militäradministration verwaltet wird.
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Für die Palästinenser, die auf diesem Gebiet leben, bringt das zunächst einmal gute Nachrichten: Sie sind dann nach israelischem Recht gleichgestellt und können gar die israelische Staatsangehörigkeit erhalten. Damit können sie sich auch in der arabischen Welt glücklich schätzen, gehören sie doch zu den wenigen Arabern, die Menschen- und Bürgerrechte genießen können.
Noch besser: Der von der politmedialen Klasse in Deutschland so verleumdete Trump-Plan bringt endlich nach Jahren des Stillstands Bewegung in den Nahostkonflikt und stärkt die Aussichten für einen palästinensischen Staat, ohne die Existenz Israels zu gefährden. Gemäß diesem Trump-Plan soll dieser Staat auf rund 70 Prozent des Territoriums von Judäa und Samaria errichtet werden.
Zahlreiche arabische Staaten haben nicht etwa lauthals öffentlich dagegen geschrien, sondern haben diesen Plan durchaus wohlwollend begleitet, auch Saudi-Arabien, auch Ägypten, auch die Vereinigten Arabischen Emirate. Und selbst Jordanien hat sich nicht wirklich scharf öffentlich dagegengestellt. Die Einzigen, die sich deutlich dagegen positioniert haben – das ist die Führung der Palästinenser. Offensichtlich fürchten sie, ihre reichen Gönner aus der EU und Deutschland zu verlieren.
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Ich frage mich auch, wo denn die palästinensischen Vorschläge für einen Friedensplan bleiben. Man kann sich querstellen, man kann eine Blockadehaltung einnehmen und alles ablehnen. Aber wo bleiben da die Vorschläge aus der arabischen Welt, aus Palästina, von den Palästinensern selbst?
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Israel handelt und nutzt das Möglichkeitsfenster, das ihm Trumps Plan bietet. Wir können natürlich danebenstehen und schreien: „Böse, böse, böse!“ – das ist Weltpolitik auf Kindergartenniveau –, oder wir können versuchen, diesen Prozess mit Augenmaß zu begleiten und auch neuen Ansätzen die Chance zu geben, die sie brauchen, gerne auch im Rahmen einer gesamten Nahostkonferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit, wie wir sie vorschlagen.
Vielen Dank.
({5})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Jürgen Hardt.
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Danke schön. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in den letzten 15 Monaten erlebt, dass wir in Israel eine lebendige Demokratie haben – die aus meiner Sicht einzige wirklich Demokratie in der Region, in der mächtig gestritten wird, in der auch dreimal gewählt wird. Wir begrüßen es und freuen uns, dass Israel nun nach der dritten Wahl zu einer stabilen Regierung gefunden hat; denn dieses Land braucht eine gute Regierung, eine stabile Regierung, und dieses Land braucht gerade in diesen Coronazeiten auch Stabilität und Verlässlichkeit.
Wir gratulieren der israelischen Regierung zum Amtsantritt, und wir als Deutscher Bundestag, auch als CDU/CSU-Fraktion, sagen der israelischen Regierung gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit zu. Für uns gilt, was Angela Merkel vor zwölf Jahren vor der Knesset bekannt hat: dass die Sicherheit Israels deutsche Staatsräson ist. Das gilt für die CDU/CSU-Fraktion genauso. Deswegen wollen wir eine Intensivierung der Zusammenarbeit mit Israel auf allen Feldern, auf denen das möglich ist. Das gilt natürlich für die Wirtschaft, aber eben auch für die Wissenschaft, für die Zivilgesellschaft und letztlich auch für die Sicherheit.
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Weil das so ist, wenden wir uns gegen all diejenigen, die Feinde Israels sind auf der Welt, die das Existenzrecht Israels infrage stellen, wie zum Beispiel der Revolutionsführer im Iran, Ajatollah Khamenei, der jüngst wieder Israel mit Vernichtung gedroht hat. Das weisen wir als absolut inakzeptabel und gegen den Geist der Völkerverständigung gerichtet entschieden zurück.
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Und weil uns Israel und die Menschen in Israel am Herzen liegen, haben wir auch zu einer Frage, die im Übrigen auch in Israel selbst politisch diskutiert wird und umstritten ist, wie das in Demokratien üblich ist, eine klare Position: Wir sind ausgesprochen skeptisch gegenüber den Plänen der neuen israelischen Regierung entsprechend ihrer Verlautbarung und Koalitionsvereinbarung, dass sie beabsichtigt, bestimmte Gebiete zu annektieren, also die Verwaltungshoheit auf diese Gebiete von Israel aus auszudehnen. Das halten wir für einen Schritt, der nicht nur im Widerspruch zu internationalem Recht steht, sondern, der letztlich aus unserer Sicht nicht den Weg zu mehr Frieden in der Region ebnet, sondern die Gefahr birgt, dass es zu neuen Spannungen kommt.
Ich glaube, dass die israelische Regierung diesen Ratschlag von uns ertragen kann. Ich finde es auch richtig, dass wir im Deutschen Bundestag gemeinsam in der Koalition diesen Antrag formuliert haben, weil wir auch unserer Bundesregierung den Rücken stärken wollen für die Gespräche und Diskussionen, die möglicherweise auf EU‑Ebene stattfinden, wenn tatsächlich die israelische Regierung ihre Ankündigung wahrmachen sollte und man dann auf europäischer Ebene zu einer gemeinsamen Haltung kommen muss. Mit einem starken Beschluss des Deutschen Bundestages im Rücken wird die deutsche Ratspräsidentschaft gut argumentieren können, wie man damit dann umzugehen hat.
Wir als Koalition haben den Versuch unternommen, die Fraktionen der Mitte, die demokratischen Fraktionen des Hauses, an dem Prozess zu beteiligen. Wir hatten das Gefühl, dass es ein sehr guter Gesprächsprozess war. Die FDP stand zwischenzeitlich auch mal im Entwurf oben auf dem Titelblatt als Miteinbringender. Mit den Grünen haben wir auch sehr gute und intensive Gespräche geführt.
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Es ist leider nicht dazu gekommen,
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dass wir das über die Koalition hinaus so einbringen können. Das bedauere ich; denn es wäre ein schönes Signal gewesen, das hinzukriegen. Ich glaube auch, ihr hättet über diesen Schatten springen können. Ihr habt aber jetzt die Möglichkeit, vielleicht durch euer Abstimmungsverhalten im Nachhinein ein Stück weit zum Ausdruck zu bringen, dass ihr das nicht völlig falsch findet,
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was wir dort gemeinsam aufgeschrieben haben. Mal gucken, wie es kommt.
In diesem Sinne bitte ich um Zustimmung zu diesem Antrag heute hier vor diesem Hause.
Danke schön.
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Für die FDP-Fraktion hat das Wort der Kollege Bijan Djir-Sarai.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Israel und Deutschland sind heute in engster Freundschaft verbunden. Das ist ein Glücksfall. Deutschland kommt heute und auch in Zukunft eine besondere Verantwortung gegenüber dem jüdischen und demokratischen Staat Israel zu. Das dürfen wir niemals außer Acht lassen, auch nicht in dieser Debatte.
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Für die deutsche Außenpolitik sind die Sicherheit und das Existenzrecht des Staates Israel unverhandelbar, nicht nur wegen der historischen Verantwortung, sondern auch, weil Israel die einzige Demokratie in einer gefährlichen und instabilen Region ist: Im Norden des Landes zerfällt der Libanon, von syrischen Stützpunkten aus attackieren feindliche Milizen permanent Israel, und in Teheran predigen die Mullahs mit großer Ausdauer die Vernichtung des jüdischen Staates.
Meine Damen und Herren, wir diskutieren heute über Pläne der israelischen Regierung, zu denen niemandem Details vorliegen,
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Pläne, von denen wir nicht wissen, ob sie heute, morgen oder eventuell auch überhaupt nicht umgesetzt werden. Das macht es umso schwerer, eine sachgerechte Debatte hier zu führen.
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Was wir aber mit Sicherheit sagen können, ist, dass wir diesen Plänen mit großer Sorge begegnen. Nachhaltige, friedliche Lösungen für diese komplexe Region wird es nur im Rahmen eines diplomatischen Prozesses unter Beteiligung aller Parteien geben, sonst nicht, meine Damen und Herren.
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Einseitige, unabgestimmte Maßnahmen schüren lediglich gegenseitige Feindseligkeiten und Vorurteile; ihre Konsequenzen sind schwer absehbar. Und noch mehr Gewalt und Hass müssen unbedingt in dieser Region verhindert werden.
Gleichzeitig muss an dieser Stelle aber auch darauf hingewiesen werden, dass die sogenannte palästinensische Führung in den vergangenen Jahren keinerlei Kompromissbereitschaft an den Tag gelegt hat.
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Die permanente Neinhaltung der palästinensischen Führung ist keine Politik. Auf der Grundlage von Nein können keine Kompromisse gefunden werden. Nein ist Verweigerung; Nein ist nicht Politik, meine Damen und Herren.
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So gesehen, meine Damen und Herren, sollten wir eigentlich ironischerweise begrüßen, dass die US‑Administration Anfang des Jahres einen Vorschlag unterbreitet hat. Natürlich, wir können und müssen den Inhalt kritisieren, wir können kritisieren, wie dieser Vorschlag zustande kam; aber wir sollten zumindest begrüßen, dass die Suche nach einer Lösung nicht weiter stillsteht.
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Und bei aller berechtigten Kritik und Sorge sollten Deutschland und Europa auch einen selbstkritischen Blick in den Spiegel werfen. Schon lange kommen aus den europäischen Hauptstädten keine konstruktiven Impulse mehr. Deutschland und die EU spielen bei diesem Konflikt kaum mehr eine Rolle; übrigens spielen Deutschland und Europa insgesamt im Nahen und Mittleren Osten keine Rolle mehr.
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Das ist das große Problem. Es stünde der Bundesregierung gut zu Gesicht, ihre EU-Ratspräsidentschaft zu nutzen, damit Bewegung in die Sache kommt, und den Verhandlungs- und Friedensprozess zu beleben.
Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir zum Abschluss eine persönliche Bemerkung. Ich finde die heutige Debatte sehr sachlich und sehr gut. Es ist aber bemerkenswert, wie oft und motiviert hier im Deutschen Bundestag über Israel diskutiert wird. Bis zum heutigen Tag kenne ich keine einzige Resolution, kein einziges Papier des Deutschen Bundestages, wo die Islamische Republik Iran verurteilt wird, wo Menschenrechtsverletzungen im Iran verurteilt werden und wo vor allem die Rolle des Irans in der Region verurteilt wird. Darüber sollten wir uns Gedanken machen, wenn wir hier über Sicherheit und Existenz des Staates Israel reden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Der nächste Redner ist der geschätzte Kollege Dr. Gregor Gysi, Fraktion Die Linke.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon bemerkenswert, dass CSU, CDU, SPD und zunächst auch FDP und Grüne gerade mich aus ihrem ursprünglichen Antrag herausgehalten haben; darüber lohnt es sich, nachzudenken.
Der Beschluss der UNO-Generalversammlung vom 29. November 1947, das heißt die Resolution 181, hat folgenden Wortlaut:
Zwei Monate nach Abschluss des Abzugs der Streitkräfte der Mandatsmacht, in jedem Fall spätestens am 1. Oktober 1948, entstehen in Palästina ein unabhängiger arabischer Staat und ein unabhängiger jüdischer Staat sowie das in Teil III dieses Plans vorgesehene internationale Sonderregime für die Stadt Jerusalem.
Das Gleiche bezog sich noch auf Bethlehem. Nur hinsichtlich Israels ist dieser Beschluss erfüllt, nicht für Palästina, nicht für Jerusalem, nicht für Bethlehem.
Selbstverständlich müssen wir in Deutschland besonders sensibel sein in Bezug auf die Sicherheit und das Existenzrecht Israels.
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Das hat mit unserer Geschichte zu tun: Die Ermordung von 6 Millionen Jüdinnen und Juden durch deutsche Nazis bleibt das größte Menschheitsverbrechen. Es gibt immer noch Menschen, Organisationen, Regierungen und andere, die Israel vernichten wollen. Dagegen werden wir uns immer mit aller Entschiedenheit wenden.
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Antisemitismus und Rassismus müssen wir ebenfalls entschieden bekämpfen. Doch das Existenzrecht Israels ist in seiner völkerrechtlichen Geburtsurkunde an das Existenzrecht Palästinas gebunden; von der ersten UN-Resolution bis zur Sicherheitsratsresolution 2334 vom Dezember 2016 wird das immer wieder betont und festgehalten. Und nun haben die Koalitionsparteien Israels eine Annexion großer Teile von Palästina vereinbart. Es gibt immer stärkere Bewegungen dagegen. Es ist auch für viele Jüdinnen und Juden mehr als beschämend, wenn gerade Israel mit Völkerrechtsbruch, mit Besatzung, mit Demütigung der Palästinenserinnen und Palästinenser in Verbindung gebracht werden muss. Der Ruf von Israel wird bei Realisierung der Annexionspläne weltweit noch deutlich negativer. Das trifft ebenfalls weltweit alle Jüdinnen und Juden. Weder sie noch Israel werden dadurch sicherer – im Gegenteil.
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Alles, was wir in unserem Antrag an Friedensinitiativen vorschlagen, ist hoffentlich unstreitig. Auch bei einer Annexion wird Ihnen, der Regierung, der Stopp der Militärkooperation mit Israel und der Waffenexporte in den gesamten Nahen Osten schwerfallen; aber er ist spätestens dann notwendig.
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Meine Fraktion war schon immer dafür und für die Anerkennung des Staates Palästina, die Vereinbarung von Botschaften zwischen Palästina und Deutschland und die Vollmitgliedschaft Palästinas in der UNO.
Die Regierung wollte dies bisher vor allem deshalb nicht, weil sie meinte, dass dies gegen die Osloer Vereinbarungen verstieße. Wenn aber Israel die in der Regierungskoalition Netanjahu/Gantz vereinbarte Annexion durchführt, verletzt sie die Osloer Vereinbarungen so gravierend, dass sie nicht mehr bindend sind. Wenn Sie etwas gegen die geplante Annexion tun wollen, müssen Sie sagen, dass Sie spätestens dann die Anerkennung Palästinas aufwerten durch die Schritte, die ich gerade genannt habe.
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Wenn Sie dagegen Israel erklären, dass sich nichts an Deutschlands Verhältnis zu Palästina ändern wird, dann legitimieren Sie indirekt die Annexion. Das ist verheerend für den Friedensprozess im Nahen Osten, für unser Verhältnis nicht nur zu Palästina, sondern auch zu Israel und zum Völkerrecht.
Die USA unter Trump haben auch im Nahen Osten das Völkerrecht als Ausgangspunkt für Konfliktlösungen ignoriert. Es ist an Europa und Deutschland, sich für eine Lösung im Nahen Osten einzusetzen, die den Beschlüssen der Vereinten Nationen endlich Geltung verschafft, für alle dort lebenden Menschen.
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Die durch Israel geplante Annexion muss im Interesse Palästinas, des Nahen Ostens, des Völkerrechts und Israels selbst verhindert werden. Wenn sie aber geschieht, soll es keine Sanktionen, aber unbedingt die von uns vorgeschlagenen Konsequenzen geben, was schon jetzt deutlich erklärt werden muss, wenn man denn die Annexion wirklich verhindern will.
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Der nächste Redner ist für Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Omid Nouripour.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erlauben Sie mir am Anfang zwei Vorbemerkungen zum bisher Gesagten. Kollege Djir-Sarai hat die Menschenrechtslage im Iran und die hochaggressive Politik des Landes angesprochen. Wir teilen diese Einschätzung. Wir haben dazu, zu den Menschenrechten, eine Kleine Anfrage gestellt und gerade die Antwort der Bundesregierung bekommen. Anträge der FDP sind mir da nicht bekannt. Bringen Sie welche, dann verhalten wir uns auch dazu.
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Und zum Kollegen Gysi kann ich nur sagen: Ich teile vieles, was Sie gesagt haben. Aber dass die Annexionspläne der Grund sind für den Anstieg von Antisemitismus weltweit, ist nur so halb richtig; denn Antisemiten brauchen eigentlich keine israelische Politik, um Antisemiten zu sein, und das ist der Grund, warum wir – unabhängig davon, was in Israel passiert – selbstverständlich zusammen gegen sie aufstehen müssen.
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Meine Damen und Herren, Yitzhak Rabin hat einmal gesagt: „Frieden wird nicht zwischen Freunden, sondern zwischen Feinden geschlossen.“ Rabin wusste, dass es für einen echten Friedensprozess Aussöhnung, Dialog und vor allem Verhandlungen braucht. Rabin fehlt uns allen, fehlt der Welt, gerade in diesen Tagen.
Der Trump-Plan für den Nahen Osten ist nicht in allen Details falsch. Aber ihm fehlt die Grundlage für eine Befriedung des Konflikts zwischen Israel und Palästina; denn er ist nicht verhandlungsbasiert.
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Vor diesem Hintergrund machen uns die Ankündigungen der neuen israelischen Regierung zur einseitigen Annexion großer Teile der Westbank große Sorgen. Wir, die Freunde Israels, sind nicht nur dem Existenzrecht, sondern auch der Sicherheit des Landes unverbrüchlich verpflichtet und halten genau deswegen an einer Zweistaatenregelung auf der Grundlage der Grenzen von 1967 fest. Die Annexionspläne würden diese Regelung dauerhaft unmöglich machen, und das führt zu Folgendem – ich möchte aus einem Namensbeitrag von Professor Mosche Zimmermann und Shimon Stein, langjähriger Botschafter des Staates Israel in Deutschland, zitieren, der vor Kurzem im „Tagesspiegel“ abgedruckt war –:
Es kann nicht in Israels Interesse liegen, den Grundprinzipien des internationalen Rechts zu trotzen, einen gewaltsamen Widerstand der Palästinenser zu entfesseln, den Mechanismus der Sicherheitszusammenarbeit mit der Autonomiebehörde auszuschalten, den Nachbarstaat Jordanien – mit dem Israel seit 25 Jahren einen Friedensvertrag hat – zu provozieren, die Beziehungen zu Ägypten zu belasten, die Kontakte zu den gemäßigten sunnitischen Golfstaaten und zu den Staaten, die sich bislang um einen Kompromiss mit Israel bemüht hatten, zu erschweren und weltweit auf viel mehr Ablehnung als Beifall zu stoßen. So unterminiert man seine eigene Sicherheit.
Genau das ist der Grund, warum das American-Israel Public Affairs Committee, AIPAC, nach intensiver Debatte seinen eigenen Mitgliedern – das sind über 18 000 – freigestellt hat, das Vorhaben zu kritisieren.
Das ist der Grund, warum der Generalsekretär der Vereinten Nationen dieser Tage mit drastischen Worten vor den Annexionsplänen warnt. Ich zitiere:
Im Falle einer Umsetzung würde die Annexion einen schwerwiegenden Verstoß gegen das Völkerrecht darstellen, die Aussicht auf eine Zwei-Staaten-Lösung erheblich beeinträchtigen und die Möglichkeit neuer Verhandlungen untergraben.
Das ist auch der Grund, weshalb der König von Jordanien – die Stabilität seines eigenen Landes ist so massiv bedroht – derzeit hilflos ankündigt, er würde den Friedensvertrag nicht halten können.
Deshalb kann es heute nur eine Botschaft aus dem Hohen Hause geben: Wir stehen an der Seite Israels. Genau deswegen lehnen wir die Annexionspläne ab, die nicht nur die Stabilität in der Region, nicht nur das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser bedrohen, sondern auch die Sicherheit unserer israelischen Freunde.
Genau deswegen erwarten wir von unserer Bundesregierung, dass sie jetzt die EU-Ratspräsidentschaft und den Vorsitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen dafür nutzt, eine umfassende Strategie mit den Partnerstaaten zu erarbeiten, um diese Annexion hoffentlich zu verhindern.
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Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Mario Mieruch.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Antrag der Bundesregierung behauptet, dass die Sicherheit Israels langfristig nur mit einer Zweistaatenlösung garantiert werden kann. Für viele Israelis wird das jetzt überraschend kommen; denn schließlich hat Israel in den letzten 70 Jahren durchaus erfolgreich seine Sicherheit wahren können.
Staatliche Souveränität darf keine utopische Absichtserklärung sein, sondern sie bedarf stabiler Fundamente und einer klaren Ordnung. Und diese klare Ordnung fehlt eben beim palästinensischen Staat. Das sieht man daran, dass sich der Präsident seit über einem Jahrzehnt demokratischen Wahlen entzieht und faktisch ohne Legitimation herrscht, und man sieht es auch daran, dass freie Wahlen im jetzigen Moment eben genau jene radikalen Kräfte an die Macht brächten, die den Staat Israel alles werden, aber nicht anerkennen. Der Rückzug Israels aus dem Gazastreifen hat eindrucksvoll gezeigt, wie eine Zukunft aussehen kann, in welcher die Hamas bereits Kindern beibringt, dass mit Juden keine Freundschaft möglich ist.
Es sei daran erinnert: Es war Israel, das sich im Gegensatz zu den Arabern mit dem UN‑Plan von 1947 zufriedengab, und es war auch Israel, das den Friedensplan von Camp David II akzeptierte. Historisch betrachtet waren es immer die absoluten Ansprüche der anderen Seite, die bisherige Friedensverhandlungen scheitern ließen.
Unter diesen Rahmenbedingungen sollte man, auch wenn Kritik an israelischer Außenpolitik durchaus legitim ist, all diese Dinge durchaus mitbetrachten. Ich erinnere an Gustav Heinemann, der einmal treffend formulierte: Auch Ratschläge sind Schläge.
Vielen Dank.
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Der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion ist der Kollege Roderich Kiesewetter.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst danke ich für die sehr ausgewogene und inhaltsreiche Debatte. Worüber wir heute sprechen und nachher auch abstimmen, muss uns bewegen; denn wir leben in der Gunst eines großen Geschenks: Das ist die deutsch-israelische Freundschaft, die uns Israel gewährt – trotz der Shoah. An dieser Stelle gilt, dass wir auch der neuen israelischen Regierung, die nach langem Ringen endlich zustande kam, gratulieren und ihr nur das Allerbeste wünschen. Meine letzte Reise nach Israel endete am 1. März, am Vortag der Wahlen. Wir alle haben das Ringen um Mehrheiten in Israel in den letzten Monaten erlebt.
Gerade dieses Geschenk der Freundschaft muss uns auch bewegen in der Frage: Was bedeutet die israelische Sicherheit für uns, und was bedeuten die möglichen Annexionspläne für Israels Sicherheit? Jürgen Hardt hat es vorhin angesprochen: Wir müssen uns als engste Freunde in Europa und vielleicht auch in der Welt intensiv Gedanken machen und sehr ehrlich und offen mit der israelischen Lage umgehen. Eine Annexion der Westbank würde geltendes Völkerrecht brechen; das haben wir hier sehr klar angesprochen. Es würde aber auch die Sicherheit Israels gefährden, und es würde die Sicherheit Jordaniens gefährden. Wir können es auch nicht zulassen, dass Jordanien aus innenpolitischen Verwerfungen daran zerbricht. Dann wäre auch die Sicherheit Israels gefährdet.
Wir wollen doch, dass Israel als demokratischer und jüdischer Staat in sicheren und anerkannten Grenzen eine Perspektive hat. Diese Perspektive zu schaffen, ist in erster Linie Angelegenheit Israels. Dies zu unterstützen, ist auch unsere Aufgabe, weil wir für Sicherheit in der Region sorgen müssen.
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Wir sollten auch in dieser gespaltenen israelischen Gesellschaft immer wieder deutlich machen, dass das internationale Recht eine Stärkung von Israels Sicherheit bedeutet.
Deshalb möchte ich abschließend drei Appelle richten: erstens an die israelische Regierung, an der verhandelten Zweistaatenlösung festzuhalten und keine einseitigen Schritte vorzunehmen und zugleich auf die palästinensischen Behörden zuzugehen.
Meinen zweiten Appell richte ich an die palästinensischen Behörden, dass sie an einer friedlichen Konfliktlösung interessiert sind, dass sie auf die extremistischen Kräfte in ihren Reihen einwirken und alles tun, dass die palästinensischen Repräsentanten wieder Legitimität gewinnen, dass Wahlen vorbereitet werden, sodass von keiner Seite mehr die Prozesse, die notwendig sind, um Wahlen in den palästinensischen Gebieten durchzuführen, verhindert werden können. Die Palästinenser sind auch aufgefordert, nicht nur oberflächliche Kurzpapiere vorzulegen, sondern eigene Vorschläge und Pläne zur Friedenslösung. Das ist das A und O. In den Gesprächen mit Erekat und Schtajjeh wurde zwar immer deutlich, in welcher Resignation sie leben, aber jeder von uns, der die beiden und andere auf der palästinensischen Seite trifft, muss klarmachen, dass Schuldzuweisungen nicht helfen, sondern die Palästinenser auch selber tätig werden müssen.
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Der dritte Appell – unser Außenminister hat es sehr klar angesprochen – geht schon in Richtung Exekutive und ist eine Mahnung. Unser Antrag heute enthält nicht nur zwischen den Zeilen sehr viele konkrete Vorschläge. Unsere Bitte ist, dass die Bundesregierung diese auch von vielen Kolleginnen und Kollegen außerhalb der Koalitionsfraktionen mitgetragenen Vorschläge eins zu eins umsetzt, und das nicht nur in der EU‑Ratspräsidentschaft und im Weltsicherheitsrat, sondern dauerhaft. Das wäre eine wahre Leistung, die wir erbringen, um uns der Freundschaft Israels würdig zu erweisen.
Herzlichen Dank.
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Die nächste Rednerin ist die Kollegin Frauke Petry.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Zum wiederholten Mal beraten wir die instabile politische Lage im Nahen Osten, und wieder einmal legen die Fraktionen der Koalition einen Antrag vor, der gegenüber dem Adressaten Israel statt außenpolitischer Klarheit Unsicherheit und sogar Unwissenheit atmet, wenn offenbar ungeprüft falsche Flüchtlingszahlen der Palästinenser in Jordanien präsentiert werden.
Da aufseiten der sogenannten Palästinenser seit Jahren kein Verhandlungspartner ohne artikulierten Vernichtungswillen Israels erkennbar ist, sind Ihre Gedankenspiele, liebe CDU/CSU und SPD, zur Zweistaatenlösung wohlfeile moralische Luftschlösser ohne praktische Relevanz. Israel kann derzeit nur unilateral handeln und hat diesen Zustand selbst am wenigsten zu verantworten.
Interessant ist auch der Paradigmenwechsel der AfD-Fraktion. Bislang haben Sie durchaus brauchbare Anträge zum Thema vorgelegt; heute begeben Sie sich auf das Niveau der Linken.
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Ihr Antrag erwähnt die Interessen Israels mit keinem Wort. Israel wird überhaupt namentlich nur zweimal erwähnt, beide Male in einer Aufzählung zwischen Ägypten und Saudi-Arabien als Verhandlungsteilnehmer. Ihre Israel-Politik – das kann heute jeder lesen – machen jetzt offenbar Personen wie Hohmann, der Kubitschek-Bekannte Felser, Nazibildchen-Keuter, Höckes Pohl, der NPD-Bewunderer Maier, NS-Nummernschild-Droese und andere.
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Dass sich dafür auch Joana Cotar und Ulrike Schielke-Ziesing hergeben, kann mit Naivität nicht mehr erklärt werden.
Ich befürworte eine eindeutige Nahostpolitik, in der die Probleme klar adressiert werden und Deutschlands Einfluss dazu genutzt wird, Terrorismus zu bekämpfen und den Bestand der israelischen Demokratie zu fördern. Die hierfür notwendigen Verbesserungen Ihres Antrags, liebe CDU/CSU und SPD, haben wir in einem Änderungsantrag zusammengefasst.
Danke.
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Der Kollege Christian Schmidt ist der letzte Redner für die CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat: Das Thema bewegt die Welt seit Jahrzehnten. Wir stellen uns vor, dass das Thema einer einseitigen Maßnahme – in diesem Fall als Annexion von Teilen der Westbank; so genau weiß man das alles nicht – auch in einer gewissen Reihe steht. Übrigens hat auch Jordanien, nachdem das Völkerbundsmandat übergeleitet worden war und das Haschemitische Königsreich Transjordanien entstanden war, einmal – 1950 – die Westbank annektiert, musste sie dann als nur – in Anführungszeichen – „besetztes Gebiet“ halten, bis die Resolution 242 von Israel 1967 dann die Rückgabe, Freigabe gefordert hat.
Ja, Palästina, die Westbank, ist kein eigener Staat. Nein, das heißt nicht, dass man sie einseitig völkerrechtskonform für sich in Anspruch nehmen kann. Ja, das heißt, dass beide Seiten – – Deswegen ist die Zweistaatenvision keine Vision, sondern eine Option, die umgesetzt werden muss. Oslo war und ist der Anhaltspunkt für das, was geschaffen werden kann. Um es klar zu sagen: Wir reden hier nicht über einen Mechanismus von Sanktionen oder sonstigen Fragen als Reaktion auf Annexionen. Nein, wir reden über eine Bereitschaft, intensiv als Europäer in eine Verhandlung über den zukünftigen Status hineinzugehen mit den Gedanken und mit den völkerrechtlichen Grundlagen, die wir seit Jahren entwickelt haben und unterstützen.
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Herr Bundesaußenminister, ich ermutige Sie. Vielen Dank, dass Sie kurz vor der Sicherheitsratspräsidentschaft in Israel waren. Das war ein ganz wichtiges Zeichen. Die letzte europäische Ratspräsidentschaft, nach meiner Erinnerung, die sich intensiv um Israel und die Region kümmern wollte, das war die tschechische im Jahr 2009. Karel Schwarzenberg, der tschechische Außenminister, war es, der dann wegen Cast Lead, der Operation im Gazastreifen, und anderen Schwierigkeiten letztendlich nicht zum Erfolg kam. Daran kann man nicht anknüpfen, aber man kann es aufnehmen und in neuen Initiativen entwickeln.
Der Trump-Plan, der übersieht, dass man mit allen sprechen muss und alle, die dort leben, einbeziehen muss, auch wenn er da und dort durchaus gute Ansätze hat, zeigt, dass wir in der gegenwärtigen Situation den Vereinigten Staaten von Amerika die Verantwortung für diese Region nicht alleine überlassen sollten, sondern dass wir einen konstruktiven Beitrag leisten sollten. Ich ermutige die Bundesregierung, in diesem Sinne zu agieren. Ich bekenne für den Deutschen Bundestag, für das Hohe Haus hier, dass ich es gut fände und gerne sehen würde, wenn wir den Antrag, den die CDU/CSU durchaus gemeinsam mit den Fraktionen der Mitte, der FDP, auch mit den Grünen, besprochen hatte, zu einer weiteren Basis, zu einer Grundlage machen könnten. Wenn ich den Inhalt der Anträge dieser vier Fraktionen durchlese, dann fällt es mir schwer, zu verstehen, wieso wir eigentlich nicht zu einem gemeinsamen Antrag übergehen.
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Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Schmidt. – Ich schließe die Aussprache.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Maßnahmen der Bundesregierung zur Coronabekämpfung belasten fast alle Wirtschaftszweige unseres Landes schwer. Besonders getroffen ist jedoch unsere Tourismusbranche. Hunderttausende von Existenzen stehen auf dem Spiel, und nahezu täglich lesen wir über Insolvenzen, Gaststättensterben oder die unglaubliche Not von Reisebüros oder Reiseveranstaltern.
Wir als AfD-Fraktion wollen mit unseren Anträgen dafür sorgen, dass diese unglaublich wichtige Branche mit Ihren 3 Millionen Arbeitsplätzen wieder etwas hoffnungsvoller in die Zukunft schauen kann. Wir wollen wirksame Soforthilfen für betroffene Betriebe mit nachhaltigen und zukunftsfähigen Maßnahmen verbinden. Deshalb fordern wir zur Überwindung der akuten Krise und zum Sichern des Überlebens der betroffenen Betriebe Zuschüsse, die nicht zurückgezahlt werden müssen. Kredite sind schön und gut, aber letztendlich verlagert sich das Insolvenzrisiko gerade bei kleinen und mittelständischen Unternehmen einfach nur ein paar Monate in die Zukunft. Wir wollen den besonders betroffenen Betrieben durch einen zeitlich begrenzten Zuschuss helfen. Denn eines ist doch klar – das muss immer wiederholt werden –: Dieser Shutdown wurde von der Regierung verschuldet, und viele eigentlich gesunde Unternehmen wurden dank Ihrer Maßnahme von der Regierungsbank in den Ruin getrieben. Diesen Menschen muss jetzt auch geholfen werden.
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Die Zuschüsse, die wir hier fordern, sollen an die Sicherung von Arbeitsplätzen gebunden werden; denn wer in Krisenzeiten an seine eigenen Mitarbeiter denkt und sie weiter in Lohn und Brot hält, erhält einen gestaffelten Zuschuss von bis zu 6 000 Euro pro Monat. So hilft man einer Branche, die unverschuldet in die Knie gezwungen wurde, zumindest wieder etwas auf die Beine.
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Und dann kommt die beste Möglichkeit, um dauerhaft am Markt zu bestehen, nämlich Umsatz, Umsatz, Umsatz. Deswegen fordern wir die Bundesregierung auf, eine nationale Marketingkampagne „Urlaub in Deutschland“ bei der Deutschen Zentrale für Tourismus in Auftrag zu geben und die touristischen Höhepunkte unseres Landes breitentauglich in Szene zu setzen. Machen Sie den Menschen in unserem Land wieder Lust auf Urlaub in Deutschland, und sorgen Sie ganz nebenbei dafür,
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dass unser wunderschönes Land von der Ostsee bis zu den Alpen von seinen besten Seiten gezeigt wird!
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Wirtschaftlich ist dieser Ansatz noch durch Absprachen mit den Bundesländern zu flankieren.
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– Sie dürfen gerne eine Zwischenfrage stellen; dann verlängern Sie meine Redezeit. – Unter Wahrung der Landeshoheiten und der jeweiligen Kompetenzen ist ein Förderprogramm aufzulegen, welches dem Gast bei der Buchung von sieben Nächten im Inland die Kosten für eine Nacht erstattet.
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Besonders gefördert werden sollen hier die Bundesländer mit den geringsten Übernachtungszahlen im Jahr 2019, sodass keine Region vom Ansturm überfordert wird und die Gäste sich in ganz Deutschland verteilen. So schaffen wir Anreize zum Reisen, und so generieren wir Umsatz für die Tourismuswirtschaft.
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Doch auch langfristig wollen wir die Weichen branchenfreundlicher stellen. Kürzlich hat die Regierung die Steuern auf im Lokal verzehrte Speisen und auf Speisen zum Mitnehmen endlich vereinheitlicht. Können Sie mir aber mal erklären, wieso Sie sich, wenn Sie die Gastwirtschaft unterstützen wollen, was Sie oft lang und breit auf allen möglichen Veranstaltungen erzählen, auf die Speisen in der Gastronomie beschränken und die Umsatzsteuer auf die Getränke nicht auch reduzieren und vereinheitlichen? Sie haben die Bars, die Clubs und die Kneipen anscheinend einfach vergessen. Oder ist es so, wie es ein Kollege der CDU sagte: „Na ja, das hat der DEHOGA nicht gefordert“? Wenn das Ihre Art ist, Politik zu machen, muss ich Ihnen sagen: Das reicht einfach nicht aus. Wir fordern daher: Senken Sie auch die Umsatzsteuer auf Getränke! Und vor allem: Befristen Sie diese sinnvolle Maßnahme doch nicht sinnfrei nur bis Ende des Jahres, sondern sorgen Sie endlich für eine dauerhafte Entlastung!
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Ein weiterer riesiger Hemmschuh – insbesondere für die Reisebüros und die Reiseveranstalter – ist diese unsägliche pauschale Reisewarnung des Auswärtigen Amtes. Völlig ohne Berücksichtigung der Situation vor Ort wird eine pauschale Reisewarnung erlassen, und dann wundern Sie sich, dass die Reisebüros und Reiseveranstalter um ihre Existenz fürchten und hier vor dem Reichstag demonstrieren.
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Können Sie von der Bundesregierung mir vielleicht mal erklären, wie man eine Reise verkaufen soll, wenn die Menschen überhaupt nicht reisen dürfen?
Das Vorgehen des Auswärtigen Amts hier passt wunderbar wieder in das Gesamtbild der Coronapolitik dieser Bundesregierung: immer schön pauschal bewerten, sich nicht von Tatsachen aus dem Konzept bringen lassen und Wochen nach sinnvollen Oppositionsforderungen diese dann doch klammheimlich umsetzen. Ich muss es hier ganz deutlich sagen: Die Betriebe draußen haben diese Zeit nicht mehr. Deswegen müssen Sie jetzt handeln. Hören Sie auf, unzählige Länder dieser Welt über einen Kamm zu scheren, und bewerten Sie doch bitte differenziert je nach Lage vor Ort!
Ägypten beispielsweise – eines der Lieblingsreiseziele der Deutschen – hat gemeinsam mit der WHO und dem deutschen TÜV umfangreiche Sicherheitskonzepte für Einheimische und Touristen erarbeitet. Ägypten hat 100 Millionen Einwohner und 2 800 sogenannte Coronatote. Das Bundesland Bayern hat 13 Millionen Einwohner und 2 600 Coronatote.
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Nach der Logik unseres Außenministers kommt jetzt bald also die Reisewarnung für den Freistaat.
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Summa summarum kann ich Ihnen nur sagen: Stimmen Sie doch unseren Anträgen zu, und unterstützen Sie in den kommenden Wochen auch ganz persönlich und privat die deutsche Reise- und Gastronomiebranche durch einen Urlaub in unserem wunderschönen Land! Ich kann Ihnen versichern: So entspannt haben Sie hier noch nie geholfen.
Vielen herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Als Nächstes hat das Wort die Kollegin Heike Brehmer, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir behandeln heute zwei Anträge der AfD-Fraktion, einer Fraktion, die in meinen Augen kein Botschafter für unsere Tourismusbranche sein kann, die von Weltoffenheit und Gastfreundschaft lebt.
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Meine Redezeit reicht leider nicht aus, um vollumfänglich auf Ihre Anträge einzugehen. Fakt ist aber: Sie übertreffen mit Ihren Forderungen die Linksfraktion. Für mich klingt das nach staatlich verordneter Planwirtschaft.
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Wohin wir reisen können, möchte ich keinem Bürger vorschreiben.
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Das hatten wir lange genug.
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Ich frage mich: Warum fordern Sie, den Deutschlandtourismus zusätzlich zu stimulieren, obwohl doch bekannt ist, dass die Deutschen mit einem Marktanteil von 30 Prozent schon seit Jahren am liebsten im eigenen Land Urlaub machen? Deutschland war also auch vor der Coronakrise schon das liebste Reiseziel der Deutschen.
Deutschland hat viel zu bieten, und das schätzen unsere Bürger. Wenn ich in meinen Wahlkreis Harz schaue, dann bin ich dankbar für den großen touristischen Zuspruch, den unsere Fachwerkstätten und Wanderwege wieder erfahren dürfen. Für die Tourismusbranche vor Ort ist das ein Signal der Hoffnung in einer Zeit, in der ein Virus unsere Betriebe bis ins Mark getroffen hat, in Zeiten einer weltweiten Pandemie, die noch längst nicht überstanden ist.
Der Harzer Tourismusverband wirbt mit einer neuen Kampagne unter dem Motto „Fernweh Harz – Näher als du denkst“. Beworben werden Gesteinshöhlen wie in den USA und Wanderabenteuer wie in Nepal, die bei uns im Harz erlebt werden können.
Natürlich sind auch ausländische Gäste ein wichtiger Faktor für unsere Tourismuswirtschaft. Für die weltweite Vermarktung des Reiselandes Deutschland ist die Deutsche Zentrale für Tourismus zuständig. Die Vorsitzende, Frau Hedorfer, war gerade live in unsere Ausschusssitzung zugeschaltet und hat eindrucksvoll berichtet, wie die DZT auch in schwierigen Zeiten die Fahne für den Incoming-Tourismus hochhält. Dafür ein herzliches Dankeschön!
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Anstatt eingleisig zu fahren, werden wir in der CDU/CSU auch weiter für das Reisen in und nach Deutschland werben, um unseren Tourismusstandort zu stärken. Unsere Maxime dabei lautet: Verantwortung, Unterstützung und Wertschätzung.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Landgraf?
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Gerne.
Kollegin Brehmer, sehen Sie im Reisen nicht auch eine politische Willensbildung? Ich erinnere an das, was vor 30 Jahren war, nämlich an die Einführung der D-Mark. Die Leute haben sich damals auch deshalb gefreut, weil sie endlich reisen konnten. Sehen Sie das für heute auch so?
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Vielen Dank für diese Frage; denn an dieser Stelle ist es mir nun möglich, daran zu erinnern, dass wir heute an 30 Jahre Währungsunion erinnern können. Damals war die Forderung: „Kommt die D‑Mark, bleiben wir. Kommt sie nicht, geh’n wir zu ihr“. Die Reisefreiheit war damals eine zentrale Forderung der Freiheitsbewegung in der ehemaligen DDR.
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Verantwortung, die unsere Bundesregierung in einem milliardenschweren Hilfspaket zu Beginn der Krise übernommen hat, Unterstützung durch Überbrückungshilfen, mit denen wir als Union den besonders betroffenen Unternehmen der Tourismusbranche helfen – bei Bedarf werden wir hier auch nachsteuern –, Wertschätzung für 3 Millionen Mitarbeiter, die rund um die Uhr an 365 Tagen im Jahr in dieser Branche arbeiten!
Zur AfD: In Ihrem ersten Antrag wollen Sie Urlaub in Bundesländern mit den geringsten Übernachtungszahlen finanziell unterstützen. In Ihrem zweiten Antrag wollen Sie die Reisebeschränkungen aufheben, damit nach Neuseeland oder Ägypten geflogen werden kann.
Fakt ist: Die Pandemie hat die Welt noch immer fest im Griff. Das Auswärtige Amt prüft fortlaufend die Entwicklung in den einzelnen Zielgebieten
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und informiert darüber. Für viele Länder haben wir noch keine belastbaren Kriterien, deren Einhaltung ein Reisen ohne Risiko ermöglicht. Die Aufhebung der Reisewarnung hängt vom Verlauf der Pandemie ab. Bis dahin gilt: Schutz und Vorsorge haben oberste Priorität.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Der nächste Redner für die Fraktion der FDP ist der Kollege Dr. Marcel Klinge.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Deutschland ist ein großartiges Urlaubsland mit den wohl besten Tourismusbetrieben der Welt. Und ob Corona – hin oder her: Für mich steht fest: Wenn es um das Thema „Reisen und Urlaub“ geht, ist Deutschland für mich und für uns die erste Adresse.
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Fakt ist aber, dass in diesem Jahr unter den besonderen Bedingungen eben nicht alle Menschen gleichzeitig bei uns Urlaub machen können – und schon gar nicht über den Sommer. Fakt ist, dass unsere mittelständischen Reisebüros, unsere Busunternehmen und unsere Reiseveranstalter ihr Geld vor allem mit Reisen ins Ausland verdienen. Daher sollten wir alle hier und jetzt Werbung machen für Reisen im Allgemeinen – ob im In- oder ins Ausland. Wir wollen mit allen Betrieben durch die Krise gehen und nicht nur mit bestimmten, wie es die AfD in ihrem Antrag unterstellt.
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3 Millionen Beschäftigte durchleben aktuell die schwerste Krise in der Geschichte des jüngeren Tourismus. Sie verdienen unsere hundertprozentige Unterstützung und Rückendeckung aus Berlin. Vor allem aber verdienen sie einen Bundeswirtschaftsminister, der ihnen zuhört, der ihre Anliegen ernst nimmt und der sie bestmöglich unterstützt.
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Bekommen haben wir Peter Altmaier, der sich in den vergangenen Monaten durch Empathie- und Tatenlosigkeit ausgezeichnet hat.
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Sehr geehrter Herr Minister, wachen Sie endlich auf. Ihre politische To‑do-Liste ist ellenlang.
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Wo bleibt denn, meine Damen und Herren, der Kreditfonds für Reisebüros und Veranstalter, damit Anzahlungen für abgesagte Reisen finanziert werden können? Wo bleibt die überfällige Reform der Kundengeldabsicherung bei Pauschalreisen?
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Thomas Cook lässt grüßen. Wo bleibt der Tourismusgipfel im Kanzleramt? Wo bleiben die Hilfen für die gesamte Gastronomie?
Ja, meine Damen und Herren: Die Mehrwertsteuerreduzierung auf Speisen ist besser als nichts. Sie macht den betroffenen Betrieben aber auch jede Menge Arbeit. Das gehört auch zur Wahrheit dazu.
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40 000 Cafés, Bars, Schankwirtschaften bleiben bei Ihrer Maßnahme komplett außen vor, und das Ganze wird von Schwarz-Rot dann auch noch auf ein Jahr begrenzt. Eine Steuererleichterung bei wenig oder gar keinem Umsatz, meine Damen und Herren, ist keine Hilfe – sie ist eigentlich gar keine Steuererleichterung. Bessern Sie an diesem Punkt nach, wenn Sie es wirklich ernst meinen.
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Meine sehr verehrten Damen, meine Herren, losgelöst von diesen wichtigen Themen brauchen wir bis September einen Plan, wie wir unsere Betriebe durch eine zweite Infektionswelle bringen. Ein weiterer Shutdown würde der Branche das Genick brechen.
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Daher fordert die FDP eine mit den Ländern abgestimmte nationale Strategie, die unsere Tourismuswirtschaft effektiv vor weiteren Pandemiewellen schützt.
Genau das haben wir als FDP-Fraktion dem Wirtschaftsminister bereits im April geschrieben. Passiert ist nichts. Deswegen, lieber Herr Altmaier: Der Ball liegt bei Ihnen im Feld. Nutzen Sie ihn endlich.
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Die Kollegin Gabriele Hiller-Ohm hat das Wort für die SPD-Fraktion.
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Herr Vorsitzender! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Ich komme zurück zu den AfD-Anträgen, die wir heute hier diskutieren. Wenn man bedenkt, dass die AfD den Vorsitzenden des Tourismusausschusses stellt, und sich dann die beiden vorliegenden Anträge anschaut, erkennt man wieder einmal mehr, dass die AfD inhaltlich für Deutschland selbst im Tourismus nichts Wegweisendes zu bieten hat.
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Die AfD fordert im ersten Antrag, dass Deutschland die pauschale Reisewarnung für Länder außerhalb der EU aufhebt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Forderung ist überholt. Seit heute kann wieder in einige Länder,
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auch außerhalb der EU, gereist werden. Das Auswärtige Amt ist hier in enger Abstimmung mit den Mitgliedstaaten der EU und prüft sehr genau, wie sich die Infektionszahlen auch außerhalb der EU entwickeln, und macht daran dann Reisewarnungen bzw. die Aufhebung der Reisewarnungen fest. Das geschieht ausdrücklich zum Schutz der Reisenden und damit zum Schutz von uns allen.
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Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Münzenmaier?
Herr Vorsitzender, das möchte ich nicht.
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Meine Damen und Herren, natürlich bedeutet eine Reisewarnung kein Reiseverbot. Auf eigenes Risiko kann jeder und jede überallhin reisen, wo dies möglich ist, auch in Länder, für die eine Reisewarnung besteht.
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Zum zweiten Antrag der AfD. Die AfD will die Reisebranche durch gezielten Inlandstourismus retten. „Gute Idee“, sage ich da. Aber die Wirklichkeit ist der AfD, wie so oft, einen großen Schritt voraus. Erst vergangene Woche haben der Deutsche Tourismusverband und die Deutsche Bahn gemeinsam mit den Bundesländern eine große Kampagne gestartet, mit der für Reiseziele in Deutschland,
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vor allem auch abseits der großen touristischen Hotspots, geworben wird. Nun fordert die AfD in ihrem Antrag aber, dass die Deutsche Zentrale für Tourismus eine nationale Marketingkampagne für Deutschland auflegen soll.
Werte Kolleginnen und Kollegen der AfD, hier zeigen Sie deutlich Unkenntnis der Zuständigkeiten und Möglichkeiten der DZT.
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Die explizite Aufgabe der Deutschen Zentrale für Tourismus ist es, im Ausland für Reisen nach Deutschland zu werben. Für diese Aufgabe, die allen Bundesländern und Regionen in Deutschland zugutekommt, wird die DZT vom Bund mit entsprechenden Mitteln ausgestattet. Im Inland kann und darf die DZT nicht werben, da für das Inlandsmarketing die einzelnen Bundesländer zuständig sind.
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Das, Herr Kollege Münzenmaier, wurde 2011 vom Bundesrechnungshof genau so festgestellt.
Aber keine Sorge: Die DZT hat bereits das Auslandsmarketing für das Reiseziel Deutschland hochgefahren und eine tolle Nachhaltigkeitskampagne gestartet. Diese wurde uns heute, gerade eben im Tourismusausschuss, vorgestellt. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlich können alle, die in Deutschland leben und in Deutschland reisen wollen, die DZT-Seiten aufrufen und sich dort über die Schönheiten unseres Landes und über einzelne interessante Destinationen informieren,
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das alles natürlich auch in deutscher Sprache.
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Dann gibt es in dem AfD-Antrag noch die Forderung nach einem Sofortprogramm zur Unterstützung des Deutschland-Tourismus, das umfasst, dass alle Bundesbürger für ihre Deutschland-Reise einen Zuschuss vom Staat erhalten sollen.
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Dies, meine Damen und Herren, lehnen wir ab.
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Die Forderung ist undifferenziert, unsozial und damit für uns inakzeptabel.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen von der AfD, eines ist klar: Mit Ihren wenig durchdachten Forderungen werden Sie weder den Tourismus noch Deutschland retten.
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Ja, die Tourismus- und Reisebranche ist in ganz besonderem Maße von der Coronakrise betroffen. Und genau deswegen haben wir Tourismuspolitikerinnen und Tourismuspolitiker der SPD in den letzten Monaten so viel Druck gemacht – auch in unseren eigenen Reihen –, damit die Reisebranche nicht unberücksichtigt bleibt. Auch auf unsere Initiative hin sind im Konjunkturprogramm jetzt so viele Hilfen für den Tourismus- und Reisebereich enthalten.
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Ein ganz wichtiges Instrument ist die Weiterführung der Überbrückungshilfen, die nicht zurückgezahlt werden müssen. Diese Hilfen haben sich schon zu Beginn der Coronakrise für Kleinunternehmen sehr gut bewährt. Sie werden im Konjunkturprogramm jetzt fortgeführt und auf den Mittelstand, also für Unternehmen mit bis zu 249 Beschäftigten, ausgeweitet.
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In einer Verwaltungsvereinbarung macht die Bundesregierung deutlich, dass Reisebüros alle Provisionen und kleinere Reiseveranstalter alle ausgefallenen Margen durch die Überbrückungshilfen decken können. Außerdem soll es einen Zuschuss zu Lohnkosten geben. – Das waren drängende Forderungen der Reisebranche, die wir verankern konnten.
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Dies muss nun von den Bundesländern entsprechend umgesetzt werden.
Außerdem enthält das Konjunkturprogramm einen Schutzschirm für Auszubildende. Das ist für die ausbildungsintensive Tourismusbranche besonders wichtig, vor allem auch mit Blick auf die Zukunft;
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denn schon heute leidet die Branche unter drängendem Fachkräftemangel.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Darüber hinaus ist auch die vorübergehende Mehrwertsteuersenkung eine Erleichterung für die Branche und für die Betriebe; denn wir kurbeln dadurch die Nachfrage an. Das bezieht sich übrigens auch auf Getränke, Herr Kollege Klinge.
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Sie sehen, meine Damen und Herren: Mit dem Konjunkturprogramm machen wir den Weg frei für einen umfassenden Investitions- und Innovationsschub und helfen Deutschland und der Tourismusbranche damit aus der Krise heraus.
Jetzt ist gut.
Diese Maßnahmen, meine Damen und Herren,
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gehen weit über das, was die AfD fordert, hinaus.
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Die Kollegin Sabine Zimmermann hat das Wort für die Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist ein hartes Jahr für alle, deren Arbeitsplätze an Tourismus und Gastronomie hängen. Kleine und mittlere Unternehmen brauchen wirksame Soforthilfen; denn gerade bei ihnen kommen die Hilfen der Bundesregierung nicht an. Und das ist verantwortungslos, meine Damen und Herren. Viele treibt es in den Ruin. Hier muss geholfen werden.
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Auch der Vorschlag der AfD ist viel zu restriktiv und damit wirkungslos. Die Linke fordert eine Unterstützung ohne Mindestumsatzrückgang, in der Höhe gestaffelt nach Umsatzverlust und Beschäftigtenzahl. Für einen Betrieb mit 15 Beschäftigten wären das zum Beispiel bis zu 30 000 Euro, für Solo-Selbstständige bis zu 9 000 Euro. Außerdem brauchen Selbstständige eine Absicherung des Lebensunterhaltes von 1 180 Euro.
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Denn ihre Miete müssen sie auch bezahlen, und etwas zu Essen müssen sie natürlich auch auf dem Tisch haben.
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Es geht nicht um die Lufthansa, die von der Bundesregierung mit Milliarden gepäppelt wird, ohne Arbeitsplatzgarantie für die Beschäftigten. Es geht um das Reisebüro um die Ecke, den Campingplatz oder die Jugendherberge. Die brauchen endlich konkrete Hilfen, meine Damen und Herren.
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Dazu lese ich nichts im Antrag der AfD. Natürlich ist es sinnvoll, Gebiete mit wenigen Übernachtungen zu fördern. Aber die AfD macht es sich in ihrem Antrag viel zu einfach, wenn sie sich nur fünf Bundesländer anschaut und nicht die Regionen. In Ihrem Antrag sprechen Sie von Thüringen, Brandenburg und Sachsen-Anhalt. Man könnte meinen, dass Sie Ihren Flügel wieder stärken wollen, der ja im Moment nicht da ist.
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Was bringt ein pauschaler Zuschuss für Deutschlandreisen? An den Ostseestränden und auf den Alpengipfeln tritt man sich im Moment schon auf die Füße. Selbst an weniger beliebten Orten wird es schwer, den Abstand zu halten. Ja, viele Menschen werden in diesem Jahr nicht verreisen; denn die Pandemie ist immer noch nicht überstanden. Das Letzte, was wir jetzt brauchen, ist natürlich Gedränge im Hotel oder auf dem Campingplatz.
Ein Siebtel der Bevölkerung kann sich auch ohne Corona keine Urlaubsreise leisten. Was steht davon bei Ihnen im Antrag? Nichts. Sie wollen Zuschüsse für alle, die im Inland Urlaub machen, egal wie reich sie sind. Wir fordern einen Reisegutschein von 500 Euro für jedes Kind aus bedürftigen Familien, der für Kinder- und Jugendreisen oder für Freizeiteinrichtungen genutzt werden kann. Das wäre eine gute Tourismuspolitik.
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Das genaue Gegenteil ist Ihr zweiter Antrag. Sie wollen die Reisewarnung für Nicht-Schengenstaaten aufheben. Auch wenn sich in manchen Ländern das Infektionsgeschehen natürlich beruhigt, sind wir mitten in einer Pandemie. Die Lage ändert sich täglich. Und selbst ohne pauschale Reisewarnung wäre es wirtschaftlich nicht sinnvoll, Auslandsreisen zu verkaufen. Also: Die AfD löst das Problem überhaupt nicht.
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Ihre Anträge sind schlecht durchdacht. Ihre Vorschläge nutzen niemandem und schaffen ein unnötiges Risiko.
Danke schön.
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Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort der Kollege Markus Tressel.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eines kann man heute schon feststellen: Vor uns liegt ein touristischer Sommer mit vielen Herausforderungen und auch Schwierigkeiten. Wir haben in den letzten Wochen sehr hart diskutiert über die Frage: Wie können wir unsere Tourismusbranche in die Zukunft retten? Diese Frage bleibt weiter auf der Agenda. Die AfD bietet mit ihren – ich sage das freundlich – unterkomplexen Anträgen hier überhaupt keinen Lösungsansatz, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Es ist trotzdem richtig, wenn wir über die Frage diskutieren: Wie kann aus der Krise auch eine Chance für die deutschen Tourismusregionen werden? Wir müssen es hinbekommen, dass aus dieser Krise ein Schub für den Tourismusstandort Deutschland erwächst. Wir haben für diese Sommerferien neben der Sicherung der Struktur die Aufgabe der Verteilung der Besucherströme; das ist richtig. Glücklicherweise haben die Landesmarketingorganisationen mit der Plattform „Entdecke-Deutschland.de“ vorgelegt. Das muss weiter ausgebaut werden, und das kann aus meiner Sicht auch ein Ausgangspunkt für eine stärkere Zusammenarbeit im Inlandsmarketing sein.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden in diesem Jahr nicht an zu wenigen Touristen im eigenen Land leiden, sondern allenfalls an den Problemen, die eine hohe kurzfristige Nachfrage an wenigen Hotspots auslöst. Da brauchen wir Lösungen; das ist richtig. Das ist aber nicht alleine eine Geldfrage, wie die AfD hier suggeriert. Wenn wir die Tourismuswirtschaft wirklich unterstützen wollen, dann müssen wir unten bei den Strukturen in diesen Regionen anfangen und die Basis stärken.
Dazu gehört auch – das haben wir heute im Ausschuss gehört –, dass wir uns um das Messe- und Kongressgeschäft kümmern. Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist die nationale Tourismusstrategie so wichtig. Deshalb müssen wir gerade jetzt dafür sorgen, dass der Prozess der Strategiefindung um die Erkenntnisse der Pandemie erweitert wird und dass wir vor allem zeitnah wirklich zu einer abgestimmten Strategie kommen.
Was wir jetzt nicht brauchen, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist ein Schnellschuss. Wir müssen die vielen Regionen fördern und als touristische Destinationen ertüchtigen. Wir müssen die Netzwerke schaffen und den Zusammenhalt stärken, und – das ist auch wichtig; das hat Frau Hedorfer heute im Ausschuss gesagt – wir müssen für Nachhaltigkeit sorgen, weil das ein Alleinstellungsmerkmal für deutsche Destinationen werden kann, liebe Kollegen und Kolleginnen.
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Was im Übrigen nicht geht, ist, die Debatte alleine aus einem nationalen Blickwinkel zu betrachten. Es wird auch in diesem Sommer Menschen geben, die Urlaub in anderen Ländern machen werden. Das ist auch gut so, weil es verhindert, dass alle Reisewilligen jetzt zu wenigen Spots in Deutschland strömen, und weil es auch den gebeutelten Reisebüros – Kollege Klinge hat es angesprochen – hilft, die im Outgoing-Bereich mehr Geschäft generieren als im Deutschlandgeschäft. Das muss man an dieser Stelle einfach wissen.
Also: Es kommt am Ende auf die Ausgewogenheit an, sowohl im In- als auch im Ausland. Strukturen erhalten und stärken und dafür einen tragfähigen Plan zu entwickeln, das ist die Aufgabe, der sich diese Bundesregierung jetzt stellen muss, und das ist auch die Aufgabe, der wir uns als Parlament stellen müssen. Aber unterkomplexe Anträge der AfD sind an dieser Stelle nicht geeignet, um dieser Aufgabe gerecht zu werden.
Herzlichen Dank.
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Der nächste Redner: für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Paul Lehrieder.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir diskutieren heute den Antrag der AfD „Mit Deutschlandurlaub aus der Krise“. Ich habe vor wenigen Tagen hier am Rednerpult gestanden und habe aus einem Presseartikel zitiert: Buchungszahlen nehmen wieder zu. – Ich habe dann ziemlich heftig und ziemlich deutlich aus der Branche vernommen, dass nicht in jedem Reisebüro die Buchungszahlen zunehmen, sondern allenfalls quasi der Deutschlandtourismus zunimmt, der aber nicht bei jedem Reisebüro zu steigendem Umsatz führt.
Ich bin sehr dankbar, dass mich sehr viele Reisebüros daraufhin kontaktiert haben und den Lehrieder aufgeklärt und gesagt haben: Jawohl, lieber Lehrieder, bei uns nimmt noch gar nichts zu; bei uns ist die Situation desaströs, nach wie vor grottenschlecht. – Ich war auch bei vielen Reisebüros in den letzten Tagen und habe mich da noch weiter informiert. Deshalb auch ein Dankeschön. Politik beginnt mit der Betrachtung der Realität. Ich habe sehr viel dazugelernt, und ich weiß auch, dass der Deutschlandtourismus nicht immer als Pauschaltourismus gebucht wird, sondern dass viele mit dem eigenen Auto zur Destination fahren und dort nur das Hotel buchen. Dann geht das, wie schon gesagt, komplett am Reisebüro vorbei. Das heißt: Für die Reisebranche bringt der Antrag, so gut er gemeint ist, nicht viel.
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– Der Herr Münzenmaier möchte eine Frage stellen, Herr Präsident.
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Herr Münzenmaier, wenn es Sie drängt und der Herr Lehrieder das zulässt, –
Ja, selbstverständlich.
– dann müssen Sie eine Frage stellen.
Herr Lehrieder, ich bedanke mich ganz herzlich für diese kollegiale Art, die Frage zuzulassen. Vielen Dank, auch an Sie, Herr Präsident. – Sie haben es eben wunderbar richtig angesprochen, und ich gebe Ihnen absolut recht: Wir wollen ja nicht, dass alle Menschen sagen: Okay, ich kann nur noch in Deutschland Urlaub machen. – Denn wir haben ja zwei Anträge gestellt. Beim zweiten Antrag geht es um genau das, was die Reisebüros Ihnen berichtet haben.
Sie haben gesagt, Sie sind lernfähig; das finde ich super. Vielleicht trägt diese Bundestagsdebatte auch noch dazu bei. Denn wir haben ja eben gehört, die Reisebüros wollen Reisen ins Ausland verkaufen, zum Beispiel nach Ägypten, was ich eben angeführt habe. Jetzt wäre es doch eine gute Idee, wenn Sie dann unserem zweiten Antrag zustimmen und sagen: Jawohl, dann heben wir zumindest die pauschale Reisewarnung auf und ersetzen sie durch differenzierte Reisehinweise. – Denn dann können die von Ihnen genannten Reisebüros endlich wieder uns allen auch Reisen beispielsweise nach Ägypten verkaufen. Was halten Sie davon, Herr Lehrieder?
Danke schön.
Danke für die Frage, Herr Kollege. – Ich nehme jetzt mal Ihren zweiten Antrag, wenn Sie schon sagen, dass ich von Ihnen lernen muss. Ich will ja versuchen, von Ihnen etwas zu lernen, aber es fällt mir Gott verdammt schwer. Da schreiben Sie in Ihrem zweiten Antrag in der Begründung – das ist der dritte Satz –: „China, zum Beginn der Krise das am stärksten betroffene Land, ist heute weitestgehend beruhigt.“ Ich weiß nicht, wann Sie diesen Antrag geschrieben haben. Er muss ziemlich aktuell sein, aber Sie haben die zweite Welle in Peking noch gar nicht mitbekommen.
Darüber hinaus schreiben Sie: „Länder wie Süd-Korea und Taiwan haben durch geschickte frühzeitige Maßnahmen …“, „Neuseeland hingegen konnte sich bereits coronafrei melden“. Wir wissen sehr wohl: Bei uns entscheiden mündige Bürger, wo sie hinreisen. Sehr viele Menschen gehen ins Reisebüro und sagen: Ich traue mich momentan nicht, nach Südamerika oder nach Neuseeland oder sogar nach Ägypten oder Tunesien zu reisen, weil ich nicht weiß, wie die Situation dort vor Ort ist. Ist die Hygienesituation vergleichbar mit der in Deutschland? Sind die Abstandsregeln dieselben wie in Deutschland? Was passiert, wenn ich in ein bestimmtes Land reise? Die Reisebüros sind hier sehr wichtig, weil sie die Kunden über die Situation in den Destinationen aufklären.
Aber die pauschale Forderung, alle Reisewarnungen aufzuheben, teile ich nicht. Ich bin sehr dankbar, dass der Außenminister differenzierte Reisehinweise anstelle von pauschalen Reisewarnungen angekündigt hat.
Wir werden die Menschen nur dann mit gutem Gewissen in die verschiedenen Regionen der Welt reisen sehen, wenn wir Vertrauen in die Destinationen und in die Fluggesellschaften haben. Das gilt auch für die Frage: Wie komme ich zurück? Wir werden die Menschen aufklären müssen. Wir müssen ihnen sagen: Du bist bei einer Pauschalreise abgesichert; du wirst zurückgeholt, wenn was passiert.
Und noch etwas: Es ist bereits heute niemandem verwehrt, in jeden Winkel der Welt zu reisen.
So.
Nein, ich bin noch nicht fertig, Herr Präsident.
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Es geht aber um die Frage, ob die Krankenversicherung die Kosten übernimmt, wenn man in einem Land krank wird, für das eine Reisewarnung gilt.
Also, jetzt ist es wirklich gut. Jetzt ist die Frage beantwortet. Jeder hat jetzt verstanden, dass Sie auf die Frage „Was halten Sie davon?“ sagen: Nix!
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Das ist jetzt ausdrücklich klar geworden. Wirklich, das geht so nicht. – Bitte schön.
Aber, Herr Präsident, vielleicht hat er etwas von mir gelernt, wenn ich schon nichts von ihm lernen kann.
Meine Damen und Herren, was braucht die Branche? Wir haben in den letzten Wochen sehr viel über das Thema Provisionen diskutiert. Im Eckpunktepapier des Wirtschaftsministeriums vom 12. Juni stand etwas von der Erstattung bereits gezahlter Provisionen. Die Branche braucht aber auch Hilfe bei Provisionen, die erst jetzt im Sommer fällig werden; Frau Kollegin Hiller-Ohm hat bereits darauf hingewiesen. Derzeit arbeitet das Wirtschaftsministerium mit den Bundesländern massiv an der digitalen Umstellung des Antragsverfahrens, wonach Hilfen nicht nur bei bereits gezahlten Provisionen, sondern auch für jetzt im Sommer anfallende Provisionen gewährt werden. In dem Papier steht zum Beispiel:
Das Ausbleiben einer Provision für das Reisebüro wegen einer Corona-bedingten Stornierung einer Pauschalreise aufgrund der Reisewarnung des Auswärtigen Amtes bzw. innerdeutschen Reiseverboten wird einer Rückzahlung der Provision … gleichgestellt.
Das ist ein Wunsch der Branche, und wir überlegen uns: Was können wir für die Branche tun?
Darüber hinaus – auch darauf hat die Kollegin Hiller-Ohm hingewiesen – ist in den momentan geltenden Vereinbarungen enthalten, dass bei Unternehmen mit bis zu fünf Beschäftigten die Erstattung 3 000 Euro beträgt. Aber es gibt auch eine Härtefallregelung. Die maximalen Erstattungsbeträge können in begründeten Ausnahmefällen überschritten werden: bis zu 50 000 Euro für das Reisebüro, für den Reiseveranstalter. Die Reiseveranstalter selber sagen: Ich bekomme keine Provision, weil ich meine Reisen zum Teil direkt vermarkte. – Für diesen Fall haben wir folgende Formulierung vorgesehen:
... diesen Provisionen vergleichbare Margen kleinerer, ihre Dienstleistungen direkt und nicht über Reisebüros anbietender Reiseveranstalter mit bis zu 249 Beschäftigten, die Corona-bedingt nicht realisiert werden konnten, sind Fixkosten nach Nr. 1 bis 12 gleichgestellt.
Das heißt, wir helfen den Reisebüros, den Reiseveranstaltern mit nicht zurückzuzahlenden Direktzuschüssen. So verbessern wir ein Stück weit die Situation der Branche. Das ist besser, als den Menschen vorzuschreiben, sie müssen in Deutschland Urlaub machen.
Wir machen gerne in Deutschland Urlaub. Ich komme aus der schönsten Gegend Deutschlands, aus der bayerischen Toskana, aus Unterfranken.
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Ich lade Sie fast alle herzlich ein, nach Würzburg zu kommen und dort gemütlich einen Schoppen zu trinken.
Gleichwohl verkennen wir nicht, dass sehr viele Menschen sich auf ihre Reise nach Sri Lanka, Neuseeland, Ägypten, Tunesien oder sonst irgendwohin freuen und dass wir auch das ermöglichen müssen. Daran arbeiten wir in dieser Großen Koalition.
Herr Staatssekretär Wanderwitz, ich bitte, das ins Ministerium mitzunehmen. Das Programm sollte bereits heute, am 1. Juli, in Kraft treten, durch die Digitalisierung wird es aber noch ein paar Tage dauern. Ich rechne damit, dass es bis zum 8. Juli freigeschaltet ist, sodass man die Zuschüsse digital beantragen kann. Das wollen die Menschen draußen hören.
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Und eine Bitte: Vielleicht können Sie über die Kommunikationsabteilung des Wirtschaftsministeriums rechtzeitig eine Presseerklärung herausgeben, damit die Reisebüros, die Reiseveranstalter über die Aktivitäten und über die Problemlösungskompetenz des Wirtschaftsministeriums
allzeit informiert sind.
Herzlichen Dank.
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Der Kollege Michael Donth, CDU/CSU-Fraktion, ist der letzte Redner.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Anknüpfend an meinen lieben Freund und Kollegen Paul Lehrieder muss ich sagen: Es sagen viele Kolleginnen und Kollegen, dass sie aus dem schönsten Land- und Wahlkreis kommen – ich auch –, aber im Unterschied zu allen anderen: Bei mir stimmt es auch.
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Deshalb bin ich immer dabei, wenn es darum geht, Deutschland-Tourismus zu stärken und für Urlaub auf der Schwäbischen Alb, in unserem Biosphärengebiet, in den AlbThermen in Bad Urach oder auch zum Shoppen in Metzingen zu werben.
Aber eigentlich muss ich Ihnen diese und viele andere wunderschöne Regionen in ganz Deutschland, von der Ostsee bis zu den Alpen, von der Saar bis zur Sächsischen Schweiz, gar nicht empfehlen. Sie wissen es: Diese Regionen sind jetzt schon außerordentlich beliebt bei uns deutschen Urlaubern. Damit setzt sich ein Trend der letzten Jahre fort: Die meisten Urlauber in Deutschland kommen aus Deutschland, und Corona verstärkt diesen Trend noch. Viele Urlaubsziele sind schon gar nicht mehr vor Oktober oder November zu buchen. Immer mehr unserer Landsleute entscheiden sich dafür, deutsche Regionen neu zu entdecken, und das ist auch gut so.
Heute schon sehen wir zum Teil in vielen Hotels 100 Prozent Auslastung, ebenso bei vielen Ferienwohnungen im ländlichen Raum. Ich nenne exemplarisch auch die Nord- und Ostsee, wo in den letzten Wochen wegen des hohen Andrangs sogar Strände gesperrt werden mussten, oder den Bodensee, wo es bereits Pfingsten einen großen Andrang gab. In manchen Regionen gab es auch schon erste Beschwerden der Bürger vor Ort, die sich über den großen Andrang der Gäste beschweren.
Diesen Markt will die AfD jetzt noch mehr anheizen mit komplizierten Urlaubsgutscheinen für Buchungen von Juni – er ist übrigens schon vorbei – bis Dezember. Ja, wo sollen denn die Leute noch hin?
Schwerer hat es im Moment noch der Städtetourismus. Das sieht man auch hier in Berlin, wo sich sonst viel größere Touristenmengen durch die Stadt schieben. Aber da hilft kein kostenloser Eintritt oder ein Bonus auf die Buchung; hier braucht es das Vertrauen der Menschen, dass man die Pandemielage auch in den Ballungsräumen, auch in Berlin, im Griff hat.
In Ihrem Antrag verweisen Sie auf die Existenzängste in der Reisebranche und die Zahlen des Deutschen ReiseVerbandes. Ja, das stimmt, aber mit Ihren Vorschlägen helfen Sie denen nicht; denn der Großteil des Inlandstourismus wird von den Menschen direkt gebucht. Den Reisevermittlern helfen wir unter anderem mit dem Konjunkturpaket, indem wir die Provisionen – Kollege Lehrieder hat es sehr ausführlich dargestellt –, die ihnen aufgrund der coronabedingten Absagen entgehen, als Fixkosten anerkennen. Damit können die Kosten durch die Zuschüsse des Bundes anteilig kompensiert werden. Das hilft, und deshalb können Sie dem ja auch zustimmen.
Den Antrag der AfD lehnen wir ausdrücklich ab.
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Er ist unnötig, hilft nichts und ist falsch.
Noch kurz zu Ihrem zweiten Antrag, in dem Sie fordern, pauschale Reisewarnungen aufzuheben. Ich halte es da wie mit den Coronaverordnungen der Länder: Ist die Liste mit Verboten und Einschränkungen deutlich länger als die Liste der Ausnahmen, so macht es Sinn, nur die Ausnahmen aufzuführen, statt Verbote auszusprechen. So ist es auch bei der Reisewarnung. Ich begrüße, dass das Auswärtige Amt den Bürgern übersichtlich kenntlich macht, in welche Länder sie reisen können, anstatt 160 Staaten weltweit in einem unübersichtlichen Katalog einzeln aufzuführen, damit sie wissen, wohin sie eben nicht reisen sollen; zumal in den meisten Ländern, für die eine Reisewarnung gilt, ohnehin Einreiseverbote oder Ausgangsbeschränkungen bestehen.
Das Auswärtige Amt – wir haben auch das schon gehört – prüft seine Reisewarnungen sehr genau und passt sie ständig an. Das ist verantwortungsbewusstes Handeln. Das ist Politik von CDU/CSU und SPD. Deshalb lehnen wir natürlich auch den zweiten Antrag ab.
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Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich beginne meine Rede ausnahmsweise nicht mit einem Stichwort zur Coronapandemie, sondern mit zwei Stichworten, die für uns im BMZ, die für die gesamte Bundesregierung ausschlaggebend sind für die Arbeit, die wir leisten: Armut und Hunger. Die Reduzierung von Armut und Hunger ist Kernbestandteil unserer DNA; das ist die Zielsetzung unserer Entwicklungspolitik.
Armut und Hunger reduziert man am einfachsten, indem man dazu beiträgt, dass Arbeitsplätze entstehen und erhalten bleiben. Wenn es um Arbeitsplätze, um Jobs geht, dann am besten um faire, ordentlich bezahlte Arbeitsplätze.
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Das ist das beste Mittel, um Armut zu bekämpfen. Dazu braucht es Wachstum, dazu braucht es Handel. Der Handel ist immer noch der beste Treiber für wirtschaftliche Entwicklung. Deshalb muss man sich auch um den weltweiten Handel kümmern. Da braucht es gerechte Strukturen, und um diese gerechten Strukturen bzw. ein regelgebundenes Handeln zu sichern, gibt es eine schöne Organisation: die WTO.
Mit der WTO tragen wir dazu bei, dass Handelsbeziehungen fair gestaltet werden können. Das ist genau das, was wir wollen. Wir wollen keinen freien Handel, sondern wir wollen fairen Handel. Darum geht es uns insgesamt.
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Damit sind wir bei dem Punkt, um den es heute in zweiter Lesung geht, beim Beratungszentrum für das Recht der Welthandelsorganisation, ACWL abgekürzt, Advisory Centre on WTO Law. Das ist eine internationale Institution mit Sitz in Genf. Das ist ein kleines, feines Institut, das hohes internationales Ansehen genießt. Davon konnte ich mich bei meinem letzten Besuch in Genf überzeugen.
Dieses Institut kümmert sich um Entwicklungsländer. Warum? Entwicklungsländer haben sehr häufig nur kleine Mannschaften in ihren Vertretungen, haben häufig wenig Kompetenz, wenn es um Handelsfragen geht, und können es sich nicht leisten, teure private Beratung einzukaufen. Deshalb wurde dieses Beratungszentrum eingerichtet. Es unterstützt Entwicklungsländer, wenn es um Streitbeilegungsverfahren innerhalb der WTO geht; denn wo es Regelungen gibt, gibt es auch Regelverstöße, und Regelverstößen muss man nachgehen, und dann gibt es eben Streit.
In diesem Beratungszentrum war Deutschland bisher, seit 2017, assoziiertes Mitglied. Jetzt streben wir die Vollmitgliedschaft an, sofern der Deutsche Bundestag dies am heutigen Tag beschließt. Warum wollen wir das? Ganz einfach: Mit dem Status eines Vollmitglieds kann man umfänglich mitreden, mitbestimmen, auch ein Veto einlegen, wenn das notwendig wäre. Dann bewegen wir uns im Kreis von 11 Industrieländern und 37 Entwicklungsländern. Ich glaube, es steht Deutschland gut an, sich diesem Kreis als Vollmitglied anzuschließen; damit leisten wir einen Beitrag dazu, dass Deutschland seinen internationalen Ruf als verlässlicher Partner in der Entwicklungspolitik auch dort in Genf weiter festigen kann.
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Das waren einige Argumente, die dafürsprechen, als Vollmitglied beizutreten. Ich will noch ein Argument anfügen, das aus meiner Sicht eines der stärksten Argumente ist – es ist nicht das stärkste, aber es ist durchaus ein Argument –: Das Ganze kostet uns eigentlich nichts. Es kostet uns nicht mehr, als wir als assoziiertes Mitglied bereits leisten. Die Mitgliedschaft in diesem Beratungszentrum kostet uns 1,9 Millionen Euro, aufgeteilt in fünf Jahresscheiben; in diesen Coronazeiten ist das ein Betrag, über den es sich fast nicht zu reden lohnt. Danach entstehen keine weiteren Verpflichtungen.
Sie sehen: Dieses Institut erfüllt für die Entwicklungsländer zentrale, ganz wichtige Aufgaben; denn anders können sie sich nicht wehren und ihre Rechte durchsetzen. Dazu leistet dieses Institut einen ganz wertvollen Beitrag. Deshalb bitten wir um Unterstützung und um Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf.
Heute ist ein wahrlich historischer Tag, nicht nur wegen des Beginns der EU‑Ratspräsidentschaft, sondern auch, weil wir als BMZ ganz selten in Gesetzgebungsverfahren eingebunden sind. Wir machen in der Regel keine Gesetze, sondern wir sorgen für gute Taten auf dieser Welt. Deshalb bitte ich nochmals um Zustimmung, gerade angesichts der Situation in den Entwicklungsländern, die von der Pandemie so schwer getroffen sind. Gerade da, wo Hunderten Millionen von Menschen Hunger, Armut und Tod drohen, ist diese kleine, feine Einrichtung besonders wichtig.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
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Der Kollege Markus Frohnmaier hat das Wort für die AfD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Barthle, Sie haben versucht, den Eindruck zu erwecken, als ob hier die Ärmsten der Armen beraten werden. Schauen wir uns einmal an, wer seit 2001 auch beraten worden ist: Indien, Pakistan, Indonesien, Brasilien usw. Darum müssen wir doch mal sagen, worum es hier heute auch geht: Es geht um billige Rechtsberatung für aufstrebende Wirtschaftsmächte und G-20-Staaten.
Sie hören richtig, meine Damen und Herren: Die Bundesregierung möchte, dass Deutschland beim Beratungszentrum der Welthandelsorganisation, der WTO, Vollmitglied wird. Das WTO-Beratungszentrum gibt Entwicklungsländern rechtliche Beratung bei Handelsstreitigkeiten. Nur, welches Land ist im Rahmen der WTO ein Entwicklungsland? Darüber müssen wir auch mal sprechen. Deutschland ist es nicht. Deutschland hat laut Internationalem Währungsfonds ein kaufkraftbereinigtes BIP pro Kopf in Höhe von 55 000 Dollar.
Aber wissen Sie, wer stattdessen Entwicklungsland ist? Katar mit einem BIP pro Kopf von fast 140 000 Dollar, also fast dem Dreifachen des BIP in Deutschland, Macau mit einem BIP pro Kopf von über 113 000 Dollar, also mehr als dem Doppelten des BIP in Deutschland, und Singapur mit einem BIP pro Kopf von circa 105 000 Dollar. Wenn man Luxemburg ausnimmt, sind das übrigens die drei wohlhabendsten Länder auf diesem Erdball. Ich könnte weitermachen: Brunei 85 000 Dollar, Vereinigte Arabische Emirate 70 000 Dollar, Hongkong 67 000 Dollar – alles Entwicklungsländer, wenn es nach der Welthandelsorganisation geht.
Meine Damen und Herren, würden wir die Politik der WTO auf den deutschen Sozialstaat übertragen, dann könnte Bill Gates hier Hartz IV beantragen.
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Sie wollen diese Politik durch die Vollmitgliedschaft Deutschlands noch weiter bekräftigen. Dabei kostet – wir haben es gehört – dieser Spaß bereits jetzt Millionenbeträge. Mal wieder hat nur eine Fraktion die Interessen Deutschlands und seiner Steuerzahler im Blick: die AfD-Fraktion.
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Wir fordern, dass das absurde WTO-System endlich reformiert wird. Es kann nicht sein, dass sich die reichsten Staaten der Erde einfach so selber zu Entwicklungsländern erklären können. Dadurch erschleichen sich diese Länder im Rahmen der Welthandelsorganisation viele ungerechte Vorteile: niedrige Zölle, mehr Zeit bei der Umsetzung von Vorschriften oder eben jetzt eine günstige Rechtsberatung.
Am deutlichsten wird das am Beispiel China. Sie ahnen es bereits: Auch China gilt in der WTO als Entwicklungsland. China, die größte Volkswirtschaft der Erde, China, das ein eigenes Raumfahrtprogramm hat, China, die Nuklearmacht. China dürfte das einzige Entwicklungsland sein, das billionenschwere Entwicklungsprogramme wie die Initiative für die neue Seidenstraße aufsetzt.
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Aber in der WTO behauptet China, ein Entwicklungsland zu sein.
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Und daran droht die WTO zu zerbrechen; denn als Entwicklungsland muss China seinen Markt nicht öffnen und darf Handelsvorteile in Anspruch nehmen, während Europa und die USA dumm aus der Wäsche schauen. Das ist der Kern des Handelskonflikts zwischen China und den USA.
Und was macht Deutschland? Während Peking fortwährend Regeln des Welthandelsrechts bricht, finanziert Entwicklungsminister Müller mit deutschem Steuergeld die Ausbildung chinesischer Manager. Das ist ja auch geschickt, gell? Die Fabriken und die Unternehmen, die China hier in Deutschland aufkauft, bekommen dann gleich noch mit deutschem Steuergeld ausgebildete chinesische Geschäftsführungen dazugeschenkt.
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Die AfD macht bei diesem Unsinn nicht mit.
Vielen Dank.
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Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Sascha Raabe für die SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich habe ja immer wieder das zweifelhafte Vergnügen, nach dem Kollegen Frohnmaier zu reden. Aber wenn er sagt, die AfD macht den Unsinn nicht mit, dann sage ich: Ich mache jetzt den Unsinn auch nicht mit, jedes Mal hier wieder richtigzustellen, was Sie so verzapfen.
Wenn Sie hier den Eindruck erwecken, wir würden Steuergelder in Länder wie Katar vergeben, dann lenken Sie davon ab, dass wir zum Glück den Ärmsten der Armen helfen. Ich werde jetzt hier nicht weiter alle Ihre unsäglichen Äußerungen widerlegen. Ihnen würde ein Beratungszentrum der WTO – egal wie es ausgestaltet ist – auch nichts nutzen.
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Sie bräuchten ein eigenes Beratungszentrum für die AfD, und das wäre auch zum Scheitern verurteilt, hoffnungslos.
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Ich möchte zum Thema kommen; denn eigentlich ist es jetzt eine schöne Woche für uns Entwicklungspolitikerinnen und ‑politiker. Morgen Vormittag werden wir im Konjunkturpaket bzw. im Nachtragshaushalt 3,1 Milliarden Euro für dieses und nächstes Jahr zusätzlich für Entwicklungszusammenarbeit beschließen, damit wir die schlimmsten Folgen der Coronapandemie eindämmen können, auch die sozialen und wirtschaftlichen Folgen, und zusätzlich noch 450 Millionen Euro für humanitäre Hilfe.
Schon in den letzten drei Jahren dieser Legislaturperiode haben wir den normalen Haushalt immer mit ODA-Mitteln um jeweils 1 Milliarde Euro aufgestockt. Damit konnten wir in der Tat viele gute Projekte in Entwicklungsländern umsetzen. Darauf, dass wir das als Parlamentarier erreicht haben und dort vielen Menschen helfen konnten, können wir stolz sein.
Aber natürlich müssen wir unsere Entwicklungszusammenarbeit immer kohärent mit unserer europäischen Agrar- und Handelspolitik verknüpfen – damit sind wir in der Tat beim Thema WTO, der Welthandelsorganisation –, zum Beispiel, wenn wir mit unseren Mitteln für die ländliche Entwicklung helfen, dass Kleinbauern ein Auskommen haben. Ich nehme mal das Beispiel Ghana, das im Vergleich zu anderen afrikanischen Ländern durchaus ein gutes Beispiel ist. Da gibt es Tomatenplantagen, die viele Jahre lang gut funktioniert haben, weil die Tomaten dort auch von den Einheimischen selbst gegessen werden. Wir wissen aber, dass immer mehr Tomatenbauern in den letzten drei, vier Jahren pleitegegangen sind, weil Tomaten aus China, den USA, aber auch aus Europa, gerade aus Süditalien, in großen Mengen dort eingeführt werden; durch die subventionierte Landwirtschaft in Europa, auch durch die interne Stützung, die es noch gibt, wird den Menschen die Existenzgrundlage entzogen. Und die gleichen Tomatenbauern, die da ihre Arbeit verloren haben, die gerne in ihrem eigenen Land gearbeitet haben, sind zum Teil als Armutsflüchtlinge nach Europa gekommen und arbeiten jetzt in Süditalien wieder auf Tomatenplantagen, im europäischen Vergleich im Prinzip zu einem Hungerlohn.
Deswegen ist es wichtig, dass wir Entwicklungsländer stärken, in der WTO ihre Rechte wahrzunehmen. Deshalb unterstützen wir natürlich diesen Gesetzentwurf.
Aber ich erinnere als jemand, der seit 2002 im Entwicklungsausschuss und für das Thema WTO, Welthandel und Handel zuständig ist, daran: Wir haben seit 2001 bei der WTO eine Doha-Entwicklungsrunde. Eigentlich haben die Industrieländer 2001 beschlossen, den Welthandel so umzustellen, dass vor allem die Entwicklungsländer stärker vom Handel profitieren sollen. Diese Doha-Runde ist daran gescheitert, dass auch die Europäische Union nicht bereit war, ihre Agrarsubventionen zurückzufahren. Und dann haben die Entwicklungsländer irgendwann mal gesagt: Wenn ihr von uns immer weitere Themen wollt und weitere Forderungen stellt, sind wir nicht bereit, hier weiter mitzumachen.
Ich habe damals immer sehr scharf kritisiert, dass die EU da ihre Position nicht verändert hat. Mittlerweile haben wir zwar offiziell beschlossen, dass die Agrarexportsubventionen auslaufen. Aber so hoch, wie das interne Stützungsniveau immer noch ist, können viele Kleinbauern da ganz einfach nicht mithalten. Deswegen müssen wir weiter darangehen, dass wir in der Europäischen Union im Agrarbereich fairer werden und nicht weiter nur die Agrarrohstoffe aus Entwicklungsländern nach Europa importieren – Kaffeebohnen, Kakaobohnen oder auch Soja als Futtermittel –, um sie dann hier weiterzuverarbeiten und wieder in alle Welt zu exportieren. Davon werden Entwicklungsländer keine Wertschöpfung haben, und deswegen brauchen wir fairen statt freien Handel, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage von dem Kollegen von der AfD?
Ja.
Sehr geehrter Herr Raabe, danke, dass Sie die Frage zulassen. – Es wundert mich ja jedes Mal, wenn Sie nach der AfD das sagen, was Sie immer sagen. Die Anträge der AfD zielen ja gerade auf Wertschöpfungsketten. Was Sie eben gesagt haben, unterstreicht eigentlich genau unseren Ansatz. Aber nach 60 Jahren fehlgeleiteter Entwicklungspolitik, die Sie ja mit vorantreiben
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– sie ist fehlgeleitet –, ist es eben am afrikanischen Kontinent nicht dazu gekommen, Wertschöpfung aufzubauen und Arbeitsplätze zu sichern.
Das, was wir heute im Ausschuss gehört haben, dass durch EU-Subventionen auch der afrikanische Markt überschwemmt wird, liegt ja daran, dass wir es nicht schaffen, in Afrika vernünftig zu investieren, Wertschöpfung aufzubauen, Industrialisierung, Elektrifizierung.
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Das sind ja genau die Punkte der AfD, die Sie letztens wieder abgelehnt haben, Stichwort „Covid-Antrag“ und „Binnenmarkt“. Und jedes Mal reden Sie sich eigentlich um Kopf und Kragen.
Ich möchte abschließend eins sagen. Sie sind immer der Lieferkettenverfechter. Wir haben damals hier in diesem Bundestag einen Antrag mit der Forderung gestellt, die Elektromobilität zum Schutz der Entwicklungsländer zu stoppen, solange die Lieferketten nicht entsprechend geregelt sind. Und Sie tragen Schuld daran, dass der Kontinent durch Ihre Politik ausgebeutet wird, die immer nur schwammi, schwammi ist. Und Sie brauchen nicht hinter Herrn Müller herzulaufen, weil der es ja auch schon die ganze Zeit falsch macht. Hören Sie einfach mal auf die AfD und setzen Sie vernünftige Politik um, und das heißt: Binnenmarkt und Wertschöpfungskette in Afrika stärken!
Danke.
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Herr Kollege, das muss ich jetzt schon mal im Detail beantworten, weil Sie da immer so ein paar Sätze hinschmeißen, worauf man schon mal eine detaillierte, erklärende Antwort geben muss.
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Zum ersten Komplex, den Sie genannt haben, dass wir angeblich Wertschöpfungsketten verhindern würden: Sie sagen doch immer, wenn wir Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit einsetzen wollen, dass das Geld in Deutschland bleiben muss. Sie müssen sich halt mal die Mühe machen, in die Haushaltspläne reinzuschauen und mit der GIZ und der KfW zu reden. Ein Großteil unserer Programme zielt gerade darauf ab, auch kleine und mittelständische Unternehmen in Entwicklungsländern zu stärken. Für Wertschöpfung muss man auch Geld in die Hand nehmen und sie fördern. Und jedes Mal, wenn wir das machen, sagen Sie als AfD: Das Geld muss hier in Deutschland bleiben; wir können doch nicht irgendwelche Steuermittel nach Afrika schicken. – Ich habe noch nicht erlebt, dass Sie hier einmal einem Antrag zugestimmt hätten, in dem wir mehr Geld für unsere Programme wollten, um genau das zu fördern. Und dann sagen Sie: Entwicklungszusammenarbeit ist gescheitert. – Also, man kann das Glas immer als halb voll oder halb leer titulieren.
Ich sage es mal so: Wir haben schon geschafft, auch mit Mitteln der Entwicklungszusammenarbeit, dass der Anteil der Hungernden an der Weltbevölkerung sich seit 1990 halbiert hat. Man muss ja auch sehen: Die Weltbevölkerung ist extrem gestiegen. Jetzt kann man sagen, und das sage ich auch: Es ist ein Skandal, dass wir immer noch zwischen 800 Millionen und 900 Millionen Hungernde haben. Aber wenn man so tut, als hätte es gar nichts bewirkt, finde ich, tut man sehr vielen Entwicklungshelferinnen und Entwicklungshelfern unrecht, die – seien es NGOs oder auch staatliche Durchführungsorganisationen – auch mit unserer Unterstützung viel getan haben. Da müssen Sie sich auch mal vor Ort anschauen, was es für viele Familien bedeutet hat, wenn wir dafür gesorgt haben, dass dort mit Mikrokrediten zum Beispiel neues Land gekauft werden kann, wenn wir Schulbildung und Gesundheitsversorgung ermöglicht haben.
Das ist mir ein bisschen zu lapidar, und das eine hängt mit dem anderen zusammen. Wertschöpfung schafft man nur, wenn man in Bildung investiert. Deswegen ist es gut, dass wir uns jetzt auch weiter für die globalen Bildungsprogramme einsetzen, wenn wir uns für den Global Fund einsetzen, damit Kinder nicht krank zur Schule gehen.
Sie können das nicht immer nur so verkürzen und sagen: Nur das eine ist gut. – Und selbst da sind Sie dann dagegen, die Mittel zur Verfügung zu stellen.
Und zu dem, was Sie im Zusammenhang mit der Elektromobilität ausgerechnet mir vorhalten: Ich habe 2015/2016 – das können Sie gerne nachlesen – maßgeblich dazu beigetragen, dass wir eine EU-Verordnung über Konfliktmineralien auf den Weg gebracht haben. Ich war selbst im Kongo und habe mir diese Minen angeschaut. Das ist die erste verbindliche gesetzliche Regelung EU-weit, durch die wir nun wenigstens bei einem Teil der Mineralien eine Sorgfaltspflicht haben.
Und wenn Minister Müller und Hubertus Heil jetzt vor allem mit Unterstützung der SPD anstreben – wir haben das in den Koalitionsvertrag hineingebracht –, dass eben auch die menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten für alle Branchen und für die gesamte Lieferkette und dann auch für Kobalt und weitere Mineralien, die im Elektromobilitätssektor wichtig sind, mit aufgenommen werden, dann können Sie doch nicht so tun, als wären wir untätig.
Natürlich wäre es auch mir lieber – so geht das vielleicht allen politisch engagierten Kollegen –, die EU würde ständig nach meiner Pfeife tanzen. Da muss man eben auch dicke Bretter bohren. Aber es ist doch richtig, dass wir es machen, dass wir uns dafür einsetzen und nicht nur wie die AfD sagen: Am deutschen Wesen soll die Welt genesen, nur für Zwecke hier in Deutschland darf das Geld fließen. – Nein, wir werden anderen Menschen helfen. Das werden wir auch weiterhin tun, sehr geehrter Herr Kollege.
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Herr Friedhoff, nehmen Sie Platz.
Weil wir eben die WTO-Runde als Entwicklungsrunde leider nicht erfolgreich zu Ende gebracht haben, sind in den letzten Jahren immer mehr Freihandelsabkommen entstanden. Ich finde, wir müssen verstärkt darauf achten, dass in den Nachhaltigkeitskapiteln in diesen Freihandelsabkommen Umweltstandards, Sozialstandards, Menschenrechte und Arbeitnehmerrechte nicht nur immer genannt werden, sondern auch mit Beschwerde- und Sanktionsmechanismen überprüft werden können.
Da macht mir gerade jetzt während der EU-Ratspräsidentschaft das Abkommen mit den Mercosur-Staaten, unter anderem mit Brasilien, große Sorgen, weil die Rechte von Arbeitnehmern in Brasilien in den letzten zwei Jahren von der ILO so eingestuft wurden, dass Brasilien zu den fünf schlimmsten Ländern gehört, was die Verletzung von Arbeitnehmerrechten angeht, mal davon abgesehen, dass dort die Agrarindustrie großes Interesse daran hat, weitere Regenwaldflächen zu roden, um dort Soja und andere Agrarprodukte anzubauen, die sie zollfrei hierher exportieren will.
Deswegen, Herr Minister Müller, habe ich mit Freude bemerkt, dass Sie neulich in einem Interview gesagt haben: Diese Nachhaltigkeitskapitel müssen sanktionsbewehrt nachgebessert werden. – Ich hoffe auch, dass unser Staatssekretär im Auswärtigen Amt Niels Annen, Heiko Maas, unser Arbeitsminister und unsere Umweltministerin sich jetzt wirklich dafür einsetzen, dass diese Ratspräsidentschaft dafür genutzt wird, dass dieses Handelsabkommen mit den Mercosur-Staaten so nachgebessert wird, dass es am Ende wirklich nur dann unterzeichnet werden kann, wenn wir eine massive Verbesserung haben; denn so ein Abkommen muss dazu genutzt werden, dass unsere Werte, dass universell gültige Menschenrechte, dass Arbeitnehmerrechte, dass existenzsichernde Löhne, dass auch Umweltschutz dort verankert sind. Einem Präsidenten wie Bolsonaro kann man in so einem Vertrag nicht durchgehen lassen, dass lediglich von einer Absichtserklärung die Rede ist. Darin müssen verbindliche, sanktionsbewehrte Regeln stehen.
In diesem Sinne fordere ich, Herr Minister, dass Sie noch mal Gas geben, sich gegenüber Ihrem Kollegen Altmaier, der da leider noch eine andere Auffassung hat, durchsetzen, sodass wir dann wirklich fairen statt freien Handel bekommen. Wenn wir als Parlament auch weiter auf diesem Weg gehen, glaube ich, dass wir die EU-Ratspräsidentschaft zu einem Ergebnis führen können, das auch für die ärmsten Menschen auf der Welt einen Fortschritt bedeutet; denn natürlich wollen wir am Ende erreichen, dass Politiker wie ich, der ich im nächsten Jahr aufhören werde, irgendwann mal arbeitslos sind, weil wir keine Entwicklungspolitiker mehr brauchen, da Menschen in der Tat in der Lage sind, durch ihrer eigenen Hände Arbeit würdig zu leben und ihre Ware zu einem anständigen, fairen Preis auf den Weltmärkten zu verkaufen. In dem Sinne: Lassen Sie uns diese Vision wahrmachen!
Danke.
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Vielen Dank, Dr. Sascha Raabe. – Ich bin schockiert über die Ankündigung, dass Sie aufhören wollen. Gehen Sie ins Fußballgeschäft? – Er hört mir nicht zu.
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Es geht mich eigentlich nichts an. Aber das war jetzt ein Schock.
Schönen guten Abend, liebe Kolleginnen und Kollegen! – Nächste Rednerin: für die FDP-Fraktion Sandra Weeser.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Die Freien Demokraten begrüßen den Beitritt von Deutschland zum Beratungszentrum für Recht der WTO. Dieses Zentrum ist deshalb so wichtig, weil es Entwicklungsländer im multilateralen Handelssystem stärkt. Gerade Entwicklungsländer können häufig kaum von ihren Rechten Gebrauch machen und profitieren so auch nicht von gleichen Bedingungen wie stärkere Länder. Deshalb brauchen wir das im Augenblick mehr als je zuvor; denn Handel ist ein Entwicklungsmotor, der die Armut reduziert und gleichzeitig Chancen schafft.
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Die Pandemie hat dem Protektionismus weiter Aufschwung gegeben. Schwellen- und Entwicklungsländer dürfen jetzt nicht durch zunehmendes Reshoring oder zum Beispiel durch restriktive Gesetze von Lieferketten ausgeschlossen worden. Deshalb müssen die WTO-Regeln für freien und gerechten Handel durchgesetzt werden. Um den Welthandel nach Corona wieder stärker zu machen und vor allen Dingen fair zu machen, ist die WTO doch die richtige Organisation. Wir müssen sie handlungsfähig machen; wir müssen sie wieder funktionsfähig machen. Ohne den freien Handel und offene Märkte wird übrigens auch Deutschland bald vom Exportweltmeister zum Auswechselspieler werden.
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Leider kam Deutschlands Beitritt zum Beratungszentrum viel zu spät. Aber jetzt muss die Bundesregierung die Möglichkeit der EU-Ratspräsidentschaft nutzen. Handelspolitik und insbesondere die Inklusion von Entwicklungsländern in den Welthandel müssen wir ganz dringend wieder oben auf unsere Agenda setzen. Die Nachfolge im Amt des WTO-Generaldirektors bietet hier eine ganz tolle Chance; denn die EU hat einen Anteil von 30 Prozent am Welthandel. Wir sind somit die wichtigste Stimme in der WTO. Deswegen fordern wir Freien Demokraten einen europäischen Kandidaten für den Posten des WTO-Generaldirektors.
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Dazu gehört natürlich auch, einerseits in der EU kritische Fragen wie den Zugang zum Binnenmarkt für starke Entwicklungsländer anzusprechen und andererseits bei den bilateralen Handelsabkommen Druck zu machen und das Mercosur-Abkommen, das wir eben schon erwähnt haben, voranzubringen. Der Bundestag muss endlich auch mal CETA ratifizieren.
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Das alles stärkt auch die WTO, weil Handelsabkommen weltweit Rechtssicherheit schaffen.
Ich glaube, vielen hier im Haus ist gar nicht bewusst, dass wir mit einer Freihandelspolitik vor allem Schwellen- und Entwicklungsländer stärken. Für diese Mammutaufgabe brauchen wir in der WTO einen starken Generaldirektor, der über weitreichenden politischen Rückhalt verfügt, ohne sich aber abhängig machen zu müssen. Aktuell wird vor allem diplomatisches Gewicht gebraucht. Hier könnte zum Beispiel eine EU-Kandidatin für Entwicklungsländer sogar mehr leisten als ein eigener Kandidat; denn sie könnte als Moderatorin zwischen den USA und China agieren, und sie könnte als starke, aber auch faire Stimme für die Schwellen- und Entwicklungsländer tätig sein.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Sandra Weeser. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Eva-Maria Schreiber.
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Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Wir reden heute über einen Beitritt Deutschlands als Vollmitglied zum Beratungszentrum für das Recht der Welthandelsorganisation, Advisory Centre on WTO Law , ACWL. Das 1999 gegründete und von der WTO unabhängige Zentrum unterstützt Entwicklungs- und Schwellenländer, wenn sie in Handelsfragen anwaltliche Hilfe benötigen, und organisiert Kurse in WTO-Recht. Nachdem Deutschland 2017 assoziiertes, also nicht stimmberechtigtes Mitglied im ACWL geworden ist, ist es höchste Zeit für die Vollmitgliedschaft. Darauf hätten Sie eigentlich gleich kommen können, oder?
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Wir kritisieren aber, wie die Bundesregierung ihren Gesetzentwurf begründet. Denn es erscheint erst mal so, dass die Rechte der Schwächeren zu stärken nicht das oberste Ziel ist. Sie begründen ihn nämlich damit, dass die ökonomisch schwachen Länder sich immer noch zu wenig an internationalen Handelsabkommen beteiligen. Wir halten aber Handelsverträge, wie zum Beispiel das Abkommen mit den Mercosur-Staaten oder die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen der EU mit einigen afrikanischen Staaten, grundsätzlich für unfair, weil sie die wirtschaftlich ungleichen Kräfteverhältnisse nicht ausreichend berücksichtigen. Deswegen lehnen wir den Antrag der FDP auch ab.
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Diese Ungleichheit ist einer der vielen Gründe, warum Die Linke das heutige Wirtschaftssystem kritisiert. Diese unfaire neoliberale Weltwirtschaftsordnung mit ihren organisatorischen Pfeilern Welthandelsorganisation, Weltbank und Internationaler Währungsfonds führt seit Jahrzehnten zu immer mehr Ungleichheit und Armut im globalen Süden. Das lehnen wir ab.
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Wir wollen eine grundsätzlich andere, am Wohl der Menschen und der Umwelt orientierte Wirtschaftsordnung. Wir wollen eine Politik, die der Privatwirtschaft einen Riegel vorschiebt, wenn sie ihre Verluste auf die Allgemeinheit abwälzen will, während sie die Gewinne in die eigene Tasche steckt. Solch ein Verhalten ist einfach unmoralisch.
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Das muss man sich mal vorstellen: Jetzt, mitten in der Coronakrise, bereiten schon wieder globale Anwaltskanzleien den Boden für Investor-Staat-Klagen, also für Klagen gegen Maßnahmen, die Regierungen ergriffen haben, um Leben zu retten, die Pandemie einzudämmen und ihre wirtschaftlichen Folgen abzumildern – weil diese Maßnahmen den Profit der Investoren verringern, den Betrieb verzögern oder die Unternehmen von staatlichen Leistungen ausschließen. Das ist unanständig und skandalös.
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Und genau an dem Punkt landen wir wieder beim Beratungszentrum. In solchen und anderen Fällen kann das Beratungszentrum mit seinen Angeboten dabei helfen, die Ungerechtigkeiten zwischen Industrie- und Entwicklungsländern wenigstens etwas zu minimieren; das begrüßen wir. Deshalb wird Die Linke dem vorliegenden Gesetzentwurf zustimmen.
Danke.
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Vielen Dank, Eva-Maria Schreiber. – Nächster Redner: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Uwe Kekeritz.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich nehme es vorweg: Wir stimmen dem Antrag zu. Wir unterstützen auch das multilaterale Handelsregime. Es stellt sich aber schon ein bisschen die Frage, ob denn so ein Beratungszentrum negative Entwicklungen, also Schlechtes, verhindern kann. Minister Müller meint, ja, und auch ich meine, ja – wenn denn der politische Wille gegeben ist; aber der fehlt halt oftmals. Und wenn der politische Wille nicht gegeben ist, dann wird auch so ein Beratungsinstitut ins Leere laufen.
Ich muss mich ein bisschen wundern über das Hohelied auf den internationalen Handel, der WTO-organisiert ist. Ich freue mich ja darüber; das unterstütze ich auch. Aber wir müssen doch auch ganz klar sehen, dass die WTO heute auf dem Abstellgleis steht, und diese Bundesregierung – jetzt nicht der Herr Müller, aber der Rest der Bundesregierung – hat doch einen erheblichen Anteil daran, dass die WTO auf dem Abstellgleis steht.
Ich finde es fast schon etwas zynisch, wenn Entwicklungsländern mit anwaltlichem Beistand in Handelsfragen Hilfestellung gegeben werden soll, während gleichzeitig Wirtschaftspartnerschaftsabkommen wie FTAs en masse verabschiedet werden. Vorhin wurde das EPA-Konstrukt im Zusammenhang mit Afrika angesprochen. Wir wissen: Dieses Freihandelsabkommen schädigt eher die Entwicklungschancen vieler Länder.
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Immer noch setzt die Kanzlerin im Rahmen der Präsidentschaft auf den Abschluss des Mercosur-Abkommens – und da kann auch kein Beratungsinstitut mehr helfen. Mit dem Mercosur-Abkommen ignoriert die Bundesregierung auch illegale Rodungen im Amazonas, ignoriert massive Menschenrechtsverbrechen an den Indigenen. Sie unterstützt deutschen Export nicht zugelassener oder gar verbotener Pestizide. Sie setzt auf eine verantwortungslose Massentierhaltung. Wir können es zusammenfassen: Eigentlich fördert sie nach wie vor das System Tönnies.
Vergessen Sie auch nicht die Doha-Runde; Sascha Raabe hat es angesprochen. Warum ist die Doha-Runde von den westlichen Ländern systematisch an die Wand gefahren worden? Ja, es ging um die Subventionen im Agrarbereich. Wir wissen: Wenn die Länder eine Entwicklungschance haben sollen, dann ist das auch eine Ernährungsfrage. Das heißt, es geht um Agrar- und Fischereiprojekte. Es ist einfach unerträglich, dass wir weiterhin darauf bestehen, dass unser Agrar- und Fischereisektor subventioniert wird.
({1})
Es fehlt hier der politische Wille einer Änderung, und da hilft auch kein Beratungsinstitut.
Das macht doch, glaube ich, deutlich: Es braucht einen Paradigmenwechsel bezüglich der WTO. Das Beratungsgremium spielt dabei überhaupt keine oder nur eine sehr winzige Rolle. Ich glaube, das ist auch der Grund, warum man jetzt plötzlich Vollmitglied wird. Das kostet keinen Pfennig mehr, man kann mit abstimmen, und man kann noch mal in die Öffentlichkeit gehen.
Ja, Beratung ist gut und richtig, meine Damen und Herren, Kolleginnen und Kollegen. Sie ersetzt aber keine ehrliche und sie ersetzt auch keine faire Handelspolitik, und darauf kommt es an.
Danke.
({2})
Vielen Dank, Uwe Kekeritz. – Der letzte Redner in dieser Debatte: für die CDU/CSU-Fraktion Johannes Selle.
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Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es handelt sich um ein kurzes und leicht verständliches Gesetz, das wir heute beschließen wollen. Wer dem Schwachen zu seinem Recht verhelfen will, der sollte diesem Gesetz zustimmen. Wir wissen nur zu gut, dass es nicht reicht, recht zu haben; man muss auch recht bekommen. Dazu kommt noch, dass man sich die Rechtsstreitigkeiten leisten können muss. Selbst wenn es nicht am Geld scheitert, braucht man die Fähigkeit, auf der Klaviatur des Rechtssystems auch spielen zu können. Und genau darum geht es heute: finanzielle Entlastung und qualifizierte Beratung.
Wir treten mit unserem Beschluss dem Beratungszentrum für das Recht der Welthandelsorganisation bei, das seinen Mitgliedstaaten in solidarischer Weise Unterstützung anbietet bei dem inzwischen umfangreichen Rechtsgeflecht der Welthandelsorganisation. Den am wenigsten entwickelten Ländern entstehen bei der Inanspruchnahme keine Kosten; den anderen entstehen Gebühren, gestaffelt. Das sei noch mal festgehalten. Die Entwicklungsländer zeigen sich mit 68 Prozent Zustimmung sehr zufrieden mit dem Beratungszentrum. Im Durchschnitt wird das Zentrum im Jahr 200-mal für Gutachten und 17‑mal für Rechtsstreitigkeiten in Anspruch genommen.
In der Überzeugung, dass der Welthandel zum Vorteil für die Nationen werden kann, wenn man sich Regeln gibt für den fairen Umgang miteinander, wurde die Welthandelsorganisation 1995 gegründet. Die Zahl der Verträge wächst schnell und damit der Bedarf nach Streitschlichtung. Wenige Jahre später wird deutlich, dass nicht alle Staaten institutionell und finanziell in der Lage sind, ihr Recht zu erkennen und einzufordern. Also kommt es 1999 zum Vorschlag des Beratungszentrums, dem nun 11 Industrieländer und 37 Entwicklungsländer angehören.
Das klingt nach einem zivilisierten und abgerundeten System. Nur, leider ist die Arbeitsfähigkeit der Welthandelsorganisation insgesamt im Moment nicht gegeben. Das können wir nicht ignorieren, wenn wir heute dieses Thema behandeln. Die Lage ist dramatisch. Das hat eine Videokonferenz mit unserem Vertreter in Genf in der letzten Woche noch einmal unterstrichen.
Für unsere eigene Wirtschaft und für unsere Ziele in der internationalen Gemeinschaft, Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit und Umweltschutz voranzubringen, ist die Welthandelsorganisation ein bedeutender Faktor. Mit über 30 Prozent Anteil am Welthandelsvolumen ist Europa stärkster Akteur, vor den USA mit 11 Prozent und China mit 10 Prozent. Es wäre für Europa so wichtig, die Welthandelsorganisation vital zu halten. Stattdessen scheint sie am Streit zwischen China und den USA zu zerbrechen.
Deshalb wollen wir diese Gelegenheit im Plenum nutzen, um unsere Regierung zu ermutigen, die heute beginnende Ratspräsidentschaft Deutschlands zu nutzen, um Europas Rolle im Welthandel zu stärken und die Marktmacht einzusetzen, um die Welthandelsorganisation zu erhalten und ihre Arbeit zu befruchten. Prozesse im Welthandel benötigen viel Zeit, manchmal gibt es Fortschritte und Hoffnung – und immer wieder Enttäuschung und Unvollendetes, wie es die Kollegen schon angesprochen haben. Gerade in dieser Zeit des coronabedingten Niedergangs des Welthandels braucht es funktionierende Institutionen.
Wir diskutieren in Deutschland, wie wir mit einem Lieferkettennachweis faire Produktionsbedingungen voranbringen können. Diese Idee gehört in die Weltwirtschaft. Unsere Anstrengungen, globale Güter besser zu schützen, müssen den Welthandel einbeziehen. Für unsere Bemühungen, Arbeitsplätze und Perspektiven in der Heimat für die Millionen junger Menschen zusammen mit den reformwilligen Ländern zu schaffen, braucht es faire Regelungen des Marktzugangs und des Welthandels. Unser Beitritt zum Beratungszentrum ist sinnvoll. Inzwischen geht es darum, die Welthandelsorganisation selbst zu stärken, damit uns das sinnvolle Welthandelssystem erhalten bleibt.
Ich bitte um Ihre Zustimmung zum Gesetz und um Unterstützung für die wichtigen Anliegen, zu denen wir den fairen Welthandel brauchen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Johannes Selle. – Damit schließe ich die Aussprache.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema Nachholfaktor mag auf den ersten Blick wie eines nur für rentenpolitische Experten erscheinen. Das Thema ist aber von grundlegender Bedeutung für unsere Gesellschaft, und das gleich aus zwei Gründen: Der erste Grund ist Fairness, und der zweite Grund ist Solidität. Renten und Löhne sollen sich grundsätzlich immer im Gleichklang entwickeln. Das ist ein jahrzehntealter Grundsatz unserer Rentenversicherung, und auf diesen Grundsatz muss sich jede und jeder in unserem Land verlassen können. Das gilt für die Rentnerinnen und Rentner von heute, und das muss auch für die Rentnerinnen und Rentner von morgen gelten, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Worum es heute nicht geht, ist die Tatsache, dass am heutigen Tag die Rentnerinnen und Rentner in unserem Land eine Rentensteigerung bekommen. Das ist eine sehr gute Nachricht, und das ist auch absolut richtig so.
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Das haben sich die Rentnerinnen und Rentner verdient; denn die Renten steigen dieses Jahr, weil die Löhne im letzten Jahr gestiegen sind. Dieses Jahr sind wir allerdings in einer schweren Wirtschaftskrise: Menschen haben ihren Arbeitsplatz verloren, Menschen sind millionenfach in Kurzarbeit. Nächstes Jahr müssten deshalb theoretisch auch die Renten sinken. Das ist seit der letzten Krise 2008/2009 gesetzlich ausgeschlossen durch die sogenannte Rentengarantie.
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Ich will ausdrücklich sagen: Auch das ist völlig richtig.
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Auch das halten wir für absolut richtig; denn darauf müssen sich die Rentnerinnen und Rentner in diesem Land verlassen können, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Worum es vielmehr geht, ist die Frage, was danach passiert, in den dann folgenden Jahren. Denn als die Rentengarantie damals, 2008/2009, eingeführt wurde, wurde sie natürlich mit dem sogenannten Nachholfaktor verbunden. Der Nachholfaktor sorgt dafür, dass die Rentengarantie so verrechnet wird, dass die Renten langfristig nicht stärker steigen als die Löhne. Das hat die damalige Regierung unter dem damaligen Sozialminister Olaf Scholz versprochen.
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Denn wenn die Renten stärker steigen als die Löhne, dann wäre das unfair; denn das ginge voll zulasten der jungen Generation, und das darf nicht sein, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({6})
Diese Regierung aber hat den Nachholfaktor dann 2018 aus der Rentenformel herausgenommen. Damit haben Sie dafür gesorgt, dass sich Renten und Löhne potenziell eben nicht mehr im Gleichklang entwickeln. Wir müssen aber als Gesellschaft über die Generationen hinweg zusammenhalten, so wie in der letzten Wirtschaftskrise auch, liebe Kolleginnen und Kollegen. Deshalb wollen wir den Nachholfaktor wieder einführen. Das ist eine Frage der Gerechtigkeit, konkret: der Generationengerechtigkeit, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Das ist aber eben auch eine Frage der finanziellen Solidität. Wir sind als Land in dieser Krise doch so gut aufgestellt, weil wir in guten Zeiten auf solide Finanzen geachtet haben. Deshalb müssen wir auch auf stabile Rentenfinanzen achten.
Ich spreche Sie ganz direkt an, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, gerade den sogenannten Wirtschaftsflügel. Um das mal zu quantifizieren: Monatelang haben Sie die Grundrente streitig gestellt wegen einer angeblich unsoliden Finanzierung. Die Grundrente wird im Einführungsjahr 1,3 Milliarden Euro kosten. Den Nachholfaktor nicht wieder einzuführen, das würde künftig 12 Milliarden Euro kosten, also fast das Zehnfache. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, hier habt ihr eine Verantwortung für solide Finanzpolitik, und der müsst ihr gerecht werden.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, wir fordern hier nichts anderes, als die gute alte Rentenformel von Olaf Scholz wieder einzuführen. Was für den Sozialminister Olaf Scholz eine generationenpolitische Selbstverständlichkeit war, für den Mann, den Sie zum Kanzlerkandidaten machen wollen, das kann doch für den Sozialminister Hubertus Heil nicht falsch sein, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD. Und deshalb: Führen Sie den Nachholfaktor wieder ein!
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Ich glaube, dass das hier gar keine parteipolitische Streitfrage sein muss. Ich glaube, dass Sie 2018 gar nicht intendiert haben, den Nachholfaktor auszusetzen.
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– Ja, es wäre erschreckend, wenn es so wäre, liebe Kolleginnen und Kollegen. – Ich will Ihnen mal unterstellen, dass Sie einfach davon ausgegangen sind, bis 2025 werde es schon keine schwere Wirtschaftskrise geben. Darauf haben wir alle gehofft. Dieser Tage zeigt sich aber, wie wichtig es bei der Rente ist, in Jahrzehnten zu denken und nicht in Legislaturperioden.
Ich gehe einmal davon aus, dass alle hier in diesem Haus eigentlich den Grundsatz stützen, dass sich Rente und Löhne im Gleichklang entwickeln müssen
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und dass die Generationen gerade in einer Krise zusammenhalten sollten.
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Falls das so ist, müssen wir den Nachholfaktor wieder einführen.
({13})
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Johannes Vogel. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Max Straubinger.
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Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute einen Antrag der FDP-Fraktion, und da lohnt es sich schon, gleich wieder die Überschrift richtig zu lesen; denn sie schreibt: „Corona-Krise generationengerecht überwinden – Nachholfaktor in der Rentenformel wiedereinführen“. Ich wüsste nicht, dass wir den abgeschafft haben, liebe Kollegen und Kolleginnen der FDP.
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Wir haben den ausgesetzt, aber wir haben den nicht abgeschafft. Das heißt also, wir brauchen ihn auch nicht wieder einzuführen.
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Also, liebe Kollegen der FDP: Zuerst sollten Sie das Gesetz lesen, das wir verabschiedet haben.
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Dort steht, dass wir ihn ausgesetzt haben bis zum 30. Juni 2026. Im Hinblick auf Semantik gibt es also offensichtlich ein bisschen Nachholbedarf bei der FDP; das muss man jetzt einmal feststellen.
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Das zeigt aber auch, dass die Koalition zum Nachholfaktor steht – weil wir ihn nicht abgeschafft haben. Also, lieber Kollege Vogel, wir brauchen sozusagen gar nichts zu ändern. Die Frage ist natürlich: Wie wirkt sich das aus? Das zeigt sehr deutlich, dass die Koalition für Verlässlichkeit in der Rentenpolitik steht; das ist eine Gemeinsamkeit. Von daher brauchen wir keinen Nachhilfeunterricht von der FDP.
Herr Straubinger, erlauben Sie eine Frage oder Bemerkung von Herrn Vogel?
Ja, natürlich, gerne.
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Lieber Straubinger Max, sehr geehrter Herr Kollege, ich bin eigentlich nicht versucht, sechs Minuten Redezeit noch zu verlängern.
Das wird Ihnen auch nicht gelingen.
Genau, das ist gut. Das freut mich, Frau Präsidentin. – Ich will dann doch noch mal nachfragen: Bist du nicht mit mir der Meinung, dass die Frage, ob ein Faktor, der für eine Krise gemacht ist, in der Krise wirkt und nicht erst einige Jahre später wieder, zentral dafür ist, ob er eingesetzt wird oder nicht, also nicht, ob er 2025 wieder wirkt, sondern ob er jetzt, in der Wirtschaftskrise, wirkt?
Herr Straubinger.
Ja, lieber Johannes Vogel, wenn Sie die Rede abgewartet hätten, hätten Sie sowieso die Antwort bekommen.
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– Nein, nein, bleiben Sie doch stehen; denn das bedeutet ein bisschen mehr Redezeit für mich.
Ja, aber auch nicht viel mehr.
Das ist natürlich damit verbunden, dass wir letztendlich heute noch gar nicht wissen, wie sich die Aussetzung des Nachholfaktors auswirkt. Das werden wir, wohlgemerkt, erst zum 1. Juli 2022 erleben können
({0})
– ja natürlich –; denn die Rentenanpassung 2020 haben wir ja bereits – Gott sei Dank für die Rentnerinnen und Rentner, und zwar eine deutliche aufgrund der guten Lohnentwicklung. Das zeigt also: Rente entwickelt sich nach den Löhnen.
Wie sich die Löhne insgesamt für das Jahr 2020 entwickeln, das weiß die FDP offensichtlich in ihrer Weitsicht. Wir wissen es noch nicht;
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das ist ja erst festzustellen. Die Rentenversicherung wird uns wohl erst im Spätherbst die entsprechenden Zahlen liefern.
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Von daher weiß die FDP mehr, als wir alle hier im Raum wissen. Damit sind bei der FDP sozusagen große Spekulationen mit dem verbunden, was heute zu diesem Antrag geführt hat.
Für die Zuschauer und die Zuhörerinnen an den Bildschirmen oder auch am Radio: Um was geht es wirklich? – Der Kollege Vogel hat das zwar etwas dargestellt, aber man muss schon zurückblenden. 2001 gab es eine Rentenreform durch die SPD/Grüne-Koalition, nachdem der Kanzler Schröder gesagt hat, dass das, was wir 1998 gemacht haben, nämlich den demografischen Faktor auszusetzen, eigentlich ganz schlecht war. Damals wurde ein Nachhaltigkeitsfaktor eingeführt – im Prinzip der demografische Faktor –
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und zusätzlich der Riester-Faktor. Das hätte zum Schluss bedeutet, dass es Rentenkürzungen gegeben hätte. Und um sozusagen Rentenkürzungen auszuschließen, wurde 2004 eine Schutzklausel eingeführt, die besagt, dass die Renten nicht gekürzt werden dürfen aufgrund dieser beiden Faktoren, die seinerzeit in die Rentenformel mit aufgenommen worden sind und durch die starke Dämpfungen eingetreten wären.
Diese Dämpfungen wollte man dann bei zukünftigen Rentenerhöhungen sozusagen etwas nachholen. Damit gab es schon eine Art Nachholfaktor. Dieser Nachholfaktor war gut und hat sich auch entwickelt. Allerdings haben wir 2008/2009 die große Finanzkrise gehabt. Damals haben wir eine Schutzklausel eingeführt für die Rentnerinnen und Rentner, die besagt, dass die Rente nicht fallen kann.
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Das war auch richtig, und dafür stehen wir alle aus der Koalition. Das hat bedeutet, dass wir in späteren Jahren zum Beispiel Rentenerhöhungen hatten, die nur halb so hoch ausgefallen sind, was auch generationengerecht ist. Das ist überhaupt keine Frage; auch dafür stehen wir.
Derzeit gibt es jedoch keinen Grund, Herr Kollege Vogel, dies schon jetzt zu veranlassen; denn wir sind keine Hellseher. Die FDP mag es vielleicht sein.
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Aber ich habe nicht den Eindruck, dass Sie so großartige Hellseher sind;
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denn sonst hätten Sie die Überschrift in Ihrem Antrag anders gestaltet. Das muss man natürlich auch sehen.
Unter all diesen Gesichtspunkten muss ich feststellen: Die Verlässlichkeit für Rentenpolitik ist insgesamt bei der Koalition gegeben, in besonderem Maße natürlich bei der Union. Deshalb, glaube ich, haben wir keinen Nachholbedarf,
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von der FDP in dieser Frage etwas anzunehmen.
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Wenn es notwendig ist, dann werden wir entsprechend reagieren.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Max Straubinger. – Nächster Redner: Norbert Kleinwächter für die AfD-Fraktion.
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Werte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Das System Merkel hat ja nun wirklich ein bisschen was von Pippi Langstrumpf: Man hat funktionierende Systeme, man hat solide Verträge, aber die werden dann irgendwie ausgehöhlt, da werden dann Regelungen teilweise ausgesetzt – na, Herr Straubinger –, nach dem Motto „Ich mach’ mir die Welt, widde widde wie sie mir gefällt“. Wir sehen das in der EU, wir sehen das bei der Euro-Politik, wir sehen das bei der Energiepolitik, wir sehen das bei der Migrationspolitik. Und jetzt haben wir die Regierung mal wieder erwischt: Bundesminister Heil hat 2018 den Nachholfaktor in der Rentenversicherung ausgesetzt, um – ich sage es jetzt mal so deutlich – die Rente zu manipulieren.
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Was hatten wir denn vor zwei Jahren für eine unsägliche Debatte? Da wurde den Leuten eine doppelte Haltelinie versprochen, obwohl Sie eigentlich sehr genau wissen, dass Sie die eigentlich gar nicht halten können; denn spätestens 2025/2026 werden die Beiträge massiv steigen oder wird das Rentenniveau ins Bodenlose sinken
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oder wird beides zugleich eintreffen. Und damit die Krise nicht das nächste SPD-Wahlergebnis verhagelt, hat man schon mal den Nachholfaktor ausgesetzt.
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Dieser ominöse Nachholfaktor ist ja schon ein kleines, aber sehr interessantes Element, und zwar, weil wir in Deutschland die Situation haben, dass die Rentenentwicklung an die Lohnentwicklung gekoppelt ist. Das bedeutet: Wenn die Löhne steigen, dann steigen im nächsten Jahr die Renten; und das ist auch gut so.
Aber es gibt natürlich auch den Fall, dass die Löhne sinken. Die Renten sinken dabei aber nicht. Insofern nimmt – bildlich gesprochen – die Rentnergeneration sozusagen einen Kredit bei der einzahlenden Generation auf. Der Nachholfaktor war letztendlich so gestaltet, dass die Renten, wenn die Löhne wieder steigen, nicht so stark steigen, erst mal diese Anleihe zurückbezahlt wird – wenn man so denkt – und erst dann die Renten wieder in vollem Umfang steigen, wenn das zurückbezahlt ist.
Genau diese Systematik haben Sie von Union und SPD ausgesetzt:
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Wenn die Löhne wieder steigen, dann steigt die Rente in gleicher Höhe. – Das hat gewisse Folgen, die man politisch aber auch aussprechen muss – ehrlich aussprechen muss –:
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Dann ist natürlich das Rentenniveau höher, aber auch die Belastungen für die arbeitende Generation. All diejenigen, die fleißig arbeiten, haben auf ihrem Gehaltszettel die Rentenbeiträge. Und damit wird letztendlich die Auszahlung unterm Strich weniger, wenn mehr durch die Rentenbeiträge finanziert werden muss.
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Damit kommen wir zum Grundkonflikt, den wir in der Rente haben: Wir können eigentlich den Menschen meiner Generation keine höheren Belastungen zumuten.
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Deswegen kann ich auch verstehen, Herr Vogel, dass die FDP hier die Wiedereinsetzung des Nachholfaktors fordert.
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Wir haben in Deutschland die höchste Steuer- und Abgabenbelastung der Welt. Das ist nicht akzeptabel in irgendeiner Art und Weise!
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Auf der anderen Seite, Herr Birkwald, haben wir aber die Rentner. Wenn wir uns ansehen, wie erbärmlich niedrig viele der Rentenauszahlungen sind,
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dann kann man auch wieder verstehen, dass dieser Faktor ausgesetzt worden ist. Hohe Abgaben und miese Renten – das ist wirklich Merkel-Deutschland in einem Satz.
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Gerade am heutigen Tage, wo Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt, muss man wirklich sagen: Teile der Debatten der letzten Tage und Wochen waren wirklich schlimm.
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Da legt eine Ursula von der Leyen in Brüssel Pakete in Milliarden- und Billionenhöhe auf, und Merkel sagt sofort: Jawohl, wir machen die Taschen auf. Wir schicken dreistellige Milliardenbeträge nach Brüssel in die Europäische Union. – Der Nachtragshaushalt alleine umfasst 220 Milliarden Euro. Aber denken Sie, da wäre an den fleißigen Arbeitnehmer gedacht worden oder an den Rentner? Nein, der darf fleißig weiter Flaschen sammeln.
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Ich sage an dieser Stelle ganz deutlich: Das mit dem Nachholfaktor ist ein nettes Detail; aber wir müssen die Lösung viel größer denken.
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Wir brauchen eine Steuerreform, die die Einkommensteuer vereinfacht, die sie aber auch deutlich senkt. Denn wenn wir die Einkommensteuer für die Leute senken – deutlich senken –,
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dann haben wir die Möglichkeit, tatsächlich auch wieder ehrlich mit den Rentenbeiträgen zu arbeiten. Dann können wir auch die Rentenbeiträge ein bisschen erhöhen und sagen: Gut, damit stabilisieren wir das Rentenniveau.
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Dann brauchen wir keine Tricks über den Nachholfaktor, sondern dann operieren wir ehrlich, und dann sagen wir ganz offen, was wir wollen und was wir brauchen.
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Ich sage ganz deutlich in Richtung Regierung: Halten Sie bitte die Milliarden, die Sie nach Brüssel verkübeln wollen, im Land! Stützen Sie die Arbeitnehmer, stützen Sie die Rente, stützen Sie die Wirtschaft! Da ist das Geld deutlich besser aufgehoben.
Haben Sie vielen Dank!
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Danke schön. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Ralf Kapschack.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe FDP, es tut mir leid, dass ich das so sagen muss: Euch fällt auch nichts Neues mehr ein.
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Heute musste die angeblich verletzte Generationengerechtigkeit mal wieder herhalten, um diese Debatte zu begründen. Worum geht’s? Der sogenannte Nachholfaktor soll reaktiviert werden – das ist ausführlich erklärt worden –, weil die FDP befürchtet, dass die Renten sonst zu stark steigen würden, was zulasten der jüngeren Generation ginge. Wir halten diese Argumentation für ziemlich schräg,
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und deshalb lehnen wir den Vorschlag auch ab, klipp und klar.
Wir halten an dem Rentenniveau von mindestens 48 Prozent fest; das schließt ein Wiedereinschalten des Nachholfaktors aus. Für dieses Mindestniveau haben gerade wir als SPD uns eingesetzt; seit 2018 ist es gesetzlich festgeschrieben, zumindest für die nächsten fünf Jahre. Ich sage auch ganz offen: Wenn es nach uns ginge, sollte das durchaus länger gelten.
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Mit Wirkung von heute steigen die Renten deutlich – ich freue mich, dass Johannes Vogel das auch begrüßt hat –; denn die Rentenanpassung folgt der Lohnentwicklung; und das ist auch gut so. Dass die Renten steigen, ist nicht nur deswegen gut, weil die Rentnerinnen und Rentner an der Wohlstandsentwicklung teilhaben sollen, sondern es ist gerade jetzt gut, weil ein Großteil der Rente in den Konsum geht.
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Das heißt, es ist völlig falsch, auch volkswirtschaftlich, jetzt an Rentenerhöhungen herumzuschrauben; denn die Renten fließen, wie gesagt, zum größten Teil in den Konsum. Die gesetzliche Rente ist auch ein gesamtwirtschaftlicher Stabilisator.
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Herr Kapschack, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung von Herrn Kleinwächter?
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Nein. – Wir haben in diesem Bundestag vor zwei Jahren das Leistungsverbesserungs- und Stabilisierungsgesetz für die Rente verabschiedet und damit den Nachholfaktor bewusst ausgesetzt, damit das gesetzliche Sicherungsniveau nicht nachträglich relativiert wird; denn das wäre die Folge, hätte man ihn in Kraft gelassen. Das hat auch etwas mit Verlässlichkeit zu tun.
Und Verlässlichkeit war auch ein Hauptmotiv für die Haltelinie 48 Prozent. Denn mit sinkendem Rentenniveau muss man immer länger arbeiten, um im Alter einen Rentenanspruch zu erwerben, der oberhalb der Grundsicherung liegt. Der aktuelle Wochenbericht des DIW, des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, macht das noch einmal deutlich.
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– Stimmt, war ein guter Tipp!
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Beschäftigte mit einem durchschnittlichen Einkommen müssen inzwischen gut 27 Jahre arbeiten und Beiträge zahlen, um einen Rentenanspruch zu erwerben, der oberhalb der Grundsicherung liegt.
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Das sind fünf Jahre länger als noch 2004. Und ein Großteil der Beschäftigten hat kein durchschnittliches Einkommen; vielmehr liegt das Einkommen deutlich darunter. Da ahnt man, was auf uns zukommt, erst recht, wenn das Rentenniveau weiter sinkt. Und wir haben gesagt: Das machen wir nicht mit.
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Es würde die Legitimation der gesetzlichen Rente infrage stellen, wenn man lange einzahlt und am Ende nur Grundsicherung erhält. Eine Antwort darauf ist auch die Grundrente,
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die wir heute im Ausschuss verabschiedet haben und morgen im Plenum beschließen werden.
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Generationengerechtigkeit ist auch eine Frage von Verlässlichkeit. Gerade junge Menschen müssen die Sicherheit haben, dass sie im Alter eine möglichst auskömmliche Rente erhalten, wenn sie noch lange bis zum Ruhestand arbeiten müssen.
Herr Kapschack, erlauben Sie von Herrn Vogel eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung?
Immer gerne.
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Lieber Kollege Ralf Kapschack, erstens – nur weil das eben so ein bisschen unklar formuliert war –: Sind Sie mit mir der Meinung, dass niemand hier die aktuellen Rentenerhöhungen kritisiert hat? Ich glaube, diesen Spin sollten wir nicht in die Debatte kommen lassen; denn das ist, glaube ich, wirklich ein Konsens in der Rentenpolitik, der wichtig ist.
Die zweite Frage, die ich habe – das interessiert mich ernsthaft –: Ich verstehe die Politik dieser Koalition mit Blick auf die Haltelinien, und ich weiß und verstehe, wie wichtig das insbesondere der SPD-Fraktion ist. Jetzt laufen wir aber möglicherweise auf ein Szenario zu – wir haben bisher nur Prognosen, aber mal unterstellt, es kommt so, und genau darum geht es ja –, wo wir über den Haltelinien, die diese Koalition postuliert hat, liegen, also über dem Rentenniveau von 48 Prozent. Und trotzdem wird der Nachholfaktor nicht angewandt. Sind Sie/bist du mit mir der Meinung, dass zumindest das auch aus Sicht der SPD-Rentenpolitik mit Blick auf Generationengerechtigkeit nicht fair sein kann?
Zur ersten Frage: Ich habe, glaube ich, deutlich gesagt, dass ich es sehr begrüßt habe, dass du, Johannes, auch die Rentenerhöhung heute begrüßt.
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Das finde ich prima.
Zum zweiten Punkt: Wir haben gesagt: mindestens 48 Prozent.
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– Mindestens. Das beantwortet die Frage.
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Verlässlichkeit und ein stabiles Rentenniveau kosten Geld; aber dieses Geld stärkt das Vertrauen in den Sozialstaat. Es ist eine notwendige Investition in den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Jetzt kommt die FDP, ruft: „Corona, Corona“, und sagt, das müsse auch Auswirkungen auf die Rentensteigerung haben. Das hat es vermutlich ja auch, weil die Renten eben den Löhnen folgen, in guten wie in schlechten Zeiten. Die Auswirkungen der Coronapandemie auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung lassen sich zurzeit allerdings noch nicht seriös abschätzen. Und wir setzen im Moment alles daran, die Konjunktur zu stärken, Arbeitsplätze zu erhalten und damit auch Löhne und Einkommen zu stabilisieren.
Dass die Rentensteigerungen im nächsten Jahr, in den nächsten Jahren vielleicht nicht ganz so stark ausfallen wie in diesem, ist nicht ganz unwahrscheinlich. Aber Rentnerinnen und Rentner mit einem solchen Vorschlag noch weiter zu verunsichern, hilft niemandem,
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außer denen, die – wie die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft – die gesetzliche Rente sturmreif schießen wollen.
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Und da treffen sie auf unseren erbitterten Widerstand.
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Die FDP bezeichnet sich ja gerne als Serviceopposition. Ich würde sagen: Beim Thema Rente ist für Ihren Service noch viel Luft nach oben.
Herzlichen Dank.
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Danke schön, Ralf Kapschack. – Nächster Redner: für die Fraktion Die Linke Matthias W. Birkwald.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute wurden die gesetzlichen Renten erhöht; das war auch dringend nötig, denn alle 21,1 Millionen Rentnerinnen und Rentner erhielten bisher einen Gesamtrentenzahlbetrag von durchschnittlich nur 1 048 Euro auf ihr Konto überwiesen.
Meine Damen und Herren, die große Mehrheit der über 21 Millionen Rentnerinnen und Rentner in Deutschland hat lange Jahre und Jahrzehnte hart gearbeitet. Und darum sollten wir ihnen allen die heutige Rentenerhöhung von ganzem Herzen gönnen. Sie haben sie sich verdient!
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Die Rentenerhöhung stabilisiert den Konsum und die Wirtschaft in West- und Ostdeutschland. Und es gibt diese Rentenerhöhung, weil die Löhne und Gehälter von 2018 auf 2019 kräftig gestiegen sind. Und darum, verehrter Kollege Johannes Vogel, habe ich überhaupt kein Verständnis dafür, dass die FDP den Rentnerinnen und Rentnern ausgerechnet heute sagt: Es reicht nicht, wenn ihr im kommenden Jahr wegen der Coronakrise vermutlich keine Rentenerhöhung erhalten werdet, nein, die Jahre danach sollt ihr auch keine oder nur eine niedrigere Rentenerhöhung erhalten.
({1})
Das ist nämlich der Kern Ihres Antrages, wenn man Ihre Forderung, den Nachholfaktor in der Rentenanpassungsformel – so heißt es übrigens – wieder einzuführen, mal für die Rentnerinnen und Rentner übersetzt. Und das lehnt Die Linke ab.
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Wir Linken wollen, dass die Renten wieder steigen; denn dass mittlerweile schon 19,5 Prozent der Menschen, die in Rentnerhaushalten leben, arm sind, ist und bleibt ein völlig unhaltbarer Zustand. Und deswegen sage ich: Die Renten dürfen nicht gekürzt werden, sie dürfen nicht stagnieren, die Renten müssen erhöht werden.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich halte den Antrag der FDP für falsch. Er ist erstens falsch, weil die FDP die Coronakrise benutzt, um künftig die Renten zu kürzen.
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Er ist zweitens falsch, weil Sie, liebe FDP, den Zusammenhang zwischen Löhnen, Rentenanpassung und Haltelinien offenkundig nicht verstanden haben.
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Das Rentenniveau ist das Verhältnis einer Standardrente zum Durchschnittslohn. Dieses Rentenniveau lag einmal bei 53 Prozent. Dann wurden die Renten mit vielen Kürzungsfaktoren in der Rentenanpassungsformel schrittweise massiv von den Löhnen abgekoppelt.
Nun will die FDP den nur bis 2025 ausgesetzten sogenannten Nachholfaktor wieder einführen. Das würde bedeuten, dass eine rückläufige Lohnentwicklung zwar erst mal nicht zu Kürzungen bei der Rente führte, aber in den darauffolgenden Jahren nachgeholt werden würde. Dann würde die Haltelinie für das Rentenniveau bei 48 Prozent unterschritten. Es liegt derzeit bei gut 48 Prozent. U nd da soll es laut Gesetz bis 2025 auch bleiben. Die FDP will das Rentenniveau durch die Wiedereinführung des Nachholfaktors auf gut 47 Prozent absenken. Und das, meine Damen und Herren, ist inakzeptabel, weil die Renten damit noch mehr als bisher von den Löhnen abgekoppelt werden würden. Das Gegenteil ist richtig.
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Frau Präsidentin, ich komme auch zum Schluss. – Die Renten in den kommenden Jahren stabil zu halten, ist das Mindeste. Ich meine: Die Rente muss endlich wieder den erreichten Lebensstandard sichern. Deswegen brauchen wir ein Rentenniveau von 53 Prozent .
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Das ist finanzierbar, kostet den Durchschnittsverdiener und seine Chefin oder ihren Chef je 33,42 Euro.
Liebe FDP, letzter Satz: Ihr Antrag ist nichts anderes als ein unverhohlener Angriff auf Renten, die bei vielen Menschen im Alter und bei Erwerbsminderung gerade mal zum Leben reichen. Darum lehnen wir Ihren Antrag ab. Statt Altersarmut: Renten rauf!
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Matthias W. Birkwald. – Nächster Redner: für Bündnis 90/Die Grünen Markus Kurth.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ehrlich gesagt: Mir drängt sich der Verdacht auf, dass bis vor zwei, drei Monaten auch die FDP noch gar nicht gemerkt hatte, dass der Nachholfaktor ausgesetzt worden ist. Vor drei Monaten schrieb nämlich Professor Axel Börsch-Supan einen Aufsatz, und dann erschien das als große Neuigkeit in der Zeitung. Wenn Ihnen das so sehr am Herzen liegt, dann hätten Sie das ja auch schon vor 20 Monaten hier einbringen können, als die doppelte Haltelinie beschlossen wurde.
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Aber, nun ja, im Volksmund heißt es: Der frühe Vogel fängt den Wurm. – Der späte geht also auch noch mal auf Wurmsuche – sei’s drum.
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Ich muss aber schon sagen: Ihre Betrachtung von Generationengerechtigkeit scheint mir ein bisschen einseitig zu sein. Um entscheiden zu können, ob die Rentenausgaben jetzt wirklich eine zentrale Belastungsgröße darstellen – wobei man auch darüber streiten kann, ob man überhaupt immer mit diesem Wort bzw. Framing „Belastung“ der Rentenversicherung gegenübertreten muss –, müssen wir uns ansehen, wie der Anteil der Rentenausgaben an der gesamten Wirtschaftsleistung ist. Wir sehen, dass der Anteil der gesamten Rentenausgaben an der Wirtschaftsleistung, am Bruttoinlandsprodukt, im Jahr 2003 oberhalb von 10 Prozent lag, genau bei 10,5 Prozent. Jetzt liegt der Anteil immer noch bei etwas über 9 Prozent.
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Das heißt also, über einen Zeitraum von inzwischen fast zwei Jahrzehnten ist der Anteil der Rentenausgaben an der Wirtschaftsleistung gesunken – und das bei einem Zuwachs von Rentnerinnen und Rentnern; auch das muss man sehen. Das heißt also: Es kann mitnichten die Rede davon sein, dass es hier eine Überbelastung gibt. Das muss man, finde ich, zur Kenntnis nehmen.
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Auch meine Fraktion hat – bei aller Kritik, die wir an anderen rentenpolitischen Maßnahmen der Großen Koalition haben – die doppelte Haltelinie, insbesondere die Stabilisierung des Niveaus der gesetzlichen Rente, begrüßt. In den Sondierungsgesprächen zu Jamaika haben wir auch darüber gesprochen, dass eine langfristige Stabilisierung des Rentenniveaus notwendig ist; denn die Rentenversicherung muss als Einkommensversicherung funktionieren, damit sie auch weiterhin für die Pflichtversicherten und gerade auch für die Mittelschicht attraktiv ist. Sie darf nicht degradiert werden zu einer rein provisorischen Absicherung gegen Armut.
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Zuletzt noch ein Gedanke: Generationengerechtigkeit ist auch dann verkürzt gedacht, wenn man die Verteilung innerhalb der Generationen nicht mitberücksichtigt. Es gibt viele jüngere Leute, die wesentlich bessere Bedingungen haben, was Bildung und Mittel des Elternhauses anbelangt, als die Generation davor. Es gibt aber innerhalb dieser heutigen Generation viele junge Leute, die hart zu kämpfen haben. Das ist eine Gerechtigkeitsdimension, die mindestens ebenso wichtig ist wie die von Ihnen immer enggeführte Generationengerechtigkeit.
Danke.
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Vielen Dank, Markus Kurth. – Der letzte Redner in dieser Debatte: Frank Heinrich für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Vorteil und Nachteil der letzten Rede einer Debatte ist immer, dass vieles oder das meiste schon gesagt ist und man ein wenig zusammenfassen muss. Ich möchte sagen: Es gibt Anträge der Opposition, bei denen man sich als Regierungsfraktion gleich angegriffen fühlt. Der hier vorliegende ist nicht so einer. Das haben Sie vielleicht auch an den unterschiedlichen Rückmeldungen der Oppositionskollegen gemerkt.
Sie bemühen sich um das Thema Generationengerechtigkeit; dieser Gedanke wird zumindest hauptzitiert. Kollege Straubinger hat es schon ausgeführt: Das ist unser Ding. – Allseits bekannt ist auch, dass bereits heute die jährlichen Zuschüsse des Bundes in unser Rentensystem aus Steuermitteln 100 Milliarden Euro betragen und diese Summe bald übersteigen werden. Ja, Kollege Kurth, wir wollen keine Degradierung; das ist richtig. Wir müssen das Verhältnis wahren. Das Grundanliegen Ihres Antrags teilen wir also; deshalb fühlen wir uns auch nicht angegriffen.
Ja, Herr Kollege Vogel, wir führen hier eine Debatte unter rentenpolitischen Spezialisten. Dafür war sie relativ lebendig, auch aufgrund der Zwischenfragen. Und ja, es geht um Fairness, es geht um Solidität. Da möchte ich kurz eine Klammer aufmachen an einem Tag wie heute. In den Breitengraden, wo ich jetzt zu Hause bin, feiert man diesen Tag unter anderem wegen der Solidität; denn heute vor 30 Jahren war der Währungswechsel, und es trat die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion in Kraft. Es ist uns wichtig, dass wir auch in Zukunft, auch in 30 Jahren da noch Stabilität haben.
Sie möchten – ich werde jetzt nicht noch mal alle Feinheiten darlegen – den Nachholfaktor reaktivieren. Zugunsten der Rentengarantie haben wir uns vor zwei Jahren entschieden, diesen für einige Jahre auszusetzen – mit gutem Grund, wie wir vorhin gelernt haben. Und ja, es gibt diese doppelte Haltelinie: Das Rentenniveau darf 48 Prozent nicht unterschreiten – Kollege Kapschack hat sehr deutlich darauf hingewiesen –, und der Beitragssatz darf bis 2025 20 Prozent nicht übersteigen. Es ist uns wichtig – ich glaube, das teilen wir alle –, dass weiter Rentenstabilität gegeben ist.
Gleichzeitig haben wir aber alle nicht erwartet – schon gar nicht 2018 –, dass wir so kurzfristig in eine Krisenzeit geraten, wie wir sie jetzt gerade erleben. Sie reagieren sehr plötzlich, sehr schnell und schlagen nun vor, diesen Nachholfaktor wieder zu aktivieren und das Rentenniveau auch in schlechteren Zeiten, die wir nicht haben – der Tag zeigt es noch –, zumindest für die Rentnerinnen und Rentner dieses Landes nicht, an die Entwicklung der Löhne zu koppeln. Das aber könnte dazu führen, dass es krisenbedingt zu Rentenkürzungen käme, die durch spätere gedämpfte Rentenanpassungen wirksam würden, eben durch den Nachholfaktor. Das Rentenniveau könnte sich dann verschlechtern, und das möchten wir als Koalition mit größter Anstrengung vermeiden.
Wenn wir das wegen der wirtschaftlichen Lage riskieren müssen, dann wollen wir das auf einer guten Basis machen. Sie haben vorhin reingerufen: Es gibt diese Basis, es gibt diese Prognosen. – Aufgrund von Prognosen wollen wir das aber nicht machen. Wir wollen schon wissen, woran wir tatsächlich sind. Dazu sind wir aber noch zu kurz in der Krise. Sie haben selbst gesagt: Wir laufen auf ein Szenario zu. – Mag sein! Wenn es so kommt, dann sind wir bereit, darüber nachzudenken. Den Rentnerinnen und Rentner schon jetzt anzukündigen, dass sie potenzielle Einbußen haben werden – was wir damit tun würden –, das geht uns zu schnell. Wir wollen erst valide Zahlen zu den tatsächlichen Auswirkungen der Krise vorliegen haben, bevor wir über dann möglicherweise notwendige – deshalb haben wir uns auch nicht angegriffen gefühlt – Veränderungen und Anpassungen bei der Rentenformel entscheiden.
Also: Der Hauptablehnungsgrund ist: Bitte keinen Schnellschuss! Wir wollen die tatsächlichen Auswirkungen der Krise besser einordnen können. Dazu brauchen wir belastbare Zahlen, auch wenn es möglicherweise so ausgeht, wie Sie gesagt haben. Die aktuelle Tendenz sieht aber positiv aus, dass wir also diese Krise besser meistern, als wir noch vor ein paar Wochen gedacht haben. Und daran orientieren wir uns.
Wenn Sie das Wort „Generationengerechtigkeit“ zur Hand nehmen, dann muss ich Ihnen sagen: Wir müssen ausgesprochen wachsam sein, was den Prozentsatz, der aus dem Staatshaushalt kommt, angeht, damit das nicht möglicherweise auf Kosten der nachfolgenden Generation geht.
Danke für den Antrag und dafür, dass Sie und wir das so klarstellen konnten. Und noch einmal: Ja zu Fairness, ja zu Solidität, aber auch ja zu Augenmaß und einer gut informierten Lage, bevor wir das dann vielleicht so entscheiden.
Danke schön.
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Vielen Dank, Frank Heinrich. – Damit schließe ich die Aussprache.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wer im Internet Waren bestellt, der muss die dafür vereinbarte Forderung selbstverständlich bezahlen, und wer einen Handwerker beauftragt, vor Ort Leistungen zu erbringen, der muss auch dafür bezahlen. Daran darf und daran soll sich auch nichts ändern; denn derjenige, der die Leistung erbringt, muss sich darauf verlassen können, dass er dafür auch vergütet wird. Wenn innerhalb einer vereinbarten Frist oder auch der gesetzlichen nicht bezahlt wird, ist die Regel so, dass Mahngebühren anfallen und auch bezahlt werden müssen; gar kein Thema. Daran wird sich auch nichts oder wenig ändern.
Das Problem wird allerdings deutlich, wenn zu diesen Mahngebühren Inkassogebühren hinzukommen und eventuell zusätzlich noch Anwaltsgebühren, um diese offenstehende Forderung einzutreiben, und die Gesamtsumme dann zum Teil ein Vielfaches dieser Forderung übersteigt. Genau diese Schuldenfalle und diese Unverhältnismäßigkeit wollen wir mit dem vorgelegten Gesetzentwurf durchbrechen, meine sehr geehrten Damen und Herren.
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Gerade Schuldnerberatungsstellen und Verbraucherzentralen erleben tagtäglich, wie schwierig es für Personen wird, die in eine solche Schuldenfalle geraten, da wieder rauszukommen und die berechtigte Forderung zu bezahlen. Deswegen müssen wir dieses Problem angehen, und deswegen wollen wir die Gebühren verringern, die Inkassodienstleister und Rechtsanwälte verlangen dürfen, wenn sie solche offenstehenden Forderungen bei Verbraucherinnen und Verbrauchern eintreiben.
Wir wollen vor allen Dingen, dass dann, wenn nach der ersten Mahnung die Forderung beglichen wird, die Inkassokosten deutlich gesenkt werden; denn dann wird deutlich, dass derjenige, der, aus welchem Grund auch immer, in der ersten Runde die Zahlung nicht erfüllt hat, selbstverständlich dazu bereit ist. Deswegen müssen die Inkassokosten dann auch reduziert werden, und wir schlagen daher vor, dass für Kleinforderungen bis 50 Euro die Gebühr in Zukunft nur noch bei 30 Euro liegen darf statt wie bisher bei 45 Euro. Es darf nämlich nicht der Normalfall sein, dass die Inkassokosten höher sind als die eigentliche Forderung, um die es geht.
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Wir wollen das Inkasso fair machen. Derzeit, wie gesagt, stehen die Inkassokosten in einem Missverhältnis. Deswegen ist es wichtig, dass wir da rangehen.
Ich möchte aber noch zwei weitere Punkte ansprechen, die in diesem Gesetz geregelt werden, und zwar erstens, dass die Informationsdefizite von Verbraucherinnen und Verbrauchern behoben werden. In Zukunft sollen nämlich alle Rechnungssteller die Verbraucherinnen und Verbraucher ganz klar darüber informieren, welche Kostenfolgen der Zahlungsverzug hat. Das verhindert dann böse Überraschungen und dient der Transparenz. Die Motivation, die dahintersteckt, ist doch ganz klar: Das führt dann auch eher dazu, dass Verbraucherinnen und Verbraucher wissen, was auf sie zukommt, und dann diese offenstehenden Forderungen auch zügig regulieren.
Zweitens wollen wir, dass die Inkassodienstleister stärker unter Aufsicht gestellt werden. Die Aufsichtsbefugnisse sollen verbreitert werden; denn in Zukunft soll die Aufsichtsbehörde einschreiten können, wenn Inkassounternehmen gegenüber Verbraucherinnen und Verbrauchern, was nicht ganz selten vorkommt, aggressiv und auch irreführend auftreten. Es soll in Zukunft möglich sein, dagegen einzuschreiten.
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Die Aufsichtsbehörden können ausdrücklich anordnen, dass der Inkassodienstleister fortan ein bestimmtes Fehlverhalten unterlässt. Aber dabei wollen wir es nicht belassen, sondern es soll dann auch möglich sein, dass Verstöße gegenüber so einer Auflage auch bußgeldbewehrt sind, meine Damen und Herren. Es muss eine klare Ansage an diese Unternehmen geben.
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Insofern sage ich ganz klar: Pacta sunt servanda. Forderungen sind selbstverständlich zu regulieren, aber wir wollen dafür sorgen, dass wir dieses krasse Missverhältnis zwischen der eigentlichen Forderung und den ganzen Kosten, die dann später noch obendrauf kommen, wieder ins Lot bringen. Ich freue mich auf die anstehenden Beratungen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Christine Lambrecht. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Dr. Lothar Maier.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Verbesserung des Verbraucherschutzes im Inkassorecht“ steht über dem Gesetzentwurf, aber ich befürchte, es ist nur eine halbherzige Verbesserung. Es war auch eine schwere Geburt. Frau Lambrecht, Ihre Amtsvorgängerin hat vor fast zweieinhalb Jahren einen solchen Gesetzentwurf angekündigt. Dass Sie ihn jetzt vorgelegt haben, verdient Anerkennung. Aber ich fürchte, Sie sind auf dem halben Weg stehen geblieben.
Was die Gebührensätze angeht, muss man sagen: Sicher, es ist ein Fortschritt, dass man für Bagatellfälle – Forderungen bis 50 Euro – künftig nur noch einen maximalen Inkassoanspruch, Gebührenanspruch von 30 Euro hat. Dass man auch bei Fällen, bei denen die Forderung unterhalb von 500 Euro liegt, etwas höher liegt, aber immer noch deutlich unter dem vorigen Wert, auch das ist sicherlich ein Fortschritt; aber es ist ein gradueller Fortschritt. Das Gesamtproblem ist in meinen Augen noch nicht gelöst; auch viele von den Missständen, die wir in dieser Branche finden, die Sie auch kurz angesprochen haben, sind es eigentlich nicht.
Wir halten den rechtstechnischen Ansatz, den Sie gewählt haben, für falsch. Es werden die Gebührenansprüche der Inkassomitarbeiter, die ja meist kaum ausgebildete Leute sind, denen der Rechtsanwälte gleichgestellt. Der Rechtsanwalt soll ja nun immerhin eine rechtliche Prüfung vornehmen, die der angelernte Inkassomitarbeiter gar nicht vornehmen kann und gar nicht vornehmen soll. Diese Gleichbehandlung scheint uns hier nicht in Ordnung zu sein.
Und schließlich: Die Zahl der Inkassovorgänge wird durch diesen Gesetzentwurf mit Sicherheit nicht reduziert. Nach Angaben der Inkassowirtschaft waren das im vorigen Jahr insgesamt 23 Millionen Mahnungen, die die Inkassounternehmen verschickt haben. Es wird aufgrund der Folgen der Coronasituation angenommen, dass in diesem Jahr die Zahl dieser Fälle von 23 auf 25, 28, vielleicht sogar 30 Millionen steigen könnte. Das ist eine Größenordnung, die eigentlich nicht mehr gerechtfertigt sein kann. Eine wirkliche Entlastung wäre wahrscheinlich nur möglich, wenn Sie unserem hier in diesem Hause leider abgelehnten Gesetzentwurf gefolgt wären und bei den Bagatellfällen den Inkassoanspruch, jedenfalls bis zur zweiten Mahnung, ganz abgeschafft hätten.
Es sollte auch verhindert werden, dass zusätzlich zu den Inkassogebühren noch weitere Kosten in Rechnung gestellt werden. Da ist die Inkassowirtschaft äußerst kreativ im Erfinden von solchen Kostentatbeständen für Datenerfassung, für Bonitätsprüfung, für Telefoninkasso usw., was die Kosten über die im Gesetz vorgesehenen Ansprüche der Inkassowirtschaft hinaus erheblich in die Höhe treiben kann.
Ich sage es noch mal: Ich fürchte, Sie sind auf halbem Wege stehen geblieben. Wenn Sie zumindest, Frau Ministerin, sich aufraffen könnten und bei den Bagatellfällen, also bis 50 oder auch bis 100 Euro, den Inkassoanspruch streichen würden, dann hätten Sie unsere Unterstützung. So noch nicht.
Danke.
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Danke, Dr. Maier. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Sebastian Steineke.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im März 2019 haben wir ja schon über zwei Entwürfe geredet, unter anderem über den, über den Kollege Maier von der AfD gerade gesprochen hat. Und da weise ich noch mal darauf hin: Wir haben den Grundsatz der Totalreparation im Bürgerlichen Gesetzbuch, und wir haben die Zahlungsverzugsrichtlinie im Verkehr der Europäischen Union. In beiden steht eindeutig drin, dass der Gläubiger Kostenersatz verlangen kann. Wir können nicht gegen europäisches Recht verstoßen. Darauf muss man am Anfang vielleicht noch mal hinweisen. Deswegen können wir hier nicht einfach die Kosten komplett streichen. Das geht schlicht nicht.
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Man muss vielleicht noch einmal Folgendes anmerken: Im heutigen Wirtschaftsleben ist die Möglichkeit, Inkasso in Anspruch zu nehmen, von zentraler Bedeutung, gerade für die kleinen Unternehmen und für den Mittelstand. Wir reden hier über 5 bis 10 Milliarden Euro – das habe ich beim letzten Mal schon gesagt –, die dem Wirtschaftskreislauf zugeführt werden. Wir können jetzt nicht sagen: Weil wir in einer besonders schwierigen Situation sind, fangen wir an, den Leuten zu verbieten, Inkasso zu betreiben. – Das ist schlicht unmöglich. Aber – da setzt der Entwurf aus unserer Sicht völlig zu Recht an –: Die Kosten müssen verhältnismäßig und angemessen sein. Das war ein zentrales Ziel. Das haben wir im Koalitionsvertrag vereinbart. Daran halten wir uns selbstverständlich.
Natürlich gehört auch dazu, dass wir über das Verhalten der Inkassobranche reden müssen, jedenfalls in Teilen. Es gibt einen ersten Ansatz der Branche selber, den Code of Conduct. Wir begrüßen, dass die Branche versucht, etwas auf den Weg zu bringen. Aber das alleine wird sicherlich nicht reichen. Auch da setzen wir mit diesem Gesetzentwurf an. Das ist auch ein wichtiger Schritt.
Behandelt werden in diesem Entwurf aber im Wesentlichen Fragen des Gebührenrechts im RVG, insbesondere bei der Geschäfts- und der Einigungsgebühr. Ziel ist es dabei, dass wir einerseits den Schuldnerinnen und Schuldnern die Möglichkeit geben, keine unangemessen hohen Belastungen zu erleiden, und auf der anderen Seite müssen selbstverständlich die Inkassodienstleistungen noch wirtschaftlich möglich sein. Das ist ein Interessenausgleich, der aus unserer Sicht schon recht gut gelungen ist.
Wir haben insbesondere die Fälle in den Blick genommen, bei denen es um Bagatellforderungen geht. Das war uns sehr wichtig. Das ist nämlich auch ein ganz breiter Bereich. Hier ist ein besonderes Missverhältnis, das viele Bürgerinnen und Bürger zu Recht spüren, dass die Forderung am Ende niedriger ist als der Gebührenansatz. Das ist ein großes Problem. Dieses zu ändern, haben wir gerne gefordert, und wir freuen uns, dass das im Gesetzentwurf enthalten ist, sodass wir gut starten können.
Wir haben auch gefordert, dass wir über das Thema „hohe Inkassoforderungen“ insgesamt reden müssen, weil wir immer wieder das Problem haben, dass auch im Bereich bis zu 500 Euro, also nicht nur bis zu 50 Euro, insgesamt zu hohe Kosten auflaufen. Auch hier haben wir im Gesetzentwurf einen guten Vorschlag umgesetzt. Ich glaube, auch das ist ein ganz wesentlicher Faktor, über den wir schon sehr gut reden können.
Klar ist auch, dass wir in den ersten Ansätzen noch nicht all das wiedergefunden haben, was heute im Gesetzentwurf steht. Deswegen ist das Thema Bagatellforderungen wichtig. Dann dauert es auch mal einige Monate länger, bis die Entwürfe zwischen den Häusern abgestimmt sind. Ich glaube, wir haben inzwischen auch eine gute Vorlage gefunden. Wir freuen uns, dass sich der Entwurf weiter entwickelt hat.
Wir haben in diesem Gesetzentwurf aber einige Punkte mehr geregelt, über die wir gerne noch diskutieren können und die auch wichtig sind. Das ist beispielsweise das Thema Doppelbeauftragung, auch immer ein großes Ärgernis. Also: Inkassodienstleister und Rechtsanwälte, wann geht das überhaupt? Ich glaube, wir haben jetzt schon eine gute Regelung gefunden, dass das nicht ohne Weiteres möglich ist.
Wir müssen das Thema Informationspflichten behandeln. Man kann sich sicher noch genauer anschauen, wie man dies konkreter gestaltet. Geht es so in der Form, wie es bisher ist? Das spielt eine große Rolle für die Schuldnerinnen und Schuldner, aber übrigens auch für die Unternehmen, die nicht immer hören wollen, sie hätten schlecht informiert.
Die Anforderungen an die Eignung und Zuverlässigkeit – die Ministerin hat es gesagt – wollen wir auch noch mal anpacken. Ich glaube, das ist ein ganz wesentlicher Punkt, weil wir in den Debatten immer wieder hören, man müsse nicht immer von dem klassischen Fall „Inkasso-Team Moskau“ ausgehen – das kennt sicherlich noch jemand aus dem Fernsehen –, den es früher einmal gab. Auch jetzt haben wir immer noch Probleme, und darüber müssen wir noch einmal reden.
Wir haben das Thema Untersagungsverfügung, wir haben das Thema Zentralisierung angesprochen. Hierzu hat sich der Bundesrat erstaunlicherweise auch schon bekannt; er will das auch noch einmal angehen. Ich glaube, das ist ein Thema, über das wir reden müssen.
Am Ende des Tages gibt es mit der kostenrechtlichen Gleichbehandlung von Firmen und Rechtsanwälten eine Neuregelung im Mahnverfahren. Da wird man sicherlich noch gucken müssen, ob das zielführend ist oder ob zu viele Verfahren direkt in das Mahnverfahren gehen. Darüber muss man sicherlich noch einmal reden. Das ist auch ein Thema; aber das steht schon im Gesetzentwurf.
Ein Thema, das uns besonders wichtig war und wir immer in den Mittelpunkt der Debatte gestellt haben, ist das Thema – das ist besonders ärgerlich für die Menschen – Identitätsdiebstahl. Viele Kollegen von uns haben übrigens auch schon erlebt, dass ihnen in vielen Fällen Sachen nach Hause geschickt worden sind. Das ist ein weitverbreitetes Thema, gerade wenn man in der Öffentlichkeit steht. Es ist mit riesigen Problemen verbunden bei der Abwicklung. Wenn man nicht gerade Rechtsanwalt ist, kommen noch weitere Folgeschäden hinzu. Ich glaube, auch hier haben wir zumindest einen ersten Punkt gesetzt, um damit besser umzugehen.
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Uns ist auch bewusst, dass der Entwurf nicht nur viel Freude bringt. Die Branche hat sich durchaus negativ geäußert, aber so ist das. Ich glaube, wir haben einen gemeinsamen Konsens. Wir werden in einer Anhörung noch darüber sprechen, ob das in diesem Sinne bleiben kann. Ich glaube, dies ist schon eine sehr gute Vorlage.
Auch über die Zentralisierung kann man noch einmal reden. Der Bundesrat hat sich geäußert. Vielleicht kann man noch weitere Schritte gehen. Die Frage ist aber, ob man beim Identitätsdiebstahl in Bezug auf Informationspflichten weitergehen kann. Insgesamt haben wir eine sehr gute Grundlage. Wir können mit dem Entwurf sehr gut arbeiten. Ich habe im Antrag der FDP ein, zwei interessante Punkte gesehen – das kann man auch einmal sagen –, die durchaus debattenfähig sind.
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Das heißt nicht, dass wir sie umsetzen, aber man kann einmal darüber reden.
Insofern haben wir eine interessante Debatte und eine schöne Anhörung am 16. September.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Sebastian Steineke. – Jetzt kommt die angesprochene FDP mit der Rednerin Katharina Willkomm.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein Kunde bestellt, zahlt aber nicht. Ein Unternehmer mahnt, erhält aber kein Geld. 20 Millionen Mal pro Jahr läuft das so. Dem Unternehmen bleibt nur eines: Hilfe durch einen Inkassodienst oder eine Anwaltskanzlei, damit die sich kümmern. Dieses Kümmern um die Zahlungsverschleppung ist nicht nur für umme. Inkasso ist kein Selbstläufer.
Viele Schuldner stecken den Kopf in den Sand. Man muss dem Schuldner im wahrsten Sinne des Wortes hinterherrennen. Das macht viel Arbeit, und die will bezahlt werden. Bei der SPD hieß es früher einmal: Guter Lohn für gute Arbeit. Das gilt nicht mehr, auch nicht in diesem Regierungsentwurf.
Zum Beispiel die Einigungsgebühr für Zahlungsvereinbarungen: Sie halbieren diese Gebühr. Wozu führt das? Die Dienstleister haben den halben Umsatz, die Gerichte aber haben doppelt so viel Arbeit. Warum? Weil diese Einigungsgebühr der Ansporn für den Anwalt ist, den Rechnungsstreit außergerichtlich zu klären. Im Ergebnis torpediert die Justizministerin ein weiteres Mal den eigenen Pakt für den Rechtsstaat.
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Was wäre besser? Unser Vorschlag, Herr Steineke.
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Belohnen Sie die Schuldner, anstatt die Dienstleister zu bestrafen. Wenn eine Zahlungsvereinbarung mit wenigen Zahlungen erfüllt wird, reduziert sich die Gebühr um ein Drittel. Das führt zu schnellen Rückzahlungen und spart Kosten.
Ich bin einverstanden, die Geschäftsgebühr für Inkassotätigkeiten auf 1,0 zu senken. Ihre Differenzierung nach normalen und einfachen Fällen aber ist Unsinn. Machen Sie die Gebühr fix: 1,0 für alle Fälle. Keine Abweichung nach oben oder unten. Das senkt die Kosten und macht sie leicht überprüfbar.
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Wir Freie Demokraten wollen nicht nur unnötige Gebühren verringern, wir wollen Schuldnern helfen. Daher wollen wir den 120 Jahre alten Tilgungsregeln des BGB ein Update verpassen. Wenn Schuldner heute eine Schuld abstottern, verrechnet das Gesetz die Zahlungen immer erst auf die Zinsen. Dadurch kann die Hauptschuld immer neue Zinsen werfen. Unser Update: Wir drehen die gesetzliche Reihenfolge um. Erst die Hauptschuld, dann die Kosten, dann die Zinsen. So befreien wir zahlungswillige Schuldner aus dem Hamsterrad.
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Außerdem schlagen wir vor, für Mahnungen einen festen Ablauf zu etablieren, angelehnt an das gerichtliche Mahnverfahren: Mindestens 14 Tage zwischen Rechnung und erster Mahnung, mindestens weitere 14 Tage zwischen Mahnung und Inkasso. Was bringt das?
Erstens. Schuldner bekommen einen ganzen Monat Zeit, eine Forderung zu überprüfen und sind vor unerwarteten Kosten geschützt.
Zweitens. Gläubiger können es sich sparen, die dritte, vierte oder wirklich allerletzte Mahnung zu verschicken.
Drittens. Gläubiger kommen einfacher an das Geld, das ihnen zusteht.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Katharina Willkomm. – Bei dieser Debatte lerne ich richtig viel. Herzlichen Dank.
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Das ist wirklich spannend, da freue ich mich immer.
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Nächster Redner: für die Fraktion Die Linke Niema Movassat.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will versuchen, den Lerneffekt noch zu steigern.
Stellen Sie sich vor, eines Tages trudelt ein Brief eines Inkassounternehmens bei Ihnen ein. In diesem steht, dass Sie eine Rechnung von über 30 Euro nicht bezahlt haben. Sie sollen diese plus Inkassogebühren von 45 Euro bezahlen. Dann kommt noch ein Anruf vom Inkassounternehmen. Die Mitarbeiterin sagt: Zahlen Sie, sonst klagen wir; dann wird es noch teurer für Sie.
Viele Verbraucher wissen in so einer Situation nicht, was sie tun sollen. Sie fühlen sich unter Druck gesetzt, und deshalb zahlen viele dann die insgesamt 75 Euro, selbst wenn sie denken: Ich weiß gar nicht, welche Rechnung das sein soll. – Menschen unter Druck zu setzen, ist eine Methode von vielen Inkassounternehmen, und dagegen muss was getan werden.
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Inkassounternehmen treten auf den Plan, wenn jemand eine Rechnung nicht bezahlt hat. Sie werden vom Verkäufer oder Dienstleister beauftragt, die Rechnungssumme einzutreiben. Für die Inkassobranche ist das hochprofitabel. 1,8 Milliarden Euro an Inkassogebühren nimmt sie jedes Jahr ein. Den Inkassounternehmen ist fast jedes Mittel recht.
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Sie schicken oft Woche für Woche neue Mahnungen mit immer höheren Mahngebühren, die dem Schuldner aufgedrückt werden, und bei den Telefonanrufen pressen die Inkassounternehmen den Kunden Schuldanerkenntnisse ab. Der Kunde soll anerkennen, dass er das Geld bezahlen muss, unabhängig davon, ob die Forderung wirklich besteht. Dabei sind mündliche Schuldanerkenntnisse nicht wirksam. Die Inkassounternehmen wissen das, berufen sich in Briefen an den Schuldner aber trotzdem darauf. Da wird bewusst Recht gebrochen, und dagegen muss was getan werden.
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Der Inkassowirtschaft geht es nicht darum, offene Rechnungen einzutreiben. Der Inkassowirtschaft geht es darum, durch das Spielen mit der Angst um offene Rechnungen möglichst viel Geld durch Gebühren zu verdienen.
Der Gesetzentwurf der Koalition stellt eine Verbesserung dar. Die Inkassokosten werden teils verringert, Inkassodienstleister müssen mehr informieren, und dennoch schützt die Koalition die Verbraucher nicht ausreichend. Wir haben als Linke mit einem Antrag weitergehende Vorschläge vorgelegt, um dem Inkassounwesen zu begegnen:
Erstens. Unternehmen müssen sich erst selbst bemühen, Schuldner zur Begleichung offener Forderungen zu bewegen, bevor sie Inkassounternehmen beauftragen.
Zweitens. Wer Schulden eintreibt, muss mindestens prüfen, ob die Forderung überhaupt schlüssig ist, damit nicht irgendwelche Forderungen ins Blaue hinein eingetrieben werden.
Drittens. Wir brauchen Obergrenzen für Inkassokosten: maximal 5 Euro bei Forderungen bis 50 Euro und 100 Euro als absolute Obergrenze in anderen Fällen.
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Viertens. Wir brauchen ein Verbot von Telefonanrufen zum Zweck, Verbraucher unter Druck zu setzen.
Zu guter Letzt brauchen wir angesichts der sich abzeichnenden Verschlechterung der Situation im Zuge der Coronapandemie ein Recht auf Schuldnerberatung für alle.
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Kurzum: Der Gesetzentwurf der Koalition geht in die richtige Richtung, der Antrag der Linken ist aber deutlich besser.
Danke schön.
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Vielen Dank, Niema Movassat. – Nächster Redner: für Bündnis 90/Die Grünen Stefan Schmidt.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Seit mehr als zwei Jahren wissen wir schon, dass die Inkassogebühren nach der Reform von 2013 sogar noch weiter gestiegen sind und das Bedrohungspotenzial gegenüber den Schuldnern – ich zitiere – „immens“ ist. Erst jetzt legt die Bundesregierung einen Gesetzentwurf vor, um den Verbraucherschutz im Inkassorecht zu verbessern. Wir Grüne haben bereits 2018 einen Antrag vorgelegt und konkrete Verbesserungsvorschläge gemacht.
Die Vorschläge der Bundesregierung hingegen sind nur auf den ersten Blick vielversprechend. Ja, die Inkassogebühren sollen für viele Fälle – insbesondere für Kleinst- und Kleinforderungen – gesenkt werden. Wenn die Verbraucher eine Rechnung nicht bezahlt haben, dann sollen sie künftig nicht mehr ohne Warnung ganz plötzlich von Inkassoforderungen überrollt werden können. Es soll verboten werden, Inkassodienstleister und Rechtsanwälte gleichzeitig zu beauftragen und damit doppelt abzukassieren. Diese Verbesserungen gehen grundsätzlich in die richtige Richtung. Die Bundesregierung hat unseren Antrag offensichtlich gut gelesen und die eine oder andere gute Forderung auch übernommen.
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Die Reform von 2013 hat aber leider auch gezeigt: Wo mehr Verbraucherschutz versprochen wird, ist nicht automatisch mehr Verbraucherschutz drin. Auch der vorliegende Gesetzentwurf geht nicht weit genug. Einerseits sind die vorgeschlagenen Gebührensätze aus unserer Sicht immer noch zu hoch und zu kompliziert. Wir bezweifeln beispielsweise stark, dass eine regelmäßige 1,0-Gebühr für eine Inkassodienstleistung, die eine unbestrittene Forderung betrifft, gerechtfertigt ist. Wir fordern hier eine stärkere Begrenzung der Gebühren. Aus meiner Sicht ist eine 0,3-Gebühr für das erste Inkassoschreiben vollkommen ausreichend. Schließlich handelt es sich hier im Regelfall wirklich um Standardschreiben, um Serienbriefe. Wir werden uns mit den Gebührensätzen in den Beratungen aber sicherlich detailliert auseinandersetzen. Wir plädieren hier ganz klar für ein faires und verbraucherfreundliches Inkassorecht.
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Andererseits tut die Bundesregierung immer noch viel zu wenig, um unseriöses Inkasso einzudämmen. Immer noch ist jede fünfte Forderung von Inkassounternehmen ungerechtfertigt; so haben es die Verbraucherzentralen vorgerechnet. Gleichzeitig werden die Schuldner von fraglichen Unternehmen nicht selten bedroht und unter Druck gesetzt. Um unseriöses Inkasso in den Griff zu bekommen, muss die Aufsicht dringend überarbeitet und auf Bundesebene gebündelt werden. Momentan haben wir hier eine viel zu starke Zersplitterung. Noch immer gibt es mehr als 20 Aufsichtsbehörden. So lassen sich schwarze Schafe beim besten Willen nicht finden.
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Für uns ist klar: Die Reform darf sich nicht wieder als Flop erweisen. Der Gesetzentwurf darf nicht verwässert werden. Das Inkassorecht muss fair und verbraucherfreundlich sein. Darauf werden wir in den parlamentarischen Beratungen achten.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Stefan Schmidt. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Dr. Karl-Heinz Brunner.
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Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! 5,8 Milliarden Euro per anno werden von Inkassounternehmen und Rechtsanwälten durch die Eintreibung offener Forderungen in diesem Land jährlich realisiert. 19 000 hochqualifizierte, gut ausgebildete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Inkassounternehmen dieses Landes in durchschnittlich etwa 650 registrierten Rechtsdienstleistungsunternehmen sind mit 42,9 Millionen Forderungen pro Jahr beschäftigt. Im Berichtszeitraum 2018 – das ist der letzte Berichtszeitraum – fielen 733 Beschwerden an. Man könnte also sagen: 733 Beschwerden bei 42,9 Millionen Forderungen ist eigentlich so, als wenn wir im Straßenverkehr sagen würden: Es fallen fast keine Bußgelder an.
Nichtsdestotrotz gibt es schwarze Schafe, und die schwarzen Schafe haben die Branche und damit auch die Aufsicht als solche in Verruf gebracht. Mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung wird ein richtiger Weg gegangen. Einige wichtige Punkte werden angesprochen: Es wird klargestellt, dass bei niedrigen Forderungen und auch bei Forderungen schlechthin die Inkassogebühren grundsätzlich niedriger sein müssen als die Forderungen, um das bestehende Recht glaubhaft durchzusetzen. Daneben werden niedrigere Wertstufen festgelegt. Mit niedrigeren Wertstufen soll dafür gesorgt werden, dass das Verhältnis der Inkassogebühren zu den entsprechenden Forderungen stimmt.
Herr Brunner, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung von Herrn Movassat?
Bitte, gerne, ja.
Danke, Herr Kollege Brunner, dass Sie das erlauben. – Es geht auch ganz schnell, aber ich will zumindest, dass das auch im Protokoll richtiggestellt ist.
Sie haben gesagt, es habe nur 733 Beschwerden gegeben. Das ist zwar eine relativ geringe Zahl an Beschwerden, aber Sie werden mir ja zustimmen, dass viele Verbraucherinnen und Verbraucher ihre Rechte gar nicht kennen und schon gar nicht wissen, dass sie sich überhaupt beschweren können, sodass diese Zahl von 733 Beschwerden gar nichts darüber aussagt, wie viele Fälle an problematischen Forderungseinzügen es gibt.
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Verehrter Kollege Movassat, ich bedanke mich für die Zwischenfrage, weil sie mir eine zusätzliche Erklärungsmöglichkeit gibt.
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Die Verbraucherinnen und Verbraucher in diesem Land wissen sehr wohl, wo sie sich beschweren können.
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Sie wissen ganz genau, welche Rechte sie haben, und sie nehmen diese Rechte auch wahr.
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Deshalb ist 733 zu 42,9 Millionen ein Verhältnis, bei dem man eigentlich keinen Regelungsbedarf hat. Trotzdem haben wir im Koalitionsvertrag vereinbart, den Verbraucherschutz in den Mittelpunkt zu stellen,
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und Verbraucherschutz heißt, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher dieses Landes nicht über Gebühr belastet werden sollten.
Wir haben weiterhin gesagt: Das Recht muss nicht nur als Recht existieren, sondern auch durchgesetzt werden. Ich kann mir kein Land vorstellen – das sage ich ganz deutlich –, in dem man, wie es etwa Kollege Maier und Kollege Movassat sagen, die Rechnung zum Beispiel bis zu einem Betrag von 100 Euro nicht zahlen muss: Man geht in den Laden rein, man kauft das T-Shirt, man kriegt eine Rechnung gestellt, und dann muss man halt nicht zahlen, weil es nicht durchgesetzt wird.
Ein zweiter Weg wäre, dass wir wegen jeder Forderung in diesem Land ein gerichtliches Mahnverfahren und ein Gerichtsverfahren haben. Das wollen wir auch nicht; denn es dient nicht dem wirtschaftlichen Wohlergehen dieses Landes.
Deshalb haben wir mit den vier Punkten – mit den niedrigeren Gebührensätzen zwischen 0,5 und 1,0, wie es das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz vorschlägt, mit der neuen niedrigen Wertstufe, mit der hohen Transparenz und den Informationspflichten gegenüber dem Verbraucher und mit der Erneuerung und der Verbesserung der Aufsicht, fast so, wie es beim alten Rechtsberatungsgesetz einmal war – den richtigen und guten Weg beschritten: auf der einen Seite Verbraucherschutz, auf der anderen Seite Schutz und Erhalt der Rechtssicherheit in diesem Land.
Ich hoffe, dass wir im Rahmen der Beratungen, insbesondere durch die öffentliche Anhörung, darin bestätigt werden, dass der Gesetzentwurf ein maßvoller Weg ist, um gutes Geld in den Wirtschaftskreislauf zurückzuführen, Rechtssicherheit im Lande zu erhalten und einen Grundsatz hochzuhalten: Wer in diesem Land eine Rechnung bekommt, die gerechtfertigt ist, muss sie auch bezahlen.
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Vielen Dank, Dr. Karl-Heinz Brunner. – Gleich kommt die letzte Rede des heutigen Tages. Letzter Redner in der sehr lehrreichen Debatte: Dr. Volker Ullrich für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wer einen Vertrag eingeht, muss die Gegenleistung, die er schuldet, erfüllen; wer etwas kauft, muss die Ware bezahlen. – Auf diesem Grundkonstrukt ruht das Bürgerliche Gesetzbuch seit 120 Jahren. Und diese Art von Vertrauen ist wichtig und elementar für den Wirtschaftskreislauf.
Leistung und Gegenleistung stehen, wie die Juristen sagen, in einem synallagmatischen Verhältnis, um noch einen Rechtsbegriff einzuführen.
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Und wenn die 23 Millionen offenen Forderungen in Deutschland, die die Inkassobranche jährlich abarbeitet, nicht erfüllt werden, dann stehen hinter den nicht bezahlten Rechnungen auch Schicksale, nämlich gerade Mittelständler und kleine Unternehmer, die darauf angewiesen sind, dass die Rechnungen bezahlt werden. Und wenn über 5 Milliarden Euro durch die Inkassobranche jährlich rückgeführt werden, dann sichert das auch dem einen oder anderen Unternehmen das Überleben, und daran hängen auch Arbeitsplätze. Deswegen ist die Begleichung von Forderungen gerade für den Wirtschaftskreislauf eine elementar wichtige Angelegenheit.
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Wenn wir heute über Inkasso reden, dann sprechen wir nicht über das Ob der Forderungsbeitreibung, sondern wir sprechen über das Wie. Es geht um die Frage, ob es gerade bei kleinen Beträgen tatsächlich fair und angemessen ist, dass die Inkassokosten im Regelfall die offene Forderung übersteigen. Es geht nicht darum, für Kleinbeträge Inkasso abzuschaffen oder hier den Vergütungsanspruch zu vereiteln. Es geht darum, dass wir einen fairen Ausgleich finden. Ich glaube, diesen Interessenausgleich schafft dieser Gesetzentwurf.
Gerade bei kleineren Forderungen bis 50 Euro ist es doch nicht angemessen, wenn durch eine Auslagenpauschale und eine 1,3-Gebühr die Inkassokosten auf bis zu 78 Euro ansteigen. Das ist etwas, wo die Verbraucher sagen: Kann das sein? – Wenn nämlich letztlich die Durchsetzung der Inkassoforderung höher bewertet wird als die eigentlich zu begleichende Rechnung und wenn man weiß, dass im Zivilrecht übrigens auch noch erst mal die Inkassorechnungen angerechnet werden und dann die Hauptforderung beglichen wird, dann haben wir hier ein Ungleichgewicht. Und dieses Ungleichgewicht wollen wir aufheben.
Wir wollen, dass bei Kleinbeträgen, wenn jemand auf ein erstes Mahnschreiben hin sofort bezahlt und sagt: „Jawohl, das schulde ich, und ich überweise den Rechnungsbetrag“, nur noch 18 Euro Inkassogebühren fällig werden, also eine 0,5-Gebühr, und wenn man es später überweist, 36 Euro, also eine 1,0-Gebühr. Ich glaube, das ist auch angemessen, und das können die Inkassounternehmen auch leisten. Warum? Weil wir gerade bei Kleinforderungen, bei Beträgen des alltäglichen Lebens, ohnehin bereits aufseiten der Inkassounternehmen eine automatisierte Abfolge der Arbeitsabläufe haben,
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sodass tatsächlich auch aufseiten der Inkassounternehmen ein gutes Kosten-Nutzen-Verhältnis dargestellt werden kann. Handelt es sich dagegen um größere Forderungen, dann ist es angemessen, dass tatsächlich auch die Validität der Forderung geprüft wird, sodass hier auch zukünftig höhere Gebühren möglich sind.
Aber klar ist auch: Es kann keine Doppelbeauftragung geben, wenn der Schuldner nicht bereit ist, doppelt zu bezahlen, und auch gar nicht vorhersehen kann, dass er dies muss. Wer also ein Inkassounternehmen und einen Rechtsanwalt beauftragt, der kann sich das nicht zweimal bezahlen lassen. Vielmehr muss sich der Gläubiger der Forderung entscheiden: Lasse ich diese Forderung durch ein Inkassounternehmen oder durch den Rechtsanwalt beitreiben? – Ich glaube, es ist nur fair und angemessen, dass der Verbraucher hier nicht doppelt belastet wird.
Dann wollen wir noch dafür Sorge tragen, dass die Aufsichtsbehörden gerade in den Fällen – und die kommen auch vor –, in denen vermeintliche Forderungen beigetrieben werden, es zu einem sogenannten Identitätsdiebstahl kommt, Inkassounternehmen über die Stränge schlagen oder dem Verbraucher vielleicht auf unangenehme Weise auf den Leib rücken, stärker einschreiten können. Deswegen muss die Aufsichtsbehörde auf dem Schreiben angegeben werden. Ich glaube, das trägt auch dazu bei, hier den Verbraucherschutz zu stärken.
Also alles in allem: Wir wollen, dass wir einen fairen Ausgleich finden zwischen den Interessen derjenigen, die das Geld brauchen, weil sie Leistungen erbracht haben, und den Interessen der Verbraucher, die vor überhöhten Forderungen geschützt werden sollen. Lassen Sie uns über diesen Gesetzentwurf intensiv diskutieren und daraus ein gutes Gesetz machen.
Herzlichen Dank.
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Vielen herzlichen Dank, lieber Dr. Volker Ullrich. – Damit schließe ich die Aussprache.