Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 6/19/2020

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Olaf Scholz (Minister:in)

Politiker ID: 11003231

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist noch gar nicht so viele Wochen her, dass Anfang März die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten zusammen mit der Bundesregierung massive Einschränkungen des öffentlichen und sozialen Lebens in Kraft gesetzt haben, um die Coronapandemie und die Verbreitung der Covid-19-Infektionen aufzuhalten. Das ist nur wenige Wochen her. Wenn man sich gleichzeitig anschaut, was seither geschehen ist, dann muss man sagen: Das war eine Sternstunde des Bürgersinns und auch der Solidarität in Deutschland, und sie waren und sind auch ein Ausdruck der Leistungsfähigkeit unserer Demokratie, ({0}) auch weil der Staat und weil Bund, Länder und Gemeinden, Regierungen und Parlamente gezeigt haben, dass sie kraftvoll und schnell handeln können. Uns allen war dabei klar: Es geht um das Ganze, um das ganz Große, die Gesundheit, den Wohlstand, die Zuversicht und die Zukunft unseres Landes und natürlich immer wieder auch den Zusammenhalt. Viele haben sich gefragt, ob wir in Deutschland es hinbekommen werden, mit dieser Krise fertigzuwerden. Ich sage: Ja, wir haben das hinbekommen. Wir sind mit den Folgen fertiggeworden, und wir werden das auch weiter tun – weil wir zusammenstehen. ({1}) Wer sich genau umschaut, der sieht: Im internationalen Vergleich haben wir auch die Zahl der Infektionen relativ gut reduzieren können. Um diesen Kurs beibehalten zu können, wird es auch jetzt weiter darum gehen, dass wir mutig handeln, dass wir tatkräftig handeln, und immer auch mit dem richtigen Maß. Das hat natürlich etwas zu tun mit all dem, was wir jetzt zu bewältigen haben in einer neuen Normalität, in der wir jetzt leben – neue Normalität deshalb, weil es unverändert so ist, dass das Virus unter uns ist und dass wir bei all dem, was wir jetzt machen, immer darauf achten müssen, dass diese Gefahr nicht übersehen wird, solange wir nicht ausreichend gute medizinische Therapien und einen Impfstoff haben. Wir haben für das, was wir gemacht haben, Entscheidungen gewählt, zunächst mit dem Stabilisierungsprogramm gleich beim Ausbruch der Pandemie. Im internationalen Vergleich ist dieses Stabilisierungsprogramm, das der Deutsche Bundestag beschlossen hat und wozu er eine Ausnahme von der Schuldenregel des Grundgesetzes akzeptiert hat, sehr schnell gekommen, und es war sehr groß. Jetzt, wo der Lockdown allmählich zu Ende geht, sind wir in einer neuen Phase. Es geht nämlich darum, dass wir mit einem Konjunkturprogramm dafür sorgen, dass die Konjunktur wieder anspringt. Wir werden das tun, erneut wie beim letzten Mal ziemlich früh und sehr groß, damit wir auch wirklich wirksam sind. ({2}) Wir haben dabei sehr klare Prinzipien beachtet; sie sind jetzt schon oft diskutiert. Aber ich finde, es ist vernünftig, wenn wissenschaftliche Erkenntnisse und politisches Handeln gut zusammenpassen, nämlich dass wir so reagieren, wie das in der englischsprachigen Ökonomenwelt heißt: „timely, targeted and temporary“, also zum richtigen Zeitpunkt, gezielt und befristet. Genau das gilt auch für dieses Konjunkturprogramm. Allerdings hat es eine weitere Komponente, die nicht von allen geteilt wird, aber für uns ganz wichtig ist. Es ist auch „transformative“. Wir haben Maßnahmen dabei, die auf die Zukunft gerichtet sind und die dafür sorgen sollen, dass wir auch diese Zukunft gestalten können. ({3}) Meine Damen und Herren, es ist deshalb kein Wunder, dass die allermeisten – nicht alle – Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dieses Konjunkturpaket als sehr gute Leistung bewertet haben. Ich finde, es ist doch bemerkenswert, wenn es eine Übereinstimmung gibt zwischen dem, was an Handlungen von Regierung und Parlament vorgeschlagen wird, und dem, was öffentlich für notwendig gehalten wird. ({4}) Meine Damen und Herren, was ist in diesem Paket? Zunächst einmal ein ganz starker Konjunkturimpuls. Wir verbessern die Kaufkraft der Bürgerinnen und Bürger: Für sechs Monate wird die Mehrwertsteuer gesenkt. ({5}) Ich halte das für eine ganz wichtige Maßnahme, und ich bin auch überzeugt, sie wird auch überall bei den Bürgerinnen und Bürgern ankommen, und sie wird dazu beitragen, dass insbesondere langlebige Konsumgüter jetzt mehr gekauft werden als ohne diese Maßnahme. ({6}) Damit das auch klar ist: Es ist sehr bewusst eine Maßnahme, die schnell kommt, und es ist sehr bewusst eine Maßnahme, die groß ist, weil wir nicht mit 1 Prozent Mehrwertsteuersenkung gearbeitet haben, und es ist bewusst eine Maßnahme, die befristet ist; denn es geht um eine konjunkturelle Belebung. Es soll jemanden, der sonst als Einzelner erwägen würde, seine Entscheidung aufzuschieben, bis man besser weiß, wie sich das alles entwickeln wird, dazu überreden, dass er oder sie es jetzt tut. Genau das ist das Ziel einer solchen Konjunkturmaßnahme. ({7}) Außerdem sorgen wir dafür, dass es Geld für Familien mit Kindern gibt. Der Kinderbonus ist eine ganz große Verbesserung der Kaufkraft der Familien. Ich sage ausdrücklich: Das ist auch in dieser Zeit richtig. Denn die Familien zählen zu denjenigen, die mit die schwersten Lasten zu tragen hatten: geschlossene Krippen, Kitas und Schulen. Ich bin fest davon überzeugt, dass der Kinderbonus hilft und auch gleichzeitig eine Anerkennung ist. ({8}) Im Übrigen haben wir den kommunalen Solidarpakt auf den Weg gebracht. Das ist eine richtig große Entlastung der Kommunen, und die darf überhaupt nicht unterschätzt werden. Es darf ja nicht folgenlos bleiben, dass in diesem Haus und an vielen anderen Stellen immer wieder richtig gesagt wird: Zwei Drittel der öffentlichen Investitionen stammen aus den Kommunen. – Aber wenn wir jetzt erleben würden, dass die Kommunen in dieser Krise eine nach der anderen die Entscheidung treffen, Investitionen zurückzufahren, Programme zusammenzustreichen, dann würden wir damit das Gegenteil einer konjunkturellen Belebung erreichen. Deshalb ist es richtig und wichtig, dass wir jetzt diese Stärkung der Kommunen zustande bringen. ({9}) Wir machen das auf vielfache Weise, zum Beispiel, indem wir die Hälfte der Gewerbesteuerausfälle, die dieses Jahr für die Kommunen relevant werden, übernehmen, oder zum Beispiel, indem wir ein langjähriges Anliegen vieler Kommunen und vieler, die sich dafür schon lange eingesetzt haben, endlich umsetzen: Bei den Kosten der Unterkunft wird der Bund einen größeren Anteil übernehmen. Das entlastet die Kommunen massiv und auf Dauer, weil das nicht auf die Konjunkturkrise beschränkt bleibt. ({10}) Wir werden im Übrigen auch überall helfen, bei vielen Maßnahmen, etwa wenn es um den öffentlichen Nahverkehr geht – 2,5 Milliarden Euro –, oder bei Maßnahmen, die etwas mit Krippen, Kitas und Ganztagsbetreuung zu tun haben, wo wir Milliarden in Aussicht gestellt haben, die jetzt, in diesem und im nächsten Jahr, genutzt werden können, um dort auszubauen. Auch das ist ein wichtiges Zeichen an die Eltern in diesem Land. ({11}) Meine Damen und Herren, wir wollen auch die Wirtschaft beleben. Das wird mit vielen Maßnahmen unternommen, die neben den schon beschriebenen natürlich auch unmittelbar wirksam sind. Verlustrücktrag ist eine Sache; das besorgt unmittelbar Liquidität für die Unternehmen und verlängert all die Maßnahmen, die wir längst auf den Weg gebracht haben. Wir haben das klassische Kriseninstrument aufbewahrt und setzen es jetzt in der Krise ein, nämlich eine erhöhte degressive Abschreibung. ({12}) Das ist, glaube ich, eine unmittelbare Maßnahme für Unternehmen, übrigens in allen Sektoren der Wirtschaft. ({13}) Was wir im Übrigen tun, ist, dafür Sorge zu tragen, dass all die Branchen, die immer noch mit Umsatzrückgängen und vielen anderen Herausforderungen zu kämpfen haben, weil die Wirtschaft noch nicht angelaufen ist oder weil zum Beispiel immer noch existierende öffentliche Restriktionen dafür sorgen, dass sie ihre Geschäftstätigkeit nicht ganz entfalten können, besser unterstützt werden. Deshalb gibt es eine Verwandlung unseres Soforthilfeprogramms in eine Überbrückungshilfe mit 25 Milliarden Euro. ({14}) Es geht um Direktzuschüsse, und es geht darum, dass wir dafür Sorge tragen, dass wir spezielle Programme dort, wo es notwendig ist, entwickeln, zum Beispiel bei Restaurants und Bars, bei Busunternehmen, bei Reisebüros, bei gemeinnützigen Unternehmen und Jugendherbergen, bei mittelständischen Unternehmen und Solo-Selbstständigen. Alle kriegen eine Unterstützung, und ich denke, das ist eine gute Entscheidung. ({15}) Meine Damen und Herren, was auch wichtig ist, ist, dass wir etwas, das für unser Zusammenleben von allergrößter Bedeutung ist, nicht vergessen, nämlich die Kultur. Deshalb sage ich ausdrücklich: Es ist richtig, dass der Neustart der Kultur zu diesem Programm dazugehört. Wir jedenfalls haben uns sehr dafür eingesetzt, dass das so ist. ({16}) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluss sagen, dass dieses Paket auch die Zukunft in den Blick nimmt. Das tut es, weil wir dafür gesorgt haben, dass wir in der Situation, in der wir heute sind, auch in der Lage sind, etwas zu tun, zum Beispiel für die Energiewende, zum Beispiel im Kampf gegen den Klimawandel, zum Beispiel beim Einstieg in die Wasserstoffwirtschaft oder bei der Digitalisierung. Letzte Bemerkung. Was wir jetzt machen, kostet viel Geld. 218,5 Milliarden Euro, das ist nicht wenig. Ich habe nicht nur großes Verständnis dafür, wenn dem einen oder anderen dabei mulmig wird, ich bin auch froh darüber; denn die Gefahr ist sehr, sehr groß, dass man in einer solchen Situation, wenn man schon viel Geld ausgibt, denkt, da gibt es ja kein Halten mehr. Dass wir aber Maß und Mitte wahren, wenn wir so große massive Investitionsprogramme auf den Weg bringen, das gehört auch zum Erfolg dieser Maßnahme, wie es dazugehört, dass wir in der Vergangenheit solide gewirtschaftet haben und das auch in dieser Krise weiter tun. Schönen Dank. ({17})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort der Kollege Albrecht Glaser, AfD. ({0})

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach einem ersten Steuergesetz vom 28. Mai, mit welchem für die Speiseabgabe in der Gastronomie für ein Jahr der ermäßigte Steuersatz festgelegt wurde, haben wir es heute mit einem zweiten Gesetz zu tun, das, wie Sie gehört haben, den großen steuerlichen Impuls zur „Konjunktur- und Krisenbewältigung“, wie es heißt, geben soll. Obwohl jedem Kundigen klar ist, dass zur Sicherung von Liquidität und zur Wiedergewinnung der Rentabilität von Unternehmen steuerliche Erleichterungen der Königsweg sind, finden sich dazu nur wenige Maßnahmen im Gesetz, und fast alle haben nicht einmal Entlastungs-, sondern nur Stundungswirkung: keine Abschaffung des Solidarzuschlags, keinerlei Absenkung von Ertragsteuern, und sei es nur für einen begrenzten Zeitraum zur Erholung der Wirtschaft, lediglich eine Minimalkorrektur bei der Gewerbesteuer. Der Verlustrücktrag, der in einem AfD-Antrag vom April bereits gefordert wurde, wird für zwei Jahre verbessert, eine degressive AfA für in diesem und im nächsten Jahr investierte bewegliche Wirtschaftsgüter und eine vorübergehende Verlängerung der Reinvestitionsfrist im Rahmen des § 6b EStG, dies sind die schmalen Zugeständnisse an die Unternehmen. Diese Maßnahmen vermindern nicht einmal die Staatseinnahmen, sondern sie verschieben sie lediglich in spätere Jahre. Der große Wumms soll eine Umsatzsteuersenkung um 3 bzw. 2 Prozentpunkte beim ermäßigten Steuersatz sein, die lediglich für die zweite Jahreshälfte 2020 gewährt wird. Sie soll angeblich die Verbraucher um 20 Milliarden Euro entlasten, wird jedoch ziemlich sicher die Unternehmen mit Milliarden an Umstellungskosten belasten. Wenn diese Kurzzeitermäßigung der Umsatzsteuer an die Verbraucher weitergegeben wird, was fraglich ist, hilft sie den Unternehmern überhaupt nicht, zumal wir nahzeitlich kein Nachfrage-, sondern ein Angebotsproblem haben. Alle anderen Maßnahmen sind nur für die Nachfrageseite. Und der „Kinderbonus", der schon bei mittleren Einkommen wegen des Kinderfreibetrags entfällt, ist eher eine populistische Maßnahme. Alle Steueränderungen zusammen führen zu Einnahmeeinbußen beim Bund von 37 Milliarden Euro. Wegen beabsichtigter Transferleistungen des Bundes an Länder, Gemeinden, Sozialversicherungsträger und der Investitionen, die in einem Zusatzgesetz geregelt sind, wird der Bundeshaushalt 2020 mit einer Nettoneuverschuldung von 286 Milliarden Euro finanziert werden. Zusammen mit der Neuverschuldung der Länder und Gemeinden in Höhe von 120 Milliarden Euro und den 200 Milliarden Euro Kreditaufnahme des Bundes für die Kapitalmaßnahmen der KfW wird der nationale Schuldenstand auf 2,66 Billionen Euro steigen und damit wieder eine Schuldenquote von über 80 Prozent des Bruttoinlandsprodukts entstehen. Das ist die Lage, wie wir sie in der Finanzkrise 2009 hatten. Zurück auf Los! Vor diesem Hintergrund betreibt die Bundesregierung eine kontinentale Rettung mit einem Hauch von Weltenrettung. Dafür soll die EU 750 Milliarden Euro an Darlehen aufnehmen dürfen, obwohl ihr dies nach Artikel 311 AEUV verboten ist. 500 Milliarden Euro dieser Darlehen sollen an besonders hoch verschuldete Euro-Länder verschenkt und 250 Milliarden Euro darlehensweise vergeben werden. Man darf spekulieren, ob die EZB, die auch andere internationale Organisationen finanziert, diese erstmaligen Emissionen der EU ebenfalls in ihr Portfolio aufnimmt. Sie finanziert sich also selber. Die Folgelasten für Deutschland in Gestalt erhöhter Umlagen zur Finanzierung dieser Operation sind noch nicht absehbar, ebenso wenig wie die Haftungsrisiken. Das, meine sehr verehrten Damen und Herren, muss wohl die „große Transformation“ sein, von der ständig die Rede ist. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Andreas Jung, CDU/CSU. ({0})

Andreas Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003780, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben gemeinsam viele Weichen gestellt, damit wir gut durch diese Krise kommen. Die Zahl von 7 Millionen Menschen in Kurzarbeit zeigt, dass wir noch lange nicht über den Berg sind. Sie zeigt im Übrigen auch, dass die Unterstützung, die wir auf den Weg gebracht haben, notwendig war und dass es richtig ist, jetzt ein weiteres Paket aufzusetzen. Um es mit aller Deutlichkeit zu sagen: Ohne diese Maßnahmen würden Millionen Menschen ihre Arbeit verlieren. Ohne diese Unterstützung würden Betriebe jetzt pleitegehen. Ohne diese Hilfsmaßnahmen würden wertvolle Strukturen zerstört, auf die wir dann später auch nicht mehr aufbauen könnten. Deshalb ist es richtig und notwendig, dass wir jetzt handeln. ({0}) 7 Millionen Menschen in Kurzarbeit in diesem Land zeigen auch, dass das kein Phänomen ist, das auf bestimmte Regionen oder auf bestimmte Branchen beschränkt ist, sondern die Folgen der Coronakrise treffen uns überall in Deutschland über die Branchen hinweg, sie treffen alle in Deutschland in der ganzen Breite. Und weil alle in der ganzen Breite getroffen sind, brauchen wir natürlich auch eine entsprechend breite Antwort. Deshalb halte ich es für verfehlt, wenn das, was jetzt gemacht wird, als Gießkanne, wie es gestern geschehen ist, kritisiert wird. Nennen Sie es „Gießkanne“; wir sagen: Wir wollen keine Landschaften, keine Gärten vertrocknen lassen. Wir wollen, dass alle Betriebe liquide sind. Wir wollen die Liquidität stärken. Wir wollen, dass Betriebe und Menschen flüssig sind, damit investiert werden kann, damit es wieder vorangehen kann. Deshalb ist das ein Programm für alle Bürger, für alle Betriebe, für Familien, für Alleinerziehende – darauf haben wir besonderen Wert gelegt –, für die Kommunen, für die Kreise. Das ist ein Programm für alle. Nennen Sie es „Gießkanne“; ich sage: Es ist gut und richtig, dass wir etwas in der ganzen Breite für alle Menschen in Deutschland tun. ({1}) Schauen Sie sich dazu die Maßnahmen an. Wir entlasten bei den Sozialabgaben. Wir machen einen Deckel, damit diejenigen, die die Sozialabgaben zu tragen haben, die Arbeitnehmer und die Arbeitgeber, nicht draufzahlen müssen, wenn wir jetzt mehr für Kurzarbeit, für andere soziale Ausgaben schultern müssen. Das soll nicht obendrauf kommen. Wir machen eine Bremse bei den Energiekosten, damit Menschen und Betriebe nicht stärker belastet werden. Und natürlich entlasten wir bei den Steuern. Wir verbessern die Liquidität der Unternehmen durch den Verlustrücktrag. Wir verbessern die Anreize für Investitionen, damit tatsächlich jetzt investiert wird, damit Dinge nicht aufgeschoben werden, damit jetzt nach vorne geschaut und gehandelt wird. Und ja, wir handeln bei der Mehrwertsteuer; darüber können wir doch diskutieren. Wir setzen darauf, dass dies den erwünschten Effekt haben wird. Es ist doch ganz sicher so: Es hat eine entlastende Wirkung von 20 Milliarden Euro und damit einen Mehrwert, der bei den Menschen in Deutschland ankommen wird. ({2}) Auch bei allen Menschen in Deutschland wird ankommen, was wir in den Kommunen tun. Auch dort entlasten wir diejenigen, die besonders viele Sozialabgaben zu schultern haben. Wir unterstützen diejenigen, bei denen die Gewerbesteuereinnahmen einbrechen. Wir stärken die Investitionskraft der Kommunen, was wiederum der regionalen Wirtschaft zugutekommt und dadurch uns allen. Es ist ein Programm für alle. Es ist wahr: Das alles kostet viel Geld. Es ist richtig: Wir haben bereits Milliardenschulden aufgenommen, und wir nehmen jetzt noch einmal mehr Schulden auf. Wir werden in diesem Jahr nicht wie in den vergangenen Jahren ausgeglichene Haushalte erreichen. Wir werden in diesem Jahr nicht die schwarze Null halten. Aber wir haben das von Anbeginn dieser Krise mitgetragen, weil für uns die schwarze Null nie Ideologie war, sondern ein Grundsatz der Nachhaltigkeit. Wir haben gesagt: In guten Zeiten müssen wir mit dem Geld, das wir haben, auskommen. – Aber jetzt haben wir eine Notsituation; wir haben eine absolute Ausnahmesituation. Deshalb nehmen wir aus der Not heraus – nicht aus Begeisterung – Schulden auf. Wir können diese starke Antwort jetzt nur deshalb geben – der Finanzminister hat es gesagt –, weil wir solide gewirtschaftet haben, weil wir in guten Zeiten nachhaltige Haushalte hatten. Um es deutlich zu sagen: Die schwarze Null von gestern ermöglicht den Wumms heute. ({3}) Das solide Wirtschaften gibt uns jetzt die Kraft in der Krise. Uns ist wichtig, dass Nachhaltigkeit nicht nur für Schönwetterzeiten gilt. Uns ist wichtig, dass sich Nachhaltigkeit auch jetzt in der Krise bewährt. Deshalb legen wir besonderen Wert darauf, dass die Schuldenaufnahme – auch die neuerliche Schuldenaufnahme – mit einem verbindlichen Tilgungsplan verbunden wird, mit dem wir zwar mehr Schulden aufnehmen, mit dem aber die Dauer der Rückzahlung nicht gestreckt wird. ({4}) In 20 Jahren werden wir die Schulden, die wir aufnehmen, zurückzahlen. Dazu verpflichten wir uns; damit verschieben wir es eben nicht auf kommende Generationen. Diese Generation muss es zurückzahlen. Und wir verpflichten uns, dass wir, sobald es wieder besser wird – darauf zielen die Maßnahmen ab, dass die Betriebe wieder florieren, damit Steuern wieder reinkommen – und es möglich ist, zu ausgeglichenen Haushalten zurückkommen. Dann muss die schwarze Null wieder gelten. Auch das ist ein Ausdruck von Nachhaltigkeit. ({5}) Dieser zukunftsgerichtete Anspruch drückt sich in diesem Programm – es ist ein Konjunkturpaket, aber eben auch ein Zukunftspaket – dadurch aus, dass wir strukturelle Anreize setzen, mit denen wir den Klimaschutz, die Digitalisierung voranbringen. Wir stellen Milliarden für die Nationale Wasserstoffstrategie zur Verfügung und damit für neue Energie. Wir stellen Milliarden für die Förderung von nachhaltiger Mobilität zur Verfügung, für die Schiene, für den ÖPNV, für kommunalen Klimaschutz, für energetische Sanierung. Das alles sind Maßnahmen, die wir jetzt auf den Weg bringen, die der Konjunktur nutzen, die aber auch künftigen Generationen etwas bringen werden, die unser Land insgesamt voranbringen. Darum geht es heute. Weil auch die europäischen Fragen, die aktuell diskutiert werden, angesprochen wurden, will ich auch dazu unsere Haltung vortragen: Da geht es uns um dasselbe. Die vielen Mittel, die dort jetzt eingesetzt werden, müssen zukunftsgerichtet eingesetzt werden. Es müssen Investitionen in Klimaschutz, in Digitalisierung, in neue Technologien fließen und Innovationen vorangebracht werden. Darauf werden wir als Union in besonderer Weise achten. So haben wir uns in diese Diskussion eingebracht; das ist für uns die Geschäftsgrundlage dieser Programme. Es geht darum, die Dinge hier im Land jetzt voranzubringen, aber gleichzeitig Solidarität mit den Partnern zu zeigen, auch aus eigenem Interesse. Wir können in Deutschland und Europa nur gemeinsam stark sein; das kann man überhaupt nicht voneinander trennen. Das ist unser Weg, und dafür bringen wir die Dinge auf den Weg. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Christian Dürr, FDP. ({0})

Christian Dürr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004705, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Jung, es ist richtig: Wir sind am Beginn einer schweren wirtschaftlichen Situation für unser Land, und die endet nicht am 31. Dezember dieses Jahres. Das Ziel eines Konjunkturpaketes muss sein, die Binnenkonjunktur so zu stärken, dass wir so schnell wie möglich aus dieser Krise auch wieder herauskommen. Und das Herzstück Ihres Konjunkturpaketes – das sagen Sie ja selbst; das sagen der Bundeswirtschaftsminister, der Finanzminister – ist eine vorübergehende Senkung der Mehrwertsteuer vom 1. Juli bis 31. Dezember. Sie haben gerade davon gesprochen, dass Sie entlasten wollen. Die Wahrheit ist: Für viele Mittelständler, für viele Familienbetriebe ist das ein irrer bürokratischer Aufwand. Die Mehrwertsteuersenkung ist zunächst eine Belastung des deutschen Mittelstandes, meine Damen und Herren! ({0}) Sie werden doch auch die Briefe der Mittelständler bekommen, die sich zurzeit beschweren, die sagen: Diese Umsetzung zum 1. Juli wird gar nicht rechtssicher funktionieren. ({1}) Zum Zweiten: Es ist mehr als fraglich, ob dieses Geld auch bei den Menschen ankommt. ({2}) Ich will meine Sorge zum Ausdruck bringen. Meine Sorge ist, dass vor allem diejenigen profitieren werden, die ohnehin gut durch die Krise gekommen sind, zum Beispiel die Onlineversandhändler, die, weil ihre Preise durch Algorithmen festgelegt werden, diese Mehrwertsteuersenkung nicht weitergeben werden. Das ist, Herr Scholz, unter Umständen kein Steuerhilfegesetz; das ist vielleicht ein Amazon-Hilfegesetz, aber nicht das, was unser Land jetzt braucht, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Das „Politbarometer“ hat herausgefunden, dass 85 Prozent der Menschen in Deutschland nicht daran glauben, dass diese Mehrwertsteuersenkung bei ihnen ankommt. ({4}) Der Wissenschaftliche Beirat des Finanzministers meldet Zweifel an, Beamte des Bundeswirtschaftsministers sind nicht überzeugt, und selbst in der besten Rechnung, selbst wenn man glaubt, alles wird weitergegeben, würde ein durchschnittlicher Haushalt in Deutschland 30 Euro im Monat sparen. Aber wenn nicht einmal die Menschen, die davon profitieren, Vertrauen fassen, dass sich die Wirkung wirklich entfaltet, dass diese Mehrwertsteuersenkung ankommt, dann ist sie vor allem eines: ein falsches Instrument zur Belebung der Konjunktur in Deutschland, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({5}) Es wäre besser, jetzt das zu tun, was sogar die Wirtschaftspolitiker der CDU/CSU fordern und vom Konjunkturpaket erwartet haben. Es wäre jetzt richtig, die kleinen und mittleren Einkommen in Deutschland zu entlasten, zum Beispiel über den Abbau des Mittelstandsbauches. Es wäre jetzt richtig, so wie es die Union selbst gefordert hat, den Solidaritätszuschlag rückwirkend zum 1. Januar 2020 vollständig abzuschaffen; denn auch kleine und mittlere Einkommen zahlen ihn in diesem Jahr. Das wäre der Konjunkturimpuls gewesen, den unser Land jetzt braucht, meine Damen und Herren. ({6}) Zum Kinderbonus ein Wort. Herr Jung, Sie sind nicht ehrlich, wenn Sie sagen, dass alle Kinder, alle Familien in Deutschland davon profitieren. Die Wahrheit ist: Er wird voll steuerlich angerechnet. Anders als bei üblichen Kindergelderhöhungen wird er voll steuerlich angerechnet. Viele Familien werden mit der Steuererklärung 2020 ein böses Erwachen erleben. Sie werden feststellen, dass es einen Profiteur dieses Kinderbonus gibt – er sitzt dort –, das ist der Bundesfinanzminister, weil er die Steuern zurückerhält. Auch das ist kein konjunktureller Impuls. ({7}) Wenn dieses Konjunkturpaket nicht funktioniert, dann werden wir in Deutschland doppelt verlieren – Sie haben gerade auf die neuen Schulden hingewiesen –, dann werden wir mehr Schulden und mehr Arbeitslose haben. Genau das darf nicht passieren, Herr Jung, und ich will Ihnen eines sagen: Auch wir sind bereit – nicht nur beim ersten Paket des Nachtragshaushalts, sondern auch jetzt –, die Konjunktur anzukurbeln und dafür Kredite aufzunehmen. ({8}) Aber es ist dann auch richtig, alles zu aktivieren, was vorhanden ist. Es ist dann auch richtig, sich auf die wichtigen Dinge zu konzentrieren, und nicht nur 57 Milliarden Euro Mehrausgaben zu veranschlagen, sondern auch deutlich zu machen, wo Einsparungen möglich sind. (Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Haben Sie etwas anderes als Worthülsen? Vor allem ist eines wichtig: dass jetzt mit diesem Nachtragshaushalt alle Rücklagen des Bundesfinanzministers aufgelöst werden. ({9}) Sie machen das exakte Gegenteil. Sie erhöhen die Rücklage des Bundesfinanzministers von knapp 40 Milliarden Euro auf 50 Milliarden Euro. Das sind die Steuern der Menschen in Deutschland; Sie enthalten ihnen diese Steuern vor. Es wäre jetzt richtig gewesen, das Geld den Menschen zu geben, damit die Konjunktur in Deutschland wieder in Schwung kommt. Insbesondere die Union bleibt schuldig, dieses Versprechen einzulösen. Ich danke Ihnen. ({10})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Fabio De Masi, Die Linke. ({0})

Fabio De Masi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004817, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Deutschland braucht ein Konjunkturpaket. Nur wenn der Staat jetzt Geld in die Wirtschaft pumpt, wird auch wieder Geld im Land verdient. Deutschland braucht aber auch ein Paket der Hoffnung, keine Wunderkerze, die schnell abfackelt, und dann steht man an Silvester mit der Wunderkerze da, sie ist abgebrannt, und die großen Jungs haben die Silvesterkracher. Wir brauchen Investitionen in die Zukunft und sozialen Zusammenhalt, um die Depression und die Verzweiflung in diesem Land zu überwinden, und diesem Anspruch wird das Konjunkturpaket nicht gerecht. ({0}) Es ist richtig, dass der Kinderbonus jetzt bei den ärmsten Familien in diesem Land ankommt und bei den reichsten Familien wegbesteuert wird. Mein Kind, das Kind eines Bundestagsabgeordneten, braucht keinen Kinderbonus. Es ist gut, dass Sie auf die Kaufprämie für Verbrenner verzichten und in die Ladeinfrastruktur investieren. Und es ist gut, dass Sie Kommunen bei den Kosten der Unterkunft und bei den wegbrechenden Gewerbesteuereinnahmen helfen. Aber viele Kommunen waren doch schon vor der Conorakrise am Limit, weil alte Industrien wegbrechen und weil der Bund soziale Leistungen bestellt, aber nicht bezahlt hat. Deswegen brauchen wir weiterhin einen Altschuldenfonds in Deutschland. ({1}) Und wissen Sie noch, wie Sie mit feuchten Augen für die Pflegekräfte Beifall klatschten? – Wo bleibt jetzt der Dank? Wo bleiben anständige Löhne in der Pflege, meine Damen und Herren? ({2}) Die CDU hat ein Flugblatt zum Konjunkturpaket gedruckt. Da standen 100 Euro einmalig für Hartz-IV-Empfänger drin. Sie haben das heimlich wieder rausgestrichen. Es gibt Milliarden für Konzerne, die vorher fette Dividenden an Aktionäre verteilen und Gewinne in Steueroasen parken. Privatjet und Champagner in Sankt Moritz für Philipp Amthor aus Torgelow, das geht immer. Aber eine helfende Hand für die Schwächsten in diesem Land soll nicht drin sein. Das ist nicht christlich; das ist unanständig, meine Damen und Herren. ({3}) Die öffentlichen Investitionen in den Umbau der Wirtschaft sind unzureichend. Die fetten Jahre im Export sind mit Donald Trump und Corona vorbei. Wir müssen die Binnenwirtschaft stärken. Auch mit dem Konjunkturpaket sind wir als viertgrößte Volkswirtschaft immer noch international Mittelmaß bei den Investitionen. Europäische Ökonomen fordern Schnellzüge wie in China, von Helsinki über Berlin nach Lissabon. Aber gerade einmal die Hälfte der Conoraverluste der Bahn gleichen Sie aus. Für den Nahverkehr 2,5 Milliarden Euro – so kann die Verkehrswende nicht gelingen. ({4}) Sie wollen die Mehrwertsteuer befristet senken. Die Linke hat vor vielen Jahren gegen den Mehrwertsteuerhammer gekämpft. Die SPD versprach damals 0 Prozent Erhöhung, die Union 2; heraus kamen 3 Prozent. Aber wahr ist leider auch: Die Senkung der Mehrwertsteuer sacken Konzerne wie Amazon, die enorme Marktmacht haben, womöglich ein. Aber Erhöhungen schlagen die Unternehmen immer auf die Preise drauf. Wenn man die Mehrwertsteuer nach einem halben Jahr wieder erhöht, wird das eine dicke Bremsspur mitten in der Coronakrise geben. ({5}) Wenn man die Mehrwertsteuer senkt, dann muss man es dauerhaft machen. ({6}) Es ist eine ganz unsichere Wette, ob sich Leute, die um ihren Job bangen, noch schnell einen Kühlschrank kaufen. Für die 20 Milliarden Euro hätte man die Nachfrage auch gezielter stützen können, etwa den Kinderbonus fünf Monate ausbezahlen oder bessere Hilfen für Selbstständige. ({7}) Wir begrüßen, Herr Scholz, dass Sie die Verjährungsfrist bei schweren Steuerstraftaten wie kriminellen Cum/Ex-Deals auf 25 Jahre verlängern. Aber wo Personal fehlt und erst gar keine Ermittlungen aufgenommen werden, verjähren diese Fälle trotzdem. ({8}) Wir brauchen daher ein Steuer-FBI und mehr Ermittler auch in den Ländern. Meine Fraktion meint: Cum/Ex-Gangster gehören in den Knast. ({9}) Und zum Schluss: Deutschland nimmt wegen der Coronakrise über 218 Milliarden Euro auf. An der Schuldenbremse halten Sie aber fest. Sie ist ja nicht weg, sondern nur ausgesetzt. Daher droht nach der Wahl ein Kürzungshammer. Sie müssen daher beantworten, wer nach der Wahl den Abwasch macht. Sind es wieder die Leute, die jetzt den Laden am Laufen halten? Meine Fraktion meint: Nach der Pandemie muss es eine Vermögensabgabe für Milliardäre wie die Quandts und Klattens geben, die 700 Millionen Euro Dividenden aus BMW-Aktien kassiert haben. Es ist Zeit, dass sich die Quandts und Klattens nicht mehr fragen, was dieses Land für sie tun kann, sondern, was sie für dieses Land tun können. Vielen Dank. ({10})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Fraktionsvorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen, Dr. Anton Hofreiter. ({0})

Dr. Anton Hofreiter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003772, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Coronakrise hat massive gesundheitliche, wirtschaftliche und soziale Folgen. Unternehmen sind bedroht, Arbeitsplätze drohen verloren zu gehen, und bestehende Ungerechtigkeiten drohen sich zu vertiefen. Und deshalb halten wir es für richtig, deshalb unterstützen wir Sie auch dabei, dass wir gemeinsam versuchen, in Dimensionen, die es davor noch nie gab, unsere Wirtschaft, unsere Gesellschaft in dieser Krise zu unterstützen. ({0}) Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, als ich zuerst Ihr Konjunkturpaket gesehen habe, war mein erster Gedanke: Besser, als ich befürchtet habe! ({1}) Denn es ist Geld drin für die Kommunen, Kosten der Unterkunft – längst überfällig –, ({2}) Ausfälle der Gewerbesteuereinnahmen – richtige Maßnahme –, Gelder für Ganztagsbetreuung, Gelder für Forschung. Und ich bin, ehrlich gesagt, auch froh, dass keine pauschalen Unternehmensteuersenkungen oder pauschale dauerhafte Abschaffung des Rest-Solis drin sind. Was mittlere Einkommen in der Wahrnehmung der FDP sind, haben wir auch erfahren, nämlich wenn Menschen über 100 000 Euro im Jahr verdienen. Also, für mich ist das kein mittleres Einkommen. ({3}) – Na Sie. ({4}) Und ich sehe es auch als einen großen Erfolg der Klimabewegung an, dass es keine Prämie für fossile Verbrenner gab. ({5}) Da kann man insbesondere sagen: „Druck bewirkt etwas“, und ich kann nur hoffen, dass dieser Lernfortschritt ein dauerhafter Lernfortschritt ist. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei 130 Milliarden wird allerdings umso drastischer sichtbar, was fehlt. Wir geben Milliarden für die Rettung der Lufthansa aus, auch Milliarden für die Rettung der Autoindustrie, und es ist auch richtig, dass wir sie retten; ({7}) aber für die Ärmsten gibt es in dieser Krise noch nicht einmal einen temporären Aufschlag auf Hartz IV. Für die Familien gibt es einen einmaligen Bonus, ({8}) aber kein dauerhaftes Coronaelterngeld, und die Soloselbstständigen – damit die Künstlerinnen und Künstler, Musiklehrerinnen und Musiklehrer, Therapeutinnen – haben Sie wieder vergessen; sie bekommen keinen Zuschuss zu ihrem Lebensunterhalt. ({9}) Und, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir doch Milliarden für Konzerne haben – und das auch in Teilen richtig ist –, dann sollten wir auch Milliarden für die Ärmsten haben. Denn sonst führt das zu einer sozialen Schieflage, und damit gefährden Sie den Zusammenhalt unserer Gesellschaft, und das ist falsch in dieser Krise. ({10}) Wenn ich mir in dem Paket Ihre Maßnahmen zum Klimaschutz und zur Gestaltung der Zukunft anschaue, dann fehlt es halt da wieder mal an Entschlossenheit. Man kann überhaupt sagen: Wenn es bei der Zukunftsgestaltung bei dieser Großen Koalition einen roten Faden gibt, dann ist es dieser: ({11}) dass Sie bei allen Maßnahmen nicht ausreichend entschlossen in die Zukunft investieren. ({12}) Bei 130 Milliarden wäre es ja auch ein Wunder, wenn nicht die eine oder andere Summe für richtige Maßnahmen dabei wäre. Aber sobald es beim Klimaschutz ernst wird, ist es halt zu wenig, zu spät und zu zögerlich. Nehmen wir zum Beispiel die Kfz-Steuer. Die Kfz-Steuerreform schützt nicht das Klima, sondern diese Steuerreform schützt de facto den Weiterverkauf von SUVs, die in unseren Städten ein Problem sind und die für unser Klima ein Problem sind. Bei den Milliarden für die Lufthansa haben Sie nicht gut genug verhandelt. Da ist weder etwas vernünftiges Soziales drin, noch ist wirklich eine Reformagenda für Klimaschutz bei der Lufthansa mit drin. ({13}) Man ist inzwischen froh, wenn Sie im Zusammenhang mit der Energiewende keinen größeren Schaden anrichten. ({14}) Notwendig wäre eine massive Ausbauoffensive; denn wir brauchen kostengünstigen sauberen Strom für die Stahlherstellung, für die Chemieindustrie, für unsere Grundstoffindustrie und de facto für den Erhalt unserer Industrialisierung. Ihre Wasserstoffstrategie wird scheitern, wenn Sie nicht ausreichend kostengünstigen Strom haben. ({15}) Was vielleicht am Schlimmsten ist: Sie haben keine langfristige Investitionsstrategie. Deshalb: Wir wollen in den nächsten zehn Jahren 500 Milliarden Euro langfristig in die Zukunft investieren. Deshalb: Reformieren Sie die Schuldenbremse, investieren Sie! Wir freuen uns, wenn Sie da bei uns abschreiben. Ja, ich bitte Sie sogar darum, bei uns abzuschreiben. ({16}) Dann hat unser Land nämlich eine gute Zukunft, und darauf kommt es an. Investieren Sie, und schaffen Sie endlich eine Zukunftsoffensive für unser Land! Vielen Dank. ({17})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Lothar Binding, SPD. ({0})

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Es gibt Leute, die sehen die Probleme nicht, und dann gibt es Leute, die leugnen die Probleme. Und dann gibt es Leute, ({0}) die sehen Probleme, die es gar nicht gibt; das sind dann die Verschwörungstheoretiker. Heute haben wir Probleme gesehen und identifiziert, und wir schaffen Lösungen. Dafür will ich der Regierung mal danken. Sie sitzt ja ziemlich vollzählig hier. ({1}) Die Regierung kann wiederum dem Parlament danken, weil das Zusammenspiel super funktioniert hat. Vor einigen Wochen oder Monaten hätte keiner gedacht, dass wir in der Lage sind, in dieser Dimension Verantwortung für die Zukunft zu übernehmen. Schönen Dank dafür! ({2}) Speziell danke ich Olaf Scholz, weil auch von dir hätte es keiner erwartet. Mehr muss ich gar nicht sagen. ({3}) – Ja, weil er standhaft war und nicht das gemacht hat, was andere gefordert haben. Christian Dürr hat ja gesagt, man hätte vielleicht die Unternehmensteuer senken können, was schon immer gefordert wurde. Dann hätten wir jetzt übrigens nicht so helfen können, wie wir es tun. Dann wäre das Geld, mit dem wir jetzt helfen, schon lange weg gewesen. Klug, dass die schwarze Null eine Weile hochgehalten wurde! ({4}) Denn die schwarze Null von damals – spare in der Zeit, dann hast du in der Not – hilft uns heute! ({5}) Wir sorgen für einen Impuls. Wenn ein Wagen stehen geblieben ist, dann gebe ich ihm einen Schubs, einen Impuls – Masse mal Geschwindigkeit –, und dann rollt der Wagen nach dem Impulserhaltungssatz. Da das so ist, muss ich den Impuls nicht immer wieder neu geben. ({6}) Nein, der Wagen rollt durch den Impuls, und dann gilt es nur noch, die Bremser auszubremsen, damit der Wagen durch unnötige Steuersenkungen, durch Steuergeldgeschenke – Stichwort: Soli – nicht wieder gebremst wird. ({7}) Der Abbau des Soli hilft den Reichen, die Mehrwertsteuersenkung hilft den Armen, und das weiß die FDP. ({8}) Deshalb ist es so ärgerlich, dass das hier anders vorgetragen wird. ({9}) Wir haben heute in einem Beitrag gehört, dass die Nachfrageseite gestärkt, den Unternehmen aber nicht geholfen wird. Nein, wir stärken die Nachfrage- und die Angebotsseite. Den Familien wird geholfen genauso wie den Unternehmen durch Verlustverrechnung, durch spezielle Abschreibungsmöglichkeiten. Wir haben eine riesige Hilfe für die Unternehmen vereinbart, und das ist klug, weil wir jetzt einen Stillstand haben. Also brauchen wir den Unternehmensimpuls und den Nachfrageimpuls. Olaf Scholz hat auch erklärt, die Mehrwertsteuersenkung helfe allen. Es stimmt: Sie hilft auch ein paar Leuten, denen wir gar nicht helfen wollen. Das ist aber der Charakter der Mehrwertsteuer. Wir haben aber den Anspruch, dass sich die, die gut aus der Krise kommen, nach der Krise wieder an der Finanzierung der Gemeinschaft beteiligen. Falls es denen später nämlich wieder schlecht geht, brauchen wir die Einnahmen aus den guten Zeiten. Wer in guten Zeiten die Steuern von den Unternehmen nicht haben will, der kann ihnen in schlechten Zeiten auch nicht helfen. So einfach ist die Logik. ({10}) Deshalb ist das ein sehr gutes Programm. Es hilft den Familien ({11}) und den Unternehmen, und die Investitionstätigkeit wird gestärkt – speziell durch die Hilfe für die Kommunen, durch die Übernahme der Ausfälle bei den Gewerbesteuereinahmen durch den Bund. 60 Prozent aller Investitionen erfolgen durch die Kommunen. Deshalb ist dieses Programm mit dem Dreiklang „Familie, Unternehmen, Investitionen über Kommunen“ ideal. Wir hoffen, dass dieses Programm trägt, und mit dieser Hoffnung wünsche ich allen einen schönen Tag. ({12})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Ich erteile der Kollegin Dr. Birgit Malsack-Winkemann, AfD, das Wort. ({0})

Dr. Birgit Malsack-Winkemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004813, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kollegen! Bereits in der zweiten Märzhälfte ergaben die Statistiken des RKI, dass der Höhepunkt der Coronakrise schon überschritten und der Reproduktionswert unter 1 gefallen war. Wohlgemerkt: in der zweiten Märzhälfte, noch vor dem Lockdown! Und ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt verhängte die Regierung in einer Nacht-und-Nebel-Aktion einen beispiellosen Lockdown über Deutschland. Völlig grotesk! ({0}) Logischerweise steckt die deutsche Wirtschaft heute in der schwersten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit. Zwar ist die Coronapandemie weltweit auf dem Rückzug – ja, sie ist praktisch fast nicht mehr vorhanden –, ({1}) aber anstatt den Lockdown für alle Wirtschaftsbranchen – wie Holland und Österreich es tun – sofort und mit aller Konsequenz aufzuheben, erklärt die Regierung nun, dass die Pandemie erst beendet sei, wenn ein Impfstoff für die Bevölkerung verfügbar ist. Was für ein abstruses Schauspiel! Und damit nicht genug: Zur gleichen Zeit beteiligt sich diese Regierung mit 300 Millionen Euro an dem Impfstoffentwickler CureVac von Dietmar Hopp. Dazu kommt ein weiterer Ankauf nebst Bezahlung von bis zu 400 Millionen Impfdosen von Astra-Zeneca, also eines Impfstoffs, dessen Entwicklung und Testung derzeit noch nicht abgeschlossen, also noch nicht einmal sicher ist, ob dieser überhaupt ohne Nebenwirkungen einsetzbar oder ob dieser aufgrund einer Mutation des Virus gar nicht wirksam ist. Und als wenn das nicht ausreichen würde, eine weitere Zahlung von 525 Millionen Euro an die Impfstoffallianz GAVI! Will diese Regierung etwa in bester sozialistischer Manier alle Impfstoffentwickler dieser Welt mit deutschen Steuergeldern unterstützen, die dann ihre Gewinne selbstverständlich privat einstreichen? Im Übrigen werden wir in einer Woche die Folgen der sogenannten Antirassismusdemonstrationen von vor knapp zwei Wochen sehen, an denen Tausende ohne Abstand und ohne Masken teilgenommen haben. Insbesondere werden wir sehen, ob eine Krankheitswelle bei ebendiesen Personen folgt. Sollte das aber spurlos vorüberziehen, wird wohl jedem klar, dass der deutsche Steuerzahler wieder einmal mit Unsummen für etwas gemolken wird, was keiner braucht. ({2}) Hingegen dort, wo staatliche Hilfen Sinn machen, wie bei berufstätigen Familien, die in den letzten Monaten durch Beruf und Kinderausbildung doppelt belastet wurden, verpufft der ach so vielgepriesene Kinderbonus von 300 Euro, weil er mit dem Kinderfreibetrag verrechnet wird – und das, obgleich deutsche erwerbstätige Familien die höchste Steuer- und Abgabenlast der Welt tragen. Wirtschaftsminister Altmaier behauptet, es gehe darum, das „Licht am Ende des Tunnels" zu erreichen. Nein, Herr Altmaier und Dr. Merkel, das ist nur eine weitere Variante des DDR-Sozialismus. ({3}) Die AfD fordert daher wie bisher: nachhaltig und deutlich Steuern senken, Bürokratie abbauen, sozialistischen Umverteilungswahn einstellen und mit der ganzen unerträglichen Coronabevormundung aufhören, bevor der Geduldsfaden der Bürger reißt. Danke schön. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Eckhardt Rehberg, CDU/CSU. ({0})

Eckhardt Rehberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003826, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Dürr, wir haben fünf Herzstücke in diesem Paket und nicht nur eines. Das erste Herzstück ist: Wir stärken die Kaufkraft, und zwar durch die befristete Absenkung der Mehrwertsteuer, den Kinderbonus und die Senkung der EEG-Umlage. Das macht 35 Milliarden Euro aus. ({0}) In diesem Zusammenhang müssen Sie auch noch eines sehen: Es ist beschlossen worden, dass zum 1. Januar 2021 der Soli für über 90 Prozent der Bevölkerung wegfällt und das Kindergeld erhöht wird. Durch die kalte Progression ist das noch einmal eine Entlastung, und zwar um 16 Milliarden Euro. Das heißt, in den nächsten 18 Monaten ({1}) entlasten wir die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland um rund 50 Milliarden Euro. Das ist unsere Politik für die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland. ({2}) Das zweite Herzstück – das richtet sich an die, die hier von Arm und Reich reden –: Wir stabilisieren die Sozialbeiträge bei unter 40 Prozent. Das ist ganz entscheidend, gerade für Menschen mit niedrigen und mittleren Einkommen. Das wird in diesem Jahr und in den nächsten Jahren ein Kraftakt sein. Mit dem ersten Euro brutto zahlt jeder Sozialbeiträge. Wenn wir mit Steuereinnahmen aus dem Bundeshaushalt diese Beiträge stabil halten, ist das die beste Politik für Familien und für Menschen mit niedrigen und mittleren Einkommen. ({3}) Wir stabilisieren die Unternehmen noch einmal mit 56 Milliarden Euro, 25 Milliarden Euro für die Überbrückung. Darunter sind auch gemeinnützige Organisationen wie Jugendherbergen und Schullandheime; ich glaube, da gab es einen Nachholbedarf. Das setzen wir um. Es gibt steuerliche Entlastungen in der Größenordnung von 25 Milliarden Euro. Wir stabilisieren mit 5 Milliarden Euro Eigenkapital die Deutsche Bahn. Liebe Kollegen und Kolleginnen, und wir entlasten Länder und Kommunen um 15 Milliarden Euro. Mit einem Wort – wenn Sie sich das Paket angucken –: Ich hoffe, dass die Länder zu ihrer Zusage stehen – das kommt erst später –, die hälftige Übernahme der Gewerbesteuerausfälle wirklich selber zu realisieren und das Geld an die Kommunen weiterzugeben. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben jetzt eine Kreditfinanzierungsquote von fast 43 Prozent. ({5}) Manche Länder sind noch im einstelligen Bereich. ({6}) Nur ein Hinweis an die Bundesregierung. Wenn ich mir die Steuerschätzung ganz genau angucke, sehe ich: Länder und Kommunen sind im Jahr 2021 wieder auf dem Niveau bei den Steuereinnahmen des Jahres 2019, wir als Bund erst im Jahr 2023. Lieber Herr Minister Scholz, ich teile Ihre Sorge, die Sie zum Schluss Ihrer Rede geäußert haben. Deutschland ist der Stabilitätsanker in Europa. Deutschland wird bei allen europäischen Programmen dafür sorgen, dass sie mit niedrigen Zinsen umgesetzt werden können. Aber wir müssen auch Maß und Mitte halten ab dem Jahr 2021. So wie in diesem Krisenjahr kann es nicht weitergehen. Deswegen glaube ich ganz einfach, auch die Bundesländer müssen ihre Verantwortung übernehmen. Nach Artikel 28 Grundgesetz haben die Länder die Finanzverantwortung für die Kommunen. Die Steuermindereinnahmen schlagen auf die Länder durch. Es gibt bei jedem FAG eine kommunale Verbundquote, einen Gleichmäßigkeitsgrundsatz. Ich möchte bitte keine Debatte darüber haben, dass der Bund auch noch die Steuerausfälle, die die Kommunen haben, übernehmen soll. Wenn man genauer hinschaut: Zum Beispiel bekommen die neuen Länder 350 Millionen Euro mehr im Rahmen des Rentenüberleitungsgesetzes. Diese Gelder sind bitte dafür einzusetzen, dass die finanziellen Ausfälle der Kommunen nicht überdimensioniert werden. Dafür sind die Länder verantwortlich, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({7}) Wir investieren in die Zukunft: 50 Milliarden Euro als Soforthilfen. Elektromobilität 6 Milliarden Euro, Ausbau des Mobilfunks 5 Milliarden Euro, Wasserstoffstrategie 9 Milliarden Euro, energetische Gebäudesanierung 2 Milliarden Euro usw. usf. Dazu muss ich noch die Mittel rechnen – zumeist Zuführungen zum Energie- und Klimafonds –, die wir im letzten Jahr in das Klimapaket gepackt haben. Wenn ich diese Summen der nächsten Jahre zusammenzähle, dann komme ich auf einen dreistelligen Milliardenbetrag, der in den Bereichen Klimaschutz, Mobilitätswende, Elektromobilität und Gebäudesanierung zur Verfügung steht. Kollege Hofreiter, das ist ein Akzent, den die Union gesetzt hat. Das sind Investitionen in die Zukunft, um aus der Krise herauszukommen und um Deutschland zukunftsfähig zu gestalten. ({8}) Herr Kollege Dürr, wenn Sie schon das „Politbarometer“ bemühen, dann rate ich Ihnen mal zu, auch die Umfragewerte der FDP zu sehen. ({9}) Entschuldigung, aber gerade heute liegen sie bei Allensbach bei 4,5 Prozent, bei der Forschungsgruppe Wahlen bei 4 Prozent. Man sollte Umfragen nicht selektiv wahrnehmen, sondern sie insgesamt sehen. ({10}) Das wäre mein Vorschlag an Sie. Diese Rosinenpickerei! Nein, Sie müssen sich doch mal fragen: Wie wirkt die Rede, die Sie hier gehalten haben, auf die Bürgerinnen und Bürger? ({11}) Wenn man in der Gefahr ist, im nächsten Deutschen Bundestag nicht mehr vertreten zu sein, sollte man sich zuerst den erwähnten Umfragewerten zuwenden und nicht den anderen. ({12}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine letzte Bemerkung. Jetzt war lange Zeit die Exekutive am Zuge. Wir werden am Montag, 29. Juni, eine Anhörung zum zweiten Nachtragshaushalt machen. Ich kündige heute schon an: Am 1. Juli werden – ähnlich wie in der Bereinigungssitzung – die Ministerinnen und Minister, die die größten Posten aus dem Nachtragshaushalt haben, im Haushaltsausschuss auflaufen und erklären müssen, was sie mit dem Geld, das wir ihnen zur Verfügung stellen sollen, in den nächsten sechs Monaten des Haushaltsjahres 2020 veranstalten. Denn wir legen als Haushälter sehr viel Wert darauf, dass nicht nur Geld ins Schaufenster gestellt wird, sondern dass es auf die Straße kommt. Herzlichen Dank. ({13})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Otto Fricke, FDP. ({0})

Otto Fricke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003530, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Geschätzter Herr Präsident! Es ist immer schön, nach dem möglichen neuen CDU-Vorsitzenden von Mecklenburg-Vorpommern zu reden. Meine Damen und Herren, es ist schon interessant, zu sehen, wie diese Debatte verläuft, und auch mitzubekommen, wie die CDU/CSU hier gerade versucht, noch zu sagen, dass das alles ganz toll sei und wie viel man da ausgeben werde, um dann am Ende – Kollege Rehberg hat das auch wieder getan – zu sagen: Na ja, eigentlich geben wir das alles ja gar nicht aus; die ganzen Projekte – Energie- und Klimafonds, 5G, Wasserstoff – sind alle nicht Hilfe für sofort; das ist alles nicht Hilfe für die Krise. – Das ist alles große Show, großer Wumms, aber es hat null Wirkung in diesem Jahr, was Sie da gerade alles beredet haben. ({0}) Das muss man den Menschen draußen eben dann auch sagen. Das Problem ist: Bei einer Bazooka – da haben wir beim ersten Teil auch noch mitgemacht – sehe ich das Ziel. Aber was Sie machen, ist: Sie nehmen eine große Schrotflinte, es knallt ganz laut; aber da, wo sie treffen soll, kommt wenig bis gar nichts an. Kollege Rehberg, zu der Frage von Umfragen und Ergebnissen: Wir rechnen mal alle schön ab am Ende des Wahlkampfes 2017, und dann sehen wir, was rauskommt. ({1}) Sie verweisen auf den Wert von 4,5 Prozent aus einer Umfrage von heute. Das stimmt, aber das trifft mich gar nicht. Ich habe vieles erlebt. Entscheidend ist der Schluss. – Ihr von der SPD solltet mal ganz vorsichtig sein, ob ihr, wenn ihr sagt, Umfragen seien wichtig, bei eurer Kleckersache noch von euch als Volkspartei redet. Das Entscheidende ist, was am Ende wirklich passiert und ob wirklich das ankommt, was hier großmundig angekündigt wird. Das wirkt aber überhaupt nicht, meine Damen und Herren. ({2}) Da viele sagen: Ja, das ist jetzt so, wir sind in einer Notsituation: Was würden denn die Bürger, was würde Otto Normalverbraucher in einer Notsituation tun? Der würde nicht nur fragen: Wo kriege ich einen neuen Kredit her? – Der würde auch mal sagen: Auf welche Sache kann ich verzichten? Kann ich irgendwas entbehren, was ich nicht mehr brauche? – Ist im zweiten Nachtragshaushalt dieses Finanzministers eine Subvention enthalten, die zurückgeführt wird? Nein! Sind da Ausgaben, die gekürzt werden? Nein! Wird gekürzt? Ja! Wo kürzt diese Regierung? Für die kleinen und mittleren Unternehmen waren ursprünglich im ersten Nachtragshaushalt 50 Milliarden Euro vorgesehen. ({3}) Der Minister sagt jetzt: Davon brauchen wir nur 18 Milliarden Euro; aber ich kümmere mich ja drum, und deswegen gibt es zukünftig 25 Milliarden Euro für kleinere und mittlere Unternehmen. – Kommen wir damit hin; 25 Milliarden plus 18 Milliarden? Ich erinnere: Eigentlich waren ja 50 Milliarden Euro vorgesehen. ({4}) Da kann ich nur sagen: Herr Scholz, wo sind denn die 7 Milliarden Euro für die kleinen und die mittelständischen Unternehmen? Sie sind weg, weil die Sie nicht wirklich interessieren. Im Gegenteil, man hört nur Rufe: Für die haben wir ja dann Hartz IV. – Man stelle sich das mal als Aussage vor: Du hast ein Problem? Du kannst Hartz IV bekommen. Wir gehen ja auch nur an deine Altersvorsorge ran, wenn sie bei über 60 000 Euro liegt. – Nehmen Sie einen Mitte-50-jährigen Selbstständigen als Beispiel. Ja, natürlich hat er eine Altersvorsorge, die bei über 60 000 Euro liegt. Das ist Ihre Vorstellung eines Nachtragshaushaltes für kleinere und mittlere Unternehmen! ({5}) Zum Schluss – das ärgert mich am meisten –: Nehmen Sie die gesamten Rücklagen, die dieser Kanzlerkandidat im Haushalt gebildet hat, in Nebenhaushalten noch und nöcher, im Energie- und Klimafonds, in der ursprünglichen Asylrücklage. Wie heißt die jetzt, Herr Minister? Kanzlerkandidaturrücklage oder Investitionsrücklage? – Da ist all das Geld drin, ({6}) mit dem Sie ohne zusätzliche Neuverschuldung ausgekommen wären, als Sie das Geld ausgegeben haben. Sie tun es aber nicht, weil Sie im nächsten Jahr sagen wollen: Ich, der Kanzlerkandidat, zeige: Ich kriege wieder Haushalte hin, die einigermaßen in Ordnung sind. Da seht ihr mal, wie toll wir sind. – Auf Kosten der heutigen Zeit! ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch, Die Linke. ({0})

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zu Anfang der Krise wurde gerne gesagt: Vor dem Virus sind wir alle gleich. – Dieser Satz war von Anfang an falsch; denn die Krise hat die sozialen Unterschiede nicht nur deutlicher gemacht, sondern sie auch vertieft, und das nehmen wir als Linke nicht hin, meine Damen und Herren. ({0}) Es sind ja eine Reihe von Regeln aufgestellt worden, zum Beispiel 1,50 Meter Abstand zu halten. Aber dazu sagen wir Ihnen: Diesen Abstand muss man sich erst einmal leisten können. Die Arbeiter in der Fleischindustrie, die so fürchterlich ausgebeutet werden, die Saisonarbeiter, die Geflüchteten in den Sammelunterkünften, die können sich diesen Abstand nicht leisten. Sie brauchen unsere Unterstützung. Davon finde ich nichts in diesem Paket, und das muss sich ändern, meine Damen und Herren. ({1}) Unser Anspruch als Linke an das Konjunkturpaket ist ganz deutlich: Wir wollen die Menschen unterstützen, die unter der Pandemie am meisten zu leiden haben, und die, die am meisten geleistet haben. Das Konjunkturprogramm erfüllt diesen Anspruch noch nicht. Wir werden auf jeden Fall im Ausschuss kräftig nachbessern müssen, und dazu rufe ich Sie alle auf, meine Damen und Herren. ({2}) Wir fordern mehr Geld für Menschen, die in systemrelevanten Berufen arbeiten. Wir wollen einen dauerhaften Risikozuschlag für das Pflegepersonal. Klatschen allein hilft nicht, meine Damen und Herren vom marktradikalen Flügel. ({3}) Wir wollen, wie die Sozialverbände es auch fordern, einen Pandemiezuschlag von 100 Euro für Menschen, die von Grundsicherung leben müssen, und zwar für alle. Wir sehen es doch alle: Die Tafeln sind geschlossen. Arme Rentner haben keine Möglichkeit mehr, dorthin zu gehen, und sie sind von den steigenden Lebensmittelpreisen überfordert. Sie brauchen dringend unsere Hilfe. – Auch hier müssen wir in den Ausschussberatungen nachbessern. ({4}) Meine Damen und Herren, jetzt ist auch endlich Zeit, die Grundrente zu beschließen. Die Union, also CDU und CSU, sagt ja, das hätte nichts mit Corona zu tun. Aber da frage ich Sie: Was hat denn der Bau von Mehrzweckkampfschiffen für die Bundeswehr mit der Bekämpfung von Corona zu tun? Gar nichts! ({5}) In der vergangenen Sitzung des Haushaltsausschusses wurden gegen unsere Stimmen fast 9 Milliarden Euro für Kriegsmaterial beschlossen. Doch Kriegsschiffe und andere Waffen werden Corona nicht besiegen. Das darf nicht sein. Kein Konjunkturprogramm für die Rüstungsindustrie, meine Damen und Herren! ({6}) Und wir können auch nicht im Windschatten der Pandemie Wünsche von Präsident Trump erfüllen. Das darf nicht sein. ({7}) Nun ist ja hier mehrfach von der schwarzen Null gesprochen worden. Kollege Jung hat davon gesprochen, andere auch. Ich will hier mal mit einer Legende aufräumen: Die CDU behauptet, dass wir uns Kredite jetzt leisten könnten, weil wir vorher kräftig gespart hätten. Das ist natürlich völliger Unsinn. Die schwarze Null ist eine sehr deutsche Erfindung. Zum Beispiel Japan und die Vereinigten Staaten von Amerika haben diese unsinnige Politik nie verfolgt und haben jetzt trotzdem vergleichbare Konjunkturprogramme gestartet. Sie wollen jetzt das Konjunkturprogramm als Zukunftspaket verkaufen. Ich sage: Das ist nichts anderes als ein Reparaturpaket. Sie versuchen, das wiederaufzubauen, was Sie mit Ihrer schwarzen Null eingerissen haben, und dafür reicht kein Nachtragshaushalt. ({8}) An dieser falschen Politik der schwarzen Null, an Ihrer Kürzungspolitik werden noch mehrere Generationen zu leiden haben. Zum Abschluss, meine Damen und Herren, will ich ganz deutlich sagen: Es droht Wahlbetrug. Die Regierungsparteien tun jetzt so, als könnten sie Geschenke verteilen. Aber sie sagen nicht, wer nach der Wahl die Rechnung bezahlen soll, und diese Rechnung wird präsentiert werden. Wir sagen, was wir wollen: Wir wollen eine einmalige Vermögensabgabe auf die größten Vermögen für die 1 Prozent Reichsten in unserem Land. Es kann nicht sein, dass der Milliardär und Lufthansa-Großaktionär Thiele mit staatlicher Hilfe noch reicher wird. Diese Krisengewinnler müssen wir besteuern. Wir haben viel zu tun im Ausschuss. Wir sind bereit und vorbereitet. Der Nachtragshaushalt muss für soziale Gerechtigkeit sorgen. Vielen Dank. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Anja Hajduk, Bündnis 90/Die Grünen, ist die nächste Rednerin. ({0})

Anja Hajduk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003547, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Minister Scholz! Ja, uns fällt kein Zacken aus der Krone, wie mein Fraktionsvorsitzender gesagt hat, zuzugeben: Dieses Paket ist besser als erwartet oder befürchtet. – Wir als Grüne sind davon überzeugt, dass es jetzt eine aktive Rolle des Staates braucht. Aber dieses Paket hat gravierende Schwächen, und das ist bei der Summe von 130 Milliarden Euro sehr bedauerlich. ({0}) Sie haben selber die befristete Mehrwertsteuersenkung als Herzstück bezeichnet. Und in der Tat: Das ist eine 20 Milliarden Euro teure Wette. Das Problem ist: Sie ist nicht wirklich zielgerichtet; dafür ist die Summe von 20 Milliarden sehr, sehr hoch. ({1}) Es ist auch nicht klar, was von diesem Betrag wirklich bei den Menschen ankommt, und es droht dann beim Übergang von 2020 auf 2021, in einer sehr sensiblen Phase, ein Zickzackkurs. Das überzeugt mich und uns nicht. ({2}) Aber was ich zugestehen will: Es ist nicht ganz leicht, Konjunkturpakete sehr, sehr wirksam zu konzipieren. – Was mich dann jedoch sehr wundert, ist, dass Sie nicht sehr stark und ausdrücklich Wert darauf gelegt haben, durchzusetzen, dass für mehr Gerechtigkeit gesorgt wird bei denen, die wirklich sehr wenig haben, oder bei denen, die massiv in ihrer beruflichen Existenz bedroht sind. ({3}) Das heißt, Sie hätten mindestens die Regelsätze für Hartz IV anheben müssen. Das wäre auch finanzierbar gewesen. ({4}) Es ist zu Recht gesagt worden: Sie haben doch weiterhin eine Rücklage von knapp 20 Milliarden Euro. – Es ist nicht richtig, den Menschen, die als Kleinunternehmer, als Selbstständige keine Chance haben, ihren Geschäftsbetrieb aufrechtzuerhalten, nur Unterstützung bei den Mieten zu geben, ({5}) sondern die brauchen auch was für ihren Lebensunterhalt. Die Menschen fühlen sich in ihrer Existenz bedroht und alleingelassen. ({6}) Ich komme zu einem weiteren Punkt – Herr Scholz, das kann ich Ihnen nicht ersparen –: 40 Milliarden dieser 218 Milliarden Euro, die wir jetzt zusätzlich an Verschuldung machen müssen, sind Steuermindereinnahmen. Das ist ein erwartbarer Effekt bei so einem wirtschaftlichen Einbruch wie dem durch die Coronakrise. Aber wir müssen leider auch zur Kenntnis nehmen, dass gestern die USA aus den OECD-Verhandlungen für eine Besteuerung von Digitalkonzernen ausgestiegen sind. Da zeigt sich, dass es naiv und falsch war von der Bundesregierung und auch von Ihnen, Herr Minister Scholz, allein auf die Verhandlungen auf OECD-Ebene zu setzen bei der Besteuerungsperspektive digitaler Konzerne. ({7}) Sie haben nämlich deswegen den Prozess innerhalb der EU ausgebremst. Warum erwähne ich das heute? Eine Digitalsteuer wäre schon vor Corona wichtig und gerecht gewesen für das sogenannte Level Playing Field. Aber in der Krise haben gerade die digitalen Konzerne besonders profitiert. Und da wird deutlich: Wir machen im Moment keine vernünftige Steuerpolitik, die auch die zur Verantwortung zieht, die es finanzieren können. ({8}) Deswegen kann ich Sie nur auffordern: Bessern Sie da nach! Es gibt keinen Grund zur Selbstzufriedenheit. ({9}) – Die Digitalkonzerne sollen herangezogen werden, indem die unglaublichen Gewinne, die sie machen, besteuert werden. ({10}) Es wäre nur gerecht, Herr Michelbach, wenn wir das auch wirklich im Steuersäckel für die Gemeinschaft hätten. Fazit: Wir brauchen ein Konjunkturpaket, ja. Aber damit es ein generationengerechtes Konjunkturpaket ist, gerade bei der Größe, muss es mit einem langfristigen Zukunftsinvestitionsprogramm verbunden werden. Wir brauchen es als Programm, das unsere Art zu wirtschaften klimaverträglich umgestaltet. Das erwartet die junge Generation, das erwarten auch die Bürgerinnen und Bürger. Ich glaube, die wollen kein Strohfeuer, sondern die wollen einen langfristigen Plan. ({11}) Daran werden wir Sie messen. Herzlichen Dank. ({12})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Dennis Rohde, SPD. ({0})

Dennis Rohde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004388, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist keine drei Monate her, da haben wir am 25. März dieses Jahres den ersten Nachtragshaushalt zum Bundeshaushalt 2020 verabschiedet. Dieser erste Nachtragshaushalt war ein großer Vertrauensbeweis des Parlaments gegenüber der Regierung: Wir haben der Regierung pauschal sehr große Mengen an Geld zur Bekämpfung dieser Krise zur Verfügung gestellt. Ich finde, es ist jetzt auch wieder ein Vertrauensbeweis der Regierung, dass sie den zweiten Nachtragshaushalt im Parlament debattieren lässt, uns das Heft des Handelns zurückgibt und wir jetzt hier im Deutschen Bundestag wieder Herr über den Bundeshaushalt sind – hier, wo diese Debatte hingehört. ({0}) Wir können heute sagen: Die Maßnahmen, die wir mit dem ersten Nachtragshaushalt ergriffen haben, die Ermächtigung der Regierung – all das hat funktioniert. Wir stehen heute im europäischen, aber insbesondere auch im weltweiten Vergleich viel besser da als andere Nationen, zum einen, weil wir entschlossen gehandelt haben, aber eben auch, weil sich die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes in ganz großem Maße an die Regeln gehalten haben. Ich finde, darauf können wir alle stolz sein, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Der zweite Nachtrag liegt vor, und – Kollege Rehberg hat es gesagt – wir werden ihn sehr intensiv im Haushaltsausschuss auch mit allen Ministern diskutieren, die dann zu uns kommen dürfen. Ich finde, zu einem selbstbewussten Parlament gehört eben auch, Nachtragshaushalte nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, ({2}) sondern sie auch zu durchleuchten und, wie es ein selbstbewusstes Parlament tut, im Zweifel auch noch zu verbessern, um aus einem guten Nachtragshaushalt einen noch besseren Nachtragshaushalt zu machen. ({3}) Wir haben ja in der Debatte vor Vorlage des Konjunkturpakets viel erlebt. Wir haben viele Forderungen zur Kenntnis nehmen müssen: Absenkung des Mindestlohns, Abschaffung des Solis für die Reichsten, für die 10 Prozent der obersten Einkommen. Dieses Konjunkturpaket hat ganz bewusst andere Schwerpunkte gesetzt, nämlich Schwerpunkte bei den Familien, bei Menschen mit kleinen Einkommen, bei der Entlastung der Kommunen, und eben nicht die reichsten 10 Prozent entlastet. Denn wenn wir das gemacht hätten, hätten wir doch keinen Investitionsanreiz gesetzt, sondern wir hätten Politik für Aktiendepots und für Sparbücher gemacht. Es ist gut, dass wir dieser Versuchung nicht erlegen sind. ({4}) Wir machen Politik für Familien mit dem Kinderbonus und indem wir den Entlastungsbetrag für Alleinerziehende anheben. Wir machen Politik für kleine Einkommen, weil wir doch wissen: Menschen, die wenig Geld haben, zahlen prozentual hauptsächlich Mehrwertsteuer und keine anderen Steuern. Und deshalb entlastet es auch genau sie, wenn wir bei der Mehrwertsteuer ansetzen. ({5}) Wir entlasten kleine Einkommen bei der Deckelung der EEG-Umlage. Wir entlasten sie auch bei Sozialbeiträgen, indem wir dafür sorgen, dass diese nicht über 40 Prozent hinausgehen. Und wir entlasten Kommunen, weil eines nicht passieren darf: Wenn jetzt bei den Kommunen die Einnahmen wegbrechen, dann wird es morgen die Baubranche treffen, dann fallen morgen die Aufträge für alle freiwilligen Leistungen weg, und dann hätten wir die nächste Konjunkturkrise in Deutschland. Um das zu verhindern, ist es richtig, den Schwerpunkt so zu setzen, dass auch der Deutsche Bundestag Kommunen unterstützend zur Seite springt. ({6}) – Ja, es ist auch Aufgabe der Länder, und wir werden genau hingucken, was die Länder dort machen. Aber es ist vor allem auch eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({7}) In diesem Sinne werden wir den Nachtragshaushalt in den nächsten Wochen im Parlament diskutieren und am Ende sicherlich aus einem guten einen noch besseren Nachtragshaushalt gemacht haben. Vielen Dank. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Dirk Spaniel, AfD. ({0})

Dr. Dirk Spaniel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004899, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Regierung hat dieses Land durch Verordnungen und Gesetze praktisch zum Stillstand gebracht, und leichtfertig hat der Wirtschaftsminister – der jetzt heute leider nicht da ist – Anfang März noch behauptet, es werde kein Arbeitsplatz durch Corona verloren gehen. Wenn der Wirtschaftsminister wie ein kleiner Junge glaubt, dass man eine hochvernetzte Volkswirtschaft wie Deutschland wie einen Lichtschalter ein- und ausknipsen kann, dann kann ich kein Vertrauen in die Problemlösungskompetenz dieser Regierungsbank haben. ({0}) In meinem Bundesland Baden-Württemberg trifft der von Ihnen verursachte Lockdown vor allem die Zulieferbetriebe der Automobilunternehmen sowie die Hersteller selbst. ({1}) Die Regierung scheint mit einigen Monaten Verspätung ja auch realisiert zu haben, was sie angerichtet hat, und legt jetzt hier ein Paket vor, ({2}) mit dem sie die von Arbeitsplatzverlust bedrohten Arbeitnehmer in der Automobilindustrie und anderen Industriebereichen beruhigen will. Konkret wollen Sie vor allen Dingen Elektroautos fördern. ({3}) Liebe Regierung, selbst wenn durch diese Elektrosubvention alle loslaufen würden und Elektroautos kaufen wollten: Niemand in Deutschland könnte, solange diese Maßnahme von Ihnen vorgesehen ist – bis Jahresende –, diese Autos überhaupt produzieren. Sie haben überhaupt keine Ahnung, liebe Damen und Herren von der Regierung! ({4}) Sie haben keinen blassen Schimmer ({5}) von Vertrieb und Produktion, von hochkomplexen Industrieprodukten; und das ist ein Problem. ({6}) Wie weit diese Elektrosubvention an der Realität vorbeigeht, das zeigt auch die Aussage des Daimler-Betriebsratschefs Michael Brecht: 95 Prozent der Arbeitnehmer aller Fahrzeughersteller in Deutschland hängen am konventionellen Verbrennungsmotor. Die Verachtung der SPD für die Arbeitnehmer in der Automobilindustrie zeigt übrigens das Zitat eines Ihrer Funktionäre: „Lasst Daimler sterben!“ Ihnen sind die Hunderttausenden Arbeitnehmer in der Autoindustrie und deren Familien völlig egal! ({7}) Das ist übrigens kein Ausreißer in der SPD. Ihre ganze Politik ist gegen das Automobil gerichtet: Dieselfahrverbote, Bußgeldkatalog, Steuererhöhungen für Kraftstoffe – das kommt alles aus Ihrer Feder. ({8}) Die AfD-Fraktion schlägt hier vor, dass alle Fahrzeuge, egal ob mit Elektro- oder Verbrennungsmotor, mit reduziertem Steuersatz, das heißt nur noch mit 5 Prozent, besteuert werden sollen, ({9}) und zwar so lange, bis sich die Autobranche von dem von Ihnen fahrlässig verursachten Konjunktureinbruch erholt hat. ({10}) Das ist unser Signal: Wir stehen an der Seite der Arbeitnehmer in diesem Land, ({11}) und wir werden ihre Interessen hier vertreten. ({12}) Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, zeigen durch Ihre Maßnahmen in diesem Konjunkturpaket, ({13}) dass Sie die realen Probleme in diesem Land nicht erkennen können oder dass Sie nicht gewillt sind, diese zu lösen. Die AfD-Fraktion hier im Bundestag wird Sie mit Ihrer scheinheiligen Politik nicht davonkommen lassen. ({14}) Wir werden dieses Paket in der heutigen Form deshalb ablehnen. Wenn Sie eventuell eine Nachfrage haben, können Sie die stellen; dann werde ich die gerne beantworten. Vielen Dank. ({15})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Fritz Güntzler, CDU/CSU. ({0})

Fritz Güntzler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004285, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich wollte im Wesentlichen eigentlich zu steuerlichen Maßnahmen sprechen. Aber ich finde es einfach unerträglich, wie die AfD Ursache und Wirkung immer wieder vertauscht. ({0}) Ich komme aus dem Wahlkreis Göttingen, und wer die Medien verfolgt, weiß, was in Göttingen derzeit los ist und wie man mit der Pandemie zu kämpfen hat. Verwaltung, Feuerwehr, Polizei, Medizin, die UMG, also unsere Universitätsmedizin Göttingen, kämpfen dagegen an. Wir haben hohe Infektionszahlen. Und dann tun Sie hier so, als bräuchten wir eigentlich gar nichts zu machen, als könnten wir so weiterleben. Das ist wirklich schändlich, und ich lehne das ab. ({1}) Die Bundesregierung und damit die Koalition hat wieder Handlungsfähigkeit bewiesen durch die Beschlüsse vom 3. Juni. Auch wir als Parlament sind schnell und werden zügig die notwendigen Gesetze beschließen. Das zeigt, dass auch in einer Krise die Demokratie in Deutschland handlungsfähig ist. Wir werden mit diesen Maßnahmen die Konjunktur stärken, wir werden Arbeitsplätze erhalten, wir werden wirtschaftliche und soziale Härten abfedern, wir werden Kommunen stärken und die Einkommensverluste ausgleichen, und wir werden auch Familien unterstützen, die besonderen Herausforderungen in dieser Zeit ausgesetzt sind. Alles richtige Ziele, alles mit 57 guten Maßnahmen unterlegt. Dazu der Hinweis an die FDP: Natürlich kümmern wir uns auch um die Zukunft, weil wir nicht nur die Gegenwart organisieren wollen, sondern auch die Zukunft für Deutschland gestalten wollen. Von daher haben wir 57 gute Punkte, über die wir beraten werden. ({2}) Wir werden das Ganze auch mit steuerlichen Maßnahmen unterlegen. Darum haben wir den Entwurf eines Zweiten Corona-Steuerhilfegesetzes eingebracht, nachdem wir das erste Steuerhilfegesetz schon verabschiedet haben. Dort finden sich verschiedenste Maßnahmen. Wir haben im Wesentlichen heute schon über die Mehrwertsteuersenkung diskutiert. Natürlich, lieber Kollege Dürr, wird es Umsetzungsschwierigkeiten geben. Aber ich sage Ihnen auch als Steuerberater: Es ist ja nicht das erste Mal, dass wir eine Umsatzsteuerveränderung haben. ({3}) Es ist aber das erste Mal, dass wir eine Umsatzsteuersenkung haben, und das finde ich gut. Dass die FDP mittlerweile gegen Steuersenkungen ist, war für mich heute auch neu. ({4}) Die Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft – darunter auch der Handelsverband Deutschland – stellen in ihren Stellungnahmen fest: Das Ganze ist ein wichtiger Impuls für den Binnenkonsum. ({5}) Also die Wirtschaft unterstützt diese Maßnahme. Die FDP ist gegen diesen wirtschaftlichen Sachverstand. Auch das ist für mich neu in dieser Debatte am heutigen Tage. ({6}) Wir werden dazu beitragen – das wird das BMF auch tun; Frau Staatssekretärin ist ja hier –, dass den Unternehmen geholfen wird. Es gibt zum ersten Mal ein sogenanntes BMF-Schreiben, das im Entwurf veröffentlicht wurde, damit die Fragen, die sich die Unternehmer stellen, gleich beantwortet werden können und das Ganze ab dem 1. Juli ein Erfolg wird. Noch eine andere Anmerkung: Es handelt sich um 20 Milliarden Euro, die wir weniger einnehmen. Das sind 20 Milliarden Euro Liquidität, die im Wesentlichen bei den Verbrauchern landen werden. Aber selbst wenn das Geld bei den Unternehmen landet, wäre es nicht verkehrt; denn das ist auch gut für die Menschen, weil die Unternehmen Arbeitsplätze sichern. Von daher sind die 20 Milliarden Euro so oder so gut angelegtes Geld, meine Damen und Herren. ({7}) Liquidität ist das Wichtigste in dieser Zeit für die Unternehmen. Von daher ist es richtig und gut, dass wir die Fälligkeitstermine der Einfuhrumsatzsteuer verschoben haben auf den 26. des zweiten auf die Einfuhr folgenden Monats. Damit stellen wir den Unternehmen 5 Milliarden Euro an Liquiditätsmitteln zur Verfügung. Wo es um Liquidität geht, lassen Sie mich auch sagen, dass wir uns ausgiebig mit der Verlustrechnung beschäftigt haben. Die Situation ist im Normalfall ja so, dass Unternehmen, die im Jahr 2019 noch Gewinne gemacht haben, weil sie ein kluges Geschäftsmodell hatten, 2020 oder vielleicht erst 2021 unverschuldet in eine Verlustsituation kommen. Wir ermöglichen ihnen, diese Verluste, die noch gar nicht konkret feststehen, aufgrund einer Prognose bei ihren Vorauszahlungen aus 2019 bzw. bei der Veranlagung für 2019 anzusetzen. Das schafft Liquidität. Das ist eine Liquiditätshilfe für die Unternehmen. Ich gebe den Unternehmen lieber so das Geld als über Darlehen der KfW oder anderen. Von daher ist das auch eine kluge Entscheidung, meine Damen und Herren. ({8}) Die Familien haben wir auch nicht aus dem Auge verloren. Herr Minister Scholz hat auf den Kinderbonus hingewiesen. Ich sage für mich persönlich: Es ist ein kleiner Wermutstropfen, dass er mit dem Kinderfreibetrag verrechnet wird. ({9}) Ich akzeptiere, dass Reiche, wo immer sie auch sein mögen, den Kinderbonus nicht benötigen. Wenn man sich aber die Zahlen ansieht, ab wann der Kinderfreibetrag zieht, dann habe ich Zweifel, eine Alleinerziehende mit 3 000 Euro Monatseinkommen als reich zu definieren. Das ist die Einkommensgrenze, ab der der Kinderbonus abgeschmolzen wird. Von daher würde ich darüber gerne noch mal nachdenken. ({10}) Ich weiß, es ist nicht ganz einfach, wo man dann die neue Grenze zieht. Aber ich finde, diesen Sachverhalt muss man deutlich machen. Entscheidend ist, dass wir für die Alleinerziehenden noch etwas Gutes gemacht haben. Wir haben den Entlastungsbetrag für Alleinerziehende von 1 908 Euro auf 4 008 Euro für die Jahre 2020 und 2021 erhöht. Das wird gerade diese Gruppe von Menschen erheblich entlasten, die in dieser Pandemie besondere Leistungen erbringen mussten. Wir haben eine Verbesserung der Abschreibungsbedingungen vorgesehen. Wir werden die Forschungszulage ausweiten. Und – das ist mir persönlich ganz wichtig – wir haben die Verjährungsfristen verlängert, sodass es nicht passiert – das war ja auch die Angst des Kollegen De Masi –, dass diejenigen, die mit Cum/Ex gestaltet haben, straffrei davonkommen können. Von daher ist es klug, dass wir dies zusätzlich zu den Konjunkturmaßnahmen in das Gesetz aufgenommen haben, damit da kein Unheil droht. ({11}) Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, wir haben eine ganze Menge auf den Weg gebracht, und das auch schnell. Wir werden am Montag eine Anhörung haben. Wir werden das dann ausgiebig diskutieren. Ich hoffe, dass wir danach – die FDP hat es angesprochen – auch darüber nachdenken, wie wir die Strukturen im deutschen Steuerrecht verbessern können: Die Modernisierung des deutschen Unternehmensteuerrechts, des Einkommensteuertarifs sollte auf der Agenda stehen. Lothar Binding freut sich schon auf die Debatten, die wir führen werden. Das wird diese Koalition vielleicht auch noch hinkriegen. Herzlichen Dank. ({12})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort der Kollege Dr. Florian Toncar, FDP. ({0})

Dr. Florian Toncar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003856, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Kombination aus steuerlichen Entlastungen und Investitionen, die die Regierung vorschlägt, ist ja, wenn man es einmal auf der Abstraktionsebene betrachtet, gar nicht so falsch. Die Mischung ist jedenfalls besser, als wenn der Staat lauter Programme machen würde, bei denen er Einzelbranchen mit dieser oder jener Maßnahme beglückt. Ich will noch hinzufügen: Maßnahmen wie verbesserter Verlustrücktrag oder auch das Thema Abschreibungsfristen sind natürlich von der Richtung her richtig. Vielleicht hätte man das noch konsequenter machen können, aber das stimmt schon. Aber der Preis für diese ganzen Maßnahmen ist natürlich hoch: 218 Milliarden Euro Neuverschuldung – nur der Bund, ohne Sondervermögen, ohne Wirtschaftsstabilisierungsfonds, ohne Länder, ohne Europa. Das sind im Kernhaushalt 2 700 Euro Neuverschuldung pro Bürger von null Jahren bis zum ältesten Bewohner Deutschlands. 2 700 Euro neue Schulden ist mehr als doppelt so viel Neuverschuldung wie in den letzten zehn Jahren zusammen. Und deswegen ist es sehr wohl gut begründungsbedürftig, was mit diesem Geld erreicht und was mit diesem Geld bewirkt werden soll. Und genau darum geht es auch bei der Kritik an diesem Gesetz. ({0}) Wenn man 218 Milliarden Euro Neuverschuldung letztlich auf Kosten der Bürger vorschlägt und gleichzeitig die Rücklagen von 40 Milliarden Euro auf 50 Milliarden Euro steigert, also eine riesige Barkasse behält, dann kann man den Bürgern doch nicht ernsthaft sagen: Wir haben alles getan, um die Verschuldung wenigstens in Grenzen zu halten. – Das Gegenteil ist der Fall: Sie haben sie ausgeweitet. ({1}) Herr Minister Scholz, Sie können hier ein noch so staatstragendes Gesicht auflegen ({2}) und die Bedeutung der Situation noch so betonen: Der Umgang mit den Rücklagen, die Sie ausgerechnet vor einem Wahljahr ansammeln, zeigt, worum es Ihnen geht: sicher auch um das Land – das will ich Ihnen nicht absprechen –, aber ein bisschen auch um sich selbst und Ihre politischen Möglichkeiten im Wahljahr. Und das muss man hier herausarbeiten, weil es nicht im Sinne der Bürgerinnen und Bürger ist, die Schulden so hochzutreiben, wie Sie das tun. ({3}) Des Weiteren muss man sich natürlich anschauen, was Sie mit diesen Maßnahmen für die Wirtschaft wirklich erreichen. Niemand bei der FDP hat etwas gegen Steuersenkungen. ({4}) Das haben Sie, glaube ich, selber nicht für wahr gehalten, Kollege Güntzler. ({5}) – Dann haben Sie es falsch verstanden, weil Sie vielleicht darauf gewartet haben, es mal falsch verstehen zu dürfen. ({6}) Aber was ist denn das Problem bei einer befristeten Mehrwertsteuersenkung? Sie hoffen darauf, dass die Leute sich dann bis Weihnachten etwas kaufen, was sie sich sonst vielleicht nicht gekauft hätten. Und nun ist es doch aber so, dass die Leute, wenn sie sich dieses Jahr noch ein Auto oder ein neues Sofa oder irgendein Elektrogerät kaufen, das im Januar, Februar oder März nicht gleich wieder machen werden. ({7}) Sie produzieren also einen Weihnachtsboom, und die Flaute Anfang 2021 ist darin schon angelegt. Genau das ist doch der Grund, warum die 20 Milliarden Euro, die Sie für die Mehrwertsteuersenkung einsetzen, nicht nachhaltig für mehr Wachstum sorgen. ({8}) Das ginge sehr viel besser durch den Abbau des Mittelstandsbauchs – müssen wir sowieso machen –, durch eine Unternehmensteuerreform – müssen wir sowieso machen –, durch eine Abschaffung des Soli – müssen wir sowieso machen. Machen wir doch das, was wir sowieso machen würden und was auch sehr viel nachhaltiger dafür sorgt, dass die Wirtschaft läuft, nicht nur bis Weihnachten, sondern auch 2021, 2022 und 2023. Vielen herzlichen Dank. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Michael Schrodi, SPD, ist der nächste Redner. ({0})

Michael Schrodi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004884, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Dieses Gesetz bzw. das Konjunkturpaket ist von seinem Umfang volkswirtschaftlich richtig – wir helfen der Industrie und den Unternehmen –, und es ist sozial gerecht und ausgewogen. Deswegen trägt es auch eine starke sozialdemokratische Handschrift. Und das ist auch gut, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({0}) Warum ist es volkswirtschaftlich richtig und sozial gerecht? An der Senkung der Mehrwertsteuer sieht man das. Es handelt sich um eine schnell umsetzbare, eine wirksame Maßnahme. Sie hören und sehen schon die Werbung, wer alles damit wirbt: Wir senken die Preise. – Das entlastet die Bürgerinnen und Bürger, stärkt die Kaufkraft und hat damit die richtige Entlastungswirkung. Es kommt nämlich dort an, wo die Konsumquote hoch ist, nämlich bei unteren und mittleren Einkommen. Es entlastet die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Und deswegen ist es gut und ein konjunktureller Impuls, den wir damit setzen, meine sehr geehrten Damen und Herren, ({1}) und zwar im Unterschied zu dem, was FDP und AfD übrigens gemeinsam fordern und was vollkommen falsch ist. Dieser Unterschied hier ist schon bemerkenswert. Sie fordern wieder die Einkommensteuersenkung oder den vollständigen Soli-Abbau. Das entlastet vor allem Spitzenverdiener und ist konjunkturell eben nicht hilfreich. Deswegen ist das, was wir tun, gut und sozial gerecht, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({2}) Das Gleiche gilt übrigens auch für den Kinderbonus: mehr Geld für Kinder und ihre Familien. Es ist deswegen auch gut und richtig, ihn nicht auf die Sozialleistungen anzurechnen. Er kommt eben an bei unteren und mittleren Einkommen und ist deswegen auch wieder ein konjunktureller Impuls, sozial gerecht und volkswirtschaftlich sinnvoll. Ja, bei hohen Einkommen wird der Kinderbonus mit dem Kinderfreibetrag verrechnet. ({3}) Familien mit zwei Kindern aber, um mal Zahlen zu nennen, profitieren davon bis zu einem Monatseinkommen von 7 800 Euro. 83 Prozent aller Kindergeldberechtigten profitieren, 75 Prozent mit dem vollen Betrag. ({4}) Wir geben 15 Millionen Kindern und ihren Familien damit einen Bonus. Das ist sozial gerecht und auch volkswirtschaftlich sinnvoll. ({5}) Deswegen ist das auch genau das Konjunkturpaket, das unser Land in dieser Zeit braucht. Danke schön. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Olav Gutting, CDU/CSU, ist der nächste Redner. ({0})

Olav Gutting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003544, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schnell wirkende konjunkturelle Stützungsmaßnahmen für die Wirtschaft, Entlastungen für die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land – das zu bündeln und umzusetzen, ist Ziel dieses Gesetzes. Wir wollen geschwächte Kaufkraft stärken. Wir wollen Unternehmen in ihrer wirtschaftlichen Erholung unterstützen, und das setzen wir jetzt um. Wir haben ja bereits steuerliche Maßnahmen zur Bewältigung der Krise beschlossen. Und jetzt haben wir mit dem Zweiten Corona-Steuerhilfegesetz eben zusätzliche Erleichterungen auf den Weg gebracht. Wir wollen hier deutliche Investitionsanreize setzen. Es wurde ja von den Vorrednern hier schon ausführlich auf vieles hingewiesen. Entscheidende Punkte wurden gut dargestellt, etwa die Ausweitung der Verlustberücksichtigungen für die Jahre 2020 und 2021. Ja, und auch die durchaus umstrittene befristete Senkung der Umsatzsteuer wurde angesprochen, bei der ja – das sage ich ganz offen – noch viele Detailfragen ungeklärt sind. Daran müssen wir in den nächsten Tagen noch arbeiten, um für diese Details vernünftige Lösungen zu finden. Ich will aber noch ein paar weitere Maßnahmen aus diesem Gesetzentwurf ansprechen, die Unternehmen finanziell mehr Raum zum Atmen lassen werden. Das ist, glaube ich, wichtig. Dazu gehört die befristete Möglichkeit zur degressiven Abschreibung für bewegliche Wirtschaftsgüter. Wir haben dieses Instrument bereits 2009 bei der Finanzkrise wirksam eingesetzt. Es war hilfreich. Es hat uns geholfen, gut aus jener Krise herauszukommen. Daher ist es wichtig und hilfreich, dass wir das gleiche Instrument jetzt für die Jahre 2020 und 2021 wieder benutzen. Normalerweise wirken diese Abschreibungen ja erst im Rahmen der Steuerveranlagung, das heißt, teilweise Monate, teilweise Jahre nach der Investition. Deswegen ist es wichtig, dass wir jetzt die Besonderheit haben, dass diese befristete degressive Abschreibung schon unterjährig bei der Festsetzung der Steuervorauszahlung berücksichtigt werden kann. Das hilft, Liquiditätsvorteile sofort spürbar zu machen. Wir haben Investitionsmöglichkeiten mit diesem Gesetz flexibel gemacht, auch wieder befristet, zum Beispiel bei den §§ 6b und 7g Einkommensteuergesetz. Wenn die Investitionen in diesem Jahr, 2020, nicht durchgeführt werden, dann soll das steuerunschädlich in den Folgejahren noch nachgeholt werden können. Wir haben hier auch eine Verordnungsermächtigung eingebaut, um flexibel zu sein, diese Fristen gegebenenfalls noch einmal verlängern zu können. Das hilft auch in der Praxis; das ist wichtig. Das ist eine Kleinigkeit, aber es hilft. Nehmen Sie den Busunternehmer, der den Investitionsabzugsbetrag genutzt hat und sich in diesem Jahr einen neuen Reisebus anschaffen wollte. Das kann er dieses Jahr nicht machen; er wird es auch nicht machen. Er wäre ohne diese Regelung wirklich schlecht dran und müsste erheblich nachversteuern. Deswegen geben wir ihm die Chance, diese Investition nachzuholen. Und das, Kolleginnen und Kollegen, ist Politik, die an der Praxis orientiert ist; das ist reales bürgernahes Handeln. ({0}) Eine weitere Entlastung im Bereich der Einkommensteuer, für die ich als Berichterstatter in unserer Fraktion zuständig bin, ist die Erhöhung des Ermäßigungsfaktors auf das Vierfache beim Gewerbesteuermessbetrag. Das ist eine Maßnahme, die ich schon seit vielen Jahren fordere. Mit dieser schon seit Langem fälligen Anpassung ist es jetzt eben möglich, dass Einzelunternehmer vollständig von der Gewerbesteuer entlastet werden, solange sie beim Hebesatz in ihren Gemeinden nicht über 420 Prozent liegen. Das ist ein wichtiger Punkt; wie gesagt, schon lange überfällig. Jetzt setzen wir ihn endlich um. ({1}) Viele andere steuerpolitische Maßnahmen wurden hier schon im Vorfeld diskutiert. Wir haben uns intensiv darüber unterhalten, auch über die Frage der Thesaurierungsbegünstigungen für Unternehmen. Ja – das sage ich ganz offen –, da hätten wir uns auch mehr gewünscht. Wir hätten für kleine und mittlere Unternehmen gerne mehr Möglichkeiten gehabt, um die Investitionen zu stärken. Hier sind leider immer noch Kapitalgesellschaften klar im Vorteil, was die Stärkung ihrer Eigenkapitaldecke anbelangt. Die jetzt in Rede stehende Wahlmöglichkeit für Personengesellschaften, sich wie Kapitalgesellschaften besteuern zu lassen, ist zwar im Grunde ein Schritt in die richtige Richtung. Aber ich glaube, wir wissen alle, dass die überwiegende Mehrheit der Personenunternehmen von dieser Möglichkeit aus den verschiedensten Gründen keinen Gebrauch machen wird. Das bleibt also eine Baustelle. Hier müssen wir noch mal nachsteuern. Insgesamt muss uns klar sein: Das kann es noch nicht gewesen sein. Das waren wichtige Schritte, die wir jetzt auf den Weg gebracht haben, die wir heute beraten; aber es ist natürlich nicht der Weisheit letzter Schluss. Es geht heute um Gesamtmaßnahmen im Volumen von 23 Milliarden Euro – das ist ein gewaltiges Volumen –, und das wird ohne Zweifel wirtschaftlichen Schub bringen. Aber wir brauchen weiter für die Zukunft eine Steuergesetzgebung, die nach vorn blickt und strukturelle Schwachstellen in der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen in Deutschland ausmerzt und beseitigt. Dazu gehört auch eine weitere Reformierung des Unternehmensteuerrechts in Deutschland, und dazu gehört für mich auch eine zeitnahe und vollständige Abschaffung des Solidaritätszuschlages. Das muss weiter auf unserer Agenda bleiben. Da lassen wir auch nicht locker. ({2}) Aber für heute kann ich sagen: Das ist ein guter erster Aufschlag. Selbst die Opposition sagt ja: Es ist gar nicht alles so schlecht. – Das ist schon ein gutes Zeichen. Ich wünsche uns jetzt gute und zügige Beratungen, damit die vorgesehenen Maßnahmen dann auch schnell wirken können. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erhält das Wort die Kollegin Sonja Steffen, SPD. ({0})

Sonja Steffen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004164, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als fast letzte Rednerin hat man ja manchmal das Problem, dass schon alles gesagt worden ist, aber noch nicht von jedem. Ich muss allerdings am Schluss der Debatte feststellen: Ich habe Glück; denn ich will auf einen Punkt des Corona-Konjunkturpakets eingehen, auf den hier heute noch gar nicht eingegangen worden ist. Das ist Punkt 57, der letzte Punkt des Konjunkturpakets. Diesen möchte ich gern vorlesen, zumindest in Teilen. Hier heißt es: Die Auswirkungen der Corona-Krise sind nicht nur in Deutschland, sondern weltweit dramatisch. Wir werden daher bis Ende 2021 zusätzliche Finanzmittel bereitstellen, die sowohl der Bekämpfung der Pandemie als auch zur Ausweitung der humanitären Hilfe und gesundheitlichen Vorsorge dienen. Und genau hierfür werden wir in diesem und im kommenden Jahr insgesamt über 3 Milliarden Euro in die Hand nehmen. ({0}) Wir haben hier in Deutschland dank einer guten Regierung, aber auch dank der großen Disziplin und der großen Solidarität der Menschen in unserem Land erreicht, dass wir das Virus hoffentlich erfolgreich und insgesamt schneller eindämmen konnten. Aber in anderen Staaten, vor allem in den ärmeren Staaten, sieht es ganz anders aus. Diese Staaten sind viel, viel schlimmer dran; denn die mangelhafte gesundheitliche Infrastruktur kann sehr, sehr schnell zu Katastrophen führen. Die Kosten für eine Maske übersteigen zum Beispiel in den ärmsten Staaten mehr als einen Tageslohn. Von Beatmungsgeräten müssen wir gar nicht erst reden. Deshalb ist es wichtig, dass wir dafür sorgen, dass neben dem Versuch, die Ausbreitung einzudämmen, auch schnellstmöglich Schutzkleidung, Medikamente und Beatmungsgeräte in allen Regionen der Welt zur Verfügung stehen. ({1}) Deswegen freuen wir uns auch sehr, dass wir den Gesundheitsorganisationen GAVI und GFATM 250 Millionen Euro zusätzlich zur Verfügung stellen können. ({2}) Übrigens sind auch in den ärmsten Ländern Afrikas Schulschließungen erfolgt. Die Kinder sind nach Hause geschickt worden. Dadurch gibt es aber auch keine Schulspeisung mehr, was sehr oft dazu führt, dass die Kinder hungern müssen und vielleicht sogar verhungern. Es gibt auch keine weitere Bezahlung der Lehrerinnen und Lehrer. Wenn die Familien dann zu Hause bleiben, laufen wir Gefahr, dass wir bei allem, was wir bisher schon erreichen konnten in der Entwicklungszusammenarbeit, quasi wieder von vorne anfangen müssen. Denn sehr oft passiert es, dass gerade Mädchen, wenn die Schule wieder aufgemacht wird, eben nicht mehr dorthin geschickt werden. Deshalb brauchen wir weitere Mittel für die Bildung, ({3}) und wir brauchen weitere Mittel vor allem für die Förderung von Mädchen und Frauen in diesen Gebieten. ({4}) Ein weiterer Aspekt ist mir zum Schluss noch besonders wichtig: Beispiele insbesondere in den USA und in Brasilien, aber auch bei uns in Deutschland – Tönnies in NRW – zeigen, wie dramatisch eine unfähige Führung und eine mangelnde soziale Absicherung die Ausbreitung des Virus befördern können. ({5}) Wenn Menschen nicht die Möglichkeit haben, mit Symptomen zu Hause zu bleiben, sondern in vollen Bussen und in vollen Unterkünften zusammengepfercht werden, dann werden wir das Virus nicht unter Kontrolle bekommen. Profitgier und Schielen auf die nächsten Wahlerfolge potenzieren die Gefahr. Aber insgesamt muss gesagt werden: Unser Wumms soll auch global gehört werden, und dafür wollen wir mit diesem Konjunkturpaket eben sorgen. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dr. Hans Michelbach, CDU/CSU. ({0})

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Zum Abschluss der Debatte bleibt festzuhalten: Die Coronapandemie hat uns vor eine der größten Herausforderungen der deutschen Nachkriegszeit gestellt. Der Handlungsbedarf ist unübersehbar, ist unbestritten. Wirtschaft und Arbeitsmarkt brauchen einen Impuls für einen Restart auf breiter Front. Unser Konjunkturpaket ist dafür der richtige Ansatz, meine Damen und Herren. Wir lassen das Paket durch die Opposition auch gar nicht zerreden, weil wir überzeugt sind, dass wir den richtigen Mix gefunden haben. Auf breiter Front wird dieses Paket wirken. Wir stärken nämlich Nachfrage- und Angebotsseite gleichermaßen. Das ist die richtige Antwort auf die aktuelle Lage, meine Damen und Herren. ({0}) Es ist eine Antwort, die eine klare ordnungspolitische Handschrift trägt. Der Staat konzentriert sich auf die Schaffung der richtigen Rahmenbedingungen und auf die Anreize, und zwar ohne zu viel Bevormundung. Bürger und Unternehmen wissen ja selbst am besten, wofür sie die neuen finanziellen Spielräume nutzen wollen. Und die neuen Hilfen haben einen großen Vorteil: Sie wirken sofort, meine Damen und Herren. Ich bin schon verwundert über das, was wir von der Opposition gehört haben.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Michelbach?

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte?

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Gestatten Sie eine Zwischenfrage aus der AfD? ({0})

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Eigentlich nein. – Aber gut. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Springer, bitte.

René Springer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004900, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Danke, Herr Kollege. Danke, Herr Präsident. – Ich stelle eine Frage, die sich auf den Kinderbonus bezieht, also auf die 300 Euro, die ja Bestandteil des Corona-Konjunkturpakets sind. Diese 300 Euro werden ja nicht nur an Kindergeldberechtigte hier in Deutschland gezahlt, sondern auch an Kindergeldberechtigte, deren Kinder im EU-Ausland leben. Mein Kollege Sebastian Münzenmaier hat ja von der Bundesregierung erfahren, dass es sich hierbei um 90 Millionen Euro handelt, die also demnächst auf ausländische Konten überwiesen werden. Diese 90 Millionen Euro kommen zu den 2 Milliarden Euro hinzu, die seit 2015 auf ausländische Konten überwiesen wurden. ({0}) Nun haben wir das Problem, dass darunter viele Bulgaren und Rumänen sind. In Bulgarien liegt der Mindestlohn bei 1,72 Euro, und man kann sich vorstellen, dass der Kinderbonus in Höhe von 300 Euro dort eine Menge Geld ist. Eigentlich ist es das Facharbeitergehalt eines Bulgaren. Nun ist es so: Die bayerische Landesregierung hat in den Bundesrat eine Initiative eingebracht, und zwar vor 723 Tagen, mit der sie die Indexierung des Kindergeldes gefordert hat – das heißt die Anpassung an die Lebenshaltungskosten in den Heimatländern –, also das, was wir als AfD im Übrigen auch seit zwei Jahren fordern. Meine Frage an Sie als CSU-Abgeordneter ist, ob Sie diesem Konjunkturpaket zustimmen werden, wenn dort keine Indexierung des Kindergelds für im Ausland lebende Kinder vorgesehen ist. Vielen Dank. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Springer, bleiben Sie bitte zur Antwort stehen.

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Man bereut ja sofort, wenn man Ihnen eine Fragestellung zugesteht. ({0}) Ich kann nur sagen: Es wundert ja, dass Sie bei einer solch ernsthaften Lage, die wir in Deutschland im Moment haben, jetzt wieder ausgerechnet mit Ausländern, mit Flüchtlingen, mit Migranten kommen. Das ist doch völlig verwerflich, meine Damen und Herren. ({1}) Denken Sie doch an die 7 Millionen Leute, die in Kurzarbeit sind, vorrangig an die zusätzlichen 800 000 Arbeitslosen, bevor Sie hier wieder eine solche politische Agenda aufmachen. ({2}) Sie wissen genau, dass es nicht einfach auf europäischer Ebene ist, diese Frage zu lösen, weil man eben im Binnenmarkt gleiche Verhältnisse haben muss. ({3}) Ich weise zurück, dass Sie immer wieder die Schuld im Ausland, bei Migranten und Flüchtlingen suchen. ({4}) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich auf die Grundsätze des Konjunkturpakets zurückkommen. Mit Verwunderung habe ich die Stellungnahme der FDP heute verfolgt. ({5}) Lieber Herr Dürr, ich kann Ihnen nur sagen: Dass Sie sich jetzt ausgerechnet gegen Steuersenkungen und gegen die Stellungnahme der gesamten deutschen Wirtschaft wenden, ist schon wirklich eine besondere Bemerkung wert. Ich kann mal zitieren, Herr Dürr und liebe Kollegen aus der FDP – ich zitiere wörtlich, Herr Präsident –, aus einer Stellungnahme der acht größten Wirtschaftsverbände, also IHK, BDI, HDE und wie sie alle heißen, zur Anhörung des Finanzausschusses: Aus Sicht der deutschen Wirtschaft werden mit diesem Paket, insbesondere mit den steuerlichen Maßnahmen, wichtige Impulse gesetzt, damit die Unternehmen hierzulande wieder schnell Tritt fassen und die wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise überwinden können. So weit das Zitat, meine Damen und Herren. Es ist schon bemerkenswert, dass Sie von der FDP sich gegen die gesamte deutsche Wirtschaft wenden, meine Damen und Herren. ({6}) Lassen Sie mich auf einige Punkte näher eingehen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Michelbach, jetzt haben Sie eine Zwischenfrage aus der FDP provoziert. Lassen Sie die zu? ({0})

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, jetzt nicht mehr. Es reicht. ({0}) Sie haben die Mehrwertsteuersenkung kritisiert, sehr zu Unrecht; das möchte ich einmal verdeutlichen. Ich sage Ihnen: Nichts wird rascher und stärker wirken als diese sofortige Mehrwertsteuersenkung ab 1. Juli. Das sind 20 Milliarden Euro, die direkt in den Wirtschaftskreislauf gehen. Verbraucher und Wirtschaft spüren sie vom ersten Tag an. Das ist Politik, die schnell wirkt, meine Damen und Herren, und darauf kommt es jetzt an. Das ist die Situation. ({1}) Auf der Angebotsseite erhalten die Unternehmen durch Freiräume mehr Liquidität. Vor allem die verbesserte Verlustverrechnung und die degressive Abschreibung verbreitern die finanzielle Basis und setzen auch Impulse für neue Investitionen. Gleichzeitig setzen wir mit der Ausweitung der steuerlichen Forschungsförderung einen Impuls für mehr Innovation. Die Deckelung des Gesamtbeitrags zur Sozialversicherung auf 40 Prozent begrenzt zusätzlich die Arbeitskosten – für Arbeitnehmer und Arbeitgeber ein großer Vorteil. Das alles trägt dazu bei, den Erhalt von Betrieben und Arbeitsplätzen zu sichern, meine Damen und Herren. Damit verbunden, bekommen wir sicherlich eine hohe Neuverschuldung; das ist richtig. Aber man muss doch das große Ganze sehen, ({2}) und zwar das Aufschwungpaket und die notwendigen Maßnahmen in diesem Paket. Sicher sind 218,5 Milliarden Euro Neuverschuldung sehr viel, und wir sind ganz offen, das als eine Obergrenze zu sehen, die wir nicht guten Gewissens beliebig weiter aufstocken können. Aber Sie können doch letzten Endes nicht auf der einen Seite praktisch Gas geben wollen und auf der anderen Seite mit dem Fuß auf der Bremse stehen. ({3}) Das ist Politik, die Sie vielleicht verstehen; ich verstehe sie nicht. Entweder gebe ich Gas und versuche, alles wieder in Schwung zu bringen, oder ich lasse es sein. Aber Gas geben und bremsen, das hat noch nie funktioniert. Vielleicht bei der FDP. Versuchen Sie es mal, meine Damen und Herren. ({4}) Wir brauchen natürlich Rahmenbedingungen für die Wirtschaft, für die Arbeitsplätze. Wir brauchen sicher auch ein Belastungsmoratorium und weitere wirksame Reformen in der Zukunft – es wurde hier angesprochen –: die Modernisierung der Unternehmensteuer sowie Reformen beim Soli, bei der Verwendung von Personengesellschaftseinkünften ähnlich wie bei Kapitalgesellschaften, bei der Verkürzung von Planungs- und Genehmigungsverfahren. Ich denke, meine Damen und Herren, die Menschen in unserem Land wollen, dass es wieder aufwärtsgeht. Deshalb müssen wir Impulse setzen für eine zukünftige Neuausrichtung unserer Wirtschaft, die zukunftsfähig bleiben muss. Wir müssen handeln; wir handeln jetzt, meine Damen und Herren. Wir lassen uns dieses Konjunkturpaket nicht zerreden. Vielen Dank. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich zu einer Kurzintervention das Wort dem Kollegen Karsten Klein, FDP. ({0})

Karsten Klein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004780, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident, vielen Dank. – Sehr geehrter Herr Kollege Dr. Michelbach, es ist erst mal bemerkenswert, dass Sie Zwischenfragen der AfD zulassen und der FDP nicht. ({0}) Herr Dr. Michelbach, es ehrt Sie, dass Sie sich Sorgen machen um die steuerpolitische Positionierung der FDP. Aber ich möchte Sie als Vertreter der CSU hier im Deutschen Bundestag fragen, ob Sie als CSU-Landesgruppe dafür Sorge tragen werden, dass die von Ihnen erst wieder im Februar erhobenen Forderungen nach Vorziehen der Teilabschaffung des Solidaritätszuschlags, nach Komplettabschaffung des Solidaritätszuschlags, ({1}) nach Reform der Unternehmensteuer und nach Abschaffung des Mittelstandsbauchs noch in die Nachtragshaushaltsverhandlungen einfließen werden. Das haben Sie den Bürgerinnen und Bürgern und den Unternehmerinnen und Unternehmern im Februar wieder lauthals versprochen. Davon finden wir leider in Ihrem Regierungshandeln heute hier gar nichts. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Michelbach, mögen Sie antworten? – Offensichtlich ja. Dann haben Sie das Wort.

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, ich bedanke mich für die Worterteilung. Natürlich muss man darauf antworten. Sehr geehrter Herr FDP-Kollege, ({0}) ich antworte natürlich gerne nach parlamentarischer Gepflogenheit. Mich hat nur die Zwischenfrage des AfD-Kollegen wirklich geärgert. ({1}) Ich bitte um Entschuldigung, dass ich Ihre Zwischenfrage nicht zugelassen habe. Bei Verantwortungslosigkeit und Unzuverlässigkeit sollte man aber, unabhängig von der Fraktion, entsprechend reagieren. Ich kann Ihre Frage dahin gehend beantworten, dass wir – und das habe ich ja angesprochen – auch in der Zukunft eine Reformoffensive zur Verstetigung der Entwicklung der Wirtschaft brauchen. Da bleibt unser Programm auf der Agenda, und da muss auch die Soliabschaffung dabei sein. ({2}) Die politische Agenda muss insgesamt zu Verbesserungen führen, mit Steuerreformen und natürlich auch mit allen anderen Maßnahmen, die wir vorschlagen, ({3}) aber alles zu seiner Zeit. ({4}) Ich habe verdeutlicht, dass die Mehrwertsteuersenkung jetzt der richtige Ansatz ist, weil es kein anderes Steuerinstrument gibt, das so schnell und direkt wirkt wie diese Entlastung um 20 Milliarden Euro, die heute beschlossen wird bzw. zum 1. Juli in Kraft tritt. Vielen Dank. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Damit schließe ich die Aussprache.

Jens Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004811, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was sind das für Zeiten, woEin Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen istWeil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt! ({0}) – Bertolt Brecht, ja. Ja, hier wird viel geredet. Aber über wirkliche Untaten wie den Terror der Antifa wird hier im Bundestag und in der Gesellschaft noch mehr geschwiegen. Und wenn nicht geschwiegen werden kann, wenn geredet werden muss, weil es nicht anders geht, weil wieder was passiert – dieses Gebäude wird zurzeit zum Beispiel von der Antifa angegriffen –, ({1}) dann wird bagatellisiert, verharmlost, abgestritten und umgedeutet, alles mit der Zielsetzung, eines zu tun, nämlich nichts zu tun. Bei Ihnen wundert mich das nicht, Frau Renner – Sie sind ja auch da; Sie gehören ja eigentlich zur Antifa –; ({2}) aber bei Ihnen von der Union wundert es mich doch sehr. Das ist Feigheit, Feigheit vor dem Feind. ({3}) Man kann dankbar sein, dass Präsident Trump in den USA die Initiative ergriffen hat und mit gutem Beispiel vorangeht. Er hat der Antifa den Krieg erklärt. Er ist entschlossen, durchzugreifen und die Ordnung, die beispielsweise in Seattle in Gefahr geraten ist, wiederherzustellen. ({4}) So eine Entschlossenheit würde ich mir auch von einer deutschen Regierung wünschen. ({5}) Antifa – was ist das? Es ergibt sich ein diffuses Bild verschiedener, eher locker verbundener Gruppen mit unterschiedlicher Intensität an Gewaltbereitschaft. Neben ungefährlich operierenden, ideologisch verstrahlten Spinnern oder vom Weltschmerz geplagten Jugendlichen existieren im Antifamilieu straff organisierte Schlägerbanden, die minutiös geplante Anschläge ausführen und es häufig schaffen, mittelbar über öffentliche Gelder finanziert zu werden; das ist besonders skandalös. ({6}) Sie tun das nicht im Geheimen, sondern ganz offen. Ein Blick ins Internet reicht da aus. Ich verweise hier beispielhaft auf die Seite antifa-berlin.info. Hier werden die begangenen Einzeltaten in gewaltverherrlichender Weise zusammengestellt. Wer meldet so was, wer kümmert sich darum? – Ja, Frau Lazar, Sie lachen sich halb tot. ({7}) Wo ist da die Polizei, warum passiert da nichts? Die Antwort ist ganz einfach: Weil in dieser Gesellschaft linke Gewalt mehr und mehr hoffähig gemacht wurde, weil die politisch-mediale Klasse ein Klima der Akzeptanz gegenüber linker Gewalt geschaffen hat und weil linke Gewalt nicht in das medial geschaffene Bild passt, wonach nur der Rechtsextremismus gefährlich sei. ({8}) Ich will jetzt gar nicht über die ganzen Attacken auf die Büros der AfD oder den hinterhältigen Angriff auf Frank Magnitz reden. ({9}) Am Montag dieser Woche ist die Antifa in Leipzig unterwegs gewesen und hat das Lokal der Schwester von Siegbert Droese, die gar nichts mit irgendwelchen politischen Dingen zu tun hat, angegriffen. So was ist Sippenhaft, und das ist nicht in Ordnung. Hinzuweisen ist aber darauf, dass die Geister, die man rief, auch die eigenen Leute treffen können. So wurde kurioserweise Helge Lindh, SPD – Sie hier –, im April dieses Jahres zum Ziel und sein Büro in Wuppertal beschädigt. Neben der Selbstermächtigung zu Gewalttaten im Kleinen oder – wie beim G‑20-Gipfel in Hamburg – im Großen ist die Antifa stets bemüht, rechtsfreie Räume für sich zu schaffen – Räume wie Connewitz in Leipzig, Rote Flora in Hamburg, Rigaer Straße in Berlin, ({10}) Räume, in denen sie die Kontrolle haben und aus denen der Rechtsstaat praktisch ausgesperrt wird. Da macht man dann das, was man will. Insbesondere entzieht man sich in solchen No-go-Areas allen Verpflichtungen und stellt sich – wie Reichsbürger – außerhalb der Gemeinschaft. ({11}) Es geht diesen Leuten nicht um politische Ziele. Es geht diesen Leuten um Krawall, Spaß am Zerstören und ein Abtauchen in rechtsfreie Räume. Gerechtfertigt wird so etwas mit wirrem linksextremistischen Geschwafel. Das muss aufhören. Vor allen Dingen muss die rechtsstaatliche Ordnung in diesem Land gegen diese Typen endlich durchgesetzt werden. ({12}) Die Antifa muss verboten werden. Vielen Dank. ({13})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Marian Wendt, CDU/CSU. ({0})

Marian Wendt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004441, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute debattieren wir im Bundestag wieder einmal über den politischen Extremismus in Deutschland. Die Fraktion der AfD hat dazu einen Antrag vorgelegt. Dieser ist, wie von dieser Fraktion nicht anders zu erwarten, widersprüchlich und erfasst die Breite des Problems überhaupt nicht. Aber woher soll die inhaltliche Breite kommen, wenn ein Antrag nicht mal 24 Stunden vor dieser Debatte vorliegt? ({0}) Zum Text. Bereits im ersten Absatz ihres Pamphlets möchte die AfD die vermeintlich größten Gefahren für unsere Gesellschaft benennen: den Linksextremismus, den islamistischen Terrorismus. ({1}) Und noch was? – Genau. Das war’s. Sie vergisst interessanterweise, den Rechtsextremismus zu erwähnen – wie praktisch! –, ({2}) aber das ist nicht verwunderlich, wenn man selber eine rechtsextremistische Partei ist. ({3}) Extremisten als Extremisten zu erkennen und zu benennen ist Kernaufgabe des Verfassungsschutzes. Dies sagte vor einigen Tagen Jörg Müller, Leiter der Abteilung Verfassungsschutz in Brandenburg. ({4}) Neben seinen Kollegen in Thüringen hat nun er als Zweiter die AfD als Beobachtungsobjekt eingestuft und die Alternative für Deutschland damit klar als eine extremistische Partei benannt. ({5}) Ich zitiere weiter: Dem Landesverband sind extremistische Positionierungen von AfD-Mitgliedern zuzurechnen, – und jetzt hören Sie gut zu – die insbesondere die Menschenwürde und das Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip verletzen. ({6}) Und es geht noch weiter: Die Brandenburger AfD hat sich seit ihrer Gründung stetig radikalisiert und wird mittlerweile von Bestrebungen dominiert, die ganz eindeutig gegen unsere freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtet sind. ({7}) Er benennt Kalbitz als einen „erwiesenen Rechtsextremisten“. Auch mir scheint es, dass Nazis wie Höcke, Kalbitz und Co nicht nur ein Flügel der AfD, sondern der ganze Vogel sind. ({8}) Soll ich Ihnen nun, liebe Kollegen von der AfD, die Definition von Glaubwürdigkeit anhand Ihres Antrags einmal erläutern? – Gerne doch. Sie wollen einen „glaubwürdigen Kampf der Politik gegen gewalttätigen politischen Extremismus“ führen, sind aber selbst ein Beobachtungsobjekt des Verfassungsschutzes. Sie können aus meiner Sicht gar keinen Kampf gegen Extremisten führen, wenn Sie selber welche sind und vom Rechtstaat bekämpft werden müssen, und das werden wir mit aller Konsequenz tun. ({9}) Ich glaube, dass Ihnen dieser Umstand bewusst ist. Sie versuchen nun, mit Hinweis auf andere Extremisten von sich selbst abzulenken, vergessen aber dabei: Wer mit einem Finger auf andere zeigt, zeigt mit drei Fingern auf sich. Wie schändlich! ({10}) – Wieso? Der Daumen zeigt ja nicht. – Anstatt sich aber kritisch mit dieser Tatsache auseinanderzusetzen, wollen Sie die öffentliche Debatte lieber auf das Problem des Linksextremismus verschieben. Das lassen wir Ihnen aber nicht durchgehen. ({11}) Weiter zum Text. Sie rufen dazu auf, den Rechtsstaat und die Demokratie schützen zu wollen. Aus meiner Sicht gehört es sich da, auf alle Arten von Extremismus einzugehen, um die ganze Problematik darzustellen, oder? ({12}) Für die AfD ist das nicht nötig. Rechtsextremismus scheint für diese Partei ein nachrangiges Problem zu sein. Es wird einseitig auf die ganz gewiss bestehende Problematik des Linksextremismus und des Islamismus abgestellt. In Ihrem Text zum antiextremistischen Grundkonsens wird – halten Sie sich fest – genau zweimal von Rechtsextremismus gesprochen, nur zweimal in einem Antrag, der vermeintlich alle extremistischen Strömungen verurteilen soll. Wahnsinn! ({13}) Auch werden politisch motivierte Angriffe auf Politiker genannt. ({14}) Allerdings zeigen Sie nur diejenigen Taten auf, die ausschließlich einen linksextremistischen Bezug haben. Peinlich! ({15}) Die AfD war und ist bis heute nicht mutig genug, um beispielsweise den Mord an Walter Lübcke in irgendeiner Weise zu erwähnen und zu verurteilen. Schämen Sie sich! ({16}) Wie soll ich Sie, eine Partei, die unsere freiheitliche demokratische Grundordnung offensichtlich unterminiert, ernst nehmen? ({17}) Sie wollen extremistische Strömungen bekämpfen, tolerieren und unterstützen aber innerhalb der eigenen Reihen Rechtsextremisten. Wie geht das zusammen? Ich musste sogar laut lachen, als ich in Ihrem Antrag gelesen habe, dass Sie sich als Partei – Zitat – „in der Mitte der Gesellschaft“ sehen. Was für eine Heuchelei! ({18}) Werte Kollegen der AfD, ich lasse es nicht zu, dass Sie sich als die wahren Verfechter der Demokratie ausgeben; denn das sind Sie auf gar keinen Fall. ({19}) Ich lasse Ihr Spielchen einfach nicht zu; denn mit Extremismus spielt man nicht. ({20}) Ich akzeptiere nicht, dass Sie mit Ihrer gefährlichen Rhetorik hier im Herzen unserer Demokratie, in diesem Hause, in diesem Deutschen Bundestag unseren Rechtsstaat bedrohen und ihn zum Narren machen wollen. ({21}) Seien Sie lieber still, und machen Sie sich nicht noch lächerlicher. ({22}) Wir als Große Koalition bekämpfen die Antifa genauso hart wie islamistische Terroristen und natürlich auch die Gefahren von rechts. ({23}) Die AfD – das hat sich heute wieder einmal gezeigt – ist selber das Problem in unserem Land und kann daher nicht der Problemlöser sein. ({24}) Ihre Anträge lehnen meine Fraktion und ich deshalb konsequenterweise ab. Vielen Dank. ({25})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Wendt. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Linda Teuteberg, FDP-Fraktion. ({0})

Linda Teuteberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004913, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Schutz von Rechtsstaat und Demokratie ist uns Freien Demokraten wahrlich wichtig. Dafür brauchen wir allerdings keinen einäugigen Antrag wie den heute vorliegenden. Rechtsstaat und Demokratie werden von verschiedenen Seiten gefährdet. Durch Extremisten, seien sie rechts, links oder religiös motiviert. Auf keinem Auge darf der demokratische Rechtsstaat blind sein. ({0}) Wir haben über einen Ihrer beiden Anträge schon im September letzten Jahres debattiert. Was ich allerdings nicht geahnt bzw. mir nicht gewünscht habe: Ich habe damals darauf hingewiesen, dass Redefreiheit gegen Blockaden, gegen widerrechtliche Verhinderung von Veranstaltungen verteidigt werden muss: Dann haben wir im Herbst ein paar Beispiele dafür gesehen. Es ist auch weiterhin wichtig, die Redefreiheit für alle auf dem Boden der Verfassung stehenden Meinungen zu verteidigen. Klar muss auch sein – das gehört dazu, wenn wir die freiheitliche demokratische Grundordnung wirklich ernst nehmen, und das ist auch ein Grund, warum wir den zur Beschlussfassung vorliegenden Antrag ablehnen –, dass auch die Gewaltenteilung zu dieser freiheitlichen demokratischen Grundordnung dazugehört und die Behörden in unserem Land keine konkreten Aufträge aus dem Parlament brauchen, wie sie wen zu beobachten und zu beurteilen haben. Wir vertrauen darauf, dass das nach den Kriterien von Recht und Gesetz geschieht. ({1}) Der Antrag ist allerdings ein guter Anlass, auf ein paar Dinge einzugehen, die tatsächlich klargestellt werden müssen und die wichtig sind. Zum Beispiel das staatliche Gewaltmonopol wirklich zu verteidigen. Wir reden heute mit Blick auf das Mittelalter vom Fehdeunwesen, weil wir Besseres kennen: nämlich den Rechtsstaat mit vollziehender Gewalt. Ohne Selbstjustiz, sondern mit dem staatlichen Gewaltmonopol. Das gilt es zu verteidigen. Aber das geht in einigen Debatten manchmal unter. Nach den Silvesterzusammenstößen zwischen gewalttätigen Demonstranten und Polizei in Leipzig-Connewitz zum Beispiel wurde darüber diskutiert, ob es Polizeigewalt gegeben habe. Aber die Diskussion geht am Thema vorbei. Denn sie setzt voraus, dass die Polizei generell keine Gewalt anwenden dürfe. Die Frage ist doch, ob sie verhältnismäßig und rechtmäßig gehandelt hat. Es begegnen sich ja nicht wie in vorstaatlichen Zeiten zwei Clans, die wie im Buddelkasten darüber streiten, wer angefangen hat zu zanken. Der Staat ist nicht zur Gewaltlosigkeit verpflichtet, er ist dazu verpflichtet, das Recht einzuhalten. ({2}) Deshalb muss das Verhältnis zum Beispiel zwischen den Demonstranten und der Polizei asymmetrisch sein. Allein der Staat darf zwingen. Das ist Inhalt des staatlichen Gewaltmonopols und des Rechtsstaates. Wir tragen in der Familie keine Waffen, weil wir uns schätzen und aufeinander verlassen. Und wir tragen auch sonst keine, weil wir darauf vertrauen, dass die Polizei uns im Ernstfall in unserem Rechtsstaat schützt. Dieses Vertrauen ist wichtig. ({3}) Deshalb: Gewalt, verstanden als durch das Gesetz legitimierter Zwang gegen den Willen der Betroffenen, ist Aufgabe der Polizei. Die Stärke unseres freiheitlichen Rechtsstaates ist, dass jeder Bürger die Möglichkeit hat, die Rechtmäßigkeit von Handlungen durch unabhängige Verwaltungsgerichte überprüfen zu lassen. Das unterscheidet unseren Rechtsstaat von anderen, früheren Staaten auf deutschem Boden. Rechtskräftige Verfügungen der Behörden und Gerichte müssen weiterhin zuverlässig durchgesetzt werden; denn sie sind mehr als Bitten oder Empfehlungen. Die Debatten über Polizeigewalt sind in diesem Sinne regelmäßig verzerrt. Ob ein bestimmter Einsatz rechtlich legitimiert war oder nicht, das ist zu prüfen. ({4}) – Ja, genau. – Und deshalb müssen die Bürgerrechte auch gegen Gewalttätige geschützt werden. Genau das ist Inhalt dessen, was ich gerade beschreibe: Die Polizei ist rechtlich gebunden. Sie muss auch Bürger schützen, wenn andere Bürger nicht bereit sind, sich an die Rechtsordnung zu halten. ({5}) Inhalt unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung – um deren Schutz geht es ja in dieser Debatte – ist, dass jeder daran gebunden ist, seine politischen Ziele nur mit friedlichen, mit rechtmäßigen Mitteln zu verfolgen. Insofern führen diese Diskussionen in die Irre. In die Irre führen uns übrigens auch diejenigen, die meinen, im Zusammenhang mit Polizei von struktureller Gewalt sprechen zu können. Unser Rechtsstaat bietet die Möglichkeit, die politischen Verhältnisse durch Wahlen zu beeinflussen und die Rechtmäßigkeit von Handlungen durch Gerichte überprüfen und rechtswidriges Handeln feststellen zu lassen. Das müssen wir verteidigen und denjenigen, die die Knochen dafür hinhalten, grundsätzlich mit Wertschätzung begegnen. ({6}) Schließlich ist es wichtig, etwas dazu zu sagen, was der Begriff „Antifaschismus/Antifa“ für unseren Kampf um die freiheitliche Demokratie bedeutet. Das ist ein sehr ambivalenter Begriff. Ich finde, man muss unterscheiden und den Ursprung kennen. Denken wir etwa an den Schwur von Buchenwald 1945: Das war ein Antifaschismus, der aus der konkreten Erinnerung, ja, aus der Erschütterung durch das Erlebte erwuchs. Das war zunächst eine überparteiliche und auch internationale Sammelbewegung: gegen den Nationalsozialismus, sein Erbe, und für eine friedliche und freiheitliche Welt. Das war der Anfang. Das ist zum einen zu sehen. Es ist aber auch zu sehen, wie der Begriff zunehmend missbraucht wurde. So wie der Begriff „Faschismus“ vielschichtig ist und wissenschaftlich und politisch unterschiedlich gebraucht wird, gilt das auch für den Begriff „Antifaschismus“. Es gibt eine Vielzahl von Verwendungen im linksextremistischen Sinne, gerne auch als Diffamierung aller abweichenden Ansichten genutzt. Wir haben gerade erst vor zwei Tagen in diesem Haus der Ereignisse am 17. Juni 1953 gedacht; auch da wurden Andersdenkende als faschistische Provokateure diffamiert. Das war eine Legitimationsideologie für die DDR-Diktatur, das ist Agitation linksextremistischer Vorfeldorganisationen, eine Bündnisstrategie linksextremistischer Vorfeldorganisationen und ein Argumentationsmuster bzw. Agitationsfeld sogenannter Autonomer. Deshalb stellt sich die Frage: Welchen Wert hat dieser Begriff für unseren Einsatz für Freiheit und Demokratie? Kaum einen. Er hat keinen analytischen Wert, er hat keinen praktischen Wert. Denn überzeugte Demokraten sind selbstverständlich immer in Opposition zu faschistischen Bewegungen; aber längst nicht alle Antifaschisten sind überzeugte Demokraten. ({7}) Deshalb stellt sich die Frage: Worauf kommt es jetzt eigentlich an? Es kommt auf den positiven Einsatz für unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung an, indem wir dazu stehen – und zwar entschieden, nicht schamhaft und nicht nach irgendwelchen politischen Präferenzen opportunistisch eingeschränkt –, dass jeder seine politischen Ziele nur gewaltfrei, rechtmäßig, demokratisch verfolgt, indem wir jeder Art von Menschenverachtung entgegentreten und sie nicht durch eine andere Menschenverachtung ersetzen oder legitimieren und indem wir für den antitotalitären Konsens einstehen. Gegen andere Antidemokraten zu sein, macht einen selbst noch nicht zum Demokraten. Dazu gehört mehr. Dass man nämlich diese friedliche, freiheitliche Ordnung selbst aktiv gegen all ihre Feinde verteidigt. Dafür werden wir eintreten, auch ohne diesen Antrag. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Teuteberg. – Nächster Redner ist der Kollege Uli Grötsch, SPD-Fraktion. ({0})

Uli Grötsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004282, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich kann gleich an die Ausführungen meiner Vorrednerin anknüpfen. Ich möchte eine Sache ganz am Anfang klarstellen: Doch, Frau Teuteberg, alle Antifaschisten sind selbstredend und ganz automatisch Demokraten, ({0}) weil sie sich gegen Faschismus wenden und weil sie für Demokratie und Freiheit kämpfen. ({1}) Ich möchte auf den zur Debatte stehenden Antrag zu sprechen kommen. In der Überschrift Ihres Antrags heißt es ja: „… Verbot der Antifa prüfen“. Ich habe das mal für Sie gemacht und komme zu dem Schluss, dass es sich bei Ihrem Antrag um eine Themaverfehlung handelt. ({2}) Ich möchte Ihnen kurz erklären, wie ich zu diesem Schluss komme: In der Überschrift steht zwar „Antifa“, aber in dem Antrag geht es um Linksextremismus. Sie hätten in der Schule in Geschichte besser aufpassen sollen; denn Antifaschismus hat nichts mit Linksextremismus zu tun, ({3}) und im Übrigen auch seine Symbole nicht.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Grötsch, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Teuteberg?

Uli Grötsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004282, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja. – Bitte, Frau Teuteberg.

Linda Teuteberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004913, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Grötsch, Sie haben gerade gesagt, dass auch jeder Antifaschist Demokrat sei. Ich finde, das ist eine sehr ernste Frage, wenn es uns mit diesem Kampf für die Demokratie ernst ist. Würden Sie das auch über zum Beispiel Stalin sagen, der mindestens bis 1939 und dann wieder ab 1941 erklärter Antifaschist war, aber bestimmt nicht Demokrat? ({0}) – Könnte ich bitte ausreden? Ich frage das sehr bewusst, auch mit hohem Respekt vor der Geschichte der Sozialdemokraten, die in der Weimarer Republik selbst durch Kommunisten diffamiert wurden. Da sollte davon abgelenkt werden, dass die Republik von rechts und links in die Zange genommen wurde. Deshalb kann ich nur sehr davor warnen, diesen Umkehrschluss zu ziehen, dass jeder Antifaschist auch Demokrat sei. Jeder, der die Geschichte kennt, übrigens auch die im Osten unseres Landes, weiß, dass das nicht der Fall ist. Ihre eigene Partei wurde mit einer Zwangsvereinigung zur SED ebenfalls unter dem Rubrum Antifaschismus unterdrückt. Deshalb sollten wir da sehr differenzieren. ({1})

Uli Grötsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004282, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Um erst mal ganz direkt auf Ihre Frage zu antworten: Nein, Frau Teuteberg, Josef Stalin war kein Antifaschist, und er war kein Demokrat; um das mal zu sagen. ({0}) Aber so geht es Demokraten, so geht es Antifaschisten und vielen anderen: Ihre Symbole und ihre Botschaft wurden oft missbraucht. Wir in der SPD reden uns zum Beispiel mit „Genossinnen und Genossen“ an, ({1}) und das seit 157 Jahren. Davon wird uns nicht abhalten, dass diese Anrede in der DDR missbraucht ({2}) und ad absurdum geführt wurde; wenn Sie mich fragen. So geht es vielen Symbolen und vielen Ausdrücken. So wurde auch der Begriff „Antifaschismus“ in der Geschichte viel zu oft missbraucht, um von eigenen Defiziten und womöglich sogar – wenn Sie Stalin ansprechen – von der eigenen Menschenfeindlichkeit und vom eigenen Extremismus oder ganz persönlichen Faschismus abzulenken. ({3}) Wir waren beim Thema „Antifaschismus im Jahr 2020 und darüber hinaus“, bei seinen Symbolen sowie der Frage, was darunter zu verstehen ist und wer womöglich dahintersteckt. Ich möchte Ihnen bei dieser Gelegenheit erklären, was es damit auf sich hat. Das zum Beispiel ist das Symbol der antifaschistischen Aktion „Storch Heinar“. ({4}) Die kennen Sie von der AfD; gegen die haben Sie diese Woche erst wieder vor Gericht verloren. Das ist das Symbol der antifaschistischen Aktion Eiserne Front, seit 1931. ({5}) Das ist das Symbol unserer Jugendorganisation, die nicht vom Verfassungsschutz beobachtet wird, aber antifaschistische Aktionen durchführt. ({6}) Es wird Sie wahrscheinlich nicht überraschen, was zum Abschluss kommt: Das ist das Symbol einer antifaschistischen Aktion, die es seit 157 Jahren gibt, der SPD. ({7}) Ich finde es alles in allem mehr als schwierig, wenn man verkrampft versucht, den Scheinwerfer in die andere Richtung zu drehen, während man wegen politischen Extremismus selbst im Fokus des Verfassungsschutzes steht. Das hat schon im Kindergarten nicht funktioniert, und das funktioniert auch hier im Deutschen Bundestag nicht, meine Damen und Herren von der AfD. Ihr „Flügel“ ist nachweislich rechtsextrem. Landesverbände der AfD stehen unter Beobachtung durch den Verfassungsschutz. Ihre Jungendorganisation wird beobachtet. Die ganze AfD wird vom Verfassungsschutz überprüft. Wir haben es immer gesagt und sagen es auch heute: Die rechtsstaatliche Fassade kann auch der Bundesverband nicht lange aufrechterhalten. Seien Sie sich dessen ganz sicher. ({8}) Von dem antiextremistischen Grundkonsens, den Sie ja immer fordern – so auch heute wieder –, wenden Sie sich doch Tag für Tag aufs Neue ab. Wer aus Ihrer Sicht ein Linksextremist ist, zeigt zum Beispiel ein Tweet eines AfD-Landtagsabgeordneten: ARD und ZDF seien linksextreme Medien. ({9}) Was fällt Ihnen zu der gesellschaftlichen Debatte im Zusammenhang mit „Black Lives Matter“ ein? Natürlich Rassismus gegen Weiße. Dass also auch Antifaschismus nach Ihrer Lesart linksextrem ist, wundert deshalb wahrscheinlich niemanden mehr. Sie gehen mit diesem Begriff ohnehin inflationär um. ({10}) Das ist unrecht gegenüber allen Antifaschisten, auch in den Reihen der SPD und im ganzen Deutschen Bundestag, die für die Verteidigung von Freiheit ihr Leben gegeben haben. ({11}) Wenn Sie an einer sachlichen Debatte interessiert sind, dann hören Sie auf, Antifaschisten mit randalierenden, plündernden Gewalttätern in einen Topf zu werfen. ({12}) Alle – das behaupte ich jetzt, weil ich glaube, es zu wissen – Parteien des demokratischen Spektrums distanzieren sich selbstredend von marodierenden Banden wie beim G-20-Gipfel in Hamburg oder anderswo. ({13}) Die Antifa, die Sie verbieten wollen, gibt es als Organisation gar nicht, ({14}) weshalb man sie auch nicht verbieten kann. In Wirklichkeit meinen Sie mit Antifa womöglich alles, was hier im Hause links von Ihnen sitzt plus die öffentlich-rechtlichen Medien. Hören Sie auf, von sich selber abzulenken. Ihre Tage sind gezählt. ({15}) Sie sind dieses Hauses nicht würdig. Ihr Antrag ist absurd. Deshalb lehnen wir ihn ab. Vielen Dank. ({16})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Martina Renner, Fraktion Die Linke. ({0})

Martina Renner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004385, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren der demokratischen Fraktionen! ({0}) – Wissen Sie, Herr Wendt, dieser Zwischenruf sagt mehr über Sie als über mich. ({1}) Der vorliegende Antrag wäre auf eine lächerliche Art und Weise absurd, wenn wir außer Acht lassen würden, vor welchem Hintergrund wir die Diskussion heute führen. Als wir vor knapp einem Jahr schon einmal über einen ähnlichen Antrag sprachen, taten wir das wenige Wochen nach der Ermordung von Walter Lübcke. ({2}) - „Ach Gott“ ruft die AfD. – Seitdem sind zwölf weitere Menschen von rechten Terroristen ermordet worden, so viele – bezogen auf den Zeitraum – wie seit dem blutigen Jahr 1980 nicht mehr. Ich meine die Morde und Attentate der „Wehrsportgruppe Hoffmann“ und der Deutschen Aktionsgruppen. Auch Innenminister Seehofer, der wohl über jeden Verdacht erhaben ist, Mitglied der Antifa zu sein, ({3}) erkennt – mittlerweile – unumwunden an: „Die größte Bedrohung geht vom Rechtsextremismus aus.“ ({4}) Wenn uns also der parlamentarische Arm des Rechtsterrors erneut diese überflüssige Debatte aufzwingt, ({5}) sollten wir über das dahinterstehende Kalkül nachdenken und uns klar werden: Es ist eine Beleidigung des Andenkens an Walter Lübcke, Mercedes Kierpacz und alle anderen Todesopfer rechter Gewalt, und es ist ein Versuch, die politische Debatte zu unterbinden, die notwendig ist, um rechten Terror zu stoppen und weitere Tote zu verhindern. ({6}) Meine letzte Rede habe ich mit einem Dank an die Antifa beendet. Das möchte ich heute konkretisieren. ({7}) Das Verbot des rechtsterroristischen Netzwerkes Combat 18 hätte es ohne die Recherche des antifaschistischen Portals EXIF nicht gegeben. Sie waren es auch, die wesentlich dazu beigetragen haben, die falsche Behauptung der Behörden, der mutmaßliche Mörder von Walter Lübcke sei jahrelang nicht mehr in Erscheinung getreten, er sei so etwas wie ein rechter Schläfer, zu korrigieren. Danke EXIF! ({8}) Die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes verbindet die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus mit antifaschistischer Praxis in der Gegenwart. Danke auch an die VVN! ({9}) Magazine wie das „Antifaschistische Infoblatt“, „Der Rechte Rand“ und „Lotta“ beobachten die Entwicklung der extremen Rechten mit Ausdauer, profunder Kenntnis und ehrenamtlichem Engagement. Danke unseren Magazinen! ({10}) In verschiedenen Städten haben sich in den letzten Monaten Migrantifa-Gruppen gegründet, auch als Reaktion auf den rechten Anschlag in Hanau im Februar. Diese Gruppen verbinden antirassistische und antifaschistische Kämpfe und schlagen damit eine dringend notwendige Brücke. Damit stehen sie auch in der Tradition des migrantischen Selbstschutzes gegen rechte Übergriffe in den 90er-Jahren. Danke Migrantifa! ({11}) Antifaschistische Archive wie das apabiz in Berlin oder a.i.d.a. in München sind Wissensspeicher, von denen politische Initiativen ebenso profitieren wie Journalisten und Journalistinnen. Diese Archive sind auch unbequeme Chronisten. Sie lagern Informationen über die Aktivitäten und Netzwerke der extrem Rechten, die Leute wie Björn Höcke und Andreas Kalbitz gerne vergessen machen würden. Aber es wird nichts vergessen. Danke den Archiven! ({12}) Wir vergessen nicht. Wir vergessen nicht die Namen der Ermordeten und auch nicht die Namen der Mörder. Wir wissen über die Netzwerke Bescheid und über die geistigen Brandstifter. Wir kennen die Leerstellen der Ermittlungen und die Versäumnisse der offiziellen Erinnerungen. Wir wissen auch: Unsere Stärke ist die Solidarität. Sie verbindet uns auch hier im Haus, über Parteigrenzen hinweg, und Ländergrenzen kennt sie auch nicht. ({13}) Sie ist die Erinnerung unserer Erfolge und auch das Gedenken an unsere Niederlage – für einen gemeinsamen Kampf, für ein besseres Morgen, für alle. Danke. ({14})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Renner. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Manuela Rottmann, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Manuela Rottmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004866, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Marian Wendt hat ja die verfassungsrechtliche Zuneigung, die die AfD gerade erfährt, ausführlich beschrieben. Deswegen kann ich mir das sparen. Ich kann mich in meinen Ausführungen zu diesen Anträgen und zu der Sinnhaftigkeit dieser Anträge eigentlich auf einen Satz beschränken. Auch der Jugendverband der AfD wird ja schon seit Längerem vom Verfassungsschutz beobachtet, und genau währenddessen bringen Sie es fertig, hier in Ihrem Antrag einen Satz einzubringen, der da lautet: „Jugendorganisationen dürfen nicht zu Einbruchstellen extremistischer Bestrebungen werden.“ ({0}) Das ist schon eine besondere Form des Aberwitzes. ({1}) Ich frage mich ernsthaft, ob die ausschließliche Lektüre der „Jungen Freiheit“ und legale Drogen ausreichen, um so etwas hier einzubringen. ({2}) Von einer Einbruchstelle kann man bei der AfD schon lange nicht mehr reden. Bei Ihnen ist der ganze Damm gebrochen. Den Charakter dieses Antrags kann man wie folgt beschreiben: Jemand versinkt bis zum Hals in braunem Schlamm und deutet auf andere, sie könnten sich die Füße schmutzig machen. ({3}) Alle Anträge der AfD zu diesem Thema beruhen auf einer Falschbehauptung: Antifaschismus sei dasselbe wie gewaltbereiter Linksextremismus. Diese Gleichsetzung verfolgt einen Zweck, und zwar den Zweck, das zivilgesellschaftliche Engagement gegen den Rechtsextremismus mundtot zu machen. ({4}) Dieser Gleichsetzung widerspreche nicht nur ich. Dieser Gleichsetzung widersprechen auch die Verfassungsschutzbehörden. Auf diesen Trick der AfD sollte hier niemand hereinfallen. ({5}) Ja, es gibt gewaltbereiten Linksextremismus, und an dem gibt es nichts zu romantisieren. Wer Polizistinnen und Polizisten das Menschsein abspricht, wer die Durchsetzung politischer Ziele durch Gewalt rechtfertigt, der wird nicht dadurch besser, dass er sich einen Antifaaufkleber aufpappt. Das sage ich nicht nur hier, sondern das sage ich denjenigen, die es angeht, auch ins Gesicht. ({6}) Jede Generation muss diese unabdingbare Voraussetzung der freiheitlichen Demokratie neu lernen, wieder neu lernen. Das ist eben so. Die AfD aber will das zivilgesellschaftliche Engagement gegen Rechtsextremismus zum Schweigen bringen. ({7}) Wir alle müssen uns doch der Tatsache stellen, dass zur Geschichte der Bundesrepublik immer wieder auch eklatantes Versagen des Staates gegen Rechtsextremismus gehört hat. Frau Teuteberg, Herr Wendt, Sie sind viel jünger als ich. Fragen Sie die Veteranen aus der westdeutschen Antifa, ({8}) wie es war, 1992 nach Rostock-Lichtenhagen zu fahren und tagelang ohnmächtig dabei zuschauen zu müssen, wie auf Menschen Brandanschläge verübt wurden. ({9}) Reden Sie mit meinen ostdeutschen Altersgenossen, wie sie die „Baseballschlägerjahre“ der 90er-Jahre überlebt haben. Reden Sie mit ihnen! ({10}) Lassen Sie sich doch einmal beschreiben, wie sehr die Mordserie des NSU und der Umgang der staatlichen Behörden damit das Vertrauen erschüttert hat, dass dieser Staat Menschen jeder Hautfarbe, jeder Herkunft vor dem Rechtsextremismus schützt. ({11}) Es war und ist oft zivilgesellschaftliches Engagement, das den Finger in diese Wunde legt: Die Aufdeckung rechtsextremer Netzwerke – da gebe ich Frau Renner völlig recht, und da wird Ihnen auch jeder Verfassungsschützer unter vier Augen zustimmen – ist bis heute angewiesen auf Informationen, die antifaschistische Akteure der Zivilgesellschaft zusammentragen. ({12}) Reden Sie mit diesen Leuten! ({13}) Und lassen Sie sich auch nicht von der Behauptung abhalten, wer sich selbst als Antifa bezeichne, beziehe sich damit automatisch irgendwie positiv auf die DDR. Auch das ist Quatsch. ({14}) Die Antifa in Ostberlin und in Dresden hat der Stasi auf Flugblättern und Transparenten die Wahrheit entgegengehalten: Warnung! Neonazis auch in der DDR! – Da saßen Sie, Herr Maier, noch ganz bequem in Bremen. ({15}) Parteien, alle Parteien werden immer wieder ihr Verhältnis zum Extremismus und zur Gewalt klären müssen. Klischees über sich selbst oder über andere machen dafür blind. Ja, es gibt auch im linken Parteispektrum Anbiederung an revolutionären Kitsch und Relativierung politischer Gewalt. Und es gibt umso heftigere Auseinandersetzungen um diese Frage. Aber bevor Sie sich hier zu sehr entspannen: Sich selbst als „Partei der Mitte“ zu bezeichnen, wie das Union und FDP tun, ist auch kein Zauberspruch. Auch Sie müssen die Grenze zum Extremismus immer wieder ziehen. Dass Ihnen das nicht immer leichtfällt, haben wir auch in den letzten Monaten gesehen, nicht nur in Thüringen. ({16}) In Deutschland fiel vor langer Zeit öffentlich ein Satz, den ich für grundfalsch halte. Ich möchte ihn mit Erlaubnis des Präsidenten trotzdem zitieren. Ich distanziere mich ausdrücklich davon, aber vielleicht rüttelt er ja rechts und links an der einen oder anderen Selbstgewissheit. Nachdem in der Bundesrepublik eine Synagoge mit antisemitischen Parolen beschmiert wurde und dieser Tat Hunderte weiterer Anschläge folgten, erteilte jemand den Rat: Meinen deutschen Mitbürgern insgesamt sage ich: Wenn ihr irgendwo einen Lümmel erwischt, vollzieht die Strafe auf der Stelle und gebt ihm eine Tracht Prügel. Das ist die Strafe, die er verdient. Wie gesagt, der Rat ist grundfalsch. Er stammt aber nicht von der Antifa. Er fiel in einer Rundfunkansprache von Konrad Adenauer nach der Schändung der Kölner Synagoge 1959. Dass wir es heute besser wissen und besser machen, müssen wir alle immer wieder beweisen. Vielen Dank. ({17})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Rottmann. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Andrea Lindholz, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Andrea Lindholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004342, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der AfD ist inhaltlich dünn, er ist rechtlich fadenscheinig und ist vor allen Dingen politisch durchsichtig. Wir werden ihn daher auch ablehnen. Ja, auch Linksextremismus ist eine große Gefahr für die Sicherheit in Deutschland. Das haben der Angriff auf das ZDF-Team in Berlin vor Kurzem, die Gewalt in Leipzig-Connewitz und auch die Ausschreitungen beim G-20-Gipfel in Hamburg deutlich gezeigt. Die Kernforderung in Ihrem Antrag für ein bundesweites Verbot der Antifa aber zeigt, wie wenig Sie von unserem Rechtsstaat, seinen Gesetzen und auch seinen Gegnern verstehen oder bewusst nicht verstehen wollen. Die Antifa lässt sich – ich gehe davon aus, Ihnen ist das sehr wohl bewusst – gerade nicht unter dem strafrechtlichen Vereinigungsbegriff fassen. Sie ist eben keine feste Organisation, sondern sie besteht aus linken Gruppen, sie besteht aus linksextremistischen Gruppen, und sie besteht auch aus autonomen Gewalttätern. Verbieten lassen sich nur einzelne Gruppen und klar erkennbare Organisationen Unser Verfassungsschutz, der ja auch von Ihrer Seite schon einmal abgeschafft werden sollte – Herr Gauland, da blicke ich Sie an –, beobachtet diese Antifagruppen so, wie er auch Teile der AfD beobachtet. Über 40 Antifagruppen stufen die Landesämter als extremistisch ein. Das Bundesinnenministerium hat zum Beispiel dem Verbot der linksextremistischen Internetplattform „linksunten.indymedia“ zugestimmt und damit gezeigt, dass es den Linksextremismus sehr wohl im Blick hat. ({0}) Politisch durchsichtig ist Ihr Antrag, weil er, wie so oft, natürlich nur Linksextremismus und islamistischen Terror als zentrale Gefahr nennt. Den Rechtsextremismus als das größte aktuelle Sicherheitsrisiko, den blenden Sie wie üblich aus. Auch blenden Sie aus, dass 86 Prozent aller Gewalttaten im Bereich Rechtsextremismus Körperverletzungsdelikte sind. Sie verschweigen, dass Rechtsterroristen Walter Lübcke und in Halle und Hanau zwölf weitere Menschen auf brutalste Art und Weise ermordet haben. Sie verschweigen die rechtsextreme Gefahr vielleicht deshalb, weil der Hauptverdächtige im Mordfall Lübcke nachweislich an Herrn Höcke gespendet und für die AfD Plakate geklebt hat. ({1}) Fakt ist, liebe Kolleginnen und Kollegen von der AfD, dass Sie nicht einmal in der Lage sind, die Extremisten aus Ihren eigenen Reihen zu entfernen – da kann Ihr Parteivorstand beschließen, was er will. Extremisten aber, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, egal ob sie politisch oder religiös motiviert sind, sie dürfen in unserer Gesellschaft, in unserer Mitte keinen Platz haben. Sie wollen die freiheitliche demokratische Grundordnung zerstören. Genau dieser Wille, er scheint nicht nur auf der rechten, sondern auch auf der linken Seite manchmal zweifelhaft. Abgeordnete der Linken in diesem Plenum – ich kann Ihnen das nicht ersparen – und der Grünen im Europäischen Parlament tragen Symbole der Antifa, obwohl sie genau wissen, dass sie damit mittelbar auch die Gewalt von linksextremistischen Gruppen unterstützen. ({2}) Anstatt sich von Gewalt und Extremismus klar zu distanzieren, fordern ganz aktuell die Grüne Jugend, die Jusos und auch die linke Jugendorganisation die Auflösung des Verfassungsschutzes. ({3}) Da haben Sie dann etwas mit der AfD gemein. ({4}) Ich halte es im Übrigen auch für sehr zweifelhaft und wenig hilfreich, wenn die SPD-Vorsitzende via Twitter die Antifa unterstützt und nebenbei – ich glaube, sie würde das nicht noch einmal tun – die gesamte deutsche Polizei als „latent rassistisch“ abqualifiziert. ({5}) Hinterher erkundigt man sich dann, ob der Vorwurf eigentlich richtig ist, hinterher macht man Termine vor Ort. Man sollte vorher denken, bevor man kommuniziert. ({6}) Wir stehen als Demokraten Schulter an Schulter gegen menschenverachtende rechte Hetze, die unser gesellschaftliches Klima vergiftet und die auch die Morde an Walter Lübcke, die Morde in Halle und in Hanau befördert hat. Aber das gibt es nicht nur von rechts. Ein wirklich trauriges Beispiel in dieser Woche war – das haben wir auch im Innenausschuss behandelt – die linke Hetzkampagne in der „taz“, von der bis heute jede Entschuldigung fehlt. Dort wurden in einer Kolumne unter dem Deckmantel der Satire die Polizisten als Müll bezeichnet und gefordert, sie auf einer Deponie zu entsorgen. Menschen, die ihre Gesundheit für uns riskieren und uns alle in diesem Land schützen, werden entmenschlicht und als Müll bezeichnet – so weit ist es gekommen. ({7}) Ich kann Ihnen ganz ehrlich sagen: Ich bin noch immer erschüttert. Ich bin fassungslos und auch fassungslos darüber, dass es dafür bis heute keine Entschuldigung gibt. ({8}) Unsere Männer und Frauen in den Sicherheitsbehörden, sie verdienen unseren Dank, sie verdienen unsere Anerkennung, sie verdienen unseren Respekt, sie verdienen unseren Schutz! Und sie verdienen auch, dass wir uns hinter sie stellen, anstatt sie pauschal zu beleidigen, unter Generalverdacht zu stellen wie jetzt hier in Berlin mit dem neuen Antidiskriminierungsgesetz.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Andrea Lindholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004342, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich will an dieser Stelle noch eines sagen: Auch die Polizei ist nicht fehlerfrei. Sie ist ein Spiegelbild unserer Gesellschaft. Kritik ist erlaubt, egal an welcher Stelle; aber die Frage ist, mit welchem Maß, wie man Kritik übt. Dazu muss ich sagen: Ich finde erschütternd, was wir in den letzten Tagen erlebt haben. Wir sollten bei jedem Maß an Kritik anständig bleiben, und davon nehme ich keine Partei aus. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der AfD, Ihr Antrag ist so dünn, er ist so durchsichtig, dass wir ihn ablehnen werden. Vielen Dank. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Herr Kollege Schnieder, Sie können sich jetzt entscheiden, welcher Ihrer beiden nachfolgenden Redner auf eine Minute Redezeit verzichten muss. Es wäre schön, Sie würden mir Ihre Entscheidung mitteilen. Herzlichen Dank. Nächster Redner ist der Kollege Martin Hess, AfD-Fraktion. ({0})

Martin Hess (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004749, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kollegen! Wir sollten bei aller Differenz in der Sache hier in diesem Hause eines tunlichst unterlassen: Unwahrheiten zu verbreiten. ({0}) Kollege Wendt, das haben Sie heute getan. Sie haben hier ernsthaft behauptet, unsere Fraktion habe bis zum heutigen Tage keine Positionierung zum Lübcke-Mord abgegeben. Das ist nachweislich unwahr. In der Debatte zu diesem Thema war ich Redner, und ich habe diese Tat klar und deutlich verurteilt. Wir sollten bei der Wahrheit bleiben. ({1}) Die Anträge unserer Fraktion sind von vitaler Bedeutung für unsere Demokratie; denn in unserem Land wird der Linksextremismus von Teilen der Politik und Gesellschaft eben nicht klar und deutlich verurteilt, sondern toleriert, verharmlost und sogar unterstützt. Das hat auch die heutige Debatte wieder eindrücklich gezeigt. ({2}) Dieses Ungleichgewicht bedroht zunehmend unsere Demokratie, und das können und dürfen wir nicht zulassen. Die SPD-Chefin Esken solidarisierte sich am 1. Juni auf Twitter mit der Antifa und schrieb, Antifa sei keine Organisation, sondern Antifaschismus sei eine Haltung, die für Demokraten selbstverständlich sein sollte. ({3}) Genauso wird heute wieder argumentiert, auch von Grünen und Linken. Aber damit täuschen und belügen Sie die Bürger dieses Landes. Antifa ist in Wirklichkeit keine demokratische Haltung, sondern eine antidemokratische Gruppierung, die massive Gewalttaten gegen Andersdenkende und Polizeibeamte verübt. ({4}) Die Antifa – das geht auch an Ihre Adresse, Frau Lindholz – ist, bezogen auf regionale Gruppierungen, eben sehr wohl eine Organisation mit Struktur, Sitz und Repräsentanten. Der Verfassungsschutz führt 47 Antifagruppen in seinen Berichten als linksextremistisch auf. Diese Gruppen können und müssen verboten werden, und zwar so schnell wie möglich. ({5}) Denn die Antifagewalt eskaliert immer stärker. In Baden-Württemberg haben linksextremistische Gewalttäter am Rand einer Coronademo einen Demonstranten beinahe getötet. Der Verfassungsschutz Baden-Württemberg sieht in der Häufung der koordinierten körperlichen Übergriffe eine völlig neue Entwicklung, und das Landesinnenministerium warnt vor der gestiegenen Militanz linker Gewalttäter. Frau Renner und andere haben sich auch heute in dieser Debatte wieder mit genau diesen Gewalttätern gemeingemacht. ({6}) Ich frage Sie: Werden Sie das auch dann noch tun, wenn wir die ersten Toten von linker Gewalt beklagen müssen? So lange können und dürfen wir nicht warten. Wir müssen jetzt entschlossen handeln. ({7}) Auch Sie, meine Damen und Herren von der Union, kann ich nicht ausnehmen. Ihre Parteifreunde haben in Mecklenburg-Vorpommern eine bekennende Linksextremistin zur Verfassungsrichterin gemacht, ({8}) eine Frau, die das DDR-Unrechtsregime in Schutz nimmt und die Mauer verteidigt. Das ist ein Schandfleck in der Historie Ihrer Partei. ({9}) Das von uns geforderte Bekenntnis zu einem antiextremistischen Grundkonsens ist das absolute Minimum, das man von einem überzeugten Demokraten erwarten kann. Wer diesem Antrag nicht zustimmt, der verweigert ein klares Bekenntnis zu unseren demokratischen Grundwerten und trägt so die Mitschuld an der Eskalation linker Gewalt. ({10}) Wir dürfen Gewalt niemals als Mittel der Politik akzeptieren, egal von welcher Seite. Verteidigen Sie deshalb unsere Demokratie entschlossen gegen alle Extremisten, und stimmen Sie unserem Antrag zu. ({11})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Ich habe gerade aus der Fraktion der Linken den Begriff „Drecksack“ vernommen. Ist das zutreffend? Gibt es jemanden, der sich freiwillig dazu bekennen möchte? ({0}) - „Hetzer“, okay, sehr gut, ({1}) hart an der Grenze. – Es muss am Alter liegen. Herzlichen Dank. Als nächste Rednerin spricht zu uns die Kollegin Sylvia Lehmann, SPD-Fraktion. ({2})

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren an den Bildschirmen! Der vorliegende Antrag zum Verbot der Antifa beschwört auf sechs Seiten eine linke Gefahr und den antikapitalistischen Sturz unserer parlamentarischen Grundordnung. Die AfD generiert sich wiederholt als Opfer und reiht willkürlich Zahlen wie Fakten aus den Bundesverfassungsschutzberichten aneinander. ({0}) Richtig ist, dass es gewaltbereiten Linksextremismus gibt. Selbst einige meiner Fraktionskollegen waren von linker Gewalt bereits betroffen. ({1}) Selbstverständlich wird derart motivierte Gewalt in unserem Staat verurteilt und bekämpft. ({2}) Richtig ist aber auch, dass es viermal mehr rechts- als linksextremistisch motivierte Straftaten gibt. Die Art und Weise, wie Sie Daten aus den Berichten interpretieren, suggeriert ein Mäntelchen der bürgerlichen Mitte. In Wirklichkeit verbergen sich dahinter Fremdenfeindlichkeit, Menschenverachtung und Rassismus. ({3}) Was spricht noch aus diesem Antrag der AfD? Könnte das schlicht Panik nach der Einstufung des gesamten Brandenburger Landesverbandes als Verdachtsfall durch den Verfassungsschutz sein? Diese Panik hätte ich an Ihrer Stelle auch. ({4}) Erst diesen Montag erklärte das brandenburgische Innenministerium – ich darf zitieren –: Die Brandenburger AfD hat sich seit ihrer Gründung stetig radikalisiert und wird mittlerweile von Bestrebungen dominiert, die ganz eindeutig gegen unsere freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtet sind. ({5}) Als Brandenburgerin mit langjähriger Erfahrung auf Kreis- und Landesebene, auch mit der AfD, hat es für mich eine große politische Bedeutung und ist mir ganz wichtig, dass wir nach Thüringen das zweite Bundesland sind, das diesen Schritt jetzt geht. ({6}) Die Entscheidung des brandenburgischen Verfassungsschutzes ist folgerichtig, längst überfällig und zeigt, dass der Rechtsstaat funktioniert. ({7}) Sehr geehrte Wählerinnen und Wähler der AfD, verschließen Sie vor dieser Gesinnung ({8}) nicht die Augen! ({9}) Entscheiden Sie sich für Demokratie! ({10}) Die AfD will die Antifa verbieten; lüften wir auch noch dieses Mäntelchen. Was verbirgt sich denn hinter dem Begriff „Antifa“? Sind es wirklich nur prügelnde, autoanzündende, randalierende Chaoten, wie der AfD-Antrag zu verstehen gibt? ({11}) Kann Antifa nicht auch ein Lebensprinzip sein? ({12}) Die Definition unserer Jugendorganisation, der Jusos, ist ein Beispiel dafür, dass Antifa und Grundgesetz zusammengehen. ({13}) Ich darf die Jusos zitieren: Wir verstehen unser antifaschistisches Engagement als Akt der Verteidigung gegen … antidemokratische Kräfte jeglicher Art. ({14}) Ich darf noch einen Satz zitieren: Wir engagieren uns im Gegenprotest und stellen ihrer rechten Ideologie zu jeder Zeit unsere Idee einer solidarischen, offenen und gerechten Gesellschaft entgegen. ({15}) Es ist natürlich ein Paradoxon – wir hatten die Debatte anfangs schon; ich möchte es noch einmal aus meiner Perspektive sagen –: Nicht jeder Antifaschist ist automatisch ein Demokrat, doch jeder aufrichtige Demokrat ist automatisch ein Antifaschist. ({16})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, Sie müssen trotzdem zum Schluss kommen.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich verurteile Gewalt, bin 66, bin Antifa. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Lehmann. – Nächster Redner ist der Kollege Alex Müller, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Axel Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004829, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Ich korrigiere Sie ungern. Aber ich heiße nicht Alex, sondern Axel Müller. – Das nur zu Beginn. Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir reden über zwei Anträge der AfD-Fraktion, die beide die gleiche Zielrichtung haben: ein Verbot der Antifa. Jedoch bereits der Titel des Antrags „Demokratie erhalten – Bundesweites Verbot der Antifa prüfen“ entlarvt die Antragsteller einer nicht zu überbietenden Einseitigkeit und Unaufrichtigkeit. Er suggeriert, nur die im politischen Spektrum extrem links angesiedelten Gruppen, zu denen die Antifabewegung zweifelsfrei gehört, seien die Bedrohung schlechthin für die freiheitlich-demokratische Grundordnung. (Dr. Götz Frömming [AfD]: Die anderen können Sie auch verbieten! In Wahrheit ist es doch so, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass alle Extremisten – gleich ob von links oder rechts – die Feinde der rechtsstaatlichen Demokratie sind. Daher darf eine wehrhafte Demokratie – das sind die schmerzhaften Lehren, die wir aus der Weimarer Republik ziehen – weder auf dem rechten noch auf dem linken Auge blind sein. Der Antrag der AfD zeugt jedoch von einer kaum zu überbietenden Einäugigkeit. Beide Anträge schielen nur auf den Extremismus von links und blenden den von rechts nahezu vollständig aus. Das kann man, wenn man politisch so gestrickt ist wie die AfD, objektiv betrachtet, ja sogar noch verstehen: Niemand sägt sich gerne den Ast ab, auf dem er mit drauf sitzt. ({0}) Was ich Ihnen, meine Damen und Herren von der AfD, jedoch nicht durchgehen lasse, sind die Halbheiten, mit denen Sie Ihren Antrag begründen. Zur Untermauerung Ihrer Behauptung, die Gefahren, die vom Linksextremismus ausgingen, stellten heute nach den Gefahren des islamistischen Terrors eine der größten Bedrohungen für Gesellschaft, Demokratie und Staat dar, verweisen Sie auf zwei Verfassungsschutzberichte aus den Jahren 2017 und 2018. Als ehemaligem Richter kommt mir eine Zeugenbelehrung in den Sinn. Der Zeuge wird darauf hingewiesen, dass er a) wahrhaft aussagen muss, also b) nicht Falsches sagen darf, aber c) auch vollständig aussagen muss. Wer wie Sie im Jahre 2020 einen Antrag mit der entsprechenden Zielrichtung eines Verbots der Antifa und linksextremistischer Kräfte stellt, muss doch auch die enorme Zunahme des Linksextremismus begründen können. Der allgemein zugängliche neueste BKA-Bericht über politisch motivierte Kriminalität für das Jahr 2019 spricht eine ganz andere Sprache als Sie in Ihren Anträgen. 2019 waren es 41 177 politisch motivierte Straftaten; 22 342 mussten dem rechten Spektrum zugeordnet werden, und 9 849 hatten einen linken politischen Hintergrund. ({1}) Der Rest konnte nicht zugeordnet werden. Hasskriminalität, aber auch Fremdenfeindlichkeit und die Zahl antisemitischer Straftaten haben in erschreckender Weise zugenommen. Um nicht in das übliche Rechts-links-Schema zu verfallen, das oftmals hier im Hause bemüht wird, sage ich in aller Deutlichkeit: Wir von der Union, aber auch die überwiegende Mehrheit in diesem Land – ich gehe davon aus, auch in diesem Haus – lehnt jede Art von politischem Extremismus ab. ({2}) Daher ist die von der AfD im wahrsten Sinne verkürzte Darstellung der Wirklichkeit unredlich – unredlich schon deswegen, weil sie von den eigenen Verstrickungen in die rechte Szene ablenkt. ({3}) Eines steht doch jetzt schon fest: An Widersprüchlichkeit ist der Antrag nicht zu überbieten. In drei der fünf Schlusspunkte verlangen Sie, dass der Verfassungsschutz gegen die Antifa tätig werden müsse. Nachdem bekannt geworden war, dass der Verfassungsschutz den „Flügel“ und die Junge Alternative als Verdachtsfall einstufen würde, hat der Ehrenvorsitzende der AfD, Herr Gauland, gegenüber der „Bild am Sonntag“ gesagt, dass er die Abschaffung des Verfassungsschutzes für nicht falsch halte. ({4}) Interessant auch, wie sich der rechte Frontmann Höcke zum Verfassungsschutz äußert: Er stuft ihn als „Exekutivorgan für den völkerauflösenden und als pervers zu bezeichnenden Geist eines George Soros“ ein. ({5}) Woher kommt eigentlich Ihr Sinneswandel in Bezug auf den Verfassungsschutz? Zu guter Letzt sind beide Anträge auch instinktlos und das Ergebnis eines ganz bewussten Ablenkungsmanövers. Sie werden in einer Woche eingebracht, in der der Prozess gegen die mutmaßlich rechtsterroristischen Mörder des ehemaligen Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke begonnen hat, in einer Woche, in der der brandenburgische Innenminister gesagt hat, dass der dortige AfD-Landesverband künftig auch der Beobachtung durch den Verfassungsschutz unterliege, nicht zuletzt, weil Herr Kalbitz, AfD-Fraktionsvorsitzender, zusammen mit dem thüringischen FDP- – Entschuldigung, AfD-Landesvorsitzenden Höcke bis vor Kurzem noch eine der Galionsfiguren der äußersten Rechten der AfD war. ({6}) Beide hatten in der Vergangenheit Verbindungen zu rechtsradikalen Kreisen, Herr Kalbitz sogar zur HDJ. Meine Damen und Herren, wir lassen uns vor diesen einseitig beladenen Karren der AfD nicht spannen und lehnen ihre Anträge daher ab. Danke schön. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Axel Müller. Ich bitte, die Vornamenverwechslung zu entschuldigen. Sie kommt wahrscheinlich aus meiner besonderen Verbundenheit zu meinem Kollegen Alex Müller aus der FDP-Fraktion. Also, nehmen Sie das als Zeichen der Wertschätzung meinerseits ({0}) und entschuldigen Sie meine Verwechslung. Als nächster Redner spricht zu uns der Kollege Helge Lindh, SPD-Fraktion. ({1})

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man kann sich seine Groupies nicht aussuchen. Das ist Schicksal. ({0}) Rezo sagt Ihnen ja alles. Rezo hat sich in der Zerstörung der CDU und jüngst der Presse versucht. Die AfD braucht keinen Rezo zur Zerstörung ihrer selbst. Das macht sie immer selbst mit solchen Anträgen. ({1}) Ich gratuliere Ihnen dazu: eine großartige Leistung, die Sie heute wieder vollbracht haben. ({2}) Und das sage ich als jemand, der durchaus auch schon Zielscheibe von Aktionen einzelner Antifaaktivisten geworden ist. Jetzt komme ich zu meiner Beweisführung Ihrer Selbstzerstörung. – These 1: Antifa ist doch so etwas wie das Faktotum der deutschen Stimmungspolitik. Jeder hat eine Meinung dazu, und jeder kann etwas dazu sagen; Antifa und vor allem Anti-Antifa geht immer. So funktioniert das Prinzip, und Sie betreiben Mystifizierung und eine völlig absurde Dämonisierung, manche gelegentlich auch Romantisierung. These 2: Kommen wir jetzt zur AfD. Antifa, wie Sie sie skizzieren, ist doch für Sie Flüchtlinge 2.0, Ihr neues scheiterndes Geschäftsmodell. Als der Anschlag auf mein Büro passierte, erreichten mich von AfD-Abgeordneten und deren Groupies wiederum nur Häme, Selbstgerechtigkeit, Schadenfreude. ({3}) Das ist Ihr Menschenbild. Der Mensch ist der AfD eben nicht Zweck, er ist ihr nur Mittel und Stimmvieh, und das ist der Sinn des heute vorliegenden Antrages. ({4}) Und deshalb stelle ich fest, dass die Bundesrepublik im Ganzen gewiss kein Antifaproblem hat; aber die AfD hat ein vehementes Faschismusproblem in Form ihrer selbst. ({5}) Kommen wir zum nächsten Punkt, These 3: Betrachten wir das doch mal nüchtern. Dann heißt es, dass Antifaschismus zusammen mit Anti-Antisemitismus und Antirassismus die Säule des Kampfes gegen Rechtsextremismus ist, und dies sollte uns alle bis auf gewisse Ausnahmen doch einen. Wenn wir dann ganz ehrlich sind, auch wenn uns das nicht passen mag, ist es doch auch so, dass einzelne Antifaaktionsgruppen, die zum Teil in der Tat ein brüchiges Verhältnis zur Demokratie haben, wesentliche Aufklärungsarbeit gegen neonazistische Netzwerke und Aktivisten leisten. Es ist so. Punkt! ({6}) Andererseits ist es leider auch so – ich habe es ja erlebt –, dass einzelne Aktivisten, die sich selbst als Antifa begreifen, die in einem Akt ziemlich unromantischer und ziemlich widerlicher Selbstgerechtigkeit mein Büro zerlegt haben, dies im Gestus der Menschlichkeit machen und – das ist ihre Tragik – damit eigentlich Menschenverachtung üben. ({7}) Kommen wir jetzt zum Fazit. – Erstens. Die AfD hat ein vehementes Faschismusproblem. ({8}) Zweitens. Die AfD hat ein Antifaproblem; denn viele Aktivisten der Antifa in Städten und Gemeinden stören ihr Wirken, und das stört sie wieder. Glücklicherweise stört sie das. ({9}) Drittens hat die AfD ein – ich sage es mal in Anführungszeichen – „Antifaproblem“. Sie regen sich auf über Staatsfeindlichkeit, Staatsfremdheit, Demokratiefeindlichkeit. Ja, was sind Sie denn? Etwas Staatsferneres, Staatsverachtenderes, Demokratieferneres als Sie selbst kann ich mir gar nicht vorstellen. Sie reden also von sich selbst. ({10}) Damit komme ich zum vierten Punkt – das ist die größte Pointe –: Ungewollt, unabsichtlich gelingt Ihnen was Wahnsinniges; denn Sie machen hier Werbung für den Antifaschismus. ({11}) Und nicht nur das! Sie betreiben für einzelne gar nicht so wichtige Antifagruppen unfassbare Werbung. Sie propagieren sie, Sie mystifizieren sie, sie popularisieren sie.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie können sich bei Ihnen bedanken. Woran Sie leiden, ist ein „Antifantasmus“ oder eine Anti-Fata-Morgana – wie auch immer. Das ist das Syndrom! ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, bitte.

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Antifa ist für die AfD der Strohhalm, an den Sie sich verzweifelt klammern, um in den Umfragewerten endlich wieder zu steigen. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Ich darf die Kolleginnen und Kollegen der AfD-Fraktion darum bitten, darauf zu achten, dass das hier nicht den Eindruck erweckt, als seien wir in einem Fußballstadion oder in einem Konzertsaal. ({0}) Bei aller eigenen Begeisterung, Herr Kollege Lindh, auch für Sie gilt, dass Sie den Wunsch, zum Ende der Rede zu kommen, beachten. Ich wollte Ihnen jetzt nicht das Wort entziehen; das wäre unangemessen gewesen, nachdem Sie Ihre Groupies so begeistert haben. ({1}) Beim nächsten Mal achten Sie aber bitte einfach darauf. Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat das Wort zu einem Vier-Minuten-Beitrag der Kollege Hans-Jürgen Irmer, CDU/CSU. ({2})

Hans Jürgen Irmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004766, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Hochwohllöblicher Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zur DNA der CDU/CSU-Bundestagsfraktion gehört es, auf allen Ebenen Rechtsextremismus, Linksextremismus und Islamismus gemeinsam zu bekämpfen. Das unterscheidet uns von rechts außen und von links außen. ({0}) Es gibt keine guten Radikalen von rechts und keine guten Radikalen von links. Radikal ist per se etwas Schlechtes. ({1}) Wenn Sie von rechts außen, von der AfD – das müssen Sie sich jetzt anhören –, endlich einmal dazu kommen würden, sich in gleicher Intensität mit dem Rechtsextremismus zu beschäftigen wie mit dem Linksextremismus, dann wäre das für Ihre Glaubwürdigkeit eindeutig besser. ({2}) Das Gleiche gilt umgekehrt natürlich auch für die SED-Erben, die ja letzten Endes auf dem Linksaußenauge ebenfalls blind sind. ({3}) Leider gilt das auch für Teile – für Teile; das betone ich ausdrücklich –, von SPD und Grünen. Ich erinnere an die Debatte über die Rote Hilfe. Der Bundesinnenminister hat im November 2018 öffentlich gesagt: Wir prüfen, ob die Rote Hilfe verboten werden muss. – Ich persönlich finde, zu Recht. Das ist eine Organisation, die öffentlich erklärt: Wir unterstützen die letztverbliebenen RAF-Terroristen. – Es sind drei, die noch auf freiem Fuße sind und ihren Lebensunterhalt durch Banküberfälle bestreiten. Die Rote Hilfe stellt sich hin und wünscht den Genossen öffentlich viel Erfolg und alles Gute, und das wird noch unterstützt von den Jusos und Teilen der SPD. Um das sehr deutlich zu sagen: Dafür habe ich kein Verständnis. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus der AfD-Fraktion?

Hans Jürgen Irmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004766, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. Ich möchte mit Verweis auf die Zeit insgesamt nicht davon abhalten, Züge, Busse bzw. den Flieger pünktlich zu erreichen. Frau Kollegin Lindholz und auch Frau Teuteberg haben zu Recht auf den Artikel in der „taz“ hingewiesen. Ich finde das, was dort gelaufen ist, unerträglich, und ich bedanke mich bei der Deutschen Polizeigewerkschaft, der GdP, aber auch bei Pro Polizei Berlin, dass sie öffentlich erklärt haben, hier Klage wegen Volksverhetzung einreichen zu wollen. Ich halte das für richtig. ({0}) Meine Damen und Herren, man stelle sich einmal vor, irgendjemand in dieser Republik hätte öffentlich erklärt, alle Asylbewerber gehörten auf die Müllhalde. Es wäre zu Recht eine Welle der Empörung durch dieses Land gegangen. Ich würde mir wünschen, es ginge eine genau gleiche Welle der Empörung durchs Land, wenn jemand erklärt, 250 000 Polizeibeamte gehörten auf die Müllhalde. Unerträglich! ({1}) In diesen Kontext gehört auch der Strategiekongress der Linkspartei in Kassel vor wenigen Monaten, wo ein Mitglied aufgestanden ist und öffentlich erklärt hat: Das eine Prozent der Reichsten erschießen wir. – Jemand wie Herr Riexinger saß dabei und erklärte lächelnd: Na ja, wir erschießen sie nicht gleich; wir lassen sie für uns arbeiten. – Was ist denn das für ein Menschenbild und für ein Rechtsverständnis! ({2}) In diese Kategorie passt natürlich auch die Antifa. Ich bin schon sehr verwundert darüber, dass die Antifa von Teilen der SPD hier so verniedlichend begriffen und beschrieben wird. Immerhin gibt es 47 Antifaverbände in Deutschland, die vom Bundesamt für Verfassungsschutz bzw. von den Landesämtern für Verfassungsschutz beobachtet werden. Das geschieht doch nicht aus lauter Jux und Tollerei, sondern deshalb, weil es bestimmte Merkmale gibt, die man mit Antifa verbinden muss. Dazu gehören grundsätzlich der Kampf gegen den sogenannten kapitalistischen Bullenstaat, die Abschaffung der FdGO, die Abschaffung der Demokratie, die Etablierung einer sozialistischen Diktatur. Das zweite Merkmal ist Gewalt gegen Sachen und gegen Menschen mit entsprechenden Hilfsmitteln, wie Eisenstangen, Molotowcocktails und anderem mehr. Das ist schlicht und ergreifend nicht mein Verständnis von Demokratie. Das unterscheidet uns diametral. ({3}) Ein letzter Gedanke, weil die Zeit leider wegläuft. Herr Kollege Grötsch, Sie haben gesagt: Jeder Antifaschist ist Demokrat. – Nein, umgekehrt wird ein Schuh draus: Jeder Demokrat ist Antifaschist, wenn er sich an die freiheitlich- demokratische Grundordnung und die bestehenden Gesetze hält. Das entspricht für mich dem demokratischen Grundverständnis – aber nicht umgekehrt! ({4}) Deshalb müssen wir in dieser Republik alles dransetzen, die Linksextremen genauso zu attackieren und zu bekämpfen wie die Rechtsextremen und die Islamisten. Danke schön. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Irmer. – Das Wort für eine Kurzintervention erhält der Kollege Ehrhorn, AfD-Fraktion.

Thomas Ehrhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004707, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege, wenn wir von der Antifa reden, dann reden wir von denen, die an jedem 1. Mai Hunderte von Autos in Brand setzen. Wir reden von denen, die halb Hamburg verwüstet und in Schutt und Asche gelegt haben. Wir reden von denen, die mit Pflastersteinen von Hochhäusern auf Polizisten werfen und damit billigend in Kauf nehmen, dass die Polizisten ihr Leben verlieren. ({0}) Damit und mit vielen anderen Körperverletzungen, mit vielen anderen Terrorakten hat sich die Antifa zur legitimen Nachfolgeorganisation der Rote-Armee-Fraktion gemacht. ({1}) Ich frage deshalb: Gibt es einen Einzigen hier in diesem Hause, der tatsächlich bereit wäre, mal aufzustehen und klar zu sagen: „Diese Organisation, die all das verantwortet, gehört verboten“? Ich habe das hier die ganze Zeit nicht ein einziges Mal gehört. Die einen haben zwei Sätze gebraucht, um auf Rechtsradikalität zu kommen, die Nächsten haben sich für das zivilgesellschaftliche Engagement der Antifa bedankt, und Dritte meinten, diese Leute seien automatisch Demokraten. Etwas Erbärmlicheres habe ich in diesem Hohen Hause noch nie erlebt. ({2}) Und ich kann Ihnen nur sagen: Ich glaube, die Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland wird spätestens am heutigen Tage gemerkt haben: Mit diesem Personal hat die Demokratie in Deutschland fertig. Vielen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Irmer, Sie haben das Mikrofon schon nach oben gefahren. Ich sehe, Sie wollen erwidern. Bitte, Sie haben das Wort.

Hans Jürgen Irmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004766, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Ich will gerne die Gelegenheit wahrnehmen, in der gebotenen Kürze noch zwei Punkte hinzuzufügen: Der Erste. Was die Beurteilung der Antifa und ihrer Auswirkungen angeht, gibt es durchaus eine gewisse inhaltliche Affinität. Ich erinnere daran: Antifagruppen weisen auf ihren Homepages häufig genug darauf hin, dass sie mit Erfolg irgendwelche Veranstaltungen verhindert haben – ob Vorlesungen, wissenschaftliche Vorträge, Veranstaltungen öffentlicher Art oder was auch immer. Das hat mit Demokratie nichts zu tun. Das sage ich sehr deutlich. ({0}) Der Zweite. Herr Kollege, was nicht nur ich, sondern andere auch zu Recht kritisiert haben, ist: Sie wären, insgesamt gesehen, dramatisch glaubwürdiger, wenn Sie sich mit der gleichen Verve, mit der Sie sich zu Recht mit dem Linksextremismus beschäftigen, auch mit dem Rechtsextremismus beschäftigen würden. ({1}) Das unterscheidet Sie von uns. Wir machen es auf beiden Ebenen. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank. – Damit schließe ich die Aussprache.

Dr. Eva Högl (Unbekannt)

Politiker ID: 11003896

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Sehr geehrte Frau Ministerin! Ich möchte zunächst die Gelegenheit nutzen, Ihnen zu sagen, dass es mich sehr freut, dass ich, bereits vier Wochen nachdem ich in das Amt kam, hier als neue Wehrbeauftragte zu Ihnen sprechen darf. Ich beginne mit einem Dank, nämlich mit einem ganz herzlichen Dankeschön an die vielen Soldatinnen und Soldaten, die seit Ausbruch der Coronapandemie Amtshilfe bei der Eindämmung des Virus geleistet haben. Für diese großartige Unterstützung ein herzliches Dankeschön! ({0}) Außerdem danke ich sehr, sehr herzlich den Soldatinnen und Soldaten, die trotz Corona im Inland sowie in den zahlreichen Auslandseinsätzen und einsatzgleichen Verpflichtungen ihren Auftrag erfüllen und ihren Dienst leisten für Frieden, Freiheit und unsere Sicherheit. ({1}) Der Dank gilt auch ihren Familien; denn auch sie schultern diese Belastung. Und ein Dank gilt den zivilen Beschäftigten. Wir beraten heute in erster Lesung den Jahresbericht 2019 des Wehrbeauftragten. Das ist ein Bericht – sehr geehrter Herr Präsident, Sie haben es eben schon gesagt –, der noch aus der Feder meines Vorgängers Dr. Hans-Peter Bartels stammt. Auch ihm gilt mein ganz, ganz herzlicher Dank, und zwar nicht nur für diesen Bericht, sondern für seine engagierte Wahrnehmung des Amtes in den vergangenen fünf Jahren. ({2}) „Zu wenig Material, zu wenig Personal, zu viel Bürokratie“, das sind zusammengefasst die bekannten, seit Jahren bestehenden und leider auch weiterhin aktuellen Probleme der Bundeswehr, die der Bericht beschreibt. Seit 2016, mit den sogenannten Trendwenden „Personal“, „Material“ und „Haushalt“, arbeitet das Bundesministerium der Verteidigung engagiert an einer Verbesserung der Situation. Eine ganze Reihe von Maßnahmen wurden auf den Weg gebracht. Aber im Arbeitsalltag der einzelnen Soldatin, des einzelnen Soldaten konnten jedenfalls 2019 noch kaum konkrete Verbesserungen spürbar sein. Ende 2031 soll die Bundeswehr vollständig aufgestellt und ausgerüstet sein. Das ist noch ein langer Weg. Das beginnt mit dem Personal. 2025 soll das Plansoll von 203 000 Soldatinnen und Soldaten erreicht werden. Auch das ist ein langer Zeitraum – im Jahr 2019 waren es 184 000 aktive Soldatinnen und Soldaten –, wenn wir uns vergegenwärtigen, vor welchen Aufgaben die Bundeswehr steht und dass die seit 2014 auch verdoppelt wurden. Neben den mandatierten Auslandseinsätzen bekommt die Landes- und Bündnisverteidigung in Europa wieder eine größere Bedeutung. Bei dieser Aufgabenfülle wiegt es schwer, meine Damen und Herren Abgeordnete, wenn 20 000 Dienstposten oberhalb der Mannschaftsebene nach wie vor nicht besetzt waren und auch die Neueinstellungen keine signifikante Steigerung bewirken konnten. Die Bundeswehr wird älter, Schritt für Schritt. 2009 betrug das Durchschnittsalter des militärischen Personals 32,3 Jahre. Deswegen sage ich hier sehr deutlich – und das zeigt der Bericht auch –, dass es wichtig ist, dass die Bundeswehr sich als attraktiver Arbeitgeber präsentiert und als solcher wahrgenommen wird; denn das ist sie. ({3}) Sie ist einer der größten Arbeitgeber und auch einer der größten Ausbildungs- und Bildungsanbieter mit 260 Bildungs- und Berufsabschlüssen. Es hat mich jüngst sehr gefreut, zu lesen, dass sie bei Schülerinnen und Schülern auf Platz zwei der Beliebtheit ist. Auch das ist ein gutes Signal. ({4}) Der Anteil von Frauen in der Bundeswehr ist gestiegen, meine sehr geehrten Damen und Herren, auf 12,3 Prozent – langsam, aber stetig. Ich möchte hier hervorheben, dass es wichtig ist, dass Frauen im gesamten Spektrum der Bundeswehr tätig sind, in allen Teilstreitkräften, in Führungspositionen und auch bei den Spezialkräften. Da ist noch Nachholbedarf. Die Bundeswehr ist nach wie vor eine Pendlerarmee. Im Durchschnitt nimmt jede Soldatin und jeder Soldat täglich eine Fahrstrecke von 121 Kilometern zwischen Dienst- und Wohnort auf sich. Es gibt viele gute Ansätze – auch das möchte ich ganz ausdrücklich loben, Frau Ministerin –, diese Härten zu beseitigen. Dazu gehört auch – das finde ich ganz wunderbar – –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Dr. Högl.

Dr. Eva Högl (Unbekannt)

Politiker ID: 11003896

Ja?

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Ich darf Sie kurz unterbrechen – ich halte Ihre Redezeit auch an –, weil mir berichtet worden ist, dass draußen in der Lobby AfD-Abgeordnete andere Abgeordnete dabei filmen, wie sie ihre Karten einwerfen. Ich bitte die Parlamentarischen Geschäftsführer, in der AfD-Fraktion darauf hinzuwirken, dass das unterlassen wird. ({0}) Die Kolleginnen und Kollegen können mich auch außerhalb des Saales in der Lobby hören. Ich weise die Kolleginnen und Kollegen der AfD darauf hin, dass ich von Ordnungsmaßnahmen Gebrauch machen werde, wenn das nicht unterlassen wird. ({1}) Entschuldigung, Frau Dr. Högl. Sie haben das Wort.

Dr. Eva Högl (Unbekannt)

Politiker ID: 11003896

Das Stichwort war „Pendeln“. Ich wollte hervorheben, dass das kostenfreie Bahnfahren eine wirklich sehr gute Maßnahme ist und vor allen Dingen auch zur Sichtbarkeit der Truppe im Alltag führt. ({0}) Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, ist etwas, was in dem Bericht deutlich dargestellt wird, aber auch mir schon bei meinen Gesprächen überall vorgetragen wurde, und zwar nicht nur von jungen Frauen, sondern auch und insbesondere von jungen Männern; denn sie wollen alle ihr Leben partnerschaftlich gestalten und ihre Familie mit ihrem Dienst vereinbaren. ({1}) Hier muss die Bundeswehr noch besser werden. Das betrifft vor allen Dingen – das wurde mir auch vorgetragen – die Planbarkeit. Wir kommen zum Thema Ausrüstung. Die Lücken sind nach wie vor groß; das ist nicht akzeptabel. Es gilt der Grundsatz „Übe, wie du kämpfst“. Dieser Leitsatz ist die Basis für einen erfolgreichen Einsatz. Während wir feststellen müssen, dass die Belastung der Bundeswehr hoch ist, warten die Soldatinnen und Soldaten nach wie vor auf eine spürbare Verbesserung ihres Dienstes. Deswegen ist es ganz dringend erforderlich, dass die materielle Einsatzbereitschaft deutlich erhöht wird. Hier gibt es 2019 noch nicht ausreichend signifikante Fortschritte. ({2}) Fehlende oder nicht einsatzfähige Fahrzeuge, Hubschrauber, Schiffe, fehlende Werkzeuge – unzureichende Ausrüstung – sind leider häufig der Grund für die berechtigte Unzufriedenheit von Soldatinnen und Soldaten. Auch die Infrastruktur muss besser werden: Ausstattung mit WLAN, Betten, Spinde, genügend Unterkünfte, Sporthallen und Schwimmbäder. ({3}) Für diese Aufgaben muss die Bundeswehr natürlich finanziell ausreichend ausgestattet sein. Aber nicht immer liegt es nur am Geld, sondern es liegt auch an der Bürokratie. Und so steht es auch in diesem Jahresbericht wieder, wie schon vorher: Vieles dauert viel zu lange. – Es ist wirklich unverständlich, wenn es bei Beschaffungen lange dauert, selbst bei kleinen Ausrüstungsgegenständen wie Schutzwesten, Gehörschutz und Rucksäcken. Deswegen müssen die Strukturen und Prozesse bei der Beschaffung dringend verbessert werden. ({4}) Das alles hängt zusammen. Jetzt komme ich zum Thema „Innere Führung“, weil es natürlich eine Verbindung zwischen Innerer Führung, Material und Arbeitsbedingungen gibt. 2007 hat das Verteidigungsministerium das Projekt „Innere Führung – heute“ gestartet. In zahlreichen Workshops wurde schonungslos die Lage analysiert, wurden auch viele Reformvorschläge erarbeitet, und das, sehr geehrte Frau Ministerin, gilt es jetzt auch umzusetzen und auf den Weg zu bringen. Diejenigen, die für militärische Auftragserfüllung verantwortlich sind, brauchen mehr Kompetenzen und mehr Ressourcenverantwortung, und da komme ich zu einem aktuellen Thema. Denn für das Prinzip der Inneren Führung und Verantwortungswahrnehmung steht auch ganz deutlich der offene Brief eines Kommandeurs des KSK, Brigadegeneral Kreitmayr, den er anlässlich rechtsextremer Verdachtsfälle in seinem Verband verfasst hat. Ein solches Vorgehen eines Kommandeurs ist vorbildlich und gelebte Innere Führung. ({5}) Ich werde nächste Woche in Calw sein und mich vor Ort informieren und mich mit den Soldatinnen und Soldaten unterhalten. Mir ist eins sehr wichtig – das möchte ich heute auch noch einmal deutlich zum Ausdruck bringen –: Es gibt keinen und es darf keinen Generalverdacht geben, weder gegenüber dem KSK noch gegenüber der gesamten Bundeswehr. Meine Damen und Herren, das ist keine Floskel, sondern es ist mein fester Standpunkt, und das sollte auch unsere Herangehensweise sein. ({6}) Denn die Mehrheit der Soldatinnen und Soldaten – die klare, absolute Mehrheit – übt jeden Tag sehr verantwortungsvoll ihren Dienst aus für unser Land, unsere Demokratie und unseren Rechtsstaat; sie müssen wir stärken. Rechtsextremismus hat in der Bundeswehr keinen Platz und widerspricht Ehre und Kameradschaft. ({7}) Deswegen muss aufgeklärt werden, muss gründlich ermittelt werden. Es müssen Reformvorschläge auf den Weg gebracht werden. Ich begrüße sehr, dass Sie, Frau Ministerin, eine Arbeitsgruppe ins Leben gerufen haben, die genau diesen Auftrag hat. Es ist auch zu begrüßen, meine Damen und Herren – das geht auf Anregungen meines Vorgängers zurück –, dass das BAMAD jetzt auch einen Jahresbericht veröffentlicht. Das war überfällig und ist ein wichtiger Beitrag. Ich komme zum Fazit, zu den Schlussfolgerungen. Es gab im Berichtsjahr 2019 eine ganze Reihe von Verbesserungen für Soldatinnen und Soldaten. Das Positive muss und soll auch hervorgehoben werden – rechtlich, sozial und finanziell. Aber es bleiben auch viele Sorgen: Einsatzbelastung, Ausrüstung, Arbeitszeitfragen, das Pendeln und die Planbarkeit; darüber sprach ich. Die Zahl der bearbeiteten Vorgänge ist im Berichtsjahr leicht zurückgegangen; es sind 3 835. Die Zahl der persönlichen Eingaben liegt bei 2 459. Nicht immer kann Abhilfe geschaffen werden. Nicht alle Probleme können gelöst werden. Aber ich habe schon gesehen: In vielen Fällen helfen Erklärungen und kritisches Nachfragen, um zu Lösungen zu kommen. Ich möchte hervorheben, dass es eine ganze Reihe von Verbesserungen gibt, die ganz konkret auf Anregungen und die Beharrlichkeit meines Vorgängers, Dr. Hans-Peter Bartels, zurückgehen und dank seines Engagements erreicht werden konnten. Nur beispielhaft – keine abschließende Aufzählung – nenne ich die Beschaffung von Schutzwesten, das sogenannte Handgeld für Beschaffungen, die Mandatierung der Mission Gazelle und die jüdische Militärseelsorge. ({8}) Die Coronapandemie wird uns sicherlich noch eine ganze Weile beschäftigen. Ich werde sorgfältig darauf achten, dass einerseits der Schutz der Soldatinnen und Soldaten gewährleistet wird, gleichzeitig aber auch die Grundrechtseinschränkungen verhältnismäßig sind. Der Bericht schreibt, wie wichtig die zahlreichen Gespräche und Eingaben sind. Sie sind eine gute Grundlage dafür, an der Lösung der Probleme zu arbeiten, Missstände aufzuzeigen und sich darum zu kümmern. Meine Damen und Herren, sehr geehrte Abgeordnete, auf dieser Basis werde auch ich das Amt ausüben, und auf der Basis der Eingaben und der vielen Gespräche werde ich mich mit meiner ganzen Kraft kümmern. Ganz zum Schluss danke ich noch einmal. Ich danke ganz herzlich all denjenigen, die zum Jahresbericht beigetragen haben, vor allen Dingen noch einmal den Soldatinnen und Soldaten. Und ich danke an dieser Stelle ganz, ganz herzlich den Kolleginnen und Kollegen im Amt der Wehrbeauftragten für ihr Engagement. Vielen Dank. ({9})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Dr. Högl. – Herr Dr. Bartels war und ist bedauerlicherweise nicht bei uns hier im Haus. Offensichtlich scheint das Demonstrationsgeschehen in Berlin die Erreichbarkeit des Reichstages vor erhebliche Probleme zu stellen. Das ist vielleicht auch für diejenigen interessant, die zu gegebener Zeit den Reichstag verlassen wollen. Richten Sie sich darauf ein, dass das etwas schwieriger wird, als es vorher vielleicht gedacht war. Nächste Rednerin ist für die Bundesregierung die Bundesministerin der Verteidigung, Annegret Kramp-Karrenbauer. ({0})

Annegret Kramp-Karrenbauer (Minister:in)

Politiker ID: 11003023

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete! Sehr geehrte Frau Wehrbeauftragte! Ich möchte mich an dieser Stelle ganz herzlich, auch wenn er heute nicht hier ist, beim Vorgänger von Ihnen, Frau Högl, für seine Arbeit bedanken, die er in den vergangenen Jahren im Interesse der und für die Männer und Frauen in der Bundeswehr geleistet hat, und für seinen Bericht, der ja heute von Ihnen vorgestellt worden ist. Ich möchte mich bei Ihnen, Frau Högl, ganz herzlich dafür bedanken, dass Sie seit der Übernahme des Amtes so engagiert in die Bundeswehr eingestiegen sind, dass Sie uns auch jetzt mit Rat und Tat zur Seite stehen, wo es darum geht, ein großes Problem in der Bundeswehr – ich will das an dieser Stelle noch einmal deutlich sagen – aufzuklären und die richtigen Schlüsse zu ziehen, und zwar genau deshalb, weil es gegen die überwiegende Mehrheit der Soldatinnen und Soldaten in dieser Bundeswehr keinen Generalverdacht gibt und keinen Generalverdacht geben wird. Deswegen sind wir es gerade diesen Soldatinnen und Soldaten, diesen Männern und Frauen, die ohne Zweifel auf dem Boden des Grundgesetzes stehen, die ohne Zweifel, ohne Wenn und Aber für die Werte dieses Grundgesetzes eintreten, schuldig, dass all diejenigen, die das nicht tun, in der Bundeswehr erkannt werden und dort, wo es geht, aus der Bundeswehr entfernt werden und dass wir alle Rahmenbedingungen, die ein solches Verhalten begünstigen, abstellen. Das ist die Aufgabe, die wir haben, ({0}) und dieser Aufgabe stellt sich auch das Ministerium. Ich habe Ihnen, meine sehr geehrten Damen und Herren, vor wenigen Tagen im Verteidigungsausschuss den gegenwärtigen Stand der Ermittlungen und der Arbeiten in der von der Wehrbeauftragten genannten Arbeitsgruppe vorgestellt. Ich gehe davon aus – das ist das feste Ziel –, dass wir noch in der letzten Sitzungswoche vor der Sommerpause die Arbeitsergebnisse auf dem Tisch haben werden. Das gilt auch – ich will das an dieser Stelle aus aktuellem Anlass ansprechen – für den bekanntgewordenen Fall eines Mitarbeiters des MAD, der Informationen weitergegeben hat. Er ist mittlerweile suspendiert. Die Strafanzeige ist gestellt. Die disziplinaren Vorermittlungen laufen. Auch hier werden wir nicht nur den Einzelfall betrachten, sondern uns auch anschauen, ob es möglicherweise weiter gehende Verbindungen gibt. Meine sehr geehrten Damen und Herren, das ist deshalb wichtig, weil die Männer und Frauen der Bundeswehr darauf angewiesen sind, dass sie Rückhalt haben, dass sie akzeptiert werden – Rückhalt nicht nur hier im Bundestag. Sie sind eine Parlamentsarmee, und diese Parlamentsarmee braucht den Rückhalt des Bundestages. Sie braucht ihn dann, wenn sie weiß, dass sie in Einsätze geht. Deswegen ist es gut und richtig, dass wir das Verfahren der Mandatierungen haben. Sie braucht ihn dann, wenn es darum geht, dass wir als Haushaltsgesetzgeber die Weichen so stellen, dass Mängel, die im Bericht des Wehrbeauftragten/der Wehrbeauftragten zu Recht kritisch angesprochen worden sind, nämlich die Frage der Ausstattung und der Ausrüstung, der Einsatzfähigkeit, der Einsatzbereitschaft, auch entsprechend abgestellt werden können. Und sie braucht und alle Aufrechten in der Bundeswehr brauchen auch in den nächsten Wochen die Unterstützung des Bundestages, wenn es darum geht, die geplanten Änderungen im Soldatenrecht zügig zu beraten und umzusetzen, damit wir nämlich all diejenigen, von denen ich eben gesprochen habe, auch wenn sie länger in der Bundeswehr sind, nämlich bis ins achte Jahr hinein, aus der Bundeswehr entfernen können, wenn dies der Anlass gebietet. Hier bitte ich Sie ganz herzlich um Ihre Unterstützung und um Ihr Mittun. Meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist eben der Bereich „Innere Führung“ angesprochen worden, und das ist aus meiner Sicht ein sehr wesentlicher Teil des Berichtes der Wehrbeauftragten. Denn ja: Wir können Soldatinnen und Soldaten ausbilden, wir können ihnen die neuesten Dinge mitgeben. Aber die entscheidende Frage für die Bundeswehr als Ganzes und für jeden einzelnen Soldaten und für jede einzelne Soldatin ist die Frage der Haltung. Nur wenn die Soldatinnen und Soldaten die richtige Haltung zeigen, nämlich eine, die auf dem Grundgesetz fußt und die die Werte dieses Grundgesetzes auch wirklich nach außen ausdrückt, nur wenn das der Fall ist, dann ist die Bundeswehr auch in Zukunft eine Bundeswehr aus der Mitte der Gesellschaft, eine Armee, die in dieser Gesellschaft ihren Rückhalt und ihre Akzeptanz hat. ({1}) Deswegen wollen wir insbesondere die Maßnahmen, die im Bereich der Inneren Führung als Reformen aufgesetzt worden sind, weiter vorantreiben. Manches davon, was im Bericht des Wehrbeauftragten angesprochen worden ist, haben wir schon in die Umsetzung hineingegeben, etwa das Handgeld für die Kommandeure, aber anderes wartet noch auf eine Umsetzung. Wir haben hier eine große Aufgabe vor uns, und diese Aufgabe muss schneller und muss mit mehr Dynamik umgesetzt werden, als das bisher der Fall war. Der Jahresbericht der Wehrbeauftragten ist auf der einen Seite ein Bericht, der deutlich macht, wo wir praktische Mängel sehen. Er spiegelt wider, wo sich Soldatinnen und Soldaten an die Wehrbeauftragte als Institution wenden, wo sie ihre eigenen Beschwerden und Besorgnisse haben, und er spiegelt wider, wo wir strukturelle Probleme haben. Ein ganz bestimmter Einzelfall ist vor Kurzem, hier bei meiner Regierungsbefragung im Januar, von der Abgeordneten Ulla Schmidt angesprochen worden. Sie haben damals aufgebracht, dass ein Stabsoffizier in unsäglicher Weise behinderte Menschen vor der Truppe herabgewürdigt hat. Diesen Fall haben wir aufgegriffen und Ihnen einen ausführlichen Brief dazu geschrieben. Ich will an dieser Stelle ganz deutlich sagen: Der Pflichtverstoß dieses Soldaten war eklatant, und dieser Fall wurde richtigerweise und der Schwere des Vergehens entsprechend dem Truppendienstgericht vorgelegt. Die getroffene richterliche Entscheidung zu bewerten, steht mir als Verteidigungsministerin nicht zu. Jenseits des Disziplinarverfahrens aber wurde nicht schnell und nicht konsequent genug gehandelt. Wir haben uns darum gekümmert, und wir haben sichergestellt, dass, wer als Vorgesetzter die Menschenwürde nicht achtet, nicht in Führungsfunktionen eingesetzt werden kann. Das ist in diesem Fall auch so verfügt worden. Auch hier sehen wir, dass Dinge, die im Bericht aufgegriffen werden, uns helfen, in der Bundeswehr insgesamt besser zu werden. Deswegen ist dieser Bericht notwendig, und deswegen bin ich für diese Hinweise auch dankbar. ({2}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, es geht aber auch um strukturelle Fragen. Es geht um grundlegende Anregungen und Anstöße, die wir aufnehmen, zum Beispiel, indem wir die Bausteine unseres Engagements in der Sahelzone mit der neuen Mandatierung besser zusammensetzen, um unser Ausbildungsengagement in Niger dabei mit berücksichtigen zu können. Völlig zu Recht pocht die Wehrbeauftragte auf die Umsetzung der Maßnahmen aus dem Programm „Innere Führung Heute“; das habe ich eben schon erwähnt. Was aber besonders drängend ist und was in dem Bericht angemahnt wird, ist, dass die Modernisierung der Bundeswehr schneller in der Truppe ankommen muss. Deswegen haben wir Anfang dieses Jahres die Initiative Einsatzbereitschaft ins Leben gerufen. Erste Maßnahmen und Auswirkungen können Sie dem Bericht zur Einsatzbereitschaft entnehmen; der Generalinspekteur hat ihn gerade vorgelegt. Ich bin sehr stolz darauf, was unsere Männer und Frauen leisten, insbesondere in Zeiten von Corona. Sie stellen die Landes- und Bündnisverteidigung sicher. Sie sind treue Alliierte und Gefährten in den internationalen Missionen. Und sie helfen in Zeiten von Corona ganz aktuell und unbürokratisch bei den Vorfällen, die wir rund um Gütersloh, rund um die Schlachthöfe und die Fleischfabriken dort erleben. Das heißt, wir können uns, die Bürgerinnen und Bürger können sich auf die Bundeswehr, können sich auf ihre Soldatinnen und Soldaten verlassen. Ich darf mich herzlich für die Unterstützung für unsere Männer und Frauen bedanken, die Sie ihnen gewähren, und ich darf mich herzlich bei der Wehrbeauftragten für ihre Arbeit und für den Bericht bedanken; denn dieser Bericht hilft uns dabei, dass die Bundeswehr noch besser wird, als sie es schon ist. Herzlichen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Bundesministerin. – Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, weise ich darauf hin, dass in sieben Minuten die namentliche Abstimmung zum vorhergehenden Tagesordnungspunkt geschlossen werden wird. Ich weise den nachfolgenden Redner darauf hin, dass er, da ich ihn um 12.40 Uhr unterbrechen muss, um das festzustellen, eine um eine Minute längere Redezeit bekommen wird. Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Berengar Elsner von Gronow, AfD-Fraktion. ({0})

Berengar Elsner von Gronow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004708, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bericht des Wehrbeauftragten fand und findet zunehmend mehr Beachtung. Das ist sicherlich auch ein Verdienst des letzten Wehrbeauftragten. Und auch wenn es für viele gefährlich ist, Zustimmung von der AfD zu bekommen, darf ich wohl sagen, dass wir die Arbeit von Herrn Dr. Bartels geschätzt haben, offenbar wesentlich mehr als seine eigene Partei. ({0}) Herr Dr. Bartels hat Ihnen, Frau Wehrbeauftragte, große Fußstapfen hinterlassen. Trotzdem er SPDler war, hat er die für sein Amt unbedingt notwendige Neutralität ({1}) stets über Parteizugehörigkeit oder Ideologie gestellt. Ich hoffe, Frau Dr. Högl, dass das auch Ihr Anspruch ist, dass auch Sie Ihr Amt als Anwalt der Soldaten verstehen und zum Wohle der Truppe nicht dem allgemeinen und undifferenzierten Rausch vom Kampf gegen rechts auch in der Bundeswehr anheimfallen. Denn leider erleben wir ganz aktuell, dass es anscheinend nur noch ein Thema im Zusammenhang mit der Bundeswehr gibt: den Vorwurf des Rechtsextremismus. Das ist zwar ein Trend unserer Tage, zumal sich damit prima von den freiheitsfeindlichen linken Tendenzen in der Politik Deutschlands und der EU ablenken lässt; er wird aber unserer Bundeswehr und unseren Soldaten nicht gerecht. Überlassen Sie daher kritisch den richtigen und notwendigen Kampf gegen jeglichen Extremismus in der Bundeswehr den zuständigen Stellen. Schützen Sie vielmehr unsere Soldaten vor unzulässigen Verdächtigungen von innen wie außen. Verhindern Sie, dass im unangemessenen Überschwang Unschuldige getroffen werden. Die Verve, mit der Sie in diesem Zusammenhang bereits vorgetragen haben, hat mich überrascht und lässt mich im Sinne der Soldaten hoffen. Gerne werden wir Sie hierbei aufmerksam begleiten. Man muss es sagen: In weiten Teilen der Truppe ist die Stimmung bescheiden. Trotzdem leistet sie weiter treu ihren Dienst. Ohne ins Detail zu gehen, finden sich viele Gründe hierfür im Bericht. Die jüngsten Entwicklungen sorgen aber zusätzlich bei vielen Soldaten für weitere Demotivierung. War es in der Vergangenheit meist so, dass man sich besser nicht zu laut über Mängel und Missstände äußerte, Einschränkungen oder gar unklar meldete, kommt jetzt das Gefühl dazu, einer Art Hexenjagd von Linken und ihren Erfüllungsgehilfen ausgeliefert zu sein, seine Meinungen und Überzeugungen nicht mehr frei äußern zu können, jedes Wort auf die Goldwaage legen zu müssen. Alte Ostkameraden befürchten hier gar eine Entwicklung hin zu Verhältnissen wie in der DDR. So weit ist es zum Glück noch nicht, aber: Wehret den Anfängen! Denn Gesinnungsdiktatur, einseitige politische Indoktrinierung, Politoffiziere, Bestrafung von zulässigen, aber nicht den Vorgaben entsprechenden Ansichten wie im National- oder Realsozialismus darf es in den Streitkräften Deutschlands nie wieder geben. ({2}) Unsere Soldaten versehen ihren Dienst, weil sie freie Bürger in einem freien Land sind und das auch bleiben wollen. Dazu gehören aber auch die freie Meinung, solange sie sich innerhalb der Grenzen unserer FdGO bewegt, und die unbeeinflusste Teilhabe an unserer Parteiendemokratie. Lese ich aber den Brief des Kommandeurs KSK an die Truppe, steht dort sinngemäß: Ein Soldat, der nicht jederzeit und überall aktiv für die Verfassung eintritt, wer gar mit dem rechten Spektrum sympathisiert, der sei kein Kamerad, der solle gehen, oder er werde gesucht und entfernt werden. ({3}) In der Sache kann es keine zwei Meinungen geben; denn jedwede Extremisten, egal welcher Couleur, haben in der Bundeswehr nichts zu suchen; ganz klar. ({4}) Mit seinen undifferenzierten Formulierungen schießt der Kommandeur KSK aber über das Ziel hinaus, und das immerhin mit voller Unterstützung der Verteidigungsministerin. Denn zum einen frage ich mich: Wer soll denn dann noch Soldat werden, gar Kommandosoldat? Der politisch korrekte, linke Politikaktivist? ({5}) Denn „links“ und „rechts“ sind Richtungen; die Mitte hingegen ist per Definition ein Punkt und nicht die von so vielen hier herbeigeredete kulturlose Wohlfühlzone der selbsterklärten Guten. ({6}) – Ja, es ist richtig. Nimmt man also das meines Erachtens überholte klassische politische Schema hervor, hätte niemand im Spektrum rechts vom Punkt der Mitte noch etwas in den Streitkräften zu suchen. Ich bin mir sicher: Das würde in der heutigen CDU oder sogar in der FDP noch einige treffen. Die Herausforderung, unter Linken Nachwuchs für die Bundeswehr zu rekrutieren, möchte ich mir gar nicht erst ausmalen. ({7}) Zum anderen frage ich mich, wie ernst denn § 15 Absatz 4 Soldatengesetz genommen wird, in dem steht: „Ein Soldat darf als Vorgesetzter seine Untergebenen nicht für oder gegen eine politische Meinung beeinflussen.“ Viel eindeutiger als im vorliegenden Fall kann eine Beeinflussung zum Nachteil einer politischen Meinung wohl kaum sein. Frau Wehrbeauftragte, ich bin gespannt, wie Sie damit umgehen, wenn diesbezüglich eine Eingabe an Sie erfolgt.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, darf ich Sie bitte kurz unterbrechen? Es tut mir leid, aber ich muss jetzt meinen Pflichten nachkommen. Ich unterbreche kurz die Aussprache und komme zurück zu Tagesordnungspunkt 27 b. Die Zeit für die namentliche Abstimmung ist gleich vorbei; es handelt sich noch um genau 50 Sekunden. Deshalb frage ich: Ist noch ein Mitglied des Hauses im Saal oder in der Lobby anwesend, das seine Stimme noch nicht abgegeben hat? – Es läuft noch einer – immerhin – aus der AfD-Fraktion. Sehr schön. ({0}) – Gut. Bei meinen Leuten wundert mich das nicht, um das mal so zu sagen. Ist die Stimme in der Lobby abgegeben worden? – Das ist der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung in genau 20 Sekunden. – Es geht jetzt die Ansage nach draußen: ({1}) – Genau, rien ne va plus! – Die Abstimmung ist geschlossen. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben. Herr Kollege Elsner von Gronow, entschuldigen Sie bitte die Unterbrechung. Sie haben das Wort.

Berengar Elsner von Gronow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004708, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Wie gesagt, Frau Wehrbeauftragte, ich bin gespannt, wie Sie damit umgehen, wenn Sie diesbezüglich eine Eingabe erhalten. Ich hoffe, Sie schaffen es, sich von Ihrer bisherigen – wie bei uns allen – ideologischen und politischen Orientierung zu emanzipieren: im Sinne Ihres Amtes, im Sinne der Gesetze und besonders im Sinne unserer Soldaten. Dass die Soldaten, die in der Bundeswehr ihrem Land, also allen Deutschen in diesem Sinne, dienen, keinen Beruf gewählt haben wie jeden anderen, sollte jedem klar sein. Bereit zu sein, schlimmstenfalls das höchste Opfer für seine Familie, seine Freunde, selbst für unbekannte Landsleute, für die Freiheit und Sicherheit der Deutschen, ja sogar unserer Bündnispartner zu erbringen, ist aller Ehren wert. Und das darf nicht nur ein Lippenbekenntnis von interessierten Politikern und kleiner Kreise sein. Unsere Soldaten verdienen Respekt und Anerkennung ihres Dienstes von der ganzen Gesellschaft, für die sie ihn leisten. Angesichts der vielen Entbehrungen und hohen Belastungen, denen sich Soldaten nicht nur im Grunddienst, sondern auch in Krisen und besonders natürlich im Einsatz ausgesetzt sehen, brauchen sie unser aller Unterstützung. Nicht nur der Dienstherr, nein, unsere gesamte Gesellschaft muss die Rahmenbedingungen schaffen, damit sie nicht Fremdkörper sind, sondern notwendiger und geachteter Teil unseres Gemeinwesens. Was sie hingegen nicht brauchen, sind pauschale Unterstellungen und Verunglimpfungen, wie es bei den Linken lange Usus ist, wie es sich aber mittlerweile unter deren Druck bis ins vormals bürgerliche Lager hineinfrisst. Der Beruf des Soldaten ist eben nicht nur ein Job, wie es mittlerweile vielfach dargestellt und beworben wird. Er braucht daher mehr sozialen Kitt, Bräuche, Traditionen, Identifikation, so wie in jeder Armee der Welt. Geben wir also den Soldaten etwas, woran sie sich festhalten können, das ihnen Zusammenhalt und Orientierung gibt, nicht nur eine finanzielle oder intellektuelle, sondern zuletzt auch eine moralische und emotionale Legitimation für ihr Handeln; denn der reine Ordnungsrahmen, Material und Sold, auch der vielpostulierte, abstrakte sogenannte Verfassungspatriotismus reichen dafür nicht. Ein lebendiger, echter und gelebter Patriotismus, also die Liebe zu unserem freiheitlich-demokratischen Deutschland mit all dem, was dieser Begriff umfasst, wäre ein besseres Motiv für unsere Soldaten, eine bessere Begründung für all ihre Opfer. Und nicht zuletzt wäre das Zulassen und Befördern dieser Art des anständigen Patriotismus der beste Schutz gegen jede Form des Extremismus. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Eberhard Brecht, SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Eberhard Brecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000254, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Dr. Högl! Frau Bundesministerin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! 45 Milliarden Euro gibt die Bundesrepublik Deutschland in diesem Jahr für Verteidigung aus. Das sind immerhin 9 Prozent des Gesamthaushaltes. Angesichts dieser enormen Summe tragen wir alle, das BMVg mit der Bundeswehr, das Bundeskabinett, der Deutsche Bundestag und hier insbesondere natürlich die Verteidigungs- und Haushaltspolitiker, eine ganz besondere Verantwortung gegenüber dem Steuerzahler, aber natürlich auch gegenüber den Angehörigen der Bundeswehr. Der Bericht der/des Wehrbeauftragten sollte aber nicht nur Mängel beschreiben, sondern auch durch die Nennung von Erfolgen die Entscheidungsträger der Bundeswehr zu weiteren Reformen ermutigen. Frau Bundesministerin hat einige dieser Erfolge schon benannt: gesetzliche Verbesserungen für die Soldatinnen und Soldaten – von der Zulagenhöhe über Trennungsgeldregelungen hin bis zu neuen PTBS-Therapieformen. Positiv zu bewerten ist auch, dass sich nach einem langen Abwärtstrend die Zahl der Neueinstellungen von Zeitsoldaten und freiwillig Wehrdienstleistenden stabilisiert hat, wenn auch die Personalmisere damit keineswegs behoben ist. Digitalisierung kann helfen, Effektivität und Schnelligkeit zu erhöhen. Die Bundeswehr macht in diesem Bereich nicht alles, aber vieles richtig. Und schließlich dürfen wir alle stolz darauf sein, dass es nun endlich eine rechtliche Grundlage für die Militärseelsorge der circa 300 jüdischen Angehörigen der Bundeswehr gibt. Nun sollten wir uns auch darum bemühen, auch wenn es schwierig ist, dass für die 3 000 Soldatinnen und Soldaten muslimischen Glaubens eine ähnliche Regelung zustande kommt. ({0}) Dagegen stehen nun die vom Team Bartels benannten Missstände. Ich werde jetzt auf das Thema Rechtsextremismus nicht eingehen; dazu wird mein Kollege Dr. Felgentreu noch einige Worte verlieren. Aber genauso wichtig ist es, dass wir uns zu den anderen Fragen noch mal äußern. Es ist einfach nicht akzeptabel, wenn der Deutsche Bundestag zwischen 2014 und 2019 einerseits einem Aufwuchs des Einzelplans 14 von 32 auf 45 Milliarden Euro zugestimmt hat, die Einsatzbereitschaft aber andererseits nicht nennenswert gesteigert werden konnte. Und dieser Missstand trägt nicht gerade dazu bei, die Bundeswehr für junge motivierte Menschen attraktiv zu machen. Ich bin auch ein Stückchen müde: Jahr für Jahr wird der Bericht des Wehrbeauftragten so kommentiert, aber die Einkaufspraxis ändert sich nicht, und man kann am Ende diese Misere nur noch sarkastisch kommentieren. Die Bundeswehr leistet in der Coronakrise zivil hervorragende Hilfe. Nun könnte man ja auf die Idee kommen, Pakete von Amazon und Co per Luftfracht mit der Bundeswehr zuzustellen, um die am Limit arbeitende Logistikbranche zu unterstützen. Kunden, deren Paket mit dem Transportflugzeug A400M zugestellt würde, müssten sich dann allerdings auf eine Lieferzeit von 148 Monaten einstellen. Da wären all jene Onlineshopper im Vorteil, die auf eine Zustellung mit dem Transporthubschrauber NH90 gesetzt haben. Sie erhielten ihre Expressbestellung schon nach 134 Monaten. Das sind nämlich die gegenwärtigen Verspätungen beim vollständigen Einsatz der genannten Fluggeräte. Auch der Schützenpanzer Puma und der Kampfhubschrauber Tiger sind derzeit keine gefährlichen Raubtiere, allenfalls kränkelnde Hauskatzen. Der für die Gesundheit der Soldaten zuständige Sanitätsdienst befindet sich aufgrund massiver Materialdefizite selbst im Krankenstand. Und im Fall des seit acht Jahren undichten Tauchzentrums im Marinestützpunkt Eckernförde scheinen die Verantwortlichen abgetaucht zu sein. Wenn man in wolkenfreien Nächten in den Winterhimmel schaut, wird man ohne Mühe das Sternbild des Orion erblicken. Nach dem P-3C Seefernaufklärer Orion wird man jedoch vergeblich Ausschau halten. Technische Risiken können nicht abgestellt werden, sodass wir in Zukunft am Nachthimmel anstelle des Orion nur ein schwarzes Loch – im militärischen Terminus: eine Fähigkeitslücke – erblicken werden. Hoffnungen gibt es für die Fregatten vom Typ F125, von denen immerhin zwei inzwischen in den Dienst übernommen wurden. Allerdings hinkt das Projekt auch hier stattliche 64 Monate hinter der Ursprungsplanung hinterher. Die Misere des Beschaffungswesens unserer Streitkräfte ist leider nicht nur Gegenstand parlamentarischer Debatten, sondern hat schon lange die deutsche Öffentlichkeit erreicht. So wird gefrotzelt, dass die kurzzeitig diskutierte Anschaffung eines europäischen Flugzeugträgers unrealistisch sei, weil ja ein solches Waffensystem nur eine Kombination der „Gorch Fock“ und des neuen Berliner Flughafens sei. Genug der Satire! Wir alle können kein Interesse daran haben, wenn Steuermittel nicht effektiv eingesetzt werden und das Ansehen der Bundeswehr beschädigt wird. Ich habe durchaus Verständnis für die Besonderheiten bei der Materialbeschaffung des BMVg. Aber der Bundestag erwartet ein professionelles Vertragsmanagement mit definierten Leistungsmerkmalen, vorausschauender Ersatzteilbeschaffung, das auch Entschädigungen durchsetzen kann. Ich wünsche unserer Verteidigungsministerin Erfolg mit ihrer Initiative Einsatzbereitschaft und hoffe nur, dass im BMVg der Schwanz nicht mit dem Hund wedelt. Die zahlreichen Kritikpunkte im Bericht des Wehrbeauftragten 2019 haben alle etwas mit der Übernahme von mehr Verantwortung zu tun. So bedürfen viele Entscheidungen der Zustimmung parallel arbeitender Strukturen. Offensichtlich hat hier der Workshop „Innere Führung Heute“ noch wenig verändert. Entscheidungen können aber auch beschleunigt werden, wenn die Verantwortung nach dem Subsidiaritätsprinzip von oben nach unten abgegeben wird. Viele der langen Prüf- und Genehmigungsverfahren sind schlicht entbehrlich. Wir sollten wieder zurückkehren zur klassischen Auftragstaktik. Was steht eigentlich der Einführung des von Hans-Peter Bartels vorgeschlagenen Ikea-Prinzips entgegen? Warum muss jeder Rucksack, jedes Handschuhpaar erst in funktionalen Fähigkeitsanforderungen definiert, vergeben, getestet, zertifiziert und über Jahre hinweg in der Bundeswehr eingeführt werden? Und weshalb sollte ein Küchenmeister nicht mehr Verantwortung übernehmen können? Wieso soll sein Verpflegungsplan nur 10 Prozent von der zentral gesteuerten Vorgabe abweichen? Mit einer Liberalisierung könnte er zum Beispiel mehr auf regionale Produkte zurückgreifen. ({1}) Nun noch einige Bemerkungen zur Situation der Soldatinnen und Soldaten im engeren Sinn. Die Belastung der Bundeswehr wächst ständig weiter. Ende 2019 waren 17 500 Soldatinnen und Soldaten in Auslandseinsätzen gebunden. Die tendenzielle Verlängerung der Stehzeiten von vier auf sechs Monate führt nicht nur zu einem Rückgang von Freiwilligenbewerbungen, sondern auch zu gesundheitlichen und sozialen Folgeerscheinungen. Eine Einsatzdauer von vier Monaten sollte daher also wieder unser Standard sein, wobei hierbei in Verständigung mit den eingesetzten Soldatinnen und Soldaten auch flexible Lösungen denkbar sind. ({2}) Sehr geehrte Damen und Herren, die aufgeführten Missstände sollten nun einerseits nicht etwa zu der Schlussfolgerung führen, dass diese ein 45-Milliarden-Euro-Budget nicht mehr rechtfertigen, und andererseits nicht so verstanden werden, sie offenbarten, die Bundeswehr könne den Schutz der eigenen Bevölkerung nicht gewährleisten und den Verpflichtungen gegenüber den NATO-Partnern nicht nachkommen. Nein, trotz aller Defizite ist die Bundeswehr eine moderne Armee mit dem Anspruch auf eine qualifizierte Fürsorge ihrer Angehörigen. Insbesondere bei den internationalen Friedensmissionen zeigen Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr ihre Leistungsbereitschaft und ‑fähigkeit, die international und auch bei den Menschen vor Ort anerkannt sind. Trotz der genannten Mängel bei der Beschaffung genießen die NATO im Allgemeinen und die Bundeswehr im Besonderen auch hohes Ansehen bei den Bundesbürgern. Das Militär in einem demokratisch verfassten Gemeinwesen ist nicht nur auf den Rückhalt des Parlaments, wie eben von der Verteidigungsministerin angesprochen, sondern auch auf die mehrheitliche Unterstützung durch die Gesellschaft angewiesen. Deshalb möchte ich auch im Namen der SPD-Bundestagsfraktion an dieser Stelle allen Angehörigen der Bundeswehr für ihren Einsatz danken – sei er hier in Deutschland, im NATO-Gebiet oder bei Friedensmissionen weltweit. ({3}) Aber ich danke auch dem Team von Hans-Peter Bartels, das uns über Jahre hinweg ermahnte, die Reform der Bundeswehr als Daueraufgabe zu verstehen. Unserer neuen Wehrbeauftragten Frau Dr. Högl wünsche ich sehr viel Erfolg bei ihrer verantwortungsvollen Tätigkeit. Ich bedanke mich für Ihre Geduld. ({4})

Dr. Marie Agnes Strack-Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004906, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte auch für uns Freie Demokraten Herrn Dr. Bartels ganz herzlich danken für seinen Einsatz und für die wirklich tolle Zusammenarbeit. ({0}) Herr Dr. Bartels, Sie haben bei vielen Themen immer wieder den Finger in die Wunde gelegt, auch auf Schwächen der Ausrüstung, Beschaffung und Organisation hingewiesen. Sie haben auch Themen platziert wie „bewaffnete Drohnen“ oder „Nachfolge der Tornados“, die in Ihrer eigenen Fraktion unerwünscht waren, die für die Sicherheit der Soldatinnen und Soldaten aber bedeutend sind. Dass die Mission Gazelle in Niger, um ein Beispiel zu nennen, endlich Teil des Mali-Mandats ist und damit explizit vom Bundestag mandatiert werden muss, ist auch Ihrer Beharrlichkeit zu verdanken. Nun liegt diese Aufgabe in Ihren Händen, Frau Wehrbeauftragte. Wir dürfen Ihnen an dieser Stelle noch einmal zur Wahl gratulieren. Auch von Ihren zukünftigen Berichten erwarten wir, dass diese sich einzig und allein an den Interessen der Soldatinnen und Soldaten orientieren – definitiv nicht an der Agenda Ihres Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich, der ja keinen Moment auslässt, zu erklären, dass er eben nicht an der Seite der Bundeswehr steht. Sonst würde er sich nicht verweigern, die Sicherheit unserer Soldatinnen und Soldaten zu gewährleisten und entsprechende Mittel bereitzustellen. ({1}) Meine Damen und Herren, nach wie vor ist die Materiallage als Basis für die Einsatzbereitschaft trotz leichter Verbesserungen nicht zufriedenstellend. ({2}) Grundsätzlich können nämlich Einsätze nur zulasten des Grundbetriebs und des Ausbildungsbetriebs durchgeführt werden. ({3}) – Durch Geschrei wird die Wahrheit nicht anders, meine Damen und Herren. ({4}) Die zu geringe Einsatzbereitschaft liegt auch an fehlenden Ersatzteilen und daran, dass Teile der Wartungs- und Instandsetzungsarbeiten nur durch die Industrie erfolgen können, weil unsere Prozesse zu kompliziert sind. Frau Ministerin, wo sind Ihre Reformen?

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hendricks?

Dr. Marie Agnes Strack-Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004906, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein, erlaube ich nicht; vielen Dank. ({0}) – Nicht traurig sein; ist alles gut. – Das ist ein Zustand, den wir angesichts der Rolle der Bundeswehr in der Welt nicht zu akzeptieren bereit sind. ({1}) Meine Damen und Herren, die junge Generation hat heute ohne Scheuklappen ein großes Interesse an Sicherheits- und Verteidigungspolitik und auch an der Bundeswehr als Arbeitgeber. Sie erwartet eine gut ausgestattete und einsatzbereite Bundeswehr. Meine Damen und Herren, das Thema Rechtsextremismus begleitet uns immer wieder und – ich sage das deutlich – schon viel zu lange. Die Regierung muss endlich handeln und diesen extremistischen Stall ausmisten, ({2}) Damit meine ich auch, herauszubekommen, ob es Netzwerke gibt, die von außen auf die Bundeswehr einwirken. Wir haben gestern gehört, dass ein Mitarbeiter des MAD Informationen weitergegeben hat. Die Vorstellung ist schauerlich, dass in Sicherheitsdiensten solche Leute sitzen. Bei der Bekämpfung von Extremisten sind wir an Ihrer Seite, Frau Wehrbeauftragte. Aber wir müssen bei dieser Diskussion, die wichtig ist, bitte immer im Auge behalten: Wir haben 182 000 Soldatinnen und Soldaten, und die meisten – 99,9 Prozent – stehen mit beiden Beinen fest auf dem Boden des Grundgesetzes. Und noch mehr: Sie sind bereit, mit Leib und Leben unseren Frieden in Freiheit zu verteidigen. Ihnen gebührt unser großer Dank. Dass viele von ihnen von dem erschüttert sind, was in ihren eigenen Reihen passiert, gehört heute auch deutlich gesagt. ({3}) Meine Damen und Herren, es gilt aber auch unserer Truppe gegenüber das Versprechen, dass der Deutsche Bundestag die Rechtsextremisten aus der Truppe entfernen wird und auch ihre Strippenzieher entlarvt. Das ist unsere Aufgabe für all die, die für dieses Grundgesetz stehen. Vielen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Die Kollegin Hendricks hat um eine Kurzintervention gebeten, die ich nach längerem Nachdenken zulasse. ({0})

Dr. Barbara Hendricks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002672, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident, Sie wissen, dass ich dieses Instrument nicht oft in Anspruch nehme. – Frau Kollegin Strack-Zimmermann, Sie haben eben ausgeführt, der Fraktionsvorsitzende der SPD, Dr. Rolf Mützenich, sei nicht bereit, den Soldatinnen und Soldaten die notwendige Ausrüstung und Ausstattung zu geben. Hierzu bemerke ich: Seit 2013 bis jetzt ist – ganz ohne Beteiligung der FDP – der Haushalt für die Bundeswehr von 32 Milliarden auf 45 Milliarden Euro gestiegen, ({0}) und selbstverständlich hat der Kollege Mützenich den Haushaltsentscheidungen immer zugestimmt, wie sich das in einer Koalition gehört. Ich weise darauf hin, dass erhebliche Kürzungen in dem Zeitraum zwischen 2009 und 2013 erfolgt sind. In dieser Zeit war die SPD nicht in Regierungsverantwortung. ({1}) Es mag sein, dass Sie das Thema ansprechen wollen, welches Kollege Mützenich adressiert hat, nämlich die atomare Teilhabe. In dem Zusammenhang darf ich Sie daran erinnern, dass der damalige Bundesaußenminister Westerwelle dafür geworben hat, ({2}) die Atomwaffen aus Deutschland abzuziehen. ({3}) Diese sind allerdings Bedingung für die atomare Teilhabe. Darauf will ich hinweisen. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin Strack-Zimmermann, Sie haben das Recht, zu erwidern. Bitte schön.

Dr. Marie Agnes Strack-Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004906, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kollegin, es rührt mich, dass Sie Herrn Mützenich verteidigen. Ja, es rührt mich deswegen, weil all die Dinge, die Sie auflisten, passiert sind, als Herr Mützenich noch nicht Fraktionsvorsitzender war. Das ist er jetzt aber. ({0}) – Wissen Sie, die Stellvertreter lassen wir jetzt mal stecken. ({1}) Er ist heute Fraktionsvorsitzender, und es gibt keine Presse, die er auslässt, um ununterbrochen immer wieder gegen die Bundeswehr zu sprechen. ({2}) Wenn heute ein Fraktionsvorsitzender der SPD die Tornado-Nachfolge infrage stellt, wenn er eine bewaffnete Drohne infrage stellt, von der er weiß, dass sie ganz alleine der Sicherheit unserer Soldatinnen und Soldaten dient, dann hat das mit staatstragender Politik nichts mehr zu tun. ({3}) Lassen Sie mich eines sagen: Richtig, Guido Westerwelle hat 2011 davon gesprochen, im Bundestag, auf die atomare Teilhabe zu verzichten, und das wurde vom Hause mitgetragen. Ich erinnere aber: Die Zeit ist weitergegangen. 2014 hat Russland die Krim annektiert, ist in der Ostukraine eingefallen. Es gab über 12 000 Tote, und kein Mensch berichtet mehr darüber. Genau deswegen ist es wichtig, als Schutz in Frieden und Freiheit, dass wir genau daran weiter festhalten, solange es ist, wie es ist, und solange wir Einfluss haben wollen auf die NATO. Darum geht es. Wenn wir uns einrollen, ist unser Einfluss weg. Ich möchte das nicht; meine Fraktion möchte das auch nicht. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Nächste Rednerin ist die Kollegin Christine Buchholz, Fraktion Die Linke. ({0})

Christine Buchholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004022, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Frau Wehrbeauftragte! Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Wehrbeauftragten! Meine Damen und Herren! Ich finde, es ist schon peinlich, dass die FDP hier die Debatte um den Jahresbericht des Wehrbeauftragten nutzt, um eine große Rede sowohl für die Aufrüstung als auch für die nukleare Teilhabe zu halten. Bitte lassen Sie solche Wahlkampfreden hier sein! ({0}) Die Belastung der Bundeswehr wächst weiter; so heißt es im Jahresbericht 2019, den der alte Wehrbeauftragte Hans-Peter Bartels verantwortet. Das ist kein Wunder. In diesem Jahr hat die Mehrheit der Abgeordneten bereits mehrere Auslandseinsätze der Bundeswehr verlängert – zwei allein diese Woche –, andere wurden ausgeweitet, beispielsweise der in Mali und der Sahelzone. Es sind die Soldatinnen und Soldaten und ihre Familien, auf deren Rücken die Ausweitung der Auslandseinsätze ausgetragen wird. Die Stehzeit im Einsatz wurde von vier auf sechs Monate verlängert, und das, obwohl das die Belastung der Familien massiv verschärft und obwohl der Zusammenhang zwischen längerer Stehzeit und Alkoholabhängigkeit sowie psychischen Erkrankungen erwiesen ist. Die Gesamtzahl der psychisch erkrankten Soldatinnen und Soldaten steigt kontinuierlich. 2019 sind laut Bericht schon 982 Soldatinnen und Soldaten betroffen. Die Dunkelziffer liegt sehr viel höher. Die Linke fordert die Bundesregierung auf: Ziehen Sie endlich die notwendige Konsequenz! Beenden Sie die Auslandseinsätze! ({1}) Auch die meldepflichtigen Ereignisse im Zusammenhang mit Rechtsextremismus befinden sich erneut auf einem Höchststand, darunter das Zeigen des Hitlergrußes, Sieg-Heil-Rufe, rassistische und antisemitische Äußerungen und Schmierereien, Nazidevotionalien. Ein Unteroffizier sagte: „Alle Juden müssten vergast werden.“ Er fragte einen Kameraden, ob man in der Neustadt noch „Schwarze jage“. Ein Gefreiter bewahrt in einem Spind unter anderem eine Fotografie einer Person in SS-Uniform und einen Nachbau der Wehrmachtsmaschinenpistole MP 40 auf. Meine Damen und Herren, weltweit stellen sich derzeit Millionen Menschen gegen Rassismus in den Sicherheitsdiensten und gegen rassistisches und faschistisches Gedankengut. ({2}) In der Bundeswehr wie in der Gesellschaft müssen Rassismus und Faschismus klar benannt und bekämpft werden. ({3}) Denn wie gefährlich die Lage ist, hat nicht erst der Waffenfund beim KSK-Soldaten Philipp S. gezeigt. Fahnder fanden neben nationalsozialistischen Devotionalien unter anderem ein Sturmgewehr, mehrere Tausend Schuss Pistolen- und Gewehrmunition, Sprengstoff und Zünder. Wie groß muss der Druck im Kessel sein, wenn der KSK-Kommandeur im Mai einen Brandbrief an seine eigene Truppe schreibt und alle KSKler, die mit dem rechten Spektrum sympathisieren, auffordert, das KSK und die Bundeswehr zu verlassen? Er warnt – Zitat –: „Tun Sie es nicht,“ – also das KSK zu verlassen – „werden Sie feststellen, dass wir Sie finden und entfernen werden!“ Wie groß muss der Druck sein, wenn ein KSK-Hauptmann Anfang Juni an die Ministerin über „Kadavergehorsam“ im KSK schreibt und über langgeübte Toleranz gegenüber rechten Umtrieben aus Angst vor Repressalien? ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Buchholz, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung aus der FDP-Fraktion?

Christine Buchholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004022, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja.

Dr. Marcus Faber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004712, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Buchholz, erst mal vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Ich habe Ihnen jetzt aufmerksam zugehört, und ich habe auch nach zwei, drei Minuten den Eindruck, wenn Sie über die Bundeswehr und die Soldatinnen und Soldaten sprechen, dass Sie eigentlich ausschließlich über Menschen sprechen, die Sie für Rechtsextreme mit einem Alkoholproblem halten. ({0}) Möchten Sie diesen Eindruck von den 180 000 Soldatinnen und Soldaten vielleicht korrigieren, ({1}) oder möchten Sie den aufrechterhalten? Vielen Dank. ({2})

Christine Buchholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004022, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Kollege Faber, Sie haben sich genau den richtigen Zeitpunkt in der Rede ausgesucht. Ich wollte nämlich gerade deutlich machen: Wir begrüßen es ausdrücklich, dass Soldatinnen und Soldaten jetzt das Wort ergreifen und tatsächlich die Missstände ans Tageslicht bringen, und das sage ich aus voller Überzeugung. ({0}) Dennoch: Der Wehrbeauftragtenbericht erweckt hingegen den Eindruck, als hätte man das Problem KSK im Griff, und das muss sich der alte Wehrbeauftragte, denke ich, auch sagen lassen. Er verweist vor allen Dingen auf den MAD. Und heute lesen wir nun in der Zeitung über ein skandalöses Leck im MAD. Denn ein Mitarbeiter soll Dienstgeheimnisse gerade in diesem Fall an einen KSK-Soldaten weitergegeben haben. Wir erwarten von der neuen Wehrbeauftragten, dass sie das Problem anpackt und nicht weiter beschwichtigt. ({1}) Meine Damen und Herren, Die Linke sagt aber auch ganz klar: Eine Geheimtruppe wie das KSK steht im Widerspruch zu Transparenz und parlamentarischer Kontrolle, und sie bietet auch einen Nährboden für rechtes Gedankengut. Wir fordern als Konsequenz aus den Vorfällen: Lösen Sie das KSK auf, und zwar ersatzlos! ({2}) Ich möchte gerne weitere wichtige Punkte ansprechen. Die Zahl der gemeldeten Fälle sexueller Belästigung und Übergriffe stieg 2019 auf 345. ({3}) Das ist inakzeptabel. ({4}) Und schon wieder müssen wir über Fälle von überzogener Härte in der Ausbildung lesen. Erinnern wir uns an die jungen Soldaten, die vor fast drei Jahren beim Übungsmarsch in sengender Hitze in Munster kollabierten. Einer von ihnen starb, weitere sind für ihr Leben gezeichnet. Im letzten Jahr mussten 81 Rekrutinnen und Rekruten bei hochsommerlichen Temperaturen in voller Wintermontur eine Strecke mit Liegestützen und Laufanteilen absolvieren. 16 von ihnen meldeten sich wegen Dehydrierung beim Arzt, zwei mussten ins Krankenhaus. Wir finden das unerträglich. Mit solchen Ausbildungspraktiken muss aufgehört werden! ({5}) Eine zentrale Aufgabe der oder des Wehrbeauftragten ist es, eine Ombudsinstitution für Soldatinnen und Soldaten zu sein. Der alte Wehrbeauftragte Hans-Peter Bartels hat immer wieder die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr ins Zentrum gestellt, einen höheren Rüstungshaushalt gefordert – was ja die FDP ganz besonders gut findet; aber da ist sie nicht allein – und zuletzt sogar noch die Beschaffung von Kampfdrohnen gefordert. Frau Högl, ich bitte Sie: Rücken Sie die sozialen Probleme, die Wahrung der Grundrechte der Soldatinnen und Soldaten und den Kampf gegen rechte Netzwerke in den Mittelpunkt des nächsten Berichtes! Es ist eine Menge zu tun. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun Dr. Tobias Lindner das Wort. ({0})

Dr. Tobias Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004217, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. – Geschätzte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte auch im Namen meiner Fraktion, wenn wir heute über den Jahresbericht des Wehrbeauftragten 2019 sprechen, dem ehemaligen Wehrbeauftragten Dr. Hans-Peter-Bartels ganz herzlich für seine Arbeit für dieses Parlament und für die Soldatinnen und Soldaten danken, Ihnen, Frau Högl, in Ihrem neuen Amt alles Gute und vor allem viel Erfolg wünschen und Ihnen natürlich auch die Unterstützung meiner Fraktion hierzu anbieten. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich mit dem leidigen Thema Ausrüstung anfangen. Vor zwei Tagen war in den Medien zu vernehmen, dass Deutschland im Moment rund 1,5 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung ausgibt, in diesem Jahr seine Ausgaben wohl auf 1,6 Prozent des BIP steigern wird – einen Wert, den sich die Bundesregierung als Ziel für das Jahr 2024 gesetzt hat. Es war doch sehr still bei den Kolleginnen und Kollegen vor allem aus der Union, die in den letzten Jahren an dieser Stelle immer lautstark nach dem 2‑Prozent-Ziel gerufen haben. Ich glaube, auch der letzten Befürworterin und dem letzten Befürworter ist ganz deutlich geworden, wie absurd dieser Indikator im Hinblick auf die Lastenteilung und den Zustand unserer Streitkräfte ist – um es ganz deutlich zu sagen. ({1}) Es geht vielmehr darum, dass wir eine Verlässlichkeit brauchen. Die Soldatinnen und Soldaten haben eine Verlässlichkeit verdient, wenn es darum geht, dass der Auftrag, den wir als Parlament der Bundeswehr geben, und die Ausstattung vernünftig zusammenpassen und dass beides realistisch gefasst wird. Planungen zu machen, meine Damen und Herren, die sofort in sich zusammenbrechen, wenn die haushalterische Lage einmal anders wird, das ist kein verantwortungsvoller Umgang mit den Soldatinnen und Soldaten. Und ja, es ist, wenn man Prioritäten setzt, auch notwendig, nicht nur zu sagen, was für die Truppe wichtig ist, sondern ich erwarte gerade jetzt vom Verteidigungsministerium, auch zu sagen, was im Zweifel weniger Priorität hat. ({2}) Ich will einen letzten Punkt dazu sagen. Es ist hier schon viel über das Finanzvolumen gesprochen worden. Wenn wir über die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr sprechen, dann müssen wir doch nicht über neues Material sprechen; dann müssen wir über Hubschrauber sprechen, die nicht fliegen, über Schiffe, die nicht fahren können, über Panzer, die nicht funktionieren. Und da ist an den meisten Stellen nicht Geld das Problem, sondern es sind die Prozesse dahinter, die Ersatzteilversorgung, das ganze Thema Instandhaltung. Frau Ministerin, wir begrüßen es ausdrücklich, dass Sie das zu einem Schwerpunkt Ihrer Arbeit in diesem Jahr machen wollen. Sie haben hierzu auf der Bundeswehrtagung im Februar große Ankündigungen gemacht. Wir werden Sie am Erfolg der Umsetzung dieser Ankündigungen messen. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, man kann eine solche Debatte heute nicht führen, ohne über das Thema „Rechtsextremismus in der Bundeswehr“ zu sprechen. Frau Kramp-Karrenbauer, ich will zuallererst bei Ihrer Informationspolitik anfangen. Es ist ja schön, dass Sie auch auf Bitten meiner Fraktion am vergangenen Mittwoch im Ausschuss waren. Aber es kann doch nicht sein, dass wir Ihnen alles salamimäßig aus der Nase ziehen müssen. ({4}) Da erfahren wir über die Presse von Waffenfunden und einer Durchsuchung bei einem Angehörigen des KSK. Dann erfahren wir über die Presse vom Brief des Brigadegenerals Kreitmayr, müssen ihn uns auch öffentlich besorgen. Wir erfahren über die Presse vom Brief des KSK-Angehörigen Hauptmann J. Wir müssen das Ministerium anschreiben, damit wir diesen Brief bekommen. Und wir erfahren gestern Mittag über die Presse, dass es offensichtlich ein Leck beim Militärischen Abschirmdienst gibt, das unter Umständen auch dazu geführt hat, dass Rechtsextremisten im KSK vorgewarnt waren. Das ist kein Umgang mit diesem Parlament, liebe Frau Kramp-Karrenbauer. ({5}) Und ja, ich bin bei Ihnen: Haltung ist wichtig, und Haltung ist unerlässlich. – Ich habe an Ihrer Haltung, die Sie letzten Mittwoch im Ausschuss gezeigt haben, nichts auszusetzen – um das ganz klar zu sagen. Aber Haltung allein ist nichts, wenn nicht Handeln daraus folgt. Und Sie haben jetzt große Ankündigungen gemacht. Ich bin gespannt, was Sie Anfang Juli ankündigen werden. Und das ist für Sie, ehrlich gesagt, dann auch die Stunde der Wahrheit im Umgang mit extremistischen Kräften innerhalb der Bundeswehr, Frau Ministerin. ({6}) Es mag ja sein, dass der Waffenfund bei dem KSK-Angehörigen eine neue Qualität hatte. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, es braucht nicht erst das Auffinden von Waffen, Sprengstoff und Munition, um die Frage zu stellen, ob wir ein systematisches Problem in diesem Verband haben. Die berühmte Abschiedsfeier in der 2. Kompanie mit Schweinskopfweitwurf und Hitlergruß, ({7}) die war 2017. Und es war doch auch nicht der in vielen Fällen hochgelobte MAD, der das am Ende des Tages herausbekommen hat. Es waren Ehefrauen und Partnerinnen von Teilnehmern dieser Party, die den Mund aufgemacht haben und die zur Polizei gegangen sind. Dadurch ist es herausgekommen. Auch das muss man an dieser Stelle in aller Deutlichkeit sagen. ({8}) Die Rolle des MAD – das kann ich schon ankündigen – wird uns in den nächsten Tagen noch eine Menge beschäftigen. Wir haben hier extrem ernsthafte Fragen. Ich will wissen, ob diese Informationsweitergabe ein Einzelfall war oder ob es nicht eine systematische Verbindung – vorbei an allen Vorschriften, die es für nachrichtendienstliche Arbeit gibt – aus dem MAD in das KSK gab. Und es wäre jetzt wohlfeil, hier sofort über personelle Konsequenzen zu sprechen. Ich glaube, wir müssen eine ganz andere Frage stellen, nämlich ob der MAD in dieser Aufstellung, mit dieser Performance tatsächlich ein Partner im Kampf gegen Extremismus ist, ob er überhaupt in der Lage ist, gegen Extremismus in der Truppe vernünftig vorzugehen. ({9}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine sehr geehrten Damen und Herren, Frau Wehrbeauftragte, wir danken für diesen Bericht. Wir werden uns in den Ausschussberatungen ernsthaft damit auseinandersetzen, auch mit den zahlreichen Fällen, die darin geschildert sind, und wir freuen uns auf die weitere Zusammenarbeit mit Ihnen. Herzlichen Dank. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun die Kollegin Anita Schäfer das Wort. ({0})

Anita Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003216, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Wehrbeauftragte, sehr herzlich gratuliere ich Ihnen zu Ihrer Wahl, auch im Namen meiner Fraktion. Es hat fast 40 Jahre gedauert, bis Claire Marienfeld in den Jahren 1995 bis 2000 die erste weibliche Wehrbeauftragte wurde. Seitdem sind 20 Jahre ins Land gegangen, bis wieder eine Frau gewählt wurde. Ich hoffe, dass wir später nicht erneut Jahrzehnte auf eine neue weibliche Wehrbeauftragte warten müssen. ({0}) Denn während der Anteil der Frauen in der Bundeswehr dank der richtigen Maßnahmen des Bundesministeriums der Verteidigung stetig wächst, wird auch in der Gesellschaft klarer, dass Frauen Verteidigung können. ({1}) Deswegen ermutige ich nicht nur junge Männer, sondern besonders auch junge Frauen, ihr Wissen und ihre Talente in die Bundeswehr einzubringen und dort Karriere zu machen. Sehr verehrte Frau Wehrbeauftragte, an dieser Stelle möchte ich auch Ihrem Vorgänger, Dr. Hans-Peter Bartels, noch einmal für die zurückliegenden Jahre der engagierten Arbeit in diesem Amt danken. Ebenso danke ich den Mitarbeitern, die Sie heute begleitet haben, die lange Zeit auch Herrn Dr. Bartels begleitet haben. Der Bericht des Wehrbeauftragten für das Jahr 2019, den wir heute debattieren, wurde noch unter seiner Federführung verfasst. Dr. Bartels hat angesichts der gesteigerten Anforderungen an die Bundeswehr stets die Bedeutung von Investitionen in Ausrüstung und Strukturen betont. CDU und CSU haben sich in den vergangenen Jahren erfolgreich für Steigerungen im Verteidigungsetat eingesetzt. Das Bundesministerium der Verteidigung hat außerdem – neben bedeutenden Maßnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf – klare Leitlinien zur demokratischen Orientierung erlassen. Trotzdem ist es jüngst beim Kommando Spezialkräfte zu einzelnen Vorfällen gekommen, die dem Selbstverständnis der Bundeswehr als Säule unseres demokratischen Staates zuwiderlaufen. Die Ministerin hat sich dazu bereits geäußert. Doch auch ich betone: Erstens. Die Bundeswehr akzeptiert keine Extremisten in ihren Reihen. Zweitens. Die CDU/CSU steht fest an der Seite der Soldatinnen und Soldaten. Wir unterstützen sie dabei, die Probleme zu lösen. – Ich danke der Bundesministerin Annegret Kramp-Karrenbauer, dass sie das Thema sehr ernst nimmt und eine ministerielle Arbeitsgruppe eingesetzt hat, um Reformvorschläge auszuarbeiten. Die Bundeswehr ist ein lebendiges, aber auch lebenswichtiges Organ unserer Demokratie. Die Streitkräfte, das sind zum Beispiel die IT-Spezialistin, der Mechatroniker, die orthodoxe Christin ebenso wie der jüdische Sanitäter. Diese Offenheit wollen wir weiter fördern, und deshalb haben wir kürzlich die Einführung der jüdischen Militärseelsorge beschlossen, ergänzend zur evangelischen und katholischen. Denn die Vielfalt unserer Gesellschaft ist die Stärke der deutschen Bundeswehr. Ja, die Bundeswehr bezieht ihre Stärken aus der Inneren Führung und der Bindung an den demokratischen Staat. Damit diese Stärke in den zahlreichen Verpflichtungen für Frieden und Stabilität umgesetzt werden kann, bedarf es einer angemessenen Ausstattung. Entgegen der Kritik im Bericht gibt es beim Materialzulauf Ergebnisse, die bei der Truppe sichtbar sind. Der Verteidigungsausschuss bearbeitet im Akkord 25-Millionen-Vorlagen zur Beschaffung neuen Materials: Eurofighter, Mehrzweckkampfschiffe, A400M und vieles mehr. Großprojekte wie der schwere Transporthubschrauber, die Tornado-Nachfolge und das taktische Luftverteidigungssystem entwickeln sich ebenfalls positiv. Auch bei langfristigen, zukunftsweisenden Projekten wie dem Future Combat Air System oder dem Main Ground Combat System schreiten wir voran. Ohne Frage: Bei der Bereitstellung von Ersatzteilen gibt es noch Lücken. Wenn wir die Anregung des Berichts aufnehmen, müssen wir schauen, wie wir bei der Beschaffung die Effizienz schwedischer Möbelhäuser mit deutscher Gründlichkeit verbinden. Damit diese deutsche Gründlichkeit aber nicht durch überbordende Bürokratie zur Last wird, haben wir bereits Initiativen gestartet, um beispielsweise Beschaffungsprozesse zu verbessern und zu verkürzen. Neben dem Digitalisierungsprozess sollen auch Genehmigungsverfahren von Bauvorhaben deutlich effizienter werden. Letzteres hatte ich hier im Parlament schon mehrmals angesprochen, will aber anhand eines Beispiels erneut darauf zurückkommen. In meinem Wahlkreis in der Niederauerbach-Kaserne Zweibrücken wird die Sanierung der Truppenküche wegen Schimmelbefall mehr als zehn Jahre dauern. Im Bericht des Wehrbeauftragten ist zu Recht geschrieben, dass im Bereich Infrastruktur viel passiert, aber da geht noch mehr. Deswegen freue ich mich, dass unser Parlamentarischer Staatssekretär Peter Tauber die Lage in der Kaserne bald persönlich begutachten wird. Liebe Frau Wehrbeauftragte, es ist eine gute Nachricht, dass wir uns einig sind, dass eine moderne und für die Aufgaben angemessene Ausstattung der Bundeswehr unser gemeinsames Anliegen bleibt; denn die Bundeswehr muss unsere Bündnisverpflichtungen erfüllen können. Darüber hinaus haben die Frauen und Männer der Bundeswehr in den vergangenen Monaten im Rahmen der Covid-19-Pandemie Großartiges geleistet: Amtshilfe in Deutschland, Krankentransporte in Europa oder auch medizinische Schulungen in Mali. Dafür bin ich sehr dankbar. ({2}) Die Coronakrise darf jedoch kein Vorwand sein, notwendige Investitionen für die Bundeswehr auf die lange Bank zu schieben. Das Beispiel Zweibrücken zeigt: Die Soldaten brauchen unsere Unterstützung heute und nicht morgen. Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Fritz Felgentreu für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Fritz Felgentreu (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004272, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Bericht der Wehrbeauftragten erreicht uns in bewegten Zeiten. Die aktuelle Debatte um Rechtsextremismus findet ihren ausgewogenen Niederschlag. Bei aller berechtigten Sorge ist wichtig, festzuhalten, was auch Frau Dr. Högl immer wieder betont: Für einen Generalverdacht gegen Soldaten und Soldatinnen besteht kein Anlass, weder in der Bundeswehr in ihrer Breite noch im Kommando Spezialkräfte im Besonderen. Rechtsextremismus ist ein gesellschaftliches Problem. Die Bundeswehr ist ein Teil dieser Gesellschaft, und deshalb ist Rechtsextremismus auch ein Problem der Bundeswehr. Wo er sich festzusetzen droht, brauchen wir eine starke Antwort der wehrhaften Demokratie. ({0}) Und weil sie der Waffenträger der Republik sind, gilt dieser Grundsatz in den Streitkräften doppelt und dreifach. Ich nehme aus dem vorliegenden Bericht drei Botschaften an die Soldaten und Soldatinnen der Bundeswehr mit. Die erste: Wenn Sie in Ihrem militärischen Umfeld mit Rechtsextremismus konfrontiert werden und ratlos sind, wie Sie damit umgehen sollen, dann finden Sie in der Wehrbeauftragten jederzeit eine Ansprechpartnerin mit offenem Ohr und großer Sachkenntnis. Sie sind mit Ihren Sorgen niemals allein. Die zweite: Wenn Sie als fröhliche Staatsbürger und Staatsbürgerinnen in Uniform für die freiheitliche demokratische Grundordnung eintreten, dann haben Sie die allermeisten Abgeordneten dieses Hauses und in unserem Auftrag die Wehrbeauftragte an Ihrer Seite. Demokratie und Rechtsstaat sind großartig. Die Soldaten und Soldatinnen können sich jederzeit hocherhobenen Hauptes dazu bekennen und sind auch herzlich dazu eingeladen. ({1}) Die dritte Botschaft richtet sich an die Extremisten in den Reihen der Bundeswehr. Ihnen muss bewusst sein, dass Sie sich permanent im Zustand der Eidbrüchigkeit befinden. Sie haben der Bundesrepublik Deutschland Treue geschworen. Wer innerlich mit der Ordnung des Grundgesetzes gebrochen hat, ist zu treuem Dienst nicht in der Lage. Deshalb gilt für Sie: Warten Sie nicht, bis der Dienstherr die notwendige Konsequenz zieht und Sie aus der Bundeswehr entfernt. Kehren Sie in das Treueverhältnis zurück, zu dem sie sich einmal bekannt haben, oder gehen Sie von selbst. ({2}) Liebe Frau Dr. Högl, mit diesen Botschaften sprach Hans-Peter Bartels und sprechen jetzt Sie für dieses Haus. Ich danke Ihnen dafür. Bei der Ausübung Ihres wichtigen Amtes wünsche ich Ihnen im Namen der SPD-Fraktion Erfolg, Freude und das Vertrauen der Menschen, für die Sie da sind, der Soldatinnen und Soldaten der deutschen Bundeswehr. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Alexander Müller für die FDP-Fraktion. ({0})

Alexander Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004828, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch in diesem Jahr berichtete der Wehrbeauftragte über die bekannten Mängel: fehlendes Material und schlechte Einsatzbereitschaft. Das demotiviert unsere Soldatinnen und Soldaten, die von uns, aus Respekt vor ihrer Arbeit, wirklich bessere Ausrüstung verlangen können. Lassen Sie uns mit den Gründen beschäftigen, mit den Ursachen, warum es nicht besser wird. Dr. Bartels schreibt von der Überbürokratisierung der Bundeswehr, von zu wenig Eigenkompetenz der Soldaten und von einer Inneren Führung, die auf Fehlervermeidung statt auf den operativen Erfolg abzielt. Alles das müssen wir uns kritisch anschauen. Die Bundeswehr hat eine Kultur, in der Fehler bestraft werden und Auswirkungen auf die Karriere haben, Erfolge hingegen haben keinen Einfluss auf die Beförderung. Es gibt ein Anreizsystem, mit dem man unter allen Umständen fehlerfrei bleiben sollte, um Karriere zu machen. Wer etwas wagt, wer sich über die Maßen engagiert, um eine Mission zum Erfolg zu bringen, der wird dafür nicht belohnt. Modernes Projektmanagement geht aber anders. Teams bekommen Aufträge mit allen erdenklichen Freiräumen, um ihr Ziel zu erreichen. Dabei passieren natürlich Fehler, aber aus denen lernt man. Das ist menschlich. Im Untersuchungsausschuss Berateraffäre zeigte sich zum Beispiel, dass etliche Menschen einen Rahmenvertrag kursorisch geprüft, aber nur für ihr kleines Stückchen Verantwortung übernommen hatten, und das führte zu rechtswidrigen Vergaben. Ich gebe Ihnen ein weiteres Beispiel: In der Instandsetzung soll ein Fahrzeug repariert werden, aber es fehlt ein Ersatzteil. Bei Dienst nach Vorschrift steht das Fahrzeug vier Wochen still, bis alle Teile überbürokratisch beschafft sind. Aufgrund gemachter Anreizerfahrungen wird der Instandsetzer keine kreativen Ideen nutzen, um das Fahrzeug schneller wieder flott zu kriegen, obwohl er seine Kameraden unterstützen will. Er wird den sicheren Weg wählen, und das Ergebnis sehen wir an der mangelnden Einsatzbereitschaft unserer militärischen Gerätschaften. ({0}) In einer Gefechtssituation, in der das Fahrzeug dringend die Kameraden aus der Bedrohung rausbringen muss, fragt aber niemand nach der zentralen Dienstvorschrift. Da ist dann echte Kreativität gefragt, wie man das Fahrzeug auf schnellstem Wege wieder flottkriegt. Wir trainieren also falsch. Wir müssen unseren Soldatinnen und Soldaten eine Kultur vorleben, lösungsorientiert zu handeln, kreativ zu denken und Fehler zu akzeptieren, wenn der Missionserfolg damit gewährleistet werden kann. ({1}) Wie schaffen wir das? Erstens. Wir müssen die Vorschriftenkataloge entbürokratisieren und deutlich abspecken, so wie der Wehrbeauftragte es vorschlägt. Das können wir aber nicht von den Soldaten verlangen. Dieser Prozess muss von hier, von Berlin ausgehen. Zweitens. Wir müssen der Bundeswehr eine Kultur implementieren, die Fehler akzeptiert, die Fehler nicht zu Karrierekillern macht und die vor allen Dingen den Projekterfolg nach vorne stellt und honoriert. Also: Erfolge belohnen, aus Fehlern lernen! Drittens. Wir müssen bei der Materialbeschaffung viel stärker auf verfügbare Dinge aus dem Regal zugreifen, statt immer die perfekt passende Goldrandlösung neu entwickeln zu lassen. Der Wehrbeauftragte nennt das das Ikea-Prinzip; auch damit hat er vollkommen recht. Wenn wir dieses Prinzip viel stärker umsetzen, dann kommen wir auch in Sachen Materialbeschaffung und Einsatzbereitschaft schneller voran. Frau Wehrbeauftragte, es gibt viel zu tun. Bleiben Sie dran, und lassen Sie uns gemeinsam die Verbesserungen angehen. Vielen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun Dr. Reinhard Brandl das Wort. ({0})

Dr. Reinhard Brandl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Wehrbeauftragte, ich darf Sie herzlich in Ihrem neuen Amt begrüßen. Ich wünsche Ihnen auch vonseiten der CSU-Landesgruppe alles Gute für Ihre wichtige Aufgabe für unsere Bundeswehr. Eigentlich wollte ich heute über den Bericht Ihres Vorgängers, Herrn Bartels, reden; aber die Rede des AfD-Kollegen Elsner von Gronow hat mich beschäftigt. Ich sage Ihnen eines: Das Letzte, das wirklich Allerletzte, was die Bundeswehr braucht, sind Belehrungen von der AfD, wie sie mit Rechtsextremen in ihren eigenen Reihen umgehen soll. ({0}) Das, was Sie heute hier gemacht haben, das war der Versuch – das praktiziert Ihre Partei Tag für Tag –, einen fließenden Übergang zwischen konservativ-patriotischem Denken und rechtsextremem Gedankengut herzustellen; das ist doch genau das Gift, unter dem das KSK leidet. Aber, meine Damen und Herren, der Übergang ist nicht fließend. Es gibt da eine ganz klare, eine scharfe Kante. Die Bundeswehr braucht Patriotinnen und Patrioten. Die Bundeswehr braucht Soldatinnen und Soldaten, die ihr Land lieben, ({1}) die bereit sind, dafür zu kämpfen, die die Freiheit und das Recht des deutschen Volkes tapfer verteidigen; das schwören sie zu Beginn ihrer Dienstzeit. Die Wehrbeauftragte hat vorhin den Präsidenten des Militärischen Abschirmdienstes angesprochen. Das Vorwort zu seinem Bericht steht unter dem Motto „Verfassungspatriotismus ist unser Beruf“. Das Leitbild für die Soldaten ist der Staatsbürger in Uniform, der mit beiden Beinen auf dem Boden des Grundgesetzes steht, der die Werte und Normen verteidigt, dabei aber nicht blind irgendjemandem hinterherläuft, sondern selber mitdenkt, der den Mund aufmacht, wenn er sieht, dass etwas falsch läuft, der kritisch ist gegenüber der eigenen Truppe und auch gegenüber der Politik. – Das wollen wir. Es gibt keine Verbote oder Denkverbote. Aber die scharfe Kante ist: Menschen, die sich über andere stellen, die für sich in Anspruch nehmen, zu sagen, was zu Deutschland gehört und was nicht, die gehören nicht in die Bundeswehr. Menschen, die die Geschichte verfälschen, die sich in der Tradition des Dritten Reichs sehen, gehören nicht in die Bundeswehr. ({2}) Menschen, die Verschwörungstheorien nachjagen, die sich Feindbilder konstruieren, die totalitäre Fantasien haben, gehören nicht in die Bundeswehr. Meine Damen und Herren, das Problem ist, dass es beim KSK einige, im Verhältnis zur Gesamtzahl wenige solcher Menschen gibt. Diese vergiften und zerstören den ganzen Verband von innen heraus, weil sie die für die Bundeswehr so wichtige Kameradschaft, das Prinzip von Befehl und Gehorsam missbrauchen. Und das ärgert mich wahnsinnig; denn das KSK besteht aus unseren Elitesoldaten, aus den besten, die wir haben, aus denen, die wirklich bereit sind, Tag und Nacht, wenn ein Anruf kommt, weil zum Beispiel eine Geisel befreit werden muss, in den Einsatz zu gehen, die bereit sind, ihr Leben für unser Land zu riskieren. Ich bin stolz auf diese Soldatinnen und Soldaten. Ich bewundere sie und habe Respekt vor ihnen. Diesen Respekt sollen sie auch in der Gesellschaft erfahren, und sie sollen nicht, wenn sie irgendwo hingehen, sofort mit Rechtsextremismus in Verbindung gebracht werden. Diejenigen, die unter diesen Anschuldigungen am meisten leiden, sind die Angehörigen des Verbandes selbst. Ich danke der Bundesministerin dafür, dass sie so entschlossen vorangeht, und der Wehrbeauftragten, die mit dieser schwierigen Aufgabe gleich am Anfang ihrer Amtszeit konfrontiert ist und, wie ich finde, die richtigen Worte gefunden hat. ({3}) Die Diskussion in den letzten Wochen lief an manchen Stellen etwas schief. Das KSK ist kein Sumpf, der ausgetrocknet werden muss, sondern es gibt im KSK einige Giftkörper, die entfernt werden müssen, damit das Wasser wieder klar wird. ({4}) Ich bin davon überzeugt, dass es trotz aller Initiativen, die es jetzt hier in Berlin gibt, am Ende nur dem KSK selbst gelingen kann, sich zu reinigen, dass dies von außen nicht gelingen kann, sondern von innen heraus kommen muss. Ich hoffe, dass es dem Verband gelingt. Wir brauchen ihn dringend. Die Sicherheitslage erfordert leistungsfähige Spezialkräfte, in Zukunft wahrscheinlich mehr denn je. Am Ende gilt das Motto des KSK: Der Wille entscheidet. In diesem Sinne herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({5})

Norbert Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004613, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im März dieses Jahres bestand große Einigkeit darüber, dass es richtig ist, zunächst Kitas und Schulen zu schließen, Angebote von Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe sowie ambulante Angebote herunterzufahren. Wir wissen heute mehr. Vor allem wissen wir aber, dass viele dieser Entscheidungen verheerende Folgen nach sich zogen. Wir wissen auch, dass besonders arme Familien, besonders arme Kinder unter diesen Entscheidungen gelitten haben und immer noch unter den Bedingungen der Pandemie leiden. Zu diesem Ergebnis kommt auch der Kindheitswissenschaftler Professor Michael Klundt, der in einer aktuellen, diese Woche veröffentlichten Studie schreibt – ich zitiere –: Die bislang erhältlichen … Studien zur Kinderarmut während der Corona-Krise zeigen, dass sich diese soziale Polarisierung nicht etwa reduziert hat, sondern vielmehr noch deutlicher als vorher hervorscheint. Ich finde, wir müssen alles dafür tun, dass sich dieser Trend wieder umkehrt und sich die Schere zwischen Arm und Reich gerade in der Coronapandemie nicht noch weiter öffnet. ({0}) Aber offenbar ist diese Erkenntnis um den Landkreis Gütersloh in einem großen Bogen herumgegangen. Am Mittwoch, als bereits 650 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei Tönnies mit dem Coronavirus infiziert waren, war die Entscheidung des Landkreises zunächst, alle Kitas und Schulen zu schließen bzw. in den Notbetrieb zurückzuschicken. Was jedoch nicht sofort geschlossen wurde, sondern bis zum heutigen Tage mit Ausnahmegenehmigung des Gesundheitsamtes weiterläuft, ist die Fleischbude von Tönnies, weil dort nämlich noch Schweinehälften in den Kühlregalen liegen, die weiterverarbeitet werden müssen. Ich finde, ehrlich gesagt, Eltern, die gegen diese Entscheidungen demonstrieren und sich fragen, ob die Verantwortlichen eigentlich noch alle Latten am Zaun haben, haben jedes gute Recht dazu. ({1}) Es kann doch nicht sein, dass die Interessen und das Recht des Fleischbarons Tönnies auf die Ausbeutung seiner Arbeiterinnen und Arbeiter zur Mehrung des eigenen Reichtums wichtiger sind als die Rechte der Kinder im Landkreis Gütersloh auf Bildung und andere Kinderrechte. ({2}) Wir brauchen ein Kitaqualitätsgesetz. Das zeigen die Defizite ganz deutlich; die sind während der Coronapandemie noch mehr offengelegt worden. Ja, wir brauchen endlich kindergerechte Pandemiepläne. Auch das ist hier schon angesprochen worden; das muss in den Pandemieplänen auftauchen. Und wir brauchen pandemiegerechte Ausstattung in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, in Kitas, Horten und Jugendklubs. Das ist Teil unserer Anträge. Was brauchen wir noch? Wir brauchen einen Pandemiezuschlag für die Beschäftigten in der Kinder- und Jugendhilfe, in Horten und in Kitas von 25 Prozent auf das Brutto. Wir haben hier Beschäftigte, die ähnlich wie im Pflegebereich, nah an den Kindern arbeiten. Die können sich auch nicht von oben bis unten einpacken. Wir wollen, dass sie wieder arbeiten, dass diese Einrichtungen wieder öffnen. Aber, ich finde, es reicht nicht, zum Dank zu applaudieren; denn das ist ziemlich gratis. Vielmehr müssen wir auch eine Wertschätzung entgegenbringen, wir müssen für die Risiken, die diese Beschäftigten eingehen, einen Zuschlag von 25 Prozent zahlen. Ihnen gilt echter Dank, und dieser echte Dank muss am Ende des Monats auch auf dem Konto sichtbar sein. ({3}) Drittens und letztens. Wir brauchen den Kindergipfel. Auch diesen Antrag stellen wir heute noch mal zur Abstimmung. Wir brauchen den Kindergipfel, der deutlich macht, dass wir die Sorgen und Nöte der Kinder ernst nehmen, dass wir sie selber anhören und dass sie sozusagen nicht mehr zu Objekten werden, die bei einer Pandemie hin und her geschoben werden, sondern dass wir sie selber ernst nehmen. Wir brauchen den Kindergipfel, und wir brauchen endlich auch Kinderrechte im Grundgesetz, damit das ganze Thema eine andere Bedeutung bekommt und es nicht wieder vorkommt, dass am Ende die Fleischfabriken offen haben, Kitas und Schulen aber schließen müssen. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Marcus Weinberg für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Marcus Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003861, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will gerne an Norbert Müller anschließen, weil Kinderrechte im Grundgesetz auch in der gestrigen Debatte zum Kinderschutz ein wichtiger Punkt waren. Zwei Dinge, die aus unserer Sicht, aus Sicht der Union, wichtig sind: Erstens. Ja, wir haben uns verständigt, und wir werden mit unserem Koalitionspartner darüber diskutieren, wie die Kinderrechte in das Grundgesetz kommen. Aber es ist nicht die Frage, ob sie kommen, sondern es ist die Frage, wie sie kommen und was sie ausdrücken. Da sind wir sicherlich an der einen oder anderen Stelle noch in der Diskussion; denn wir wollen einen Mehrwert für Kinder haben, aber auch einen Mehrwert für Familien. Es geht nicht um mehr Rechte für Kinder und um weniger für Familien. Beides muss einen Impuls bekommen. Deswegen werden wir bei der Fragestellung von Kinderrechten im Grundgesetz sehr genau darauf schauen, dass das auch etwas bringt für Partizipation, für Teilhabe, für Schutz, für das, was für Kinder wichtig ist. ({0}) Das Zweite – das betrifft den Kollegen Norbert Müller und auch die Grünen –, was mir in der gestrigen Debatte auffiel und was mich ärgert, ist die Behauptung, Kinderrechte im Grundgesetz würden dazu führen, dass es keine Missbrauchsfälle mehr gibt, dass es keine Vernachlässigung mehr gibt, dass es keine Probleme in der Kinder- und Jugendhilfe mehr gibt. ({1}) Das ist falsch. Gestern hat ein Kollege gesagt: Gäbe es die Kinderrechte im Grundgesetz, hätte es einen Fall wie in Münster nicht gegeben. – Nein, dazu gehört mehr. ({2}) Dazu gehört, dass die Richter fortgebildet werden, dass wir die Prävention stärken, die Betreuung der Opfer stärken, dass wir auch strafrechtlich etwas machen. Das heißt, dass wir nicht nur auf die Kinderrechte vertrauen, sondern auf allen Ebenen, mit allen Möglichkeiten Kinder in ihrer Positionierung stärken; denn das ist, glaube ich, ein wichtiger Punkt, auch mit Blick auf die Coronakrise. Wir haben ja drei Dinge gemacht. Erstens war es richtig, zu sagen: Der Schutz der Familien, der Kinder steht an allererster Stelle, hat allerhöchste Priorität. Kitas zu schließen, Schulen zu schließen, Jugendhilfeeinrichtungen zu schließen, Angebote für Frauen, für Familien auszusetzen, das ist schon ein sehr weit gehender Schritt. Aber es war damals, glaube ich, auch richtig. Sie haben hier gerade gesagt, Herr Müller: „Wir wissen heute mehr.“ Ja, wir wissen heute tatsächlich mehr. Jetzt können wir auch anders agieren. Das ist der erste Punkt. Zweitens war uns als Koalition wichtig, dass wir sehr zielgenau, sehr früh und sehr bedarfsorientiert Maßnahmen eingeleitet haben. Ich denke an die gesamten Leistungen der Hilfestellung mit Blick auf den Notfallkinderzuschlag, auf das Thema „Bildungs- und Teilhabepaket“. Wir haben dafür gesorgt, dass die Kinder, die jetzt zu Hause sind und nicht unbedingt eine warme Mahlzeit erwarten können, weiterhin ein kostenfreies Mittagessen bekommen. Das war richtig. Für uns war es auch wichtig, dass wir mit dem Infektionsschutzgesetz den Familien auch finanzielle Sicherheit gegeben haben und die Dauer der Lohnfortzahlung erweitern konnten. Uns Familienpolitikern war wichtig, dass dieser Anspruch bis zu 20 Wochen für die Familien besteht. Drittens. In dieser Phase geht es jetzt darum, in der Breite Impulse zu setzen, die einen konjunkturellen Einfluss haben, aber auch Kinder und Familien konkret stärken. Jetzt kann man lange darüber diskutieren, ob die 300 Euro Kinderbonus denn ökonomisch mehr oder weniger sinnvoll sind. Man kann lange darüber diskutieren, wie der genaue Ablauf sein soll. Entscheidend ist aber, dass wir signalisieren, dass wir das, was Familien leisten, was Eltern geleistet haben, honorieren, insbesondere die Leistungen derjenigen, die geringere finanzielle Mittel haben. Der Kinderbonus wirkt ja irgendwann nicht mehr, aber es ist, glaube ich, klug und gut und richtig, dass diejenigen, die wenig verdienen, ihn auch komplett bekommen, dass diese Eltern, diese Familien ihn nutzen können, um etwas für sich, für ihre Kinder zu tun. Dazu gehört auch, dass der Entlastungsbetrag der Alleinerziehenden jetzt auf 4 000 Euro verdoppelt wurde. Das war eine klare Botschaft, ein klarer Wunsch eines Koalitionspartners, nämlich insbesondere der CSU. Dafür sei auch Dank ausgesprochen; denn auch das ist ein deutliches Signal, dass wir nicht mit der Gießkanne, sondern sehr zielgenau unterstützen und genau die Bedarfe abfragen, die Familien haben. Das betrifft diejenigen, die Elterngeld bekommen, diejenigen, die Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket beziehen, aber auch diejenigen, die als Alleinerziehende eine besondere Aufgabe vor sich haben. Es ist also insgesamt ein ausgewogenes Paket. Was wir jetzt nicht machen sollten, Kollege Müller, ist, das, was wir schon immer fordern wollten, einfach nur unter das Label „Corona“ zu setzen. Wir haben ja hier in diesem Hause – ich weiß nicht, wie häufig – diskutiert über ein Kitaqualitätsgesetz. Jedes Kitagesetz, jedes Schulgesetz, jedes Gesetz der Kinder- und Jugendhilfe muss immer ein Qualitätsgesetz sein. ({3}) Denn es geht in den Bereichen der Kindertagesbetreuung, der Schulbildung, der Unterstützung von Frauen, von Familien, der Kinder- und Jugendhilfe immer um Qualität. „Satt und sauber“ reicht nicht. Vielmehr geht es darum, dass wir die höchsten Qualitätsstandards haben. Deswegen gehören Qualitätssteigerungen in der Kindertagesbetreuung – das sehen wir ja, glaube ich, ähnlich – zu den wichtigsten politischen und gesellschaftspolitischen Aufgaben unserer Zeit. Der Bund, der ja originär gar keine Kompetenz in diesem Bereich hat, hat dies als nationale Aufgabe gekennzeichnet, indem er zwischen 2008 und 2020 mittlerweile über 10 Milliarden Euro im Kitabereich investiert hat. Wir werden jetzt noch einmal 1 Milliarde Euro zur Verfügung stellen, ohne Kompetenzen bekommen zu haben. Das ist aber unsere Verantwortung als Bund. Nun kann man auch mit Blick auf die Coronakrise lange darüber diskutieren: Funktioniert denn dieser Föderalismus? Ich ärgere mich permanent über die Schwierigkeiten des Föderalismus; das machen wir alle. Aber unterm Strich muss man doch mal eins konstatieren nach dieser Zeit: Er hat in dieser schwierigen Krise funktioniert. Kommunen haben ihre Aufgaben wahrgenommen, Länder haben ihre Aufgaben wahrgenommen, und wir als Bund haben unsere Aufgaben wahrgenommen. Dazu gehört auch, dass wir im Bereich der frühkindlichen Bildung, der Kitabetreuung und auch der Ganztagsbetreuung jetzt als Bund noch mehr Geld in die Hand nehmen als schon vorgesehen und hier auch die Länder unterstützen, auch wenn wir keine Gesetzgebungskompetenz haben. Das heißt, das Prinzip des Föderalismus, die Abstimmung, hat ja funktioniert. Ich erinnere nur daran: Wir haben bereits das Gute-KiTa-Gesetz und entsprechende Mittel in Höhe von 5,5 Milliarden Euro verabschiedet. Dieses Gesetz bietet die Chance auf einen besseren Betreuungsschlüssel und kindgerechte Räumlichkeiten. Es bietet die Chance auf eine starke Kitaleitung und qualifizierte Fachkräfte, und es bietet die Chance auf mehr sprachliche Bildung und mehr Bewegungsförderung. Wir haben im Gute-KiTa-Gesetz übrigens auch die Gesundheitsförderung berücksichtigt. Jetzt wäre es klug, wenn die Länder das Geld nicht nur nehmen, um sich selbst zu entlasten, sondern um es in Qualität zu investieren, in die Gesundheitsförderung, in die Schaffung besserer Betreuungsschlüssel. ({4}) Als Bundestagsabgeordneter kann ich sagen: Darauf legen wir auch großen Wert. Dann muss man sich auch überlegen, wie wir das eigentlich begleiten. Dass man den Ländern Einnahmen aus Umsatzsteuerpunkten, die möglicherweise nicht bei den Kommunen ankommen, gibt, halte ich für problematisch; denn die Kommunen sind die Letzten in der Kette. Das sind nämlich diejenigen, die es dann tatsächlich entwickeln müssen. Deswegen sollten wir sehr stark darüber nachdenken, in welcher Form wir das vereinbaren, und auch klar sagen: Wir verlangen, wenn wir Geld in die Hand nehmen, schon, dass es einen Mehrwert für die Qualität, für die Familien und auch für die Kinder gibt. Dann reden wir sicherlich auch noch mal über das Thema Kinderrechte. In der Coronazeit – das muss man einfach sagen – sind die Rechte für Familien und für Kinder in Teilen sehr eingeschränkt worden. Und das müssen wir im Zusammenhang nicht nur mit den Kinderrechten im Grundgesetz, sondern auch mit anderen rechtlichen Fragen aufarbeiten. Darum werden wir uns kümmern, tatsächlich spätestens nach der Sommerpause. In dem Kontext darf ich daran erinnern, dass der Ausschuss nicht nur für Familien und Kinder zuständig ist, sondern auch für Senioren. Deshalb werden wir auch mal darüber reden: Wie ist die Lebenssituation der Älteren in diesem Land nach der Coronakrise? Wer denkt eigentlich an die älteren Menschen? ({5}) Ich glaube, es wird uns, den Familienpolitikern, ein wichtiges Anliegen sein, auch darüber nachzudenken, wie wir langfristig dazu kommen, dass die Senioren, die Kinder, die Jugendlichen und die Familien dann so aus der Coronakrise herauskommen, dass sie gestärkt werden und auch in den nächsten Jahren wissen, dass die Politik hinter ihnen steht: mit entsprechenden Gesetzen und entsprechenden Vorhaben. Wir sind dazu bereit. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Martin Reichardt für die AfD-Fraktion. ({0})

Martin Reichardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004859, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Linke möchte heute die Lehren aus der Coronakrise ziehen. Ich spreche Ihnen ab, überhaupt Lehren aus etwas zu ziehen. Hätten Sie die Lehren aus der Vergangenheit gezogen, dann hätten Sie sich längst aufgelöst. ({0}) Denn Sie sind die getarnte Partei der Mauerschützen der SED ({1}) – ich komme dazu –, eine Partei, die auf der Ideologie basiert, dass Gewalt und Unterdrückung legitim sind, um eine vermeintlich bessere Gesellschaft zu schaffen – Gewalt und Unterdrückung, vor der Sie auch in der frühkindlichen Bildung nicht haltmachen. Berliner Kita- und Grundschulkinder lernen, angeleitet von einer Liedermacherin, die oft auf Festen Ihrer Partei auftritt, und unterstützt vom rot-rot-grünen Senat, dass Gewalt ein Mittel der Auseinandersetzung ist. Zitat: Mit dem Gesicht vom Bösewicht wischt sie den Boden auf. Wenn er muckt und zuckt und spuckt, dann springt sie nochmal drauf. Dabei gehen die Kinder im Gleichschritt und skandieren: „Jetzt und allezeit: Wir sind stets bereit!“ Das gleicht, sicher beabsichtigt, dem Pioniergruß der DDR „Für Frieden und Sozialismus – Seid bereit!“. Besser könnte man das, was Sie sich unter frühkindlicher Bildung als Ihre Antifagewalterziehung vorstellen, gar nicht beschreiben. Da höre ich schon Ihren ehemaligen Parteivorsitzenden Walter Ulbricht in der Hölle Beifall klatschen. ({2}) In Ihrem Antrag, in dem viel von Kindern und frühkindlicher Bildung die Rede ist, fällt das Wort „Familie“ nur zweimal. Das Wort „Familie“ diffamieren Sie ja auch in Ihrem Parteiprogramm mit dem Genderkampfbegriff der heteronormativen Kleinfamilie. ({3}) Familien werden laut Ihrem Programm von Rechten als vermeintlich sicherer Hafen in unsicheren Zeiten verkauft und sind auch durch ein reaktionäres Weltbild geprägt. Hört! Hört! Aber ich sage Ihnen: Familien sind ein sicherer Hafen. Familien leben Toleranz, Vielfältigkeit und Liebe – ganz im Gegensatz zu Ihrer Ideologie von Menschenfeindlichkeit, Gewalt und Hass, die Sie den Kindern vermitteln wollen. ({4}) Ich spreche hier als traditioneller Familienvater von drei Kindern zum Antrag einer offensichtlich verfassungs- und familienfeindlichen Partei. Verfassungsfeindlich ist Ihr Antrag, die Beratungspflicht bei Abtreibungen auszusetzen. Linksextrem sind Ihre ganzen Organisationen wie die Kommunistische Plattform, die Antikapitalistische Linke und marx21. Damit, dass Sie den Terroristen Christian Klar auf Ihre Gehaltsliste gesetzt haben, haben Sie sich endgültig aus dem gesellschaftlichen Konsens entfernt. ({5}) Und mit Ihren Forderungen – zum Beispiel 25 Prozent Zuschlag auf das Bruttogehalt für Erzieher – nehmen Sie natürlich den Bund in die Pflicht. In Thüringen und Berlin, wo Ihre Genossen regieren, können die Erzieher von diesen linken Segnungen aber nur träumen. Hier ist das Gegenteil der Fall: In Thüringen bekommen Erzieher Kurzarbeitergeld, obwohl die Kitaträger nicht wie die Wirtschaft von Einbußen betroffen sind. Das ist Ihre linke Realpolitik. Ich will Ihnen eines sagen: Das, was Sie hier vorbringen, ist billigster Sozialpopulismus, den wir ablehnen. ({6}) Das Paradies, das Sie als SED/PDS/Linke den Menschen versprechen, wird nie existieren. Existent sind nur das Leid, die Unterdrückung und die Toten, die Ihre gewaltbereite Ideologie hervorgebracht hat. Vielen Dank. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Stefan Schwartze für die SPD-Fraktion. ({0})

Stefan Schwartze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004150, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die schlimmsten Auswirkungen der Pandemie haben wir, zumindest vorläufig, im Griff. Dass wir noch keine generelle Entwarnung geben können, zeigen Hotspots wie der Kreis Gütersloh und die erschreckenden Ereignisse um die Firma Tönnies. An dieser Stelle erst mal alle guten Wünsche an die Erkrankten! Ich hoffe sehr, dass ein kompletter Shutdown und eine Ausbreitung auf die ganze Region verhindert werden kann. Ich hoffe sehr, dass Schulen und Kindergärten bald wieder öffnen können. Es ist gut, dass Hubertus Heil ein Gesetz auf den Weg gebracht hat, das mit den skandalösen Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie aufräumt, ({0}) und jetzt sollten wir dieses Gesetz schnellstmöglich im Bundestag verabschieden. ({1}) Trotz solcher Ereignisse: Ein Stück Normalität kehrt in unser Leben zurück. Das ist ganz besonders wichtig für die Familien. Die Familien haben in den letzten Wochen und Monaten in der Zeit der Krise Unglaubliches geleistet und durchstehen müssen. Das wissen wir und haben deshalb auch große Anstrengungen unternommen, um ihnen beizustehen. Neben der Sorge um die Gesundheit ist die Sorge um den Arbeitsplatz, das Familieneinkommen, mit die größte. Deswegen haben wir sehr, sehr viel Geld in die Hand genommen, um Arbeitsplätze und damit auch das Familieneinkommen zu erhalten. Die Kurzarbeit rettet in dieser Zeit Millionen von Jobs und bewahrt damit Millionen Familien vor der Arbeitslosigkeit. Umso besser, dass wir bei der Höhe des Kurzarbeitergeldes noch mal Verbesserungen erreichen konnten. Schon ab nächsten Monat werden die ersten Betroffenen das auch auf dem Konto sehen. Gern hätten wir Sozialdemokraten das ab dem ersten Tag der Kurzarbeit erreicht. Aber auch so ist es ein Erfolg für die Familien und für uns alle, dass wir dies gegen den massiven Widerstand der Union durchgekämpft haben. Als einen weiteren Schritt haben wir dafür gesorgt, dass Einkommensverluste möglichst einfach und unbürokratisch aufgefangen werden können. Dazu haben wir unter anderem die Lohnfortzahlung bei fehlender Kinderbetreuung verlängert – eine Leistung, die Familien in schwerster Bedrängnis hilft. Es war ein harter Kampf mit den Bundesländern, auch mit denen, die von der Opposition hier im Haus mitregiert werden. Wir haben den Notfallkinderzuschlag eingeführt, der bis zu 185 Euro pro Kind und Monat betragen kann. Und wir haben das Elterngeld coronafest gemacht. Als weitere Unterstützung haben wir substanzielle Mittel zur Digitalisierung der Schulen und zur Anschaffung von Laptops und Computern zur Verfügung gestellt. Und jetzt, wo Licht am Ende des Tunnels zu erkennen ist, haben wir ein Konjunkturpaket geschnürt, das uns aus dieser Krise wieder hinausführt und der Wirtschaft wieder Kraft verleiht, das aber vor allem auch Familien stärkt, indem für jedes Kind 300 Euro zur Verfügung gestellt werden, ohne dass sie auf Sozialleistungen angerechnet werden, und indem der Entlastungsbetrag für Alleinerziehende auf 4 000 Euro mehr als verdoppelt wird. Diese Regelung hilft in dieser Situation vielen, die alleine ganz besonders betroffen sind. Das Konjunkturpaket hilft mit der Mehrwertsteuersenkung allen und ganz besonders denen, die einen Großteil ihres Einkommens für den Lebensunterhalt benötigen. Vergessen wir nicht, dass zu Beginn des neuen Jahres auch der Soli für 90 Prozent der Zahler wegfällt. Wir werden eine weitere Milliarde für den Kitaausbau und zwei zusätzliche Milliarden für den Ganztagsausbau zur Verfügung stellen. Damit erreichen wir eine wirkliche Verbesserung bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf und stärken die frühkindliche Bildung. Wir übernehmen mit unserem Paket auch Aufgaben der Länder. Wir machen das, weil wir die Aufgaben für wichtig und richtig halten, weil wir für Kinder und Eltern damit eine dauerhafte und gute Infrastruktur schaffen. Ich erwarte aber auch, dass die Länder den damit gewonnenen Spielraum nutzen und in die Qualität der Angebote im Kita- und im Ganztagsbereich investieren. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich abschließend ein wenig nach vorne schauen. Eine der Lehren aus dieser Krise ist sicherlich, dass ein eigener Leistungsanspruch für Kinder nötiger ist denn je. Deswegen setzen wir Sozialdemokraten uns für eine Kindergrundsicherung ein. Lassen Sie uns das Dreiklassensystem von Sozialleistungen, Kindergeld und Steuerfreibeträgen endlich abschaffen. ({2}) – Gerne. – Wir wollen dafür sorgen, dass Eltern eine gute und kostenlose Infrastruktur für ihre Kinder zur Verfügung steht und dass alle eine Kindergrundsicherung bekommen. Lassen Sie mich ganz am Ende noch einen Herzenswunsch äußern: Die Kinderrechte gehören ins Grundgesetz. Sie gehören dort ganz klar und fest verankert. Gerade die Entwicklungen und Ereignisse der letzten Zeit, die wir alle verfolgen durften, zeigen, dass Kinder in unserer Gesellschaft gar nicht genug Rechte haben können. ({3}) Mit all den Maßnahmen, die wir jetzt ergreifen, sorgen wir für die Familien und dafür, dass wir aus der Krise kommen. Wir lassen Familien und ihre Kinder in dieser Zeit nicht alleine. Wir kämpfen mit ganzer Kraft dafür, die Auswirkungen der Krise zu mildern und jetzt neu durchzustarten. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Matthias Seestern-Pauly das Wort. ({0})

Matthias Seestern-Pauly (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004890, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die letzten Monate haben unseren Familien und Fachkräften einiges abverlangt, und wenn wir ganz ehrlich sind: zu viel abverlangt. Wer aber diese massiven Belastungen alleine auf die Coronapandemie schieben möchte, macht es sich, meiner Meinung nach, deutlich zu einfach. Vielmehr ist es doch so, dass die aktuelle Ausnahmesituation in den Kitas ein Schlaglicht auf die strukturellen Versäumnisse der Bundesregierung der letzten Jahre wirft. Ich muss mich an dieser Stelle leider zum x-ten Mal wiederholen – es ist auch gerade angesprochen worden –: Das schlecht gemachte Kitagesetz rächt sich jetzt. ({0}) Die in diesem Gesetz ermöglichten horrenden Fehlanreize – Stichwort: pauschale Beitragsbefreiung statt tatsächlicher Qualitätssteigerung – fallen uns besonders in der aktuellen Situation auf die Füße. Denn wenn Kitas wegen Personalmangels nur bedingt öffnen können, wenn dadurch die Betreuungsgruppen größer werden, dann ist das weder im Sinne des Gesundheitsschutzes unserer Kinder noch in deren Bildungsinteresse. Vielmehr ist es doch so, dass unsere Eltern und Kinder verlässliche und qualitativ hochwertige Betreuungsangebote brauchen. Genau da müsste seit Langem in diesem Land angesetzt werden. ({1}) Besonders ernüchternd ist in diesem Zusammenhang, dass die Bundesregierung seit Jahren weiß, wie sehr auf Kante genäht die Arbeit in der frühkindlichen Bildung läuft. Sie weiß um den unverhältnismäßig hohen Krankenstand unter den Fachkräften, und sie weiß um deren kurze Verweildauer innerhalb des Jobs. Dies hat die Bundesregierung auch auf eine Vielzahl von Kleinen Anfragen bestätigt. Die spannende Frage ist jetzt natürlich: Welche Resultate, welche Schlussfolgerungen sind daraus gezogen worden, welche verbindlichen Maßnahmen wurden eigentlich unternommen? ({2}) Nichts. Selbst der halbherzige Versuch einer Fachkräfteoffensive wird nun von der Bundesregierung eingestellt. Völlig unverständlich! ({3}) Dabei wissen wir doch alle, wie wir die Rahmenbedingungen verbessern müssten, damit sich junge Menschen überhaupt einmal wieder für diesen wichtigen Job entscheiden. Erstens. Wir müssen endlich überall das Schulgeld abschaffen. ({4}) Zweitens. Wir müssen die Ausbildung vergüten. Und drittens. Wir müssen die Ausbildung im gesamten Bundesgebiet auf eine einheitliche Basis stellen. ({5}) Darüber hinaus müssen wir dann im beruflichen Alltag die Rahmenbedingungen so verbessern, dass sich unsere Fachkräfte wieder vollumfänglich darauf konzentrieren können, warum sie sich diesen schönen Job überhaupt mal ausgesucht haben – und das ist die Arbeit mit unseren Kindern. Dafür müssen wir unsere Fachkräfte von Verwaltungstätigkeiten entlasten und eine funktionierende Fachberatung ermöglichen. Dafür brauchen wir multiprofessionelle Teams, die auch die Kitaleitung entlasten. Dafür brauchen wir ein breites Angebot von Fort- und Weiterbildung, damit eine berufliche Weiterentwicklung ermöglicht wird. So werde ich als angehende Fachkraft inhaltlich in meiner Ausbildung gefördert und erhalte auch Anerkennung in Form einer Vergütung. So mache ich klar: Auch wenn ich die Leitung einer Kita übernehmen möchte, kann ich trotzdem weiterhin pädagogisch arbeiten. So weiß ich auch als Assistenzkraft, dass ich über die Fort- und Weiterbildung Wege und Möglichkeiten habe, mich beruflich zu entwickeln. Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn wir die Bildungschancen unserer Kinder ernst nehmen, dann müssen wir auch unsere Fachkräfte ernst nehmen. Die Versäumnisse der letzten Jahre werden nun unseren Eltern und Kindern als Rechnung präsentiert. Doch diese Rechnung geht nicht ausschließlich auf das Konto des Coronavirus. Einen großen Teil dieser Rechnung verdanken wir schlicht schlechter Regierungspolitik. Herzlichen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Zu ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag hat nun die Kollegin Charlotte Schneidewind-Hartnagel für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort. ({0})

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Seit Mitte März ist für Kinder nichts mehr normal. Viele der Schutzmaßnahmen im Rahmen der Pandemiebekämpfung wie Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen, Schul-, Kita- und Spielplatzschließungen haben massive Auswirkungen auf Kinder und ihre Rechte. Inzwischen haben die Einschränkungen familiäre Krisen verschärft, und die Gefahr von häuslicher und sexualisierter Gewalt gegen Kinder ist gestiegen. Die Rückmeldungen von Jugendämtern und erstes Zahlenmaterial haben dies bereits bestätigt. Die Bedingungen unter dem Infektionsschutz haben Problemlagen verschärft; aber Infektionsschutz darf Kinderschutz nicht hintenanstellen. ({0}) Kein Kind kann sich alleine schützen. Kinder haben ein Recht darauf, dass wir sie schützen. ({1}) Kinder haben auch das Recht auf Bildung, und das beginnt schon im frühkindlichen Bereich. Bereits vor Corona waren die Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen eng an die Einkommen ihrer Eltern gekoppelt. Inzwischen hat jeder Tag ohne Kita und ohne Schule diese Bildungsungerechtigkeit vergrößert und Zukunftschancen von Kindern erheblich beeinträchtigt. Das wird weitergehen, trotz aller Öffnungen. Erste Schulen schließen aufgrund von Coronainfektionen bereits wieder ihre Türen. Und machen wir uns nichts vor: Das wird uns auch noch nach dem Sommer begleiten und die Bildungschancen von Kindern mit schlechteren Startbedingungen weiter einschränken. Zwar sind Kinder vergleichsweise seltener und schwächer von einer Covid-19-Infektion betroffen; aber die Coronaabwehrmaßnahmen können negative Auswirkungen auf ihre seelische und körperliche Gesundheit haben und damit auf ihre Entwicklungschancen. Die Perspektive von Kindern, ihre Interessen und Bedürfnisse kamen während der Pandemiebekämpfung kaum vor. Und: Die Kinder wurden nicht gefragt. Wir reden hier sehr viel über Kinder, aber wir müssen dahin kommen, auch mit den Kindern zu sprechen ({2}) und vor allem mit ihren Interessensvertreterinnen und ‑vertretern. ({3}) Um dem Wohl und den Rechten von rund 13 Millionen Kindern und Jugendlichen in Deutschland gerecht zu werden und ihnen einen höheren Stellenwert einzuräumen, kann ein Kindergipfel als Aufbruchssignal dienen. Und dieses Signal ist dringend notwendig. ({4}) Die in der UN-Kinderrechtskonvention verbrieften Rechte müssen auch in Coronazeiten eingehalten werden. Wir müssen Schutz und Bedürfnisse von Kindern immer von vornherein mitdenken. Kinder haben ein Recht auf Schutz vor häuslicher und sexualisierter Gewalt. Die Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe brauchen jetzt unsere volle Unterstützung. ({5}) Wir müssen verhindern, dass Kinder vom digitalen Lernen ausgeschlossen werden, und in allen Familien müssen Internetzugang, Laptops und Tablets zur Verfügung stehen. Kinder haben ein Recht auf Bildung. ({6}) Wir brauchen einen Gerechtigkeitspakt für faire Bildungschancen, der bereits im frühkindlichen Bereich ansetzen muss, und wir brauchen pädagogische Präsenzangebote für Kinder mit besonderem Unterstützungsbedarf und besonders aus verletzlichen Familien. Wir brauchen ein Coronaelterngeld für berufstätige Eltern, die ihre Kinder zu Hause betreuen müssen. Die Erweiterung der Entschädigung für Verdienstausfälle von sechs auf zehn Wochen ist ein Tropfen auf den heißen Stein. Dass es keine Lohnfortzahlung für Arbeit im Homeoffice bei gleichzeitiger Kinderbetreuung gibt, zeugt von einer unglaublichen Realitätsferne. Homeoffice ist niemals eine Betreuungsoption. ({7}) Es macht für das Familienleben einen großen Unterschied, ob Kinder die Einschränkungen durch den Infektionsschutz in einem Einfamilienhaus mit Garten am Waldrand erleben oder in einer Zweizimmerwohnung in einer Hochhaussiedlung bei geschlossenen Spielplätzen. Und genauso wenig, wie das Leben von Erwachsenen nur aus Arbeit besteht, besteht das Leben von Kindern nur aus Schule und Hausaufgaben. Kinder haben ein Recht auf Spiel, Bewegung und Erholung, um gesund bleiben zu können. ({8}) Es macht für Kinder einen großen Unterschied, ob ihre Familien in prekäre Einkommenssituationen geraten oder ob sie finanziell abgesichert sind, und es macht einen großen Unterschied, ob Kinder das sogenannte Homeschooling in einer – auch sogenannten – bildungsfernen Familie erleben oder in einem bildungsaffinen Umfeld. Da ist Chancengleichheit weit entfernt. Zusammengefasst heißt das: Die Situation unter Coronabedingungen ist nicht für jedes Kind gleich. Aber alle Kinder haben gleiche Rechte, und wir sind diejenigen, die allen gleichermaßen zu ihren Rechten verhelfen müssen. ({9}) Deshalb lassen Sie uns endlich starke Kinderrechte in unserem Grundgesetz verankern! Vielen Dank. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Meinen Respekt! Es gelingt ganz wenigen Kolleginnen und Kollegen, bei der ersten Rede in der Zeit zu bleiben. ({0}) Das Wort hat der Kollege Maik Beermann für die CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Maik Beermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004250, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Viele Eltern und Kinder mussten in den letzten Monaten an ihre Belastungsgrenze gehen. Da wurde das Wohnzimmer zum Klassenzimmer, die Küche wurde zum Büro, und an der einen oder anderen Stelle kamen auch noch finanzielle und psychische Sorgen dazu. Bei aller Unterschiedlichkeit hier im Parlament eint uns sicher alle das Ziel, Kinder und Jugendliche gerade jetzt nicht zu übersehen, sondern genau wahrzunehmen, welche Bedarfe Kinder und Jugendliche haben. Ich kann daher Initiativen der Länder nur unterstützen, die genau das in den Blick nehmen und Maßnahmen auf den Weg bringen. Wir als Bund haben den Schutz und die besondere Perspektive von Kindern und Jugendlichen von Anfang an mitbedacht: ({0}) Wir haben – mein Kollege Marcus Weinberg ist darauf eingegangen – die familienpolitischen Leistungen krisenfest gemacht, Stichworte „Kinderzuschlag“ und „Elterngeld“. Wir haben für spürbare finanzielle Entlastungen für Alleinerziehende und Familien gesorgt – Stichworte „Verlängerung der Lohnfortzahlung“, „Verdopplung des steuerlichen Freibetrags für Alleinerziehende“ –, und der Kinderbonus kommt auch. Und wir geben als Bund weitere Zuschüsse eben auch für den Kitaausbau, für den schnellen Ausbau der Nachmittagsbetreuung an Grundschulen und für die digitale Bildung an Schulen. All das ist ein umfangreiches und großes Paket. Man sieht, wir haben die Kinder, aber auch die Familien nicht vergessen. ({1}) Extrem wichtig sind außerdem die Hilfen von rund 1 Milliarde Euro für die Jugendherbergen, für Schullandheime und andere gemeinnützige Organisationen; ({2}) denn viele dieser Einrichtungen mussten ihre Angebote für Kinder und Familien aussetzen und sind jetzt in existenzielle Nöte geraten. Und auch mit dem aktuellen Konjunkturpaket lassen wir bundesseitig Familien und Kinder nicht allein. Im Gegenteil: Wir legen da kraftvoll nach. Ich will hier auch nichts gutreden oder außen vor lassen. Natürlich fördert diese Krise auch Mängel zutage. Aber Untätigkeit oder Ignoranz kann man uns bundesseitig nun wahrlich nicht vorwerfen. ({3}) Ich möchte noch mal daran erinnern: Diese Krise ist keine verschuldete Krise gewesen, sondern ist eine unverschuldete Krise. Deshalb störe ich mich, ehrlich gesagt, daran, dass ein Großteil der Forderungen, die Sie hier aufstellen, in der verfassungsrechtlichen Zuständigkeit der Länder liegt. Fragen zur Ausstattung, Ausbildung und zum Personal im Kita- und Schulbereich sind eben auch Aufgaben der Bundesländer. Das dürfen wir nicht vergessen. Hier kann der Bund lediglich unterstützen, aber eben keine Vorgaben machen, ({4}) die für alle Länder gleichermaßen gelten. Deshalb halte ich die Aussage „Wir brauchen keinen Autogipfel, sondern einen Kindergipfel“ für daneben. Sie erwecken den Eindruck, dass wir hierzulande gewissermaßen eine Lücke hätten, und das ist falsch. ({5}) Wir haben mit der Jugend- und Familienministerkonferenz ein Gremium, das ständig über aktuelle Themen der Kinder-, Jugend- und Familienpolitik berät und Beschlüsse fasst. Und das Gleiche haben wir für den Schulbereich mit der Kultusministerkonferenz, meine Damen und Herren. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die vorübergehend unumgänglichen Schließungen von Kinderbetreuungseinrichtungen und Schulen waren und sind bis heute sehr belastend. Als Familienpolitiker haben wir in dieser Woche sicher alle mit Spannung auf die Ergebnisse der Studie in Baden-Württemberg geblickt. Kinder von ein bis zehn Jahren sind nicht so häufig mit dem Coronavirus infiziert wie ihre Eltern und sind auch nicht als Treiber dieser Infektion anzusehen, so sagt es diese Studie. Diese Ergebnisse waren wichtig, damit die Öffnungen von Kitas und Schulen wissenschaftlich untermauert werden können. Und natürlich sind sie wichtig, um eine Perspektive geben zu können, Eltern zu entlasten und Kinder endlich wieder mehr Kontakt zu Gleichaltrigen zu ermöglichen. Das ist ungemein wichtig. Das Ergebnis dieser Studie und die positive Entwicklung des Infektionsgeschehens schenken Zuversicht, natürlich immer auf Grundlage von Schutz- und Hygienekonzepten der zuständigen Fachministerkonferenzen. Ich bin der Meinung, dass wir bei gleichbleibend positivem Infektionsgeschehen hoffentlich nach den Sommerferien in den schulischen Regelbetrieb zurückkehren können und dies auch sollten. Gleiches gilt auch für den Regelbetrieb der Kinderbetreuungsangebote. Gerade in Richtung der Grünen bin ich aber dann doch das eine oder andere Mal baff, was deren Antragstellung betrifft. Sie sitzen mittlerweile in 11 von 16 Bundesländern in der Landesregierung. Sensibilisieren Sie doch lieber mal Ihre Landtagskolleginnen und Landtagskollegen, anstatt hier Symbolpolitik zu betreiben und ein falsches Bild über Zuständigkeiten zu zeichnen. ({6}) Mitarbeit und klare Bekenntnisse statt wohlklingender Überschriften würde ich mir übrigens auch beim Thema „Strafverschärfungen bei Kindesmissbrauch“ von Ihnen wünschen. Da kommt bisher sehr wenig bzw. wenn dazu mal was gesagt wird, dann nur Irritierendes, zum Beispiel von Ihrem thüringischen Justizminister Dirk Adams, der schärfere Strafen für Kinderpornografie ablehnt. Meine Damen und Herren, es ist an der Zeit, zu handeln. Der Schutz von Kindern kann nicht warten. Jeder Missbrauch an einem Kind ist Mord an einer Kinderseele. Wir von der Union fordern daher auch das Bundesjustizministerium auf, einen Gesetzentwurf zügig vorzulegen. Die Fälle von Kindesmissbrauch müssen in jedem Fall, liebe Kolleginnen und Kollegen, als Verbrechen eingestuft werden. ({7}) Und: Ich entschuldige mich für meine Wortwahl, aber diese Schweine, die so was machen, die gehören weggesperrt und nicht mit irgendwelchen Bewährungsstrafen auf freien Fuß gesetzt. Ich habe gerade eine solche Situation auch in meinem Wahlkreis. 2015 hat dort ein ehemaliger Lehrer seinen zweijährigen Sohn misshandelt und hat über 30 000 Dateien an kinderpornografischem Material gehabt. 2,5 Jahre Freiheitsstrafe hat er bekommen. Man ist in Berufung gegangen. Jetzt wurde diese Freiheitsstrafe für zwei Jahre auf Bewährung ausgesetzt. So etwas darf nicht passieren und zeigt, dass bei uns im Land bei dieser Frage einiges schiefläuft. ({8}) Auch der Besitz von Kinderpornografie muss mit einer längeren Haftstrafe versehen werden – mindestens drei bis fünf Jahre. Wenn es nach mir geht, gerne auch mehr. Natürlich müssen wir auch bei der Präventionsarbeit besser werden und auch Richterinnen und Richter noch stärker sensibilisieren und schulen. Gerade auch im Bereich der Familienrichter, liebe Silke Launert, muss eben einiges getan werden. Bei der Fahndung nach Kinderschändern und der Strafverfolgung bei Kinderpornografie kann der Datenschutz der Täter nicht über dem Schutz der Kinder stehen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Das darf eben auch nicht sein. ({9}) Und Kindesmissbrauch darf nicht länger aus dem erweiterten Führungszeugnis gestrichen werden. Das hat auch etwas mit Prävention zu tun. Die Verjährung muss hier ganz dringend aufgehoben werden. Sie sehen, hier gibt es einiges zu tun. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer das Schweigen bricht, bricht die Macht der Täter. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Johannes Huber für die AfD-Fraktion. ({0})

Johannes Huber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004764, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Linken wollen einen Kindergipfel – so weit, so gut. Der Antrag der Sozialisten in diesem Haus erinnert aber stark an das Sprichwort „Wenn man nicht mehr weiterweiß, gründet man einen Arbeitskreis“. Um Kindern und Jugendlichen gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen, wäre es aus unserer Sicht nun viel wichtiger, die kinderfeindlichen Kontaktbeschränkungen endlich aufzuheben und jeglichen staatlichen Hausarrest zu beenden. ({0}) Den Linken geht es aber weniger um die Kinder, sondern mehr darum, im Windschatten der Lockdown-Krise ihre sozialistischen Utopien zu verbreiten. ({1}) Als Grund für den Kindergipfel nennen Sie nämlich eine Verletzung der sogenannten UN-Kinderrechte und führen damit den staatlichen Trojaner an, der sich künftig in den Familien einnisten soll. ({2}) Ihre Anträge lesen sich generell, als wollten Sie Familien mindestens teilweise durch eine offene Jugend- und Kinderarbeit ersetzen. So fabulieren Sie, dass Kinder vor allem dort Wertschätzung erfahren würden und ein offenes Ohr für ihre Probleme fänden. Es mag sein, dass dies für viele Heranwachsende tatsächlich der Fall ist. Die meisten Kinder und Jugendlichen erleben aber genau das glücklicherweise in ihrer eigenen Familie. Gerade die vergangenen Monate haben uns allen vor Augen geführt, wie elementar wichtig die traditionelle Familie ist. ({3}) Die traditionelle Familie ist der Ort der Geborgenheit und die kleinste funktionierende Einheit der Gesellschaft. ({4}) Sie zu stärken – und das sollte eigentlich auch für die Grünen gelten –, ({5}) sollte eine der wichtigsten Lehren in dieser Krise sein. ({6}) Wir schreiben der Regierung aber auch klar ins Stammbuch: Vergessen Sie die erwerbstätigen Eltern nicht. Sie sind das Rückgrat des deutschen Wirtschafts- und Sozialsystems, und gerade in der Krise erleiden sie durch die Doppel- und Dreifachbelastung besondere Einbußen und leiden besonders unter der aktuellen Herrschaft der willkürlichen Maßnahmen. ({7}) Nicht nur mussten sie ohne Vorbereitung die Betreuung ihrer Kinder organisieren, sie erleiden auch in besonderem Maße Einbußen: Während nämlich nur 17 Prozent der Alleinlebenden weniger Geld als noch vor der Lockdown-Krise zur Verfügung haben, sind über 30 Prozent der Haushalte mit Kindern davon betroffen. Anstatt ihnen jetzt weitere finanzielle Entlastungen durch höhere Steuerfreibeträge und geringere Sozialabgaben zu gewähren, soll vielmehr der Kinderbonus auch noch mit den Kinderfreibeträgen verrechnet werden. Das ist für uns eine einkommensbedingte Diskriminierung, die bereits einen durchschnittlichen Vollzeitbeschäftigten in Deutschland betrifft ({8}) und das fatale Signal aussendet, dass diese Bundesregierung in diesem Land Arbeit und Leistung nicht mehr belohnt. ({9}) Die AfD setzt sich dagegen als Anwalt der Familie auch für Entlastungen dieser Eltern ein – für alle. Was wir insgesamt brauchen, sind weniger Symbolpolitik von den Linken oder der Bundesregierung und weniger Bevormundung als vielmehr Familien, denen Luft zum Atmen bleibt. Vielen Dank. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Ulrike Bahr für die SPD-Fraktion. ({0})

Ulrike Bahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004246, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geehrte Kollegen und Kolleginnen! Es steht völlig außer Frage: Die Jugendverbände mit ihren Angeboten, die offene Jugendarbeit in unseren Städten und Gemeinden und auch die Jugendsozialarbeit bereichern das Leben unzähliger Kinder und Jugendlicher. Zu Coronazeiten waren und sind diese wichtigen Akteure einerseits wirtschaftlich gefährdet, andererseits stark in ihrer Kreativität gefordert; denn mit Abstand und Kontaktbeschränkungen sind weder Gruppenaktivitäten mit Spiel und Spaß noch Beratungssituationen Face to Face gut möglich. So haben die Jugendtreffs des Stadtjugendrings bei mir zu Hause in Augsburg erst vor zwei Wochen unter Auflagen wieder öffnen dürfen. Trotzdem haben Fachkräfte wie auch freiwillig Engagierte versucht, mit Onlineangeboten und kreativen Ideen weiter zu unterstützen. Das verdient zweifellos Wertschätzung. ({0}) Unsere Jugendministerin Franziska Giffey hat diese Wertschätzung immer wieder und auch schon zu Beginn der Krise zum Ausdruck gebracht. In unserem ersten Hilfepaket haben wir mit dem Sozialdienstleister-Einsatzgesetz einen Schutzschirm für die Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe aufgespannt, die coronabedingt nicht arbeiten konnten. Bereits im März hat das Familienministerium an die Länder appelliert, die Mitarbeitenden in der Kinder- und Jugendhilfe als systemrelevant einzustufen. Die Onlineberatungsangebote des Bundes wurden gestärkt, aber auch die Fachkräfte mit einer Kommunikations- und Transferplattform unterstützt, auf der Beispiele guter Praxis gesammelt und weitergegeben wurden. Denn die Kinder- und Jugendhilfe hat wieder einmal gezeigt, was sie draufhat und wie schnell sie sich unter neuen Bedingungen neu erfinden kann. Schauen Sie doch einfach auch mal die Webseite www.forum-transfer.de an. Hier haben das Institut für Sozialpädagogische Forschung Mainz, die Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen und die Universität Hildesheim sehr praxisnah und für alle Hilfearten Anregungen, Praxisbeispiele, rechtliche Hinweise und auch Tipps zur Stabilisierung der Fachkräfte selbst zusammengetragen. Gerade auch für die Straßenkinder in ihrer schwierigen Situation gab und gibt es Onlineberatungen des Projektpartners Off Road Kids. Die Mitarbeitenden aus den Streetworker-Stationen haben im Live-Chat viel abfangen können und Jugendliche, die nicht mehr bei Freunden unterkommen konnten, auch während der Coronazeit in Hilfen vermittelt. Wenn das nur als Tropfen auf den heißen Stein wahrgenommen wird, dann gibt es dafür zwei Gründe: Einmal ist, wie wir alle hier wissen, eine direkte Förderung des Bundes für Jugendarbeit, Jugendsozialarbeit und Jugendverbände nur in engem Rahmen möglich, nämlich entweder über Modellprojekte oder über die Förderung einzelner überregionaler Träger im Kinder- und Jugendplan. Und zum anderen ist die Arbeit der Kinder- und Jugendhilfe leider viel zu selten im Zentrum der Aufmerksamkeit, wenn es nicht gerade um sexuellen Missbrauch oder schlimme Fehler bei der Inobhutnahme von Kindern geht. Die tägliche gute Arbeit und auch das Lob aus der Politik sind den Medien häufig leider keine Nachricht wert. Ich bin mir dennoch sicher, dass unser heute anberatenes Konjunkturpaket auch für die Kinder- und Jugendhilfe Wirkung zeigen wird: Die Kommunen, die vor Ort die Angebote vorhalten und finanzieren müssen, werden mit 9,5 Milliarden Euro entlastet. Auch vom Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Kinder im Grundschulalter erwarte ich mir neuen Schwung und fördernde Impulse. ({1}) Denn guter Ganztag geht immer auch mit Konzepten für partizipative Kinder- und Jugendarbeit, für Zusammenarbeit mit geschätzten Verbänden und mit einem Ausbau der Schulsozialarbeit einher. Für den Ganztag gibt es jetzt eine sichere Zusage von 1,5 Milliarden Euro mehr an Investitionsmitteln. ({2}) Auch die Ministerpräsidentenkonferenz hat sich am Mittwoch für den Rechtsanspruch ausgesprochen. Das wird die Jugendarbeit stärken und voranbringen. ({3}) Denn der Rechtsanspruch ist nur in Kooperation von Schule und Jugendhilfe, von öffentlichen und freien Trägern und gemeinsam mit den Verbänden umzusetzen. Die Reform der Kinder- und Jugendhilfe steht ohnehin auf der Agenda, und in dem wirklich gelungenen Dialogprozess „Mitreden – Mitgestalten“ im letzten Jahr waren etliche Punkte Thema, die sich jetzt auch im Antrag der Linken wiederfinden. So soll die Kinder- und Jugendarbeit niedrigschwellig und inklusiv ausgestaltet werden, sodass noch mehr Heranwachsende davon profitieren können. Auch sollen Kinder, Jugendliche und ihre Familien noch stärker als Experten und Expertinnen in eigener Sache wahrgenommen und einbezogen werden. In diesem Dialogprozess zur SGB-VIII-Reform haben wir auch besprochen, die präventiven Angebote und die Beratungsmöglichkeiten verpflichtend auszubauen und zu stärken. Diese gemeinsame Verabredung wird – da bin ich mir ganz sicher – auch im neuen Kinder- und Jugendstärkungsgesetz ihren Niederschlag finden. Ich freue mich auf einen wirklichen Meilenstein, den wir im Herbst und im Winter parlamentarisch beraten werden. ({4}) Schließlich: Mehr Geld für die Beschäftigten in der Kinder- und Jugendhilfe finde ich als GEW-Mitglied immer gut. Aber das gilt während Corona und auch danach und muss ordentlich gegenfinanziert werden. Denn zahlen müssen am Ende die kommunalen oder gemeinnützigen Arbeitgeber, und die müssen trotz Einnahmeausfällen wegen der Coronakrise dazu in der Lage sein. Vielen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Abgeordnete Britta Katharina Dassler für die FDP-Fraktion. ({0})

Britta Katharina Dassler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004700, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat sich bisher als krisenfest erwiesen. Es ist klar zu erkennen, dass sie alles daransetzt, die Gesundheit der Menschen zu schützen. Dafür danken wir Ihnen sehr. Umso erstaunlicher ist es jedoch, dass von Ihnen als Bundesregierung mit Blick auf die frühkindliche Bildung kaum etwas zu hören ist. Lassen Sie mich eines vorwegsagen: Es ist doch wissenschaftlich erwiesen, dass wesentliche Voraussetzungen für den späteren Bildungserfolg unserer Kinder in der frühesten Kindheit geschaffen werden. Die Kita spielt eine ganz zentrale Rolle; denn hier werden wichtige Lernprozesse verinnerlicht und nützliche Verhaltensmuster gefestigt. Frühkindliche Bildung, meine Damen und Herren, ist damit nicht nur das erste Glied in einer jahrelangen Bildungskette, sondern bildet doch zugleich auch das Fundament für Bildungsgerechtigkeit. ({0}) Wer das vernachlässigt, gefährdet die Zukunftsperspektiven der künftigen Generationen. ({1}) Deshalb führen wir hier und heute keine Luxusdebatte, sondern wir führen eine Debatte, meine Damen und Herren, die entscheidend für die Zukunft unseres Landes ist. Denn auch unser Schulwesen benötigt dringend neue und zeitgemäße Standards. Die Digitalisierung – das wissen wir alle – bietet dabei große, große Chancen. Sie kann individuelles Lernen erleichtern; sie kann Kurse vernetzen; und sie kann bei der Inklusion helfen. Wir Freie Demokraten setzen uns seit vielen, vielen Jahren dafür ein, das Potenzial von digitalen Inhalten sinnvoll zu nutzen. Wir sollten deshalb die gegenwärtige Krise als Chance begreifen, meine Damen und Herren, unser Schulwesen jetzt endlich zielgerichtet zu digitalisieren. ({2}) Denn moderne Bildung darf in Deutschland nicht länger ein Privileg sein, sondern muss endlich zum Standard werden. Betrachten wir alle gemeinsam mal die Situation der Eltern daheim, so stellen wir fest: Die Herausforderungen – wir haben es heute schon gehört – wachsen von Tag zu Tag. Das betrifft besonders Familien in ökonomischer Risikolage. Für viele Haushalte ist es schlicht ein Kraftakt, Beruf, Kinderbetreuung und Homeschooling unter einen Hut zu bringen. Infolge dieser Mehrfachbelastung der Eltern tragen doch Sie als Bundesregierung eine besondere Verantwortung, Familien gerade in diesen Ausnahmezeiten angemessen zu unterstützen. ({3}) Lassen Sie mich zum Schluss, Herr Röspel, eins noch sagen: Es ist auch meine oberste Priorität, Kinder, Eltern und Fachkräfte vor Infektion zu schützen. Dennoch dürfen wir doch nicht aus den Augen verlieren, dass Bildung die Grundlage für ein selbstbestimmtes Leben ist. ({4}) Eine frühe Förderung unserer Kinder entscheidet doch maßgeblich über Entwicklungschancen und Aufstiegschancen. Deshalb ist es die Aufgabe von uns allen zusammen, alles dafür zu tun, dass aus dieser Coronakrise keine Bildungskrise wird, meine Damen und Herren. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Dassler, achten Sie bitte auf die Zeit.

Britta Katharina Dassler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004700, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, gleich. – Denn die Rechte unserer Kinder auf Bildung, Betreuung und Erziehung müssen auch während Covid-19 gewährleistet sein. Liebe Bundesregierung, lassen Sie doch Ihren Worten Taten folgen! An diesen Taten werden wir Sie messen. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin Katrin Werner das Wort. ({0})

Katrin Werner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004188, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Frau Ministerin Giffey, vor einer Woche sagten Sie, das Konjunkturpaket sei ein „echter familienpolitischer Wumms“. Ja, der Kinderbonus ist gut, um Familien mit geringen Einkommen etwas zu entlasten. Grundsätzlich wird sich aber eben nichts gravierend an der Kinderarmut in diesem Land ändern. Sie wird durch Corona sogar noch verschlimmert. Die Mehrwertsteuersenkung wird am Ende wahrscheinlich auch nicht in der Tasche der Familie landen, sondern bei den Unternehmen. Wissen Sie, einen kleinen Einblick in die reale Situation von Alleinerziehenden und Familien mit geringen Einkommen konnte man am Wochenende auf Twitter erhalten. Eine Initiative von alleinerziehenden Müttern hatte dort eine Umfrage unter Alleinerziehenden gestartet. Die Frage: Wofür würdet ihr den Kinderbonus für die Kids einsetzen, würdet ihr den vollen Bonus zur Verfügung haben? – Die Antworten, meine Damen und Herren: ein neues Bett, eine Matratze, eine Zahnspange, ein Tablet für Homeschooling, Schuhe, neue Kleider, einen Schulranzen. – Kindern von Alleinerziehenden und Familien mit geringen Einkommen fehlt es eben am Allernötigsten. Wenn wir mal alle ganz ehrlich sind: Die Summe dieser ganzen zusätzlichen Belastungen haben dazu geführt, dass die Familien seit Beginn der Krise den Kinderbonus doch schon dreimal ausgegeben haben. 300 Euro Kinderbonus reichen also hinten und vorne nicht: Geräte für Homeschooling, Drucker, Druckerpatronen, Papier, höhere Strompreise, gestiegene Lebensmittelpreise. Hinzu kommen Lohnausfälle und die Angst um den Job. Jeder Euro muss doch dreimal umgedreht werden, und auf andere notwendige Dinge muss doch wieder verzichtet werden. Der Kinderbonus – das sagen wir ganz ehrlich – ist damit wirklich nur ein Tropfen auf den heißen Stein. ({0}) Es ist Zeit, dass die Kinderarmut endlich effektiv und nachhaltig bekämpft wird. Ja, dazu brauche ich eine Kindergrundsicherung, die alle Kinder vor Armut schützt. ({1}) Was an dieser Stelle wirklich deutlich wird: Alleinerziehende erhalten lediglich die Hälfte des Kinderbonus; die andere Hälfte geht zum unterhaltspflichtigen Elternteil. Wir finden, ehrlich gesagt: Der Kinderbonus gehört in den Haushalt, wo das Kind überwiegend lebt und wo er direkt dem Kind zugutekommt. ({2}) Wir haben als Linksfraktion einen Rettungsschirm für Familien gefordert, der vor allem ärmere Familien schützen soll. Die Sozialleistungen, die das Existenzminimum sichern sollen, waren schon vor Corona zu gering. Die Krise hat auch diese Situation verschärft. Es ist zwar gut, dass der Kinderbonus auch für Familien in Hartz IV greift, doch er reicht einfach nicht aus. Wir brauchen endlich einen Pandemiezuschlag von 200 Euro pro Monat auf Hartz IV und auf die Grundsicherung im Alter. Das würde am Ende ja auch die Konjunktur ankurbeln; denn ärmeren Familien fehlt es, wie ich gerade gesagt habe, an den nötigsten Anschaffungen. Deshalb zum Abschluss: Packen Sie an, die Armut von Kindern und Familien in diesem Land endlich nachhaltig abzuschaffen, und legen Sie vernünftige Programme vor! ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun Dr. Silke Launert das Wort. ({0})

Dr. Silke Launert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004336, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Zwei Dinge hatten wir, die unsere Kindheit zu dem machten, was sie war: Geborgenheit und Freiheit. – In diesem eindrücklichen Satz benennt die berühmte Kinderbuchautorin Astrid Lindgren die zwei wohl wichtigsten Säulen für ein glückliches Aufwachsen. Die eine Säule ist Geborgenheit, ein sicheres Netz, das Wärme und Schutz vermittelt, und die andere Säule ist Freiheit, Freiheit, sich auszuprobieren und die eigene Persönlichkeit zu entwickeln als Grundlage für ein selbstbestimmtes Leben. Das Thema Freiheit bzw. vielmehr deren Beschränkung nimmt aufgrund der Coronakrise auch in der heutigen Debatte einen zentralen Raum ein; denn Kinder wie auch Erwachsene waren massiven Beschränkungen ausgesetzt. Sie durften nicht mit ihren Freunden, nicht mal in der Nachbarschaft, spielen. Sie durften nicht in die Schule oder Kita, nicht zu ihrem Fußballverein, nicht zu Oma und Opa, bzw. diese durften nicht einmal kommen. Was für Erwachsene schon schwer verständlich war, war umso schwerer den Kindern zu vermitteln. Ja, wir haben den Kindern viel abverlangt, und es war nicht immer leicht. Die meisten von uns, insbesondere die, die im Familienbereich tätig sind, haben ja selbst Kinder und haben live miterlebt, wie das war; es war nicht leicht für die Eltern. Aber man muss auch sehen: Wir haben das doch nicht gemacht, um den Kindern zu schaden; ganz im Gegenteil. Der Gesundheitsschutz diente auch den Familien. Das konsequente Handeln, das am Anfang vor Ort da war, hat uns geholfen, dass wir besser als andere aus der Krise gekommen sind; ich glaube, das zeigt der Vergleich zu Schweden. Es ist auch nicht wahr, dass – ich habe es schon öfters in den Medien gehört, auch hier in der Debatte – der Kinderschutz und das Recht der Kinder auf Bildung keine Rolle gespielt haben. Es gab keine Telefonkonferenz mit der Ministerin, in der wir nicht darüber geredet haben: Wie können wir die Kinder wieder in die Kitas bringen, damit sie Bildung haben? Ist es vertretbar oder nicht? Es gab keine CSU-Parteivorstandssitzung, in der nicht intensiv darüber diskutiert wurde, und auch keine Sitzung der Familien-AG der Union, in der übrigens fast alle im Homeoffice gearbeitet und ihre kleinen Kinder selbst betreut haben, sie also die Situation genau wie all die anderen Eltern erlebt haben. Es ist nicht wahr, dass wir uns keine Gedanken gemacht haben; das haben wir. Es war eine sehr, sehr schwierige Abwägung, und es ist uns allen schwergefallen. Es ist schade, dass man jetzt eher aus parteipolitischen Gründen so tut, als hätten wir uns keine Gedanken gemacht. Warum kann ich das sagen? Weil man den Familien nicht das Richtige sagt, weil man ihnen Sand in die Augen streut. Das führt dazu, dass sich Familien von der Politik verraten fühlen und dann letztlich zu Extremen tendieren, was nicht richtig ist; denn sie waren immer Teil unserer Diskussion und Abwägung. ({0}) Und auch als wir bei den einzelnen Maßnahmen entschieden haben, dass die Einrichtungen zubleiben, am Anfang noch die Spielplätze, haben wir gefragt: Wie können wir unterstützen? Es gab ganz viele Vorschläge, und davon ist auch schon viel umgesetzt worden. Zum Beispiel ist im Infektionsschutzgesetz eine Entschädigungsleistung vorgesehen für Eltern, die sich ihren Kindern widmen und deshalb nicht arbeiten können. Wir haben das Elterngeld reformiert, einen erleichterten Zugang zum Kinderzuschlag. Wir haben im Konjunkturpaket jetzt noch mal die Gelder für die Kinderbetreuung aufgestockt. Bei der Ganztagsbetreuung – wir werden ja bald sehen, wie es läuft; der erste Teil ist ja schon erfolgt – machen wir uns Gedanken. Wir haben im Konjunkturpaket den Kinderbonus. Also: Es gibt ohne Ende Maßnahmen. Selbst beim ganz normalen Kurzarbeitergeld ist der Satz für Familien erhöht worden; ich will gar nicht verfassungsrechtlich darüber diskutieren. Ich freue mich natürlich, weil ich sehe, dass die Familien das Geld wirklich brauchen. Dass wir da nichts gemacht haben, ist also nicht richtig. Ja, auch die Defizite im Zusammenhang mit der Schule und der Digitalisierung sind uns bewusst geworden, und wir versuchen, zu handeln und Pakete zu schnüren. Ich habe mich besonders über die Verdopplung des Freibetrags für Alleinerziehende gefreut und darüber, dass die CSU nicht nachgegeben hat. Denn es ist essenziell, dass genau die, die voll arbeiten, etwas vom Freibetrag haben; das sind nämlich die, die Steuern zahlen, die sich aufgeopfert haben, die Kinder komplett allein betreuen und von morgens bis abends arbeiten mussten. Das ist genau das richtige Signal; auch da haben wir was gemacht. ({1}) Ich kann nicht verstehen, wie man im Ernst sagen kann: Ihr habt die Kinder in dieser Diskussion vergessen. – Haben wir nicht; wir hatten sie jeden Tag auf dem Schirm. Ich kann Ihnen sagen: Bei all den guten Vorschlägen, die immer wieder kommen – ob man jetzt einen Kindergipfel macht oder nicht; das ist für mich mehr Show als Realpolitik; aber man kann immer solche Gipfel machen; es schadet ja nicht –, werden wir mit diesen Schritten weitermachen. Sie haben schon gehört – es ist von meinen Vorrednern aus der Koalition angesprochen worden –, was weiter geregelt wird. Ich freue mich jetzt wirklich auf die Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder, die dringend – dringend! – erforderlich ist und die auch schon vor Corona erforderlich war. Das hat nichts mit der Coronakrise zu tun; das hatten wir bereits im Koalitionsvertrag vereinbart. Denn es ist einfach wichtig, dass die Familien wissen: Es ist nicht so, dass die Politik nicht zuhört und sich nicht für sie interessiert. Übrigens: Die Politik – das sind auch alles Familien. Wir wollen die Rahmenbedingungen schaffen, damit ein Kind gesund aufwachsen kann und dass es die beiden Sachen hat, die es wirklich braucht: Geborgenheit und Freiheit. Vielen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache.

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist wirklich gut: Während in der EU diese Woche über Hilfsprogramme im Rahmen der Coronakrise in Höhe von 2 000 Milliarden Euro für die 27 EU-Staaten diskutiert und parallel dazu über diese befunden wird und nachdem der Bundestag diese Woche über Stützungsprogramme in Höhe von 200 Milliarden Euro diskutiert hat, nehmen wir uns am Ende der Woche noch 30 Minuten Zeit für den Rest der Welt, für die Ärmsten der Armen, für 4 Milliarden Arme, für 850 Millionen Hungernde und für 80 Millionen Flüchtlinge in den Flüchtlingscamps. Denn auch dort ist das Virus angekommen, und es trifft die Ärmsten der Armen sehr, sehr hart. Ich bedanke mich hier bei den Fraktionen, meine Damen und Herren – bei fast allen Fraktionen. Bis auf die AfD bekennen sich alle hier im Haus zur Verantwortung für die Entwicklungs- und Schwellenländer. Meinen herzlichen Dank! Man kann im Einzelnen über die Anträge und über die Schwerpunkte diskutieren: Bis auf die AfD haben wir einen breiten inhaltlichen Konsens, und das ist großartig. Deutschland setzt hier ein enorm wichtiges Zeichen der Solidarität in Richtung der Armen und der Schwachen. ({0}) Weil Sie über Kinder gesprochen haben: Denken Sie an den Bumerang. Wir sind froh, dass wir in Deutschland und in Europa bei der Pandemiebekämpfung erfolgreich vorankommen. Aber dieses Virus wird wie ein Bumerang zurückkommen, bekämpfen und besiegen wir es nicht weltweit. In diesen Tagen haben wir die höchsten Neuinfektionszahlen mit über 150 000 Menschen täglich. Ganz hart ist diese Krise jetzt in Lateinamerika – Stichwort: Venezuela – und Regionen Asiens, etwa in Indien, angekommen, aber natürlich gerade auch in Afrika. Wir haben jetzt keine verlässlichen Zahlen, weil die Tests und die Häufigkeit der Tests das in diesen Ländern nicht hergeben. Aber wir wissen, dass die Pandemie dort dramatische Folgen hat, und zwar nicht nur durch das Virus. In Guatemala hängen die weißen Fahnen raus. Diese weißen Fahnen dort bedeuten: Hier wird nicht wegen des Virus gestorben und auch nicht, weil keine Beatmungsgeräte da sind und keine Intensivmedizin möglich ist, sondern wegen Hunger. „Wir verhungern“, sagen uns die Menschen. Übertragen Sie die Situation in Deutschland auf den Sudan, auf Äthiopien, auf Indien, auf diese Länder: Ein kompletter Lockdown in diesen Ländern hat sämtliche Transportketten und Möglichkeiten der Versorgung auf dem Lande nicht nur eingeschränkt, sondern verhindert. Es geht um Hunger, um eine der dramatischsten Hunger- und Wirtschaftskrisen, die sich in diesen Ländern aufbaut; denn die Reichen der Welt haben ihr Kapital sehr schnell in die sicheren Häfen umgeleitet. Ein Kapitalabfluss in Höhe von 100 Milliarden Euro in den letzten Wochen hat auch zu einer Liquiditätskrise der Staaten geführt. Ich bin dem IWF, aber auch der Weltbank dankbar, die sofort oder zumindest sehr schnell reagiert haben. Aber wir haben es im Augenblick mit Millionen von Arbeitslosen zu tun, mit 1 Milliarde Kinder ohne Möglichkeit des Schulbesuchs – davon die Hälfte ohne tägliches Essen –, mit fehlenden Medikamenten. Wir haben die große Sorge, dass Impfkampagnen nicht fortgeführt werden und es keine Schutzmöglichkeiten mehr gibt, dass Medikamente, die sonst Standard sind, beispielsweise bei der Malariabekämpfung, fehlen. An Malaria sterben nach wie vor jedes Jahr 400 000 Menschen; diese Zahl wird sich möglicherweise verdoppeln. Thema Hunger. Die UN sagt, dass wir mit einer Verdopplung der Zahl der Hungernden rechnen müssen. Ich sage aber an dieser Stelle: Deutschland hilft. Das ist die Botschaft. Ich bin den hier vertretenen Fraktionen, dem Bundesfinanzminister, der diese Woche das 3-Milliarden-Coronapaket auf den Weg gebracht hat, und der Kanzlerin unendlich dankbar. Das ist ein starkes Signal. Wir sind längst konkret in der Umsetzung. Ich habe diese Woche – auch das ist eine Neuigkeit – eine Unterabteilung „One Health“ gegründet: für globale Gesundheit als eine Reaktion für die Zukunft. Wir bringen Experten aus den Bereichen Veterinärmedizin, Humanmedizin, Bioökonomie, Agrar und ländliche Räume zusammen. Maria Flachsbarth, die Staatssekretärin, wird damit beauftragt, dieses Thema intensiv zu bearbeiten. Wir leisten Hilfe, wo die Not am größten ist, etwa in Sanitätsstationen. Wir bauen Krankenhäuser auf, beispielsweise fünf Notfallkrankenhäuser im Irak, und tun vieles mehr; ich will das nicht alles aufzählen. Aber heute, parallel zum EU-Gipfel, ist mein Appell an die Welt: Lasst die Ärmsten nicht alleine! ({1}) Die Europäische Union und die Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die reichste Staatengruppe der Welt, müssen in der Lage sein, ein Nothilfeprogramm in einer Größenordnung von 50 Milliarden Euro zur Stabilisierung der am meisten betroffenen Länder aufzulegen. Wir dürfen in Europa nicht nur an uns selber denken. Die EZB und die EU – ich sage das noch mal – haben einen Rettungsschirm von 2 000 Milliarden Euro aufgespannt; das werden wir in den nächsten Monaten auch hier gemeinsam beschließen. Da müssen 50 Milliarden Euro für die Welt als Zeichen der Solidarität möglich sein. ({2}) Neben dieser Nothilfe, meine Damen und Herren – das sage ich zum Schluss, weil wir ja in den nächsten Monaten auch darüber diskutieren werden –, geht es auch um den mehrjährigen Finanzrahmen. Frau Roth, wir wissen: Das ist der Siebenjahreshaushalt der Europäischen Union. Auch hier muss Europa eine neue Antwort geben. Afrika braucht mehr als das, was jetzt vorgesehen ist. Ein paar zusätzliche Tropfen für die Wüste werden nicht ausreichen, um die großen Herausforderungen zu bewältigen. Afrika ist Europas Partnerkontinent, und hier müssen wir bei der Planung des mehrjährigen Finanzrahmens der Europäischen Union ein deutliches Signal senden. Deutschland hilft – Europa muss diesem Beispiel folgen. Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Dietmar Friedhoff für die AfD-Fraktion. ({0})

Dietmar Friedhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004719, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Minister Müller! Was Sie gerade über die AfD gesagt haben, ist wie immer falsch. ({0}) Denn der Antrag der AfD, die Post-Covid-Strategie für Afrika, ist der Antrag mit dem Blick nach vorne. Wenn Sie ihn gelesen haben – ich hoffe, dass Sie es getan haben –, wissen Sie: Wir gießen damit das Fundament einer Entwicklungsarchitektur der Zukunft: resilient, nachhaltig, fortschrittlich und – vor allem – selbstüberlebensfähig. ({1}) Der Blick darf nicht nur auf der Eindämmung der Pandemie liegen; er muss die Zukunft aufzeigen, er muss Ängste nehmen, und, Herr Müller, er muss Mut machen. Dazu bedarf es aber, alle Fakten klar zu benennen: Erstens. Mehr Geld füttert in erster Linie nur die Entwicklungshilfeindustrie, nicht aber den Erfolg vor Ort. Zweitens. Gestern sprach Ihre Chefin, die Bundeskanzlerin, von einer europäischen Afrika-Strategie. Es gibt keine funktionierende europäische Afrika-Strategie. Deswegen ist bilaterale Zusammenarbeit, Herr Müller, zwischen Deutschland und Afrika der Erfolgsgarant. ({2}) Drittens: die Wahrheit. Die Coronapandemie führt uns auf traurige, erschreckende, aber eben auch unmissverständliche Art und Weise vor Augen, dass Ihre Entwicklungshilfepolitik der letzten 60 Jahre absolut gescheitert ist. Der Lockdown zeigt doch ganz klar auf, dass nach all den Jahrzehnten nach wie vor keine ausreichende Infrastruktur, Energieversorgung und Wirtschaftsleistung vorhanden sind. Und auch das liegt an der falschen Art der Entwicklungspolitik. ({3}) Das Bevölkerungswachstum in Afrika ist zu dynamisch, um Teilhabe und Nachhaltigkeit auf Dauer überhaupt zu gewährleisten. Und nun kommt eine weltweite Pandemie dazu, die globalen Einfluss auf Lieferketten, Rohstoffpreise, die Gesundheit und das Leben von Millionen von Menschen nimmt. Jetzt ist doch die Frage: Ist die ausschließliche Konzentration auf Corona sinnvoll? Der Corona-Shutdown in Afrika kann zu Millionen zusätzlichen Hungertoten führen. So berichtet das katholische Hilfswerk in München: „Wir sehen die große Gefahr, dass es mehr Hungertote geben wird als Corona-Opfer.“ Des Weiteren sind durch die Konzentration auf Corona diverse Impfkampagnen vorübergehend ausgesetzt worden. Dadurch werden andere Epidemien wieder ausbrechen oder verstärkt auftreten: Ebola, Masern, Malaria und HIV. ({4}) Auch hier rechnen Experten mit Millionen zusätzlichen Toten. Dazu kommt – dazu habe ich gerade nicht wirklich etwas gehört –: In Nigeria und Südafrika bricht gerade eine Pandemie der Gewalt aus. Seit dem Shutdown kommt es zu einem starken Anstieg von Gewalt, Brutalität und Vergewaltigungen gegenüber Frauen. Sie haben gestern selber gesagt, Herr Minister: Wenn die Coronapandemie anhält, kann Afrika um zehn Jahre zurückgeworfen werden. – Uns allen sollte klar sein, was das bedeuten würde, auch und gerade im Hinblick auf das Bevölkerungswachstum. Unter Beleuchtung all dieser Fakten muss man doch mal die Frage stellen: Ist der Shutdown wirklich alternativlos, oder ist er vielmehr unverhältnismäßig? Deswegen der Antrag der AfD. Wir müssen nun alles tun, um die Zusammenarbeit der Zukunft an den Grundfesten der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zu orientieren, Herr Minister. Die Industrialisierung, die Elektrifizierung und der Aufbau der Infrastruktur in Afrika müssen im Fokus liegen. Investitionen in die Wirtschaftskraft und den afrikanischen Binnenmarkt sowie der Aufbau von Wertschöpfungsketten liegen auch und gerade im deutschen Interesse; denn das nennt man Wirtschaften. ({5}) Deutschland kann hier mit Know-how, Produkten und Projekten punkten und damit endlich Arbeitsplätze schaffen, und das – das verstehen viele nicht – nicht nur in Afrika, sondern auch hier und gerade in Deutschland, liebe Freunde. Wenn das nicht passiert, wird jeder Rettungsschirm für Afrika wie ein Wassertropfen – das haben Sie gerade selber gesagt – im heißen Wüstensand einfach verdampfen. Es wird danach nicht einmal wieder wie davor sein, es würde noch viel schlimmer kommen, Herr Minister. Hierauf müssen Sie einmal die Antworten geben. Nach 60 Jahren fehlgeleiteter Entwicklungspolitik muss doch einmal eine Änderung her.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Kommen Sie zum Ende.

Dietmar Friedhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004719, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Abschließend eine Anmerkung zu Herrn Hoffmann von der FDP, der leider heute nicht anwesend ist. Er hat letztens auf einen Antrag von Herrn Frohnmaier gesagt: Das, was wir machen, ist so, als ob wir einem Bettler in der Fußgängerzone den Hut wegkicken wollten.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Kommen Sie bitte zum Ende.

Dietmar Friedhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004719, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Letzter Satz.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Sie sind trotzdem deutlich drüber.

Dietmar Friedhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004719, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Und genau in diesem Bild ist das Verständnisproblem begründet. Für Sie sind das Bettler. Wir sehen sie nicht als Bettler, wir wollen diese Ketten der Entwicklungspolitik sprengen und die Menschen zu selbstständigen Menschen erziehen für ein offenes, für ein starkes Afrika. Danke schön. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir überziehen wieder deutlich. Deswegen werde ich bezüglich der Redezeiten wieder strikter sein. Nächster Redner in der Debatte: Dr. Sascha Raabe für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich habe die AfD im Entwicklungsausschuss hier im Bundestag oft erlebt. Wir kennen alle Ihre Anträge. Jetzt so zu tun, als würde es Ihnen darum gehen, dort wirtschaftliche Entwicklung voranbringen, obwohl Sie gleichzeitig in ganz vielen Anträgen und Redebeiträgen immer die Not in Deutschland gegen Hunger und Armut in der Welt ausspielen, das ist unanständig, und das können Sie nicht kaschieren. ({0}) Sie wollen Menschen, die hungern, das letzte Stück Brot wegnehmen. Natürlich wollen wir den Menschen Hilfe zur Selbsthilfe geben. Wir wollen einen Zustand erreichen, dass niemand von Hilfe abhängig ist. Aber wir können doch nicht in einer Phase mit zurzeit 800 bis 900 Millionen hungernden Menschen sagen – wie Sie es tun –, dass den Menschen damit geholfen ist, wenn wir jetzt in Deutschland Arbeitsplätze, Wirtschaftskraft schaffen. Nein, wir müssen den hungernden Menschen solidarisch helfen, die Coronapandemie in ihren Ländern zu überstehen. Wenn das Haus brennt, muss man löschen. Das wollen wir machen, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({1}) Wir haben hier als Koalition vor ein paar Wochen einen Antrag eingebracht. Ich sage ganz ehrlich: Das einzige Ziel, die einzige Forderung, die wir hatten, war, dass wir ein 3-Milliarden-Paket zusätzlich auf den Weg bringen. Ich bin froh und stolz, dass es uns in den letzten Tagen gelungen ist, den Antrag – auch mit Blick auf unsere Forderung – noch schnell umzuschreiben. Wir begrüßen es jetzt, dass wir für 2020 und 2021  3,1 Milliarden Euro im Entwicklungshaushalt zusätzlich zur Verfügung haben werden und dass wir aus dem Haushalt des Auswärtigen Amtes zusätzlich zu den 300 Millionen Euro, die schon im ersten Nachtragshaushalt bewilligt worden waren, jetzt noch einmal 450 Millionen Euro zur Verfügung haben, sodass wir dann zusammen auf 3,85 Milliarden Euro zusätzlich kommen; fast 4 Milliarden Euro. Damit und mit einer guten Zielsetzung werden wir, glaube ich, wirklich vielen Menschen helfen können. Ich bin auch wirklich dankbar, dass der Herr Minister – er hat es auch schon gesagt – sich auch in seiner Fraktion sehr eingesetzt hat. Aber aus unserer Fraktion möchte ich mich bei Rolf Mützenich, unserem Fraktionsvorsitzenden, bedanken, bei Sonja Steffen, unserer Haushälterin, ({2}) bei Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken, die sich da richtig reingehängt haben. Wer mich kennt, weiß, dass ich in den letzten Jahren nicht immer nur ein konfliktfreies Verhältnis zu meinem Finanzminister hatte. Aber: Ganz herzlichen Dank an Olaf Scholz, der hier von Anfang an ganz bereitwillig gesagt hat: Ja, wir können nicht nur in Deutschland und Europa helfen. Eine Pandemie kann man nur weltweit bekämpfen. – Herzlichen Dank an unseren Finanzminister für diese Mittel. ({3}) Es geht bei der Coronapandemie in der Tat nicht nur um Finanzhilfen. Wenn man jetzt sieht, was in Deutschland bei der Fleischindustrie los ist, bei den Menschen, die ausgebeutet werden und auf engstem Raum leben, stellt man fest: Das ist das gleiche Problem, das wir in den Entwicklungsländern haben. Da, wo Menschen arm sind, wo sie auf engem Raum zusammenleben müssen, schuften müssen, hat ein Virus natürlich viel bessere Verbreitungsmöglichkeiten. Die Menschen haben keinen Platz, um Abstand zu halten, und keine medizinische Versorgung. Deswegen brauchen wir auch ein Lieferkettengesetz, das dann auch Menschen vor Ausbeutung schützt. Dass wir das jetzt auf den Weg bringen, finde ich ganz wichtig. Hubertus Heil und Gerd Müller sind da auf dem Weg. Ich bin zuversichtlich, dass wir im Sommer hierzu einen Gesetzentwurf vorlegen werden. ({4}) – Ja, da kann man mal klatschen. Wir wollen, dass auch Unternehmen menschenrechtliche Sorgfaltspflichten einhalten, dass Menschen überall anständig bezahlt werden. Das ist auch der beste Schutz vor Krankheit, Not und Armut. Das wollen wir auch in den Handelsabkommen durchsetzen. Deshalb muss sich der Blick in der EU-Ratspräsidentschaft neben einer Initiative für ein europaweites Lieferkettengesetz auf das Mercosur-Abkommen mit Brasilien richten. Wir brauchen Sozialstandards, Umweltstandards, die nicht dazu führen, dass Menschen ausgebeutet werden, dass der Regenwald noch mehr vernichtet wird für den Anbau von Sojafutter, welches dann hier importiert wird. Deswegen brauchen wir auch dort fairen globalen Handel, faire Lieferketten und Unternehmensverantwortung. Es ist gut, dass wir jetzt Geld in die Hand nehmen und das beschließen werden. Heute ist der Auftakt. Bald haben wir dazu die abschließende Beratung. Ich als Entwicklungspolitiker freue mich und bin ein bisschen stolz, dass es uns gelungen ist, nicht nur auf Deutschland und Europa zu gucken. Dass die Menschen in Deutschland auch Verständnis haben, da bin ich mir ganz sicher. Sie wissen: Wir müssen auch denen helfen, denen es noch schlechter geht als uns. In diesem Sinne: Vielen Dank für die Unterstützung. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Sascha Raabe. – Der nächste Redner in der Debatte: Olaf in der Beek für die FDP-Fraktion. ({0})

Olaf In der Beek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Rund um den Globus beherrscht Corona weiterhin das Leben der Menschen. Die Folgen der Pandemie treffen mit voller Wucht vor allem, wie der Minister es gerade sagte, die Ärmsten der Armen; seien es die Näher von Äthiopien bis Bangladesch oder die im Tourismus Beschäftigten von Marokko bis Vietnam. Der globale Lockdown und die zusammengebrochene Nachfrage entfalten gerade in den Entwicklungsländern eine brutale Wirkung. Was die Weltgemeinschaft seit 1990 geleistet hat, beispielsweise die Halbierung der weltweiten Armut, droht sich umzukehren. Die Lage ist dramatisch. Deshalb müssen wir hier jetzt auch über den angekündigten Elefanten reden, der im Raum stand, lieber Herr Raabe. Neben den Umschichtungen im BMZ in Höhe von 1,15 Milliarden Euro will die Bundesregierung für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe in diesem und im nächsten Jahr jeweils 1,5 Milliarden Euro zusätzlich bereitstellen. Das ist, Herr Raabe, die Hälfte dessen, was der Entwicklungsminister ursprünglich an zusätzlichem Geld gefordert hat. ({0}) Meine sehr geehrten Damen und Herren aus der Koalition, auch für Sie zum Mitschreiben – ich zitiere aus Ihrem Corona-Sofortprogramm –: Die internationale Krisenlage erfordert … ein zusätzliches Verstärkungsprogramm für 2020 mit einem Mehrbedarf von 3 Milliarden Euro. Dieses Verstärkungsprogramm muss mit zusätzlichen Mitteln aus dem Nachtragshaushalt unterlegt werden. Wir reden von 2020.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung von Dr. Raabe.

Olaf In der Beek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Gerne.

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, ich weiß ja und weiß es auch zu schätzen, dass uns auch die FDP im Ausschuss sehr sachlich orientiert unterstützt und möchte, dass wir viel helfen. Ich möchte Ihnen nur die Information geben: Es ist natürlich schwierig, Geld, das man jetzt im Juni zum 1. Juli hin auf den Weg bringt, in sechs Monaten entsprechend abfließen zu lassen. Als wir diese Forderung aufgestellt haben, war es März/April. Wir haben uns dann mit dem Finanzministerium – das war unser Wunsch – darauf geeinigt, die Mittel lieber aufzusplitten, damit wir sie sinnvoll verwenden können und im nächsten Jahr keinen Abbruch haben. Und zusätzlich – das wollte ich Ihnen als Information noch mitgeben – zu den Mitteln für die humanitäre Hilfe können wir in diesem Jahr also 2 Milliarden Euro ausgeben und dann im nächsten Jahr noch 1,85 Milliarden. Ich finde, hier muss man immer sehen, dass wir die Mittel gut verwenden. In diesem Sinne sind unsere Forderungen voll erfüllt worden. Aber mehr geht immer noch. Vor allem mit Blick auf Europa, hat der Minister gesagt, sollten wir uns bemühen, dass die Europäische Union noch mehr Hilfe zur Verfügung stellt. Aber ich glaube, wir können hier sehr zufrieden sein mit dem, was wir hier erreicht haben. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Gut. – Herr in der Beek.

Olaf In der Beek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Kollege Raabe, ich antworte Ihnen darauf und sage noch mal zum klaren Verständnis: Auch die FDP hat diese 3,15 Milliarden Euro nicht gefordert, von denen heute bei der Deutschen Welle die Rede war. Wir haben gesagt: Wir kritisieren die Erwartungshaltung, die in der Entwicklungspolitik immer wieder entsteht. Diese kann vielleicht nicht erfüllt werden. Mir ist völlig klar, dass viele GIZ-Mitarbeiter immer noch in Deutschland sind, weil es viel zu gefährlich wäre, sie in Projekten vor Ort einzusetzen. Aber ich warne vor diesem Erwartungshorizont, der immer wieder aufgebaut wird. ({0}) Das gehört, glaube ich, zu seriöser Politik einfach dazu. Es geht ja nicht nur um Gesundheit; es geht auch um Maßnahmen für Bildung, die nötig sind, wenn wir nicht eine ganze Generation von jungen Menschen in den Entwicklungsländern verlieren wollen. Es geht auch um Maßnahmen für sexuelle und reproduktive Gesundheit; denn gerade jetzt bedürfen Frauen und Mädchen besonderen Schutzes. ({1}) Es geht auch um Maßnahmen, mit denen die Wirtschaft in den Entwicklungsländern stabilisiert werden kann, damit Arbeitsplätze und Lebenschancen nicht verloren gehen. Es geht letztendlich auch um Maßnahmen, die den globalen Klima- und Umweltschutz weiterhin fokussieren. ({2}) Sie haben immer noch nicht vollständig versichern können, dass hier nicht gekürzt wird. Da möchten wir den Minister ermutigen: Es geht vor allem um eine gemeinsame koordinierte europäische Entwicklungspolitik als Antwort auf die Coronapandemie. Deutschland hat mit der bevorstehenden Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft die Chance, diese zu verwirklichen. Diese Chance muss die Bundesregierung aber auch ergreifen. Wir fordern ein gemeinsames europäisches Wiederaufbauprogramm für die Wirtschaft in den Entwicklungsländern. ({3}) Zeigen Sie, dass Sie von der Allianz der Multilateralisten nicht immer nur reden, sondern sie auch leben. Dabei dürfen Sie die Freien Demokraten an Ihrer Seite wissen, Herr Minister. Wir müssen gemeinsam europäisch handeln. Deswegen zum Schluss mein Appell: Wir sehen schon heute, dass wir auf die Zuschauerränge der Weltpolitik verbannt werden, wenn wir den chinesischen Propagandazug ohne Widerspruch und ohne gemeinsame Anstrengung einfach rollen lassen. Auch in der Pandemie gilt: Als Europäer müssen wir gemeinsam dagegenhalten. Vielen Dank.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Olaf in der Beek. – Die nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Helin Evrim Sommer. ({0})

Helin Evrim Sommer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004897, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wie viele von Ihnen waren schon einmal in dem größten Flüchtlingslager der Welt in Cox’s Bazar in Bangladesch? Ich war schon dort. Dort leben fast 1 Million Menschen. Es sind Rohingya, die aus Myanmar vor dem Militärregime flüchten mussten. Sie leben so eng wie in einer Sardinenbüchse beieinander. Der einzige Schutz der Flüchtlinge gegen das Coronavirus ist eine Behelfsklinik mit 1 700 Betten – mehr nicht. Die Situationsberichte aus den ärmeren Ländern zeigen eines: Corona kann man allein, sozusagen im eigenen Vorgarten, nicht erfolgreich bekämpfen. So aber will die Fraktion ganz rechts das Problem bekämpfen. ({0}) Ohne eine studierte Virologin zu sein, kann ich Ihnen noch mal versichern: Das Virus spricht kein Deutsch und lässt sich auch von nationalen Grenzen nicht aufhalten. ({1}) Bundesentwicklungsminister Müller hat zum Glück mehr Weitblick: „Corona besiegen wir weltweit oder gar nicht.“ Leider geben Ihnen, Herr Müller, die Zahlen recht: 400 000 Tote weltweit. In Brasilien müssen Verstorbene inzwischen tiefgekühlt werden, weil es nicht genügend Särge gibt. Das Corona-Sofortprogramm der Bundesregierung in Höhe von über 4 Milliarden Euro entspricht auch der Intention unseres Antrags. Nur muss man bei der GroKo wieder einmal das Kleingedruckte lesen; denn 1 Milliarde Euro aus dem BMZ-Haushalt soll durch Mittelumschichtungen zusammenkommen – so Ihr Ansatz. Deutschland unterstützt zum Beispiel die berufliche Bildung von Frauen im Irak, ein wichtiges Projekt, das mir sehr am Herzen liegt. Wenn Sie das Geld umwidmen, ist das der falsche Weg. ({2}) Das erschwert den Schritt, die Wirtschaft nach der Pandemie wieder schnell in Schwung zu bringen. Umschichtung schafft nur neue Lücken. Deswegen werden wir uns bei dem Antrag der Großen Koalition auch enthalten. Das Gleiche gilt für den Antrag der FDP. Kurz zum Antrag der Grünen. Interessanterweise wollen die Grünen wie die GroKo die 4 Milliarden Euro auf zwei Jahre strecken. Wir meinen: Die ärmsten Länder brauchen die Hilfe sofort. ({3}) Deshalb werden wir uns bei dem Antrag der Grünen ebenfalls enthalten. Im weltgrößten Flüchtlingslager in Bangladesch ist der erste Coronafall übrigens Mitte Mai aufgetreten. Die 1 700 Betten in der Notklinik sind meines Wissens inzwischen alle belegt. 4 Milliarden Euro ohne Hin- und Herschieben, damit retten wir Menschenleben, sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen. In diesem Sinne: Vielen Dank. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Helin Evrim Sommer. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Agnieszka Brugger. ({0})

Agnes Malczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004106, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Coronavirus kann alle Menschen treffen, aber die Coronakrise trifft weltweit die Schwächsten mit ganz besonderer Wucht. Dort, wo Krieg herrscht und wo es kaum eine Gesundheitsversorgung gibt wie im Südsudan, wo auf 100 000 Menschen ein Arzt bzw. eine Ärztin kommt, wo es nicht genügend sauberes Wasser gibt wie in den Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln, wo zusätzlich Heuschreckenplagen ganze Ernten zerstören wie in Ostafrika und wo Staaten eben nicht in der Lage sind, milliardenschwere Rettungsschirme auf den Weg zu bringen, wo diese Krise das Leben von Millionen von Menschen bedroht, da dürfen wir uns nicht gleichgültig wegdrehen. ({0}) Wir müssen international unterstützen, weil wir es können und weil es das Richtige ist. Das müsste als Grund auch schon ausreichen. Aber ja, es ist auch in unserem ganz eigenen Interesse; denn die Coronakrise verschärft jetzt schon Gewalt und schafft auch neue Konflikte. Sie zwingt Staaten wirtschaftlich in die Knie, und das betrifft auch uns hier. Wenn Europa jetzt nicht handelt, werden andere in die Lücke springen und versuchen, ihren geopolitischen Einfluss noch weiter auszudehnen, und die haben nicht immer das Gute und das Beste im Sinn. Internationale Solidarität in dieser schweren Zeit – das ist nicht nur ein Handeln des Herzens, sondern auch ein Gebot der Vernunft. ({1}) Meine Damen und Herren, ja, es geht um mehr Geld. Sie von der Bundesregierung haben jetzt Monate gebraucht, um endlich europäische und internationale Solidarität zu zeigen. Dabei wurden viel Vertrauen und auch wertvolle Zeit verspielt. Ich hoffe, Sie sind sich Ihrer Verantwortung jetzt nachhaltig bewusst geworden. Gehen Sie diesen Weg konsequent weiter! Aber mehr Geld allein reicht nicht. Es geht darum, internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen und die Weltgesundheitsorganisation zu stärken, gerade wenn Populisten sie unter Beschuss nehmen. Es geht um konkrete Schuldenerlasse für Staaten, die sie dringend benötigen. Und es geht darum, dass die Milliarden, die jetzt in die Hand genommen werden, auch im Sinne von Klimaschutz und sozialer Gerechtigkeit eingesetzt werden; denn eine Coronapause beim Klimaschutz kann und darf sich diese Welt nicht leisten. ({2}) Meine Damen und Herren, ein Punkt liegt uns besonders am Herzen und darf in der Coronadiskussion nicht fehlen: die feministische Perspektive. Sieben von zehn Menschen in sozialen und gesundheitsrelevanten Berufen weltweit sind Frauen. Sie übernehmen den größten Teil der Sorgearbeit in Familien, und sie sind gleichzeitig besonders hart von den wirtschaftlichen Folgen dieser Krise betroffen. Zugleich fehlen sie an den Tischen, an denen die politischen Entscheidungen getroffen werden. Wir müssen verhindern, dass diese Krise dazu beiträgt, dass diese Ungleichheiten verschärft werden. Deshalb denken Sie die Frauen und die benachteiligten Gruppen mit, und setzen Sie sich für ihre Rechte und für ihre Repräsentation ein! ({3}) Wir werden auch nicht müde, Sie von der Bundesregierung an ein weiteres Versprechen zu erinnern: an das ambitionierte Lieferkettengesetz für Standards gegen Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung. Herr Raabe, ich freue mich, schon wieder zu hören, dass Herr Heil und Herr Müller auf dem Weg sind. Allerdings würde ich ihnen doch raten, ein bisschen schneller als im Schneckentempo voranzukommen und vor allem endlich auch mal mit dem Wirtschaftsminister zu sprechen, der im Wirtschaftsausschuss diese Woche schon wieder gesagt hat, dass eine solche Initiative nicht dringlich sei. Wir brauchen nicht die hundertste und tausendste Ankündigung des Gesetzes, sondern wir sagen: Liefern Sie doch bitte endlich! ({4}) Meine Damen und Herren, wenn Deutschland im Juli den Vorsitz im UN-Sicherheitsrat übernimmt, dann nutzen Sie das endlich: für die Beteiligung von Frauen, für eine stärkere internationale Zusammenarbeit bei Entwicklung und Gesundheit und dafür, dass wir aus dieser globalen Krise gemeinsam und ökologisch und gerecht wieder herauskommen. Vielen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Agnieszka Brugger. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Dr. Georg Kippels. ({0})

Dr. Georg Kippels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004327, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nachdem ich meinen Vorrednern zugehört habe, stelle ich fest: Es besteht ganz überwiegend doch eine erfreuliche Übereinstimmung dahin gehend, dass es dringend geboten ist, hier gemeinsam tätig zu werden, wie ja auch der Untertitel des Corona-Sofortprogramms des BMZ besagt: Besiegen werden wir Corona nur weltweit oder gar nicht. Geschlossenheit im Kampf gegen diese heimtückische Erkrankung ist geboten. Aber diese Geschlossenheit bezieht sich aus meiner Sicht nicht nur darauf, sinnvollerweise jetzt Geldmittel zu aktivieren und damit Handlungsfähigkeit für alle denkbaren Maßnahmen zu schaffen. Erlauben Sie mir den Hinweis: Ohne eine wirklich schnelle und reale Umsetzung vor Ort bei den Menschen und bei den Systemen, die im Augenblick durch dieses Virus lahmgelegt sind, werden wir die verheerenden Auswirkungen nicht alleine unterbinden können. Der Kollege Raabe hat durchaus zu Recht darauf hingewiesen, dass das Geldvolumen auch immer ins Verhältnis zur Umsetzungszeit gesetzt werden muss, und deshalb sind Überbietungswettbewerbe hier und heute, wie viele Milliarden denn in 2020 umgesetzt werden sollten, zwar löbliche Äußerungen, aber sie werden das Problem nicht lösen. Ich als Gesundheitspolitiker schaue deshalb sehr gerne auch analytisch ein bisschen auf das, was hier in Deutschland medizinisch und auch epidemiologisch bzw. virologisch angewendet worden ist, um mir ein Bild davon zu machen, wodurch die Menschen infiziert werden, welche Folgen die Infektion gesundheitlich hat und wie schnell es zu einer Infektion durch persönliche Kontakte bei Begegnungen im öffentlichen Personennahverkehr, im Lebensmittelgeschäft, auf der Straße, in der Eisdiele oder vielleicht im Hausflur, wie es ja in Göttingen oder wo auch immer im Moment an der Tagesordnung war, kommen kann. Wir brauchen auch greifbare und reale Hilfe. Auch da ist das BMZ aus meiner Sicht schon sehr erfolgreich tätig geworden. Wir haben die schnell einsetzbare Expertengruppe, die in den vergangenen Wochen direkt zehn Länder angefahren hat, dorthin gereist ist und in intensiven Maßnahmen mit den Experten vor Ort, mit den Medizinern und vor allen Dingen mit den Laboreinrichtungen Vorbereitungen getroffen hat, um sich überhaupt erst einmal einen Überblick darüber zu verschaffen, wie groß die Bedrohung ist. Wenn man heute Mittag auf die weltweiten Zahlen der WHO schaut, sieht man, dass Afrika mit circa 200 000 entdeckten Infektionen ganz weit hinten steht. Aber ich befürchte, prognostizieren zu können, dass das beileibe nicht die reale Zahl ist. Es gibt auch einige Regierungen, die nach dem Motto verfahren: Wer nicht testet, entdeckt nichts, und wer nichts entdeckt, hat keine Krankheit. – Aber das ist natürlich eine vollkommen verfehlte Vorgehensweise. Wir müssen Afrika und auch alle anderen betroffenen Länder deshalb dringend darin unterstützen, dass die Menschen dort eine realistische Risikoeinschätzung bekommen und auch die medizinischen Fragen gelöst werden, ob denn jetzt möglicherweise doch veränderte klimatische Verhältnisse, eine hohe UV-Einstrahlung oder aber auch das Lebensalter der Betroffenen Faktoren sein könnten, die bei der Infektionsgefahr eine Rolle spielen. Die jüngste Untersuchung, die jetzt von China veröffentlicht worden ist, lässt darauf schließen, dass Krankheitsverläufe, die nur relativ symptomschwach erfolgen, auch nur zu einer zeitlich und wirkungsmäßig sehr begrenzten Immunität führen. Das müssen Fragestellungen sein, die wir mit den Vertretern der Regionen besprechen. Deshalb plädiere ich ganz nachhaltig dafür, dass wir natürlich Geldmittel einsetzen, dass wir aber in diese Konzepte auch unsere Kompetenz und unsere wissenschaftlichen Erfahrungen, die wir in den vergangenen Wochen und Monaten sammeln konnten, einfließen lassen. Das RKI oder auch alle anderen Institute sind dafür die richtigen Adressen, und ich weiß, dass auch die Europäische Union im intensiven Austausch steht.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Dr. Kippels, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung von Herrn Frohnmaier?

Dr. Georg Kippels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004327, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön.

Markus Frohnmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004721, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, Herr Kollege. – Ich wollte Sie bitten, in Bezug auf Ihren Antrag vielleicht doch mal auf das Thema Schuldenerlass einzugehen. Sie fordern das so ähnlich wie die Grünen. Schuldenerlasse haben 1994 nichts gebracht, 2005 haben sie nicht zur Stabilisierung beigetragen, und jetzt, 2020, sind für bis zu 77 Staaten Schuldenerlasse geplant. Was würde sich diesmal ändern, und sehen Sie nicht auch die Gefahr, dass insbesondere China von Schuldenerlassen profitieren könnte, die im globalen Süden stattfinden? Da fehlt mir noch ein wenig was dazu. Ich würde gerne von Ihnen wissen, weil hier ja immer wieder die Einmütigkeit der anderen Parteien im Haus betont wurde, ob Sie sich auch der Forderung der Grünen anschließen, dass im Kontext dieser Debatte jetzt alle Abschiebungen von Personen, die sich in Abschiebehaft befinden, auszusetzen sind. Das steht im Antrag der Grünen so mit drin. Vielen Dank.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Dr. Kippels.

Dr. Georg Kippels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004327, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen herzlichen Dank. – Ja, Herr Frohnmaier, es ist immer wieder dasselbe Phänomen, dass Sie versuchen, wenn die Diskussion nicht in die Richtung läuft, die Ihnen gefällt, mit Fragestellungen eine Umlenkung herbeizuführen. ({0}) Ich habe eben gerade versucht, das zu erläutern, was zunächst unmittelbar Menschenleben rettet. Die Frage nach Schuldenerlassen, ob überhaupt Liquidität besteht, ist für die Wirtschaftssysteme bedeutungsvoll und muss sicherlich geklärt werden. Aber für eine langfristige Stabilisierung muss ich überhaupt erst mal Wirtschaftssysteme wieder ans Laufen bekommen. Das heißt, ich muss den Menschen ermöglichen, in einem gesunden Zustand einem Produktionsprozess nachzugehen, und das werde ich im Ergebnis alleine mit einem Schuldenerlass nicht erreichen können. Ich will zum Schluss noch ganz kurz eine Anmerkung machen: Wir brauchen für diesen komplexen Prozess auch eine starke Institution, die dies von oben organisiert, begleitet und vor allen Dingen auch die notwendigen Standards setzt. Deshalb werbe ich an dieser Stelle bei allen Diskussionen über Finanzmittel ganz nachhaltig dafür, dass sich die Bundesregierung und auch wir als Parlament hinter die Weltgesundheitsorganisation stellen. Denn ohne eine zentrale, international verantwortliche Einheit, die sich mit diesen Fragestellungen befasst und den Ländern auch vor Ort Hilfe angedeihen lässt, wird es unmöglich sein, die notwendigen Strukturverbesserungen bei den Gesundheitssystemen herbeizuführen. Und ohne ein resilientes Gesundheitssystem und ohne einen regen Austausch mit denjenigen, die diese wissenschaftlichen Erkenntnisse sammeln, wird uns dieser Weg nicht zum Erfolg führen. Deshalb bitte ich um Unterstützung des Antrags der Großen Koalition und danke für Ihre Aufmerksamkeit. Vielen Dank. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Kippels. – Die letzte Rednerin in dieser Debatte ist für die SPD-Fraktion Heike Baehrens. ({0})

Heike Baehrens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit unserem Antrag und dieser Debatte unterstreichen wir unseren festen Willen, die richtigen Lehren aus der Covid-19-Pandemie zu ziehen. Gerade jetzt müssten eigentlich alle erkennen, wie wichtig unser multilaterales System ist. Denn an seiner aktuellen Schwäche liegt es ja gerade, dass es nicht gelingt, auf die einzigartige Gesundheitskrise global koordiniert zu antworten. ({0}) Deutlich wird dies auch am Wettstreit um die Beschaffung eines noch in der Entwicklung befindlichen Covid-19-Impfstoffs. Die USA preschen hier vor, indem sie einseitig Verträge mit Pharmafirmen abschließen. So unter Druck gesetzt, hat nun auch die Bundesregierung eine offene Initiative mit europäischen Partnern gestartet. So weit, so gut. Aber gleichzeitig hat sich die Bundesregierung zum Glück stark für einen weltweiten Verteilmechanismus eingesetzt, und es ist richtig, diesen sogenannten ACT Accelerator der WHO mit umfangreichen Finanzmitteln auszustatten. Denn mit diesem Instrument soll dafür gesorgt werden, dass alle Länder zu erschwinglichen Preisen Covid-19-Diagnostika, -Impfstoffe und -Arzneimittel bekommen. ({1}) Der jeweils dringendste Bedarf muss entscheiden und nicht, wer am schnellsten ist oder am meisten Geld bietet. Und selbstverständlich muss ein irgendwann entwickelter Impfstoff zum globalen öffentlichen Gut werden und allen Menschen zur Verfügung stehen, die ihn brauchen und die ihn tatsächlich auch haben wollen. ({2}) Eine kritische Begleitung der Arbeit der Weltgesundheitsorganisation ist richtig, aber sie muss doch immer das Ziel verfolgen, ihre Handlungsmöglichkeiten und ihre Durchsetzungsfähigkeit zu verbessern. Es liegt doch nicht an der Weltgesundheitsorganisation, dass sie bisher nicht die notwendigen Instrumente hat, um für einen gerechten Zugang zu Arzneimitteln zu sorgen. Es liegt an der mangelnden Einigkeit der 194 Mitgliedstaaten und daran, dass einzelne Staaten allein bestimmen wollen und deshalb die WHO schwächen wollen. ({3}) Wir wollen die WHO stärken, wir wollen sie besser ausstatten, weil wir eine starke WHO mit mehr Durchsetzungskraft wollen. Denn die unmittelbare Antwort auf die Covid‑19-Pandemie muss eine global koordinierte Gesundheits- und Forschungspolitik sein. Wir brauchen ein gut finanziertes, globales Rahmenwerk auch für die öffentliche Gesundheit. ({4}) Denn nur starke Gesundheitssysteme sind krisenfeste Systeme. Dazu wollen wir weltweit beitragen. Und ich bin sicher: Wenn wir die Gesundheitssysteme stärken, dann stärken wir die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung. Darum freuen wir uns auch, dass das BMZ die bilaterale Zusammenarbeit im Gesundheitsbereich nun doch verstärkt fortsetzt. Ein so kräftiges finanzielles Statement für die globale Gesundheit im Nachtragshaushalt zu verankern, meine Damen und Herren, das ist der richtige Weg. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Heike Baehrens. – Damit schließe ich die spannende Aussprache.

Manfred Todtenhausen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004222, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Ich sehe gerade, ich habe eine Minute mehr Redezeit, als ich erwartet habe. Dann kann ich ja mal in Ruhe reden.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Die Zeit vergeht schneller, als mancher denkt.

Manfred Todtenhausen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004222, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich fange ja sofort an. Ich kann mir vorstellen, dass einige Kollegen mit diesem Antrag hier überhaupt nichts anfangen können. ({0}) Das hat selbstverständlich auch einen Grund – Sie klatschen; ich erkläre Ihnen, wieso das so ist –: Hier im Deutschen Bundestag gibt es gerade einmal 89 Kollegen, die selbstständig in der Wirtschaft tätig sind oder waren. Davon beteiligen sich nicht alle an Aufträgen der öffentlichen Hand. Demgegenüber gibt es tatsächlich 210 Kollegen, die im öffentlichen Dienst gearbeitet haben, also auf der anderen Seite. ({1}) Deshalb, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, versuche ich mal, Ihnen den Antrag etwas näherzubringen. ({2}) Um einen öffentlichen Auftrag zu bekommen, muss man als Unternehmen einen großen Aufwand betreiben. Man muss sich an Ausschreibungen beteiligen, man muss viele Nachweise erbringen. Und dann ist einer von fünf, sechs oder zehn derjenige, der den Auftrag kriegt. Die anderen gehen leer aus – also unter Umständen viel Arbeit für nichts. Die Arbeiten und die Leistungen danach sind eigentlich das Einfachste. Damit kennen die Unternehmen sich aus. Das ist deren Tagesgeschäft; das läuft wunderbar. Aber danach ist man in der Abhängigkeit von behördlichen Verfahren, von der Kooperation und dem Goodwill der Sachbearbeiter. Ich sage einfach mal – ich möchte niemanden schlechtreden –: Die meisten machen durchaus einen hervorragenden Job. Aber wehe, wenn in der Behörde keiner Entscheidungen treffen will, kann oder soll! Dann bleiben Rechnungen über Wochen und über Monate liegen. Das ist das Problem, liebe Kollegen: Die Zahlungsmoral der öffentlichen Hand lässt oft zu wünschen übrig. 89 Prozent der Betriebe sagten laut einer Umfrage, dass Rechnungen von öffentlichen Auftraggebern zu spät bezahlt werden. Und eklatant ist dieses Verhalten besonders in Krisenzeiten wie derzeit: Die ausführenden Betriebe sind in Vorleistung getreten und leiden nun besonders unter Liquiditätsengpässen, weil die Betriebskosten weiterlaufen. Wer in einer Sollbesteuerung ist – das wissen diejenigen, die damit zu tun haben –, zahlt die Mehrwertsteuer nach Rechnungserstellung und nicht etwa, wenn die Rechnung bezahlt wird oder das Geld gekommen ist. Also geht der Unternehmer auch noch gegenüber dem Staat in Vorleistung. Meine Damen und Herren, ein Unternehmer aus Bayern hat unsere Kollegin Britta Dassler angesprochen und den eigenen Fall geschildert – den kennen wir alle aus der Presse –: Er hat sich den Bedürfnissen angepasst und hat Masken im Open-House-Verfahren in Asien besorgt und an den Bund geliefert. Die Lieferung war pünktlich, alles hat geklappt; aber die Zahlung der Finanzdirektion lässt immer noch auf sich warten. ({3}) Wir kennen viele andere dieser Fälle und Klagen aus der Presse. Heute Mittag habe ich noch mit einem Busunternehmer aus Wuppertal telefoniert, der auch ein bisschen verzweifelt war. Er hat mir ähnliche Probleme mit einer anderen Kommune geschildert. Auch das sind ganz schwierige Fälle. Meine Damen und Herren, unser Mittelstand beklagt sich zu Recht über die Nichteinhaltung von Zahlungsmodalitäten. ({4}) Der Staat – also Bund, Länder und Kommunen – darf die von ihm beauftragten Unternehmen aus Handwerk und Mittelstand nicht gefährden und erst recht nicht in die Insolvenz treiben. Wir brauchen eine bessere Zahlungsmoral auf allen Ebenen. ({5}) Der Bund muss Vorbild sein und seine Möglichkeiten nutzen, im Rahmen der Innenministerkonferenz die Probleme anzusprechen und Lösungen zu finden. Selbstverständlich darf dabei auf die sorgfältige Prüfung nicht verzichtet werden. In unserem Antrag finden Sie die passenden Lösungen. Ich komme zum Schluss: Mit unserer Initiative wollen wir die Annahme öffentlicher Aufträge für Unternehmen attraktiver machen und so wieder Vertrauen in den Staat fördern. Das ist dringend nötig, wenn öffentliche Investitionen die Konjunktur wieder anschieben sollen. Vielen Dank. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Manfred Todtenhausen. Wenn Sie die Minute nicht gehabt hätten, wäre es eng geworden. – Nächster Redner für die CDU/CSU-Fraktion Dr. Matthias Heider. ({0})

Dr. Matthias Heider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004051, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Titel des Antrags der Kolleginnen und Kollegen von der FDP „… abnehmender Zahlungsmoral … begegnen“ hat ein bisschen den Charakter einer These. ({0}) Wir müssen ihn unter die Lupe nehmen, um festzustellen, was da wirklich dran ist; denn das ist eine ernste Sache. Dem Zentralverband des Deutschen Handwerks liegen auf Nachfrage von dieser Woche keine entsprechenden Zahlen vor, die Ihre Behauptung belegen. Der Zentralverband des Baugewerbes meint sogar, mit der Krise habe sich die Zahlungsmoral insbesondere bei den Kommunen eher verbessert. Der FDP-Antrag verweist – wenn ich das so pauschal sagen darf – auf eigene Blitzumfragen, die Sie bei Architekten und anderen freien Berufen durchgeführt haben; das können wir jetzt nicht so ganz nachvollziehen, aber der Blitz wird schon irgendwo eingeschlagen haben. ({1}) Die Umfrage der Inkassounternehmen, auf die Sie sich berufen, stammt aus dem Jahr 2019 und hat somit wenig Aussagekraft über das, was sich gerade in der Krise tut. ({2}) Der im Antrag angeführte Artikel aus der „Deutschen Handwerks Zeitung“ warnt lediglich vor einem Sparkurs, den die Kommunen jetzt in Deutschland einschlagen könnten. Die IHKs und die Handwerkskammern – ich habe das vorher abgefragt – geben immer wieder zu bedenken, dass eine Vielzahl der nicht sofort bezahlten Rechnungen darauf zurückzuführen ist, dass zu den Rechnungen die entsprechenden Belege fehlen und diese somit nicht vollständig prüffähig sind. Die Bedenken von der FDP scheinen sich in den Erkenntnissen der betroffenen Branchen, die ich gerade zitiert habe, nicht richtig wiederzufinden. Aber ich glaube, ich weiß, was Sie sagen wollen. Sie haben eine gewisse Sorge, dass sich die Situation in der Krise verschärfen könnte. ({3}) Die Bundesregierung hat diese Sorge natürlich vorausgesehen und entsprechend berücksichtigt. Im Konjunkturpaket ist deshalb unter anderem ein umfangreiches Programm zur Stärkung der Länder und Kommunen vorgesehen; denn dass durch die Krise Probleme entstehen, war absehbar. Es gibt den Kommunalen Solidarpakt 2020, der die Gewerbesteuereinnahmen hälftig ersetzt. Somit kommt es nicht zu Einschränkungen in der Liquidität durch Vorsichtsmaßnahmen aufgrund der Kassen- und Haushaltslage. Beim KfW-Förderkredit ist eine Anhebung des Deckels für Betriebsmittelfinanzierung bei kommunalen Unternehmen vorgesehen; auch das führt nicht zu einer Verschlimmerung. Es gibt Erleichterungen im Vergabeverfahren. Es gibt Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb, somit faktisch Direktvergaben. Das läuft alles relativ schnell. Außerdem gibt es – ich sehe den Staatssekretär aus dem Innenministerium – einen Erlass des BMI an das Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung schon vom 23. März dieses Jahres, worin sämtliche Dienststellen dazu aufgefordert werden, durch geeignete organisatorische Maßnahmen sicherzustellen, dass eine unverzügliche Prüfung und Begleichung von Rechnungen ermöglicht wird.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Dr. Heider, erlauben Sie eine Bemerkung oder Zwischenfrage eines Kollegen der FDP?

Dr. Matthias Heider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004051, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, wenn das bei fortgeschrittener Zeit dienlich ist? – Gut.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Das ist dann auch die letzte, die ich erlaube.

Hagen Reinhold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004229, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Zumindest bringt das vielleicht Erkenntnisgewinn. – Ich melde mich als einer, der tatsächlich selbstständig ist und mit der öffentlichen Hand zu tun hat, auch in diesen Zeiten. Sie haben gerade gesagt: Die Vergabevorschriften ändern sich; es ist alles viel einfacher geworden. – Ich nenne Ihnen ein kurzes Beispiel, damit Sie sehen, was draußen los ist. Um einen Auftrag überhaupt zu bekommen, müssen Sie sich bewerben und Unterlagen einreichen, egal ob die Vergabe beschränkt ist auf einen bestimmten Anbieterkreis oder ob sie für alle geöffnet ist. Dafür muss man alle möglichen Unterlagen einreichen: von Krankenkassen, der Bauberufsgenossenschaft usw. Ich habe gerade selber folgenden Fall erlebt: Ich habe Unterlagen eingereicht. Die Behörde kann Unterlagen nachfordern – das hat sie auch gemacht –, und sie hat mir sechs Tage Zeit gegeben, Unterlagen von der Bauberufsgenossenschaft, den Krankenkassen und anderen beizubringen. Man kann es sich vorstellen: Auch die sind alle gerade im Homeoffice und nicht so schnell, wie man sich das erhofft. Nach sechs Tagen waren natürlich nicht alle Unterlagen da, und ich bin von der Vergabe ausgeschlossen worden – so viel zu fehlenden Unterlagen. Im Übrigen passiert es einem zurzeit auch bei der Kontrolle von Rechnungen, dass entsprechende Unterlagen nicht beizubringen sind. Sie sagen nun den ganzen Unternehmern: „Es läuft alles prima, überhaupt nichts ist zu ändern“, und zweifeln selbst die Zahlen aus 2019 – das letzte vollständige Jahr ist nun mal 2019 – an? Ich finde das ganz schön frech den Leuten gegenüber, die gerade versuchen, ihren Job zu machen, ehrlich. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Dr. Heider.

Dr. Matthias Heider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004051, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, nachdem Ihre Kollegen beklatschen, dass Sie anderen Abgeordneten Frechheiten vorwerfen, wollen wir einmal festhalten: In Ihrem Antrag geht es nicht um das Vergabeverfahren, sondern es geht um die Auslösung von Zahlungen. Hinter den Zahlungen – das wissen Sie ganz genau – stecken Steuergelder, und da kann die Verwaltung nicht einfach hergehen und gegen die Kassenbestimmungen der Bundesverwaltung und der Haushaltsordnung verstoßen. ({0}) Die Rechnungen gehören anständig geprüft und dann zur Auszahlung angewiesen. Das ist ein Vorgang, den doch auch Sie als Vertreter der Steuerzahler nicht aufheben wollen, oder? Das kann ich mir nicht vorstellen. Ich bin bei Ihnen, wenn es darum geht, dass wir im Vergabeverfahren grundsätzlich für eine Verschlankung sorgen müssen, die insbesondere mit Automatisierung und Digitalisierung zusammengeht. Da haben Sie uns an Ihrer Seite, aber nicht mit dem Vorwurf von Frechheiten. ({1}) Meine Damen und Herren, es ist nicht zu leugnen – der Kollege hat es angesprochen –: Der Staat ist nicht immer der Schnellste beim Bezahlen der Rechnungen. Auch der Hinweis, dass viele der Beamtinnen und Beamten zurzeit im Homeoffice sind und von dort aus versuchen, die Amtsgeschäfte weiterzuführen, müssen wir in dieser Krisensituation in Rechnung stellen. Von daher: An all die stillen Verwaltungsbeamtinnen und ‑beamten ein herzlicher Dank, dass sie auch in der Krise Deutschland die Stange halten. ({2}) Lassen Sie mich zum Schluss darauf hinweisen, dass rein technisch in der VOB entsprechende Regelungen für Abschlagszahlungen vorgesehen sind, die die Zahlung sicherstellen, auch gegen Bürgschaftsleistungen. Wer also ganz schnell zu seinem Geld kommen muss, kann diesen Weg gehen. Die öffentliche Verwaltung ist, glaube ich, die letzte, die nicht daran mitwirken wird, dass ein Abschlag schnell ausgezahlt wird. Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Ich habe, was die Förderung, die wir in den letzten Monaten und Tagen auf den Weg gebracht haben, ein durchweg positives Feedback aus meinem Wahlkreis. Die Förderung kommt an. Die Liquiditätshilfen werden schnell und unbürokratisch über die Länderverwaltungen ausgezahlt. Die Betriebe, die von Kurzarbeit betroffen sind, können über die dortigen Mitarbeiter sehr schnell auf die entsprechenden Mittel zugreifen. Ja, ich gebe zu: Nicht alle Gewerbe in unserem Land blicken in eine rosige Zukunft. Das gilt insbesondere für das Gastgewerbe. Wenn es jetzt zum Ende der harten Zeit einen Hoffnungsschimmer am Horizont gibt, dann müssen wir ihn nutzen. Aber wir sollten ihn nicht nutzen, um zu beklagen, was gerade vielleicht noch auf uns zurollt; vielmehr sollten wir ihn nutzen, um strukturelle Reformen anzugehen. Wir sollten uns über Digitalisierung im Bereich Vergaberecht weiter Gedanken machen, sodass wir aus dieser Krise einen Nutzen mitnehmen können; also etwas weniger jammern und etwas mehr progressives Vorgehen. Vielen Dank, meine Damen und Herren. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Heider. – Nächster Redner für die AfD-Fraktion: Enrico Komning. ({0})

Enrico Komning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004787, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Eigentlich ist der Antrag der geschätzten Kollegen von der FDP grotesk – weniger der Antrag als vielmehr der Anlass für den Antrag –; denn im Grunde fordern Sie damit die Bundesregierung auf, dafür Sorge zu tragen, dass staatliche Institutionen ihre Handwerksrechnungen bezahlen. Meine Damen und Herren, das sollte doch eigentlich selbstverständlich sein. ({0}) Die schlechte Zahlungsmoral von Städten und Gemeinden bestand schon vor der Lockdown-Krise. Teilweise warten Handwerker und Baubetriebe mehr als sechs Monate auf ihr Geld aus öffentlichen Aufträgen, während gleichzeitig – der Kollege Todtenhausen hat darauf hingewiesen – selbstverständlich die Finanzämter die Vorsteuer kassieren. So, liebe Kollegen, werden Unternehmen systematisch in den Ruin getrieben. ({1}) Die Verantwortung hierfür tragen weniger die Kämmerer vor Ort als vielmehr der Bund und die Länder. Seit Jahren, ja sogar Jahrzehnten werden die Kommunen von Bund und Ländern finanziell im Regen stehen gelassen: immer mehr Aufgaben, immer weniger Geld. Die Kommunen ächzen unter einem gewaltigen Ausgabenberg, während der Bund und die Länder sich entspannt zurücklehnen. Wie soll man denn da noch in die Zukunft, insbesondere in die Infrastruktur investieren? Wir müssen dringend über einen neuen Schlüssel zur Verteilung von Steuergeldern auf Bund, Länder und Gemeinden nachdenken. ({2}) Meine Damen und Herren, ich habe da ganz spontan eine Idee. Man könnte sich doch mal überlegen, ein paar Berlin-Milliarden aus dem Länderfinanzausgleich in ländliche Gemeinden umzuleiten. ({3}) Das wäre eine Win-win-Situation, ein Gewinn für die Berliner und für alle anderen: weniger verzapfter Unsinn im Roten Rathaus und mehr öffentliche Investitionen in der Fläche. ({4}) Dann, liebe Bundesregierung, wäre Ihre bisher im Sande verlaufende Regierungskommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ auch nicht mehr nur ein reines Lippenbekenntnis. Am Ende interessiert Sie von der Bundesregierung doch nur die sogenannte Systemrelevanz der Konzerne und nicht die der kleinen Betriebe auf dem Land. Schauen Sie: Für die Lufthansa lassen Sie die EZB die Gelddruckmaschinen anwerfen. Aber was ist denn mit dem Handwerk? 550 000 Handwerksbetriebe in Deutschland beschäftigen fast 5 Millionen Arbeitnehmer und erwirtschaften knapp 10 Prozent der Gesamtumsätze in Deutschland. Nahezu alle Handwerksbetriebe sind kleine oder mittelständische Unternehmen. Das Handwerk in Deutschland, meine Damen und Herren, das ist tatsächlich systemrelevant. ({5}) Das Handwerk ist durch die Lockdown-Krise besonders bedroht. Liquidität sichert den Bestand dieser Unternehmen. Es ist widersinnig, wenn auf der einen Seite gewaltige Hilfsprogramme aufgelegt werden, andererseits aber berechtigte Ansprüche nicht befriedigt werden. Und es ist noch widersinniger, wenn mit dem Hinweis auf diese Hilfsprogramme die Bezahlung von Rechnungen verweigert wird. Liebe Bundesregierung, kümmern Sie sich endlich um das Handwerk, und das nicht nur symbolisch. Konzentrieren Sie sich in der jetzt anbrechenden Krise auf den Mittelstand. Wir werden den FDP-Antrag wohlwollend begleiten. ({6}) Vielen Dank. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön. – Nächster Redner: Johann Saathoff für die SPD-Fraktion. ({0})

Johann Saathoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004393, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im vorliegenden Antrag sorgen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, sich vordergründig um die Zahlungsfähigkeit der Betriebe und beklagen die Zahlungsmoral, zum Beispiel der Kommunen. Ich gehe davon aus, dass wir uns einig sind, dass es nicht darum geht, dass die Kommunen nicht zahlen wollen. Das Problem, das Sie adressieren, ist die schwierige finanzielle Situation der Kommunen, die aktuell, durch Corona, natürlich noch mal doppelt verschärft ist. Ich war über zehn Jahre lang hauptamtlicher Bürgermeister einer ostfriesischen Gemeinde, der Gemeinde Krummhörn. Bei uns gab es niemanden, der gesagt hätte: Lass uns die Rechnung liegen lassen, damit wir irgendjemanden ärgern. – Wir haben natürlich auf Skonten usw. geschaut und versucht, die Rechnung so schnell wie möglich zu bezahlen. Wie viele in der SPD-Fraktion bin ich als ehemaliger Bürgermeister also fest kommunal verwurzelt. Wir in Ostfriesland sagen: Wenn de Wuddels deep genug sind, bruukt man vör de Wind neet bang ween. Oder – Frau Präsidentin, wenn Sie erlauben –:

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Das erlaube ich nicht nur, das erwarte ich.

Johann Saathoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004393, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wenn die Wurzeln tief genug sind, dann braucht man keine Angst vor Wind zu haben. Wir machen uns schon lange Sorgen um die finanzielle Situation der Kommunen. Unsere Antwort für und an die Kommunen ist eine ganz andere als Ihre, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP. In Ihrem Antrag sprechen Sie von „Fehlverhalten“, von „Fahrlässigkeit“. Wir sprechen davon, die Kommunen zu entlasten. ({0}) Finanzminister Olaf Scholz hat ein gutes Konzept vorgelegt, wie wir den Kommunen noch in diesem Jahr die Schuldenlast hätten nehmen können. Dann hätten sie investieren und dringend notwendige Bauprojekte realisieren können. Es geht nämlich nicht um das Wollen, sondern um das Können. Leider konnte sich die SPD damit nicht durchsetzen. Dennoch haben wir mit dem Konjunkturpaket viel für die Kommunen erreicht, zum Beispiel, dass der Bund seinen Anteil an den Kosten der Unterkunft für Langzeitarbeitslose deutlich erhöht. Das spült 4 Milliarden Euro in die Kommunen hinein und schafft Handlungsspielraum für die Bürgermeister. ({1}) Weiterhin haben wir erreicht, dass der Bund in diesem Jahr die Hälfte der Gewerbesteuerausfälle übernimmt. Das bringt weitere 6 Milliarden Euro für die Kommunen und damit Handlungsspielraum für die Stadt- und Gemeinderäte. Eigentlich gilt es generell, aber besonders in der Krise ist es richtig und wichtig, dass die Kommunen von Konjunkturprogrammen massiv profitieren, dass sie also im Zentrum der Konjunkturprogramme stehen. Nur so ist sichergestellt, dass keine Schulsanierung verschoben werden muss, und nur so ist sichergestellt, dass kein kommunales Schwimmbad schließen muss. ({2}) So begegnen wir Ihrer Sorge um die Zahlungsmoral der öffentlichen Hand, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, nicht, indem wir den Kommunen Fehlverhalten unterstellen, sondern indem wir sie unterstützen, wo und wie wir nur können. ({3}) Wir sind immer noch der Meinung, dass eine Entlastung der besonders betroffenen Kommunen von den Altschulden richtig und notwendig ist. ({4}) Es geht um nichts weniger als um die Handlungsfähigkeit des größten öffentlichen Auftraggebers in Deutschland. Damit steht die SPD fest an der Seite der Kommunen und natürlich zugleich an der Seite des Handwerks, das die Stütze der Wirtschaft ist; das ist hier vollkommen zu Recht angeführt worden. Was die Kommunen brauchen, habe ich ja gerade skizziert. Was aber hilft dem Handwerk? Dem Handwerk hilft es jedenfalls nicht, wenn die Auftraggeber der Zukunft in ein schlechtes Licht gerückt werden. Dem Handwerk hilft es, wenn wir uns gemeinsam um den Fachkräftemangel kümmern. Unsere Antwort darauf ist ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz. ({5}) Dem Handwerk hilft es, wenn wir die duale Ausbildung stärken, um die uns die ganze Welt beneidet. Dem Handwerk hilft es, wenn wir Qualifizierungsmöglichkeiten stärken und eine breite tarifliche Bindung haben. Das hilft dem Handwerk. ({6}) Dem Handwerk hilft es auch, wenn die Menschen nicht länger glauben, dass nur Leute mit Abitur glücklich und erfolgreich sein können. ({7}) Wir müssen von den vielen Karrieren ohne Abitur im Handwerk sprechen. Der Meister muss genauso viel wert sein wie der Master; denn man kann auch glücklich sein, wenn man Handwerker ist. ({8}) Daran sollten wir interfraktionell arbeiten, an einem Masterplan Handwerk; denn wenn dieser Masterplan Handwerk am Ende erfolgreich ist, dann hilft das über die Gewerbesteuer mittelfristig auch den Kommunen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Johann Saathoff. – Wenn Herr Saathoff redet, freue ich mich immer auf seine friesischen Weisheiten. Für jemanden aus dem Unterallgäu ist das wirklich weit weg. Nächster Redner: für die Fraktion Die Linke Dr. Diether Dehm. ({0})

Dr. Jörg Diether Dehm-Desoi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000365, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Liebe Frau Präsidentin! In dem FDP-Antrag wird die „Deutsche Handwerks Zeitung“ zitiert, aber ohne richtige Quellenangabe. Nachdem die FDP darauf hingewiesen hat, dass die Unternehmer unzufrieden sind, vergaß sie, folgende Äußerung zu zitieren – ich zitiere wörtlich –: Teilweise fehlt schlicht das Personal in den Behörden, um Aufträge abzunehmen und Rechnungen freizugeben. – Und warum fehlt das Personal in den Behörden? Weil Sie viel zu lange regiert haben, liebe FDP, ({0}) mit Ihrer religiösen Vernarrtheit in die Dreifaltigkeit aus schwarzer Null, Steuerverkürzungen und Schuldenbremse. Ein Staat muss so stark sein, dass er Geld hat für Krisenopfer, für Handwerk, für Kommunen, für Solo-Selbstständige und dafür, Aufträge zügig abzuarbeiten. – Dafür steht Die Linke. ({1}) Wir Linken gaukeln auch weder Handwerkern noch anderen Arbeitenden vor, ein schwacher Staat könnte ihnen eine starke Hilfe sein. Von 1990 bis 2016 haben die Regierungsparteien, meist mit der FDP, die Anzahl von 7 Millionen öffentlich Beschäftigten auf 4,5 Millionen runtergespart. Das alles rächt sich jetzt bitter, auch in fehlender Zahlungsmoral und Aktenbergen. Der FDP-Antrag beklagt auch – so wie wir alle – den Mangel an Schutzkleidung, was besonders im März der Fall war. Wahrscheinlich sind manche der wirtschaftlich schädlichen und überhasteten medizinischen Maßnahmen auf Maskenmangel und das krankgekürzte Gesundheitswesen zurückzuführen. Ja, Anfang 2013 lag uns im Plenum die SARS-Pandemiestudie des Koch-Instituts vor. Konsequenzen daraus? Null. Dann 2016 noch eine Pandemiestudie. Neue Schutzkleidung? Fehlanzeige! 2018 schätzte das Koch-Institut eine Übersterblichkeit von 25 100 Menschen in Deutschland durch Influenza B. Wohlgemerkt, diese wird genauso per Tröpfchen übertragen wie die Coronaviren. Aber produzierten wir dann etwa Schutzmasken, allein um die Rückkehr dieser Grippe zu vermeiden? Es hätte doch Schutzbekleidung allein für das Heil- und Pflegepersonal in Hülle und Fülle da sein müssen; aber es war nicht da. Lieber aufrüsten! Unsere deutsche Lagerhalle für Schutzkleidung lag ja bequem im Billiglohnland China. ({2}) Die Gesundheitsämter kann man ja weiter um Tausende Mitarbeiter kürzen, Krankenhäuser weiter privatisieren. Alles lupenreiner FDP-Marktradikalismus! ({3}) Gesundheit und Daseinsvorsorge an die Börse bringen, aber nicht dahin, wo die Menschen sie brauchen. ({4}) Wenn Sie die Zahlungsausfälle der Kommunen attackieren, attackieren Sie damit auch Ihre eigene Regierungsideologie des krankgekürzten Staats. Ein gesunder Mittelstand und eine gesunde Daseinsvorsorge brauchen einen gesunden, starken Sozialstaat. Dafür steht Die Linke. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Diether Dehm. – Nächster Redner: für Bündnis 90/Die Grünen Dr. Danyal Bayaz. ({0})

Dr. Danyal Bayaz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004664, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibt nichts Schöneres, als am Freitagnachmittag über das Verhältnis von Markt und Staat zu sprechen. ({0}) Fangen wir mit dem Markt an. Es gibt aktuell ein wichtiges Thema in der Wirtschaftspolitik: Das ist die Versorgung unserer Unternehmen mit Liquidität. Wir können gerne darüber sprechen: Wo können wir besser sein, was Zahlungsprozesse angeht, was Rechnungsfristen angeht? Immerhin: Der Baubereich war vom Lockdown erst einmal gar nicht akut betroffen. Da gibt es viele andere Branchen. Und deswegen ist es gut, über Instrumente zu sprechen, die in der Breite wirken. Deswegen wollte ich noch mal über den steuerlichen Verlustrücktrag sprechen. Es ist ja gut, dass die Große Koalition da jetzt vor der Sommerpause eine gesetzliche Grundlage schaffen möchte. Aber – das haben wir zuletzt auch in den Anhörungen immer wieder deutlich gemacht –: Da ist Luft nach oben, Frau Staatssekretärin. Es braucht eine bessere Berücksichtigung gerade kleiner und mittlerer Unternehmen. Das würde gehen, indem man die Verlustrückträge zeitlich deutlich besser strecken kann. Vielleicht gibt sich die Koalition in den wenigen verbleibenden Tagen jetzt noch mal einen Ruck, das besser zu machen. Wir haben einen Vorschlag gemacht, wie das geht, meine Damen und Herren. ({1}) Worüber reden wir hier eigentlich? Das ist ja ein Thema, mit dem sich die FDP schwertut. Ich finde, wir reden hier über aktive Industriepolitik. Die öffentliche Hand, das ist ja ein Hebel. Wir reden hier über 500 Milliarden Euro an öffentlicher Beschaffung, die Bund, Länder und Kommunen jedes Jahr gemeinsam auf den Weg bringen. Wir sollten nicht nur darüber reden, dass die etwas beschaffen, sondern auch darüber, was sie beschaffen und bei wem sie das beziehen. Der Staat mag sicherlich nicht der bessere Unternehmer sein; aber er kann eben über Beschaffung Innovationen antreiben, die das Leben der Menschen besser, einfacher und sicherer machen, gerade in dieser Pandemie. Und natürlich – das ist doch eine Selbstverständlichkeit – gilt für den Staat dasselbe wie für Unternehmen und für Bürgerinnen und Bürger: Rechnungen bezahlt man, und zwar pünktlich. Wenn das nicht passiert, meine Damen und Herren – das ist durchaus der Fall gewesen –, dann ist das ärgerlich, und dann ist das peinlich. Aber man muss halt um der Wahrheit willen auch sagen: Wir leben nun mal gerade in beispiellosen Zeiten. Das ist eine Herausforderung – eine Riesenherausforderung –, auch für die Menschen in der öffentlichen Verwaltung. Ihre Arbeit und ihre Effizienz sind auf Routinen ausgelegt. Für den Umgang in dieser Pandemie gibt es nun mal noch nicht diese eingeübten Routinen. Natürlich bringt das dann bei einer Sache wie dem sogenannten Open-House-Verfahren bei der Beschaffung von medizinischen Schutzgütern erst einmal Probleme mit sich. Das ist für die Verwaltung und für die Beschäftigten dort nicht immer einfach. Aber ich finde, sie machen einen ausgezeichneten Job in der Fläche. An dieser Stelle würde ich mir wünschen, dass das auch in Ihrem Antrag einmal gewürdigt würde, meine Damen und Herren. ({2}) Es ist im Interesse von uns allen – das haben wir heute schon ein paarmal gehört –, dass wir auch die Verwaltung modernisieren. Dafür tragen wir alle eine Verantwortung, Bund, Länder und Kommunen gemeinsam. Wenn wir uns das öffentliche Beschaffungswesen anschauen, dann, finde ich, zeigt sich: Wir fördern da noch zu wenig junge, innovative Unternehmen. Wenn wir über die Entwicklung einer App sprechen, über die digitale Steuererklärung oder über einen Onlinekurs bei der Arbeitsagentur, würde ich mir auch oft wünschen, dass die Perspektive und die Bedürfnisse von Bürgerinnen und Bürgern da noch besser berücksichtigt werden. Aber leider ist es so: Nur etwa 4 Prozent der öffentlichen Aufträge gehen an genau solche jungen, innovativen Unternehmen. Ich würde mir wünschen, dass wir da in der Zukunft ein bisschen mutiger werden und denen auch Aufträge geben würden. Das würde nicht nur den Unternehmen in dieser schwierigen Situation helfen, sondern am Ende auch den Menschen in der Verwaltung und den Bürgerinnen und Bürgern. Herzlichen Dank. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Danyal Bayaz. – Der letzte Redner in dieser Debatte: Hansjörg Durz. ({0})

Hansjörg Durz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004264, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Liebe FDP-Fraktion, auf Seite 1 Ihres Antrags argumentieren Sie mit Umfragen, unter anderem mit der Trendumfrage des Bundesverbandes Deutscher Inkasso-Unternehmen – wir haben es schon gehört – aus dem Jahr 2019. Jetzt ist es nicht ganz verwunderlich, dass ein Verband, der die Interessen der Inkassobranche vertritt, auf Zahlungsprobleme aller Art, egal ob von Privatpersonen, Unternehmen oder dem Staat, aufmerksam machen möchte. Aber wenn man eine Umfrage als Grundlage nimmt, dann sollte man sie auch richtig zitieren. 89 Prozent der befragten Inkassounternehmen monieren nämlich nicht das schlechte Zahlungsverhalten öffentlicher Auftraggeber, wie Sie in Ihrem Antrag behaupten, sondern sie sagen lediglich, dass sich das Zahlungsverhalten im Jahr 2019 gegenüber dem Vergleichsjahr 2018 weder verbessert noch verschlechtert hat. Statt einer pauschalen Unterstellung von abnehmender Zahlungsmoral von Bund, Ländern und Kommunen ohne stichhaltige Belege wäre eine differenzierte Betrachtung schon wünschenswert gewesen. Als vermeintliches Beispiel für die fehlende Zahlungsmoral auf Bundesebene wählen Sie die Beschaffung von medizinischer Schutzkleidung während der Hochphase der Coronakrise. Ihrem Antrag zufolge sollen von der öffentlichen Hand alle offenen Rechnungen seit dem 23. März, die nicht offensichtlich unbegründet sind, bis zum 30. Juni bezahlt werden – im Zweifel unter Vorbehalt. Dabei wird doch das Problem in dem von Ihnen zitierten Zeitungsartikel beschrieben. Dort steht, dass sich 20 Prozent der bestellten Schutzmasken nach Prüfung als mangelhaft erwiesen haben und nicht den Normen entsprachen. Nach Ihrem Vorschlag hätte der Bund das Geld also zunächst auszahlen und es nach Prüfung der mangelhaften Schutzkleidung dann wieder zurückfordern sollen. Was ist das für ein Umgang mit Steuergeld, und was ist das für ein bürokratischer Aufwand? ({0}) Gerade in der Coronakrise gab und gibt es einen erheblichen Bedarf an unbürokratischem Agieren. Dieses hat besonders die öffentliche Hand auf allen Ebenen, also insbesondere in Bund und Ländern, durch die Liquiditätsmaßnahmen an den Tag gelegt, und in den Kommunen haben wir das überall vor Ort gesehen. Gut, die FDP ist jetzt nicht gerade als Kommunalpartei berühmt. Mit der Realität müssen Sie sich aber schon auseinandersetzen. Ich habe einfach mal mit Vertretern der kommunalen Ebene über Ihren Antrag gesprochen. Wie weit Ihr Antrag von der tatsächlichen Praxis in den Kommunen entfernt ist, wurde mir besonders deutlich, als mir ein bayerischer Landrat eine Dienstanweisung vom März dieses Jahres in die Hand drückte. Ich zitiere: Betreff: Fälligkeit von Zahlungen.Liebe Mitarbeitende,in Zeiten der Coronakrise gibt es erheblichen Bedarf an unbürokratischen Hilfen für Firmen sowie für Bürgerinnen und Bürger. Hierunter fällt zum Beispiel die möglichst frühzeitige Begleichung von Rechnungen für erbrachte Leistungen. Ich zitiere weiter: Es gibt schon seit Längerem keinen Grund mehr, die eingeräumte Zahlungsfrist auszunutzen. Ein solches Vorgehen ist geradezu kontraproduktiv und führt zu unnötigen Kosten, ist damit also genau das Gegenteil von sparsam und wirtschaftlich. Es wird aus den oben genannten Gründen daher die dienstliche Weisung erteilt, eingehende Rechnungen möglichst rasch und unter Ausnutzung von Skonto zu bezahlen und ausdrücklich nicht die eingeräumte Zahlungsfrist zu nutzen. Und weiter: Bitte sorgen Sie dafür, dass entsprechende Zahlungsanordnungen von der Kreiskasse möglichst rasch überwiesen werden können. Bei der Eingabe der Fälligkeit sollten möglichst nur maximal drei Tage zum Erfassungstag hinzugezählt werden, nicht mehr. Diese Realität widerlegt geradewegs Ihre pauschale und diffamierende Annahme, dass Kommunen ihre Rechnungen nicht rechtzeitig bezahlen würden. Diese Anweisung zeigt genau das Gegenteil von abnehmender Zahlungsmoral. Das sichert Liquidität von Betrieben, und das ist genau die von Ihnen geforderte besondere Vorbildfunktion in Krisenzeiten. ({1}) An einer Stelle treffen Sie in Ihrem Antrag aber schon einen Punkt: Es ist richtig, dass der Rechnungsprüfungsprozess insbesondere in größeren Häusern der öffentlichen Hand oft langwierig ist und Rechnungen oft noch viel zu häufig analog über die Schreibtische wandern. Aber als Lösungsansatz bieten Sie außer der Erwähnung des Wortes „Digitalisierung“ dazu nicht viel. Wenn Sie tatsächlich Lösungen für dieses Problem suchen, dann schauen Sie sich doch das Konjunktur- und Zukunftspaket der Bundesregierung an, zum Beispiel Punkt 10, Vorziehen von Investitionen des Bundes, insbesondere Digitalisierungsvorhaben der Verwaltung, oder Punkt 11, temporäre Vereinfachung des Vergaberechts und Beschleunigung des Planungsrechts, oder Punkt 41, zügige und flächendeckende Umsetzung des Onlinezugangsgesetzes, oder Punkt 42, Digitalisierungsschub zur Beschleunigung der Prozesse der digitalen Verwaltung. Dabei ist eines klar: Bei der Digitalisierung der Verwaltung sind alle politischen Ebenen – und übrigens auch alle politischen Parteien – gefragt. Da kann keiner auf den anderen zeigen; da müssen alle mitmachen. Der heute stattfindende bundesweite Digitaltag wäre eine passende Gelegenheit zumindest für gute Vorsätze. Vielen Dank. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, lieber Hansjörg Durz. – Damit schließe ich die Aussprache.

Rüdiger Kruse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004083, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wenn in ein, zwei Stunden die meisten von Ihnen die Reise in die Heimat antreten, werden wohl die wenigsten das Schiff wählen, und selbst ich als Hamburger werde mit der Bahn fahren. Wenn man aber Handelsnation ist – und wir sind nun mal eine große Handelsnation –, dann kommt man an Schiffen nicht vorbei; denn der Welthandel wird zum Großteil über Schiffe organisiert. Nun kann man vieles outsourcen und sich anderer bedienen, aber wenn es das eigene Kerngeschäft betrifft, dann ist es schon gut, wenn man seine Kompetenzen dort behält. Das bedeutet nicht nur, dass man Schiffe bereedert, sondern auch, dass man sie auch bauen kann. Da waren wir gut aufgestellt; ganz anders als unsere asiatischen Mitbewerber, die unter der Containerschifffahrtskrise extrem gelitten und größte Schwierigkeiten haben. Die Entscheidung, aus dem Massenschiffbau auszusteigen, hat Deutschland schon vor vielen Jahren – sicherlich auch unter Schmerzen – getroffen, und es hat sich auf den Spezialschiffbau konzentriert. Wir waren gut aufgestellt, und dann kam dieses kleine böse Virus. Jetzt sieht die Welt natürlich auch hier anders aus, und jetzt muss man sich überlegen: Ist auch dies ein Bereich, in dem wir etwas tun wollen, oder tun wir da nichts? Wer jetzt nichts tut, der spielt „Schiffe versenken“, ein sehr gefährliches Spiel, und das wollen wir nicht; denn eine Kernkompetenz, die man in diesem Sektor einmal verloren hat, die ist dann auch weg. Und es hängt mehr daran. Das erkennt man, wenn man das weite Feld der Zulieferer sieht. Es ist eben kein rein norddeutsches Thema; denn große Schiffsmotoren werden zum Beispiel am Bodensee gebaut. Da fährt kein einziges Schiff, das einen solchen Motor auch nur transportieren könnte. Diese Motoren werden für die Weltmeere gebraucht. In ganz Deutschland gibt es Zulieferer. Das ist eine Industrie mit 2 800 Firmen und etwa 200 000 Menschen, also extrem mittelständisch geprägt. Das heißt, wir erreichen dort auch sehr kleinteilige Strukturen und können sehr direkt helfen. Was wollen wir jetzt tun? Wir wollen das tun, was wir eigentlich in ein paar Jahren sowieso tun würden: Die Beschaffung von Schiffen, die wir in Planung haben, von denen wir schon heute wissen, dass wir sie in drei, vier oder fünf Jahren in Auftrag geben müssen, wollen wir vorziehen. Wir sagen, dass wir diese Ausschreibungen so gestalten sollten, dass wir auch noch ein anderes Ziel erreichen. Denn auch diese Schiffe werden lange fahren, und sie werden unseren Klimaabdruck mit bestimmen. Wenn ein Schiff 30 Jahre genutzt wird, dann sind wir im Jahr 2050, und wir alle wissen, welche hohen Ziele wir für 2050 haben. Deshalb wollen wir jetzt die Anreize setzen, dass Innovation eingebracht und umweltfreundlichste Technik eingebaut wird. Der Nebeneffekt dabei ist: Das können nur die, die wirklich gut sind. Es ist die Fähigkeit der deutschen Werften und der deutschen Schiffsbauindustrie, genau diese zukunftsfähigen Schiffe zu liefern. Von daher ist es wichtig, dass wir im Rahmen unserer vielen Maßnahmen, die wir jetzt treffen, auch in diesem Sektor aktiv werden und unsere Mittel so einsetzen, dass wir der Vielfalt des deutschen Schiffsbaus helfen, diese Kompetenz halten und mit dieser Kompetenz dann natürlich auch die Maßstäbe setzen. Denn – ich muss das einfach wieder sagen – alles, was wir jetzt tun, muss dem Prinzip der Nachhaltigkeit folgen. Dieser Antrag führt genau in die richtige Richtung, sodass wir auch in Zukunft mindestens eine Handbreit Wasser unter dem Kiel haben werden. Herzlichen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Rüdiger Kruse. – Nächster Redner – er steht schon da –: Leif-Erik Holm für die AfD-Fraktion. ({0})

Leif Erik Holm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004761, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Bürger! Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die deutsche Schiffbauindustrie ist tatsächlich in schwerem Wasser unterwegs. Klar, in dieser weltweiten Krise ist der Welthandel eingebrochen, auch der Schiffstourismus funktioniert nicht. Das schlägt natürlich auch auf den Schiffbau durch, und niemand weiß, wie schnell die Zeichen wieder auf Grün drehen. In dieser Situation ist Überbrückungshilfe geboten; denn der Schiffbau ist für unser Land eine strategisch bedeutsame Industrie. Das ist ja auch die Intention der vorliegenden Anträge, und wir können hier natürlich grundsätzlich Unterstützung signalisieren. Es ist wichtig, dass wir Bundesaufträge für die Werften, wenn möglich, vorziehen und beschleunigen. Wir sollten alle Hebel in Bewegung setzen, um mit vereinfachten Vergabeverfahren mehr Schiffsprojekte auf deutsche Werften zu bekommen. Wir müssen mehr privatwirtschaftliche Initiativen und Investitionen durch gute Rahmenbedingungen und zielsichere Förderprogramme anreizen. Dazu gehört auch eine gute Forschungsförderung für Innovationen im maritimen Sektor. Ich warne allerdings davor, in dieser wirtschaftlich extrem fragilen Lage, mitten in einer schweren Rezession, Schiffbauprojekte mit noch mehr Umweltauflagen zu versehen; auch das steht ja in den Anträgen. Unsere Werften stehen im internationalen Wettbewerb und leben nicht nur von deutschen Staatsaufträgen. Also, hören Sie auf mit diesem grünen Framing, dem Hinterherhecheln hinter dem Zeitgeist! Die Schiffbauer müssen ihre Schiffe auch weiter verkaufen können. ({0}) Wenn es um Kreditvergabe und Beteiligungen geht, dann muss natürlich auch genau auf die Geschäftsmodelle geschaut werden. Wie tragfähig sind die Konzepte der Werften? Da gibt es schon Redebedarf, wenn ich zum Beispiel an Genting Hong Kong, den Mutterkonzern der MV Werften in Mecklenburg-Vorpommern, denke. Genting will ja jetzt den Wirtschaftsstabilisierungsfonds nutzen und hat bis zu 570 Millionen Euro Hilfe beantragt. Das ist eine Menge Holz. Allerdings muss man dazusagen: Genting hatte offensichtlich schon vor Corona wirtschaftliche Probleme. Es gab schon vorher mehrere Gewinnwarnungen. Schiffe im Bau mussten offensichtlich verkauft werden, um liquide zu bleiben. Stromrechnungen und Zulieferer wurden wohl nicht bezahlt. Es stellt sich also die Frage: Was ist coronabedingt und was ist hausgemacht? Da fehlt mir bisher die notwendige Transparenz von Genting, und die müssen wir im Namen der Steuerzahler dringend einfordern. ({1}) Natürlich stehen wir zu unseren Werftstandorten; das ist klar. Aber wir in Mecklenburg-Vorpommern sind gebrannte Kinder. Wir haben schon einige ziemlich teure Werftenpleiten hinter uns. Von Vulkan bis P+S-Werften: Immer mussten die Bürger teuer draufzahlen; über 600 Millionen Euro sind futsch. Ein weiteres Millionengrab müssen wir unbedingt vermeiden. ({2}) Geplant ist ja jetzt für Genting eine Zwischenlösung. Es geht hier um die Locked Box, also das Pfand der Gläubiger; 175 Millionen Euro sollen freigegeben werden. In der Tat ist das als Überbrückungsinstrument sinnvoll, wenn davon Mitarbeiter und Zulieferer direkt bezahlt werden. Aber wir brauchen natürlich auch eine langfristige Perspektive, und ob es die mit Riesenkreuzfahrtschiffen bald wieder gibt, muss hinterfragt werden. Deswegen kann ich Bund und Land nur auffordern, wirklich sehr genau hinzuschauen, ob das Geschäftsmodell von Genting auch für die Zukunft tragfähig ist. Meine Damen und Herren, der Schiffbau ist für uns ein wichtiger Wirtschaftsfaktor an der Nord- und an der Ostsee. Wir brauchen eine zukunftsorientierte, innovative und effiziente maritime Industrie, die am internationalen Markt bestehen kann. Wenn eine Unterstützung in der Coronazeit helfen kann, die aktuelle Flaute zu überwinden, dann sind wir gerne dabei. Aber eines ist eben auch klar: Der Steuerzahler muss hinterher sagen können: Das Geld war gut angelegt. In diesem Sinne: Mast- und Schotbruch! ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön. – Nächster Redner: wieder mal Johann Saathoff für die SPD-Fraktion. – Ich bin gespannt, was jetzt kommt. ({0})

Johann Saathoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004393, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, dass wir uns heute hier im Deutschen Bundestag mal wieder mit der maritimen Wirtschaft befassen und diese in den Fokus nehmen. Es ist einfach zu wenig, dass wir nur alle zwei Jahre über einen maritimen Antrag debattieren, der rundweg 100 Punkte enthält, wobei nicht jeder davon zur Geltung kommen kann. ({0}) Die maritime Wirtschaft ist vielfältig, und ich glaube, sie hat es auch verdient, dass wir uns in diesen Debatten maßgeblich darum kümmern, dass die Probleme in den einzelnen Regionen und in den einzelnen Wirtschaftsbereichen auch ausreichend beraten werden. Deswegen nehmen wir uns heute die Zeit, uns mit der maritimen Wirtschaft zu beschäftigen, insbesondere mit dem Schiffbau. Maritime Wirtschaft gibt es übrigens nicht nur an der Küste, sondern in ganz Deutschland. Deswegen fand die letzte Nationale Maritime Konferenz auch nicht an der Küste, sondern an einem Binnensee statt. Das sollte sich allerdings nicht verfestigen, finde ich. Also, eigentlich gehört die Nationale Maritime Konferenz an ein Salzwasser. Die Situation im Schiffbau ist fast schon traditionell schwierig, und jetzt in der Coronapandemie ist sie eigentlich besonders schwierig. Die maritime Wirtschaft ist insgesamt betroffen, aber zum Beispiel der Sektor der Kreuzfahrtschiffe ganz besonders. Wir müssen Wege finden, um schnell helfen und um Arbeitsplätze sichern zu können. Ein wichtiger Schritt war die Verlängerung der Kurzarbeit, mit der wir uns wahrscheinlich wieder beschäftigen müssen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Werften sind nämlich das wichtigste Kapital dieser Unternehmen, und die Kurzarbeiterregelungen helfen den Unternehmen, ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu behalten. ({1}) Ein zweiter wichtiger Schritt steht im Konjunkturprogramm: eine zusätzliche Unterstützung mit rund 1 Milliarde Euro. In diesem Kontext muss noch mal sichergestellt werden, dass die Bauzeitenfinanzierungen flexibler ausgestaltet werden können, indem man zum Beispiel die Einzelfallbegrenzung beim Großbürgschaftsprogramm auf 75 Millionen Euro anpasst; mein Kollege Frank Junge hat darauf bei jeder sich bietenden Gelegenheit hingewiesen. Das wollen wir uns vornehmen. ({2}) Es ist auch gut, dass der Bund Unterstützungsmaßnahmen für einzelne Werften plant. Dabei muss der Erhalt der tariflichen Arbeitsplätze im Fokus stehen. Der Erfolg der Werften beruht auf qualitativ hochwertigen, qualifizierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, und er beruht auf einer guten Sozialpartnerschaft. Wir sehen in unserem Antrag die öffentliche Beschaffung als Stabilitätsanker für die Schiffbauindustrie. Wir müssen jetzt tätig werden und öffentliche Aufträge vorziehen. Die Werften brauchen vor allem Aufträge, um aus der Krise herauszukommen; denn es gibt auch einen zeitlichen Verzug. Nicht alle haben jetzt in der Pandemie das Problem; vielmehr zeigt sich gerade im Schiffbau das Problem erst in einigen Monaten. In unserem Antrag fordern wir, die öffentlichen Anträge der nächsten Jahre vorzuziehen und die Vergabe möglichst zu vereinfachen. Mit einfachen Worten: Wir wollen die öffentlichen Aufträge als Strukturpolitik nutzen. Es ist besser, Schiffe zu bestellen, als einfach nur blind Hilfe zu bezahlen. ({3}) Der Preis alleine soll dabei nicht das maßgebliche Kriterium sein. Kriterien für die Strukturpolitik sind gute Sozialpartnerschaft, Innovationen und Arbeitsplätze, Rahmenverträge zur Vereinfachung von Beschaffung, die Betrachtung des Lifecycles, wenn man Schiffe kaufen möchte, und zwar von der Wiege bis zur Bahre, und natürlich auch neue Schiffsantriebe, damit wir das Notwendige mit dem Nützlichen verbinden und die Transformation der Energiewende voranbringen. Wir wollen das unkonventionell machen, bis hin zur Direktvergabe, wenn es denn rechtlich möglich ist. ({4}) Ich möchte mich bei Rüdiger Kruse für die unkonventionelle Art der Erarbeitung des Antrags bedanken. Das war, wie immer, eine erfolgreiche Zusammenarbeit. Ich darf abschließend sagen: In Ostfriesland und auf den Werften würde man sagen: De Lüü up Werft hebben uns Hülp verdeent. – Frau Präsidentin, wenn Sie so weitermachen, kriegen Sie noch das ostfriesische Indigenat. – Also: Die Leute auf der Werft haben unsere Hilfe verdient. Mit anderen Worten: Wir lassen die Menschen auf der Werft nicht im Regen stehen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Herr Saathoff. – Aber ich will mal außer der Reihe sagen: Es gibt noch ein Meer in unserem Land – das Schwäbische Meer. ({0}) Wenn Sie noch nicht da waren, dann gibt es sicher Kolleginnen und Kollegen, die Sie gerne dahin einladen. Dieses Meer nennt sich Bodensee. Nächster Redner: Hagen Reinhold für die FDP-Fraktion. ({1})

Hagen Reinhold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004229, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ja, der Antrag war nötig und richtig. Herr Kruse, Herr Saathoff, das Abschreiben fiel ja diesmal leicht. Ich habe mit Absicht schon vor drei Wochen meinen Antrag im „THB“ veröffentlich; das war leicht abzuschreiben. Ich hätte mir von Ihrem Antrag erhofft, ganz ehrlich, dass Sie konkret aufzählen, was Sie mit den Mehrinvestitionen, mit den vorgezogenen Projekten meinen. Sie haben es gerade eben schon erwähnt: Im Konjunkturpaket ist 1 Milliarde Euro veranschlagt . Mal gucken, vielleicht erläutert es der Herr Brackmann; er redet ja, glaube ich, gleich noch. Von der 1 Milliarde Euro, lese ich, sind allein fast 25 Prozent dafür vorgesehen, das Defizit wegen der Ausfälle auf Bundeswasserstraßen auszugleichen. Das kommt eben gerade nicht bei den Werften an, und dann ist ein Konjunkturpaket vielleicht auch nicht richtig aufgestellt. Ich hätte von Ihnen erwartet, dass Sie heute sagen, wofür das Geld wirklich bestimmt ist. ({0}) Man muss ja Angst haben; deshalb stehe ich hier so mahnend vor Ihnen. Ich habe mir heute Morgen den Nachtragshaushalt und das Konjunkturpaket angesehen; solche Fälle hatten wir ja schon. 50 Milliarden Euro waren am Anfang für kleine und mittlere Unternehmen vorgesehen. An einem Werftarbeitsplatz, das wissen Sie selber, hängen sieben bis zehn andere Arbeitsplätze. Dabei geht es meist um kleine und mittlere Unternehmen. Denen hatten Sie im ersten Nachtragshaushalt 50 Milliarden Euro zugestanden. Im zweiten sind es nur 25 Milliarden Euro ; denn im ersten sind nur 18 Milliarden Euro ausgegeben worden. Das macht zusammen 43 Milliarden Euro. 7 Milliarden Euro fehlen schon. Wenn Sie so mit der 1 Milliarde Euro oder auch den 10 Milliarden Euro bei den Rüstungsprojekten umgehen, bleibt für die Werften am Ende herzlich wenig übrig. ({1}) Sie zählen genauso auf Landstromförderung, auf digitale Testfelder in Häfen usw. Das sind alles Sachen, die im Haushalt schon hinterlegt sind. Ich hätte mir gewünscht, es kommt etwas dazu; denn darauf kommt es jetzt an. Ich will noch auf einige Dinge hinweisen. Erstens: die Vergabeverfahren. Lassen Sie uns dafür sorgen, dass wir gerade bei kleinen Schiffseinheiten – egal ob eine Werft klein oder groß ist – wirklich ein ausgeglichenes Verfahren haben, das keinen bevorteilt und benachteiligt. Lassen wir nicht Versicherungen oder Ähnliches darüber entscheiden, wer das beste Angebot abgibt, sondern die Leistungsfähigkeit auf der Werft und die Unternehmen. Dafür können Sie sorgen, und das ist auch richtig so. Zweitens. Ich bin sehr dafür – in unserem Antrag steht es ja auch drin –, Sachen herzustellen, die der Bund sowieso anzuschaffen und herzustellen vorhatte. Aber ich bin nicht dafür, Dinge, die Wirtschaftsunternehmen sehr gut alleine regeln können, vom Bund erledigen zu lassen und mit irgendeinem Konjunkturpaket auf einmal Schiffe zu bauen, die in der freien Wirtschaft eigentlich verfügbar und gut einsetzbar sind. Dafür sind wir nicht zu haben, und wir werden darauf achten, dass das nicht passiert. Schiffe bauen – ja, aber für staatliche Aufgaben und nicht für Aufgaben, die die Wirtschaft übernehmen kann. ({2}) Abschließend zur Schlüsseltechnologie. Sie schreiben in Ihrem Antrag ja so schön, Sie wollten jetzt auch versuchen, den nichtmilitärischen Bereich in Deutschland zu lassen. Deshalb kann ich dem nicht zustimmen; ich muss mich leider enthalten. Ganz ehrlich, auch ich will, dass jeder Auftrag in Deutschland bleibt. Ich bin mir sicher: Leistungsfähige Werften werden hier gute Angebote machen. Aber Sie haben wahrscheinlich nicht richtig verstanden, wie wir das mit europäischen Ausschreibungen meinen. Europäische Ausschreibungen könnten gerade jetzt deutschen Werften helfen, Aufträge zu kriegen; denn die gibt es genauso in Frankreich und Italien. Nur ist es dieser Bundesregierung bis jetzt noch nicht gelungen, ein europaweites Level Playing Field aufzubauen und deutschen Werften zu ermöglichen, im Ausland auch Aufträge abzuarbeiten. Oder haben Sie Angst davor, dass eine deutsche Werft vielleicht mal eine Korvette für Italien oder Frankreich baut und dass sie nur die Hälfte kostet? Dann läge es ja nicht am Preis der Werft, sondern vielleicht an den Beschaffungsmaßnahmen hier bei uns im Bund und an den Anforderungen, die wir an diese Schiffe stellen, und dann würden wir endlich mal beweisen können, dass die deutschen Werften – im Gegenteil – billig sind; nur sind die Ansprüche, die wir haben, manchmal viel zu hoch. ({3}) Wir achten auf das, was Sie vorhaben, und darauf, dass das bereitgestellte Geld wirklich zusätzliches Geld ist. Ich danke Ihnen. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Hagen Reinhold. – Nächste Rednerin in der Debatte: Jutta Krellmann für die Fraktion Die Linke. ({0})

Jutta Krellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004080, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Gewerkschaftssekretärin, als Bundestagsabgeordnete und als Mitglied der Partei Die Linke finde ich, dass alle Rettungsgelder für die Werften für den Erhalt von Arbeitsplätzen eingesetzt werden müssen, und das auch in der Zulieferindustrie. ({0}) Schon vor der Coronakrise waren die Werften gebeutelt wie kaum eine andere Industrie. In den letzten 30 Jahren sind im ost- und westdeutschen Schiffbau Zehntausende Arbeitsplätze verloren gegangen. Erst Umstrukturierungen nach der Finanzkrise halfen der Branche zurück auf die Erfolgsspur. Und heute ist aus diesem Industriezweig eine Hightechbranche geworden, egal ob es um Neubauten oder um Umbauten geht. Diese Qualifikation und dieses Wissen dürfen nicht verloren gehen. ({1}) Dem Schiffbau muss aus meiner Sicht hierzulande eine sichere Perspektive gegeben werden, aber nicht, indem vor allem Rüstungsgüter produziert werden. Die Coronagelder dürfen nicht durch die Hintertür eine Subvention von Militärausgaben werden. ({2}) Doch im Antrag der Koalition geht es um die Erleichterung der Vergabebestimmungen – das ist ja eben auch schon gesagt worden – bei der Beschaffung von Behörden- und Forschungsschiffen sowie Marinefahrzeugen. Natürlich möchten Sie im Rahmen des Konjunkturprogramms Finanzmittel auch für die zivile Schifffahrt haben; aber schon im nächsten Punkt geht es wieder um Marinefahrzeuge. Meine Damen und Herren, mit uns nicht! ({3}) Wichtig für Die Linke ist auch, dass Betriebe wie die Meyer-Werft in Papenburg, die ihren Firmensitz nach Luxemburg verlegt hat, um sich so der Mitbestimmung zu entziehen, nicht auch noch belohnt werden. So geht das auch nicht. ({4}) Wer Geld vom Steuerzahler will, muss transparent sein und soziale Verantwortung übernehmen, ohne Wenn und Aber. ({5}) Wir reden hier über 1 Milliarde Euro zusätzlicher Förderung. Das sind 1 000 Millionen Euro. Die Frage ist jetzt auch: An wen geht denn das Geld überhaupt? Zumal sich viele Werften inzwischen in den Händen ausländischer Eigentümer befinden. „Geld nur gegen Arbeitsplatzsicherheit!“, sagen wir als Linke. ({6}) Und: Sozialökologische Standards müssen eingehalten werden. Und wenn Beschäftigte in Kurzarbeit sind, muss ihnen der Weg zur Weiterbildung offenstehen, damit sie sich auf die Veränderungen in der maritimen Wirtschaft vorbereiten können. Außerdem ist es Zeit, zu lernen: Leiharbeit und Werkverträge müssen auch im Schiffbau der Vergangenheit angehören. Vielen Dank. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Jutta Krellmann. – Nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Claudia Müller. ({0})

Claudia Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004830, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich war ja durchaus sehr positiv überrascht, als ich im Konjunkturpaket tatsächlich einen Teil zur maritimen Wirtschaft fand. Und als ich dann hörte, dass es noch dazu einen extra Antrag der Koalition, allerdings mit Sofortabstimmung, geben würde, da war allerdings mein erster Gedanke: Schaufensterantrag. Mir wurde dann aus den Reihen der Koalition versichert: Nein, auf keinen Fall, das wird sehr konkret. – Nachdem ich den Antrag gelesen habe, bleibe ich bei meiner Bewertung: Schaufensterantrag. Das heißt nicht unbedingt, dass da was Falsches drinsteht. Die Analyse ist richtig, und es ist auch gut, dass wir den Fehler der Finanzkrise an dieser Stelle nicht wiederholen, wo wir das Thema außen vor gelassen haben. Und wir haben ja damals gesehen, was passierte: Die Schifffahrtsbranche und in der Folge auch die Schiffbaubranche gerieten in sehr schweres Fahrwasser. Es ist wichtig, dass wir dies nicht zulassen. Und der Bund tut da, was er tun kann. Das beschreiben Sie in Ihrem Antrag, oder, besser gesagt, Sie reißen es zumindest an. Der Bund ist mit seinen Ministerien ein großer Reeder. Rund 700 Schiffe besitzt der Bund und betreibt er. Das sind Behördenfahrzeuge, das sind Forschungsschiffe. Und da ist es sehr sinnvoll, jetzt Ausschreibungen und Aufträge vorzuziehen, um hier einen Impuls für die Schiffbaubranche in Deutschland und in Europa zu setzen; denn das ist das, was wir können. Wir bauen nicht mehr die großen Containerschiffe. Es sind Kreuzfahrtschiffe, und es sind Spezialschiffe, und da geht der Bund in seine Verantwortung, und das ist ein sehr, sehr gutes Signal. Als ich das zum ersten Mal in dem Konjunkturpaket gelesen habe, hat mich das veranlasst, beim Wirtschaftsministerium diesbezüglich nachzufragen. Die Antwort darauf kam tatsächlich diese Woche, und ich zitiere mit Erlaubnis der Präsidentin aus der Antwort des Wirtschaftsministeriums zu meiner Anfrage zum Thema „Vorziehen von Aufträgen und Ausschreibungen“: Vorsorglich wird darauf hingewiesen, dass Beschaffungen aufgrund von Systemabhängigkeiten sich nicht ohne Weiteres vorziehen lassen. – Also, ich glaube, da herrscht doch noch ein bisschen Redebedarf zwischen Koalition und Wirtschaftsministerium an dieser Stelle. ({0}) Das Thema „Ausschreibungen im Schiffbaubereich“ ist ein extrem wichtiges; denn wir hatten gerade erst die Aufhebung der Ausschreibung um die „Polarstern II“. Die Forscher warten dringend auf dieses Schiff; denn die „Polarstern I“ ist jetzt um die 40 Jahre alt. Sie ist übrigens im gleichen Jahr zu Wasser gelassen worden, als der Commodore 64 auf den Markt kam, und sie fährt heute noch. Es ist ein unglaublich wichtiges Zeichen. Auf andere Sachen wie die „Meteor“ warten wir noch heute. Es ist auch ein Beitrag zum Thema Klimaschutz; denn Sie wollen das hier ja als neues Kriterium mit einführen. Das begrüßen wir sehr. Denn die Innovation, die hier am deutschen Standort stattfindet, ist der Treiber für den Wirtschaftsstandort maritime Wirtschaft in Deutschland und Europa. Das ist das, was wir gut können. Das ist keine Behinderung unserer maritimen Wirtschaft, sondern das ist eine Unterstützung. ({1}) Lassen Sie mich ganz zum Schluss eine kleine persönliche Bemerkung machen. Ich habe mich als einzige gebürtige Rostockerin hier im Bundestag diese Woche besonders darüber gefreut, dass die nächste Maritime Konferenz im April nächsten Jahres tatsächlich in meiner Heimatstadt stattfinden wird. Ich freue mich sehr, Sie dort alle begrüßen zu dürfen. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Claudia Müller. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Norbert Brackmann. ({0})

Norbert Brackmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004017, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In stürmischer See haben wir Flaute in den Orderbüchern unserer Werften, und bei denjenigen, die Schiffe bestellen, den Reedern, ist Ebbe in der Kasse. Deswegen ist es so wichtig für die Konjunktur, das Kraftpaket zu haben, das wir gerade beschlossen haben. Darin sind natürlich auch Mittel für den maritimen Bereich enthalten – die 1 Milliarde ist angesprochen worden –, aber sie sind eben nicht nur Anker in dem Sturm, sondern es gilt jetzt auch, mit diesen Mitteln die Segel auf einen Zukunftskurs zu setzen. Deswegen werden die Mittel auch genommen, um unsere Programme für die Innovationsförderung und für die Forschung um nahezu 50 Prozent aufzustocken, weil wir besser aus der Krise herauskommen wollen, als wir hereingegangen sind. Deswegen setzen wir hier auf eine Verbesserung der Innovationsprozesse auf den Schiffen – das Thema Digitalisierung ist da mit adressiert –, und wir setzen auch darauf, dass wir für mehr Klimaschutz neue Investitionen fördern können. Das zweite Thema ist das Flottenerneuerungsprogramm. Hier sind in der Tat die Ressorts gefordert, und es kommt auch darauf an, dass wir jetzt schnell in die Vergabe kommen, wenn wir diese Projekte, die wir in den nächsten Jahren ohnehin vorgesehen hatten, vorziehen wollen. Das kann man nicht ohne Weiteres machen, weil diese Projekte ausgeschrieben werden müssen. Aber dazu bedarf es auch der entsprechenden Leistungsbeschreibungen, damit diese Aufträge da landen, wo wir sie haben wollen, nämlich auf den deutschen Werften. Deswegen müssen wir neben dem Preis auch qualitative Aspekte, Innovationsaspekte und Klimaaspekte ebenso wie soziale Aspekte, mit in die Ausschreibung aufnehmen. Das meint diese Antwort des Wirtschaftsministeriums. Wenn wir das tun, dann tun wir, glaube ich, alles, um die PS auch schnell auf die Felgen zu bringen, und das brauchen wir. Schließlich geht das Konjunkturprogramm davon aus, dass wir spätestens in 2021 die Mittel freisetzen. Das ist für unsere Werften auch dringend erforderlich. Das Dritte ist, dass wir unsere Werften auch im grauen Bereich in eine Position bringen müssen, in der sie international wettbewerbsfähig sind. Deswegen ist die Zusammenarbeit von zwei großen Werften – Lürssen und German Naval Yards – ein wichtiger erster Schritt. Dadurch und durch die Beschlussfassung, Marineschiffbau zur Schlüsseltechnologie zu machen, ist es möglich geworden, die Wertschöpfung in Deutschland zu belassen. Die deutschen Werften sind nicht die billigsten, aber wir haben hier die wirtschaftlichsten, und wir konkurrieren im Übrigen mit den Staatswerften aus Frankreich und aus Italien. Deswegen ist es so wichtig, den größten Auftrag, den wir in der Geschichte der deutschen Marine platziert haben, hier in Deutschland platziert zu haben. Mit der Investition in diese Hochtechnologie bieten wir nicht nur Menschen Arbeitsplätze, sondern sichern wir auch Know-how, Spitzen-Know-how, und ich glaube, das ist das, worauf es ankommt. Wir müssen den Menschen in einer qualitativ hochwertigen Hightechbranche Zukunftssicherheit geben; denn letztlich geht es immer um die Menschen, für die wir da sind, und um hochqualifizierte Arbeitskräfte. Mit diesem Konjunkturprogramm und unseren Projekten, die wir da vorgesehen haben, sind wir hier, glaube ich, hervorragend aufgestellt. Vielen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Norbert Brackmann. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Uwe Schmidt. ({0})

Uwe Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004878, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Moin, Frau Präsidentin! Vor knapp zwei Wochen hat in Spitzbergen der Crewwechsel auf der „Polarstern“ – die Kollegin Müller hat es ja eben schon angesprochen – stattgefunden. Das Flaggschiff der deutschen Polar- und Meeresforschung ist inzwischen wieder auf dem Kurs in die Zentralarktis, um die wissenschaftlichen Untersuchungen der einjährigen MOSAiC-Expedition fortzusetzen. Der eine oder andere wird etwas davon gehört haben. Im Oktober wird die „Polarstern“ in ihrem Heimathafen Bremerhaven, beim Institut für Meeresforschung, zurückerwartet. Was bei den Berichten häufig vergessen wird – die Kollegin Müller hat es eben auch schon angetextet –, ist: Das Forschungsschiff sollte bereits 2015 ausgemustert und durch ein neues Schiff ersetzt werden. Sie sehen: Unsere maritime Industrie liefert Schiffbauqualität auf allerhöchstem Niveau – angefangen von der Entwicklung über die Konstruktion bis hin zur Fertigung und Wartung der Schiffe. Die Auswirkungen der Coronakrise spüren auch zunehmend die deutschen Werften und deren Zulieferer quer durch die Republik bis runter nach Bayern und Baden-Württemberg. Die Kreuzfahrtbranche ist komplett zum Erliegen gekommen – und damit auch der Kreuzfahrtschiffbau. Auch in anderen Segmenten des Spezialschiffbaus werden Aufträge storniert oder bestenfalls zurückgehalten. Die Werften und die Zulieferindustrie sind wie viele andere Branchen bereits in eine gefährliche Schieflage geraten. Aufträge werden jetzt dringend benötigt, und zwar aus zwei Gründen – hat der Kollege Brackmann eben auch schon angesprochen –: erstens, um die zahlreichen hochqualifizierten Beschäftigten für die Zeit nach der Krise zu halten, und zweitens, um wertvolles Know-how für den Spezialschiffbau in Deutschland zu sichern. ({0}) – Da klatscht der Kollege Saathoff. Auch in Emden! Mehr als 7 000 Kolleginnen und Kollegen auf den deutschen Werften sind aktuell in Kurzarbeit. Die Kurzarbeit ermöglicht es den Werften, exzellent ausgebildetes und hochqualifiziertes Fachpersonal auch in Zeiten der Auftragsflaute zu halten. Damit nach der Krise gleich wieder durchgestartet werden kann. Das hat der Bundesarbeitsminister hervorragend gemacht. Recht schönen Dank dafür! ({1}) Doch wann wird der Ruf aus der Privatwirtschaft nach neuen Schiffen wieder laut? Das kann aktuell niemand richtig voraussagen. Damit aus den Kurzarbeitern in absehbarer Zeit keine Arbeitslosen werden, müssen wir heimische Werften auslasten. Wie? Mit sofortiger Vergabe von öffentlichen Aufträgen! Und der Bundeswirtschaftsminister sitzt ja hier. Ihm kann ich nur zurufen, dass Ihre Ministerien da flotter werden müssen. Genau hier setzt unser Antrag an: zielgerichtete Vergabe an deutsche Werften, Fokus auf soziale und qualitative Aspekte bei der Beschaffung, bereits geplante Beschaffung von Marine-, Behörden- und Forschungsschiffen vorziehen. Und zwar jetzt! Öffentliche Aufträge dienen in der jetzigen Situation als Stabilitätsanker für die gesamte deutsche Wirtschaft. Die Verwaltung muss jetzt bei den notwendigen Beschaffungen in den Krisenmodus schalten, Planungsverfahren vereinfachen und beschleunigen, endlich entscheiden und jetzt vergeben. Projekte sind da, Geld ist da. Der Bundesfinanzminister hat mit Wumms vorgelegt – Danke dafür an Olaf Scholz; ({2}) jetzt muss in den zuständigen Ministerien entschlossen gehandelt werden. Die Aufträge für Marine-, Behörden- und Forschungsschiffe müssen jetzt raus. Liebe Union, das braucht Mut; hier hilft kein Zögern. Sie sind bereit; das zeigt unser gemeinsamer Antrag. Für die deutsche Schiffbauindustrie, die gesamte maritime Wirtschaft und die Beschäftigten in allen Industriebereichen. Dann werden wir bald auch einen neuen Forschungseisbrecher made in Germany auf internationale Forschungsmissionen schicken können. Recht schönen Dank. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Uwe Schmidt. – Letzter Redner in dieser Debatte – wir haben ja noch einige vor uns – ist Peter Stein für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Peter Stein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004416, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Moin, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In meiner Heimatstadt Rostock wurde vor einigen Jahren bei einer Ausgrabung mutmaßlich einer der ältesten großen Handelshäfen mit Schiffswerft in der südlichen Ostsee entdeckt – etwa 1 250 Jahre alt. Das erste Dampfschiff fuhr nachweislich im Jahre 1707 auf der Fulda von Kassel nach Münden. In Deutschland wurden also schon Boote und Schiffe – auch mit Antrieben – gebaut, als es noch keine Flugzeuge, keine Autos, keine Eisenbahn, ja noch nicht einmal Fahrräder gab. Die deutsche Schiffbauindustrie gehört somit unweigerlich zum Technologie- und Logistikkern unseres Landes. Der deutsche Schiffbau glänzt heute mit Innovationen und belegt technisch seit jeher globale Spitzenpositionen. Es hängen nicht nur Zehntausende deutsche Arbeitsplätze im Norden an der Schiffsindustrie, sondern auch Hunderttausende im ganzen Land und in Europa – in der Zulieferwirtschaft vom hochspezialisierten Propellerhersteller und Schaltanlagenbauer bis hin zu Tischlereien, Glaserbetrieben oder Küchenausstattern. Nicht zuletzt der freie Welthandel, aber auch die Forschung und Entwicklung umweltfreundlicher Technologien gerade in der Schifffahrt berühren die Fragen der nationalen Souveränität und unserer globalen Zukunft. Die enge Verknüpfung der Branche mit zentralen Zukunftsfragen ist offensichtlich. Beispielsweise gehört zum Hochlauf der Wasserstoffwirtschaft die Weiterentwicklung moderner Transport- und Logistikinfrastrukturen. Wir wissen natürlich, dass wir den Bedarf an Wasserstoff für unsere Industrie und für unsere Mobilität nicht in Deutschland alleine decken können, sondern nur einen kleinen Teil davon. Wir müssen jetzt auch damit anfangen, die Logistik dafür bereitzustellen und hochzufahren. Dazu gehören auf jeden Fall auch die Schifffahrt und der Tankschiffbau. Deutsche Seehäfen müssen Energiehäfen werden. Deutschland muss auf See und in der Tiefsee führende Kraft bleiben – in der Robotik, bei Umweltfragen und auch bei der Kraftstoff- und der Antriebstechnologie. Ohne eine starke heimische Schiffbauindustrie drohen unsere Leistungsstärke, unsere Vielfältigkeit und die Fähigkeiten der maritimen Wirtschaft insgesamt und international verloren zu gehen. Wir müssen uns daher darüber im Klaren sein, was der Schiffbau für Deutschland bedeutet und welche Folgen sein Niedergang hätte. Die Konkurrenz schläft nicht. Es ist richtig, dass wir den Marineschiffbau zur Schlüsseltechnologie erklärt und die Vergabepraxis dadurch erleichtert haben. Es ist zu prüfen – das ist heute auch schon gesagt worden –, ob das auch für die Forschung und weitere Bereiche des nationalen Schiffbaus europarechtskonform möglich ist. Es ist auch richtig, dass das Verkehrsministerium das Förderprogramm für die Flottenmodernisierung verlängert hat. Schaffen wir also die Voraussetzungen für die Flottenmodernisierung des Bundes und das Vorziehen geplanter Projekte! Eine starke, technologisch führende Schiffbauindustrie stärkt unseren Export. Wir haben eindrucksvoll gezeigt, was wir schiffsbautechnisch liefern können, beispielsweise bei den Kreuzfahrtschiffen oder auch im Spezialschiffbau. Wir werden mit Erleichterungen im Beschaffungswesen und präzisen Anforderungen an soziale, ökologische und technische Standards Arbeitsplätze sichern, neue Dynamik entfachen und global wettbewerbsfähig bleiben. Zum Schluss. Der alte Hafen und damit die Werft, die bei Ausgrabungen in Rostock gefunden wurden, sind vor einigen Jahrhunderten untergangen. Das darf uns mit der heutigen Hafeninfrastruktur und den heutigen Werften nicht passieren. Nicht mit uns! Das wäre fatal. Ich bitte um Zustimmung zu unserem Antrag. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Peter Stein. – Damit schließe ich die spannende und sehr lehrreiche Aussprache.

Sven Lehmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004801, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn Ihnen Ihr Sohn voller Angst mitteilt, dass das Geschlecht, das ihm bei seiner Geburt zugewiesen wurde, nicht das ist, wie er sich selber empfindet und leben möchte, dann ist das eine große Herausforderung für Sie als Eltern und Familie, in der Schule, im Sportverein, vor allem aber für den Menschen selber. In dieser Situation braucht es gute Beratung, Unterstützung und Vertrauen. ({0}) Was es nicht braucht, sind Fremdbestimmung und Schikane. Genau das macht aber das Transsexuellengesetz seit 40 Jahren: Es verletzt die Würde und die Freiheit. Es ist überfällig, es endlich abzuschaffen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Wer heute nach dem Transsexuellengesetz seinen Personenstand und Vornamen ändern will, muss zwei Sachverständigengutachten vorlegen. In den Fragebögen tauchen dann unter anderem solche Fragen auf – ich zitiere –: Wie oft masturbieren Sie durchschnittlich innerhalb eines Monats? Und: Falls Sie das Erscheinungsbild eines Mannes haben, tragen Sie dann weibliche Unterwäsche, um sich zu stimulieren? Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist einfach nur würdelos. ({2}) Selber über seinen Körper und seine Identität zu bestimmen, das ist das ureigenste Recht eines jeden Menschen. Wir alle wollen das. ({3}) Warum verweigert der Staat aber trans- und intergeschlechtlichen Menschen dieses Recht? Warum zwingt er sie, sich als psychisch krank attestieren zu lassen, bloß wenn sie ihren falschen Geschlechtseintrag und Personenstand korrigieren wollen? „Trans“ und „Inter“ sind nicht krank. Krank ist ein Gesetz, das Menschen für krank erklärt, die eigentlich nur in Freiheit und Würde leben wollen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({4}) Wir Grüne bringen heute einen Entwurf eines Selbstbestimmungsgesetzes ein, das das Transsexuellengesetz ablösen soll. Wir fordern einfache Verfahren zur Änderung von Vornamen und Personenstand ohne pathologisierende Zwangsgutachten, ein Recht auf Gesundheitsleistungen und Beratungen, ein Recht darauf, dass der alte Geschlechtseintrag nicht offenbart werden darf. Und: Eine der größten Menschenrechtsverletzungen, die es in diesem Land noch gibt, nämlich geschlechtsverändernde Operationen an intergeschlechtlichen Kindern, die medizinisch nicht notwendig sind, muss endlich verboten werden. Da sind wir uns ja einig. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor Kurzem hat Ungarn per Gesetz die Existenz von Transpersonen quasi ausgelöscht – ein schwerer Angriff auf die Menschenwürde. Wir müssen es besser machen. Wir müssen zeigen, dass die europäischen Werte von Freiheit und Würde für alle Menschen gelten. ({6}) Unser Gesetzentwurf ist ein Angebot an alle demokratischen Fraktionen, dieses Thema in dieser Legislaturperiode endlich abzuräumen. Erst diese Woche wurde nämlich Verfassungsbeschwerde gegen das jetzige Personenstandsgesetz eingereicht. Dieser Bundestag hat zwei Möglichkeiten: Entweder er wird vom Bundesverfassungsgericht mal wieder zu einer Reform gezwungen, oder er geht selber voran und schafft das Transsexuellengesetz ab und schafft ein modernes Selbstbestimmungsgesetz. Wir sind dafür, selber voranzugehen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Sven Lehmann. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Marc Henrichmann. ({0})

Marc Henrichmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004744, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine Damen und Herren! Ja, das TSG ist überarbeitungsbedürftig; das haben wir nach den Beratungen zum dritten Geschlecht auch einvernehmlich so festgestellt. Ich glaube aber, dass in den beiden Gesetzentwürfen, die zur Beratung vorliegen, der Begriff der Selbstbestimmung in weiten Teilen überdehnt wird. Das ist nicht allein meine persönliche Meinung, sondern das Bundesverfassungsgericht sieht es ganz ähnlich; denn das Geschlecht ist für den Gesetzgeber nicht irgendwas. Das sagt das Bundesverfassungsgericht: Das Geschlecht sei maßgeblich für die Zuweisung von Rechten und Pflichten und für die familiäre Zuordnung. Es sei ein berechtigtes Anliegen des Gesetzgebers, das Auseinanderfallen von rechtlichem und empfundenem Geschlecht zu vermeiden. Es sagt auch, dass der Gesetzgeber das Recht habe, objektivierte Kriterien für den Nachweis festzulegen. Das Bundesverfassungsgericht legt Wert auf die Validität und die Beweiskraft der Personenstandsregister, der einzigen derartigen Register in Deutschland, die Beweiskraft haben. Es sieht eben keine Verletzung des Selbstbestimmungsrechts allein deswegen. Auch die Atteste und Gutachten sind per se – über die Ausgestaltung sollten wir reden – keine Verletzung der Würde; sie regeln nur, wer Zugang zu einem bestimmten Recht, zu einem Anspruch hat. Den Grundsatz der Selbstbestimmung beispielsweise haben wir in den Beratungen zum dritten Geschlecht so umgesetzt, dass wir sagen: Wenn jemand Zugang hat und das entsprechend belegt hat, kann er frei entscheiden, ohne Einschränkung, für welches Geschlecht – männlich, weiblich, divers – er sich entscheidet. Der BGH hat das kürzlich für die transsexuellen Menschen wohl ähnlich gesehen. Die Gesetzentwürfe sind deswegen für mich fahrlässig, vielleicht sogar in Teilen gefährlich. Jedermann soll zu jeder Zeit das Recht haben, sein Geschlecht frei wählen bzw. wechseln zu können. ({0}) Die Grünen sagen: Eine Frist von einem Jahr für den Wechsel zurück sei erforderlich. – Da sagen beispielsweise Mediziner: Wir haben eine hohe Fallquote von sogenannten Reueentscheidungen, wo Menschen sagen: Mensch, das war doch nicht der richtige Weg. ({1}) Den Weg zurück versperren Sie. Auch schreiben Sie ein Recht auf Durchführung medizinischer Maßnahmen schon nach vorheriger Aufklärung fest. Manche Ärzte sagen mir im Gespräch, dass sie auf die gerichtlichen Gutachten gar nicht verzichten wollten, weil die Frage eben so sensibel ist und weil medizinische Maßnahmen, nicht nur Operationen, im Zweifel irreversibel sind. Auch Hormongaben können schon Unfruchtbarkeit oder Ähnliches nach sich ziehen. ({2}) Zumindest im Grünenentwurf haben wir ein ganz straffes OWi-, Ordnungswidrigkeitenregime. Beispielsweise soll haften, wer sich fahrlässig auf die vorherige Geschlechtszuordnung bezieht. Wenn also jemand vielleicht aus Nachlässigkeit, obwohl er es besser weiß, oder aus alter Gewohnheit den früheren Namen verwendet, wollen Sie ihn mit einem Bußgeld belegen. Ich weiß nicht, ob das der Toleranz gegenüber transsexuellen Menschen dient. Was mich aber viel mehr umtreibt: In der „FAZ“ ist am 8. Dezember 2019 von einer Professorin der Universität Bochum zu lesen, die sagt, dass im Jahre 2019 die Quote von insbesondere jungen Menschen, die sich geschlechtlich nicht recht einzuordnen wissen, im Vergleich zu 2006 deutlich gestiegen ist. ({3}) Die „FAZ“ schreibt auch: Das Tavistock Centre in London habe bei den Mädchen, die sich dort vorstellen, innerhalb von zehn Jahren einen Anstieg von über 5 000 Prozent auf 1 740. Menschen würden ihre Probleme und Gefühle vermehrt falsch deuten, und der Irrtum würde erst zu spät bemerkt. Zitiert wird auch ein transsexueller Mensch – Patrick, 41, aus Berlin –, der vorher als Homosexueller gelebt hat. Er sagt, er habe nach 45 Minuten eine Bescheinigung seiner Transsexualität bekommen. Er sagt auch, er habe „Freiheit und Selbstverwirklichung“ erwartet, aber „institutionalisierte Fahrlässigkeit“ bekommen. Ich glaube, der Staat hat eine Schutzfunktion. Ja, er muss Diskriminierung abbauen, und darüber müssen wir reden. Aber der Staat hat auch den Anspruch und das Recht, seine staatlichen Interessen zu wahren. ({4}) Er kann nicht zusehen, wenn staatlicher Schutz auf null heruntergefahren wird. Deswegen werden wir beraten; wir werden das weiter tun. Der Gesetzentwurf ist im Gespräch, und diesen Dialog werden wir weiterführen. Aber diese Gesetzentwürfe sind leider nicht mehr als eine Beratungshilfe. Vielen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön, Marc Henrichmann. – Nächste Rednerin: für die AfD-Fraktion Beatrix von Storch. ({0})

Beatrix Storch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004905, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Gesetzentwurf der Grünen ist Ausdruck fortgeschrittener spätrömischer Dekadenz. ({0}) Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte gibt es eine relevante politische Gruppe, die der Meinung ist, jeder kann sich sein Geschlecht aussuchen und dass es staatliche Beratungsstellen braucht, um den Menschen bei der Entscheidung zu helfen, welches Geschlecht sie gerne hätten. ({1}) Im Gesetzentwurf der Grünen heißt es – ich darf zitieren –: Jede Person kann gegenüber dem Standesamt erklären, dass die Angaben zu ihrem Geschlecht in einem deutschen Personenstandseintrag durch eine andere … Bezeichnung ersetzt oder gestrichen werden soll. ({2}) Anton Hofreiter geht als Anton Hofreiter in das Standesamt hinein und kommt als Antonia Hofreiter heraus. ({3}) Das neue Wunschgeschlecht soll auch für die Vergangenheit gelten. Die Kinder, die sich noch ganz genau an ihren Vater erinnern konnten, sollen plötzlich immer nur zwei Mütter gehabt haben. Das ist Orwell 2.0. ({4}) Der Gesetzentwurf gilt ausdrücklich auch für Asylbewerber, ({5}) die dann zu Asylbewerberinnen werden, sodass die jungen Syrer, Eritreer, Somalier dann ganz diskriminierungsfrei auch beim Frauenschwimmen teilnehmen dürfen. Was für ein Wunder der Integration! ({6}) Die grüne Geschlechtervielfalt in der Praxis sieht so aus: Männer, die Kinder gebären, Goldmedaillen im Frauensport gewinnen, in die Frauensauna gehen und sich natürlich auf die Frauenquote berufen können. Und auch das das erste Mal in der Menschheitsgeschichte: Frauen, die zur Prostatavorsorge müssen. ({7}) Und die Krönung: für jeden verurteilten brutalen Vergewaltiger Absitzen der Gefängnisstrafe im Frauengefängnis. So geschehen im Vereinigten Königreich. Der 52-jährige Sexualverbrecher Stephen Wood vergewaltigte Frauen und Kinder. Er konnte gefasst und verurteilt werden. Stephen Wood nannte sich dann um in „Karen White“ und erklärte sich zur Frau und den Wunsch, in das Frauengefängnis verlegt zu werden, was passierte, wo er weitere Frauen sexuell missbrauchte. ({8}) Das sind die Folgen des politischen Kampfes der Genderideologen gegen die Biologie, gegen die Realität und gegen den ganz normalen gesunden Menschenverstand – der schiere pure Irrsinn. ({9}) In ihrem Antrag berufen sich die Grünen auf den aktuellen Stand der Wissenschaft; damit meinen sie den ideologischen Quark, der an den 250 Genderlehrstühlen auf Staatskosten verzapft wird. Wer will, dass man sich sein Geschlecht frei aussuchen kann, der kann sich auch gleich mit der 1956 gegründeten Flat Earth Society zusammentun, die behauptet: Die Erde ist eine Scheibe. ({10}) Diese Debatte heute ist denkwürdig. Die Staatsverschuldung ist explodiert. 7 Millionen Arbeitnehmer sind auf Kurzarbeit, Hunderttausende von Menschen bangen um ihre Existenz, und die Grünen fordern von der Flensburger Förde bis in den letzten Winkel der Chiemgauer Alpen flächendeckende steuerfinanzierte Genderidentitätsberatungsstellen. Das sind Luxusprobleme linksliberaler Wohlstandsneurotiker, ({11}) die in ihren hochsubventionierten Energiesparhäusern jeden Bezug zur Realität verloren haben. Von uns aus kann Anton Hofreiter Königin in Gender-Gaga-Land werden, oder auch Antonia Hofreiter. Aber Deutschland hat echte Probleme. Um die werden wir uns kümmern. Vielen Dank. ({12})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank. – Nächster Redner in dieser Debatte: Dr. Karl-Heinz Brunner für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Karl Heinz Brunner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004256, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! So viel Menschenverachtung, so viel Hass auf Menschen wie vorhin habe ich lange nicht erlebt. ({0}) Eigentlich sollte uns in diesem Haus der Artikel 1 unseres Grundgesetzes vereinen: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Wissen Sie überhaupt, welche Qualen transsexuelle, intersexuelle Menschen zu erleiden haben, bis sie den Schritt tun, in dem Körper, in dem sie stecken, auch leben zu wollen und sich dahin gehend zu outen? Wer dies verbieten will, zeigt nur, dass die Würde des Menschen und die Seele der Menschen – „ihm am Arsch vorbeigeht“ wollte ich jetzt gerade sagen; mit Verlaub, Frau Präsidentin: Entschuldigung – ({1}) ihn überhaupt nicht interessiert, sondern dass es darum geht, vorbestimmte, von außen bestimmte Lebensweisen aufzudrängen. Ich sage ganz deutlich: Jeder hier in diesem Haus weiß, ganz gleich, welcher politischen Gruppierung er angehört und ob er es will, ob sie es will, ob es es will oder nicht: Das Bundesverfassungsgericht wird uns früher oder später sagen: Das Transsexuellengesetz muss insgesamt aufgehoben werden. ({2}) Also ist es doch so, dass wir miteinander einen Konsens finden müssen, um es in irgendeiner Weise aufzuheben. ({3}) Wenn wir es aufgehoben haben, dann müssen wir den zweiten Schritt gehen und den richtigen Weg finden, wie wir das zukünftig gestalten. Ob dies ein Selbstbestimmungsgesetz, wie FDP und Grüne das wollen, sein wird, darüber müssen wir diskutieren. Ob es der richtige Weg ist, dies allein im Personenstandsrecht zu regeln, auch darüber werden wir diskutieren müssen. Dies ist auch der Weg, den unsere Bundesministerin der Justiz und für Verbraucherschutz gerne gehen würde. Ich möchte es auch gerne dort haben; denn wenn wir in diesem Land Menschen mit unterschiedlichen Geschlechtsmerkmalen, transsexuelle, intersexuelle Menschen, wirklich als Teil der Gesellschaft sehen wollen, dann sollten wir so fair sein, kein eigenes Gesetz zu machen, sondern dies im ganz normalen Regelwerk der Gesetze unterbringen. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich noch zwei, drei Worte zu dem Antrag der Linken sagen. Chapeau, der Antrag ist gut! ({5}) Ich glaube, wir werden in den Beratungen einen Weg finden, genau das zu vermeiden, was uns bei der Rehabilitation von Zwangsarbeitern, der Rehabilitation von Schwulen und schwul verurteilten Menschen in diesem Land gelungen ist. Wir wollen in diesem Land – ich glaube, das für alle zu sagen – auch bei Zwangsoperationen, bei Geschlechtsangleichungen, wie dies sich so nett nennt, die Würde des Menschen im Mittelpunkt sehen. Wir wollen nicht, dass Bilder von Menschen, die nicht gefragt wurden, in irgendwelchen Magazinen oder gar ohne deren Zustimmung in irgendwelchen pseudomedizinischen Veröffentlichungen enthalten sind. Ich glaube, wenn wir den Weg des Gutachtens gehen, wie er dort vorgeschlagen ist, über dessen Ausgestaltung wir Demokraten diskutieren müssen, wird dies möglich und ein guter Weg sein. In dem Sinne hoffe ich auf gute Beratungen in den Ausschüssen. Ich bin mir zwar sicher, dass wir das nicht im Schweinsgalopp bis zur Sommerpause geschafft haben werden. Aber mit guten Beratungen und gutem Willen, glaube ich, können wir die Würde dieser Menschen wiederherstellen. Das würde ich mir wünschen, und darum würde ich Sie alle im Hohen Hause, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, von Herzen bitten. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Karl-Heinz Brunner. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Dr. Jens Brandenburg. ({0})

Dr. Jens Brandenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Transgeschlechtliche Menschen sind Menschen, denen bei ihrer Geburt aufgrund äußerer Merkmale ein Geschlechtseintrag zugeordnet wurde, der nicht ihrer geschlechtlichen Identität, ihrem tatsächlichen Geschlecht, entspricht, also zum Beispiel ein Mann in einem weiblich erscheinenden Körper. Sie leiden oft ein Leben lang unter dem Gefühl, im falschen Körper gefangen zu sein, mit ihrem wahren Ich nicht anerkannt zu werden. Manche beginnen nach der Transition ein neues Leben, wechseln dafür den Wohnort, den Arbeitsplatz, den Freundeskreis, bloß um nicht mit unfreiwilligen Outings und Stigmatisierungen konfrontiert zu werden. Schon mit dem früheren Namen angesprochen zu werden, kann tausend Nadelstiche auslösen. Eine transgeschlechtliche Lehrerin in meiner Heimat hat mir berichtet, wie sie sich mit Mitte 50 nach Jahrzehnten des Versteckens vor ihrer Frau, ({0}) ihren Kindern und Freunden, in der Schule und in der Kirche geoutet hat – eine beeindruckende Frau. Die Transition hat sie beschrieben als einen großen Befreiungsschlag nach vielen Depressionen und Suizidgedanken hin zu einer ausgeglichenen Fröhlichkeit. An mein eigenes Outing, mein Coming-out als schwuler Jugendlicher, kann ich mich sehr gut erinnern: an die Zweifel, die Unsicherheit und auch das Lampenfieber. Wie viel mehr Mut und Kraft muss es kosten, dem gesamten persönlichen Umfeld zu erklären, dass man eigentlich eine Frau ist und sich für Hormontherapien, Operationen und ein neues Leben entschieden hat? Davor habe ich den allergrößten Respekt. ({1}) Dennoch gängelt der Staat diese Menschen in einer schwierigen Lebensphase mit unnötigen Hürden. Wer den eigenen Geschlechtseintrag im Geburtenregister korrigieren lassen will, muss nach dem Transsexuellengesetz mehrere unabhängige psychologische Gutachten und ein amtsgerichtliches Verfahren durchlaufen. Das ist demütigend und überflüssig. Eine einfache Selbstauskunft beim Standesamt sollte völlig ausreichen. ({2}) Denn für die geschlechtliche Identität eines Menschen gibt es keinen besseren Experten als diesen Menschen selbst. ({3}) Trans-Rechte gehen uns alle an. Deshalb legen wir Freie Demokraten Ihnen heute ein Rahmengesetz zur Stärkung der geschlechtlichen Selbstbestimmung vor. Wir befreien trans- und intergeschlechtliche Menschen von der Fremdbestimmung über den eigenen Geschlechtseintrag. ({4}) Mit einem klaren Offenbarungsverbot schützen wir sie vor Diskriminierung und unfreiwilliger Bloßstellung. Aufklärungs- und Beratungsangebote wollen wir stärken, medizinisch nicht notwendige genitalverändernde Operationen an intergeschlechtlichen Kindern endlich wirksam verbieten. Niemand sollte sie operieren dürfen, nur damit sie in eine männliche oder weibliche Schublade passen. ({5}) Die Kosten für selbstbestimmte geschlechtsangleichende Behandlungen hingegen sollten endlich zuverlässig von den Krankenkassen übernommen werden. Vielfach hat die Regierung das angekündigt und versprochen; nichts ist passiert. Liebe Koalition, jetzt müssen Sie Farbe bekennen! ({6}) Trans- und intergeschlechtliche Menschen verdienen kein Misstrauen, sondern Anerkennung und Unterstützung. ({7}) Hier haben Sie einen Entwurf, wie das funktionieren kann. Also schreiben Sie entweder ab, oder stimmen Sie unserem zu. Vielen Dank. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Brandenburg. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Doris Achelwilm. ({0})

Doris Achelwilm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004651, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Transmenschen haben lange dafür gekämpft, heute etwas sichtbarer und vielleicht auch akzeptierter zu sein als vor 10 oder 20 Jahren. Trotzdem gehören sie immer noch zu den verwundbarsten und am stärksten diskriminierten Mitgliedern unserer Gesellschaft. Hier ist der Ort, von wo aus dieses Problem wesentlich geändert werden kann, also müssen wir das jetzt tun. ({0}) Zu wissen, dass ich ein anderes Geschlecht habe als das, was mir bei der Geburt zugeschrieben wurde, ist eine Erkenntnis, die mit hohen Risiken verbunden ist. Ob in der Familie, am Arbeitsplatz, in der Öffentlichkeit: Es drohen Unverständnis, Verletzungen und Schlimmeres, wenn ich erklären muss, dass mein Geschlecht ein anderes ist als das von außen angenommene. Wer diesen Weg offen geht und für andere leichter macht, verdient Respekt, Schutz und rechtliche Anerkennung. ({1}) Bis vor Kurzem wurde Transsein von der WHO noch als Krankheit definiert. Und auch wenn diese Diagnose wissenschaftlich ein Auslaufmodell ist, lebt sie faktisch fort und macht vielen das Leben schwer. Je nach politischem Klima nimmt der Druck sogar noch zu, zum Beispiel in Ungarn, wo Viktor Orban gesetzlich festzieht, dass es nur das bei Geburt zugewiesene Geschlecht geben soll und damit keine Existenzberechtigung für Transmenschen. Es ist ungeheuerlich! Dieser Beispiele gibt es mehr. Umso wichtiger ist es, international Position für queere Minderheiten zu beziehen und hierzulande fortschrittliche Entscheidungen zu treffen. ({2}) – Die Krankenkassen sollen bezahlen, ja. Die Umsetzung der dritten Option blieb weit hinter den Möglichkeiten zurück. Für Transmenschen ist die dritte Option leider keine echte Option. Sie müssen ihr Wissen um das eigene Geschlecht weiterhin über Gerichte und Gutachten schikanös prüfen lassen, um ihren alten Namen ändern zu können, so wie es das Transsexuellengesetz, kurz: TSG, seit 1981 vorsieht. Eine Riesenenttäuschung! Was spricht gegen einen einfachen Ummeldevorgang gemäß der Selbstangabe beim Standesamt? Rational nichts; es sind alte Vorbehalte. Als Linke begrüßen wir deshalb sehr, dass es jetzt neue Entwürfe dafür gibt, das TSG durch ein Selbstbestimmungsgesetz zu ersetzen. ({3}) Wir fordern außerdem, dass die Menschenrechtsverletzungen historisch aufgearbeitet und die Menschen materiell entschädigt werden. Bis 2009 nämlich mussten sich Eheleute gemäß TSG für ihre Transition von der Partnerin oder dem Partner scheiden lassen. Bis 2011 war eine Änderung des Geschlechtseintrages nur durch Nachweis zum Beispiel der Zeugungsunfähigkeit durch eine Sterilisation möglich. Beide Regelungen – die unsäglich sind – hat das Bundesverfassungsgericht außer Kraft gesetzt; aber bis dahin war zigtausendfach Unheil geschehen. Dies muss öffentlich ausgewertet und entschädigt werden. ({4}) Schweden kann hier Vorbild sein. Es hat 2016 allen Menschen eine pauschale Entschädigung zugesprochen, die bis 2013 nach dem schwedischen Transsexuellengesetz zwangssterilisiert worden waren. Auf diese Idee hätte die Bundesregierung auch schon kommen können. Wir hoffen, Sie tut es jetzt und folgt unseren Vorschlägen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Paul Lehrieder für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die hier geführte Debatte rund um die von der Opposition eingebrachten Gesetzentwürfe bzw. den Antrag der Linken ist weiß Gott keine einfache. Ich werde mich im Folgenden im Wesentlichen auf den Antrag der Linken fokussieren. Lassen Sie mich trotzdem vielleicht ein paar persönliche Gedanken anfügen. Ich kann nur erahnen, welche enorme Belastung es sein muss, im falschen Körper zu stecken. Ich möchte jedem Menschen, der sich in solch einer persönlichen Situation befindet, ausreichend Kraft und ein stabiles und unterstützendes Umfeld wünschen. Sie haben – ich habe Ihren Antrag von den Linken ausnahmsweise wirklich mal sehr, sehr gründlich gelesen – auch einige gute Gedanken drin. Man soll nicht zu arg loben, aber Sie führen auf Seite 2 Ihres Antrages unten aus: Viele Menschen erlitten durch die Operationen, – die in früher Kindheit durchgeführt werden – durch das Vorenthalten von Informationen über die Eingriffe und Diagnosen und durch die Zurschaustellung im medizinischen Studienbetrieb massive körperliche und psychische Verletzungen (chronische Schmerzen, Funktionseinschränkungen, Einschränkungen der sexuellen Empfindungsfähigkeit, Traumatisierungen, Depressionen), die bis heute den Alltag und die Gesundheit der betroffenen Menschen einschränken. Es ist sicher nicht so, wie Frau von Storch sagt, dass man einfach nur willkürlich alle 14 Tage das Geschlecht wechselt, nur um in das richtige Gefängnis zu kommen. ({0}) Ich glaube, es gibt sehr viel Betroffenheit, und wenn 1 700 bis 2 000 Kinder jährlich eben entsprechend in eine solche Situation geboren werden, dann ist es richtig, da hinzuschauen und eine Regelung zu treffen. ({1}) Ein solch sensibles und persönliches Thema erfordert von uns Politikern auch ganz besonderes Fingerspitzengefühl und besondere Sorgfalt im Hinblick auf die gesetzgeberische Tätigkeit, eine Sorgfalt, die allerdings – und da muss ich jetzt ein bisschen kritisieren – die Kollegen der Linken beim Schreiben ihres Antrags leider haben vermissen lassen. Wichtiger als eine finanzielle Entschädigung ist doch zunächst, dass wir wie vorgesehen eine Regelung zum Verbot von geschlechtsangleichenden Operationen auf den Weg bringen und sie nur dort erlauben, wo sie medizinisch, also aus gesundheitlichen Gründen, unbedingt notwendig sind. Genau das haben wir im Koalitionsvertrag auf Seite 21 so normiert. ({2}) Wir werden die Vorgaben des Verfassungsgerichts hierzu umsetzen. Das haben wir im Übrigen mit der Angleichung des Personenstandsgesetzes zum 1. Januar 2019 getan, wo das dritte Geschlecht bereits normiert wurde. Da werden jetzt im Zuge der Diskussion über die Vorlagen die Zahlen zu prüfen sein, die Sie auf Seite 2 unten – vorletzter Absatz – zitieren: Wie die Studien „Häufigkeit normangleichender Operationen ‚uneindeutigerʼ Genitalien im Kindesalter“ (Ulrike Klöppel, Josch Hoenes u. a., 2016, und Follow-Up ‐ Studie, 2019) zeigen, sind die Zahlen der medizinischen Eingriffe auch in den letzten Jahren und ungeachtet der personenstandsrechtlichen Erweiterung von 2013 nicht zurückgegangen. Wir haben seit 17 Monaten durch die Änderung des Personenstandsgesetzes die Personenstandsangleichung. Auch das sollten wir in der Ausschussberatung gründlich anschauen. Ich freue mich auf die Ausschussberatung und bedanke mich für die Vorschläge, auch die der Opposition. Das Problem ist wirklich zu ernst, als dass es ein Stück weit parteipolitischem Gezänk geopfert werden soll. Danke schön. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Susann Rüthrich das Wort. ({0})

Susann Rüthrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004391, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Hat eigentlich jemand einmal gezählt, wie oft wir mittlerweile hier an diesem Pult standen und uns für das Selbstbestimmungsrecht eines jeden Menschen, für eine grundlegende Reform oder die Abschaffung des Transsexuellengesetzes, für ein Verbot von nicht lebensnotwendigen Operationen an intergeborenen Kindern ausgesprochen haben? Interfraktionelle, interministerielle Arbeitsgruppen haben getagt. Studien, Anträge, Gesetzentwürfe – gibt es alles. Und es gibt auch Fortschritte – ja. Dass zumindest einige die dritte Option „divers“ in der Geburtsurkunde stehen haben können, ist zweifelsohne gut. Aber der Fortschritt ist schon manchmal eine Schnecke – zum Leidwesen derer, die seit Jahren darauf warten, dass sie ohne Begutachtungen von außen diejenigen sein können, die sie nun einmal sind. Jahr um Jahr werden weiter Kinder operiert, obwohl sie es nicht müssten, nur weil sie nicht so eindeutig wie Junge oder Mädchen aussehen, wie es einer scheinbaren Norm entspricht. Diese Eingriffe sind nicht zurückzunehmen. Sie haben Folgen ein Leben lang. Und das alles, weil wir nicht klarkommen mit allem, was sich nicht sofort in die Schublade „männlich“ oder „weiblich“ einsortieren lässt. Mein Gott, lasst die Kinder doch endlich selbst entscheiden, wie sie leben möchten, wenn sie alt genug dafür sind. ({0}) Begleitet und beratet sie genauso wie die Eltern, die Kitas, die Schulen, die Vereine, alle, damit diese mit der ganz normalen Vielfalt des menschlichen Lebens umgehen können, statt die Vielfalt einhegen zu wollen. Das wird am Ende doch nichts. ({1}) Ein Punkt, der heute zugegebenermaßen nicht in den Vorlagen steht, aber mir als Dauerbrenner ebenso auf den Nägeln brennt: Immer noch haben meine Kinder sofort zwei rechtliche Eltern, weil an meiner Seite ein Mann ist. Wäre es eine Frau, wären wir zweifelsohne genauso eine glückliche Familie, nur dass meine Kinder dann auf den zweiten rechtlichen Elternteil hätten warten müssen bis zum Abschluss einer Stiefkindadoption. Ich bin Kinderpolitikerin. Es erschließt sich mir wirklich nicht, warum wir es nicht schaffen, allen Kindern gleichermaßen beizustehen, ({2}) als wenn sie es sich aussuchen würden, in welche Familie sie geboren werden oder mit welchen Genitalien oder mit welcher sich entwickelnden geschlechtlichen Identität. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es macht mich unendlich müde, dass alle diese Prozesse so unendlich langwierig sind. Wie muss es dann erst den Betroffenen gehen? Deswegen habe ich heute nur einen Wunsch: Lassen Sie uns all die Themen der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der queeren Community, der Inter- und Transmenschen, der Regenbogenfamilien endlich und noch in dieser Legislatur zu einem glücklichen Ende bringen. ({3}) Sie werden alle merken: Die Welt wird davon keine schlechtere werden. Davor muss niemand Angst haben. Sie können ihr Leben ganz einfach weiterleben; alle anderen können es dann auch. Wo bitte ist das Problem? ({4}) Wie dem Antrag der LINKEN und den Gesetzentwürfen der FDP und der Grünen zu entnehmen ist, würden wir uns wohl im Großen und Ganzen relativ fix einigen können. Es müssen sich aber alle anderen hier im Raum noch einen Ruck geben. Also, auf geht’s! Danke schön. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun die Kollegin Bettina Margarethe Wiesmann das Wort. ({0})

Bettina Margarethe Wiesmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004934, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Drei Initiativen aus der Opposition wollen die Lage transsexueller und intersexueller Menschen verbessern. Und das ist gut, das wollen wir auch. Das ist notwendig und auch überfällig. ({0}) – Nein: überfällig. Es ist nicht leicht, als Nichtbetroffener den gesamten identitätsbildenden Prozess eines transidenten Menschen nachzuvollziehen. ({1}) Das ist etwas anderes als die Pubertät eines Menschen ohne Dysphorie oder Inkongruenz. Es ist eine Entwicklung, die sehr tief in das Bewusstsein und die Körperlichkeit eines Menschen eingreift, ({2}) die die Familie betrifft, auch Freunde und das soziale Umfeld. Hier geht es nicht um Launen oder um Schilderwechsel nach Opportunität. ({3}) Es geht um die Neuorientierung, das Zu-sich-selbst-Kommen eines Menschen, den es bereits gibt. ({4}) Dieser Prozess muss begleitet werden von entsprechend ausgebildeten Personen, die mit Kenntnis über psychische und somatische Vorgänge den Transpersonen dabei helfen, Entscheidungen im vollen Ernst zu treffen, auch im Bewusstsein von Schwierigkeiten und davon, wie sie überwunden werden können. Denn diese Entscheidungen sollen ihr künftiges Leben deutlich verändern, und zwar zum Besseren. Meine Damen und Herren, das Transsexuellenrecht bzw. das, was davon übrig ist, muss so reformiert werden, dass es den Bedürfnissen transidenter Menschen und unserer Gesellschaft entspricht. Die Familienpolitiker der Unionsfraktion haben sich dazu mit Fachleuten wie Betroffenen ausgetauscht. Ich komme als Berichterstatterin – nur mitberatend natürlich – zu dem Ergebnis, dass der erreichte Stand der Überlegungen der beiden federführenden Häuser der Bundesregierung noch nicht gut genug ist; denn er baut wieder diskriminierende Hürden auf durch Einschaltung eines Gerichts, durch eine gutachtenähnliche Bescheinigung, ja vielleicht durch Befragung der Ehepartner. Nach meiner Überzeugung reicht eine einfache Bestätigung der Transition der betreffenden Person durch den behandelnden Arzt oder Therapeuten völlig aus, um beim Standesamt eine glaubwürdige Erklärung über das gewünschte Geschlecht und den gewünschten Namen abzugeben. ({5}) Wichtig allerdings ist, dass es eine gute fachkundige Begleitung gibt. Deshalb reicht die alleinige Selbsterklärung eben nicht aus. Dies entspricht übrigens der Resolution 2048, die die Parlamentarische Versammlung des Europarats 2015 verabschiedet hat. Alle vier deutschen Abgeordneten haben den Beschluss mitgetragen. Die Resolution fordert ein schnelles, transparentes und leicht zugängliches, aber nicht leichtfertiges Verfahren für die Anerkennung der Geschlechtszugehörigkeit eines Menschen. Und genau das halte ich für richtig. Eine Abschaffung jeglicher valider Bestätigung allerdings, die Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen und der FDP, in Ihren Gesetzentwürfen anstreben, lehnen wir ab und ich auch. So wie transidente Personen Akzeptanz und Hilfe erwarten können, so darf die Gesellschaft eine bewusste und nach menschlichem Ermessen verbindliche Erklärung erwarten. ({6}) Die Bescheinigung einer fachkundigen Begleitung würde dem meines Erachtens Genüge tun. Lassen Sie mich zum Abschluss noch einen eigenartigen Widerspruch im Gesetzentwurf der Grünen ansprechen. Sie fordern zu Recht – da sind wir uns ja alle einig –, dass geschlechtsverändernde Operationen an Kindern unter 14 Jahren von den Eltern nicht gestattet werden dürfen. Vielleicht sollten dann aber auch transidente Eltern den Geburtseintrag ihres Kindes nicht einfach ändern dürfen, wie Sie es vorschlagen. Vielleicht sollte das Kind dabei auch eine Rolle haben. Ich schließe mit der Hoffnung und dem Appell, dass die Bundesregierung bald einen überarbeiteten Gesetzentwurf vorlegt, der das Leiden und die Unsicherheit vieler Transmenschen und auch die geschlechtsverändernden Operationen an Kindern beendet, wie die Koalition es sich vorgenommen hat. Vielen herzlichen Dank. ({7})

Dr. Dietmar Bartsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003034, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sie als Koalition haben sich ja darum bemüht, dass die Aktuelle Stunde nahezu ins Wochenende fällt, damit der Fall Philipp Amthor, der ja im Netz Amthor-Gate genannt wird, möglichst unbemerkt bleibt. ({0}) Dass der Betroffene in dieser Situation nicht hier ist, ist allerdings wirklich feige. Ich finde das unentschuldbar. ({1}) Es passt aber offensichtlich zu seinem Mandatsverständnis. ({2}) Meine Damen und Herren, die Menschen in Mecklenburg-Vorpommern sind in der Regel ruhige und bescheidene Menschen, Menschen, die hart und ehrlich arbeiten. Das sind in der Regel keine Wichtigtuer. Das erklärt übrigens auch die Wahlerfolge der Kanzlerin, meine Damen und Herren. Da wird abends gerne mal ein kühles Bier getrunken, aber Champagner ist bei uns nur etwas für Schiffstaufen. ({3}) Dass ausgerechnet ein Abgeordneter aus Mecklenburg-Vorpommern ein Faible für Luxushotels in Sankt Moritz, New York und für Champagner hat, ist wirklich völlig daneben. ({4}) Philipp Amthor hat zumindest versucht, sein politisches Mandat mit ökonomischen Interessen zu verbinden. Mit Mitte 20 in den Bundestag gekommen, und wenige Monate später ist das nicht mehr genug. Da musste er sich noch eine Beratungstätigkeit für eine riesige Kanzlei an Land ziehen, und dann hat er eben auch noch einen dritten Job als Lobbyist in einer New Yorker Firma mit Sitz in der Steueroase und Briefkastenfirmenhochburg Delaware angenommen. Wie konnte bei einem Mann von der Küste der Kompass nur so versagen? ({5}) Wir alle, im Übrigen auch die Abgeordneten der Union – zumindest viele –, kämpfen hier im Plenum gegen Steueroasen. Und Amthor arbeitet für eine? Das ist doch unfassbar, meine Damen und Herren. ({6}) Und dann spricht er von einem Fehler – nicht einmal von seinem Fehler, sondern von einem Fehler. Was für eine Verniedlichung! Das ist doch völlig unangemessen. Ein Fehler kann nicht zwei Jahre andauern. Und das wurde aufgedeckt. Er wurde enttarnt. Das ist die Wahrheit, meine Damen und Herren. ({7}) Solange er zwischen Sankt Moritz, Korsika und New York unterwegs war: Immer für eine US-Firma – nicht etwa für die Werften in Mecklenburg-Vorpommern –, für eine Firma für künstliche Intelligenz. Wenn er das nur für einen Fehler hält, dann ist das nicht ein Fall von künstlicher Intelligenz; es ist ein Fall von fehlender natürlicher Intelligenz und von fehlendem Anstand, meine Damen und Herren. Das ist die Lage. ({8}) Und es sind so viele Fragen offen: Wer hat denn die Rechnungen bezahlt, die Flüge, die Übernachtungen, das teure Essen? Was hat denn der ganze Spaß gekostet? Der Mann muss endlich mal reinen Tisch machen. Das wäre notwendig. ({9}) Nun ist er aus dem Amri-Untersuchungsausschuss zurückgetreten. Das ist, ehrlich gesagt, kein Grund für ein Lob. Dass er, auch noch als Jurist, überhaupt in den Untersuchungsausschuss gegangen ist, das ist doch ein Skandal. Er wusste, dass sein dicker Kumpel, der ehemalige Chef des Verfassungsschutzes, Herr Maaßen, dort befragt werden würde. Er war faktisch befangen und hätte den Ausschuss sofort verlassen müssen. ({10}) Warum hat er nur diese Dreistigkeit besessen, es dennoch zu tun? Der hat völlig die Bodenhaftung verloren. Das ist Selbsterhebung. Er hat alle Regeln des politischen Anstands für sich ausgehebelt, meine Damen und Herren. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Verhalten von Amthor schadet dem Ansehen der Politik, dem Ansehen des Deutschen Bundestages, dem Ansehen meines Heimatlandes Mecklenburg-Vorpommern. Aber – und das ist das Problem der CDU; das schadet Ihnen – er hat sich eben auch gegen Transparenz gewehrt. Ich will in diesem Zusammenhang meinen Vorschlag wiederholen, dass jeder die Firmenlogos der Firmen, für die er oder sie arbeitet, auf dem Jackett tragen muss. ({11}) Da würde manch einer hier im Plenum aussehen wie ein Formel-1-Fahrer. Das ist die reale Situation, meine Damen und Herren. ({12}) Und das ist der Punkt: Handelt es sich hier um einen Einzelfall, oder ist das Struktur? Das ist die Frage, und sie ist entscheidend. Zumindest ist die Bilanz der Union in dieser Legislaturperiode dafür höchst problematisch: Millionenverträge für externe Kumpels und frühere Kollegen unter Frau von der Leyen, ein Megaschaden für die Steuerzahler beim Mautmurks durch Verkehrsminister Scheuer, die Aserbaidschan-Affäre von Frau Strenz und jetzt Philipp Amthor, der für Champagner, Austern und Luxusreisen steht und nicht für Parlament, Arbeit und Demokratie, meine Damen und Herren. ({13}) Wir sind in einer der schwersten Wirtschaftskrisen seit Jahrzehnten. Millionen sind in Kurzarbeit, wie wir alle wissen. Die Arbeitslosigkeit steigt. Tausende Unternehmer werden ihr Geschäft verlieren. Wissen Sie eigentlich, was Sie da anrichten, wie viel Vertrauen sein Verhalten zerstört? Wenn die CDU in Mecklenburg-Vorpommern Anstand besitzt, lehnt sie die Kandidatur von Amthor für den Landesvorsitz dankend ab. Das wäre das Mindeste. Herzlichen Dank. ({14})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Patrick Sensburg für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Patrick Sensburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004155, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Bartsch, ich hätte gern vor Ihnen geredet. Ich sage Ihnen auch, warum. Sie haben Ihre fünf Minuten jetzt genutzt, um einen Kollegen dieses Hauses runterzumachen. ({0}) Ich hätte gern dargestellt, dass es heute zwei Themenbereiche gibt, nämlich einmal das Verhalten eines Kollegen dieses Hauses, für das der Kollege sicherlich hier eine klare Aufklärungspflicht hat, ({1}) darzustellen, was passiert ist, darzustellen, was gewesen ist. Ich habe den Eindruck: Keiner in diesem Saal weiß es detailliert oder genau. ({2}) Denn keiner war dabei, ({3}) keiner kennt Akten, keiner kennt Sachverhalte. ({4}) Da kann man sich hier natürlich hinstellen und das Wort ergreifen, um einen Kollegen von vorn bis hinten runterzumachen. ({5}) – Das ist eine Art des Umgangs; die Frage aber ist, wie man sich selber aufführt. Ich glaube, das ist nicht das, was die Menschen draußen wirklich hören wollen: dass wir aufeinander losgehen. ({6}) Ich würde übrigens genauso reden, wenn es einen Kollegen oder eine Kollegin der Grünen oder Ihrer Fraktion betroffen hätte. ({7}) Ich habe übrigens im Vorfeld mal recherchiert. ({8}) – Nein, nicht Heuchler. – Ich habe mal recherchiert: ({9}) Alle Fraktionen haben genügend Kolleginnen und Kollegen in den eigenen Reihen, die hier vorn dargestellt werden könnten. ({10}) Ich kann Ihnen mal eine Liste von Kollegen geben – man kann sie relativ leicht googeln –, die im Bereich der Gesundheitsindustrie engagiert sind. ({11}) – Ich wollte gerade keine Namen nennen. Aber eine ehemalige Kollegin Ihrer Fraktion – ich schätze sie sehr –, die jetzt im Bereich der Energiewirtschaft tätig ist, ({12}) die vorher aber noch zu ihrer Zeit bei einer Beratungsfirma war und dafür in Stufe 3 eingestuft war – was sie selbst angegeben hat –, hat auch für eine Beratungsfirma im Bereich Energiesektor gearbeitet. ({13}) Ich wollte hier eigentlich gar keine Beispiele nennen, sondern ich halte es für sehr sinnvoll, dass wir uns den zweiten Teil angucken, Frau Kollegin Künast, nämlich das, was in der Überschrift zu dieser Debatte steht: Lobbying. Und da müssen wir wirklich etwas anpacken. ({14}) Da müssen wir wirklich endlich zu einer Regelung kommen. ({15}) Ich hätte mir gewünscht, dass Sie jetzt Brücken gebaut hätten, nämlich hin zu dem Thema: Wie schaffen wir es, hier eine klare Trennung mithilfe einer Regelung eines Lobbyregisters zu schaffen? ({16}) Übrigens, Abgeordnete betrifft das gar nicht. Denn alle berufsständischen Verbände sagen: Man ist entweder Abgeordneter oder Lobbyist. Von daher muss man, glaube ich, relativ klarmachen: Was wollen wir unter der Überschrift „Lobbying/Lobbyregister“? Und da hilft es auch nichts, wenn man polarisiert. Da muss man gemeinsam diskutieren, um jetzt eine Regelung auf den Weg zu bringen. Deshalb ist es gut, dass wir im Geschäftsordnungsausschuss jetzt die Durchführung einer Anhörung beschlossen haben. Wir werden nach der Sommerpause eine Anhörung haben. Diese wird in der Woche vom 28. September stattfinden. Da werden wir mit Experten diese hochkomplexe Materie diskutieren und hoffentlich beizeiten auch zu einer guten Regelung kommen. ({17}) Das hilft uns weiter: Klarheit in der Sache, um voranzukommen. Es hilft aber nicht, auf Kollegen loszugehen. Das ist, glaube ich, Sache der formalen Verfahren hier im Deutschen Bundestag und der Bundestagsverwaltung. Es ist Aufgabe des Kollegen, Klarheit zu schaffen. Statt hier aufeinander loszugehen, erhoffe ich mir, dass es uns gemeinsam gelingt – übrigens im Konsens aller Fraktionen; da haben Sie noch einige Aufgaben auch bei Ihrem Gesetzentwurf zum Lobbyregister zu erledigen –, das zu schaffen. Es geht aber nicht, dass man in das Gesetz zum Lobbyregister hineinschreibt, ({18}) dass ein Lobbybeauftragter ohne richterliche Anordnung jederzeit ein Betretungsrecht für Gebäude und Büroräume hat. Also, wie Ihnen so etwas einfallen konnte! Darüber müssen wir wirklich noch mal nachdenken. Machen Sie mit uns zusammen etwas Gutes, und dann brauchen wir nämlich nicht hier Kolleginnen und Kollegen runterzumachen. Das ist eigentlich nicht der Stil dieses Hauses. Danke schön für Ihre Aufmerksamkeit. ({19})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Während das Pult für den nächsten Redner gerichtet wird, rüge ich den Zwischenruf der Kollegin Domscheit-Berg, ohne ihn hier zu wiederholen. ({0}) Das Wort hat der Abgeordnete Enrico Komning für die AfD-Fraktion. ({1})

Enrico Komning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004787, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Es ist wahrscheinlich eine der ältesten Geschichten der Menschheit: die unselige Verquickung von Macht und Geld. Deshalb ist es gut, dass wir immer mal darüber reden – heute natürlich aus gegebenem Anlass. In einer Demokratie wird Macht auf Zeit gewährt. Es ist daher nicht nur verständlich, sondern geradezu wünschenswert, dass die persönliche Existenzgrundlage nicht auf einem politischen Mandat oder Amt, sondern auf einem tatsächlichen und bestenfalls auch ausgeübten Beruf basiert. Oftmals sind es gerade Leistungsträger, die sich politisch auch hier im Bundestag engagieren: Bauern, Handwerker, Menschen, die sich ein kleines Unternehmen aufgebaut haben, die hart und ehrlich arbeiten und die vor allem auch große soziale Verantwortung für ihre Arbeitnehmer und deren Familien übernehmen. Die Abgabe oder gar Schließung des eigenen Betriebes um des Mandats willen wären aus wirtschafts-, sozial- und gesellschaftspolitischer Sicht deshalb falsch. Aber es gibt natürlich auch die anderen, diejenigen, die ihr Mandat nutzen, um sich persönlich zu bereichern. Gestaltungsmacht in einer Demokratie, meine Damen und Herren, dient dem gesamtgesellschaftlichen Wohl und nicht dem eigenen Geldbeutel. ({0}) Gerade aus der selbsternannten politischen Mitte dieses Hauses wird von Abgeordneten, die das C in ihrem Fraktionsnamen führen, besonders oft und gern die moralische Keule geschwungen. Und besonders oft und gern sind es Vertreter aus Ihren Reihen, die es eben mit dieser Moral nicht immer so ganz genau nehmen. Eine Aufzählung erspare ich mir jetzt; Dietmar Bartsch hat ja hier schon einen Aufschlag gemacht. Sie, meine Damen und Herren von der Union, sollten das mit dem erhobenen Zeigefinger sein lassen. Abgesehen von der Frage der Legalität: Ein kleines Start-up, von dem übrigens keiner so genau weiß, was es tut, im Wirtschaftsministerium zu pushen und dafür Anteilsoptionen zu bekommen, das, meine Damen und Herren, ist nicht aufrecht, das ist nicht bürgerlich, und das ist schon gar nicht konservativ. ({1}) Meine Damen und Herren, das gilt im Übrigen auch für die Minister, die darauf eingehen. Auch das gilt es zu untersuchen. Meine Damen und Herren, Kommunikation zwischen Interessenvertretern, Fachleuten und Politik führt zum Austausch von Argumenten und damit in der Regel zu besseren politischen Entscheidungen. Es muss aber unbedingt Transparenz herrschen. Transparenz ist vor allem bei den politischen Mandatsträgern wichtig, und das wird durch die Pflicht zur Anzeige von Nebeneinkünften ja auch schon realisiert. Das Problem ist: Eine Anteilsoption ist eben kein Einkommen. Es ist ein Versprechen, wenn nicht gar eine Wette auf einen zukünftigen Gewinn und deshalb bisher nicht anzeigepflichtig. Ratio der Offenlegungspflicht bei Nebeneinkünften ist ja aber gerade die Möglichkeit, Verknüpfungen zwischen Geld und politischen Entscheidungen zu erkennen. Da besteht vor allem auch bei der Gewährung von Optionen ein hohes Interesse an Transparenz. Optionen sind ein übliches Vergütungsmittel, vor allem bei Start-ups, die zumeist kaum ausreichend Kapital haben. Und der gut vernetzte Mandatsträger wird dadurch ganz besonders motiviert, zum Unternehmenserfolg und damit zu seinem eigenen finanziellen Erfolg beizutragen. Das macht die Option besonders verlockend für politische Korruption. Deshalb ist es absolut notwendig, die Gewährung von Anteilsoptionen für Abgeordnete anzeigepflichtig zu machen. ({2}) Abschließend, meine Damen und Herren: Wir sollten uns jeden Tag und alle vor Augen halten: Wir handeln hier für die Allgemeinheit und nicht für das eigene Interesse. Schauen wir alle jeden Morgen in den Spiegel und fragen wir uns, ob wir dem auch wirklich gerecht werden! Vielen Dank und ein schönes Wochenende. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich entschuldige mich bei der Kollegin Domscheit-Berg, dass ich ihr diesen Zwischenruf zugeordnet habe. Inzwischen haben wir das geklärt. Ich rüge also den hier nicht zu wiederholenden Zwischenruf der Kollegin Dağdelen. ({0}) Das Wort hat der Kollege Dr. Matthias Bartke für die SPD-Fraktion. ({1})

Dr. Matthias Bartke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004248, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Kollege Amthor mit seinem Geschäftsgebaren hat uns diese Aktuelle Stunde zum Lobbyismus und zur Einführung eines Lobbyregisters verschafft. Das ist schon etwas kurios; denn mit seinen Aktivitäten – wenn es denn stimmt, was man in den Zeitungen liest – ist Philipp Amthor ganz sicher kein Fall fürs Lobbyregister. Ich fürchte, er ist eher ein Fall für den Staatsanwalt. ({0}) Und wenn die Presse recht hat, prüft der hiesige Generalstaatsanwalt ja auch schon. Mit sechs Abgeordneten ist die CDU Mecklenburg-Vorpommern eine der kleinsten CDU-Landesverbände. Im Januar hat die Staatsanwaltschaft die Räumlichkeiten der Kollegin Karin Strenz durchsucht, einer weiteren Abgeordneten aus Mecklenburg-Vorpommern. Das heißt, ein Drittel der Landesgruppe hat derzeit mit der Staatsanwaltschaft zu tun. ({1}) Man ist geneigt, zu sagen: Frau Bundeskanzlerin, was ist da los? Sorgen Sie mal für Ordnung in Ihrem Landesverband! ({2}) Nun ist es so, dass aufgrund der Causa Amthor der Ruf nach einem Lobbyregister von der Opposition sehr laut erhoben wird. Um es klar zu sagen: Die SPD findet das gut. Wir waren immer schon für ein Lobbyregister. ({3}) Logischerweise sind daher die einzigen beiden Bundesländer, die ein Lobbyregister haben, auch solche mit SPD-Ministerpräsidenten. Es ist schön, dass sich die Sinnhaftigkeit eines Lobbyregisters nun immer mehr durchsetzt. Vielen Dank, Philipp Amthor! ({4}) Eine der erfreulichsten Wenden hat da die FDP hingelegt. In der Vergangenheit war sie immer gegen ein Lobbyregister. Zur letzten Bundestagswahl hat Christian Lindner noch gemeint, die bestehenden Regeln seien ausreichend. Im Wahlprogramm zur letzten Bundestagswahl hat die FDP das Thema Lobbyregister daher auch noch weiträumig gemieden. ({5}) Da war sie noch die gute alte Mövenpick- und Glücksspiel-Lobby-FDP. Aber diese Zeiten sind jetzt vorbei. Ab heute ist die FDP transparent. ({6}) Ich schätze mal, die drohende Fünfprozenthürde macht es möglich. Die dreisteste Nummer liefert aber Die Linke. ({7}) Sie bringt einen Entwurf für ein Lobbyregistergesetz ein, der absolut von Sachkenntnis geprägt ist; das muss man zugeben. Das ist in Wahrheit aber auch gar kein Wunder; denn der Gesetzentwurf ist gar nicht von der Linken. Er ist eine Koproduktion von Abgeordnetenwatch und LobbyControl. ({8}) Es ist ein wunderbarer Gesetzentwurf, den man sich von den Seiten der beiden Vereine herunterladen kann. Wir kennen beide Vereine. Sie sind natürlich verdienstvoll, und wir schätzen sie sehr. Aber natürlich sind sie Lobbyisten für ihre Sache. ({9}) Meine Damen und Herren, ich finde, das hat was. Zum Thema Lobbyismus übernimmt Die Linke einen Gesetzentwurf von Lobbyisten, natürlich ohne das an irgendeiner Stelle in dem Gesetzentwurf zu benennen. Auf so was muss man ja erst mal kommen. So was kann man sich ja kaum ausdenken. Jetzt zu den Grünen. Die Grünen fordern derzeit am lautesten ein Lobbyregister. ({10}) Nun gibt es ja bekanntlich ein Bundesland, das von einem grünen Ministerpräsidenten regiert wird: Baden-Württemberg. Und in der Tat hat Grün-Schwarz in Baden-Württemberg in seinen Koalitionsvertrag hineingeschrieben, dass es ein Lobbyregister einführen will. Das einzige Problem: Die Wahlperiode in Baden-Württemberg neigt sich dem Ende zu, im März stehen Neuwahlen an, und ein Lobbyregister gibt es immer noch nicht. Priorität scheint das Ganze also nicht zu haben. Frau Haßelmann, ich würde sagen: Nun aber mal hurtig! ({11}) Das ist der Unterschied zwischen der Großen Koalition und Grün-Schwarz: Grün-Schwarz schreibt ein Lobbyregister in seinen Koalitionsvertrag, macht es dann aber nicht. Die GroKo schreibt ein Lobbyregister nicht in ihren Koalitionsvertrag, hat sich aber fest vorgenommen, es dennoch zu machen. ({12}) Meine Damen und Herren, ich bin guter Dinge, dass die GroKo zeitnah den Entwurf eines Lobbyregistergesetzes vorlegt. Aber ich sage auch: Trivial ist ein solches Vorhaben nicht. Das zeigt allein die Frage: Wer ist eigentlich Lobbyist? Ist der Bäcker in meinem Wahlkreis Lobbyist, wenn er sich im Zuge des Konjunkturpakets bei mir für die dauerhafte Absenkung der Mehrwertsteuer auf Brötchen einsetzt? Wohl kaum. Aber wie ist es bei dem Geschäftsführer einer Brotfabrik aus meinem Wahlkreis, der das Gleiche fordert? Muss der sich vorher in ein Lobbyregister eintragen? Darf er sich auf einer Wahlkampfveranstaltung von mir mit seinen Interessen nicht mehr zu Wort melden, weil er sich vorher nicht registriert hat? Das sind Fragen, die zu lösen sind. Meine Damen und Herren, die Große Koalition wird ein Lobbyregister vorlegen, das den Einfluss auf parlamentarische Entscheidungsprozesse reguliert, aber gleichzeitig auch Augenmaß wahrt. ({13}) Ich danke Ihnen. ({14})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Marco Buschmann für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Marco Buschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004023, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Das Anliegen, das wir heute diskutieren, ist eigentlich sehr ernsthaft. Deshalb hätte ich mich auch gefreut, Herr Bartke, wenn Sie einen ernsthaften Beitrag geleistet hätten. ({0}) Sie haben diese Woche das Thema Lobbytransparenzregister auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben. ({1}) Sie haben heute wieder nur Ankündigungen gemacht. Sie hätten diese Woche einen konkreten Termin vor der Sommerpause benennen können, und Sie tun nichts anderes, als das Thema seit Monaten vor sich herzuschieben. ({2}) Jetzt hier so zu tun, als sei die SPD die treibende Kraft in der Angelegenheit, das ist nichts anderes als ein Hütchenspielertrick. Schämen Sie sich! ({3}) Ich fand übrigens angesichts des Titels dieser Aktuellen Stunde die Frage interessant, worum es heute gehen dürfte. Es war ja irgendwie klar, dass viel über Philipp Amthor geredet wird. Und ich kann das natürlich auch verstehen, weil es natürlich jeden hier umtreibt, wenn ein Kollege seinen politischen Einfluss, seinen politischen Zugang einsetzt, um die Werthaltigkeit seiner Aktienoptionen zu steigern. Das ist unanständig, und das gefährdet auch das Ansehen unserer Arbeit, das gefährdet das Ansehen der Demokratie. Nur, wissen Sie, was diese Woche passiert ist? Das ist ganz interessant. Wir vergessen ja immer wieder, dass Interessenwahrnehmung oder Lobbyismus wie selbstverständlich zur Demokratie gehören. Es gibt in der Zivilgesellschaft natürlich unterschiedliche Ansichten, was richtig und falsch ist. Es gibt natürlich in der Wirtschaft unterschiedliche ökonomische Interessen. Und es ist gut, dass es Gewerkschaften und Arbeitgebervertreter gibt, dass es Umweltverbände gibt, dass es Idealvereine gibt, die sich hier einbringen. Und wissen Sie, was mir Menschen diese Woche geschrieben haben? Sie haben geschrieben: In Wahrheit empfinden wir es als eine Zumutung, mit einem solchen Fall in einen Topf geworfen zu werden. – Und recht haben damit all diejenigen, die saubere Interessenvertretung betreiben. Wir sollten den Fall Philipp Amthor nicht mit Lobbyismus in einen Topf werfen. Da tun wir den sauberen Interessenvertretern nämlich einen Tort an, Herr Bartsch. Und diesen Gedanken hätte ich mir bei Ihrer Einbringung hier gewünscht. ({4}) Was hier zu kurz gekommen ist, ist doch das eigentliche Anliegen, das sich mit dem Lobbytransparenzregister verbindet. Beim Lobbytransparenzregister geht es in Wahrheit gar nicht um die Tätigkeiten von Abgeordneten und um die Transparenz bei Nebentätigkeiten, sondern um etwas ganz anderes. Es geht darum, dass die Öffentlichkeit den Eindruck hat, dass es bestimmte Interessen gibt, die personell und organisatorisch so gut ausgestattet sind, dass sie sich in überproportionaler Weise hier im Parlament durchsetzen. Auch das ist geeignet, das Vertrauen in den parlamentarischen Prozess zu unterminieren, und deshalb brauchen wir an der Stelle Transparenz. Es gibt eine zweite Entwicklung, und die gehört auch dazu. Es gibt zunehmend Organisationen, die sich klangvolle Namen geben und so tun, als würden sie das Gemeinwohl vertreten; aber in Wahrheit vertreten sie knallharte ökonomische Interessen. Ein Beispiel dafür ist die Deutsche Umwelthilfe. Die Deutsche Umwelthilfe – das schreibt das Wochenmagazin „Die Zeit“ – bekommt im Jahr knapp 3 Millionen Euro von Spendern und Sponsoren. Darüber schreibt das Wochenmagazin „Die Zeit“ – ich zitiere –: „Doch viele davon bleiben anonym. Und manche haben ein hartes geschäftliches Interesse an ihren Kampagnen.“ Einer dieser Sponsoringpartner war über viele Jahre Toyota. Und Toyota hat öffentlich erklärt, warum es das getan hat: natürlich weil es sich im Wettbewerb mit deutschen Automobilherstellern einen Vorteil erhofft hat. Und natürlich hat es das gemacht – wie der CEO öffentlich erklärt hat –, weil der Eindruck bestand, die Deutsche Umwelthilfe sei eine „neutrale Stelle“. Das kann man im „Focus“ nachlesen. Ich finde, solchen Akteuren müssen wir das scheinheilige Deckmäntelchen angeblicher Gemeinwohlorientierung entreißen, und zwar nicht, weil es per se illegitim ist, was sie tun. Aber nur dann, wenn wir wissen, wie viel Geld diese Leute bekommen, und nur dann, wenn wir wissen, von wem es kommt, kann die Öffentlichkeit und kann dieses Parlament kritisch bewerten, wie hier versucht wird, bestimmte Interessen einzuspeisen. Das ist Transparenz; das ist das eigentliche Anliegen des Lobbytransparenzregisters. Darüber hätten wir hier heute stärker reden müssen. Dazu, Herr Bartke, hätten wir auch schon vor der Sommerpause hier im Parlament eine Anhörung durchführen können. Das haben Sie verhindert. Und jetzt führen Sie sich als Held der Transparenz auf. Das ist genauso intransparent wie die Deutsche Umwelthilfe. Schämen Sie sich! ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Britta Haßelmann für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibt zwei Ebenen, über die heute diskutiert werden kann. Das eine ist der Fall Amthor, und der Fall Amthor ist nicht aufgeklärt. Der Abgeordnete Amthor hat bis heute die zahlreichen offenen Fragen an ihn nicht beantwortet, vor allen Dingen nicht die entscheidende Frage, ob ihm durch seine Lobbytätigkeit, seine Türöffnerfunktion gegenüber dem Bundeswirtschaftsministerium, ein Vorteil entstanden ist oder er dafür eine Gegenleistung erhalten hat, die auch heute schon nach dem Abgeordnetengesetz nicht erlaubt ist. ({0}) Das ist ein großer Fehler; denn die Debatte schadet an jedem Tag, an dem sie läuft, dem Ansehen von Politik und Politikerinnen und Politikern insgesamt; sie schadet dem Ansehen der parlamentarischen Demokratie. Und das weiß Amthor genauso gut wie jede und jeder von Ihnen, die Sie hier sitzen. Vielleicht war es unbequem, diese Fragen zu beantworten, weil man heute noch weitere Karrierepläne in Mecklenburg-Vorpommern verfolgt. Ich finde, er wäre in der Pflicht gewesen, innerhalb von einer Woche zu sagen: Was ist mit den teuren Reisen? Was ist mit den Unterbringungen in Luxushotels? Stehen sie in einem Zusammenhang mit der Türöffnerfunktion? Dann ist es ganz klar ein Verstoß, dann ist es nicht Recht und Gesetz, und das weiß der Kollege Amthor selbst am besten. ({1}) Ich finde, dass die Union das auch klar sagen muss. Ich war befremdet über die zahlreichen banalisierenden, entschuldigenden Äußerungen einiger Ihrer Kollegen. ({2}) Seit wann ist der Mann besonders jung? So alt wie der Mann kann ich gar nicht werden, meine Damen und Herren, ({3}) so alt, wie ich den Jungen hier im Deutschen Bundestag auftreten gesehen habe. Er ist auch nicht zu jung, meine Damen und Herren, um anscheinend weitere Nebentätigkeiten auszuüben und in der Welt mit dem ehemaligen BND-Präsidenten auf Jagd zu gehen. In so einer Herrenrunde möchte Frau überhaupt nicht sein. Aber das spielt hier heute keine Rolle. Wichtig ist, dass er jetzt die Fragen beantwortet und an der Aufklärung mitarbeitet. Das hat er bisher nicht getan, und das ist ein großer Fehler. Warum spricht er eigentlich nicht von seinem Fehler? Warum spricht er nicht davon, dass er etwas aufzuklären hat? In der dritten Person rückt man das Thema nicht weiter von ihm weg. – Jetzt aber genug über Amthor geredet! Er hat Verantwortung zu übernehmen und aufzuklären. Das ist eine ganz klare Sache, meine Damen und Herren, und ich frage mich, warum das länger als acht Tage dauert. Darauf hat es bisher keine Antwort gegeben. ({4}) Der andere Punkt ist: Wir brauchen im deutschen Parlament mehr Transparenz. Wir brauchen mehr Offenheit und mehr Nachvollziehbarkeit. Wir brauchen klarere Regeln, striktere Regeln für Nebentätigkeiten. Ich wunderte mich gerade auch, dass ein Kollege so gut Bescheid wusste, der ganz oben auf der Skala steht. Es ist ja kein Geheimnis, Herr Komning: 760 000 Euro muss man erst mal nebenbei verdienen. „Donnerwetter!“, kann ich da nur sagen. Mein und unser aller Grundsatz ist ja: Das Mandat steht im Mittelpunkt der Tätigkeit. – Ich frage mich manchmal: Wie schafft man das noch nebenbei? Aber gut, das müssen Kollegen für sich selbst beantworten. ({5}) Meine Damen und Herren, wir brauchen striktere Regeln für die Veröffentlichung von Nebentätigkeiten. Wir brauchen striktere und klarere Regeln für Unternehmensbeteiligungen. Wir müssen auch die Frage „Wie ist das mit den Aktienoptionen?“ klären. Wir brauchen den legislativen Fußabdruck, damit nachvollziehbar ist: Wer hat an Gesetzgebung mitgewirkt, und wer hat Einfluss genommen? Und wir brauchen ein Lobbyregister. Herr Bartke, das, was Sie eben aus Sicht der SPD dazu gesagt haben, war ziemlich billig. ({6}) Wo waren Sie denn eigentlich? Warum haben Sie die Einführung eines Lobbyregisters nicht bei den Koalitionsverhandlungen vereinbart? Das war anscheinend nicht so wichtig. Ich kann nur sagen: In den Sondierungsgesprächen zwischen CDU/CSU, FDP und Grünen war Konstantin von Notz in der Arbeitsgruppe Demokratie. Dort hatten wir schon längst geklärt, dass es ein gesetzliches Lobbyregister gibt. Das scheint bei Ihnen nicht so intensiv verhandelt worden zu sein. ({7}) Und kommen Sie mir nicht mit Baden-Württemberg. Ich vertrete seit über acht Jahren die Auffassung, dass auf Bundesebene ein gesetzliches Lobbyregister zwingend ist, aber bisher scheitert es an der Blockade der CDU/CSU, die aus keiner Sicht gerechtfertigt ist, und daran, dass Sie als Koalition es nicht zustande bringen. Das muss man hier doch in aller Deutlichkeit sagen. ({8}) Als Letztes sage ich Ihnen: Die Interessenverbände der Wirtschaft sind hier viel weiter als Sie. Die wissen ganz genau, dass das der Dreh- und Angelpunkt für politische Interessenvertretung ist. Und da geht es auch nicht darum, hier einzelne Gruppen wie die Deutsche Umwelthilfe zu diffamieren oder Abgeordnete miteinander zu vergleichen, die gegen überhaupt keine Regeln verstoßen haben. Es ist doch völlig klar, dass wir jetzt das gesetzliche Lobbyregister brauchen. Und die Wirtschaftsverbände haben sich in einer großen Allianz zusammengetan –

Not found (Mitglied des Präsidiums)

Frau Kollegin Haßelmann.

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

– und fordern uns nahezu auf, endlich für ein gesetzliches Lobbyregister zu sorgen – seit Jahren schon! Die sind weiter als Sie. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Patrick Schnieder das Wort. ({0})

Patrick Schnieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004146, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Auch ich musste mich am Anfang erst einmal vergewissern, worüber wir heute eigentlich reden. Ich bin dem Kollegen Dr. Buschmann sehr dankbar, dass er ein Stück weit geklärt und mit sehr klugen Gedanken – das will ich wirklich zugestehen – auf den Punkt gebracht hat, worum es in der Debatte geht. Es geht um Transparenz und Lobbyismus. Deshalb will ich zunächst einmal sagen: Wir sind hier in einem Plenarsaal, nicht in einem Gerichtssaal und auch nicht vor einem Tribunal. ({0}) Ich habe Verständnis dafür, dass man über den Kollegen Amthor spricht, und ich will ganz klar sagen: Er hat sich fehlerhaft verhalten, und zwar unabhängig davon, ob er gegen Regeln oder gegen Gesetze verstoßen hat. Das wird noch geklärt, aber klar ist: Er hat sich fehlerhaft verhalten. Er hat den Fehler auch selbst eingeräumt, und er hat Konsequenzen gezogen. ({1}) – Das kann man bewerten, aber das sind zunächst mal die Fakten, und die hat man zur Kenntnis zu nehmen. Wenn wir hier über Transparenz debattieren, sollten wir auch mal differenzieren. Sie tun in der Diskussion – nicht nur hier, sondern auch in der Presse der letzten Tage – so, als würde ein Lobbyregister alle Probleme beseitigen, die hier aufgetreten sind. Das ist aber die vollkommen falsche Baustelle, sorry. ({2}) Reden wir zunächst über die Verhaltensregeln, die wir uns gegeben haben. ({3}) Es ist ganz klar geregelt: Das Mandat hat im Mittelpunkt zu stehen. Gleichwohl dürfen wir Nebentätigkeiten ausüben. Außerdem gibt es eine Reihe von Anzeigepflichten. – Wenn ich es der Presse richtig entnommen habe, dann hat der Kollege seine Beratungsobliegenheiten wahrgenommen und in Einzelfällen bei der Bundestagsverwaltung nachgefragt. Jetzt warten wir mal ab. Es handelt sich um ein Verfahren, das da läuft. Es wird eine Prüfung stattfinden, und wir werden das Ergebnis, ob gegen Regeln verstoßen worden ist – ja oder nein –, zur Kenntnis nehmen. Aber vorher werden wir hier kein Urteil sprechen. Das will ich ganz klar feststellen. ({4}) In einem nächsten Schritt können wir darüber reden – das ist hier mehrfach angesprochen worden –: Was ist mit Aktienoptionen? Jetzt könnte ich im Duktus der letzten Tage und eines Teils dieser Debatte sagen: Ich kann in all den Anträgen und Gesetzentwürfen, die Sie zum Lobbyregister vorgelegt haben, nirgendwo das Wort „Aktienoption“ lesen. Das ist auch völlig verständlich; denn das gehört in die Verhaltensregeln rein. Und wenn wir feststellen – darüber können wir auch diskutieren –, dass es noch eine Regelungslücke gibt und man noch Weiteres regeln muss, werden wir uns solchen Gesprächen niemals versperren. Dann werden wir darüber reden. Ich sehe auch keinen Antrag, aus dem hervorgeht, dass das überhaupt schon im Gespräch wäre. ({5}) Lassen Sie uns also die Dinge mal so benennen, wie sie sich darstellen. Reden wir als Drittes über das Thema „Transparenz und Lobbyregister“. Da sage ich Ihnen ganz klar: Wir als Union haben bisher keinen Vorschlag. Wir haben auch als Koalition keinen Vorschlag. Das hängt zusammen. Wir bereden das nämlich zusammen in der Koalition, aber nicht als Fraktion allein. Gleichwohl halten wir ein Lobbyregister für erforderlich. Dazu habe ich mich und hat sich auch der Kollege Sensburg schon vor über einem Jahr geäußert. Uns geht das im Übrigen auch nicht schnell genug; das kann man, glaube ich, ganz offen sagen. Es ist völlig richtig, was die Kollegin Haßelmann gesagt hat: Wir haben die Einführung eines Lobbyregisters im Koalitionsvertrag nicht vereinbart. Diejenigen, die regieren und die gerne regieren, die wissen, dass man abarbeitet, was man im Koalitionsvertrag gemeinsam an Kompromissen geschlossen und prioritär an Maßnahmen vorgesehen hat. Jetzt wollen wir uns dennoch aufmachen, eine Regelung zu treffen. Das haben wir getan. Die Gespräche haben begonnen. Schauen wir auch da mal, was dabei herauskommt. Klar ist: Wir wollen uns einer Regelung nicht verschließen. Ich will noch ein Wort zu dem Vorwurf, der nicht nur in der Diskussion heute, sondern auch in den letzten Tagen gemacht wurde, sagen, wir hätten eine Blockade- und Verzögerungstaktik an den Tag gelegt, vor allem im Zusammenhang mit einer Anhörung, die nicht mehr vor der parlamentarischen Sommerpause, sondern im Oktober stattfindet. Ich kann dazu nur Folgendes sagen: Im Dezember 2019 haben wir im Ausschuss darüber gesprochen, eine Anhörung durchzuführen. Ich habe festgestellt, dass in meinem Kalender zunächst ein Termin im März für eine mögliche Anhörung geblockt worden ist – ({6}) warum auch immer sie dann nicht stattgefunden hat. ({7}) – Ich kann Ihnen das auch sagen; ich habe mir alle E-Mails vorlegen lassen. – Im Anschluss waren bei mir im Kalender in den Sitzungswochen im Mai zwei Termine geblockt. Wir haben auch nicht vereinbart, dass dann eine Anhörung stattfinden soll. Jetzt kommen Sie um die Ecke und fordern, die Anhörung müsse unbedingt vor der Sommerpause stattfinden. Ich kann nicht erkennen, dass wir blockiert und verzögert haben, ({8}) nur weil wir sagen: Wir machen die Anhörung in aller Ruhe und mit guten Argumenten im Oktober. – Wo ist da der Unterschied? Darauf kommt es doch an. Sie können das Thema doch im Plenum aufsetzen. Wenn wir die Anhörung noch vor der Sommerpause durchführen, dann können Sie die Abstimmung im September ansetzen. Wenn wir die Anhörung im Oktober machen, können Sie die Abstimmung im Oktober auf die Tagesordnung setzen. Das ist ein Monat Unterschied! Es ist doch lächerlich, zu behaupten, dass es da eine Blockade oder Verzögerung gäbe. Da sollten wir den Ball flachhalten. ({9}) Wir wollen ein Lobbyregister, und ich bin zuversichtlich, dass wir zu Lösungen kommen. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Thomas Seitz für die AfD-Fraktion. ({0})

Thomas Seitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004891, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich möchte bekennen: Ich bin Lobbyist, ein Lobbyist für Recht und Freiheit und für nichts anderes. ({0}) Wenn alle Abgeordneten so dächten, dann hätten wir nicht nur ein besseres Parlament, sondern auch ein besseres Deutschland. ({1}) Der Kollege Amthor liefert den Anlass für die heutige Diskussion. Das Problem ist aber strukturell. Und nur ganz kurz zum Kollegen: Er hat äußerst unklug gehandelt, auch wenn wohl kein Verstoß gegen die Verhaltensregeln vorliegt. Man muss dem Kollegen aber zugutehalten, dass er mit seinem auf Universität und Junge Union beschränkten Erfahrungsschatz einfach nicht bodenständig verwurzelt war und es auch nicht sein konnte. ({2}) Über die für die Unabhängigkeit eines Abgeordneten notwendige Lebens- und Berufserfahrung konnte er altersmäßig gar nicht verfügen. Ich glaube, das zeigt, wie falsch manche Kollegen hier im Haus unterwegs sind, und zwar nicht, weil bei allen das Talent fehlt, sondern weil sie einfach fünf oder zehn Jahre zu früh hier dran sind. ({3}) Ich schätze den Kollegen Amthor aber als intelligent genug ein, um aus seinen Fehlern zu lernen und vor allem sein Zweites Staatsexamen nachzuholen, um sich unabhängig vom Politikbetrieb zu machen. Gerade weil er so jung ist, gebe ich ihm eine echte Chance, die Traditionslinie fragwürdiger Integrität in der Union zu durchbrechen, eine unrühmliche Traditionslinie von Helmut Kohl über Wolfgang Schäuble bis unlängst Stephan Harbarth. Denn wenn wir über Lobbyismus reden, reden wir vor allem über Integrität, über die Integrität des Parlaments, der Regierung und allgemein des politischen Betriebs. Da die Hoffnung auf Integrität nicht ausreicht, brauchen wir Regeln für den Lobbyismus, um jedenfalls die schlimmsten Auswüchse zu verhindern. Und was an zulässigem Lobbyismus übrig bleibt, das muss dann möglichst transparent sein, damit der Bürger weiß, welchen Konzern oder welche Ideologie er zwangsläufig mit einer Partei oder einem Kandidaten mitwählt. ({4}) Was das Thema „Integrität und Transparenz“ angeht, ist dieses Parlament ein Parlament der Schande. ({5}) Gerade wir als Alternative für Deutschland sind deshalb gegen den Berufspolitiker „Typ Altpartei“. ({6}) Unsere Satzung gibt das Bild eines Abgeordneten vor, der über eine mehrjährige Erwerbsbiografie verfügt, die es ermöglicht, dass er nach längstens drei oder vier Legislaturperioden in seinen alten Beruf zurückkehrt. ({7}) Und wenn er seinen Beruf auch während des Mandats ausübt, dann nur in einem Umfang, der für die spätere Rückkehr notwendig ist. Er übernimmt aber keine neuen Tätigkeiten, schon gar nicht als Lobbyist, und am Ende des Mandats gilt freiwillig eine Karenzzeit von drei Jahren. – Das ist es, wofür die Alternative für Deutschland steht. ({8}) In der Realität der Altparteien gab es dagegen jahrzehntelang überhaupt keine Regelungen, die wenigstens verhinderten, dass Regierungsmitglieder und Parlamentarische Staatssekretäre ihr amtlich erworbenes Wissen, vor allem aber ihre amtlich geknüpften Kontakte mehr oder weniger nahtlos nach dem Ausscheiden aus dem Amt gewinnbringend an den Meistbietenden verhökerten. Seit 2015 gibt es für Minister und Staatssekretäre nun zumindest halbherzige Regelungen mit einer allerdings viel zu kurzen Karenzzeit und vor allem ohne spürbare Sanktionen. ({9}) – Stellen Sie doch eine Zwischenfrage, Frau Kollegin; auch Ex-Minister dürfen das tun. ({10}) Der Kollege Oliver Wittke, CDU, bis letzten November noch Staatssekretär, wartet auf die Berufung als Hauptgeschäftsführer des Spitzenverbandes der Immobilienwirtschaft. Ex-Minister Gabriel, SPD, wartet auf die Berufung in den Aufsichtsrat der Deutschen Bank. Ex-Ministerin Frau Zypries, SPD, sitzt im Aufsichtsrat bei Bombardier. Und Frau Andreae von den Grünen ist jetzt Lobbyistin beim Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft. Das in seiner Dimension wohl dramatischste Beispiel: der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Stephan Harbarth. Ein exzellenter Jurist, keine Frage, aber wer als Vorstand selbst einer Wirtschaftskanzlei sogenannte Nebeneinkünfte in einer Höhe bezogen hat, dass er dafür selbst bei einem Stundensatz von 500 Euro neben dem Mandat noch weitere rund 2 500 Stunden im Jahr hätte arbeiten müssen, der provoziert eben die Vermutung, dass hier Geld ohne Gegenleistung geflossen ist. Ein mutmaßlicher Lobbyist für Volkswagen war tätig in Ausschüssen und hat im Dieselskandal an Entscheidungen mitgewirkt – mit großer Bedeutung für Volkswagen. So etwas darf es nicht mehr geben. Eine Möglichkeit wäre, dass Einkünfte aus Nebentätigkeiten, nicht aus Vermögensverwaltungen, die die Abgeordnetenentschädigung übersteigen, künftig an die Staatskasse abzuführen sind. ({11}) Diese Beispiele machen es für mich unumgänglich: Es muss nicht nur das Bundesministergesetz und das Abgeordnetengesetz angepasst werden – Herr Schnieder, Änderungen bei den Verhaltensregeln reichen eben nicht aus –, sondern es bedarf auch der Einführung eines Lobbyregisters. Wir werden dazu demnächst einen eigenen Entwurf vorlegen. Aber es geht eben nicht nur um die Verflechtungen und die Einflussnahme seitens der Wirtschaft, sondern auch um Einflüsterungen seitens Ideologen und NGOs. Gerade Letztere müssen hier erfasst werden, da sie oft das Vehikel zur Umsetzung von Interessen von milliardenschweren Hintermännern sind, deren direkte Einflussnahme bei Bekanntwerden öffentliche Empörung auslösen würde. ({12})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Abgeordneter Seitz, Sie müssen zum Schluss kommen. ({0})

Thomas Seitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004891, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ich komme zum Schluss. ({0}) Ein Register, das für echte Lobbytransparenz sorgt, muss deshalb abbilden, mit wem ein Abkassierverein wie die bereits erwähnte DUH zusammenarbeitet, und genauso –

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Seitz, setzen Sie bitte den Punkt.

Thomas Seitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004891, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

– die Verflechtungen von Frau Scheer von der SPD und ihren missionarischen Eifer bei der Verbreitung der Solarideologie. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Abgeordneter Seitz, Sie haben den Deutschen Bundestag als „Parlament der Schande“ bezeichnet. Damit verletzen Sie die Würde des Hauses. Ich erteile Ihnen dazu einen Ordnungsruf. Vorsorglich stelle ich fest: Ich erteile diesen Ordnungsruf nach § 36 Absatz 1 unserer Geschäftsordnung. Sowohl der Inhalt des Gerügten als auch der Ordnungsruf dürfen im weiteren Verlauf dieser Debatte nicht zum Gegenstand der Debatte gemacht werden. Wir fahren fort in der Aktuellen Stunde. Das Wort hat die Kollegin Sonja Amalie Steffen, für die SPD. ({0})

Sonja Steffen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004164, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was glauben Sie, was die Leute draußen an den Bildschirmen denken, wenn sie diese Debatte verfolgen? Gerade der letzte Redner vor mir hat, glaube ich, dafür gesorgt – und das ist wirklich schlimm genug –, dass die Menschen da draußen denken: Was ist eigentlich los im Parlament? ({0}) Eines möchte ich zusätzlich vorweg sagen: Ich werde mich, wie es auch der Kollege Schnieder getan hat, heute in meiner Rede nicht an dem Tribunal gegen den Abgeordneten Philipp Amthor beteiligen. Ich glaube, wir sollten wirklich abwarten, was bei den Untersuchungen herauskommt, bevor wir hier in diesem Haus vorab Urteile fällen, die letztendlich uns allen schaden. ({1}) Andererseits muss ich aber auch sagen: Man kommt sich tatsächlich vor wie beim Murmeltiertag, und das ist nicht lustig gemeint. Ich bin seit 2009 in diesem Parlament, und seit 2009 habe ich selber schon drei Reden zum Thema Lobbyregister gehalten. Das Thema ist übrigens schon viel, viel älter. Es ist unheimlich schade, dass das immer wieder zum Thema wird und dann mit dieser unglaublichen Schärfe behandelt wird, wenn ein Skandal auftritt, wie wir ihn diese Woche erlebt haben. Ich finde es, wie alle anderen hier auch, wirklich schlimm, dass es erst eines Skandales bedurfte, dass wir wieder darüber reden. Ich möchte Ihnen sagen – da spreche ich wirklich auch im Namen der SPD-Fraktion –: Wir verfolgen dieses Thema mindestens seit 2009. Bislang konnten wir hier leider nicht zu einem Ergebnis kommen. Wenn es so sein sollte, dass dieser Skandal zu einem Lobbyregister führt, dann ist der Anlass zwar traurig und tut uns allen wirklich nicht gut, aber führt letztendlich dann doch – hoffentlich – zu einem guten Ergebnis, zu einem Lobbyregister. Denn es verhält sich ja nun einmal so – das ist vorhin auch schon kurz gesagt worden –: Wir haben so viele gute Unternehmen, gute Interessenverbände, KMUs, Handwerkskammern, Naturschutzverbände, Organisationen im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit, Sozialverbände – wir kennen sie alle gut –, die uns gegenüber völlig zu Recht ihre Interessen wahrnehmen. Gerade jetzt, in der Coronapandemie, sind wir alle noch viel mehr im Austausch, und das ist auch richtig so. Die Menschen kommen mit ihren Anliegen zu uns, wir reden mit ihnen darüber – nicht nur mit den einzelnen Menschen, sondern auch mit den Verbänden –, damit wir ihre Anliegen in der Gesetzgebung berücksichtigen können. Das ist richtig so. Deshalb sind wir es der Gesellschaft schuldig, dass wir endlich eine transparente Lobbyregisterregelung mit einem Verhaltenskodex finden. ({2}) Wir sind das übrigens auch den Interessenverbänden schuldig. Die wollen das auch; das ist tatsächlich so. Die warten auf eine Regelung, weil sie endlich aus dieser Schmuddelecke herauskommen wollen. Wir sind das letztlich auch uns selber schuldig, uns Abgeordneten; denn jeder Skandal – ich sage es noch mal – schadet dem Ansehen dieses Hohen Hauses. Wenn schon Junge-Unioner diese nicht besonders schönen, sondern eher schon verwerflichen Dinge während der Wahrnehmung des Amtes in Anspruch nehmen, dann hätte vielleicht ein Verhaltenskodex gewirkt, um dem von vornherein Einhalt zu gebieten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe das schon gesagt: Wir brauchen ein öffentliches Register, wir brauchen eine Eintragungspflicht aller Interessenverbände. Da muss drinstehen: Wer ist für einen Interessenverband unterwegs? Mit welchem Ziel ist derjenige für den Interessenverband unterwegs? Welche Interessen werden verfolgt? Wir brauchen einen Verhaltenskodex. Der muss auch wirklich konkret formuliert sein. Es darf nicht mehr so sein, dass auf Luxusjachten irgendwelche Vereinbarungen geschlossen werden oder dass irgendwelche Überlegungen angestellt werden, wen man wie möglicherweise besuchen und beeinflussen kann. Das darf nicht sein, das schadet unserem Haus. Deshalb brauchen wir ein Lobbyregister. Das nur über Hausausweise zu regeln, ist definitiv nicht ausreichend. Und die Freiwilligkeit des Registers ist auch nicht zielführend. Wir brauchen darüber hinaus einen Fußabdruck, in jedem Falle. Ob es ein legislativer oder exekutiver Fußabdruck werden soll, das werden wir in den jetzt beginnenden Verhandlungen beraten. Wir werden eine Expertenrunde haben – wir haben das schon gehört –, die wird nach der Sommerpause stattfinden. Es ist – das muss ich jetzt auch mal sagen, weil ich befürchte, dass der Kollege Straetmanns gleich noch darauf eingehen wird –, tatsächlich so, dass wir diese Woche überlegt haben: Ziehen wir die Sachverständigenanhörung vor? Machen wir das noch vor der Sommerpause, oder machen wir das nach der Sommerpause? – Wir haben tatsächlich gesagt: „Wir machen es nach der Sommerpause“, weil wir es eben auch vorbereiten wollen und weil wir uns genügend Zeit damit lassen wollen. ({3}) – Das ist nicht witzig. – Es hat einfach vor der Sommerpause von der Zeit her nicht mehr gereicht. ({4}) Deshalb: Lassen Sie uns nach der Sommerpause da wirklich gut rangehen! Ich bin, abschließend, wirklich sehr froh und sehr hoffnungsvoll, dass wir – wir haben das ja auch schon von den Kollegen der Union gehört – ein Lobbyregister noch in dieser Legislaturperiode aufstellen werden.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Steffen.

Sonja Steffen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004164, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich freue mich auf die Verhandlungen. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege Friedrich Straetmanns das Wort. ({0})

Friedrich Straetmanns (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004907, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie in einem Brennglas zeigt die Causa Amthor, was im Verhältnis von Politik und Geld nicht stimmt. Dies ist jedoch bei Weitem kein Einzelfall: Friedrich Merz trat direkt im Jahr nach dem Ausscheiden aus dem Bundestag die hauptamtliche Stelle bei einem Finanzdienstleister an, während er sich zuvor „nur“ neben dem Mandat seine Beratungstätigkeiten bezahlen ließ. Jetzt will er wieder zurück in die Politik. Weiteres prominentes Beispiel: Sigmar Gabriel, zu Beginn dieser Legislaturperiode noch Kollege von uns, hat gerade offenbar eine Sammelleidenschaft für Aufsichtsratsposten entwickelt und zusätzlich nach seinem Ausscheiden aus dem Bundestag seine Dienste bei einer Politikberatungsfirma gewinnbringend angelegt. Gerhard Schröder, Kurt Beck, Ronald Pofalla, Roland Koch, Hannelore Kraft, Daniel Bahr, Eckart von Klaeden, Dirk Niebel – das ist nur ein völlig willkürlicher Ausschnitt über prominente Wechsel von Politikern in die Privatwirtschaft. Seit 2010 sind nach einer Zusammenstellung der Organisation LobbyControl mehr als 110 ehemalige Politiker von Union, FDP, SPD und Grünen aus ihrem Mandat ohne Umschweife und Scham in die Wirtschaft gewechselt. Darunter sind ehemalige Ministerpräsidenten, Minister und Staatssekretäre. Schaut man auf die Liste, stellt man fest, dass das Amt des Staatssekretärs eher der direkte Draht der Wirtschaft in die Regierungsgeschicke ist. Mit welcher Schamlosigkeit das Ganze betrieben wird, zeigt der genauere Blick: Da wechselt der ehemalige Gesundheitsminister zur Krankenversicherung, oder der ehemalige Verkehrsminister wird zum Chef des Autolobbyverbandes. Die Kontakte, die man in einem öffentlichen Amt geknüpft hat, so offen in die Wirtschaft zu tragen, widerspricht völlig der Verpflichtung aufs Gemeinwohl und der Verantwortung, die solche Ämter mit sich bringen sollten. ({0}) Und wie diese Netzwerke genutzt werden, das sehen wir doch immer wieder. Denken Sie an den Abgasskandal – es ist erwähnt worden –: Da werden von ehemaligen Kanzleramtsministern und späteren Autolobbyisten Briefe an die „lieben ehemaligen Kollegen“ geschrieben, ({1}) damit bloß die Abgastests nicht modifiziert werden oder damit die Grenzwerte nicht verschärft werden, weil die Sorge um die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger verglichen mit der Sorge um die Interessen der Automobilindustrie nämlich „überzogen“ seien. Diese Briefe werden dann noch mit dem einen oder anderen Anruf garniert, und kurze Zeit später hat die Bundesregierung eine gänzlich andere Position zu dem Thema, die wie zufällig den Industrieinteressen gleicht. Wir Linke sagen jedoch: Politik darf nicht zum Befehlsempfänger der Wirtschaft verkümmern! ({2}) Wir sind mit großer Skepsis konfrontiert, was unsere Arbeit hier betrifft und wem gegenüber wir uns verantwortlich fühlen – und das auch völlig zu Recht, wenn ich mir diese Fälle vor Augen führe. Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD, wenn Sie kein Interesse daran haben, dass die Wählerinnen und Wähler Sie als Interessenvertreter der Konzerne wahrnehmen, stimmen Sie endlich einer schärferen Kontrolle des Lobbyismus in diesem Lande zu. Der Entwurf, den wir zum Lobbyregister eingebracht haben, liegt Ihnen seit Oktober 2017 vor. Sie von Union und SPD haben uns immer wieder mit fadenscheinigen Argumenten vertröstet, ({3}) zuletzt vorgestern im Geschäftsordnungsausschuss. Erst in vier Monaten soll nun endlich die Anhörung stattfinden. Das ist eine durchschaubare Verzögerungstaktik, die von einer durchtriebenen Kaltschnäuzigkeit zeugt. ({4}) Dagegen beinhaltet unser Gesetzentwurf insbesondere drei Punkte: Erstens eine verpflichtende Eintragung aller Lobbyisten mit Kontakt zu Abgeordneten in ein Register. Zweitens. Die im Lobbyismus aufgewendeten Summen müssen konkret angegeben werden. Drittens. Bei jedem Gesetzentwurf fordern wir einen sogenannten legislativen Fußabdruck, um die auf die Erarbeitung von Gesetzentwürfen einwirkenden Lobbyinteressen transparent zu machen. – Dass Ihnen diese Regelungsvorschläge offenbar schon zu weit gehen, lässt Böses ahnen! Zum Abschluss möchte ich aber noch einmal zu der Person zurückkehren, die uns diese Aktuelle Stunde hier beschert hat, nämlich Philipp Amthor. Er war immer einer derjenigen, die an allervorderster Front standen, wenn es darum ging, zu erklären, warum der Vorschlag zur Wahlrechtsreform von Linken, Grünen und FDP nicht realistisch sei. Das Argument war stets, die Wahlkreise seien jetzt schon zu groß. Vielleicht ist aber gar nicht die Größe des Wahlkreises der ausschlaggebende Punkt, sondern wie sehr man sich auf sein Mandat konzentriert. Und vielleicht hätte er sich mal besser für eine Firma aus seinem Wahlkreis eingesetzt; das wäre auch dort besser angekommen. Aber da hätte der „Geschäftstermin“ möglicherweise an der Mecklenburgischen Seenplatte stattgefunden und nicht im Luxushotel auf Korsika. ({5}) An der Seenplatte finde ich es übrigens, ehrlich gesagt, schön, und ich hatte schon lange mal vor, dort vorbeizuschauen. Im Übrigen nicht mit dem Privatflieger, sondern mit dem Wohnwagen. Vielen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Marco Bülow. ({0})

Marco Bülow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003512

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es schon ziemlich bezeichnend, wie einige Kollegen der Union das schönreden, was wir nun bei Philipp Amthor erlebt haben. Auf der einen Seite werden 16-, 17-, 18-jährige Aktivistinnen/Aktivisten, die für das Klima demonstrieren, dämonisiert und in eine Ecke gestellt und auf der anderen Seite soll ein 27-Jähriger zu jung sein, Verantwortung zu übernehmen; bei dem kann man sagen: Der ist doch jung. ({0}) Genau diesen Widerspruch lassen wir nicht durchgehen. Philipp Amthor wusste genau, was er tut. Aber der eigentliche Skandal, über den wir reden sollten und hier auch reden, ist, dass es kein Einzelfall ist, sondern dass es zum Teil Methode hat. Der eigentliche Skandal ist, dass wir uns auch in diesem Haus häufig auf einer Gratwanderung zwischen Profitlobbyismus und Abhängigkeit der Politik befinden. Lobbyismus, wie ich ihn verstehen würde, ist eben keine reine Interessenvertretung, die jeder gleichzeitig und gleichmäßig gestalten soll. Vielmehr gibt es zum einen große Profitlobbyisten, die im Ministerium ein und aus gehen. Zum anderen gibt es auf Fragen von Kolleginnen und Kollegen und mir teilweise schöne Auflistungen, wie häufig denn zum Beispiel Umweltverbände dabei waren, wenn es um Konzepte zur Energiewende ging. Die Energieunternehmen dagegen mit ihrem riesigen Wasserkopf gehen ständig ein und aus in den Ministerien und auch bei Kolleginnen und Kollegen. Auch das, finde ich, gehört bei dieser Debatte dazu. Wir haben außerdem ein System, dass man eigentlich alles darf als Abgeordneter. Konzerne haben Compliance-Einrichtungen. Da muss man danach fragen und sich vergewissern, was man darf und was nicht. Und es gibt viele Verwaltungen – außerhalb dieses Hauses –, in denen man so gut wie nichts darf. Aber ein Abgeordneter darf eigentlich alles, außer er ist sozusagen für eine Stimme bestechlich. Er darf Geld nehmen, in unendlicher Höhe; er muss es nur beim Bundestagspräsidenten anzeigen. Und natürlich verlangt man dafür eine Gegenleistung. Jeder weiß doch, wie das aussieht, und jeder weiß auch, in welcher Höhe bestimmte Sachen laufen und Summen fließen und dass dann natürlich auch eine Gegenreaktion kommt. Das ist der Skandal, über den wir eigentlich reden sollten. Da hilft auch kein Lobbyregister, sehr geehrte Damen und Herren. Ich will noch mal einen Schwenk zur SPD machen. Ich habe lange in der SPD für das Lobbyregister gekämpft. Aber in den Koalitionsverhandlungen mit der Union war es immer das Erste, was rausgefallen ist. Und wenn es nach Ihrer Meinung wirklich Transparenz geben sollte: Warum hat die SPD, als abgeordnetenwatch.de dagegen geklagt hat, dass es bei den Hausausweisen für die Öffentlichkeit keine Transparenz gibt, der Einführung einer Transparenzregelung nicht zugestimmt, sodass das gerichtlich erzwungen werden musste? ({1}) Wenn man wirklich Transparenz will, dann muss man das machen. Aber dann reicht ein Lobbyregister nicht aus. Dann brauchen wir einen Kodex: einen Ethikkodex für Abgeordnete. Der sehr geehrte Kollege Gerhard Schick von den Grünen – leider ist er nicht mehr Mitglied des Hauses – hat mit mir einen solchen Kodex erstellt. Leider sind nur 40 Abgeordnete dabei. Da verpflichten wir uns dazu, dass wir unsere Nebentätigkeiten begrenzen und dass es Transparenz gibt, wie wir mit den Lobbyisten umgehen. Das müsste aber allgemeinverbindlich sein. Zudem brauchen wir den legislativen Fußabdruck. Wir brauchen aber auch klare Grenzen und Verbote. Am Ende brauchen wir eine neue politische Kultur. Denn wir dürfen nie vergessen, dass unser Chef eben nicht der Fraktionsvorsitzende und nicht die Regierung ist, und erst recht sind es nicht die Konzernvertreter. Unser Chef ist vielmehr die Bevölkerung, und vor allem das sollten wir uns jeden Tag hinter die Ohren schreiben. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Michael Frieser für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Michael Frieser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004034, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ein bisschen müssen Sie noch auf das Wochenende warten, aber ich verspreche: Es dauert nicht allzu lange. Herr Bülow, ich habe hier ein nettes Buch – ich halte es mal hoch, Frau Präsidentin –: die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages. Darin steht genau und sehr eingehend, was man machen darf. Leider Gottes steht darin nichts über den Missbrauch der Debattenkultur. Aber wir haben es in der letzten Zeit leider Gottes schon öfter erlebt, dass man ein Thema anmeldet, aber dann zu einem ganz anderen redet. ({0}) Ihr Einverständnis vorausgesetzt, Frau Präsidentin: In § 8 der Anlage „Verhaltensregeln für Mitglieder des Deutschen Bundestages“ heißt es zum Verfahren: Bestehen Anhaltspunkte dafür, dass ein Mitglied des Bundestages seine Pflichten nach den Verhaltensregeln verletzt hat, holt der Präsident zunächst dessen Stellungnahme ein und leitet eine Prüfung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht ein. Das ist genau das, was passiert, und ich kann nur sagen: Wer in einer solchen Debatte versucht, eine Vorverurteilung herbeizuführen, zeigt seine schräge Auffassung von parlamentarischer Demokratie und sorgt am Ende in der Tat für Intransparenz, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({1}) Das sollten wir auch dem Kollegen Amthor nicht antun. Denn das, was hier durch den Bundestagspräsidenten getan wird, ist absolut eindeutig. Deshalb gibt es Verhaltensregeln. Deshalb gibt es genau die Regeln, die uns vorzugeben versuchen, in welcher Art und Weise wir nach dem Abgeordnetengesetz, das Tätigkeiten auch außerhalb des Mandates möglich macht, dieses tun. Da kommt man mit der Saubermann-Rhetorik der AfD keinen Zentimeter weiter. Wollen wir wirklich über die undiskutierten und nicht nachverfolgbaren Spenden aus dem Ausland reden? Wollen wir wirklich über Plakataktionen reden, bei denen keiner weiß, welcher Verein eigentlich dahintersteht? Das sind Reden, die allenfalls Klickzahlen bei Russia Today bringen werden, aber für die parlamentarische Demokratie führen sie uns keinen Zentimeter weiter. ({2}) Dann versuche ich doch noch mal darauf hinzuweisen: Die Verhaltensregeln, die wir haben, sollen es dem Bürger und der Bürgerin ermöglichen, sich selbst ein Bild davon zu machen, in welchen theoretischen Beziehungen, vielleicht sogar auch Abhängigkeiten, der einzelne Abgeordnete steht. Das ist das Entscheidende daran. Daran können wir ständig weiterarbeiten. Aber das Thema Lobbyismus hat damit überhaupt nichts zu tun. Damit ist das Thema verfehlt. Denn bei Lobbyismus geht es um Interessenvertretung, und Interessenvertretung in der Politik ist so alt wie die Politik selbst. Das ist doch wahrlich nichts Neues. Auch das regelt bisher schon der Deutsche Bundestag in der Geschäftsordnung – noch ein kurzes Zitat, Frau Präsidentin –: Der Präsident des Bundestages führt eine öffentliche Liste, in der alle Verbände, die Interessen gegenüber dem Bundestag oder der Bundesregierung vertreten, eingetragen werden. Darüber, dass das nicht reicht, sind wir uns vollkommen im Klaren. Dass aus der Wirtschaft, aus den Unternehmen selbst, der Wunsch kommt, in Verbindung mit ihren eigenen Compliance-Vorschriften deutlich, transparent und offen zu sagen, wer an welcher Stelle in der Politik für seine Interessen einsteht und natürlich auch versucht, Einfluss geltend zu machen, das ist etwas, das wir regeln sollten. Zu den Krokodilstränen über die Frage, ob die Anhörung im Juli oder am 1. Oktober stattfindet, kann ich nur sagen: Wer der Sache dienlich sein will, der bereitet eine ordentliche Anhörung vor, die gemeinsam, hoffe ich, zu einem Ergebnis und am Ende des Tages zu einem Gesetzentwurf führt, der nicht außerhalb des Hauses produziert worden ist. ({3}) Am Ende des Tages eint uns eines: die Unabhängigkeit des Mandates. Selbstverständlich ist jeder Kollege selbst dafür verantwortlich. Es gibt einen schönen Spruch von Curt Goetz, der sinngemäß lautet: Hätte er ein Gewissen, hätte er nicht Abgeordneter werden dürfen. – Aber genau darum geht es: das Gewissen selbst zu überprüfen. Da sind die Leitlinien eindeutig. Unabhängigkeit kann nur gewährleistet sein, wenn ich auch transparent mache, was ich vor dem Bundestag getan habe, was ich währenddessen tue und was ich danach tue. Dann können der Wähler und die Wählerin die Entscheidung darüber treffen. Eine Vorverurteilung in einem unglaublich nebelkerzengeschwängerten Luftraum dieses Deutschen Bundestages, um einen Showdown zu haben, am besten noch bevor der Präsident bei seinen Untersuchungen herausfindet, dass am Ende des Tages wohl kein Verstoß gegen die Verhaltensregeln vorlag, ist zu wenig. Das bietet tatsächlich zu wenig Aufmerksamkeit. Ich wünsche trotzdem ein schönes Wochenende. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Frank Schwabe für die SPD-Fraktion. ({0})

Frank Schwabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003846, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Ich habe das Privileg, als letzter Redner der Woche jetzt zum Thema „Transparenz und Verhinderung von Bestechung und Korruption“ zu reden. Was wir als Bundestagsabgeordnete haben, ist in der Tat ein besonderes Privileg. Wir sind Interessenvertreter und Interessenvertreterinnen unterschiedlicher Gruppen in der Gesellschaft, und das ist auch okay so. Was aber nicht okay ist, ist, wenn das, was wir als Interessenvertretung tun, mit persönlichen Interessen verquickt wird. Dafür, dass das nicht geschieht, gibt es eine Versicherung. Die Versicherung für die Gesellschaft und für uns selbst, für jeden einzelnen – vielleicht auch für Philipp Amthor –, ist die Möglichkeit der Transparenz und die Schaffung maximaler Transparenz. Ich komme nicht umhin, zu sagen, dass auch insbesondere die Unionsfraktion bei so vielen Themen in der Vergangenheit auf der Bremse gestanden hat. Wie lange hat es gedauert, bis wir die Offenlegung von Nebentätigkeiten – im Übrigen immer noch nicht auf Heller und Pfennig – hier vereinbaren konnten! Beim Lobbyregister reden wir nicht über Mimikry eines Lobbyregisters zu etwas, das am Ende gar nicht weiterhilft, sondern über ein vernünftiges, umfassendes Lobbyregister. Und ich will daran erinnern, dass es eine Antikorruptionsorganisation des Europarats gibt, die uns was ins Stammbuch geschrieben hat. Wir haben gerade mal drei von acht dieser Empfehlungen in Deutschland vernünftig umgesetzt. Das muss dringend anders werden. Der Fall Philipp Amthor offenbart – der Kollege Bartke hat es schon gesagt – ein systematisches Problem der CDU in Mecklenburg-Vorpommern. Ich will über den Fall Karin Strenz reden. Da muss man im Übrigen gar nicht viel vorverurteilen, weil eigentlich das meiste mittlerweile bekannt ist. Die Kollegin ist aber immer noch Mitglied Ihrer Fraktion. Und am Fall Karin Strenz wird im Übrigen deutlich, was Bestechung bedeutet oder bedeuten kann: ({0}) Da geht es nämlich um Leben und Tod, wenn andere Länder Abgeordnete auf ihrer Payroll haben, um sie zu beeinflussen. Frau Strenz ist Lobbyistin für Aserbaidschan. Sie hat gelogen. Sie hat Geld aus Aserbaidschan bekommen und dafür eine Leistung erbracht. Deshalb habe ich sie als korrupt bezeichnet und tue das auch weiterhin. Frau Strenz hat nachweislich mindestens 22 000 Euro aus Aserbaidschan bekommen. Sie hat das Geld mittelbar bekommen über eine Tarnorganisation, die der ehemalige Verteidigungsstaatssekretär der CSU, Eduard Lintner, geleitet hat. Sie hat gelogen, indem sie im Vorfeld einer Wahlbeobachtungsmission in Aserbaidschan 2015 schriftlich versichert hat, keinen Interessenkonflikt zu haben. Sie hat 2010 eine über Aserbaidschan organisierte sogenannte Wahlbeobachtung geleitet und darüber gesagt, es sei eine gute Wahl nach internationalen Standards gewesen. In der Tat gibt es mittlerweile eine Strafe, ein Ordnungsgeld des Deutschen Bundestags von etwa 20 000 Euro, aber aufgrund von Verfahrensversäumnissen. Der Europarat hat in einem Bericht einer unabhängigen Kommission festgestellt, dass Frau Strenz in ihren Aktivitäten in der Parlamentarischen Versammlung einen andauernden Interessenkonflikt in Bezug auf Aserbaidschan habe. Und sie hat mittlerweile ein Betretungsverbot beim Europarat, und zwar lebenslang, und – das wurde gerade schon gesagt – die Staatsanwaltschaft hat Ermittlungen aufgenommen; die Immunität ist aufgehoben. Aber Frau Strenz ist immer noch – sie ist gerade nicht hier – in den Reihen der CDU/CSU-Fraktion. ({1}) Ich zitiere Ihren Parlamentarischen Geschäftsführer Michael Grosse-Brömer – er ist nicht da –; ich habe ihn mehrfach danach gefragt. Er hat am 25. April 2018 im „Tagesspiegel“ gesagt – ich zitiere –: Für mich besteht kein Anlass, Frau Strenz wegen des Verstoßes gegen Verhaltensregeln aus der Fraktion auszuschließen. Eines ist klar: Sie haben eine Lobbyistin für Aserbaidschan in Ihren Reihen. Es gibt einen ehemaligen Abgeordneten aus Ihren Reihen, der als Lobbyist überführt worden ist und ein internationales Netzwerk zum Schutz dieses Regimes organisiert. Warum ist das wichtig? Weil die mangelnde Transparenz unserer bisherigen Verhaltensregeln das alles ermöglicht hat und weil es die Aufklärung behindert. Deswegen fordere ich uns auf, endlich das zu tun, was GRECO empfohlen hat: nicht nur drei von acht Empfehlungen, sondern auch die fünf anderen Empfehlungen umzusetzen. Wir brauchen eine Ad-hoc-Offenlegung in aktuellen Fällen wie dem von Herrn Amthor. Warum kann ihn der Bundestagspräsident nicht verpflichten, etwas dazu sagen, was er da treibt? Wir brauchen eine umfassende Offenlegungspflicht für alle Unternehmensbeteiligungen. Wir brauchen eine vernünftige personelle Ausstattung des Bundestages. Man kann die besten Regeln haben: Wenn man sie nicht überprüfen kann, dann funktioniert es auch nicht. Und wir brauchen ein Lobbyregister, umfassend und gesetzlich verankert. Das liegt im Übrigen seit der letzten Legislaturperiode – Eva Högl hat ihren Namen daruntergesetzt – auf dem Tisch. Philipp Amthor will ich nur einen Ratschlag mitgeben: volle Transparenz – das macht er natürlich nicht –, alles sagen, was ist, und dann kann man entsprechend bewerten. So eine Salamitaktik führt nur dazu, dass man sich am Ende mehr ins Unrecht setzt, und das ist nicht gut. Deswegen: Lassen Sie uns den Fall in der Tat nutzen, jetzt endlich die Regeln in diesem Parlament anzupassen. Vielen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Aktuelle Stunde ist beendet.