Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Am 1. Juli beginnt die deutsche EU-Ratspräsidentschaft. Das ist eine Aufgabe, auf die ich mich sehr freue und auf die sich die ganze Bundesregierung sehr freut; denn Europa braucht uns, so wie wir Europa brauchen: nicht nur als historisches Erbe, das wir geschenkt bekommen haben, sondern als ein Projekt, das uns in die Zukunft führt. Europa ist ja nicht einfach etwas, das wir besitzen. Es ist etwas, das wir gestalten können und müssen. Europa ist eine offene, eine dynamische Ordnung des Friedens und der Freiheit, die wir stetig verbessern können und müssen.
Europa lag am Boden, als es geschaffen wurde; zerstört, zersplittert und zerstritten nach der Katastrophe des Vernichtungskriegs und des Zivilisationsbruchs der Shoah, verursacht durch die nationalsozialistische Gewaltherrschaft, durch Deutschland. Und dennoch gelang es den Gründungsvätern und ‑müttern, das tiefe Misstrauen, die bitteren Erfahrungen aus Krieg und Vertreibung nicht zu vergessen, nicht zu leugnen, sondern anzunehmen und in ein friedliches, demokratisches Europa zu verwandeln. Sie schufen damals mit dem unbedingten Willen zur Versöhnung aus den Trümmern der feindlichen Nationalstaaten eine europäische Gemeinschaft. Ausgehend von einer Wirtschaftsgemeinschaft, verpflichteten sich Mitglieder, Grenzkontrollen abzuschaffen und Freiheit und Rechtsstaatlichkeit zu verbürgen. Das war die Lehre aus dem furchtbaren Krieg: dass in Europa nie wieder der nationalistische, rassistische Wahn einzelne Menschen oder Gruppen ausgrenzen und entmenschlichen dürfte, dass in Europa die politische, kulturelle, religiöse Vielfalt der Menschen nicht nur respektiert, sondern beschützt werden muss.
Wir sind als Europäische Union gewachsen. Die Europäische Union hat sich nicht nur erweitert, sondern sie hat sich auch vertieft. Europa ist nicht nur einfach größer geworden, sondern hat auch mit jedem Gipfel, jeder Verhandlung, jedem Konflikt, jeder Auseinandersetzung an Substanz und – ja, auch das, wenn auch manchmal unendlich mühsam – an gegenseitigem Verständnis gewonnen.
Das hat uns auch ermöglicht, viele Krisen zu bestehen: die Ablehnung der europäischen Verfassung vor der letzten deutschen Ratspräsidentschaft 2007, die Finanzkrise und die europäische Staatsschuldenkrise, die uns ab 2008 erschüttert haben, und zuletzt 2015 die großen Flüchtlingsbewegungen. Das alles war wahrlich nicht immer leicht. Da gab es bittere Konflikte, und es gab auch Verletzungen. Es gab auch immer wieder Missverständnisse oder Fehleinschätzungen. Aber sie haben nie zum Bruch, nie zur Absage an Europa geführt. Daran, so paradox das auch erscheinen mag, ändert auch ein Einschnitt wie der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union nichts. Nein, mehr noch: Auch diese Entscheidung, die wir uns gewiss nicht gewünscht haben, hat letztlich nur dazu geführt, dass uns 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union sogar stärker denn je die Gewissheit leitet, es nur als Gemeinschaft schaffen zu können, unsere europäischen Werte und Interessen zu leben und weltweit zu behaupten. Das ist eine ungeheure Leistung aller in der Europäischen Union.
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Vielleicht, meine Damen und Herren, leidet Europa auch daran, dass wir, die wir Europa wollen, zu selten sagen, worauf wir stolz sein können. Vielleicht leidet Europa auch daran, dass wir es zu lange als selbstverständlich genommen haben, dass wir es zu sehr den Gegnern überlassen haben, über Europa zu sprechen, anstatt dass wir, die wir von Europa überzeugt sind, es zum Kern der politischen Diskussion machen. Das beinhaltet natürlich auch Kritik oder Ungeduld, die Europa genauso braucht wie Fantasie und Gemeinsinn.
Deswegen lassen Sie mich hier auch ganz persönlich sagen: Als Deutsche, als jemand, die die ersten 35 Lebensjahre in der DDR gelebt hat, erfüllt mich Europa mit seinem demokratischen Versprechen von Freiheit und Gleichheit unverändert mit großer Dankbarkeit
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und mit der Verpflichtung, mich mit ganzer Kraft für dieses europäische Versprechen einzusetzen; denn Europa wird nicht das Europa sein, das wir wollen, wenn wir es passiv und bequem hinnehmen. Europa wird nur wachsen und gedeihen, wenn wir unsere ganze Kraft darauf richten, wenn wir Ehrgeiz dafür entwickeln, was aus Europa noch werden kann.
Wir übernehmen diese Verantwortung in einer Zeit, in der die Europäische Union der größten Herausforderung ihrer Geschichte gegenübersteht. Und deswegen ist für die Bundesregierung diese deutsche Ratspräsidentschaft mitten in der Pandemie eine so große Herausforderung. Denn wir müssen ja einerseits die Folgen der Krise bewältigen, aber zugleich auch Europa widerstandsfähiger und zukunftsfähiger machen.
Die Krise, die wir gerade erleben, ist anders als all das, was wir seit der Gründung Europas erlebt haben. Die Coronaviruspandemie trifft uns alle, unverschuldet und unvorbereitet, in Deutschland, in Europa und in der ganzen Welt. Sie hat allein in Europa mehr als 100 000 Menschen das Leben gekostet. Wenige Wochen des wirtschaftlichen Stillstands haben ausgereicht, um vieles, was wir über Jahre aufgebaut haben, zu gefährden. Selbstverständliche Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger wurden vorübergehend eingeschränkt. Das war ein sehr hoher Preis, und der ist jedem, der an diesen Entscheidungen beteiligt war, schwergefallen, auch mir.
Die kritischen Stimmen zu den Einschränkungen der Grundrechte waren wichtig. Eine demokratische Gesellschaft, in der sich niemand regt, wenn demokratische Grundrechte angetastet werden, wäre keine. Aber es gab und es gibt besondere Umstände, unter denen ich diese Maßnahmen nicht nur für richtig, sondern für unverzichtbar gehalten habe, und manche, wie die Einhaltung des Mindestabstandes von anderthalb Metern oder das Tragen eines Mund-Nase-Schutzes im öffentlichen Raum, halte ich weiter für unverzichtbar.
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Denn, liebe Kolleginnen und Kollegen, das Virus ist nicht weg. Es ist da, solange es keinen Impfstoff und kein Medikament gibt; wir erleben es ja jeden Tag. Aber wir müssen auch zugeben: Die Pandemie hat offengelegt, wie fragil das europäische Projekt noch ist. Die ersten Reflexe, auch unsere eigenen, waren eher national und nicht durchgehend europäisch. Das war, so gut manche Gründe dafür auch gewesen sein mögen, vor allem unvernünftig.
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Denn eine globale Pandemie verlangt gemeinsames, internationales Handeln und wechselseitige Unterstützung. Ich bin froh, dass die Europäische Kommission unter ihrer Präsidentin Ursula von der Leyen so rasch und umsichtig agiert hat und uns immer wieder zu gemeinsamen Absprachen aufgefordert hat.
Die Pandemie hat uns auch Europas Abhängigkeit von Drittstaaten bei der Produktion von Medikamenten oder Schutzausrüstung deutlich gemacht. Defizite bei der Beschaffung, Bevorratung und Verteilung medizinischer Ausrüstung wurden offengelegt. Und ja, auch Unterschiede der Wirtschafts- und Haushaltslage in den EU-Mitgliedsländern wurden durch die Pandemie verschärft.
Hinzu kommt, dass die Pandemie zwar alle getroffen hat, aber nicht alle gleich. Die medizinischen und ökonomischen Folgen der Krise vertiefen die Ungleichheiten in der Europäischen Gemeinschaft. Die Pandemie zeigt uns: Unser Europa ist verwundbar. Und deswegen sage ich aus voller Überzeugung: Noch nie waren Zusammenhalt und Solidarität in Europa so wichtig wie heute.
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Kein Land kann diese Krise isoliert und allein bestehen. Sie lässt sich nur überwinden, wenn wir miteinander und füreinander handeln. Unser gemeinsames Ziel muss es jetzt sein, die Krise gemeinschaftlich, nachhaltig und mit Blick auf die Zukunft zu bewältigen, und genau das wird das Leitmotiv unserer EU-Ratspräsidentschaft sein. Ich bin überzeugt, dass im Angesicht der Pandemie das Engagement für die Europäische Union nicht nur politisch und menschlich geboten ist, sondern der leidenschaftliche Einsatz für ein solidarisches Europa sich auch wirtschaftlich als nachhaltiger erweisen wird als alles andere.
Und natürlich braucht ein starkes Europa ein starkes Deutschland. Dass dies so bleibt, dafür setzt sich die Bundesregierung mit ganzer Kraft ein, indem wir die Folgen der Pandemie entschlossen bekämpfen, und dank Ihnen, dem schnellen und entschlossenen Handeln des Deutschen Bundestages haben wir Unterstützungspakete verabschieden können, die jetzt ja auch schon gewisse Wirkung zeigen.
Damit haben wir es nicht bewenden lassen, sondern wir haben ein Konjunktur- und Zukunftspaket in Höhe von 130 Milliarden Euro vorgelegt, das wir in diesen Tagen auch im Parlament beraten. Doch zugleich sollten wir nicht vergessen, dass unsere nationalen Maßnahmen nur wirklich erfolgreich sein werden, wenn auch die anderen Mitgliedstaaten der EU stark sind und wenn unser nationales Handeln durch europäisches Handeln flankiert wird.
Um es noch einmal ganz klar zu sagen: Die Pandemie und der mit ihr verbundene Wirtschaftseinbruch sind die größte Herausforderung in der Geschichte Europas. Wie Europa im Vergleich zu anderen Regionen der Welt diese Krisen bewältigt, das wird über den Wohlstand der europäischen Bürgerinnen und Bürger entscheiden und über Europas Rolle in der Welt.
Aber die Aufgabe ist sogar noch größer; sie ist nämlich eine doppelte. Denn wir leben ja in einer Zeit, in der sich ganz unabhängig von der Pandemie unsere Art zu leben und zu wirtschaften in einem tiefen Umbruch befindet, getrieben von zwei Entwicklungen: dem Klimawandel, dem wir mit einer kohlenstoffarmen und in Zukunft CO2-neutralen Lebensweise begegnen müssen, sowie der Digitalisierung, die unsere Art zu arbeiten und zusammenzuleben fundamental verändert, und das in einem rasanten Tempo.
Und daraus folgt: Die Antwort auf die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Pandemie darf eben keine Rückkehr zu herkömmlichem Arbeiten und Wirtschaften sein, sondern muss den Wandel in ein neues Arbeiten und Wirtschaften stärken und beschleunigen.
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Davon hängt ab, ob wir nach der Pandemie kreative, wettbewerbsfähige Unternehmen und nachhaltig gesicherte Arbeitsplätze haben. Und wir wissen, dass andere in der Welt nicht ruhen, sondern sehr entschlossen und sehr robust handeln.
In diesem Geist habe ich Mitte Mai gemeinsam mit dem französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron einen 500 Milliarden Euro starken Fonds für die wirtschaftliche Erholung Europas vorgeschlagen. Dieser soll den neuen EU-Finanzrahmen in seinen ersten Jahren verstärken und vor allem die am stärksten von der Pandemie betroffenen Regionen Europas mit Investitionen in ihre Zukunftsfähigkeit unterstützen.
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Ich begrüße sehr, dass die Europäische Kommission zusammen mit dem Vorschlag für den nächsten mittelfristigen Finanzrahmen ihren Plan zur wirtschaftlichen Erholung vorgelegt hat, in dem sich auch zahlreiche Aspekte der deutsch-französischen Initiative wiederfinden. Die aktuellen Zahlen belegen ja den dramatischen Rückgang der Wirtschaftstätigkeit und Wirtschaftskraft in Europa, und deshalb müssen wir jetzt entschlossen und rasch handeln.
Daher werde ich mich dafür einsetzen, dass wir im Europäischen Rat möglichst schnell zu einer Einigung sowohl zum mehrjährigen Finanzrahmen als auch zum Aufbaufonds kommen. Die Ausgangslage ist alles andere als einfach. Aber ich hoffe darauf, dass alle Mitgliedstaaten jetzt im Geiste des Kompromisses handeln, angesichts dieser nie dagewesenen Situation.
Das Beste wäre, wenn uns eine Einigung vor der Sommerpause gelänge. Dann würden wir in unserer Ratspräsidentschaft mit dem Europäischen Parlament verhandeln, und die nationalen Parlamente hätten Zeit für die Ratifizierung des Eigenmittelbeschlusses bis Jahresende. Dann könnten beide – der mehrjährige Finanzrahmen und der Plan zur Erholung Europas, die im Übrigen zusammengehören – zu Beginn 2021 ihre Wirkung zum Wohl Europas entfalten.
Beim Europäischen Rat morgen, der als Videokonferenz stattfindet, ist zunächst nur ein erster Austausch geplant, und danach wird es intensive Konsultationen durch den Präsidenten des Europäischen Rates geben. Entscheidungen werden wir aber erst bei einem physischen Zusammenkommen des Europäischen Rates treffen können.
Der Plan zur Erholung Europas ist ausdrücklich auf die Pandemie bezogen, zielgerichtet und zeitlich begrenzt. Die Europäische Kommission wird einmalig ermächtigt, Anleihen im Namen der Europäischen Union am Markt aufzunehmen und diese für krisenbezogene Zuschüsse zu verwenden. Wir haben uns von Anfang an dafür eingesetzt, dass dies auf einer sicheren rechtlichen Grundlage geschieht, die Einstimmigkeit im Rat erfordert und die die Haushaltsrechte der nationalen Parlamente achtet. Ich begrüße daher den Vorschlag der Europäischen Kommission, diese Ausnahmemaßnahme und ihre Begrenzung im Eigenmittelbeschluss zu verankern, der dann von allen Mitgliedstaaten ratifiziert werden muss.
Dieser Fonds ist ein dringendes Gebot der Stunde, um eine nachhaltige wirtschaftliche Erholung aller betroffenen Regionen und Bereiche in Europa möglich zu machen. Nur so können wir Konvergenz, Wettbewerbsfähigkeit und den Zusammenhalt in Europa langfristig sichern.
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Wir dürfen nicht zulassen, dass die Pandemie zu einem Auseinanderdriften der wirtschaftlichen Perspektiven der EU-Mitgliedstaaten führt und damit den gemeinsamen Binnenmarkt, ein Kernelement Europas, schwächt. Und wir werden entschlossen der Gefahr entgegenarbeiten, dass sich dauerhaft ein tiefer Spalt durch Europa zieht. Wir dürfen nicht naiv sein: Die antidemokratischen Kräfte, die radikalen, autoritären Bewegungen warten ja nur auf ökonomische Krisen, um sie dann politisch zu missbrauchen.
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– Da scheint sich jemand angesprochen zu fühlen.
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Sie warten nur darauf, soziale Ängste zu schüren und Unsicherheiten zu verbreiten. Sich für eine nachhaltige Entwicklung in allen Regionen Europas einzusetzen, ist auch ein politisches Instrument gegen Populisten und Radikale.
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Meine Damen und Herren, die Erwartungen an die deutsche EU-Ratspräsidentschaft sind hoch; dessen müssen wir uns bewusst sein. Deshalb haben wir wegen der Pandemie unsere Prioritäten präzisiert, aber gleichzeitig haben wir die anderen großen Herausforderungen unserer Zeit fest im Blick. Ich möchte an dieser Stelle heute drei Bereiche nennen.
Erstens: der Klimaschutz und mit ihm der Übergang zu einer klimaneutralen Wirtschaft. Weil der Klimawandel und auch der digitale Fortschritt unsere Art, zu wirtschaften, zu arbeiten und zu leben, grundlegend und tiefgreifend verändern, haben wir, aufbauend auf den Klimabeschlüssen vom letzten Jahr, sowohl in unserem nationalen Zukunftspaket als auch beim europäischen Aufbaufonds klar auf die Förderung grünen Wachstums und des digitalen Fortschritts gesetzt. Die von der Europäischen Kommission vorgelegte Strategie für einen Grünen Deal bietet gerade bei der Erholung der europäischen Wirtschaft eine zentrale Leitlinie und auch eine große Chance, vor allem für europäische Unternehmen mit hoher Innovationskraft.
Mit Blick auf die Zukunftsfähigkeit Europas und die Zukunft kommender Generationen werden wir auch die Beratungen für ein europäisches Klimaschutzgesetz intensiv fortführen, mit dem Ziel, eine gemeinsame Position der Mitgliedstaaten zu erreichen. Unser Ziel, um das wir ja sehr gerungen haben, ist, dass wir Europas Klimaneutralität bis 2050 rechtlich verbindlich festschreiben können und dementsprechend auch die Ziele für 2030 anpassen.
Zweitens. Wir wollen die Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft voranbringen. Um den wirtschaftlichen Erfolg Europas und damit seine Handlungsfähigkeit auch zukünftig zu sichern, muss Europa sowohl technologisch als auch digital souverän werden. Denn die Pandemie hat überaus deutlich gemacht, in welchen Abhängigkeiten sich Europa im digitalen Bereich befindet, sowohl was Technologie, aber auch was Dienstleistungen betrifft.
Dabei bedeutet digitale Souveränität nicht, dass wir in Europa alles können müssen. Wir müssen aber in der Lage sein, selbst zu entscheiden, wo europäische Unabhängigkeit geboten ist und wie wir sie umsetzen wollen. Das gilt etwa für den Aufbau einer sicheren und vertrauenswürdigen europäischen Dateninfrastruktur; das gilt aber auch für den Aufbau von Kapazitäten in kritischen Technologien wie etwa der künstlichen Intelligenz oder dem Quantencomputing. Hier wollen wir unsere EU-Ratspräsidentschaft nutzen, um weiter voranzukommen.
Drittens. Die weltweit dramatischen Folgen der Pandemie erfordern, dass Europa mehr globale Verantwortung übernimmt,
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und das in einer Zeit, in der das politische Klima nicht nur in Europa, sondern auch weltweit rauer geworden ist. Antidemokratische, autoritäre, menschenverachtende Anfechtungen – sie nehmen zu. Sie wollen das, wofür Europa angetreten ist, leugnen. Sie wollen den Rechtsstaat und die Gewaltenteilung ausgehöhlt sehen. Sie wollen die Würde des Menschen antasten, Menschen- und Bürgerrechte infrage stellen.
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Sie wollen die Auseinandersetzung mit der Geschichte, die Erinnerungskultur beenden.
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Und nicht zuletzt wollen sie uns das nehmen, was wir zu jeder Zeit existenziell brauchen: die Unterscheidung von Wahrheit und Lüge, von Information und Desinformation, von Wissen und Nichtwissen.
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Dem müssen wir uns entschieden entgegenstellen – nicht nur hier bei uns, nicht nur in Europa.
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Europa und sein Versprechen von Frieden, Freiheit und Gleichheit sind kostbar. Es kann uns nicht gleichgültig lassen, wenn es von innen und außen beschädigt wird. Jede Generation hat die Aufgabe, es neu zu gestalten, und das ist keine historische Bürde, sondern ein demokratisches Geschenk.
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Die Welt braucht somit gerade in dieser Zeit Europas starke Stimme für den Schutz der Menschenwürde, der Demokratie und der Freiheit; denn auch viele humanitäre Krisen verschärfen sich, aber treten vor den aktuellen Ereignissen scheinbar in den Hintergrund. Wir werden daher in unserer EU-Ratspräsidentschaft auch die Bedürfnisse, Anliegen und Nöte unserer Partner in der Welt in den Blick nehmen.
So wird Afrika ein außenpolitischer Schwerpunkt der deutschen EU-Ratspräsidentschaft sein. Bereits jetzt zeichnet sich ab, dass die Staaten Afrikas besonders stark unter den wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Coronaviruspandemie leiden. Zugleich haben gerade die Staaten Afrikas viel Erfahrung mit der Bekämpfung von Pandemien, wie die Erfolge Ruandas, Ugandas oder Ghanas bei der Bekämpfung des Ebolavirus eindrucksvoll zeigen. Auf dem Gipfel der Europäischen Union und der Afrikanischen Union im Oktober wird es daher darum gehen, gemeinsame Antworten auf die Krise zu finden, darauf, wie die Folgen der Pandemie abgemildert werden können. Aber es wird auch darum gehen, Afrika als Kontinent der Zukunft in den Blick zu nehmen und unsere Beziehungen partnerschaftlich zu gestalten.
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Auch Europas Beziehungen zu China werden weiterhin im Mittelpunkt unserer EU-Ratspräsidentschaft stehen. Die Entscheidung, das für den 14. September in Leipzig geplante EU-China-Treffen aufgrund der Pandemie zu verschieben, ist uns nicht leichtgefallen. Mit dem Präsidenten des Europäischen Rates Charles Michel und dem chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping bin ich mir einig, dass wir dieses Treffen nachholen. Denn gerade gegenüber einem strategischen Partner wie China ist es wichtig, dass Europa mit einer Stimme aller 27 Mitgliedstaaten spricht.
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Nur so können wir überzeugend für unsere europäischen Werte und Interessen eintreten.
Ich plädiere für einen offenen Dialog, bei dem wir mit China auch an so wichtigen Themen weiterarbeiten wie dem Abschluss eines Investitionsabkommens, Fortschritten im Klimaschutz oder unserer gemeinsamen Rolle in Afrika, aber genauso an Fragen der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte und nicht zuletzt an der Zukunft Hongkongs, wo uns die Sorge umtreibt, dass das so wichtige Prinzip „ein Land, zwei Systeme“ mehr und mehr ausgehöhlt wird. Diesen Dialog werden wir auch in der deutschen Ratspräsidentschaft fortsetzen und hoffentlich auch als EU Ergebnisse für Klimaschutz, Freihandel und Multilateralismus erzielen.
Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Coronaviruspandemie hat unser gesellschaftliches, wirtschaftliches und politisches Leben völlig auf den Kopf gestellt. Wir leben in der Pandemie. Doch so, wie Europa die letzten Krisen überwunden hat, bin ich zuversichtlich, dass wir auch diese Krise jetzt gemeinsam bestehen werden, indem wir uns frühzeitig fragen, welche Lehren wir für Europa aus ihr ziehen können und was Deutschland dazu beitragen kann.
Die von Kommissionspräsidentin von der Leyen vorgeschlagene Konferenz zur Zukunft Europas könnte dafür ein geeignetes Format sein. Wenn wir uns in diesem Rahmen auf wenige Themen konzentrieren, könnten wir in absehbarer Zeit zu konkreten und greifbaren Ergebnissen kommen, unter anderem dazu, das Schengensystem weiterzuentwickeln, das Wettbewerbsrecht zu modernisieren, um es an die Herausforderungen von Digitalisierung und Globalisierung anzupassen, eine europaweite Pandemievorsorge zu entwickeln oder einen europäischen Sicherheitsrat in außenpolitischen Fragen zu schaffen.
All das ist von größter Bedeutung, doch entscheidend und alles überragend wird sein, dass wir uns in Europa mutig füreinander starkmachen und gemeinsam neue Wege gehen.
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„Gemeinsam. Europa wieder stark machen“ – das genau ist das Motto der deutschen EU-Ratspräsidentschaft. Dafür wird sich Deutschland, dafür wird sich die Bundesregierung, dafür werde ich mich mit aller Kraft und Leidenschaft in unserer deutschen Ratspräsidentschaft einsetzen. Ich bitte Sie: Lassen Sie uns das gemeinsam tun. Ich bitte Sie deshalb für diesen Weg um Ihre Unterstützung, und ich bin überzeugt: Das Engagement für Europa, es wird sich lohnen.
Herzlichen Dank.
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Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Fraktionsvorsitzende der AfD, Dr. Alice Weidel.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Schade, Frau Merkel, wieder eine Gelegenheit verpasst, um den Bürgern reinen Wein einzuschenken, reinen Wein über die enorme Steigerung der finanziellen Lasten, die auf unser Land zukommen.
Da ist zum einen – passend zum Beginn der deutschen Ratspräsidentschaft – die dreiste Forderung der EU-Kommission, die deutschen EU-Beiträge um mehr als 40 Prozent ansteigen zu lassen. Das allein bedeutet rund 13 Milliarden Euro mehr pro Jahr. Statt den EU-Haushalt nach dem Ausscheiden Großbritanniens entsprechend zu kürzen, soll der deutsche Steuerzahler einspringen, ja sogar überkompensieren.
Zum Zweiten: das Pandemieanleiheaufkaufprogramm der EZB, das erst vor zwei Wochen auf die astronomische Summe von 1 350 Milliarden Euro aufgestockt wurde. Die Coronakrise muss auch hier als Vorwand für die quasi unbegrenzte rechtswidrige Staatsfinanzierung über die Notenpresse herhalten. Bürge der letzten Instanz ist der deutsche Steuerzahler, der obendrein noch durch die Nullzinspolitik enteignet wird. Auch dazu kein Wort von Ihnen. Ich frage mich: Haben Sie eigentlich den Warnschuss aus Karlsruhe nicht gehört? Wir haben das. Darum wird die AfD-Fraktion auch dagegen klagen.
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Drittens: der sogenannten Green Deal; Sie haben es eben erwähnt. Kommissionspräsidentin von der Leyen jongliert mit mindestens 1 Billion Euro, die sie für grüne CO2-neutrale Luftschlösser verpulvern will. Wer soll das eigentlich noch bezahlen?
Viertens: der sogenannte Wiederaufbaufonds in Höhe von 750 Milliarden Euro. Deutschland bürgt allein für 135 Milliarden Euro, mindestens. Wieder dient die Coronakrise als Vorwand, um das Tabu der rechtswidrigen Vergemeinschaftung der Staatsschulden zu brechen. In Paris, Madrid und Rom plant man schon eifrig neue Ausgabenprogramme. Die deutschen Bürger, die jetzt schon länger arbeiten, höhere Steuern zahlen und geringere Renten und Privatvermögen haben als die Bürger der Empfängerländer dieser Transfers, müssen sich dagegen auf noch höhere Belastungen einstellen.
All diesen Haftungsrisiken und Milliardentransfers haben Sie zugestimmt, Frau Bundeskanzlerin, obwohl wir in diesem Land genug eigene Probleme zu lösen haben, für die wir unser Geld dringend brauchen.
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Wir sind kein reiches Land mehr. Die Infrastruktur bröckelt. Das Bildungssystem stürzt ab. In Sachen Digitalisierung sind wir weit abgeschlagen. Die sozialen Sicherungssysteme stecken in der demografischen Doppelfalle aus alternder Bevölkerung und unqualifizierter Einwanderung in unseren Sozialstaat.
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Dazu kommt der volkswirtschaftliche Schaden durch die Coronakrise, der von Tag zu Tag größer wird. Wir haben heute bereits über 7 Millionen Kurzarbeiter. Das sind zehnmal mehr als auf dem Gipfel der Finanzkrise im Februar 2009.
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Unserem Land droht eine nie dagewesene Welle von Arbeitslosigkeit und Unternehmenspleiten. Der Mittelstand verarmt. Mit schuldenfinanzierten Ausgabenprogrammen kommen wir aus dieser Krise überhaupt nicht heraus. Nein, ganz im Gegenteil: Sie verschärfen die Krise dadurch noch mehr.
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In dieser Situation haben wir auch keine Milliarden zu verschenken; denn wir müssen uns selbst helfen, den Lockdown und die Coronaeinschränkungen unter den Schutzbestimmungen vollständig beenden, damit der Mittelstand wieder auf die Beine kommt.
Zweitens: Steuern und Abgaben deutlich und dauerhaft senken, damit Arbeitnehmer und Selbstständige wieder Luft zum Atmen haben.
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Und drittens und vor allem: Nein zu neuen Milliardentransfers und Haftungsrisiken, mit denen deutsches Volksvermögen für Euro-Rettung und Transferunion verpfändet wird. Handeln Sie bitte im Interesse dieses Landes und seiner Bürger, Frau Bundeskanzlerin,
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und verstecken Sie sich nicht länger hinter ideologisch aufgeladener Phrasendrescherei, wie Sie es leider in Ihrer Rede heute getan haben. Sehr schade für diese verpasste Chance.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Martin Schulz, SPD.
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Vielen Dank, Herr Präsident. – Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir sind durch harte Wochen gegangen, mussten schwierige Entscheidungen treffen, die nicht immer jedem gefallen haben, die aber notwendig waren und weiterhin notwendig sind. Ich finde, es ist bewundernswert, wie diszipliniert sich die Menschen in unserem Land verhalten haben und verhalten, besonders die, die nicht anders konnten, die sich nicht verstecken konnten, die jeden Tag zur Arbeit gehen mussten, die uns allen mit ihrer Arbeit geholfen haben, die den Laden am Laufen hielten. Wir sind ihnen auch in dieser Stunde nach wie vor zu großem Dank verpflichtet.
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Aber, meine Damen und Herren, das war kein deutsches Phänomen, das war nicht nur bei uns so. Es waren auch die Menschen in Italien, die am härtesten betroffen waren und immer mit Optimismus weitergemacht haben. Die Bilder singender Menschen auf den Balkonen in Rom haben uns allen das Herz bewegt. Es waren die Menschen in Spanien, das Land, das am stärksten von dieser Pandemie betroffen war und bis heute die höchsten Infektionszahlen hat. Es waren die Menschen in Frankreich, die durch den härtesten Lockdown gehen mussten. Selten haben die Menschen in Europa so sehr im gleichen Boot gesessen. Nein, wir sind nicht, wie ein Nachrichtenmagazin das am Wochenende schrieb, ein trauriger Kontinent. Im Gegenteil: Europa kämpft sich gemeinsam durch eine globale Pandemie. Deshalb ist das auch ein europäischer Moment. Dass wir das in Europa insgesamt bis hierhin so gut gemeistert haben, darauf sollten wir gemeinschaftlich stolz sein.
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Es gab auch Fehler. Grenzen wurden geschlossen, als grenzüberschreitende Hilfe notwendig gewesen wäre. Medizinale Unterstützung wurde da zurückgehalten, wo sie auch hätte gewährleistet werden können. Und – machen wir uns nichts vor – es entstand rund um die sogenannte Coronabondsdebatte der Eindruck, Deutschland sei nicht bereit zu finanzieller Solidarität. Das war absolut falsch, aber kommunikativ war es ein Desaster.
Die daraus resultierende Furcht vor dem Auseinanderbrechen Europas hat Bewegung erzeugt. Wir haben ein erstes Zeichen mit dem großen Rettungspaket von 540 Milliarden Euro gesetzt. Lassen Sie mich an dieser Stelle sagen – Frau Merkel, ich habe das gehört: Sie haben das erfunden, gemeinsam mit Herrn Macron –: Der Dank dafür gilt aber insbesondere dem Finanzminister der Bundesrepublik Deutschland, Olaf Scholz.
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Die Binnengrenzen, meine Damen und Herren, sind nun wieder auf, vor allem für die jungen Menschen in Europa, die nie Grenzen gekannt haben. Im Gegensatz zu manchen Rechtsextremisten, die gehofft haben, es gäbe jetzt Jubel, weil die Grenzen geschlossen sind, gab es den Jubel, als die Grenzen wieder aufgemacht wurden. Das ist das Europa, das die Menschen wollen.
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Wir bringen ein historisches Wiederaufbauprogramm auf den Weg, 750 Milliarden Euro, wenn der Vorschlag der Kommission umgesetzt wird. Das ist eine echte solidarische Unterstützung für die Länder, die am meisten in der Krise gelitten haben. Das ist ein historischer Schritt. In meinen Augen eine längst notwendige Souveränitätsübertragung an die EU, ein Schritt, der zu einer echten Solidarität der Tat führt. Das war der Begriff der Gründerväter Europas: Solidarität der Tat; in der Krise helfen die Starken den Schwächeren. Wir machen damit einen Schritt hin zu einem Europa, das schützt: „une Europe qui protège“, wie Präsident Macron das seit Jahren gefordert hat. Ich finde, Frau Bundeskanzlerin, dass vor allem Sie alles tun sollten, um den Vorschlag der Kommission mit der Unterstützung der Bundesrepublik Deutschland durchzusetzen.
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Wir müssen diesen Schwung in der deutschen Ratspräsidentschaft nutzen; denn – Sie haben es beschrieben, Frau Merkel – alle alten Probleme sind immer noch da. Europa spricht nicht mit einer Stimme in der Welt. In der EU respektieren Mitgliedstaaten die eigenen grundlegenden Werte der Union nicht, und ein Mitgliedstaat tritt aus. All diese Probleme sind alt, und sie müssen gelöst werden.
Wir müssen die EU umbauen zu einer echten Solidarunion, in der es eine Mindestbesteuerung für Unternehmen gibt, in der nicht die Digitalkonzerne sich an der Steuer vorbeimogeln können, in der die Klimapolitik beherzt angepackt wird, aber in solidarischer und sozialer Verantwortung, in der nicht die Überschüsse der einen die Arbeitslosigkeit der anderen sind, in ein Europa, in dem soziale Mindestsicherungssysteme und eine Arbeitslosenrückversicherung eingeführt werden, ein Europa, in dem nicht die Selbstsucht der Wohlhabenden die Verbitterung der Ärmeren provoziert; das sage ich an die Adresse der sogenannten frugalen Vier, wie diese Reichtumsseparatisten fälschlicherweise genannt werden.
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– Wissen Sie, wer sich schämen sollte, Herr Gauland?
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Der Ehrenvorsitzende einer Partei, die nicht entschieden hat, wer sie führt, Demokraten oder Neonazis, der sollte sich schämen.
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In einer solchen Solidarunion leistet jeder den Beitrag, den er leisten kann. Und wer diesen Beitrag nicht leisten will, meine Damen und Herren, sei es in der Flüchtlingspolitik oder in der Finanzpolitik, wer sich unsolidarisch zeigt, wer die grundlegenden Prinzipien der Europäischen Union mit Füßen tritt, der kann dann auch nicht erwarten, dass er ohne Sanktionen aus dem EU-Haushalt finanziert wird.
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Wir brauchen eine EU, in der die Geschwindigkeit nicht von denen bestimmt wird, die eigentlich lieber rückwärts gehen wollen. Es sind große Weichenstellungen nötig. Wenn sich die EU um die großen Fragen dieser Zeit kümmern soll, dann braucht sie dazu auch die notwendigen Kompetenzen und Ressourcen. Wenn wir in der internationalen, der globalisierten Welt Klimaschutz, Handel, soziale Gerechtigkeit, Steuerpolitik, den Frieden stabilisieren wollen, dann braucht die EU vertiefte Strukturen. Dass Sie, Frau Bundeskanzlerin, eingestanden haben, dass diese Debatte darüber bis hin zu Vertragsänderungen gehen muss, kommt etwas spät, aber es ist der richtige Weg.
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Wenn, meine Damen und Herren, wir die EU handlungsfähiger machen, dann, damit wir nicht das erleben, was wir im Umgang mit China erleben: Die einen wollen richtigerweise Sanktionen wegen Polizeiknüppeln in Hongkong, die anderen lassen sich von der Supermacht ihren Hafen finanzieren. – Aber eine EU, die nicht einig ist, ist schwach. Dabei brauchen wir mehr denn je – das ist der richtige Teil Ihrer Regierungserklärung mit den richtigen Prinzipien für die Ratspräsidentschaft – ein starkes Europa. Denn die Stabilität, die die Vereinigten Staaten von Amerika über einen langen Zeitraum der Weltordnung bei allen Fehlern gegeben haben, sie bricht ja unter diesem irrlichternden Präsidenten völlig weg.
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Wir betreten, wie die „Zeit“ es geschrieben hat, das postamerikanische Zeitalter.
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Die Rolle Europas in diesem Zeitalter ist: Europa ist nicht nur ein Staatenverbund. Europa ist eine Idee, die Idee von einem Gesellschaftsmodell, in dem Staaten über Grenzen hinweg kooperieren, auf der Basis von Werten, die ihre gemeinsame Grundlage sind. Das sind die Werte von Respekt, Toleranz, Vielfalt und Würde. Dieses Modell ermöglicht uns seit Jahrzehnten das Leben, das wir lieben, die Freiheit, in der wir leben, und den Wohlstand, den wir genießen.
Dieses Modell schützt niemand mehr für uns. Wir müssen es selbst schützen, im Wettbewerb der Systeme. Zwischen den unberechenbar gewordenen Vereinigten Staaten, einem expansiven China und dem autoritären Russland geht es für uns Europäerinnen und Europäer, für die Mitgliedstaaten der EU darum, unser Modell zu behaupten. Es geht darum, zu bestehen und mit unserer Idee einen positiven Einfluss auf die Entwicklung der Welt im 21. Jahrhundert zu nehmen. Das Momentum, das durch die Coronakrise auch entstanden ist, bietet uns dazu eine einzigartige Gelegenheit.
Unsere Ratspräsidentschaft ist deshalb eine einzigartige Chance für Europa. Lassen Sie uns doch alle unsere Kraft als Deutsche, als starke Mitgliedsnation innerhalb dieser Staaten- und Völkergemeinschaft nutzen, um diese Idee von Respekt, Würde, Toleranz und Vielfalt als Gegenmodell gegen die Staaten, die unwürdig, intolerant, respektlos und voller Verachtung gegenüber allen anderen das 21. Jahrhundert gestalten wollen, zu verteidigen. Das Beste, das Europa der Welt zu geben hat, ist Einigkeit, die stark macht.
Vielen Dank.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Fraktionsvorsitzenden der FDP, Christian Lindner.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Frau Dr. Weidel, bei Ihrer Rede habe ich mich gefragt, welche Anstrengungen Sie eigentlich unternehmen, um gelegentlich Ihren eigenen politischen Horizont zu erweitern.
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Gerade in diesen Zeiten lehrt doch eigentlich der Blick nach China und in die Vereinigten Staaten, dass wir in einem guten Land leben und dass wir das vereinte Europa schätzen lernen sollten.
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Bei allem, was man an Kritik äußern darf, sollte sie doch maßvoll sein.
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Frau Bundeskanzlerin, Sie haben kurz vor Beginn der deutschen Ratspräsidentschaft gesprochen in einer, wie Sie selbst unterstrichen haben, besonders herausfordernden Zeit. Millionen Menschen sind in Sorge um ihre wirtschaftliche Existenz und ihren Arbeitsplatz als Folge der Bekämpfung der Pandemie, als Folge des Schutzes unser aller Gesundheit. Mit dieser Ratspräsidentschaft kommt nun auf Deutschland große Verantwortung zu.
Diese Ratspräsidentschaft ist aber auch eine große Chance. Wenn man dereinst zurückblickt auf diese Zeit, dann sollte von ihr nicht in Erinnerung bleiben, dass es eine Ratspräsidentschaft der neuen Schulden gewesen sei. Im Rückblick soll man sagen: Es war keine Ratspräsidentschaft der neuen Schulden; es war eine Ratspräsidentschaft der neuen Arbeitsplätze. – Für dieses Ziel, Frau Bundeskanzlerin, wünschen wir Ihnen Erfolg und eine gute Hand.
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Wir sind schwer getroffen durch Corona. Aber diese Krise hat auch Defizite offengelegt, die es bereits vorher gegeben hat, und zwar nicht nur in Europa, sondern auch bei uns. Hier ist oft von Wiederaufbau die Rede. Im Wort „Wiederaufbau“ klingt so etwas mit, als müsse es darum gehen, den Zustand von vor Corona wiederherzustellen. Das kann nicht unser gemeinsamer Ehrgeiz sein. Die Ambition muss größer sein. Das Ziel darf nicht sein, dass es so wird, wie es vor Corona war. Das Ziel muss sein, dass es nach Corona besser ist als vorher und wir endlich lange bekannte Strukturdefizite abgestellt haben.
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Daran muss sich Politik messen, in Europa wie im Inland.
Frau Bundeskanzlerin, Sie haben diese Regierungserklärung genutzt, um auch auf die Innenpolitik und ihr Konjunkturpaket einzugehen. Deshalb erlaube ich mir dazu auch eine Bemerkung. Sie haben von den 130 Milliarden Euro gesprochen, die zusätzlich mobilisiert werden. Die Dimension ist groß, aber sicher angemessen angesichts der Herausforderungen. Jedoch ist die Frage zu stellen: Werden damit tatsächlich bekannte Strukturdefizite behoben? Die Frage ist doch zu stellen: Wenn wir 130 Milliarden Euro neue Schulden aufnehmen und damit eine jüngere Generation belasten, tragen denn diese Schulden dazu bei, dass wir demnächst einen breiteren Wachstumspfad haben, der auch bei der Entschuldung hilft? Daran sind im Inland Zweifel anzumelden. Denn das Herzstück Ihres Konjunkturpakets, um Herrn Söder zu zitieren, ist eine befristete Senkung der Mehrwertsteuer. Besser wäre es doch gewesen, kleine und mittlere Einkommen dauerhaft steuerlich zu entlasten, ein Strukturdefizit zu beseitigen und deshalb auch die Zuversicht der Menschen in der breiten Mitte des Landes zu stärken.
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Auf europäischer Ebene sind diese Zweifel ebenfalls noch nicht entkräftet. Wir wollen in dieser Krise solidarisch sein. Aber wer ist eigentlich mit wem solidarisch? Belgien hat, wenn ich es richtig erinnere, die höchste Zahl von Coronatoten pro Kopf. Belgien hat einen Wirtschaftseinbruch von über 10 Prozent. Belgien gehört zu den Staaten in der Europäischen Union mit der höchsten Verschuldung. Und trotzdem wird Belgien für die Coronahilfen mehr zahlen, als es selbst aus den Maßnahmen erhalten wird. Paradoxerweise hat die Coronakrise also keine Auswirkung auf die Coronahilfe. Es ist auch keine Überraschung, dass das so ist; denn nach den gegenwärtigen politischen Absichten, die in Brüssel diskutiert werden, orientieren sich die Coronahilfen an makroökonomischen Kennziffern der Jahre 2015 bis 2019. Sprich: Es werden nicht die Länder unterstützt, wir sind nicht solidarisch mit denjenigen, die besonders durch die Pandemie getroffen sind, sondern mit denen, die bereits vorher wirtschaftliche Probleme hatten. Wäre man böswillig, könnte man sagen: Die Hilfe geht nicht an die von der Pandemie Betroffenen, sondern in die am wenigsten wettbewerbsfähigen Volkswirtschaften
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mit den größten Reformdefiziten.
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Aus diesem Grund, Frau Bundeskanzlerin, fordern wir Sie auf, dass Sie, wenn es darum geht, diese Programme zu konkretisieren, sehr konkret darauf achten, dass es diesmal konkrete Reformzusagen gibt. Das Geld darf nicht eingesetzt werden, um Strukturdefizite erneut mit Geld zuzuschütten, sondern es muss wirklich dafür eingesetzt werden, dass ein Defizit, das schon lange bekannt war, endlich abgestellt wird, und zwar im Interesse der Menschen, die Arbeit und Ausbildung suchen.
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Über die deutschen Beiträge zu den Coronahilfen im Umfang von 750 Milliarden Euro und unsere Beiträge zum Haushalt der Europäischen Union darf man ja sprechen. Da sollten wir nicht sofort sagen: Nein, Deutschland gibt nichts, und jede Erhöhung ist ausgeschlossen. – Aber gefragt werden muss: Wofür wird das Geld eingesetzt? Mich wundert deshalb, dass über 500 Milliarden Euro gesprochen wird, ohne dass man vorher weiß, wofür. Zuerst ist doch die Frage: „Was brauchen wir?“, und danach: „Was kostet es?“; denn sonst wird aus einer Bazooka mit Wumms nur eine Gießkanne, die am Ende nichts bringt.
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Wir werden über die Frage sprechen müssen, wann und unter welchen Umständen zurückgezahlt wird. Martin Schulz sprach hier schon von einer Mindeststeuer. Es gibt Unternehmen, die wissen noch gar nicht, ob sie im nächsten Jahr noch existieren; aber die SPD will schon die Steuerlast erhöhen. Manfred Weber sagte neulich bei einer gemeinsamen Veranstaltung, wir bräuchten jetzt eigene EU-Steuern, eine EU-Digitalsteuer oder eine EU-Gewinnsteuer. Davor kann man nur warnen. Wenn die Europäische Union, liebe Kolleginnen und Kollegen der CSU, mit Ihrer Unterstützung eigene Steuern erhebt, dann wird es keine politische Kontrolle mehr über die Belastungsschraube geben. Deshalb muss von den Mitgliedstaaten, aus dem Haushalt der Europäischen Union, all das an Schulden getilgt werden, was jetzt aufgenommen wird – nicht mit neuen Steuern.
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Zuletzt – ich komme zum Schluss, Herr Präsident –: Frau Merkel, Sie haben über weitere Ziele etwa beim Klima gesprochen. Auch das unterstützen wir. Nur: Was Sie konkret gefordert haben, ist ausschließlich, die Ziele zu verschärfen. Wir haben keinen Mangel an Klimazielen; wir haben einen Mangel an wirksamen Maßnahmen, um sie zu erreichen. Deshalb würde ich anregen, dass Sie, Frau Bundeskanzlerin, sich für das Ziel einsetzen, den EU-Emissionshandel auf weitere Sektoren auszudehnen.
Sie sprechen hier in Deutschland von einer Nationalen Wasserstoffstrategie, über die man im Einzelnen sprechen kann. Dass zum Beispiel die Pkws ausgenommen werden, ist für mich paradox; aber das wäre eine innenpolitische Debatte. Im Zuge Ihrer Ratspräsidentschaft sollten wir uns doch an den Gründungsimpuls der europäischen Einigung erinnern: Am Anfang stand die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Wenn es jetzt darum geht, das europäische Einigungsprojekt zu erneuern, dann sollte an seinem Anfang die europäische Wasserstoffunion stehen,
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damit der Zukunftsenergieträger zugleich der Treibstoff für wirtschaftliches Wachstum wird.
Ich danke Ihnen.
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Jetzt ist das Rednerpult vorbereitet für den Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU, dem ich das Wort erteile, dem Kollegen Ralph Brinkhaus.
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Der freut sich so, Herr Präsident, dass wir jetzt die europäische Ratspräsidentschaft haben, dass er es gar nicht erwarten kann, zu reden. – In der Tat: Die Ratspräsidentschaft ist für uns alle eine großartige Gelegenheit, übrigens nicht nur für die Bundesregierung, sondern auch für die Parlamente.
Ich hatte gestern eine dieser Vorbereitungssitzungen auf parlamentarischer Ebene zur Ratspräsidentschaft. Da sagte ein Kollege aus dem Europäischen Parlament – ein netter Kollege –: Ihr nationalen Parlamentarier seid ja wichtig; ihr seid die Botschafter von dem, was wir in Brüssel beschließen. – Da habe ich gesagt: Nein, so ist das nicht; wir als nationale Parlamentarier sind nicht die Botschafter von dem, was in Brüssel beschlossen wird, sondern wir sind Bestandteil des Entscheidungsprozesses, wie dieses Europa gestaltet wird. – Das nehmen wir uns als Parlament auch heraus. Deswegen werden wir mitgestalten bei den wichtigen Fragen, die jetzt zu klären sind. Das ist nicht nur die Überwindung der Coronapandemie, das ist nicht nur der mehrjährige Finanzrahmen, das ist nicht nur der Kampf gegen den Klimawandel, sondern beispielsweise auch die Frage eines gemeinsamen Konzepts zur Bewältigung der Migrationsfragen, meine Damen und Herren.
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Im Übrigen ist es auch ein schönes Projekt für die Bundesländer. Deswegen bin ich froh, dass zumindest ein Ministerpräsident heute hier auf der Bundesratsbank sitzt. Herzlich willkommen, Armin Laschet!
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Es wäre schön, wenn angesichts der Europadebatten, die für dieses Land sehr wichtig sind, hier auch einmal der eine oder andere Ministerpräsident sitzen würde. Ich sehe hier auf der Bundesratsbank Vertreter von genau zwei Ländern. Da könnte noch ein bisschen mehr gemacht werden, meine Damen und Herren.
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Es ist insgesamt so: Wir haben große Fragen zu klären – überhaupt keine Frage. Wir werden auch viel über Geld reden müssen. Es ist auch gerade wieder viel über Geld geredet worden – von Herrn Schulz, von Herrn Lindner, von vielen anderen. Das ist auch wichtig. Wir werden als Union darauf achten, dass das Geld angemessen ausgegeben wird, dass es richtig ausgegeben wird. Wir werden darauf achten, wer zahlt. Wir werden aber auch darauf achten, wer zurückzahlt und dass das Ganze zurückgezahlt wird. Denn mit der neuen Generation Europas, wie es Ursula von der Leyen bezeichnet hat, muss auch ein Europa der Generationengerechtigkeit einhergehen. Es kann nicht sein, dass Konsumausgaben der Gegenwart in diesem Europa auf nachfolgende Generationen verlagert werden, meine Damen und Herren.
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Es ist auch wieder darüber gesprochen worden, dass europäische Institutionen gestärkt werden müssen, Herr Schulz. Das ist auch alles richtig; das ist überhaupt keine Frage. Aber glauben Sie, dass das der Geist von Europa ist? Glauben Sie, dass das die Menschen von Helsinki bis Valletta motiviert, an dieser europäischen Idee, an diesem europäischen Projekt zu arbeiten, wenn wir immer wieder über Geld und über Macht von Institutionen sprechen, wenn wir darüber sprechen, wer in diesem Europa welchen Posten kriegt? Schauen wir uns doch einmal an, wie die Debatte in den letzten Jahren war. Ich glaube, wir müssen diese Ratspräsidentschaft nutzen, Frau Bundeskanzlerin, um eine Renaissance der europäischen Idee hervorzurufen, um uns wieder klarzumachen, warum wir dieses Europa überhaupt wollen, warum dieses Europa wichtig ist. Das ist mehr als ein Binnenmarkt, meine Damen und Herren.
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Wenn wir uns mit Europa beschäftigen – ich habe einmal versprochen, dass ich es in jeder europäischen Debatte an dieser Stelle sagen werde –, dann müssen wir auch darüber reden, dass Europa das größte und erfolgreichste Friedensprojekt dieser Welt ist. Jean-Claude Juncker soll einmal gesagt haben
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– da hören Sie einmal gut zu! –: All diese Kosten, die wir für dieses Europa haben, sind billiger als eine Sekunde Auseinandersetzung oder Krieg. – Das gehört auch zur Wahrheit dazu, meine Damen und Herren.
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Das ist aber schwer zu erklären. Wir leben hier in Kerneuropa seit 75 Jahren in Frieden. Wir haben vergessen, wie dünn das Eis ist, auf dem wir stehen. Wir haben vergessen, wie schwierig es ist, Frieden auch unter europäischen Ländern zu halten. Deswegen müssen wir das immer wieder klarmachen. Und natürlich: Die gemeinsame europäische Idee, das ist der Binnenmarkt; das ist keine Frage. Aber das ist auch zu wenig.
Ich glaube, wir müssen uns noch mit einer dritten Dimension beschäftigen – es ist in Ihrer Rede, Herr Schulz, und in der Rede der Bundeskanzlerin angeklungen; es ist übrigens auch das große Mantra des französischen Präsidenten Macron –: die europäische Souveränität. Meine Damen und Herren, wenn wir hier als Parlamentarier weiter über das Schicksal dieses Landes und dieses Kontinentes bestimmen wollen, wenn wir selbstbestimmt und selbstbewusst sein wollen, dann müssen wir uns einer Tatsache gewahr werden: dass die Welt sich in den letzten Jahren verändert hat. Ich glaube, selbst wir Deutsche als viertgrößte Volkswirtschaft auf dieser Welt sind zu klein, um auf Augenhöhe mit China, mit Russland und mit den Vereinigten Staaten zu spielen. Wenn das für uns als viertgrößte Volkswirtschaft gilt, inwiefern gilt das dann für kleinere Länder, für Portugal, für Griechenland und auch für Bulgarien und Rumänien? Deswegen haben wir doch nur eine Chance: Wir haben nur die Chance, als Europäer gemeinsam zu agieren. Allein das ist schon dieses Europa wert.
Wir sehen doch, welcher Druck in der Vergangenheit ausgeübt worden ist. Da heißt es: Wehe, wenn ihr diese Pipeline baut. Da heißt es: Wehe, wenn ihr unsere Menschenrechtssituation ansprecht. Da heißt es: Wehe, wenn ihr verhindert, dass Unternehmen und Technologien aufgekauft werden.
Die europäische Souveränität, die unsere Gründerväter und ‑mütter nicht im Sinn hatten, ist entscheidend für die Europäische Union. „Souveränität“ heißt, dass wir stark genug sind, gemeinsam als Europäer unsere Interessen zu vertreten. Deswegen wäre es mir wichtig, dass wir während unserer Ratspräsidentschaft auch darüber reden, wie wir eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik organisieren können. Wir können das als Deutsche nicht mehr alleine.
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Wenn wir über Souveränität reden, müssen wir auch über kritische Infrastruktur und über Technologien reden. Sind wir in der Lage, unsere Mobilfunk- und Energienetze mit eigener Technik auszubauen? Sind wir in der Lage, unsere Schlüsseltechnologien im Bereich Quantencomputer oder künstliche Intelligenz in Europa unabhängig zu betreiben? Dabei geht es nicht um Autarkie – ich bin ein großer Freund davon, dass wir eine arbeitsteilige globalisierte Welt haben –, sondern es geht darum, dass wir nicht abhängig sind. Wie ist es mit den Abhängigkeiten im Rohstoffbereich? Wir haben in der Coronakrise gemerkt, dass bestimmte Medikamente oder Grundstoffe für Medikamente nur noch aus bestimmten Regionen dieser Welt kommen. Auch das ist ein Grund, das europäische Projekt weiterzuentwickeln. Es geht um Souveränität.
Ich habe damit begonnen, dass wir als nationale Parlamente uns auf die Ratspräsidentschaft freuen. Wir möchten mitgestalten, und natürlich möchten wir auch mitentscheiden, Frau Bundeskanzlerin. Damit verbunden ist die Frage: Wo ist der Anfang, wo ist das Ende der Souveränität? Wenn wir als Parlament national souverän sein sollen – das geht an die Adresse des einen oder anderen, der nationale Souveränität immer ganz nach vorne stellt –, dann können wir das nur erhalten, wenn wir gemeinsam europäisch handeln.
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Es ist wichtig, dass wir die Ratspräsidentschaft nicht nur dafür nutzen, die Coronapandemie zu überwinden – was schwierig genug ist –, sondern wir sollten die Ratspräsidentschaft auch dafür nutzen, gemeinsam das europäische Projekt weiterzuentwickeln. Es ist für uns eine Überlebensfrage.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
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Nächste Rednerin ist die Fraktionsvorsitzende der Linken, Amira Mohamed Ali.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Ja, Frau Bundeskanzlerin, Europa braucht Hilfe. Die eigentlich großartige europäische Idee droht vollkommen zerstört zu werden, aber genau das muss unbedingt verhindert werden.
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Es steht schlecht um den Zusammenhalt und die Solidarität in Europa. Das war aber schon vor der Coronakrise so. Denken wir an die rigide Sparpolitik der EU in der Finanzkrise. In den südeuropäischen Ländern wie Griechenland wurden Gesundheitswesen, Wirtschaft und viele soziale Einrichtungen über Jahre kaputtgespart. Das hat viel menschliches Elend verursacht. Es hat die Europäische Union entzweit. Hier haben die Regierenden große Fehler gemacht.
Wo war der europäische Zusammenhalt, die europäische Solidarität, als Zehntausende vor Krieg und Elend flohen und in Europa Schutz suchten? Italien und Griechenland wurden und werden bis heute weitgehend alleingelassen, und mit den Kindern, Frauen und Männern, die jeden Tag im Mittelmeer ertrinken, sterben auch die europäischen Werte. Das ist unerträglich.
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Rassisten und Nationalisten haben teilweise politische Macht errungen, in manchen Ländern regieren sie sogar. Sie stehen für ein Europa, in dem nicht alle Menschen gleichberechtigt und frei sind, aber das muss doch weiterhin unser Ziel sein. Wir alle müssen aufstehen gegen Rassismus und Diskriminierung, in Deutschland und in Europa. Auch das bedeutet Solidarität und Zusammenhalt.
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Als die Coronakrise Europa traf und Italien besonders hart, hat die EU Italien im Stich gelassen. Hilfe kam zuerst aus Kuba und China, bevor die europäischen Nachbarn halfen. Das hat tiefe Wunden geschlagen. Wenn heute immer mehr Menschen in Italien für einen EU-Austritt sind, dann müssen die Regierenden das doch verstehen und gegensteuern.
Frau Bundeskanzlerin, Sie wollen nun darauf hinwirken, dass es gemeinsame europäische Pandemiepläne gibt und dass die wirtschaftlichen und sozialen Folgen abgefedert werden. Das sind richtige Ziele. Aber Sie wollen das Problem nicht an der Wurzel packen. Schon jetzt ist klar, dass einige große Konzerne wie Amazon von der Krise sogar profitieren, aber zur Kasse werden sie nicht gebeten. Doch genau das müsste geschehen, und zwar sofort.
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Immer noch, auch in dieser Krise, wird in Europa weiter aufgerüstet. Anstatt ein Europa des Friedens zu schaffen, werden Abermilliarden für Rüstung verpulvert. Das ist unverantwortlich.
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Nach Ihren Konzepten werden am Ende die Kosten der Krise von den Familien, den Arbeitnehmerinnen, den Rentnern in Paris, Rom und Berlin bezahlt werden. Die Krise wird zulasten der Sozialsysteme gehen. Das müsste aber nicht so sein. Eine Vermögensabgabe für Milliardäre und Multimillionäre wäre zum Beispiel ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Aber darüber reden Sie nicht einmal, Frau Bundeskanzlerin, aber wir müssen darüber reden.
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Auch Ihr nationales Konjunkturprogramm hat eine gewaltige soziale Schieflage. Es bleibt beim alten Muster, dass vor allem die etwas bekommen, die bereits viel haben. Es müsste andersherum sein.
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Auch jetzt ist schon absehbar, dass Sie die Gesundheitssysteme weiter kaputtsparen werden. Vom Privatisierungskurs wird nicht abgerückt. Das ist fatal.
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Die Coronakrise trifft die Ärmsten der Gesellschaft am härtesten. Das gilt für alle europäischen Länder, es gilt für die ganze Welt. Nur ein Beispiel – Herr Laschet ist leider nicht mehr anwesend, eben war er noch da – :
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Gerade gestern kam heraus, dass sich in einer deutschen Fleischfabrik, in einem Schlachthof von Tönnies in Rheda, Nordrhein-Westfalen, mindestens 600 Menschen infiziert haben, überwiegend osteuropäische Arbeitskräfte. Schulen und Kitas in der Region mussten geschlossen werden, Tausende müssen in Quarantäne. Die Coronapandemie bringt so manche Skrupellosigkeit der Branche ans Tageslicht. Wir brauchen hier endlich europaweite verbindliche Standards. Schluss damit, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit missbraucht wird, um Menschen als billige Arbeitskräfte auszubeuten und so soziale und arbeitsrechtliche Standards auszuhebeln.
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Frau Bundeskanzlerin, Sie haben jetzt die Chance, die Weichen richtig zu stellen. Nutzen Sie sie, um die EU zu einer Gemeinschaft zu machen, in der nicht soziale Spaltung, Aufrüstung und Abschottung ganz oben stehen, sondern Solidarität, Nachhaltigkeit, soziale Sicherheit und Frieden für alle.
Vielen Dank.
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Jetzt erteile ich das Wort der Fraktionsvorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen, Katrin Göring-Eckardt.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Bundeskanzlerin! Ich bin Thüringerin, ich bin Deutsche und vor allem stolze Europäerin. Wie gar nicht so wenige in Europa bin ich in einer Diktatur geboren. Freiheit, Rechtsstaat, Gerechtigkeit – ich weiß, wie es sich ohne anfühlt. Deswegen: Europa ist und bleibt die beste Idee, die Europa je hatte.
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Doch Deutschland und Europa befinden sich in einer doppelten Krise: in der Coronakrise und in der Klimakrise. Diese Krisen meistern wir nur, wenn wir beide gemeinsam bekämpfen, meine Damen und Herren. So vergleichsweise gut, wie wir in Deutschland durch die Coronakrise gekommen sind, wären wir doch prädestiniert dafür, beim Klimaschutz jetzt wirklich eine führende Rolle zu übernehmen.
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Dazu haben Sie viele Sätze gesagt. Auch schon in Ihrer Rede anlässlich des Petersberger Klimadialogs haben Sie gesagt, dass Deutschland nicht am Klimaschutz sparen dürfe, sondern Investitionen in zukunftsfähige Technologien benötige. Aber nur Sätze zu sagen, das reicht eben nicht, sondern es braucht jetzt wirklich Taten.
In Brüssel haben Sie den nationalen Klimaplan ein halbes Jahr zu spät eingereicht: too little und too late.
Schauen wir uns das nationale Konjunkturprogramm an. Sie steigen mit 9 Milliarden Euro bei der Lufthansa ein mit flauschigen Absichtserklärungen zum Klimaschutz. Airbus hat das Ziel ausgegeben, bis zum Jahr 2030 emissionsfreies Fliegen zu ermöglichen. Wo ist denn Ihre Initiative, die europäischen Airlines gemeinsam auf Linie zu bringen, die Lufthansa voran?
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Wo ist der Plan für den Bereich Schiene? 130 Milliarden Euro und kaum etwas für die Verkehrswende.
Über Ihr Konjunkturprogramm, Frau Merkel, Herr Scholz, haben Sie gesagt: Das ist ein Paket, das schickt man in die Welt, und dann hofft man, dass der Mensch sich freut. – Wir haben zu Recht gesagt: An diesem Paket ist nicht alles falsch; da ist viel Richtiges drin. Aber das sind eben kurzfristige Investitionen. Wir glauben, es braucht einen Pakt, eine echte Verabredung mit den Unternehmen in Deutschland, mit den Unternehmen in Europa, mit den Bürgerinnen und Bürgern dieses Kontinents und dieses Landes. Es braucht einen echten Pakt, der besagt: Wir verabreden uns – für langfristige Investitionen, für zukunftsfähige Investitionen, für echte Nachhaltigkeit. Wir brauchen diese Planungssicherheit, wenn wir die große Transformation, wenn wir die große Umstellung schaffen wollen, wenn wir es schaffen wollen, aus dieser Krise herauszukommen und nicht Altes zu restaurieren, sondern Neues zu schaffen, ökologisch und gerecht, resilient für die Zukunft, meine Damen und Herren.
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Deswegen lautet meine große Bitte: Machen Sie diese Ratspräsidentschaft zur Klimapräsidentschaft.
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Das ist das Ziel, das wir brauchen. Das heißt ganz praktisch: Unterstützen Sie ein europäisches Klimaschutzgesetz, das 65 Prozent Emissionsminderungen bis 2030 verankert und jährliche CO2-Budgets definiert. Investieren Sie in den Recovery Plan, der den Zusammenhalt stärkt und eine klimafeste Wirtschaft schafft, und beenden Sie die Blockade einer Gemeinsamen Agrarpolitik, die klar auf nachhaltige Landwirtschaft setzt, die Qualität und nicht Fläche fördert,
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die Pestizide und Überdüngung drastisch reduziert und die sich ernsthaft um das Tierwohl kümmert.
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Man kann dieses Thema an diesem Tag nicht weglassen. Das, was in Nordrhein-Westfalen, das, was in den Tönnies-Werken passiert ist, das ist nicht eingeschleppt worden; das ist Folge der Arbeitsbedingungen, die wir hier haben.
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Das ist die Art und Weise, wie wir hier billiges Fleisch produzieren. Deswegen lautet meine Aufforderung: Handeln Sie endlich. Das können Sie nämlich.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland kommt nur aus der Krise, wenn es unseren Nachbarinnen und Nachbarn gut geht. Wir sind Exportland. Deswegen hat mich die Initiative von Ihnen und Emmanuel Macron wirklich erfreut. Aber warum hat es genau drei Jahre und eine Pandemie bis zu dieser Initiative gedauert? Bei der Umsetzung müssen Sie einen Gang hochschalten.
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Frau Merkel, am Ende Ihrer Kanzlerinnenschaft tragen Sie mit der Ratspräsidentschaft die Verantwortung für dieses Land und für Europa. Es ist an Ihnen, ob die Milliarden in eine krisenfeste EU und in die Zukunft unserer Kinder investiert werden. So viel Geld gibt man nur einmal aus. Ich finde, geben wir es doch für das neue Europa aus.
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Was für ein Europa wird das am Ende dieser Ratspräsidentschaft sein? Eines, das geprägt ist von Solidarität, von Gerechtigkeit, von Umwelt- und Klimaschutz? Wollen wir ein Europa, das für die Rechte der Geflüchteten eintritt, oder dulden wir weiter die schrecklichen Zustände in Elendslagern wie Moria, die die europäische Idee jeden Tag ebenso verraten wie jede und jeder einzelne Tote im Mittelmeer?
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Wird das ein Europa mit mehr Lohngerechtigkeit zwischen Frauen und Männern sein? Oder geht es weiter mit dem Rollback? Wird das ein Europa der Vielfalt sein, in dem die Menschen sagen: „Black lives matter“, oder ein Europa, in dem 100 polnische Gemeinden, Kreise und Bezirke sich de facto zur LGBTIQ-freien Zone erklärt haben? Polen und Ungarn bauen Rechtsstaat und freie Presse systematisch ab, und Ihr Parteifreund, Herr Orban, leitet alldieweil EU-Mittel in sein Oligarchennetzwerk um. Nein, dafür darf es kein europäisches Geld geben, meine Damen und Herren.
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Wenn man sich das Verständnis von einem europäischen Vorgehen am Beispiel des gemeinsamen Vorgehens gegenüber dem Regelbrecher China anschaut, dann hat man das Gefühl: Da ist der Prager Bürgermeister mutiger als der deutsche Außenminister.
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Wir müssen doch ein gemeinsames Vorgehen haben. Herr Brinkhaus, in diesem Zusammenhang haben Sie zum 5G-Ausbau gesagt, dass wir eine eigene Initiative brauchen. Ja, bitte schön; dann aber gemeinsam und mit einer klaren Ansage an China zur Art und Weise, wie dort gewirtschaftet wird und wie versucht wird, hier Strukturen aufzubauen.
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Meine Damen und Herren, wir brauchen einen neuen europäischen Aufbruch; der muss mit der Ratspräsidentschaft verbunden sein. Europa ist krisenfest zu machen, mit Solidarität als Haltung, mit einem Rechtsstaatsprogramm und mit einem echten Green Deal als Innovations- und Wirtschaftsmotor. Das ist das neue Europa, für das wir gemeinsam mit Leidenschaft kämpfen.
Danke schön.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Nezahat Baradari, SPD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Abgeordnete! Liebe Bürgerinnen und Bürger! Mit Erlaubnis des Präsidenten zitiere ich Friedrich Hölderlin:
Nah istUnd schwer zu fassen der Gott.Wo aber Gefahr ist, wächstDas Rettende auch.
Die Auswirkungen der Coronapandemie haben in Europa tiefe Spuren hinterlassen. Laut European Centre for Disease Prevention and Control haben sich aktuell über 1,49 Millionen Menschen in der Europäischen Union und in Großbritannien mit dem neuartigen Coronavirus infiziert, und rund 172 000 Menschen haben ihr Leben verloren. Die Wirtschaftsleistung der EU ist eingebrochen, Grenzen wurden geschlossen und die direkten sozialen Kontakte massiv eingeschränkt. Die internationale Politik spielt verrückt.
Wir standen und stehen vor enormen Herausforderungen. Daher muss der neue wirtschaftliche und soziale Wiederaufbau eines gesunden Europas unter dem Vorsitz der deutschen EU-Ratspräsidentschaft entschieden vorangebracht werden.
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Die Vorschläge der deutsch-französischen Initiative und die Planung der EU-Kommission sind absolut richtige Ansätze. So entschlossen wie unser nationales Konjunktur- und Innovationspaket muss auch in Europa der Wiederaufbau aussehen: stark und sozial, modern und gerecht.
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Die zeitweisen Ausfuhrbeschränkungen für medizinische Schutzausrüstung zu Beginn der Coronapandemie sind ein mahnendes Beispiel dafür, was passiert, wenn Nationalstaaten allein und unabgestimmt handeln. Dies sollte dringend geändert werden. Deshalb muss eine gemeinsame europäische Gesundheitspolitik zu den Kernaufgaben der EU gehören. Der Kommissionsvorschlag für ein eigenständiges Gesundheitsprogramm der EU, das EU4Health Programme, ist außerordentlich richtungsweisend. So soll nicht nur eine Reserve von Schutzausrüstungen und Medikamenten gebildet werden, sondern auch bei medizinischem Fachpersonal enger kooperiert und die schnelle Einsatzfähigkeit in der gesamten EU ermöglicht werden.
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Der gemeinsame Austausch von epidemiologischen Daten soll dazu führen, dass schnell und angemessen reagiert werden kann. Die dafür vorgesehenen Mittel in Höhe von 9,4 Milliarden Euro stellen die absolute Untergrenze dar und dürfen in den kommenden Beratungen nicht gemindert werden. Mit diesem Programm besteht die Möglichkeit, dass zukünftig dringend notwendige Güter nach medizinischer Notwendigkeit – Herr Lindner ist leider nicht mehr da – und nicht nach finanzieller Kraft in Europa verteilt werden.
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– Entschuldigung; Sie haben hoffentlich zugehört.
Diese Verteilung gilt ebenfalls für den hoffentlich bald zur Verfügung stehenden Impfstoff gegen Covid-19. Die internationale Geberkonferenz der EU zur Anschubfinanzierung der Impfstoffsuche Anfang Mai war mit einem Ergebnis von 7,4 Milliarden Euro ein voller Erfolg. Die Europäische Investitionsbank stellte einem deutschen Pharmaunternehmen in der vergangenen Woche einen Kredit bis zu 100 Millionen Euro zur Produktion des Impfstoffs zur Verfügung. Auch dies ist ein ermutigendes europäisches Zeichen.
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Wir wollen einen Impfstoff für die ganze Welt. Für uns gilt nicht „Europe first“, für uns gilt „Humanity first“.
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Die Anfang der Woche vorgestellte deutsche Corona-Warn-App ist fortschrittlich. Sie wird uns helfen, Infektionsketten besser nachverfolgen zu können. In einem nächsten Schritt brauchen wir eine gesamteuropäische Anwendung über Landesgrenzen hinweg. Das Ergebnis wäre ein deutlich detaillierteres Lagebild des Pandemiegeschehens in ganz Europa. Die Europäische Union hat die Kraft und die Möglichkeit dazu. Lassen Sie uns jetzt die Ärmel hochkrempeln; wir haben viel vor uns.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Geehrter Präsident! Kollegen und Zuschauer! Die Kanzlerin optimiert hier mit quasi veruntreutem Steuergeld die Steigerung der EU-Fiskalausbeutung inländischer Sparer und Steuerzahler.
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Am Ende stehen Reformverweigerung, erlernte Hilflosigkeit und immer dreisteres Forderungsgebaren der Wohltatsadressaten. Mit der Fremdfinanzierung nationaler Sozialpolitik in dem unsäglichen SURE-Vorhaben, dem ominösen Recovery Fund oder von der Leyens 750-Milliarden-Pseudoprogramm runden Sie die ganze schlechteuropäische Antisubsidiaritätsorgie ab.
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Mit herbeigeredeter Not wird sich nach rein französischem Oktroi und seinen Nutznießern gerichtet. Mit systemwidrigen Nichtleistungsanreizen für anderer Leute Regierung, Staatshaushalt und Wirtschaft wird hierbei selbst der Keynesianismus ad absurdum geführt. Großteils verschenktes Geld für andere Staaten als Kaufprämie für renditelose Konsuminvestitionen – wofür? Und das, während hierzulande nicht nur die Infrastruktur verrottet. Ich gratuliere!
Mit Panik und Hysteriestrategie haben Sie das Land nacheinander getrieben vom Euro-Politikwahn, der die Finanzen ruiniert, in den Klimapolitikwahn, der die Umwelt schädigt, in den Coronapolitikwahn, der auf die Wirtschaft wirkt wie eine Neutronenbombe.
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Kein neuer Spuk hat je den alten aufgelöst, wie manche hoffen. Nein, drei apokalyptische Reiter sitzen uns zugleich im Nacken, und der vierte ist auch schon eingetroffen: eine völlig überkandidelte Antidiskriminierungspolitik, die die Bevölkerungsmehrheit diskriminiert und Polizei und Justiz genauso durchdysfunktionalisiert, wie es beim Militär schon gelungen ist.
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Dabei geht Nachbarschaftshilfe auch international über Sachleistungen und dergleichen. Corona ist genau nicht das Erdbeben von Haiti, als das es verkauft wird. Das letzte sinnvolle Krisenmanagement Brüssels liegt 50 Jahre zurück: die strategische Ölreserve, die ganz unspektakulär für genau 90 Tage den Öl- und Treibstoffbedarf abdeckt – Punkt. Genau das – und nur das sollte man machen – kann man auch ganz unspektakulär für Medizingeräte, Arzneibedarf etc. vorsehen. Aber beispielsweise der herbeigeredete Bedarf an Atemgeräten hat sich inzwischen offenbar in Luft aufgelöst und oft genug auch noch als tödliche Fehlbehandlung herausgestellt. Die mit heißer Nadel gestrickten monetären Hilfs-, Not- und Krisenprogramme dürften sich als betrügerische Haustürgeschäfte erweisen.
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Fällig wäre vielmehr eine nachhaltige, ganzheitliche, allumfassende deutsche Nichtzuständigkeitserklärung für derlei fremdbestimmte Anliegen. Just say no.
Ein letztes Wort. Herr Brinkhaus, Sie hatten so schön die Friedensdividende usw. erwähnt. Ich darf darauf aufmerksam machen: Der wunderbare Finanzhistoriker – Oxford usw. – Niall Ferguson hat 2011 festgestellt, dass die damaligen Finanzrettungsübungen der EU den Kosten eines Weltkriegs entsprachen. Das war 2011.
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Deswegen hat die EU in 2012 völlig zu Recht den Friedensnobelpreis bekommen. Denn sie hat bewiesen, dass man im tiefsten Frieden einen Schaden auf Weltkriegsniveau anrichten kann.
Ich danke.
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Jetzt hat das Wort der Kollege Alexander Dobrindt, CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir brauchen Europa als Wachstumsgaranten. Deswegen, lieber Herr Weyel, kann ich überhaupt nicht nachvollziehen, was Sie versuchen hier bezüglich der Politik Deutschlands gegenüber Europa darzustellen. Sie reden jetzt in dieser Phase darüber, dass es eine Antisubsidiaritätsorgie gebe, Sie reden von Veruntreuung von Steuergeldern. Das ist ja alles in der Tradition dessen, was man in den letzten Tagen gehört hat. Ihr Kollege Gottschalk spricht von Deutschland als Melkkuh Europas.
Ich kann Ihnen nur sagen: Es macht einen entscheidenden Unterschied, ob der Nachbar in Schwierigkeiten geraten ist, weil er seine Lohntüte verzockt hat oder weil er durch eine Katastrophe betroffen ist, die er nicht selbst verschuldet hat. Genau dieser Unterschied macht dann auch aus, ob wir solidarisch sind oder ob wir skeptisch gegenüber unserem Nachbarn sind. Ich kann Ihnen nur sagen: Wir stehen auf der Seite der Solidarität. Es macht für uns eben einen Unterschied. Ich will Ihnen an dieser Stelle sagen: Wer in dieser entscheidenden Phase Europas davon spricht, dass Deutschland die Melkkuh ist, weil wir uns finanziell engagieren, der muss aufpassen, dass er nicht zum Rindvieh in diesem Parlament wird, meine Damen und Herren.
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Wir brauchen ein Europa im Aufschwung. Wenn Europa im Abschwung ist, kann Deutschland nicht in einen Aufschwung kommen. Deswegen ist es umso bedeutender, dass wir jetzt in unserer Ratspräsidentschaft nicht nur ein Paket zur Bewältigung der Krise schnüren, sondern dass wir vor allem auch eine Agenda für den Aufbruch schnüren.
Zu dieser Agenda für den Aufbruch gehört natürlich, dass wir über ein souveränes Deutschland und über ein souveränes Europa reden, dass wir über Innovationen in Deutschland und in Europa reden, dass wir die Widerstandsfähigkeit Europas stärken bzw. – so nennt es die Bundeskanzlerin – dass wir an einem starken Europa bauen. Das ist uns übrigens schon einmal gelungen: in unserer letzten Ratspräsidentschaft 2007. Ich darf mal daran erinnern: Damals war Europa auch in einer politischen Krise. Der europäische Verfassungsvertrag war gescheitert, weil die Bevölkerung ihn in Referenden abgelehnt hat. Damals haben wir mit der Berliner Erklärung den Weg aus der Krise gewiesen.
Heute steht Europa vor noch größeren Herausforderungen. Unsere Ratspräsidentschaft muss die Agenda des Aufbruchs bringen mit Souveränität, mit Wachstum, ja, natürlich auch mit ökologischem Wachstum; auch das gehört dazu. Wir müssen den Willen haben, als Europa ein aktiver Spieler auf der Weltbühne zu sein und nicht der Spielball zwischen den Machtzentren.
Ein aktiver Welthandel gehört natürlich dazu. Ja, Wettbewerb und Partnerschaft gehören gleichermaßen dazu. Dazu gehört, den internationalen Austausch auch im Bereich der Wirtschaft zu aktivieren und zu pflegen. Aber es gehört nicht dazu, einseitige Abhängigkeiten zu bestimmten Regionen der Welt zu akzeptieren.
Deswegen ist es ein besonders wichtiges Signal dieser Koalition, dass wir die Souveränität in unserem Paket zur Krisenbewältigung stark betont haben, unter anderem hinsichtlich der Versorgung mit Medikamenten, der Versorgung mit medizinischen Produkten. Da Deutschland und Europa zu stärken, die Produktion wieder mehr bei uns zu beheimaten – auch das ist eine Aufgabe. Ich bin Bundesgesundheitsminister Jens Spahn sehr dankbar, dass er mit der Impfallianz gemeinsam mit Frankreich, Italien und den Niederlanden dafür gesorgt hat, dass wir zukünftig Zugriff auf circa 300 Millionen Impfdosen haben, wenn der Impfstoff wirkt und zur Verfügung gestellt wird. Auch das ist ein wichtiger Beitrag für eine europäische Souveränitätsoffensive, meine Damen und Herren.
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Natürlich geht es auch um Sicherheit. Es geht auch um Schlüsseltechnologien. Es geht um künstliche Intelligenz. Es geht um Quantencomputer. Es geht darum, dass wir in Europa auf eigenen Beinen stehen können. Es geht darum, dass wir die Abhängigkeiten reduzieren. Deswegen, Frau Bundeskanzlerin, lautet unsere dringende Bitte, das Thema Souveränität auch zu einem Schwerpunkt unserer Ratspräsidentschaft zu machen.
Meine Damen und Herren, das Geld, um das es geht und das angesprochen worden ist, muss in die Modernisierung der europäischen Staaten fließen und darf nicht zur Verlängerung von maroden Haushalten führen. Das ist ein Teil unseres Projektes. Lieber Martin Schulz, ich darf Sie an dieser Stelle ansprechen, weil Sie in Ihrer Rede despektierlich über die sogenannten sparsamen Vier gesprochen haben. Ich habe keinen Zweifel an Ihrer europäischen Kompetenz und Ihrer langen Erfahrung in Brüssel und in Europa. Aber ich glaube, dass man sehr vorsichtig damit umgehen muss. Nicht alles, was da von diesen Vieren vorgeschlagen wird, hat unsere Zustimmung, erst recht nicht meine Zustimmung. Aber dass man diejenigen, die versuchen, sich für solide Finanzen in Europa einzusetzen, pauschal als Reichtumseparatisten diffamiert, das ist der falsche Weg; denn das spielt genau denjenigen in die Hände, die entweder Dauerschulden wollen oder die raus aus Europa wollen. Das ist nicht unser Ziel.
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Meine Damen und Herren, noch einen Punkt an dieser Stelle, weil auch er dazugehört. Wir haben in den vergangenen Wochen ein Urteil des Verfassungsgerichtes zum Handeln der EZB bekommen. Dies spielt – das muss es auch – bei den weiteren Beratungen eine große Rolle, nicht nur in Deutschland, sondern auch in Brüssel. Das Verfassungsgericht hat sich nicht nur mit den Finanzen auseinandergesetzt, sondern auch mit der zentralen Frage des Verhältnisses der Mitgliedstaaten gegenüber der Europäischen Union. Meine Bitte, Frau Bundeskanzlerin, ist – auch das muss angesprochen werden –: die Reaktion Brüssels, die Reaktion der Europäischen Union und die Reaktion der europäischen Institutionen auf ein Gerichtsurteil des Bundesverfassungsgerichts. Ich fordere mehr Sensibilität ein. Überheblichkeit der europäischen Institutionen in Bezug auf ein Urteil des deutschen Verfassungsgerichts ist nicht akzeptabel. Wenn ein EZB-Ratsmitglied sagt, das Urteil sei lächerlich, und die Kommission möglicherweise mit einem Vertragsverletzungsverfahren droht, dann kann man nur sagen: Ein Europa der Akzeptanz braucht Argumente und weniger Arroganz.
Herzlichen Dank.
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Jetzt hat das Wort der Kollege Andrej Hunko, Die Linke.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin! Europa verfügt über ein weltweit einzigartiges System des Menschenrechtsschutzes. Ich spreche von der Europäischen Menschenrechtskonvention und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Jeder Bürger von Lissabon bis Wladiwostok, von Reykjavik bis Antalya hat ein Individualklagerecht. Auch jeder Mensch auf europäischem Boden hat dieses Individualklagerecht – inklusive der Flüchtlinge auf dem Mittelmeer oder der Jugendlichen in griechischen Lagern. Ich finde, dieses System muss gestärkt werden.
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Aber wir leben in einer Zeit, in der das Menschenrechtssystem der Menschenrechtskonvention unter Druck steht. Rechtspopulisten in Europa wollen es schwächen wie auch große Mitgliedstaaten des Europarates. Auch ist die Europäische Union – das will ich hier ansprechen – bis heute der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht beigetreten, obwohl das im Lissabon-Vertrag festgelegt worden ist. Wir fordern, dass dieser Beitritt endlich auf den Weg gebracht wird.
({1})
Alle dreizehneinhalb Jahre hat Deutschland den Vorsitz der EU und alle dreiundzwanzigeinhalb Jahre den Vorsitz des Europarates inne. Nun haben wir die besondere Situation, Frau Kanzlerin, dass beides in diesem Jahr zusammenfällt. Ab dem 1. November wird Deutschland auch den Vorsitz des Europarates innehaben. Es bietet sich also die einmalige Chance, die Lösung dieses Problems, die Behebung dieses unhaltbaren Zustands endlich auf den Weg zu bringen. Ich freue mich, dass die Justizministerin Lambrecht gestern im Europaausschuss gesagt hat, dass im Herbst die Verhandlungen wieder aufgenommen werden. Frau Merkel, bitte sorgen Sie dafür, dass das endlich umgesetzt wird. Ich weiß, es gibt juristische Hürden, von Luxemburg eingezogen, aber alle Experten sagen: Wenn der politische Wille da ist, kann dieser Beitritt endlich vollzogen werden. Bitte sorgen Sie vielleicht zum Ende Ihrer Kanzlerschaft für diesen Beitritt.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Nächster Redner ist der Kollege Eckhardt Rehberg, CDU/CSU.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Mitgliedstaaten erwarten Defizite von 7 Prozent des BIP und mehr. Die Schuldenquoten steigen, in manchen Mitgliedstaaten werden es über 150 Prozent sein. Da erschrecken natürlich manche. Das Hilfspaket in der Größenordnung von 540 Milliarden Euro durch den ESM, die Europäische Investitionsbank und SURE, der Vorschlag des französischen Präsidenten und der deutschen Bundeskanzlerin für einen Wiederaufbaufonds von 500 Milliarden Euro und Mittel aus dem zukünftigen mehrjährigen Finanzrahmen, zu dem parallel die Gespräche laufen, ergeben, wenn man alles addiert, über 2 Billionen Euro. Da stellt sich natürlich die Frage: Ist das gerechtfertigt, ja oder nein? Ich sage ganz klar: Ja. Es ist deswegen gerechtfertigt, weil Nichtstun verheerend wäre. Nichtstun wäre verheerend nicht nur für uns als Bundesrepublik Deutschland – 60 Prozent unserer Exporte gehen in die Europäische Union –, sondern es wäre auch verheerend für Europa.
Allerdings darf das alles natürlich kein Dauerzustand werden. Ich sage klar, was wir als Unionsfraktion bei den Instrumenten, über die diskutiert wird, nicht wollen: Wir wollen keine Schuldenvergemeinschaftung.
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Die Europäische Union ist kein Bundesstaat, liebe Kolleginnen und Kollegen, und wir wollen auch keine dauerhafte Staatlichkeit der Europäischen Union mit eigenen Steuern.
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Wir wollen eine klare Zweckbindung des Wiederaufbaufonds. Und da ist es nicht dienlich, dass der italienische Außenminister Di Maio von der Fünf-Sterne-Bewegung am Tag der Verkündung des Merkel/Macron-Vorschlags davon redet, dass man in Italien doch die Steuern senken könne. Das ist nicht dienlich, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Es ist auch nicht dienlich, dass der französische Finanzminister Le Maire in einem Interview mit der „Welt“ davon redet, dass der Recovery-Fonds nur eine geringe Konditionalität haben könne. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen dafür sorgen, dass er an Konditionalität ausgerichtet ist. Dazu haben wir hier im Deutschen Bundestag die Chance; denn über die Eigenmittel zum Wiederaufbaufonds entscheiden wir hier, und unser Budgetrecht werden wir wahrnehmen. Das heißt, er muss an Konditionalität ausgerichtet sein, er muss – das sagt die Bundeskanzlerin immer wieder – Bestandteil des europäischen Haushaltes sein.
Angesichts des ganzen Geldes kommt hier – Alexander Dobrindt ist darauf eingegangen – eine hohe Verantwortung auf die europäischen Institutionen zu. Mich treibt immer wieder um, und ich sage das immer wieder an dieser Stelle: Es ist nicht akzeptabel, dass im letzten Jahr der aktuellen Förderperiode von knapp 1 Billion Euro Fördermittel knapp 300 Milliarden Euro von der Europäischen Kommission nicht umgesetzt worden sind. Das ist nicht akzeptabel, liebe Kolleginnen und Kollegen!
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Ich erwarte, dass sich Brüssel bei der Verteilung der Gelder, die wir jetzt zur Verfügung stellen, sputet und die Umsetzung nicht erst in einem halben Jahr oder in einem Jahr stattfindet. Die Pandemie ist jetzt und heute, sie muss jetzt und heute bekämpft werden und darf nicht erst übermorgen oder in noch fernerer Zukunft bekämpft werden.
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Eine letzte Bemerkung, Frau Bundeskanzlerin, eine herzliche Bitte. Die Bereitstellung dieses ganzen Geldes wird nur dann Akzeptanz finden, und zwar gerade bei den Ländern, die mehr einzahlen, als sie herausbekommen, wenn es dafür eingesetzt wird, dass Europa wettbewerbsfähiger wird, dass Europa eine bessere Zukunft haben wird, und wenn in Aussicht gestellt wird, dass die Schulden, die wir heute machen, zu Wohlstand in der Zukunft beitragen. Ansonsten, glaube ich, wird das für uns alle eine schwierige Debatte.
Herzlichen Dank.
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Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Matern von Marschall, CDU/CSU.
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Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Wir sind zu unserem Glück vereint – Frau Bundeskanzlerin, das ist der Leitsatz der Berliner Erklärung von 2007 gewesen. Frau Bundeskanzlerin, Sie waren auch zum damaligen Zeitpunkt Bundeskanzlerin, und 27 Ratspräsidentschaften später sind Sie es weiterhin, und das ist, glaube ich, die beste Garantie dafür, dass eine erfolgreiche Ratspräsidentschaft unter deutscher Führung in der zweiten Jahreshälfte erfolgen wird.
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Ich bin auch dankbar, dass wir als Parlamentarier hier darüber debattieren. Die Ratspräsidentschaft ist ja gewissermaßen das zweite legislative Organ neben dem Europäischen Parlament. Es ist allerdings durch die Exekutive bestimmt, und insofern ist es wichtig, dass wir parlamentarische Kontrolle – darüber ist geredet worden – hier auch aktiv wahrnehmen, etwa in der Bestätigung des Eigenmittelbeschlusses.
Wenn wir über das jetzt anstehende große Programm, den Recovery Plan – es trägt den Titel „Next Generation EU“, also in die Zukunft gerichtet –, diskutieren, dann, glaube ich, sollten wir uns klarmachen, dass es – darauf ist hingewiesen worden – um Souveränität in der EU geht. Verwechseln wir Souveränität allerdings bitte nicht mit der vielleicht darin enthaltenen Versuchung, uns einzukasteln, auch nicht mit der Versuchung, damit Protektionismus zu verknüpfen. Es geht um Eigenständigkeit. Und diese Eigenständigkeit verknüpfe ich mit drei Begriffen, die mit „W“ anfangen – das ist ganz gut und praktisch zu merken –: Widerstandsfähigkeit, Wettbewerbsfähigkeit und Wehrhaftigkeit.
Widerstandsfähigkeit, Herr Minister Spahn, betrifft sicher den Bereich der Gesundheit; da hätten wir besser, da hätten wir enger zusammenarbeiten können. Ich glaube, es ist wichtig, die Europäische Agentur, die diesbezüglich ja existiert, zu stärken. Wir könnten hier viel mehr Datenaustausch betreiben, wir könnten einen größeren Überblick über gemeinsame Kapazitäten im Gesundheitswesen gewinnen und uns besser gemeinsam aufstellen.
Wettbewerbsfähigkeit sollte auch ein Bestandteil sein. Dabei geht es mir vor allen Dingen um Innovation. Und wenn ich „Innovation“ sage – wir haben über die Wasserstoffinitiative in Deutschland gesprochen –, dann möchte ich das nicht nur europäisieren – Sie haben über den Afrika-Gipfel gesprochen –, sondern auch mit den Möglichkeiten gemeinsamer Kooperation mit Partnerländern, zum Beispiel im Maghreb bei der Herstellung Grünen Wasserstoffs, verbinden. So wird ein Schuh daraus, und so wird auch gezeigt, dass wir europäisch und international im Interesse des Klimaschutzes und der Entwicklung zusammen mit Afrika handeln werden. Das finde ich wichtig und wertvoll.
Und schlussendlich: Wehrhaftigkeit. Ja, wir müssen über Industriestrategie, über sensible, über strategische Industrien reden und diese auch vor Übernahmen schützen. Wir müssen sie in Europa halten; das betrifft auch die Industrie im Bereich der Rüstung.
Das sind wichtige Punkte. Diese drei sollten wir zusammenfassen: die Widerstandsfähigkeit, die Wettbewerbsfähigkeit und die Wehrhaftigkeit Europas. Und dann, glaube ich, können wir in die Zukunft blicken. Und dann, Frau Bundeskanzlerin, könnte ich mir vorstellen, dass Sie nach weiteren 27 Ratspräsidentschaften – dann sind Sie möglicherweise nicht mehr Bundeskanzlerin – vielleicht bei einem Spaziergang in der Uckermark die Kraniche aufsteigen und über Europa fliegen sehen und denken: Wir sind zu unserem Glück vereint!
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Damit schließe ich die Aussprache.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Gesundheit der Bevölkerung und deren Schutz haben oberste Priorität. Darüber sind wir uns in diesem Hause alle einig. Deswegen haben wir auch gemeinsam am 25. März den Gesundheitsnotstand für unser Land, also die epidemische Lage von nationaler Tragweite, beschlossen. Damals gab es täglich 4 000 bis 6 000 Neuinfizierte, und deswegen mussten wir handeln.
Jetzt ist die Lage jedoch auch dank des Einsatzes aller Akteure im Gesundheitswesen eine andere. Wir verzeichnen täglich lediglich 200 bis 400 Neuinfizierte. In Deutschland gibt es, meine Damen und Herren, in über einem Drittel der Landkreise innerhalb von sieben Tagen keinerlei Neuinfektionen. Deshalb stellen wir uns als FDP-Fraktion nach drei Monaten die Frage: Wann ist eine epidemische Lage eigentlich nicht mehr gegeben? Wir haben dazu ein Rechtsgutachten erstellen lassen, und das Ergebnis ist: Eine epidemische Lage setzt erstens eine Überforderung des öffentlichen Gesundheitswesens voraus. Sie setzt voraus, dass es zweitens einer zentralen Steuerung auf Bundesebene bedarf und dass drittens die Bundesländer nicht mehr in der Lage sind, die Situation eigenständig zu bewältigen.
In meinem Bundesland Schleswig-Holstein gibt es zurzeit vier Infizierte, die im Krankenhaus behandelt werden, und in den letzten sieben Tagen wurden ganze sieben Fälle gemeldet. Meine Damen und Herren, deutschlandweit sind 35 Prozent der Intensivbetten frei. Testkapazitäten, Schutzkleidung – all das ist ausreichend vorhanden. Alle diese Beispiele zeigen: Von einer Überforderung des öffentlichen Gesundheitswesens kann keine Rede mehr sein und damit auch nicht mehr von einer epidemischen Notlage.
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Selbstverständlich – und das möchte ich besonders betonen – ist Corona nicht besiegt, aber Corona ist beherrschbarer geworden.
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Die Ausgangsbeschränkungen wurden gelockert. Familientreffen können wieder stattfinden, und auch der Besuch in Pflegeheimen ist wieder möglich, was mir persönlich besonders wichtig ist.
Wenn wir die epidemische Lage aufheben, bedeutet das aber nicht, dass automatisch alle Coronabeschränkungen fallen. Selbstverständlich müssen wir auch weiterhin anlassbezogen die Abstands-und Hygieneregeln einhalten. Wie ich eben schon sagte: Anlassbezogenes, regionales und differenziertes Handeln ist erforderlich, und das setzen die Länder, meine Damen und Herren, schon seit Wochen vorbildlich um.
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Ich frage Sie als Bundesregierung: Wie können Sie von einer Überforderung des Gesundheitswesens ausgehen, wenn in dem größten Bundesland, in Nordrhein-Westfalen, die Geltungsdauer der im Landespandemiegesetz vorgesehenen epidemischen Lage gerade nicht verlängert wurde? Das passt doch überhaupt nicht zusammen.
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Meine Damen und Herren, Sonderrechte für die Bundesregierung sind jetzt nicht mehr notwendig. Parlamentsrechte – das ist mir besonders wichtig – gelten ohne Abstriche auch in Zeiten der Epidemie und des Notstandes.
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Das gilt auch ganz besonders für unser Grundgesetz.
Meine Damen und Herren, wir sind doch alle selbstbewusste Parlamentarier. Ziehen wir doch die Rechtsetzung dahin zurück, wo sie hingehört, nämlich in dieses Hohe Haus!
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Rudolf Henke, CDU/CSU.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Zunächst will ich sagen, dass ich der FDP dafür dankbar bin, dass sie diesen Antrag einbringt.
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Ich finde, er unterscheidet sich wohltuend von dem Antrag, den eine andere Fraktion hier vor wenigen Wochen eingebracht hat.
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Er unterscheidet sich auch deswegen wohltuend, weil Sie in Ihrem Antrag ausdrücklich anerkennen, dass mit der Aufhebung der epidemischen Lage natürlich sofort Probleme in der Rechtssituation entstünden. Deswegen machen Sie ja sogar den Vorschlag, all die Verordnungen und Anordnungen, von denen Sie sagen, dass sie eigentlich ein Eingriff in die Rechte des Parlaments seien, doch aufrechtzuerhalten, befristen das bis zum 30. September und sagen: Bis dahin sollten wir sie durch Gesetze abgelöst haben.
Ich will ausdrücklich sagen: Ich halte das für eine Herangehensweise, die zu debattieren gut ist. Sie gibt uns ja auch die Möglichkeit, noch mal eine Reflexion vorzunehmen zu der Frage, ob wir die mit der Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite in der Tat verbundenen Eingriffe in die Rechte der Bürger – das interessiert mich zunächst am allermeisten –, aber zweitens auch in die Rechte der Parlamente vertreten und verteidigen können. Also, dafür danke.
Aber jetzt müssen wir in der Sache darüber diskutieren, wie wir damit umgehen. Und da, finde ich, machen Sie es sich angesichts der Situation, in der wir sind, ein bisschen zu einfach, weil Sie zwar den guten Teil der Lageentwicklung schildern, aber nicht darstellen, auf welch unsicherem Terrain sich das bewegt.
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Ich bin Bürger Nordrhein-Westfalens, und es elektrisiert mich total, was wir aus Rheda-Wiedenbrück von der Schlachterei Tönnies hören.
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Es sind jetzt 7 000 Menschen in Quarantäne wegen einer Anzahl von mehr als 650 Infizierten unter den Beschäftigten dort. Die erste Meldung kam am Dienstag dieser Woche: 128 Infizierte. Das hat jetzt diese rasante Entwicklung genommen.
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– Ja, weil man mehr getestet hat. Aber das zeigt doch, dass diese Infektionslage nicht beherrscht ist, sondern dass wir mittendrin sind in dieser Pandemie.
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Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Aschenberg-Dugnus?
Sie hat zwar schon gesprochen, aber gerne.
Bitte gerne, Frau Kollegin.
Vielen Dank, geschätzter Kollege, dass Sie die Frage zulassen. – Würden Sie mir recht geben, dass es sich bei dem, was Sie gerade geschildert haben, um einen regionalen Ausbruch handelt, und würden Sie sagen, dass dieser regionale Ausbruch dazu führt, dass das öffentliche Gesundheitswesen überfordert ist oder dass Nordrhein-Westfalen mit dieser Lage nicht mehr selbstständig und allein fertig wird, sodass der Bund eingreifen muss? Würden Sie das bejahen, oder wie schätzen Sie das ein? – Vielen Dank.
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Dazu muss man sich vergegenwärtigen, ob es um Gefährdungen geht oder um bereits eingetretene Lagen, verehrte Frau Kollegin Aschenberg-Dugnus. In einer sich dynamisch entwickelnden Ausbruchssituation besteht die Gefahr des Eintritts einer erheblichen Gefährdung der öffentlichen Gesundheit in der gesamten Bundesrepublik, und diese Gefahr ist angesichts der Entwicklung des dortigen Ausbruchs – und das ist ja nicht der einzige – gegeben. Denn wir müssen uns klar darüber sein, dass die Mitarbeiter dieses Betriebes – – Ich will jetzt nicht diese Firma und nur den einen Betrieb ansprechen. Wir haben ja andere Betriebe erlebt. Wir haben das Thema „Deutscher Paketdienst“ erlebt, wir haben Kirchengemeinden gehabt, wir haben Chortreffen gehabt. In diesem Fall leben viele Kinder und Familienangehörige verteilt über zahlreiche Liegenschaften rund um das Unternehmen herum und auch in zahlreichen Nachbarkreisen. Vor diesem Hintergrund kann Ihnen keiner prognostizieren, wie sich jetzt die Ausbreitung angesichts der Situation in Schulen und Kindergärten entwickeln wird. Deswegen, glaube ich, ist es einfach vermessen, zu sagen: Weil wir akut so niedrige Zahlen haben, geben wir uns jetzt mal damit zufrieden.
Ja, es mag sein, dass ein solcher Ausbruch handhabbar ist. Aber das Nachverfolgen von 7 000 in Absonderung befindlichen Menschen, die Notwendigkeit, sie alle zu testen, die Notwendigkeit, dann wieder deren Kontaktpersonen nachzuverfolgen, bringt, so glaube ich, auch dort ein Gesundheitsamt an die Grenzen, weswegen wir ja auch eine Eingreiftruppe des RKI haben, weswegen wir in der epidemischen Lage von nationaler Tragweite sogar zusagen, dass wir mit Kräften der Bundeswehr helfen, wenn es nötig ist. Jetzt stellen Sie sich mal vor, so was passiert gleichzeitig an vier oder fünf oder sechs Stellen in der Bundesrepublik. Dann ist die Lage in Deutschland schlimmer als zu dem Zeitpunkt, zu dem wir die epidemische Lage festgestellt haben,
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und das ist, glaube ich, das Kriterium.
Ein zweiter Punkt ist, dass dieser Gefährdungslage für die öffentliche Gesundheit nur begrenzt auf Landesebene begegnet werden kann. Das ist eben nicht der Fall. Vielmehr brauchen wir weiterhin eine nationale Strategie.
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Sie liegt doch auch der Tatsache zugrunde, dass sich gestern die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten der Bundesländer – sämtlicher Bundesländer! – wieder auf viele Punkte verständigt haben, die man in einem nationalen Konsens tragen will.
Es tut mir leid, aber wenn wir jetzt vor der Öffnung von Schulen und Kindergärten in den Regelbetrieb hinein stehen, dann macht mich auch eine Nachricht wie die aus Düsseldorf unruhig, wo seit Anfang Juni an elf verschiedenen Schulen zwölf Kinder positiv getestet worden sind.
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Die Zahl der Schulen, in denen solche Dinge passieren, ist ja nicht klein, und es gibt schon die ersten Schulen, die nach ihrer Öffnung von den örtlichen Gesundheitsämtern wieder geschlossen worden sind. Das zeigt mir: Wir sind mittendrin in der Pandemie, und wir sind mittendrin in der nationalen Ausbreitung.
Für das Land Schweden, das immer so gerne als Beispiel dafür genommen wird, wie toll das mit der Entwicklung der Herdenimmunität sei, gibt es aktuelle epidemiologische Befunde zur Frage: Wie weit ist denn die Seuche durch Schweden durch? – Da hat man Antikörperuntersuchungen gemacht, und da findet man bei den Älteren und Betagten zwischen 65 und 95 eine Quote von 2,9 Prozent, wenn ich es richtig erinnere. Bei den jungen Leuten, also in unserem Alter, bei denen zwischen 20 und 64,
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findet man eine Quote von 6,5 Prozent, und bei den Kindern eine Quote von 7,5 Prozent an Antikörpern.
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Das ist mehr, als wir es bei uns erwarten können. Aber es zeigt selbst für Schweden, dass natürlich von einer Gruppenimmunität, von einer Kohortenimmunität, von diesem Herdenschutz bei Weitem nicht die Rede sein kann. Deswegen: Wir sind mittendrin, und ich finde das schwierig.
Als letzte Bemerkung auch noch ein paar Hinweise darauf, dass wir natürlich auch etwa eine Regelung haben wie die, dass Studierende, die jetzt pandemiebedingt Tätigkeiten übernommen haben, –
Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.
– dann, wenn wir jetzt Ihrem Antrag folgen würden, sofort wieder auf das BAföG zurückverwiesen würden, weil dann die Nichtanrechnung ihrer Einkünfte in anderen Tätigkeiten –
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
– nicht mehr möglich wäre.
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Insofern bitte ich Sie: Lassen Sie uns sukzessive, lassen Sie uns verantwortungsvoll vorgehen. Für eine Aufhebung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite in Deutschland ist es jetzt zu früh.
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Herzlichen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Robby Schlund, AfD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Guten Morgen, liebe Kollegen! Am 6. Mai forderte unsere Fraktion hier an dieser Stelle, hier im Plenum, „die epidemische Lage von nationaler Tragweite aufzuheben“. Heute, sage und schreibe 43 Tage später, fordert die FDP: „Epidemische Lage von nationaler Tragweite beenden“.
({0})
Wir freuen uns darüber außerordentlich, keine Angst. Wir finden es auch nicht weiter schlimm, dass „aufzuheben“ jetzt „beenden“ heißt – damals noch von Ihnen moniert. Manche haben sogar im Plenum hier über Menschenfeindlichkeit oder Ähnliches philosophiert und gebrüllt. Dennoch möchten wir uns bei der FDP für diesen Antrag bedanken.
Woher dieser Sinneswandel jetzt kommt, können wir uns leider nicht erklären, da Sie ja damals unseren Antrag kategorisch abgelehnt hatten.
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– Entschuldigung. Lassen Sie mich mal bitte ausreden. – In Anbetracht der Erfurter Situation mit Herrn Kemmerich, die jedem hier ja hinlänglich bekannt sein dürfte, hoffen wir, dass Sie jetzt nicht Ihren eigenen Antrag ablehnen müssen, meine Damen und Herren. Das wäre in der Tat außerordentlich schade und sicherlich nicht im Interesse der Menschen dieses Landes.
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Ja, es ist längst überfällig, festzustellen, dass eine epidemische Lage von nationaler Tragweite nicht mehr vorliegt. Und, liebe Kollegen, wie schon so oft: Die AfD wirkt, meine Damen und Herren.
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Aber Sie fragen sich jetzt sicherlich: Wie ist die AfD bereits vor Wochen zu dieser Erkenntnis gelangt,
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während sich viele Politiker hier aus dem Haus noch im Homeoffice befanden und sich ängstlich hinter dem Regierungs-Shutdown verbarrikadiert hatten?
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Mit ein wenig mathematischem Geschick und den umfangreichen Daten der Hopkins-Universität haben wir einige Länder hinsichtlich der Einwohnerdichte und der Infektionsausbreitung verglichen und festgestellt, dass Länder ohne Lockdown eine niedrigere Infektionsausbreitung je Quadratkilometer hatten und haben als jene mit einem oder einem verzögerten Shutdown wie bei uns.
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Besser wäre es tatsächlich gewesen, auf den Shutdown komplett zu verzichten
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und stattdessen ein gestuftes pandemisches Rastermanagement zu verwenden, wie es die AfD bereits im Februar, genau am 12. Februar, hier in diesem Plenum gefordert hatte.
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Ehrlich gesagt, meine Damen und Herren, hätten wir uns dann diese Diskussion hier und heute und eine Stunde sparen können. Die Zahlen zeigten, dass ein Shutdown in Deutschland nicht nur völlig unnötig war, sondern geradezu die Pandemie in die Länge gezogen hat.
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Dabei sind die einzelnen Verläufe der Pandemie dynamisch gut zu beurteilen, da sie nach den klassischen Fließgleichgewichtsprinzipien in komplexen adaptiven Biosystemen reagieren. Dazu wäre allerdings am Anfang eine öffentliche Expertenanhörung von Fachwissenschaftlern wie Systemtheoretikern, Medizinern und Katastrophenforschern erforderlich gewesen.
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Doch leider Fehlanzeige. Nun müssen Sie es sich in aller Öffentlichkeit gefallen lassen, werte Bundesregierung, dass wir wegen Ihres Missmanagements auch in dieser Frage einen Corona-Untersuchungsausschuss fordern.
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Und noch etwas: Hier und da hört man schon wieder vom Damoklesschwert einer zweiten Welle. Hören Sie bitte mit diesem Unfug auf! Den Menschen muss klar sein, dass Seuchen schon immer zur Menschheitsgeschichte gehört haben und auch gehören werden. Deshalb ist es absolut unsinnig, die Menschen mit monatelangen Verunsicherungen durch ständig wechselnde Ausnahmen und Regelungen zu zermürben. Statt sie gegen Viren und Bakterien aller Art widerstandsfähig zu machen, haben Sie mit Ihren Maßnahmen genau das Gegenteil erreicht.
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Wissen Sie, was Sie gemacht haben?
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Sie haben nämlich den negativen Stress massiv erhöht und damit das Immunsystem vieler Menschen geschwächt.
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Wir fordern Sie deshalb auf: Klären Sie die Menschen über das Virus auf, und hören Sie auf, Ängste zu schüren und persönliche Freiheiten einzuschränken.
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Insbesondere die Sorge um unsere Kinder muss eine höhere Wichtigkeit bekommen und im höchsten Maße an Normalität orientiert sein. Meine Damen und Herren, wir brauchen keine Angsthasen, sondern gut ausgebildete, vorwärtsstrebende und lösungsorientierte junge Menschen.
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Liebe Kollegen, es ist eine sehr traurige Wahrheit, die aber hundertprozentig uns alle hier treffen wird – und das ist so sicher wie das Amen in der Kirche –: Wir alle hier werden einmal sterben. – Daher ist es wichtig, unser Leben mit Freude und Lebensenergie auszufüllen, egal in welchem Stadium wir uns auch immer befinden – ob als Kind, als Erwachsener oder als Angehöriger der sogenannten Risikogruppe. Diese Möglichkeit wurde uns in den letzten Wochen durch die Entscheidungsträger komplett genommen.
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Sie haben uns in den Altenheimen alleingelassen, sie haben uns zu Lehrern im Homeoffice gemacht, und sie haben uns unserer Freizeitmöglichkeiten beraubt. Das darf sich nie wiederholen.
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Wir müssen auf die nächste Epidemie einfach besser vorbereitet sein. Einen planlosen Lockdown, wie wir ihn in den letzten Wochen erlebt haben, darf es niemals wieder geben. Denn es ist ebenso eine traurige Wahrheit, die zu 100 Prozent stimmt: Die nächste Epidemie kommt ganz bestimmt. – Nur eins: Wir sollten besser darauf vorbereitet sein.
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Noch etwas ganz Persönliches als Mediziner zum Schluss: Nehmen Sie bitte den Menschen da draußen diesen unnützen Maulkorb ab! Bereits nach drei Stunden und bei Temperaturen von 28 Grad haben Sie die perfekte mobile Petrischale für Millionen Arten von Keimen.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Sabine Dittmar, SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im März haben wir hier angesichts des rasanten Infektionsgeschehens mir SARS-CoV-2 in großer Übereinstimmung eine epidemische Lage von nationaler Tragweite festgestellt und weitreichende Regelungsbefugnisse auf die Exekutive übertragen, weil schnelles und effizientes Handeln angesagt war. Von diesen Ermächtigungen hat das Bundesgesundheitsministerium auch Gebrauch gemacht.
Mit dem Intensivregister erhalten wir einen tagesaktuellen Überblick über verfügbare Intensivbetten und Beatmungskapazitäten.
Die Regelungen zur Versorgung der Bevölkerung mit notwendigen Arzneimitteln ermöglichen es, Arzneimittel und Medizinprodukte gezielt dorthin zu lenken, wo sie pandemiebedingt dringend benötigt werden.
Der Schutzschirm für Therapeutinnen und Therapeuten sichert wichtige Strukturen in unserem Gesundheitssystem und ergänzt die Soforthilfen der Bundesregierung.
Die Ausweitung der Testungen und ihre gesicherte Finanzierung schaffen den Freiraum für weitere Lockerungsmaßnahmen.
Das alles hat ganz entscheidend dazu beigetragen, dass Deutschland bisher gut durch dieses schwerwiegende Infektionsgeschehen gekommen ist.
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Aber klar ist: Alleine das hätte nicht ausgereicht. Deshalb an dieser Stelle ein herzliches Dankeschön und auch ein Lob an unsere Bevölkerung, die mit hoher Akzeptanz und Rücksichtnahme teilweise sehr beschwerliche Einschränkungen des Lebensalltags mitgetragen hat und weiterhin mitträgt.
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Klar ist aber auch: Wir haben mit den Verordnungsermächtigungen einen Ausnahmezustand geschaffen. Dem Gesundheitsministerium ist es gestattet, ohne weitere parlamentarische Legitimation und Kontrolle Ausnahmen von gesetzlichen Regelungen vorzusehen und Anordnungen zu treffen, die Grundrechte einschränken können. Wesentliche Prinzipien unserer parlamentarischen Demokratie sind betroffen. Wir haben seinerzeit großen Wert darauf gelegt, dass das Parlament nicht nur die epidemische Lage feststellen, sondern sie auch wieder beenden kann.
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Deshalb kann ich Ihnen versichern, dass wir die Gesamtsituation sehr genau beobachten und den parlamentarischen Ausnahmezustand nicht länger andauern lassen, als dies zwingend notwendig ist.
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Ich denke, es ist in unser aller Interesse, dass die Gewaltenbalance zwischen Parlament und Regierung schnellstmöglich wiederhergestellt wird. Über den Weg dahin gilt es allerdings zu diskutieren. Jetzt und heute, wie von der FDP-Fraktion gefordert, das Ende einer epidemischen Lage festzustellen, wäre unverantwortlich.
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Aus meiner Sicht reicht es nicht aus, allein auf die erfreulicherweise sinkende Zahl an Neuinfektionen und auf ausreichende Intensivkapazitäten zu verweisen.
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Die Coronaausbrüche in Bremerhaven, in Berlin und seit gestern ganz deutlich auch in Gütersloh zeigen doch, wie hochinfektiös und gefährlich dieses Virus ist. Wir können heute noch gar nicht absehen, wie sich die schrittweisen Lockerungsmaßnahmen in den kommenden Wochen auswirken.
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Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage?
Nein, ich möchte jetzt zu Ende ausführen. – Und die Sommermonate mit zunehmender Mobilität durch den Wegfall der Reisebeschränkungen stehen uns noch bevor. Ein Blick über die Landesgrenzen zeigt, wie schnell sich aus einem regionalen Hotspot ein landesweites Infektionsgeschehen entwickeln kann.
Jetzt müssen sich unsere getroffenen Maßnahmen – Stärkung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes, Ausweitung der Testungen, die Corona-Warn-App – bewähren. Entscheidend ist, ob es uns jetzt gelingt, Ausbrüche schnell unter Kontrolle zu bekommen, Kontakte nachzuverfolgen, Infektionsketten frühzeitig zu durchbrechen. Zum jetzigen Zeitpunkt das Signal zu geben, die epidemische Lage sei vorbei, könnte fatale Folgen haben. Ich appelliere an alle: Lassen Sie uns das Erreichte nicht leichtfertig aufs Spiel setzen!
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich denke, wir stimmen alle darin überein, dass wir während des Verlaufs der Pandemie einiges gelernt haben. Noch nie ist der Staat für die Bewältigung eines Infektionsgeschehens in diesem Maße in Anspruch genommen worden. Es zeigt sich in einer solchen Situation dann auch, wo wir sowohl tatsächlich als auch rechtlich besser gerüstet sein müssen. Die Schwierigkeiten bei der Versorgung mit persönlicher Schutzausrüstung dürfen sich nicht wiederholen. Die von der Bundesregierung beschlossene Bildung einer Nationalen Reserve Gesundheitsschutz ist deshalb eine dringend notwendige Maßnahme.
Es ist aber auch notwendig, mit unseren Erfahrungen der vergangenen Wochen die Regelungen des Infektionsschutzgesetzes insgesamt zu hinterfragen. Das betrifft nicht nur die konsequente Beachtung des Parlamentsvorbehalts bei unaufschiebbaren Sofortmaßnahmen, sondern geht darüber hinaus.
Deshalb, Kolleginnen und Kollegen: Lassen Sie uns diese Krise als Chance nutzen! Bleiben Sie gesund, halten Sie Abstand, geben Sie acht auf sich und Ihre Mitmenschen, und nutzen Sie die Corona-Warn-App!
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Dittmar. – Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Aschenberg-Dugnus.
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Vielen Dank, Herr Präsident, für die Zulassung der Frage.
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Geschätzte Kollegin Dittmar, Sie haben gesagt, Sie würden in der Regierung bzw. in der Koalition regelmäßig auch schon überprüfen, wann die epidemische Lage von nationaler Tragweite aufgehoben werden kann. Leider bekommen wir davon als Opposition im Gesundheitsausschuss nichts mit. Deswegen würde mich die Antwort auf die Frage interessieren, welche Kriterien Sie bei der Entscheidung dieser Frage anlegen.
Sie haben eben gesagt, es würde die Bevölkerung verunsichern, wenn jetzt die epidemische Lage aufgehoben werden würde. Sind Sie nicht auch für Transparenz, und wäre es nicht auch eine gute Botschaft, wenn man sagen würde: „Die epidemische Lage ist jetzt aufgehoben, und die Menschen können wieder in die Arztpraxen und in die Kliniken gehen, ohne Angst zu haben, sich anzustecken“?
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Denn Sie wissen auch, dass wir jenseits von Covid-19 das Problem haben, dass die Menschen zu wenig zu Vorsorgeuntersuchungen gegangen sind und bei schweren Erkrankungsfällen, wie Herzinfarkten oder Schlaganfällen, zu selten die Kliniken aufgesucht haben. Auch das wäre doch ein positiver Ansatz.
Vielen Dank.
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Ich sehe, Sie wollen antworten, Frau Dittmar.
Ja, danke. – Ich antworte gerne, weil es mir wichtig ist, hier auch noch mal das klare Signal nach außen zu geben, dass die Menschen natürlich in die Arztpraxen und Krankenhäuser gehen können. Dort sind sie sicher und geschützt vor Infektionen.
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Der Eindruck, den Sie hier jetzt gerade erweckt haben, ist schlicht und ergreifend falsch.
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Unsere Arztpraxen sind gut darauf vorbereitet. Das muss einfach noch mal ganz klar gesagt werden.
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Ich weiß nicht, ob Sie in Ihrer Fraktion zu wenig Redezeit bekommen. Ich muss Ihnen sagen: Der Kollege Henke hat Ihnen bei Ihrer vorherigen Zwischenfrage schon mal ausführlich erklärt, warum es jetzt unverantwortlich wäre, die epidemische Lage aufzuheben, nämlich aufgrund von regionalen Hotspots, die sich ganz schnell über Stadt-, Kreis- und Landesgrenzen hinaus ausdehnen können.
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Es hätte fatale Folgen, dieses Signal jetzt an die Bevölkerung zu senden.
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Herr Kollege Dürr, die Kollegin Dittmar beantwortet die an sie gerichtete Frage, wie sie das für richtig hält. Und auch, wenn Ihnen das nicht gefällt: Das ist einfach so.
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Als nächster Redner erhält der Kollege Harald Weinberg, Fraktion Die Linke, das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist natürlich so – das merkt man jetzt auch an dieser Debatte –, dass es logischerweise immer eine Abwägung gibt zwischen den Grundrechtseingriffen auf der einen Seite und dem Gesundheitsschutz der Bevölkerung in Deutschland auf der anderen Seite.
Diese Abwägung haben wir natürlich in unserer eigenen Fraktion auch immer wieder zu treffen gehabt, auch bei den beiden Coronagesetzen, die verabschiedet worden sind. Wir haben immer wieder sozusagen geguckt: Was ist notwendig, was ist nicht notwendig? Wie weit gehen diese Eingriffe? Ich erinnere an dieser Stelle nur noch mal daran: Wir haben beiden Coronagesetzen so nicht zugestimmt. Wir haben uns beim ersten enthalten, das zweite haben wir abgelehnt, wegen der Punkte, bei denen es um Grundrechtseingriffe ging. Beim ersten ging es im Wesentlichen um die Versammlungsfreiheit. Ich sage mal: So falsch haben wir da nicht gelegen; denn wir haben danach ja erlebt, dass es etliche Gerichtsurteile gab, durch die sozusagen über Gerichte die Versammlungsfreiheit und die Demonstrationsfreiheit wieder durchgesetzt worden sind.
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Aber es ist in der Tat richtig: Wir haben auch die Auffassung geteilt, dass es in dieser ersten Phase der epidemischen Lage von nationaler Tragweite richtig und wichtig war, die Kurve flach zu halten, die Kurve flach zu machen, also besonders schnell und entschlossen zu reagieren. Das ist erst mal etwas, was wir sozusagen immer wieder dagegen abgewogen haben.
Die FDP-Fraktion – ich erinnere auch nur noch mal an dieser Stelle daran – hat dem ersten Coronagesetz seinerzeit zugestimmt;
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das zweite hat sie abgelehnt. Was allerdings schon irritiert, auch mich irritiert, sind die Geschmeidigkeit und auch der nicht geringe Populismus, der mit der Positionsveränderung der FDP einhergeht und einherging.
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Darin war sie im Übrigen durchaus der AfD nicht unähnlich, die von der Äußerung „Die Regierung macht nicht genug und ist nicht entschlossen genug beim Schutz der Bevölkerung vor dem chinesischen Virus“, wie es damals von Frau Weidel und Herrn Chrupalla genannt wurde, weitergegangen ist zu der Aussage „Das greift alles zu sehr in die Grundrechte der Vermieter und Unternehmer ein“ von Herrn Meuthen. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: „die Grundrechte von Vermietern und Unternehmern“, nicht „die Grundrechte der Bürger“!
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Das sind ganz offensichtlich die wesentlichen Zielpersonen dieser Partei.
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Bei der FDP erlebten wir im März einen Fraktionsvorsitzenden Christian Lindner, der meinte: Wenn die Regierung schon früher auf die FDP zugegangen wäre, hätte sie schon früher Unterstützung für drastische Maßnahmen bekommen, das öffentliche Leben in unserem Land herunterzufahren. – Später erlebten wir einen Wolfgang Kubicki, der meinte, dass die Menschen halt zu Hause bleiben sollten, wenn sie Angst vor dem Virus haben, und der dann auch noch das verschwörungstheoretische Narrativ bediente, als er mutmaßte, dass die Zahlen des Robert-Koch-Instituts den Eindruck vermittelten, politisch motiviert zu sein.
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Wirklich die Krone aufgesetzt hat dem dann noch der Herr Kemmerich, der Interims- bzw. Paar-Tage-Ministerpräsident von Thüringen, als er zusammen mit der AfD und Verschwörungstheoretikern unter dem Motto „Für eine zügige Öffnung der Wirtschaft“ nicht nur demonstrierte, sondern auch als Hauptredner auftrat. Bettet man nun die hier vorliegende parlamentarische Initiative in diesen Kontext ein, dann bekommt das durchaus einen schalen Beigeschmack. Das will ich sagen.
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Aber ich will auch durchaus versuchen, der Initiative gerecht zu werden. Denn auch aus Sicht der Linken ist es vom Grundsatz her richtig, den Ausnahmezustand, der der Regierung weitreichende Sonderrechte einräumt und die Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive relativiert, so bald als irgend möglich aufzuheben.
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Und wenn ich Ihre Initiative richtig verstanden habe – ich denke, ich habe sie auch richtig verstanden –, ist es ja auch nicht so, dass Sie sagen: „Jetzt weg mit allen Verordnungen und Anordnungen“, sondern dass Sie halt sagen: Sie sollen erst einmal befristet gelten –
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darauf hat Herr Henke schon hingewiesen –, und sie sollen in der Zeit dieser Frist dann in gesetzliche Maßnahmen übergeführt werden.
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Wenn man das so sieht, dann ist es durchaus so – das sichere ich Ihnen auch zu –, dass wir trotz dieses etwas merkwürdigen Spins, den ich eben dargestellt habe, Ihre Initiative im Ausschuss wohlwollend prüfen und kritisch begleiten werden.
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– Mehr ist nicht drin, das ist richtig, aber immerhin, das ist ja schon mal was. Und ich denke, im Gegensatz zu einigen Vorrednern habe ich den Aspekt, dass Sie im Prinzip nicht sagen: „Wir wollen jetzt einfach sozusagen alles abschaffen, was gemacht worden ist“, richtig verstanden.
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Insofern glaube ich: Das ist zumindest schon mal ein wesentlicher konstruktiver Beitrag zu einer gemeinsamen vernünftigen Diskussion.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Weinberg. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Maria Klein-Schmeink, Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen hier im Raum! Die Initiative der FDP hat etwas von „mit Mut gegen alle Vernunft“, wenn ich das mal zusammenfassen sollte.
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Da muss man auch gleichzeitig die Frage stellen: Was treibt Sie eigentlich an, diesen Mut in dieser Art von Verzweiflung aufzubringen? Mir jedenfalls ist das nicht nachvollziehbar geworden in den Begründungen, die Sie für Ihren Gesetzentwurf geliefert haben. Es besteht in der Tat ein Spannungsverhältnis zwischen Bürgerrechten und den Auflagen aus dem Infektionsschutzgesetz. Aber dieses Spannungsverhältnis aufzulösen im Sinne von Gesundheitsschutz der Bevölkerung, bedarf ganz anderer Abwägungen, als Sie hier zugrunde gelegt haben.
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Man muss ja sagen: Diese Initiative kommt auch zu einem Zeitpunkt, der sehr deutlich durch die Infektionszahlen geprägt ist, die wir bei Tönnies gestern gesehen haben: ein massiver Anstieg, 7 000 Menschen, die von heute auf morgen unter Quarantäne gestellt werden mussten.
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Diese Zahlen zeigen doch sehr, sehr deutlich: Wir brauchen eine Situation, wo wir handlungsfähig sind, wo wir schnell handlungsfähig sind und wo wir in der Lage sind, die notwendigen Schutzmaßnahmen auch wirklich zu ergreifen.
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Das werden wir damit, dass wir das Ende der epidemischen Lage ausrufen, nicht schaffen; denn dieses Ende ist nicht da.
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Vielmehr müssen wir feststellen: Der Virus ist da, verlangt Maßnahmen, und er verlangt Verantwortung, Augenmaß und Umsicht; und das fehlt an dieser Stelle.
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Im Gegenteil, Sie machen noch was anderes: Sie senden jetzt ein Signal, ein trügerisches Signal, in die Bevölkerung, es handele sich um das Ende der Coronaepidemie.
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Das ist schlichtweg nicht der Fall. Dazu darf es nicht kommen.
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Ein verantwortungsvoller Umgang sieht anders aus.
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ullmann?
Ja.
Bitte.
Vielen Dank, Frau Kollegin, dass Sie diese Zwischenfrage zulassen. – Sie sagen gerade oder Sie behaupten, dass die FDP-Fraktion die Pandemie infrage stelle bzw. den Eindruck erwecke, dass sie jetzt aufgehört habe. Meine Frage an Sie: Erstens. Haben Sie unseren Gesetzentwurf eigentlich richtig gelesen? Zweitens. Wo haben wir eigentlich gesagt, dass die Pandemie aufgehört hat? Uns geht es eigentlich darum, dass wir die Notlage von nationaler Tragweite, die wir haben, aufheben wollen. Denn – das sagen ja auch Sie ganz zu Recht –: Punktuell verlaufen die Ausbrüche. Die werden auch weiterlaufen. Aber wann werden wir wieder eine Normalität in der Gesetzeslage haben?
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Gute Frage.
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Es ist ja zu unterscheiden: Was tun wir eigentlich, wenn wir diese nationale Notlage als Parlament aussprechen? Das haben wir getan. Wir haben damit beispielsweise gesagt: Unser Herr Gesundheitsminister
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erhält die Möglichkeit, die Ermächtigung, schnell Verordnungen auf den Weg zu bringen, die es uns möglich machen, mit den verschiedenen Herausforderungen, mit denen wir zu tun haben, auf verschiedenen Ebenen umzugehen. Da geht es natürlich immer auch um die Kommunen, es geht um die Regionen, aber es geht auch um den Bundestag und um die Bundesregierung, die gesetzliche Rahmenbedingungen so anpassen muss, dass wir in der Lage sind, mit diesen Herausforderungen umzugehen.
Sie selber haben ja noch einen Annex gemacht und festgestellt: Ja, alle diese Verordnungen, die sollen mal schön weitergelten. – Es war doch so, dass wir genau den Rahmen gegeben haben, damit diese Verordnungen gemacht werden können. An der Stelle widersprechen Sie sich in der Tat selber.
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Vielmehr geht es doch eigentlich darum, dass wir ein Verfahren finden, wie wir für diese Art von Ermächtigung, die wir als Parlament dem Herrn Minister genehmigt haben, mehr Parlamentsvorbehalt schaffen.
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Das haben wir mit unserem Änderungsantrag in der letzten Plenarwoche versucht, der leider abgelehnt worden ist.
Meine Damen und Herren der Koalition, ich würde Ihnen sehr nahelegen, dass Sie uns an der Ausgestaltung der Verordnungen beteiligen. Wir als Fraktion sind bereit, genau diese Aufwände zu machen. Wir sind zu allen Ausschusssitzungen bereit, zu zusätzlichen Terminen, wenn sie denn nötig wären.
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Das täten wir, und das wäre dann auch der richtige Weg.
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Wenn wir weiterhin Flexibilität und Reaktionsfähigkeit für den Schutz der Bevölkerung brauchen, dann müssen wir uns überlegen: Mit welchen Methoden, mit welchen Instrumenten erreichen wir das? Und die müssen natürlich immer wieder auf den Prüfstand gestellt werden; sie müssen immer wieder an die Lage angepasst werden. Man muss auch genau hinsehen: Welche Bevölkerungsgruppen sind wie betroffen? Da kann ich Ihnen sagen: Es wäre sehr gut, wenn Sie vonseiten der Regierungsfraktionen die Situation der Familien, der Kinder, der Jugendlichen stärker in den Blick nehmen würden, als Sie das bisher getan haben; da haben wir Nachsteuerungsbedarf.
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Kommen wir zu dem weiteren Vorgehen. Wir werden ja über den Entwurf diskutieren. Aber ist es nicht eigentlich viel wichtiger, darüber zu diskutieren, wie wir dazu kommen, eine fundierte Entscheidung zu treffen, wann und unter welchen Bedingungen wir die epidemische Lage auflösen?
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Dazu brauchen wir Instrumente. Wir schlagen vor, dass es einen Pandemierat geben soll, mit dem wir Menschen – und zwar nicht nur aus dem Bereich der Medizin, sondern aus vielen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Bereichen – in einem Expertenrat zusammenführen, die uns bei dem Prozess begleiten, festzustellen: Ab wann können wir wieder zur Normalität, auch im parlamentarischen Verfahren, zurückkehren? Das wäre der richtige Weg, und das müssten wir tun.
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Zugleich will ich noch mal anmahnen: Wir alle wissen, dass der Erfolg in der Infektionsbekämpfung ganz, ganz entscheidend von der Akzeptanz der Bevölkerung für die Maßnahmen und deren Nachvollziehbarkeit abhängt. Da ist es sehr, sehr wichtig, nicht nur vordergründigen Zahlen hinterherzulaufen, sondern umsichtig mit ihnen umzugehen und immer im Blick zu haben: Wir sind nicht am Ende der Coronakrise; wir sind noch mittendrin. Wir müssen immer wieder damit rechnen, dass es zu lokalen, aber auch zu sehr großen Ausbrüchen kommt. Wir brauchen Handlungsfähigkeit und einen differenzierten Umgang mit den Gruppen, die besonderen Risiken ausgesetzt sind. Dafür brauchen wir Augenmaß und sehr genaues Hinsehen. Das wäre der eigentliche Weg, den wir zu beschreiten hätten.
Danke schön.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner ist der Kollege Erwin Rüddel, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben, Stand heute, in Deutschland eine gute epidemische Lage, und ich kann durchaus verstehen, dass man auf den Gedanken kommt, möglichst schnell politisch wie auch im alltäglichen Leben zur Normalität zurückzukommen. Aber wir halten die Situation für sehr gefährlich; denn der Coronavirus hat prinzipiell nichts von seiner Gefährlichkeit eingebüßt, und niemand kann derzeit sagen, ob der sinkende Trend von Neuinfektionen sich weiter fortsetzen wird oder ob es wieder zu einem Anstieg der Fallzahlen kommt.
Die Reproduktionszahl bewegt sich um die kritische Marke „1“. In anderen Ländern, auf anderen Kontinenten sieht es teilweise sehr viel schlechter aus. In Peking gibt es neue Beschränkungen, und der IWF warnt vor den Folgen der Pandemie in den Schwellenländern. Auch wenn Deutschland sowohl bei den Infektionszahlen als auch bei den Sterbefällen vergleichsweise gut dasteht, so ändert das nichts an der Bedrohung, die Corona immer noch bedeutet.
Wir sind auf dem Weg, Einschränkungen weiter zu lockern. Wir wollen die wirtschaftlichen Einschnitte und auch die finanziellen Belastungen für die Menschen möglichst gering halten. Trotzdem und gerade deshalb müssen wir unsere Vorsichtsmaßnahmen weiter einhalten. Was durch Disziplin und Besonnenheit in den vergangenen Monaten erreicht wurde, darf nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden. Die Pandemie ist noch nicht beendet. Ehe wir nicht einen geeigneten Impfstoff zur Verfügung haben, bleibt Besonnenheit die erste Bürgerpflicht.
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Herr Kollege erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schinnenburg?
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Ja.
Herr Kollege Rüddel, erst mal vielen Dank, dass Sie die Frage zulassen. – Ich wollte eigentlich eine andere Frage stellen. Aber nach Ihrer letzten Bemerkung muss ich jetzt eine Frage stellen, die sich mir aufdrängt. Sie haben gerade gesagt: Wir müssen besonnen bleiben bis zur Entwicklung eines Impfstoffes. – Darf ich Sie so verstehen, dass Ihre Fraktion alle Beschränkungen aufrechterhalten will, bis ein Impfstoff gefunden ist, was ja möglicherweise noch sehr lange dauert oder vielleicht sogar nie passiert? Ist das Ihre Begründung dafür, noch monate- oder vielleicht jahrelang der Bevölkerung Beschränkungen aufzuerlegen?
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Die derzeitige Situation, denke ich, zeigt, dass eine Aufhebung der pandemischen Lage verfrüht wäre. Mit Sicherheit kann sie aufgehoben werden, wenn ein Impfstoff da ist.
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Dazwischen gibt es sicherlich viele Möglichkeiten für Gespräche, um hier den richtigen Zeitpunkt zu finden.
Wenn ich sehe, dass wir vor zwei Tagen die App eingeführt haben, dass sie innerhalb von 24 Stunden 1 Millionen Menschen heruntergeladen haben und sie mittlerweile fast 10 Millionen Menschen nutzen, dann zeigt das, dass in der Bevölkerung der Gesundheitsschutz derzeit sehr, sehr hoch eingeschätzt wird
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und dass man in der Bevölkerung darauf setzt, dass wir die richtigen Entscheidungen treffen.
Wenn hier eine neue Balance gefunden worden ist, werden wir sicherlich Wege finden, um dem Parlament seine Rechte einzuräumen. Aber ich bin der festen Überzeugung, dass das, was wir im Moment machen, auf größte Akzeptanz in der Bevölkerung stößt. Das stellt sich auch in Gesprächen mit der Bevölkerung dar, und – das ich sage auch – es bildet sich auch in den Zustimmungsergebnissen für die einzelnen Parteien in etwa ab, wie man die Situation einschätzt und wem man zutraut, hier den richtigen Weg zu finden.
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Man könnte sagen – ich habe eben gerade die App angesprochen: eine Erfolgsgeschichte –, man hätte schneller sein können. Aber ich bin der festen Überzeugung, dass wir mit der App eine sehr gute Lösung gefunden haben,
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die auch in der Bevölkerung akzeptiert wird, auf die man gewartet hat, die man nutzen wird und die dabei helfen wird, dass die Infektionszahlen niedrig bleiben.
Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir zu den Drucksachen einige kurze Anmerkungen aus dem Blickwinkel des Gesundheitsausschusses. Wir sind froh und dankbar, dass in der Pandemie die erforderlichen Mittel für die Gesundheit von der Solidargemeinschaft der Steuerzahler aufgebracht und die Beitragszahler nicht zusätzlich belastet wurden. Ferner haben die Entscheidungen unter dem Druck der akuten Krise eine Reihe von Maßnahmen beschleunigt, die sonst vielleicht länger hätten auf sich warten lassen.
Insofern erwarte ich, dass die Krise auch einen weiteren Schub für unser gutes Gesundheitswesen darstellt. Das betrifft insbesondere die Digitalisierung unseres Gesundheitswesens. Ihr kommt – das hat die Krise bewiesen – künftig eine entscheidende Bedeutung zu. Hier müssen wir in den nächsten Monaten den Durchbruch schaffen für moderne Technik und intelligente Arbeitssteuerung.
Zu den künftigen Aufgaben zählt neben der Telemedizin und den Krankenhausstrukturen auch eine verstärkte Zusammenarbeit in Europa im Sinne einer gemeinsamen Gesundheitspolitik.
In den letzten Wochen haben wir der Regierung große Spielräume verschafft, damit sehr schnell weitreichende Entscheidungen getroffen werden konnten. Diese Entscheidungen haben in Deutschland Leben gerettet.
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Dabei hat der zuständige Minister dem Ausschuss, den Sprechern der Fraktionen und den Obleuten in vorbildlicher Weise Rede und Antwort gestanden, und gestern hat das Ministerium im Ausschuss angekündigt, dass man mit allen Fraktionen über die weitere Entwicklung in kürzester Zeit beraten wird und auch die Verordnungsfragen entsprechend auf den Prüfstand stellt. Das hat insgesamt im Gesundheitsausschuss über die Parteigrenzen hinweg –
Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.
– für ein konstruktives Miteinander gesorgt, und das hat geholfen, die Krise bestmöglich zu meistern.
Herr Kollege, bitte!
Wir werden von anderen Ländern kopiert. Wir werden aber auch selbst alles das, was entschieden worden ist, evaluieren, um auf neue Krisen besser vorbereitet zu sein.
Vielleicht als letztes Wort: Trotz der weitreichenden Befugnisse, die das Ministerium aufgrund seiner Verordnungen hat, bleibt es auch in dieser außergewöhnlichen Situation dabei, dass am Ende das Parlament das entscheidende Wort hat. Wir werden entscheiden, wann die Pandemie in Deutschland ein Ende hat; das ist das Recht des Parlaments.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Da ich Sie leider nicht habe bremsen können, muss einer der nachfolgenden Redner aus Ihrer Fraktion sein Zeitkontingent etwas einschränken. Vielleicht klären Sie mich darüber auf, wer von den beiden nachfolgenden Rednern derjenige sein wird.
Als nächster Redner hat nun Konstantin Kuhle, FDP-Fraktion, das Wort.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sprechen heute über die Aufrechterhaltung oder Aufhebung der sogenannten epidemischen Lage von nationaler Tragweite. Natürlich ist das zunächst ein gesundheitspolitisches Thema, und deswegen ist es auch gut, dass aus Sicht der Gesundheitspolitiker hier darüber gesprochen wird.
Die Frage, ob wir diese epidemische Lage aufrechterhalten oder nicht, betrifft aber nicht nur die Gesundheitspolitik, sondern sie betrifft das gesamte Parlament; denn wir haben hier am 25. März, indem wir diese Lage festgestellt haben, entschieden, der Bundesregierung besondere Rechte zu geben. Und ein Parlament, das sich selbst ernst nimmt, ein Parlament, das die Gewaltenteilung ernst nimmt, muss regelmäßig überprüfen, ob die Voraussetzungen für diese Feststellung noch vorliegen.
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Denn, meine Damen und Herren: Unter der Pandemie darf auch der Parlamentarismus nicht leiden. Wir waren uns hier im Deutschen Bundestag mit großer Mehrheit einig über die zentralen Voraussetzungen, unter denen es besondere Rechte für die Bundesregierung geben soll: Das ist erstens eine drohende Überlastung des Gesundheitssystems, und das ist zweitens eine drohende Überforderung einzelner Länder.
Gucken wir uns an, wie es mit dem öffentlichen Gesundheitssystem aussieht. Es gibt einzelne Länder, die es ganz ähnlich gemacht haben wie der Bund und eine sogenannte epidemische Lage von landesweiter Tragweite eingeführt haben. Das Land Nordrhein-Westfalen hat das gemacht, und in Nordrhein-Westfalen läuft diese epidemische Lage von landesweiter Tragweite Mitte Juni aus. Sie ist übrigens – anders als im Bund – nicht auf ein Jahr befristet, sondern wird alle zwei Monate überprüft. Und der CDU-Gesundheitsminister von Nordrhein-Westfalen hat am 8. Juni über die dpa gesagt, von einer Überforderung des öffentlichen Gesundheitssystems könne keine Rede sein. Ich will Ihnen was sagen: Angesichts dessen, dass ein Drittel aller Intensivbetten frei ist, hat der Mann recht.
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Deswegen: Folgen Sie Herrn Laumann, und heben Sie die epidemische Lage von nationaler Tragweite auch auf Bundesebene auf!
Herr Kollege Kuhle, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Henke?
Nein, ich würde gern im Zusammenhang vortragen.
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Schauen wir uns an, wie es mit der zweiten Voraussetzung aussieht: mit der drohenden Überforderung einzelner Länder. Hier ist es so, dass gerade ein Land, das eine mitunter ganz andere Strategie verfolgt hat als Nordrhein-Westfalen, nämlich Bayern, einen Schritt zurückgeht bei den öffentlichen Beschränkungen, beim Katastrophenfall und bei den Sonderermächtigungen für die Staatsregierung. In Bayern ist gestern der Katastrophenfall ausgelaufen. Wem wollen Sie eigentlich was vormachen? Wenn einzelne Länder den Katastrophenfall beenden, wenn andere Länder die epidemische Lage beenden – auf Landesebene –, dann kann doch dieses Parlament nicht an einer epidemischen Lage von bundesweiter Tragweite festhalten. Das passt nicht zusammen, das ist widersprüchlich, und deswegen müssen wir gleichsam zu einer Aufhebung dieser Sonderrechte für die Regierung kommen.
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Ich will auch sagen, dass die einzelnen Beispiele, die hier genannt worden sind – Bremerhaven, Göttingen, Gütersloh –, überhaupt keine Argumente dagegen sind, die epidemische Lage aufzuheben; denn die Beschränkungen, die dort gemacht werden – Schulschließungen, Quarantäne –, sind alle richtig. Es ist absolut zutreffend, dass wir mit dieser Pandemie noch lange zu tun haben werden, und es ist absolut richtig, dass wir lokal gegen Ausbruchssituationen vorgehen müssen. Nur, das hat mit der epidemischen Lage überhaupt nichts zu tun. Hier geht es um die Parlamentsrechte, die gestärkt werden müssen, und die Parlamentsrechte dürfen in dieser Zeit nicht unter den Tisch fallen.
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Liebe Kollegin Klein-Schmeink, das muss ich wirklich sagen: Eine schönere Oppositionsrede als die, die Sie hier gerade gehalten haben, kann sich die Regierung nicht vorstellen.
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Das, was Sie hier vorgeführt haben, war der Gipfel der parlamentarischen Selbstentmachtung; da bleibt einem wirklich die Spucke weg.
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Sie haben hier gerade gesagt – ich würde das gerne kurz darstellen –, es würde überhaupt keinen Unterschied machen, ob eine Rechtsetzung durch das Parlament oder durch den Minister erfolgt. Das haben Sie gerade so gesagt. Wenn das zutreffend ist, dann können wir uns die ganze Veranstaltung hier sparen.
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Deswegen: Es scheint ja so zu sein, dass die Grünen wirklich die treuesten Anhänger dieser Bundesregierung sind. Wir haben es doch miteinander, die Große Koalition mit der Opposition, eingerichtet,
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dass das Parlament darüber entscheidet, wann diese epidemische Lage endet, und dafür müssen wir auch entsprechende Kontrollbefugnisse haben. Dem sollten wir jetzt nachkommen.
Ich möchte mit einem Zitat von Ralph Brinkhaus und Rolf Mützenich aus dem „Spiegel“ Ende Mai schließen – ich zitiere –:
… unsere Rolle als Parlament verlangt auch, dass wir jetzt überprüfen, wie die Bundesregierung diese Kompetenzen genutzt hat.
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Und wo es nötig ist, werden wir diese Regelungskompetenzen wieder ins Parlament zurückverlagern.
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In diesem Sinne freuen wir uns über die Zustimmung.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Kuhle. – Ich habe Sie gesehen, Frau Klein-Schmeink. Ich nehme an, da die Frage nicht zugelassen wurde, dass Sie eine Kurzintervention machen wollen. Ich habe jetzt zwei entsprechende Wünsche vorliegen, und dann ist auch Schluss mit den Kurzinterventionen.
Die erste Kurzintervention macht der Kollege Henke, CDU/CSU-Fraktion.
Vielen Dank, Herr Präsident, dass Sie die Kurzintervention zulassen. – Herr Kollege Kuhle, wenn man sich die Änderungen des Infektionsschutzgesetzes ansieht, mit denen wir ja dem Bundestag die Möglichkeit verschafft haben, eine epidemische Lage von nationaler Tragweite festzustellen, dann kann man der Begründung entnehmen, wann wir die epidemische Lage feststellen. Dies kann etwa dann der Fall sein, wenn durch den „seuchenrechtlichen Notfall das Funktionieren des Gemeinwesens erheblich gefährdet sein kann“.
Angesichts der wirtschaftlichen Auswirkungen, die die Pandemie in allen Staaten der Erde hat, egal ob sie restriktiv oder nichtrestriktiv mit der Lage umgegangen sind – die wirtschaftlichen Folgen sind ja überall gleich intensiv –, besteht natürlich eine erhebliche Gefährdung.
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In der Begründung heißt es weiter:
In einer sich dynamisch entwickelnden Ausbruchssituation kann für die öffentliche Gesundheit in der gesamten Bundesrepublik durch eine sich grenzüberschreitend ausbreitende übertragbare Krankheit eine erhebliche Gefährdung eintreten, der nur begrenzt auf Landesebene begegnet werden kann.
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Also nicht nicht auf Landesebene, aber eben begrenzt. Und: Der Gefahr einer Destabilisierung des gesamten Gesundheitssystems muss vorgebeugt werden.
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Wenn Sie sich mal angucken, was im Öffentlichen Gesundheitsdienst los ist, nachdem die App freigeschaltet worden ist – die Beschäftigten beklagen sich, dass sie in die Knie gehen, weil sie jetzt viele Anrufe erhalten –, dann zeigt das doch, dass diese Gefahr der Destabilisierung nicht gebannt ist.
Insofern: Verstehe ich Sie richtig, dass Sie sagen: „Es nimmt nur der die Rechte des Parlaments ernst, der Ihrem Antrag zustimmt, aber der, der sich anders entscheidet, nimmt die Rechte des Parlaments nicht ernst“?
Herr Kollege Kuhle, Sie wollen antworten; das sehe ich schon. Sie haben das Wort.
Ja, vielen Dank. – Lieber Herr Kollege, Sie haben völlig korrekt dargestellt, wie die Begründung seinerzeit gewesen ist. Aber Sie können natürlich nicht auf ein paar Anrufe bei einer Hotline abstellen, weil die App freigeschaltet ist, und gleichzeitig unter den Tisch fallen lassen, dass ein Drittel der Intensivbetten frei ist, wenn Sie darüber nachdenken, ob es eine öffentliche Überlastung des Gesundheitswesens gibt. Da kann man zu einer unterschiedlichen Einschätzung kommen, und mir ist sehr aufgefallen, dass Sie deutlich gemacht haben, dass es zu Ihrem Selbstverständnis und auch zum Selbstverständnis Ihrer Fraktion gehört, dass wir hier im Parlament sehr genau prüfen, ob diese Voraussetzungen noch vorliegen. Deswegen begrüße ich das außerordentlich.
Ich möchte mich aber von dem abgrenzen, was die Kollegin Klein-Schmeink gesagt hat, nämlich: Im Grunde genommen ist das, was die FDP sagt, widersprüchlich; denn die wollen die Parlamentsrechte wieder scharf schalten, gleichzeitig die materiellen Regelungen erhalten. Das ist im Grunde dasselbe, und deswegen ist es überflüssig. – Das ist nicht in unserem Sinne, und das ist, wenn ich den Kollegen Brinkhaus im „Spiegel“ richtig verstehe, auch nicht in Ihrem Sinne.
Deswegen begrüße ich, dass wir sehr genau schauen, ob die Kriterien, die Sie gerade vorgetragen haben, erfüllt sind. Hier kann man als Parlamentarier zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Aber darüber, dass die Entscheidung hier getroffen werden muss, sind wir uns, glaube ich, einig.
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Eine weitere Kurzintervention von der Kollegin Klein-Schmeink.
Herr Kuhle, ich finde, die Wiedergabe dessen, was ich gesagt habe, sehr, sehr verdreht und tendenziell.
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Ich habe darauf verwiesen, dass es notwendig ist, den Bundestag mehr an den Beratungen über die Verordnungen zu beteiligen, als es heute der Fall ist. Das habe ich hier ausdrücklich gesagt.
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Ich habe auch darauf verwiesen, dass wir in der letzten Plenarwoche einen entsprechenden Änderungsantrag gestellt haben. Es ist natürlich auch bekannt, dass das gemeinschaftliche Wirken der Oppositionsfraktionen hier im Bundestag dazu geführt hat, dass der Bundestag darüber befindet, ob die epidemische Lage ausgerufen wird oder nicht. Das zur Richtigstellung. Ich finde es nicht angemessen, dass Sie mich in dieser Weise falsch wiedergeben und auch die Position meiner Bundestagsfraktion,
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die Ihnen an dieser Stelle auch hinlänglich bekannt sein dürfte.
Was ich bei Ihnen vermisse, ist das Benennen von Kriterien und die Beantwortung der Frage, mit welchen Mitteln Sie den Schutz der Bevölkerung sicherstellen wollen. Denn wir wissen, dass es ein gewisses Risikopotenzial für große Ausbrüche gibt. Wir sind sehr, sehr beeindruckt von den Zahlen, die wir aus dem Kreis Gütersloh zur Kenntnis nehmen müssen. Wir wissen auch, dass nicht nur diejenigen, die in diesem Schlachthof arbeiten, betroffen sein werden, sondern viele, viele Menschen, die in der Pflege arbeiten, die in Pflegeeinrichtungen leben, die Kinder und Jugendlichen, die nicht mehr in die Schule gehen können. Damit sind also sehr viele Wirkungen verbunden.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Deswegen ist es aus meiner Sicht, aus unserer Sicht wichtig, nicht nur auf den rechtsförmigen Akt abzustellen, –
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
– sondern die Kriterien zu benennen, unter denen wir diese Aufhebung der epidemischen Lage beenden wollen.
Frau Kollegin, auch bei einer Kurzintervention gibt es eine Redezeit.
Wir haben vorgeschlagen, einen Expertenrat einzubeziehen –
Ich muss Ihnen jetzt das Wort entziehen.
– und nicht einfach hier im Bundestag eine Ausrufung zu machen.
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Herr Kollege Kuhle, wollen Sie antworten?
Liebe Frau Kollegin, ich bleibe dabei: Es macht einen Unterschied, ob eine materielle Regelung im Gesundheitsrecht durch dieses Parlament oder durch den Minister erlassen wird. Dieser Unterschied ist die demokratische Legitimation. Da ist es immer besser, eine Regelung wird durch das Parlament erlassen. Es ist ein großer Schaden für unsere parlamentarische Demokratie, wenn in der Diskussion über diese Frage der Eindruck entsteht, unser Parlament könnte nicht schnell und pragmatisch handeln.
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Das kann es, und das wird es auch wieder.
Ich will mit einer Rückfrage, die, glaube ich, nicht beantwortet werden kann, schließen. Sie sind dermaßen in Unterstützungshaltung gegenüber der Bundesregierung, dass Sie von den Grünen überhaupt nicht mitbekommen, was Ihre Parteifreunde in NRW und Bayern machen. Sind die Grünen in Bayern etwa gegen die Aufhebung des Katastrophenfalls? Sind die Grünen in NRW etwa gegen die Aufhebung der epidemischen Lage von landesweiter Tragweite? Davon habe ich nichts gehört. Parlamentarisches Selbstbewusstsein gegenüber der Regierung setzt auch voraus, dass wir ihr mal widersprechen und nicht alles abnicken. Da würde ich mir auch etwas Unterstützung von den Grünen wünschen.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, wir müssen den Infektionsschutz auf das Maß des Notwendigen konzentrieren. Und dieses Maß – das sagen selbst Virologen, wenn sie an die Grenze ihrer eigenen Argumentation kommen – muss die Politik bestimmen. Darum diskutieren wir hier, und das ist auch richtig. Deshalb war es uns als SPD besonders wichtig, dass sowohl die Ausrufung der epidemischen Lage als auch deren Aufhebung hier von diesem Parlament beschlossen wird.
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Denn es geht immer auch um das konkrete Schicksal von Menschen. Es geht um das Wohlergehen der Bürgerinnen und Bürger, von Jung und Alt.
Und an die Adresse der FDP, die sich heute hier so besonders engagiert, möchte ich noch einmal sagen: Wir haben ebenfalls sicherzustellen, dass auch die Schwächsten geschützt werden; denn persönliche Freiheit muss dort ihre Grenze haben, wo die Rücksichtnahme auf die Grundrechte anderer verletzt wird. Es kann nicht sein, dass diejenigen – und jetzt bitte ich um Erlaubnis des geschätzten Präsidenten, dass ich ihn an dieser Stelle kritisch zitiere – einfach zu Hause bleiben müssen, die Angst haben. So, Herr Präsident, haben Sie es als freier Abgeordneter im öffentlichen Rahmen gesagt. Nein, wir als SPD wollen, dass die Risiken für alle reduziert werden, dass niemand Angst haben muss, dass Pflegerinnen und Pfleger ohne Sorge ihren Beruf ausüben können, dass Verkäuferinnen und Busfahrer ohne Angst ihrer Arbeit nachgehen können, dass Kinder wieder unbeschwert in Kita und Schule gehen und wir alle ohne Angst unsere hochbetagten Angehörigen besuchen können. Darauf kommt es jetzt an.
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Wer noch immer vom Lockdown spricht, beschreibt nach meiner Einschätzung eine andere Wirklichkeit, als wir sie hier in Deutschland haben.
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Wir haben die Änderungen im Infektionsschutzgesetz einschließlich der Feststellung einer epidemischen Notlage in großer Einmütigkeit beschlossen. Und unsere Bundesregierung hat die ihr übertragenen Sonderrechte sehr maßvoll angewandt, stets in Abwägung der aktuellen Infektionsentwicklung, transparent und begleitet von vielen politischen Debatten hier in diesem Saal.
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Ist nun, drei Monate nach dieser Beschlussfassung, tatsächlich der Zeitpunkt gekommen, um diese Lage aufzuheben? Ich denke, nein; denn wir befinden uns noch immer mitten in einer weltweiten Pandemie und wollen alles tun, um eine zweite Infektionswelle in unserem Land zu vermeiden.
Wir machen große Fortschritte bei der Eindämmung der Infektionszahlen – mit Ausnahmen. Und die Lockerungen führen uns Schritt um Schritt hin zur Normalität. Aber wir müssen das Bewusstsein wachhalten, dass die Gefahr noch nicht gebannt ist. Besonders angesichts der anstehenden parlamentarischen Sommerpause sollten wir den Weg der schnellen Reaktionsfähigkeit verantwortungsvoll weitergehen. Und ich sage auch klar: Das ist kein Freibrief für die Regierung. Wir als Parlament und auch die SPD-Fraktion werden selbstverständlich unsere parlamentarische Kontrollfunktion gegenüber der Exekutive weiterhin sehr ernst nehmen. Wir werden ihr Tun in dieser Ausnahmesituation weiter konstruktiv, aber eben auch kritisch begleiten.
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Ich denke, es ist gut, dass wir heute hier diskutieren. Aber lassen Sie uns diese Debatte nach den Erfahrungen während der parlamentarischen Sommerpause weiterführen und im September die notwendigen Entscheidungen treffen. Keinesfalls sollte aber – ich komme zum Schluss, Herr Präsident – von der heutigen Debatte das Signal ausgehen, es sei alles überstanden. Noch immer sterben Menschen in unserem Land an Covid-19, noch immer gibt es Neuinfektionen. Darum ist es wichtig, dass wir weiterhin verantwortungsvoll Schritte hin zur Normalität gehen, aber eben deren Wirkung auch sorgfältig beobachten.
Vielen Dank.
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Frau Kollegin, herzlichen Dank. – Sie sehen, dass ich wegen Ihrer maßvollen Kritik an meinen öffentlichen Äußerungen sehr gnädig war mit der Redezeit.
Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Stephan Pilsinger, CDU/CSU-Fraktion, zu einem Vier-Minuten-Beitrag.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vielleicht zunächst mal eine Anmerkung auf die Fragen bzw. Aussagen des Kollegen Schinnenburg und des Kollegen Kuhle von der FDP: Es standen ja die Fragen im Raum, bis wann denn die epidemische Lage längstens geht und ob wir so lange warten wollen, bis es einen Impfstoff gibt. Ich muss Ihnen sagen: Im Gesetz steht aktuell: Die epidemische Lage wird bis spätestens Ende März 2021 laufen, dann endet sie automatisch. – Dann wissen wir auch, ob es im Herbst oder im Winter zu einer zweiten Welle gekommen ist. Sie werfen uns ja immer indirekt vor, wir würden Ihren Antrag nicht lesen. Deswegen muss ich Ihnen schon sagen: Bitte lesen Sie doch das Gesetz genau. Dann wissen Sie auch, wann die epidemische Lage spätestens aufgehoben werden wird.
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Am 25. März hat der Bundestag eine epidemische Lage von nationaler Tragweite festgestellt und damit entscheidende Voraussetzungen für die Bekämpfung der Coronavirus-Epidemie in Deutschland geschaffen. Mit diesem Beschluss haben wir von Beginn an konsequent und vor allem rechtzeitig auf die steigende Zahl von Infizierten reagiert. Dieser Schritt war notwendig. Bereits mit den ersten Krankheitsfällen in Deutschland ist uns bewusst geworden, dass uns das Coronavirus vor ganze neue, viel weitreichendere Herausforderungen stellt. Um darauf angemessen reagieren zu können, war es notwendig und richtig, das Gesundheitsministerium für einen befristeten Zeitraum mit zusätzlichen Kompetenzen auszustatten. Ich muss an dieser Stelle noch mal sagen: Jens Spahn und das Bundesgesundheitsministerium haben die Aufgabe, die es bisher zu meistern gab, wirklich exzellent gemeistert.
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Vor allem aus diesem Grund hat der Deutsche Bundestag im März mit großer Mehrheit das Infektionsschutzgesetz geändert und eine epidemische Lage von nationaler Tragweite festgestellt. Nicht nur weil wir rechtzeitig diese Maßnahmen ergriffen haben, sondern vor allem auch, weil die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Gesundheitsministerium umsichtig und schnell auf die Epidemie reagiert haben, konnten wir eine Überlastung der deutschen Kliniken vermeiden.
Auch umfangreiche Testungen und die sorgfältige Nachverfolgung von Infektionsketten durch den Öffentlichen Gesundheitsdienst haben uns zunächst vor einer größeren Katastrophe bewahrt. Maßnahmen wie diese haben uns erlaubt, viele Einschränkungen des öffentlichen Zusammenlebens mittlerweile wieder zurückzunehmen. Andere Länder sind von diesem Schritt noch sehr weit entfernt. Denn die Epidemie breitet sich weiterhin auf der gesamten Welt aus. Die Gesundheitssysteme vieler Länder stehen deswegen an ihrer absoluten Kapazitätsgrenze.
In Deutschland konnten wir unser Zwischenziel erreichen. Wir haben die Geschwindigkeit, mit der sich das Virus ausbreitet, entscheidend verlangsamt. Aber das Infektionsgeschehen ist weiterhin sehr dynamisch, und das zu vergessen, ist wirklich gefährlich.
Wenn wir jetzt unvorsichtig werden und bewährte Maßnahmen zurücknehmen, dann finden wir uns ganz schnell in einer Situation, in der die erneute Ausbreitung des Virus in einem unkontrollierbaren Ausmaß erfolgt. Ich wende mich ausdrücklich auch hier an der Stelle noch mal an die Fraktion der FDP, die hier in ihrem Antrag die sofortige Aufhebung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite fordert. Als Gesundheitspolitiker, aber vor allem auch als Arzt kann ich nur davor warnen, jetzt mit solchen Forderungen Schlagzeilen machen zu wollen. Sie scheinen an dieser Stelle zu übersehen, dass das Virus mit unseren Maßnahmen zunächst nur zurückgedrängt worden ist.
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Darauf können wir stolz sein. Die Gefahr ist deswegen aber nicht weg. Dazu müssen wir eigentlich nur nach Peking schauen, wo sich in den vergangenen Tagen die Anzahl der Kranken wieder deutlich erhöht hat.
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Meine Damen und Herren, lassen Sie uns den mühsam erkämpften Vorsprung jetzt nicht verspielen. In der Vergangenheit mussten wir sehr schmerzhaft lernen, dass schwere Pandemien oft in Wellen verlaufen. Besonders bei der Spanischen Grippe war die zweite Erkrankungswelle deutlich stärker als die erste.
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Die epidemische Lage von nationaler Tragweite ist nicht vorbei. Eine vorschnelle Beendigung sendet ein völlig falsches Signal. Noch viel wichtiger: Durch die Aufhebung würden wir uns auf Bundesebene wichtige gesetzgeberische Reaktionsmöglichkeiten nehmen.
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Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss.
Das, meine Damen und Herren, dürfen wir in Anbetracht der noch immer bestehenden Gefahr nicht zulassen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Einen kleinen Moment. Wir müssen erst das Pult desinfizieren.
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Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Sebastian Hartmann, SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, der Deutsche Bundestag kommt seiner Verantwortung in vorbildlicher Art und Weise nach, wenn es darum geht, gemeinsam zu organisieren, wie wir diese einmalige Situation in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland bekämpfen. Das setzt voraus, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass man die Debatte eben nicht, wie es die FDP in bezeichnender Weise versucht, auf das Infektionsschutzgesetz reduziert.
Es geht in der Tat auch darum, dass wir als Parlament Pakete in Hunderte-Milliarden-Euro-Tranchen schnüren, um die deutsche Wirtschaft zu schützen, dass wir Bevorratungen beauftragen, dass wir vor allen Dingen auch dafür sorgen, dass die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land sehen: Wir kommen unserer Verantwortung als Parlament nach. – Es ist unredlich, dass die FDP versucht, den Anschein zu erwecken, dass wir genau das nicht tun. Die Debatte heute ist der beste Beweis dafür, wie vorbildlich wir das als Parlament machen.
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Der zweite Punkt. Herr Kollege Kuhle, gerade Sie waren es, der die Kolleginnen und Kollegen von den Grünen und der Union zitiert hat. Es ist schon unverfroren, dass Sie das Pandemiegesetz von Nordrhein-Westfalen mit Paragraphen zitieren, die die SPD-Landtagsfraktion in das Gesetz hineingeschrieben hat, nachdem Sie als schwarz-gelbe Regierung es selbst vermurkst haben. Ansonsten hätte man diesem Gesetz keine breite parlamentarische Zustimmung in Nordrhein-Westfalen geben können. Aber Sie stellen sich jetzt hierhin und tun so, als ob dies Ergebnis der FDP-Politik gewesen wäre.
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Ergebnis der FDP-Politik der vergangenen Jahre ist im Übrigen, dass Sie Kapazitäten des deutschen Bevölkerungsschutzes in der Regierungszeit 2009 bis 2013 eingespart und runtergefahren und uns damit erst in diese Lage versetzt haben, dass wir ad hoc handeln mussten; das ist der nächste Punkt.
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Und darüber hinaus, lieber Kollege Kuhle, stellen Sie sich hier auch noch hin und tun so, als ob Sie die Retter in der Situation wären. Sie haben hier ausgeteilt, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, also stecken Sie auch mal ein.
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– Ja, natürlich. Das Pandemiegesetz in Nordrhein-Westfalen.
Jetzt noch der letzte Punkt.
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Sie haben das Problem, dass heute der Tag nach Tönnies ist. Wir reden über 7 000 Menschen, die in Quarantäne sind. Wir reden über Hunderte von Neuinfektionen. Und dann rufen Sie aus Ihren Reihen dazwischen: Das liegt halt daran, dass man testet. – Natürlich muss man testen, meine Damen und Herren.
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Wir wollen doch die Lage erkennen, um zu wissen, wie es um die Bevölkerung steht. Und nun stellt sich ein nordrhein-westfälischer Ministerpräsident hin und sagt, dass das ein eingereistes Virus ist – Lohnarbeiter aus Bulgarien und Rumänien –, wo Sie doch nicht für gute Arbeitsschutzbedingungen gesorgt haben. Schämen Sie sich! Wir sollten uns entschuldigen bei den Menschen, die erkrankt sind.
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Das ist Ihre Verantwortung, und Sie missbrauchen diese Debatte, um billig populistisch zu handeln.
Wir werden diese Debatte führen. Wir werden sie im Ausschuss führen, und wir werden diese epidemische Lage gemeinsam überwinden.
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Aber wir befinden uns auch in der zweiten Welle.
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– Aber, Herr Dürr, Sie haben doch die Debatte angezettelt.
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Dann müssen Sie damit auch leben, dass wir reagieren. Hören Sie doch zu!
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Das ist doch Ihr Problem.
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Herr Kollege Hartmann, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schinnenburg?
Selbstverständlich.
Herr Kollege, habe ich Sie richtig verstanden, dass wir schon in einer zweiten Welle sind?
Die zweite Frage: Glauben Sie im Ernst, dass den Menschen in Husum, in Hitzacker im Fall Tönnies mit bundesweiten Regelungen geholfen wird? Das glauben Sie doch nicht im Ernst! Das muss lokal gelöst werden. Sie können doch nicht sagen: Mit einer bundesweiten Regelung helfe ich im Fall Tönnies. – Tönnies ist eine Sache der regionalen Behörden; die machen das, glaube ich, auch gut. Aber Husum und Hitzacker haben damit gar nichts zu tun. Können Sie das zugestehen?
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Sehr geehrter Herr Kollege, Sie irren gleich zweimal. Das Verbot von Werkverträgen in der Fleischindustrie
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und die unmöglichen Arbeitsbedingungen, die mit Arbeitsschutz gar nichts mehr zu tun haben, sind eine Angelegenheit des Bundesgesetzgebers.
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Unser Bundesminister für Arbeit und Soziales, Hubertus Heil, hat sehr, sehr gut reagiert, indem er gesagt hat: Schluss mit diesen unwürdigen Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie. – Das ist der erste Punkt, der zeigt, wo der Bund gehandelt hat.
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Das bringen wir als Große Koalition gemeinsam auf den Weg.
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– Hören Sie doch zu!
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Der zweite Punkt ist, dass Sie natürlich in Nordrhein-Westfalen Verantwortung dafür tragen, dass eben nicht regional hingeschaut worden ist, was Teststrategien angeht, die dafür sorgen, dass man Epidemien eindämmt. Jetzt, wo getestet wird, wird klar: Es existiert ein Problem, und das sind nicht nur diese Arbeitsbedingungen, sondern auch Großveranstaltungen und Fleischzerlegebetriebe. – Damit, Herr Kollege, kommen wir doch als Bundesgesetzgeber unserer Verantwortung nach. Punkt!
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Deswegen sage ich Ihnen etwas zur zweiten Welle. Die Frage haben Sie nämlich auch noch angeschlossen. Ich spare Ihnen ja auch Zeit, indem ich auf die Frage eingehe. Sie müssen nicht aufstehen; ich sage es Ihnen ganz kurz: Die zweite Welle läuft doch. Sie sind doch selber dafür verantwortlich, dass diese zweite Welle laufen wird.
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Sie säen die Saat des Zweifels. Der Erfolg der Bekämpfung der Pandemie liegt nicht in dem härtesten Grundrechtseingriff, er liegt nicht in dem schärfsten Gesetz oder der größtmöglichen Ermächtigung der Regierung, sondern er besteht darin, dass wir in einem Rechtsstaat transparent und demokratisch vorgehen und Informationen teilen, dass wir Bürger nicht verunsichern oder – wie die AfD – Angst schüren,
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sondern ihnen zeigen: Wir handeln. – Und Sie säen die Saat des Zweifels. Sie haben die epidemische Lage infrage gestellt.
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Es gibt zum jetzigen Zeitpunkt keinen Impfstoff, und es gibt keine ausgeprägte Behandlungsmethode. Deswegen, meine Damen und Herren, werden wir weiter handeln müssen, und das tun wir als Parlament.
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Deswegen freue ich mich auf die Debatte im Ausschuss. Ich glaube, dass es für die FDP-Fraktion nicht gut war, gerade den Ball aus Nordrhein-Westfalen aufzunehmen. Ich denke, wir sollten erstens all den Menschen, die jetzt eine Neuinfektion haben, gute Genesung wünschen, zweitens denjenigen, die sich in Quarantäne befinden, sagen, dass wir testen, testen, testen wollen, damit sie wissen, ob sie erkrankt sind oder nicht. Drittens gilt: Gemeinsam werden wir durch diese Krise kommen, aber nicht, indem wir einen solchen Klamauk veranstalten wie die FDP.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Tino Sorge, CDU/CSU-Fraktion.
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Da hat die Kollegin recht. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich könnte es mir jetzt einfach machen und sagen – kurzer Antrag der FDP, kurze Antwort –: Wir lehnen den Antrag ab. – Aber so einfach ist es dann doch nicht.
Es ist immer schade, wenn in der Debatte – das hat der Kollege Kuhle hier auch getan – einfache Antworten auf komplexe Dinge suggeriert werden.
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Denn Herr Kuhle weiß es ja besser, er weiß, dass es so einfach nicht ist. Insofern ist es richtig, dass wir hier im Parlament diese Debatte führen. Es wird natürlich in den letzten Tagen und Wochen immer so ein bisschen der Eindruck erzeugt, als wären die Parlamentsrechte in Gefahr, als könnte das Parlament nicht mehr mitreden, als würden der Bundesgesundheitsminister, der Bundeswirtschaftsminister ohne Anhörung, ohne Kooperation mit dem Parlament Dinge durchdrücken. Da muss man sich auch mal angucken: Worüber reden wir? Wir führen diese Debatten auch hier im Parlament in einem großen Umfang; das machen wir ja gerade.
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Wir reden über begünstigende Verordnungen. Wir reden beispielsweise im Gesundheitsbereich über Hilfspakete im Milliardenumfang. Wir reden aber auch darüber, dass wir den Ernst der Lage jetzt nicht kleinreden dürfen. Und da geht es auch darum, dass der Ausnahmezustand natürlich nicht die Regel sein kann. Und natürlich ist es nicht richtig, von einer neuen Normalität zu sprechen.
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Deshalb sollten wir hier keine einfachen Antworten suggerieren.
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Herr Kollege Schinnenburg – Sie fahren ja gerade wieder ein bisschen hoch –, ich empfehle Ihnen, auch mal innerhalb Ihrer Partei zu schauen. Der Oberbürgermeister von Jena, ein FDP-Kollege, hat bei der Diskussion um die Aufhebung der Kontaktbeschränkungen gesagt, dieser Schritt sei „verfrüht“, er sei „mutig“. Er hat gesagt, das sei „eine Art Mut, dessen Nachbar der Leichtsinn ist“. Genau das ist der Punkt: Wir dürfen nicht leichtsinnig werden
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und das verspielen, was wir hier erreicht haben, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Es ist völlig richtig, dass die Infektionszahlen zurückgehen. Das ist ja auch schön. Das ist auch dem Umstand geschuldet, dass die Bürger, dass wir alle verantwortungsbewusst mit der Situation umgegangen sind.
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Aber wir können doch nicht den Eindruck erwecken, es wäre jetzt alles überstanden.
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Gucken Sie sich doch an, was momentan los ist. Ich will jetzt nicht wieder mit Gütersloh anfangen – Kollege Henke hat es angesprochen –: 7 000 Menschen, die direkt oder indirekt betroffen sind. Wir haben Göttingen – das ist ja der Wahlkreis des Kollegen Kuhle –: Da haben wir ebenfalls sehr starke lokale Häufungen.
Wir haben jetzt aber auch Magdeburg. Ich sage ganz offen – Magdeburg ist mein Wahlkreis –, dass ich den Leuten immer erzählt habe: Na ja, wir müssen bei der Abwägung immer schauen, welche Langzeitfolgen die Maßnahmen in anderen Bereichen haben. – Es geht um das Thema Güterabwägung. Da ist es in der Debatte natürlich schwierig, dass in Gegenden wie auch Magdeburg – wir waren seit Anfang Mai neuinfektionsfrei – viele Menschen gesagt haben: Nun lasst aber mal die Kirche im Dorf, jetzt lasst uns doch all die Beschränkungen wieder runterfahren; das ist schon nicht so schlimm, und wenn was passiert, dann können wir da nachjustieren. – Wir haben in der letzten Woche Neuinfektionen gehabt, sind jetzt dabei, die zehnte bzw. die elfte Schule zu schließen. Daran sehen Sie, dass wir nicht mehr von lokalen Häufungen reden können, die man dann schnell eindämmt, sondern es ganz, ganz schnell zu einer nationalen Gesundheitsgefährdungslage führen kann. Deshalb ist Leichtsinn hier der falsche Weg.
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Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ullmann?
Sehr gern.
Herzlichen Dank, dass Sie die Frage zulassen. – Sie sprechen hier immer von Leichtsinn und vom Aufheben von Beschränkungen. Dazu steht in unserer Gesetzesinitiative übrigens nichts drin.
Ich habe – wie auch die Grünen – das Gefühl, dass Sie den Ländern gar nicht zutrauen, Infektionsschutz zu betreiben. Da würde ich mal gerne wissen, wie Sie das sehen; denn ich traue den Ländern durchaus etwas zu. Würden Sie sagen, dass der Gesundheitsschutz und das Gesundheitswesen jetzt in Bundeshand übergehen sollten, dass das mal wieder der Bund machen sollte?
Im Grunde ist das ja wieder eine Argumentation, bei der Sie die Dinge verdrehen. Aber es ist ein sehr guter Punkt, den Sie ansprechen, lieber Herr Kollege. Es wird ja in Ihrem Antrag genau dieser Eindruck erweckt, als könnte da niemand mehr mitreden, als würde der Minister Jens Spahn – da drüben sitzt er übrigens – Dinge machen, die er vorher mit niemandem besprochen hätte. Wir haben doch unabhängig von der Frage, ob wir eine epidemische Lage von nationaler Tragweite haben, die Länder sowieso immer mit im Boot. Das heißt, unabhängig von dieser Einschätzung sind die Länder immer mit beteiligt. Deshalb ist es richtig, dass wir über Lockerungen und die Beurteilung der Lage nicht nur hier im Parlament sprechen, sondern eben auch die Länder einbeziehen. Sie sind mit einbezogen. Insofern verstehe ich Ihre Frage in dem Punkt nicht so recht.
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Vielleicht auch noch einige Worte zu der Behauptung, das sei ja alles nicht mehr so schlimm und deshalb könne man die Maßnahmen ja jetzt wieder zurückfahren:
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Erstens. Wir führen die Debatte, wir kontrollieren natürlich die Regierung.
Zweitens. Dass unsere Einschätzung keine ist, die völlig weltfremd wäre, sieht man auch daran, dass die Weltgesundheitsorganisation ihre Einschätzung, dass wir eine Gesundheitskrise von internationalem Ausmaß haben, immer noch nicht aufgehoben hat. Insofern sollten wir in der Beziehung auch in bisschen realitätsnäher sein, zumal wir bei der Frage, wie sich das Infektionsgeschehen entwickelt, ja immer nur über eine Momentaufnahme quasi von vor zwei Wochen reden. Keiner weiß also, wie die Lage in zwei Wochen aussieht.
Drittens. Wir wissen auch, dass es, wenn jetzt das Urlaubsgeschehen losgeht, wenn wir erfreulicherweise auch wieder in Europa reisen können, zum Ende der Urlaubssaison sicherlich wieder Fälle geben wird. Trotz aller Vorsicht muss man sicherlich mit Neuinfektionen rechnen.
Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen insbesondere von der FDP, lassen Sie uns doch bei der Frage, inwieweit die Maßnahmen, die wir in dieser Situation ergreifen, gerechtfertigt sind, die Gemüter ein bisschen runterfahren. Ich verstehe den Antrag. Die Begründung ist teilweise auch nachvollziehbar.
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Aber wir haben es doch in anderen Krisen gesehen: In der schwarz-gelben Koalition, von 2009 bis 2013, haben wir doch auch mitten in der Euro-Krise viele gute Dinge gemacht. Wir haben damals doch in einer besonderen Situation, in der wir auch momentan sind, die Parlamentsrechte nicht außer Kraft gesetzt. Ich führe gern mit Ihnen, auch gerade mit Konstantin Kuhle, eine Diskussion über staatstheoretische Fragen, zum Selbstverständnis eines Parlaments, über die Frage, inwieweit wir vielleicht an der einen oder anderen Stelle der Regierung stärker widersprechen sollten. Das können wir alles machen; aber in diesem Kontext ist es, glaube ich, nicht das Richtige.
Deshalb: Lassen Sie uns eher darüber diskutieren, wie wir mit digitalen Möglichkeiten – die Corona-Warn-App ist hier angesprochen worden – die Normalität für viele Menschen in unserem Land so schnell wie möglich wiederherstellen können.
Kommen Sie zum Schluss, bitte.
Aber die Maßnahmen müssen so lang wie nötig greifen.
In diesem Sinne ist der Ort der Debatte das Parlament; das hat sich nicht geändert. Ich freue mich auf die Diskussionen und danke für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Damit schließe ich die Aussprache.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Haben Sie herzlichen Dank für die freundlichen Glückwünsche. Ich hoffe, dass sie ihre Wirkung nicht verfehlen und die gute Laune erhalten bleibt, zumal wir heute ein wichtiges Gesetz beschließen.
Deutschland ist ein offenes Land für ausländische Investitionen. Wir freuen uns über jedes Unternehmen, das in Deutschland investiert, weil die deutsche Wirtschaft, weil die deutsche technologische Führung, die deutschen industriellen Kompetenzen, unsere Hidden Champions und viele andere attraktiv sind, weit über die Landesgrenzen hinaus. Das soll auch in Zukunft so bleiben. Und wir wollen, dass Deutschland eines der liberalsten und offensten Länder bleibt, wenn es um ausländische Investitionen und Direktinvestitionen geht.
Aber nicht alle diejenigen, die investieren wollen, haben gleichermaßen lautere Absichten. Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass unsere deutschen und europäischen Firmen dort, wo es ausnahmsweise notwendig sein sollte, vor unfairem Wettbewerb, vor unzulässigem Technologietransfer und vor Aufkauf durch staatlich subventionierte Konkurrenz, die vielfach nicht aus den Ländern der Europäischen Union stammt, geschützt werden. Gerade unsere exportstarken Hidden Champions, unsere Mittelständler, Unternehmen, die wegen der Coronapandemie vorübergehend angeschlagen sind, dürfen nicht zu wehrlosen Übernahmekandidaten werden, unabhängig davon, welche Zwecke und Ziele der Übernehmende verfolgt.
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Die Europäische Kommission hat dieses Thema aufgegriffen. Sie warnt nachdrücklich vor Aktivitäten unionsfremder Investoren, die krisenbedingt gesteuert sind. Sie fordert uns auf, die nationalen Prüfregime so auszugestalten, dass Unternehmen in einer kritischen Lage, Technologien und Assets, gerade im Gesundheitsbereich, nicht verloren gehen. Deshalb sind wir dieses Problem angegangen. Wir etablieren eines der modernsten, aber immer auch noch liberalsten Prüfregime weltweit. Wir wollen wissen, was los ist. Wir wollen wissen, wer hinter potenziellen Investoren steht. Wir wollen in den wenigen Fällen, wo dies problematisch ist, handeln können, bevor es zu spät ist.
Wir haben vor zwei Monaten Vorschläge zur Stärkung der Investitionsprüfung vorgestellt, die sich in einer Änderung der Außenwirtschaftsverordnung niedergeschlagen haben. Jetzt können wir die Übernahmen inländischer Hersteller von Medikamenten, Impfstoffen und Beatmungsgeräten gründlicher prüfen. Wir haben klargestellt: Nicht nur die Produkte eines Zielunternehmens sind von Interesse, sondern auch die Mittelherkunft der Investoren.
Heute machen wir mit der Novelle des Außenwirtschaftsgesetzes einen weiteren maßvollen, aber notwendigen Schritt, um unsere wesentlichen Sicherheitsinteressen zu wahren; wir orientieren uns auch hier eins zu eins an der EU-Screening-Verordnung. Erstens. Die Prüfung kann künftig auch absehbare Entwicklungen nach einer erfolgten Übernahme umfassen. Zweitens. Vor Abschluss der Prüfung gilt: Kein Vollzug des Erwerbs und kein Abfluss sensibler Informationen ins Ausland. Drittens. Die Prüffristen werden künftig unmittelbar im Gesetz verankert.
Ich bedanke mich beim Deutschen Bundestag, bei den Fraktionen der Koalition, für ein konstruktives Zusammenwirken, das dieses Gesetz verbessert hat. Es bedeutet konkret, dass die Dauer der Prüfung für Unternehmen künftig erstmals eindeutig berechenbar wird,
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dass die Prüfverfahren möglichst rasch abgeschlossen werden und nur in komplexen Fällen eine Verlängerung der Hauptprüffrist möglich ist. Die klare Botschaft ist: Wir wollen die Bedürfnisse der Unternehmen und die Freiheit des Kapitalverkehrs ernst nehmen und bewahren. Aber richtig ist auch: Das, was wir heute hier gemeinsam beschließen, geht auch auf Bitten und Wünsche aus dem Bereich der Wirtschaft selbst zurück.
Wir müssen mit Augenmaß handeln. Wir werden in einigen Wochen über eine abschließende Anpassung der Außenwirtschaftsverordnung beraten. Ich bin zuversichtlich, dass wir in der Pandemie die Weichen so stellen können, dass die Globalisierung weitergehen kann, dass die Verflechtung unseres Landes in der Weltwirtschaft nicht rückabgewickelt wird und dass unsere Lieferketten trotzdem widerstandsfähiger und diverser werden.
Vor einigen Tagen hat ein Thema Aufmerksamkeit bekommen, nämlich die Beteiligung der KfW an dem Unternehmen CureVac, das im Bereich der Biotechnologie und der Entwicklung von Impfstoffen eine international führende Rolle spielt. Ich sage Ihnen: Wir sind dann, wenn es notwendig ist, dann, wenn wir glauben, dass wir es den Menschen in Deutschland schuldig sind, bereit, zu handeln.
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Das ist keine theoretische Frage, sondern eine ganz konkrete Herausforderung.
Ich bin gemeinsam mit meinem französischen Kollegen Bruno Le Maire dabei, über notwendige maßvolle Anpassungen im europäischen Wettbewerbsrecht zu diskutieren. Wir wollen ein Regelwerk, das fairen Wettbewerb garantiert. Die EU-Kommissarin Frau Vestager hat erste und gute Vorschläge vorgelegt. Auf dieser Grundlage werden wir während der deutschen Präsidentschaft dafür sorgen, dass die wirtschaftlichen, die industriellen Interessen einer globalen Wirtschaft auch von der Europäischen Union, von allen Mitgliedstaaten gemeinsam und ganz besonders natürlich von Deutschland die Aufmerksamkeit bekommen, die sie verdient haben. Denn es geht um nicht mehr und nicht weniger als um zukunftsfähige Arbeitsplätze in unserem Land. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um unseren Lebensstandard und die Entwicklungschancen künftiger Generationen. Für sie wollen wir sicherstellen, dass wettbewerbsfähige und leistungsfähige Unternehmen auch künftig in Deutschland ihren Sitz und ihren Mittelpunkt haben.
Ich danke Ihnen für Ihre Mitarbeit an diesem Gesetzentwurf, mit dem wir einen weiteren Schritt in die richtige Richtung gehen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Bundesminister. – Nächster Redner ist für die Fraktion der AfD der Kollege Hansjörg Müller.
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Herr Präsident! Verehrte Kollegen! Lieber Herr Bundesminister, Sie haben heute Geburtstag, also alles Gute, und selbstverständlich werde ich Sie deswegen etwas weicher anfassen als sonst.
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Herr Kollege Müller, Anfassen schließen wir aus wegen der Infektionsgefahr, die damit verbunden sein kann.
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Das meine ich natürlich im übertragenen Sinne.
Ich möchte den Minister erst einmal loben. Die deutschen Schlüsselindustrien sind vor ausländischem Zugriff zu schützen, wenn die Investoren neben wirtschaftlichen Zielen auch Machtziele verfolgen.
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Mit Investitionen Gewinne zu erzielen, ist legitim und für eine funktionierende Marktwirtschaft notwendig. Gefährlich wird es, wenn aus weiteren Gründen investiert wird, die mit Gier zu tun haben – und ich weiß nicht, ob Gier unbedingt legitim ist –, und zwar Kontrollgier nach Marktmacht, um den Wettbewerb auszuschalten, Gier nach Shareholder-Value, wenn Heuschrecken Firmen aufkaufen, die Substanz über Beraterhonorare aussaugen und Mitarbeiter auf die Straße setzen, und Neugier über das Absaugen deutscher Technologie durch ausländische Global Player und Investmentbanken. – Jetzt können Sie klatschen; denn etwas Ähnliches hat der Minister auch gerade gesagt. Da haben Sie auch geklatscht.
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Das war es auch schon mit unserem Lob für den grundsätzlich richtigen Ansatz der Bundesregierung. Ihr Ansatz verursacht bei differenzierter Betrachtung folgende Probleme. – Es wäre nett, wenn in der ersten Reihe vielleicht auch zugehört würde, wenn ich hier meine Rede halte. Ich bedanke mich bei den grünen Kolleginnen und Kollegen.
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Die Kriterien für eine Prüfung ausländischer Direktinvestitionen in Deutschland sind zu schwammig formuliert. Es werden keineswegs nur die sogenannten systemrelevanten Unternehmen geschützt. Die vagen Formulierungen – das ist eine Hauptkritik von uns – ermöglichen eine willkürliche Auslegung durch die Ministerien. Dann steht immer die Frage im Raum: Was ist systemrelevant und was nicht? Bei Bedarf kann man wohl auch eine Masken- oder Maulkorbproduktion für systemrelevant erklären, da die Kriterien nicht eindeutig sind.
Zur Nacharbeitung ihrer Änderungen zum Außenwirtschaftsgesetz hat sich die Regierung drei Wochen zusätzlich genehmigt – wenn Sie diese Zeit bloß sinnvoll genutzt hätten –, und zwar im Hinblick auf die sehr heftigen Nachwirkungen des Corona-Lockdowns. Man hätte den Gesetzentwurf an die Gefahren eines Ausverkaufs der deutschen Wirtschaft anpassen müssen. Diese sind nämlich durch die aktuellen Verwerfungen an den Kapitalmärkten gestiegen. Aber nichts wurde gemacht. Es ist ja auch klar: Es ist für die Regierung einfacher, sich als Retter mit fremdem Geld auf Kreditbasis feiern zu lassen – so richtig schön populistisch –, anstatt Sacharbeit zu leisten.
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Aber sei’s drum: Der wesentliche Schwachpunkt des Koalitionsvorschlags ist und bleibt die Ausgestaltung. Die alleinige Lösung über reine Kontrollmechanismen ist nicht effizient. Es fehlen zusätzliche Anreizmechanismen, insbesondere fiskalischer Natur. Darüber hinaus sind die Kontrollmechanismen – so steht es im Gesetzentwurf – auch noch mit folgenden praktischen Problemen verbunden:
Erstens. Es entsteht ein bürokratisches Prüfchaos. Bis zu fünf Ministerien sollen gemeinsam entscheiden, manchmal zusätzlich auch noch die Bundesregierung; gegebenenfalls ist auch noch die Zustimmung anderer europäischer Staaten einzuholen. Die Koalition ist sich dieses Tohuwabohus, denke ich, schon bewusst. Sie beschreibt selbst das Minimalziel ihres Änderungsantrags im Ausschuss: Zumindest die Fristen sollen für Unternehmen halbwegs durchschaubar gemacht werden. – Aber ob das einem ausländischen Unternehmer ausreicht, um planungssicher in ein deutsches Unternehmen zu investieren?
Zweitens sehen wir die Gefahr der außenpolitischen Einflussnahme. Siehe Nord Stream 2 – da haben wir es doch –: Einflussnahme außenpolitischer Natur auf das Außenwirtschaftsgesetz. Es ist realistisch, anzunehmen, dass deutsche Ministerien unter erheblichen Druck aus den USA geraten könnten. Dann hätten wir kein neutrales Außenwirtschaftsgesetz zum Schutze systemrelevanter deutscher Unternehmen mehr, sondern ein Sondergesetz gegen Investoren aus Russland und China.
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Als AfD-Bundestagsfraktion sehen wir es kritisch, dass viele Ministerien immer nur kontrollieren, anstatt Anreize zu setzen, obwohl Anreize doch Steuerungsinstrumente sind, mit denen man viel mehr Wirkung erzielen kann.
Aus diesem Grund beantragen wir als AfD-Fraktion in unserem Entschließungsantrag, Änderungen fiskalischer Natur ins Außenwirtschaftsgesetz einzubauen. Die deutschen Finanzämter verfügen über die notwendige Durchsetzungsfähigkeit, vor der auch ausländische Investoren Ehrfurcht haben. Damit bieten unsere Finanzämter einen viel wirksameren Schutz für systemrelevante deutsche Unternehmen als dieses Kompetenzwirrwarrprüf- und ‑entscheidungsgremium aus folgenden Ministerien, die bei uns mitquatschen: Wirtschaft, Verteidigung, Inneres, Finanzen, Auswärtiges; gegebenenfalls quatscht auch noch das Kanzleramt mit. Was für ein Chaos!
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Das angestrebte Ziel können die Finanzämter viel wirksamer und einfacher erreichen, zum Beispiel durch die gezielte Verteuerung von Käufen systemrelevanter Unternehmen, wenn diese Unternehmen auf Kosten des deutschen Steuerzahlers hochgepäppelt und erst dadurch wertvoll geworden sind. Ordnungspolitisch ist es sogar erforderlich, der Privatisierung von Gewinnen und der Sozialisierung von Verlusten einen Riegel vorzuschieben, damit die Marktwirtschaft, von der unser Minister immer so gerne spricht, funktionieren kann.
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Ausländische Investoren können, wenn sie wollen, sehr gerne systemrelevante deutsche Unternehmen kaufen, wenn sie bereit sind, dem deutschen Steuerzahler diejenigen Beträge zurückzuerstatten, die er vorher in diese Unternehmen in Form staatlicher Förderung investiert hat.
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In diesem Sinne sind die Vorschläge in unserem Entschließungsantrag aufgebaut: Anreize setzen, dafür Prüf- und Bürokratieaufwand reduzieren. Damit, liebe Bundesregierung, lässt sich Ihr Ziel, systemrelevante deutsche Unternehmen vor ausländischer Übernahme zu schützen, viel effizienter erreichen als mit Ihrem Kompetenzwirrwarrprüf- und ‑entscheidungsgremium.
Ich danke fürs Zuhören.
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Vielen Dank, Herr Kollege Müller. – Nächster Redner ist der Kollege Markus Töns, SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Zusammenhang mit den Änderungen im Außenwirtschaftsgesetz wird häufig behauptet, es gehe dabei um Abschottung, wir würden abschotten. Das ist mitnichten der Fall. Das ist ein sehr transparentes, sehr vernünftiges Gesetz; das gilt auch für die Änderungen, die heute eingebracht werden. Eines wird deutlich: Wir setzen die EU-Screening-Verordnung um, und zwar zusammen mit unseren europäischen Partnern, wir handeln in dieser Frage gemeinsam, wir fahren hier eine effektive Kooperation. Ich glaube, das sind die entscheidenden Punkte, über die man mal reden muss; neben den Änderungen, die ich gleich erläutern werde.
Ich finde, dieses Gesetz ist ein starkes Signal; denn wir geben kurz vor der deutschen EU-Ratspräsidentschaft unseren europäischen Partnern mit diesem Gesetz Sicherheit. Es ist maßvoll, es ist transparent, es ist gut.
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Dass die Mitglieder der AfD-Fraktion Probleme mit einer europäischen Sichtweise haben, ist ja fast schon systemimmanent.
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Sie verstehen das, glaube ich, einfach nicht. Wir schützen hier nicht nur den deutschen Markt, wir schützen den europäischen Binnenmarkt. Es geht um Investitionen in die Europäische Union. Es geht darum, die kritische Infrastruktur gemeinsam zu schützen, nicht nur die deutsche kritische Infrastruktur. Wer das nicht versteht, versteht von Wirtschaft und globaler Wirtschaft wirklich überhaupt nichts, meine Damen und Herren.
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Wir brauchen eine Debatte über technologische Souveränität; und die führen wir an dieser Stelle. Das ist in Zeiten, in denen uns wichtige handelspolitische Partner in der Welt, die uns Stabilität gebracht haben, wie die USA, wegbrechen, umso wichtiger, gerade auf europäischer Ebene. Als Europäer haben wir die zu schützenden Sektoren zu definieren; das tun wir gemeinsam. Ich möchte an dieser Stelle dem Bundesminister Altmaier zum Geburtstag gratulieren und ihm danken, dass er darüber im Konsens mit den europäischen Partnern diskutiert.
Es geht um Gesundheitsversorgung, Biotechnologie, künstliche Intelligenz, aber auch Robotik. Wir müssen Außenwirtschaft in diesem Zusammenhang strategisch denken: Wir wollen als Europäer auf Augenhöhe mit den USA und mit China sein, und dieses Gesetz, mit dem die Screening-Verordnung umgesetzt wird, leistet einen Beitrag dazu, dass wir uns auf Augenhöhe begegnen können. Es geht eben um den Schutz der kritischen Infrastruktur innerhalb der gesamten Europäischen Union.
Was haben wir an dem Gesetzentwurf verbessert? Die FDP hat ja kritisiert, dass wir überhaupt etwas verbessern. Aber so ist das im parlamentarischen Ablauf nun einmal, Herr Houben: Man bringt einen Gesetzentwurf ein, dann arbeitet man daran und verbessert einige Dinge; das ist ja auch richtig so. Also, was haben wir verbessert? Wir haben klare gesetzliche Fristen festgelegt; erstmals überhaupt werden im Gesetz Fristen festgelegt. Wir haben mehr Transparenz festgeschrieben. Es gibt eine Verkürzung der Vorprüffristen: zwei, statt drei Monate; das ist eine deutliche Kürzung. Dadurch herrscht erstens Planungssicherheit, zweitens bedeutet das eine Stärkung des Investitionsstandortes, und drittens haben die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bessere Perspektiven. Ich glaube, dass auch das an dieser Stelle wirklich wichtig ist.
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– Sie können gerne applaudieren.
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Es geht darum, dass verantwortungsvoll investiert wird, dass wir genau schauen, wo investiert wird, und dass es keinen Ausverkauf gibt. Dieses Gesetz schafft die Voraussetzungen dafür. Deshalb ist es zwingend notwendig, dass wir es jetzt auf den Weg bringen. Das Gesetz ist ausgewogen.
Ich will es noch mal zusammenfassen: Das Gesetz gibt uns Planungssicherheit in der Wirtschaft, weil die Rahmenbedingungen jetzt festgelegt sind. Es schützt unsere Gemeinschaftsgüter; das ist von enormer Bedeutung. Und es wurde eine vorausschauende Prüfung vereinbart.
Ich will zum Abschluss darauf zurückkommen, worin wir als SPD-Fraktion die Rolle des Parlaments sehen. Etwas ist ganz wichtig: Wir wollen weiter mitgestalten. Bei der Sechzehnten Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung, die noch kommen wird – zur Definition kritischer Technologien –, wird das Parlament einbezogen. Diese Einbeziehung ist eine Stärkung unseres parlamentarischen Handelns. Ich glaube, damit sind wir auf einem wirklich guten europäischen Weg, und den sollten wir weiterverfolgen.
Herzlichen Dank und Glück auf!
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Vielen Dank, Herr Kollege Töns. – Nächster Redner ist der Kollege Reinhard Houben, FDP-Fraktion.
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Herr Präsident! Lieber Herr Altmaier, herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag! Lassen Sie mich so anfangen: Hier schwebt ein Elefant im Raum. Das ist schon deutlich geworden; Herr Töns hat das formuliert, Herr Müller auch. Sie haben von Investoren mit unlauteren Absichten gesprochen. Ich würde es eine „wunderbare Begrüßungskultur für Investoren in Deutschland“ nennen, wenn man ihnen von vornherein unterstellt, dass sie unlautere Absichten haben. Wir wissen genau, wo sie Ihrer Meinung nach herkommen: nach Meinung der Linken aus den USA, nach Meinung der meisten anderen aus China. Meine Damen und Herren, so kann man Außenwirtschaftspolitik nicht organisieren.
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Natürlich wissen wir, dass verschiedene Investoren durchaus problematisch sind; wir brauchen das nicht weiter auszuführen. Zu China haben wir gerade schon die aktuelle Debatte erlebt. Es ist aber naiv, wenn wir glauben, die Politik von Herrn Trump, von Herrn Putin oder von China durch Änderungen im Außenwirtschaftsrecht beeinflussen zu können. Es ist wohl so, wenn ich einige Beiträge hier richtig verstanden habe, dass es doch um Abschottung geht,
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um Sicherheit, dass bestimmte Investoren nicht nach Deutschland kommen.
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Ich sage Ihnen: Wir können unsere außenpolitischen Probleme nicht durch Wirtschaftspolitik lösen. Das ist hauptsächlich Aufgabe des Außenministers und des Bundeskanzleramtes. Der deutsche Mittelstand muss nicht die Konsequenzen tragen, wenn deutsche Politik in Berlin, Brüssel oder New York etwas nicht umsetzen kann.
({3})
Es kann nicht sein, dass die deutsche Wirtschaft für das Scheitern von Regierungspolitik in Verantwortung genommen wird. Deswegen halten wir die Verschärfungen, die Sie einführen, an der Stelle für nicht zielführend.
({4})
Zweitens. Sie treffen auch nicht nur die, die eben genannt worden sind. Kommen denn die unlauteren Absichten etwa auch aus Japan, Kanada, Singapur oder Australien?
({5})
Drittens. Deutsche Unternehmen sind in Drittstaaten viel aktiver, als wir hier offensichtlich wahrnehmen. Es ist so, dass VW im Moment für 2 Milliarden Euro in China zwei Elektromobilitätsfirmen kaufen möchte. Wo ist denn da der Aufschrei der Bundesregierung? Ist es also so, dass deutsche Investitionen in China gut sind, aber chinesische Investitionen in Deutschland schlecht, Herr Altmaier?
({6})
– Doch, natürlich. Das ist die Politik, die Sie hier betreiben. Das ist genau die Politik. – Sie haben Angst davor, dass ausländische Investoren in Schlüsselindustrien bei uns investieren. Wenn deutsche Unternehmen das in China tun, ist es vollkommen in Ordnung. Dieser Konflikt ist doch da. Den haben Sie doch selbst formuliert. Das jetzt hier zu leugnen, finde ich etwas merkwürdig.
({7})
Außerdem ist es einfach falsch, dass es im Moment diesen großen Einkaufsschwung hier in Deutschland oder in Europa gibt. Die UNCTAD, die Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung, sagt: 40 Prozent weniger Investitionen in diesem Jahr durch Corona.
Außerdem – zweimal gefragt, Herr Minister; sowohl schriftlich als auch mündlich –: Ihr Haus kann bis heute keinen einzigen Fall nennen, bei dem chinesische Investoren im Moment ein deutsches Unternehmen kaufen wollen.
({8})
Dazu, dass hier davon gesprochen wird, dass wir wehrhafter werden, muss ich sagen: Wir werden vor allen Dingen bürokratischer. Die Möglichkeiten, bestimmte Käufe zu verhindern, haben wir schon jetzt. Dafür brauchen wir keine Verschärfung unseres Außenhandelsrechts.
({9})
Sie loben die Verbesserung dieses Gesetzentwurfes durch die Koalitionsfraktionen. Ich möchte nur daran erinnern: Die Anhörung, die wir dazu durchgeführt haben, ist von der FDP-Bundestagsfraktion angeregt worden. Erst danach sind die Vorschläge, zum Beispiel von Herrn Lämmel, in die Debatte eingebracht worden. Wenn Sie dann in Ihren Gesetzentwurf hineinschreiben, dass Sie das Gesetz auf jeden Fall nach zwei Jahren evaluieren wollen, ist das für mich auch nicht unbedingt ein Zeichen dafür, dass man voll hinter dem steht, was man getan hat.
({10})
– Herr Töns, Sie können das meinen. Ich bin der Meinung: Wir sehen das hier sehr klar und richtig.
Wissen Sie was? Ich will jetzt mal etwas vom Konzept der Rede abweichen. Ich spüre in diesem Hause, seitdem ich hier bin, eine Stimmung, dass man meint, die deutsche Wirtschaft könnte sämtliche Probleme in der Welt, die wir außenpolitisch, die wir verteidigungspolitisch, die wir menschenrechtspolitisch, die wir umweltpolitisch haben, lösen, indem wir sie belasten, bis es knarzt.
({11})
Das, meine Damen und Herren, wird am Ende hier vor Ort zu weniger Arbeitsplätzen, zu weniger Investitionen und zu weniger Wohlstand führen.
({12})
Ich bin stolz darauf, dass zumindest die FDP das in diesem Hause noch mal formuliert.
Vielen Dank.
({13})
Vielen Dank, Herr Kollege Houben. – Nächster Redner ist der Kollege Pascal Meiser, Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit Jahren steigt in Deutschland die Zahl der Unternehmensübernahmen durch ausländische Investoren. Schon vor der Coronakrise waren nach einer Untersuchung der Hans-Böckler-Stiftung jährlich etwa 100 000 Arbeitsplätze in Deutschland allein von Übernahmen durch die Private-Equity-Fonds, landläufig auch gerne als Heuschreckenfonds bezeichnet, betroffen. Auch Übernahmepläne chinesischer Staatsfonds in strategisch sensiblen Bereichen sind zuletzt immer öfter in die Schlagzeilen geraten. Es ist in der Tat zu befürchten, dass die Coronakrise diese Entwicklung weiter beschleunigen wird. Zugleich wächst bei immer mehr Menschen die Unsicherheit, wenn strategische Unternehmensentscheidungen plötzlich irgendwo in den USA oder in China getroffen werden. Ich bleibe dabei: Diese Sorgen sollten wir alle sehr ernst nehmen.
({0})
Um gar nicht erst Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ja, ausländische Investitionen, die dazu beitragen, den Wohlstand der Mehrheit der Menschen in unserem Land zu mehren, sind auch uns als Linken herzlich willkommen. Aber dort, wo solche Investitionen eine Bedrohung für diesen Wohlstand oder gar für die öffentliche Ordnung darstellen, muss der Staat aus unserer Sicht klare Kante zeigen.
({1})
Viel zu lange hat die Bundesregierung geleugnet, dass hier überhaupt Handlungsbedarf besteht. Aber unser beständiges Nachhaken ist ganz offensichtlich auch an der Großen Koalition nicht ganz spurlos vorübergegangen. Deshalb begrüßen wir als Linke es, dass das Investitionsprüfungsrecht jetzt endlich geschärft werden soll, um ausländische Beteiligungen besser kontrollieren zu können.
({2})
Das gilt für die Erweiterung der Entscheidungsspielräume für die prüfende Behörde. Das gilt für die Einführung eines neuen Straftatbestands, der bei gravierenden Verstößen im Rahmen der Investitionsprüfung greifen soll. Das gilt insbesondere für die Möglichkeit, künftig in allen meldepflichtigen Branchen Maßnahmen ergreifen zu können, die verhindern, dass Investoren vor Abschluss der Prüfung unumkehrbare Fakten schaffen. Dass es hier bisher scheunentorgroße Schlupflöcher gibt, hat sich in der Vergangenheit schon des Öfteren als verhängnisvoll erwiesen.
Ich erinnere an die Übernahme des Glasfaserspezialisten Coriant, einer ehemaligen Siemenstochter, durch den US-amerikanischen Investor Infinera Ende 2018. Erst als wir als Abgeordnete fraktionsübergreifend Druck gemacht haben – neben mir sind hier der Kollege Wegner von der CDU und der Kollege Schulz von der SPD zu nennen –, leitete das Wirtschaftsministerium überhaupt erst eine Prüfung ein. Doch bevor diese abgeschlossen war, hatte der neue Eigentümer innerhalb kürzester Zeit generalstabsmäßig 1 600 zum Teil sensible Patente abgegriffen, den Berliner Produktionsstandort dichtgemacht und die Fertigung an einen Vertragspartner nach Thailand ausgelagert. Hätte die Bundesregierung bereits damals die bekannten Schlupflöcher bei den Investitionsprüfungen geschlossen gehabt, wäre das sicherheitsrelevante Know-how vermutlich im Lande geblieben und rund 400 Arbeitsplätze in Berlin und Hunderte weitere in München gerettet worden.
So sinnvoll die jetzt vorliegenden Änderungen auch sein mögen, sie stellen bestenfalls einen kleinen Schritt in die richtige Richtung dar. Entscheidend wird sein, welche Branchen künftig tatsächlich in welcher Form anhand welcher Kriterien geprüft werden. Diese weitreichenden Fragen – Herr Altmaier hat es erwähnt – werden nicht mit dem vorliegenden Gesetzentwurf durch den Deutschen Bundestag entschieden, sondern erst im Nachgang der Verabschiedung des Gesetzentwurfes im Rahmen der Überarbeitung der Außenwirtschaftsverordnung.
Herr Altmaier, deshalb sage ich: Wenn Sie es tatsächlich ernst meinen mit dem Schutz von inländischen Unternehmen, technologischem Know-how und hiesigen Arbeitsplätzen, dann müssen Sie im nächsten Schritt dafür sorgen, dass der Anwendungsbereich für Investitionsprüfungen in der Außenwirtschaftsverordnung deutlich weiter und flexibler gefasst wird, als dies bisher der Fall ist.
({3})
Dazu möchte ich Ihnen für meine Fraktion Die Linke – natürlich verbunden mit den besten Wünschen zum Geburtstag – einige freundliche Hinweise mit auf den Weg geben.
Erstens. Führen Sie eine allgemeine branchenübergreifende Meldepflicht ein, und begrenzen Sie diese nicht wieder auf einige wenige Branchen, auch damit für Investoren aus Drittstaaten keine Unsicherheiten entstehen, ob sie im Zweifel nun unter die Meldepflichten fallen oder nicht. Diese Rechtssicherheit muss doch auch in Ihrem Interesse als Wirtschaftsminister liegen.
Zweitens. Etablieren Sie ein effektives Überwachungsverfahren, das sicherstellt, dass alle ausländischen Beteiligungen tatsächlich erfasst werden und sich kein Investor seinen Meldepflichten entziehen kann. Bisher ist Ihr Ministerium hier – ausweislich Ihrer Antworten auf unsere Fragen – doch eher im Blindflug unterwegs.
Drittens. Konkretisieren Sie die Prüfkriterien dahin gehend, dass eine wahrscheinliche Gefährdung der öffentlichen Ordnung nicht auf sicherheitspolitische Aspekte begrenzt bleibt, sondern beziehen Sie dabei auch mögliche Risiken für die Volkswirtschaft, für den Arbeitsmarkt und für die Umwelt ein, Herr Altmaier.
Viertens. Stellen Sie sicher, dass bei der Prüfung von Beteiligungen und Übernahmen insbesondere auch die Auswirkungen auf die sozialökologische Transformation und hierfür relevante Wertschöpfungsketten berücksichtigt werden – so wie es übrigens auch der Deutsche Gewerkschaftsbund in seiner Stellungnahme fordert.
Fünftens. Sorgen Sie dafür, dass die Instrumente der Investitionskontrolle auch genutzt werden können, um Unternehmen und deren Beschäftigte vor den schon erwähnten Heuschreckenfonds zu schützen. Wenn Beschäftigte und ihre Betriebsräte die begründete Befürchtung haben, dass ein ausländischer Investor ihren Betrieb einzig für kurzfristige Gewinne ausplündern und danach wieder entsorgen will, dann muss auch eine solche Investition künftig geprüft, notfalls untersagt oder zumindest mit Auflagen zur Standort- oder Beschäftigungssicherung versehen werden.
({4})
Und schließlich: Machen Sie von den verschärften Kontrollmöglichkeiten auch tatsächlich Gebrauch; denn die besten Regelungen helfen nichts, wenn der entsprechende politische Wille fehlt. Und der war, bei allem Respekt, im Bundeswirtschaftsministerium bisher beileibe nicht zu erkennen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Vielen Dank, Herr Kollege Meiser.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister Altmaier, auch ich gratuliere Ihnen ganz herzlich zum Geburtstag. Vielleicht passt es ja so ein bisschen zu diesem Tag, dass wir, was nicht oft der Fall ist, heute Ihrem Gesetzentwurf zustimmen werden.
({0})
– Genau, fast ein Geschenk. – Wir haben schon lange von Ihnen gefordert, dass das Außenwirtschaftsrecht reformiert wird, und so ist es richtig, dass wir heute endlich diesen Gesetzentwurf beschließen werden. Gerade in der Zeit der Krise ist es so wichtig und zeigt sich, dass es für den Staat die Möglichkeit geben muss, strategische Übernahmen aus dem Ausland zu prüfen.
In Richtung von Herrn Houben: Das heißt mit Sicherheit nicht, dass jetzt flächendeckend ausländische Direktinvestitionen verboten werden sollen. Das, was hier vorgeschlagen wird, ist die Einführung eines erweiterten Prüfmechanismus, der durch die Außenwirtschaftsverordnung und das Außenwirtschaftsgesetz geregelt werden muss.
({1})
Die Anhörung, die Sie selber im Wirtschaftsausschuss beantragt haben, hat doch ganz klar gezeigt – mehrere wissenschaftliche Experten haben uns das bestätigt –, dass es keinen empirischen Zusammenhang zwischen der Schärfe des Außenwirtschaftsrechtes und dem Ausmaß von ausländischen Direktinvestitionen in einem Land gibt. Die USA wurden von Herrn Herrmann als perfektes Gegenbeispiel dafür genannt, dass ein Land ein attraktiver Investitionsstandort sein und trotzdem ein scharfes Recht ausländische Direktinvestitionen betreffend haben kann.
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Ich finde, Sie müssen anerkennen, dass es für die Sorgen, die Sie hier formuliert haben, keine empirische Grundlage gibt. Deswegen verstehe ich auch nicht, warum Sie hier jetzt nochmals diesen Popanz quasi aufgemacht haben,
({3})
dass es irgendwie darum ginge, außenpolitische und andere Interessen mit der Wirtschaft zu vermischen, oder dass die Wirtschaftspolitik irgendwie eine Antwort darauf geben müsse, die sie nicht geben kann. Es geht im Gegenteil um inhärente wirtschaftspolitische Interessen,
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dass der Staat hinschaut, welche Investitionen in Schlüsseltechnologien getätigt werden, in Technologien, die für Unternehmen in Europa relevant sein können, die für die nachgelagerten Lieferkettenstufen relevant sein können, dass es hier weiterhin Investoren gibt, die dafür sorgen, dass Vorprodukte zur Verfügung stehen. Das ist ein Interesse, das auch die Wirtschaft hat. Deshalb ist es richtig, dass der Staat hinschaut und prüft.
({5})
Gerade in einer Zeit, in der die USA und China die Handelspolitik und auch die Außenwirtschaftspolitik zunehmend zum Spielball von Machtinteressen machen, müssen wir als Europäische Union die Möglichkeit haben, darauf zu reagieren. In dieser Krise zeigt sich ja gerade das unwürdige Spiel von Donald Trump, der versucht, sich exklusiven Zugang zur Impfstoffproduktion zu sichern. Das ist das beste Beispiel dafür, dass die EU reagieren muss.
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Das, was Trump macht, ist dumm, ist egoistisch, ist unsolidarisch. Gerade in den Zeiten einer globalen Pandemie wäre es so wichtig, auf Kooperation und Fairness zu setzen. Gerade für die ärmsten Länder der Welt wäre das wichtig und die richtige Antwort.
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Aber die Realität ist so nicht. Ich habe so ein bisschen das Gefühl, Herr Houben, dass Sie sich krampfhaft wünschen, die Welt wäre eine andere. Ich teile Ihren Wunsch; auch ich würde mir wünschen, dass die USA einen Präsidenten hätten, der auf Kooperation und Fairness setzt. Aber wir sind hier nicht gewählt, um uns etwas zu wünschen, sondern wir sind gewählt, um die Realität anzuerkennen und auf die Realität Antworten zu finden. Das ist unser Job hier als Abgeordnete des Deutschen Bundestages.
({8})
Deswegen ist es wichtig, dass die EU jetzt Instrumente hat, um strategische Investitionen zu prüfen, dass die Bundesregierung jetzt das Instrument hat, zu schauen, was der Investor mit dieser Investition will, und diese Investition dann im Zweifel zu verbieten. Wenn Sie sich anschauen, wie oft das Bundeswirtschaftsministerium in der Vergangenheit dieses Instrument genutzt hat, so muss man feststellen, dass das fast nie der Fall war. Deswegen die Frage: Wovor haben Sie Angst, Herr Houben?
Herr Altmaier, ich finde es richtig, wenn man sagt: Wir können bei diesem Außenwirtschaftsrecht nicht stehen bleiben. Wir müssen das auf europäischer Ebene weiterdenken; wir müssen das größer denken. – Ich finde es sehr gut, dass Margrethe Vestager jetzt mit ihrem Weißbuch auch eine Reihe von Vorschlägen gemacht hat, wie das Ganze aussehen könne – bei dem Thema Subventionskontrolle, bei Mechanismen im Bereich Marktbeobachtung, bei der Anzeigepflicht, bei den Vergabeverfahren, wodurch man in der Lage sein muss, auf unfairen Wettbewerb aus dem Ausland reagieren zu können. Das ist deutlich besser als das, was Sie in der Vergangenheit vorgeschlagen haben, Herr Altmaier. Der Traum von der Megafusion wird im Zweifel in einem unfairen Wettbewerb nicht helfen. Die Vorschläge, die die EU-Kommission jetzt gemacht hat, gehen in die richtige Richtung. Ich würde mir wünschen, dass Sie die deutsche Ratspräsidentschaft dazu nutzen, Frau Vestager in dieser Frage zu unterstützen.
({9})
Wir Grüne haben gesagt: Wir müssen das Thema größer denken. Wir sehen in verschiedenen Bereichen, dass unfairer Wettbewerb zum Problem wird. Wir müssen uns das Antidumpingrecht angucken. Wir müssen uns die Safeguards angucken, die beispielsweise gerade für die Stahlindustrie so relevant und so wichtig sind. Da verlange ich von Ihnen, dass Sie sich energisch in Brüssel dafür einsetzen, dass die Safeguards so angepasst werden, dass der europäische Markt nicht überflutet wird, dass die Stahlindustrie hier die Möglichkeit hat, ihre Produktion weiterhin umzustellen auf eine klimaneutrale Produktion. Dafür muss sie aber hier tätig sein können, wofür wir effektiv wirkende Handelsschutzinstrumente brauchen. Da sind Sie ein Stück weit auch gefordert, sich in Brüssel dafür einzusetzen.
({10})
„Unfairer Wettbewerb“ heißt auch: unfairer Wettbewerb bei Umweltfragen. Deswegen ist es auch so wichtig, dass die Europäische Kommission im Rahmen des Green Deal über Klimazölle nachdenkt und versucht, zu adressieren, dass, wenn in anderen Ländern der Welt Umweltdumping betrieben wird, das auch berücksichtigt werden kann. Das ist – wiederum in Richtung der FDP – keine Frage von Protektionismus, sondern es geht darum, gleiche Wettbewerbsbedingungen herzustellen, ein faires Spielfeld für alle zu schaffen. Solange die Realität so ist, wie sie ist, müssen wir solche Instrumente nutzen; sonst sind die Leidtragenden nämlich am Ende die Unternehmen in Europa. Und das können Sie als FDP eigentlich nicht wollen.
({11})
Vielen Dank, Frau Kollegin Dröge.
Herr Kollege, Sie sollten warten, bis ich Sie aufrufe.
({0})
Ich rufe Sie jetzt auf. Nächster Redner ist der Kollege Andreas Lümmel – der Name ist Programm –, CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Das Pult wird ja nun hundertmal am Tag gereinigt. Ich habe eigentlich Zutrauen zu Frau Dröge, dass sie hier am Pult praktisch nichts hinterlässt. Deshalb war ich etwas schneller.
Lieber Peter Altmaier, herzlichen Glückwunsch natürlich auch von mir zu deinem Geburtstag. Allerdings kann ich dir so ein schönes Geschenk wie das von Frau Dröge, dass die Grünen einem Gesetzentwurf der Koalition zustimmen, leider nicht überbringen. Ich kann dir nur dazu gratulieren, dass wir heute die Änderung des Außenwirtschaftsgesetzes verabschieden können. Wir trinken natürlich gerne ein Glas mit dir im Anschluss.
Meine Damen und Herren, die gegenwärtige Krise zeigt ja eigentlich zwei Dinge ganz scharf:
Zum Ersten. Deutschland ist Exportweltmeister, und die deutsche Wirtschaft kann ohne Export nicht erfolgreich sein. Das heißt für uns, dass wir offene Märkte brauchen. Wir brauchen globale Lieferketten, und wir brauchen keinen Protektionismus. Das ist die eine Seite.
({0})
Meine Damen und Herren, die zweite Seite zeigt, dass in der Welt natürlich auch Verteilungskämpfe um neue Technologien, um Wissen, um Patente und um Ähnliches stattfinden. Das beides unter einen Hut zu bringen, ist die eigentliche Kunst; das soll mit der Änderung des Außenwirtschaftsgesetzes zumindest versucht werden.
Es gibt zwei besondere Teile in dem Gesetzentwurf:
Das eine ist die Umsetzung der EU-Screening-Verordnung. Ich glaube, es ist eigentlich ganz klar, dass wir das mit der Novellierung des Außenwirtschaftsgesetzes machen; denn damit herrschen europaweit gleiche Bedingungen. Ich verlasse mich nicht ganz so hundertprozentig auf die Europäische Kommission wie Frau Dröge. Die Bezeichnung „mögliche Beeinträchtigungen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit“ ist sehr weitläufig. Hier muss man wirklich mit sehr viel Gefühl rangehen. Wenn diese Dinge zu eng gesehen werden – in Brüssel weiß man ja nie so genau, welche Geisteshaltung in den Organen vorherrscht –,
({1})
kann das auch nach hinten losgehen; wenn ich es mal so sagen darf. Aber trotzdem setzen wir dieses europäische Recht jetzt in deutsches Recht um. Dazu gibt es eigentlich auch keine Diskussion.
Zum zweiten Teil, zu den Prüffristen. Ich glaube, es ist doch ein großer Fortschritt – Herr Houben, das können Sie doch nicht anders sagen –, dass wir zum Beispiel die Vorprüffrist verkürzen. Die aktuellen Zahlen zeigen ja, dass im Prinzip schon in der Vorprüffrist fast alle Prüfverfahren rausfallen. Wenn das so bliebe, das heißt also, wenn die Prüffälle eben nicht in weitere Prüfungsstufen gehen müssen, hätten wir mit der Verkürzung der Prüffrist ja was richtig Gutes getan, weil die Prüffrist dann nur noch zwei Monate umfasst.
Dass die Prüffristen jetzt überhaupt im Gesetz stehen, war für uns ein sehr wichtiges Anliegen; denn wenn man die Prüffristen wieder ändern will, bedarf es eines Gesetzgebungsverfahrens, das heißt also einer neuen Diskussion hier im Deutschen Bundestag. Verordnungen sind Regierungshandeln, und wir haben uns in verschiedenen Bereichen schon über manche Verordnung der Regierung geärgert, die unseren politischen Willen eigentlich konterkariert. Insofern ist das ein großer Fortschritt, Herr Houben; deswegen kann ich das auch nicht so ganz nachvollziehen.
Sie haben noch etwas angesprochen, und zwar das Thema Evaluierung. Ja, ich finde es super, dass das im Gesetzentwurf behandelt wird.
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Das ist überhaupt nicht Ausdruck von Misstrauen gegenüber der Regierung oder gegenüber dem Regierungshandeln. Wir müssen doch in einer bestimmten Frist ganz einfach mal überprüfen, ob das Gesetz praktikabel ist, ob wir vielleicht noch mal Änderungen vornehmen müssen.
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Das ist der Sinn einer Evaluierungsfrist, und eine solche Frist finde ich toll. Ich würde mir wünschen, dass jedes Gesetz ein Evaluierungsdatum bekommt. Dann würden wir über manche Dinge hier ganz anders diskutieren. Ich denke, diese Form der Gesetzgebung hat eine höhere Qualität, als dies bei manch anderem Gesetz der Fall ist.
Ein weiterer Punkt ist auch sehr wichtig. Oftmals ist es ja so: Man reicht seine Unterlagen bei der Behörde ein. Dann sagt die Behörde: Die Unterlagen sind nicht vollständig. Reichen Sie weitere Unterlagen ein. – Dann werden weitere Unterlagen eingereicht. Dann geht das Prüfverfahren von vorne los. Dann sagt die Behörde wieder: Es fehlen weiterhin die und die Unterlagen. – Und dann startet das Ganze vielleicht zum dritten Mal.
Das ist jetzt anders. Das Verfahren wird nicht dadurch neu begonnen, dass zusätzliche Unterlagen nachgereicht werden müssen, sondern es wird lediglich angehalten. Das ist gerade für Investoren aus meiner Sicht ein ganz wichtiger Punkt, weil damit auch der Behördenwillkür, dass man ständig neue Unterlagen nachfordert, um sozusagen den Prüfungszeitraum unendlich zu verlängern, ein Riegel vorgeschoben wird. Ich halte das für eine sehr gute Regelung.
Jetzt komme ich zur AfD. Herr Müller, nehmen Sie es mir nicht übel: Das war ja ein ziemlicher Ritt à la Eulenspiegel, den Sie hier vollzogen haben. Überlegen Sie sich das mal selber: Das Finanzamt soll eine Firmenübernahme prüfen.
({4})
Das Finanzamt kann sich die Zahlen angucken und vielleicht noch sehen, ob das Unternehmen Steuern gezahlt hat oder nicht. Aber bei der Investitionsprüfung, auf die das Außenwirtschaftsgesetz abzielt, geht es doch um ganz andere Dinge. Insofern ist das für mich ein völlig absurder Gedanke. Sie wollen ja damit suggerieren: Die Firmen kassieren in Deutschland Fördermittel, und dann werden Sie praktisch ins Ausland verkauft.
Herr Kollege, es gibt den Wunsch nach einer Zwischenfrage aus der AfD-Fraktion.
Na ja, wenn Sie die Uhr anhalten, bitte.
Natürlich.
Danke, Herr Kollege Lämmel. Danke, Herr Präsident. – Das ist ein Missverständnis. Ich sagte nicht, dass die Finanzämter prüfen sollen – sie sollen keine Firmenübernahmen prüfen; das können sie gar nicht –, sondern ich sagte: Um diesen ganzen Prüfwust, der sehr aufwendig ist – bis zu fünf Ministerien und die Bundesregierung sind beteiligt, und dazu kommen noch Eingaben der EU-Staaten –, grundsätzlich zu verringern, soll eigentlich gar nicht an sich geprüft werden, wie es im Gesetzentwurf steht, sondern man soll, wenn ein Investor ein Unternehmen kauft, einfach nur gucken, wie viele Subventionen oder staatliche Beihilfen, die über die Jahre aufgelaufen sind, schon in diesem Unternehmen stecken. Und die muss ein ausländischer Investor dann der deutschen Allgemeinheit und der deutschen Wirtschaft zurückerstatten. Also, das ist ein völlig anderer Mechanismus, eine Alternative zu dieser aufwendigen Prüfung. Das wollte ich nur sagen, und ich wollte fragen, wie Sie das sehen.
Danke für die Aufklärung. Ihre Idee wird durch das, was Sie erklärt haben, aber nicht besser.
({0})
Sie kennen doch die Umwegrentabilität von Fördermitteln. Dazu gibt es ja viele Gutachten, zum Beispiel zu GA-Mitteln, zu Mitteln der regionalen Wirtschaftsförderung oder zu Investitionszulagen. Sie wissen ganz genau, dass jeder Euro, der an Fördermitteln in ein Unternehmen fließt – das ist je nach Branche sehr unterschiedlich –, zwischen 5 und 10 Euro Steuermittel generiert. Also, die Denke, dass, wenn eine Firmenübernahme erfolgen soll, man prüfen muss, wie viel da vielleicht vor zehn Jahren an Fördermitteln reingeflossen ist, ist doch absurd.
({1})
Das hat auch überhaupt nichts mit dem Schutz deutscher Interessen bei geplanten Firmenübernahmen zu tun.
({2})
Also, ich finde diese Idee absurd.
({3})
Diesen Entschließungsantrag sollten Sie in den Schredder werfen, sodass ihn niemand mehr in die Hände kriegt. Vielleicht verlieren Sie Ihre Wirtschaftskompetenz damit nicht ganz.
({4})
Und – das muss ich Ihnen auch noch sagen –: Sie fordern einen notwendigen Patriotismus hinsichtlich „Germany First“. Wir wollen mit dem Gesetzentwurf nicht „Germany First“ erreichen. Wir wollen uns nämlich nicht auf die Spur von Trump begeben, sondern wir wollen ein Außenwirtschaftsrecht, das deutsche Interessen schützt, aber den Markt nicht abgeschottet. Das ist der Unterschied zwischen „Germany First“ und dem, was wir heute verabschieden wollen. Insofern ist das, was Sie in Ihren Entschließungsantrag geschrieben haben, überflüssig.
Ich kann nur um Zustimmung werben. Die Grünen haben ja schon zugesagt. Herr Houben, ich denke, die FDP kann eigentlich auch mitmachen.
({5})
Das wäre ja ein gutes Geschenk, wenn wir den Gesetzentwurf heute am Geburtstag von Peter Altmaier auch mit den Stimmen der FDP verabschieden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Kollege Lämmel. – Die Kollegin Dr. Daniela De Ridder von der SPD-Fraktion nähert sich dem Pult. Sie haben das Wort, Frau De Ridder.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Gäste! Wenn wir heute über die Reform des Außenwirtschaftsgesetzes, also des AWG, sprechen, dann hat das viele, aber vor allem besonders gute Gründe; der Kollege Markus Töns hat ja schon darauf hingewiesen. Als Außenpolitikerin will ich dabei, Herr Houben, gerne den Blick nach Asien richten, aber keinesfalls nur nach China. Ich habe ja mal ein paar Semester Pädagogik studiert: Ich begleite Sie einfach. Ich gebe Sie nicht auf, Herr Houben. Ich versuche es noch mal.
({0})
Wenn wir uns also anschauen, weshalb einige asiatische Länder, darunter Südkorea, Taiwan, aber auch Singapur und Japan, sehr viel besser aus der Coronakrise kommen als viele andere Staaten, dann stellen wir fest, dass es wahrscheinlich nicht nur daran liegt, dass sie selbstbewusst sind, sondern auch daran, dass sie aus der SARS-Epidemie 2002/2003 eine ganze Menge gelernt haben, nämlich wie man langfristige Modernisierungsstrategien entwickelt.
Sowohl die SARS-Epidemie als auch die Coronapandemie jetzt hatten – das nehmen wir jedenfalls an – ihren Ursprung in China; da haben Sie recht. Die eben erwähnten Staaten haben zwar langjährige Verbindungen zu China, vor allem aber betreiben sie regen Handel und Austausch mit anderen asiatischen Staaten, also auch untereinander und eben auch jenseits von China. Genau, das ist ein Vice-versa-Prozess. Teil dieser Modernisierungsstrategie war es eben auch, diesen strategisch zu schützen, und zwar staatlicherseits. Ja, das gehört eben auch zu dieser Strategie. Diese Form des Staatskapitalismus ist in Asien mittlerweile recht verbreitet. Und ich gehe davon aus, dass auch die letzten Marktliberalen – ich weiß nicht, wo Sie sich verorten – verstanden haben müssten, dass der Markt eben doch nicht alles regelt, der Staat aber sehr wohl die Chance dazu hat. Und diese Chance nutzen wir eben heute, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({1})
Wir wollen uns vor allem schützen. Niemand mag Heuschrecken. Fragen Sie mal die afrikanische Bevölkerung, über die Heuschrecken regelmäßig herfallen. Wir wollen vor allen Dingen unsere kritischen Infrastrukturen schützen. Niemand soll unser Know-how abfischen können. Niemand darf ungefragt geistiges Eigentum stehlen. Das gilt – da haben wir eine Schnittmenge; dessen bin ich mir sicher, Herr Houben – insbesondere für unsere innovativen Unternehmen.
Ja, einige Kritiker meinen, wir hätten Angst vor China. China hat ja weiß Gott schon andere Staaten in der Hand mit seiner Diplomatie der Schuldenfallen. Aber wir haben weder Angst, noch fürchten wir uns. Wir sichern allerdings unsere souveräne Handlungsfähigkeit, und das ganz besonders in der Außenhandelspolitik.
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Ja, wir schützen unsere Interessen, und ich finde, das ist nicht verboten.
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Offensichtlich gibt es ja genug Leute, die aus dem Blick verloren haben, was unsere Interessen in einer Welt, die vielleicht immer verrückter wird und aus den Fugen zu geraten droht, sind.
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Außerdem – das ist hier auch schon von vielen Vorrednerinnen und Vorrednern ausgeführt worden – denken wir auch europäisch. Das tut der europäischen Kohäsion auch gut. Es ist wichtig, dass wir unsere Handlungsfähigkeit auch da noch mal deutlich stärken. Ich habe beim letzten Mal schon gesagt: Das ist ein europäisches Stärkungsgesetz, das all das aufnimmt.
Der Blick nach Asien zeigt, dass wir gut daran tun, lieber selbst zu investieren und zu zeigen, dass wir Arbeitsplätze, kritische Infrastrukturen und Unternehmen schützen, darunter auch ganz besonders den Mittelstand, Herr Houben. Völlig d’accord; das ist der richtige Weg.
Auch wir in Deutschland und in Europa sollten uns – jetzt vielleicht forciert durch Corona – strategische Partnerschaften im asiatisch-pazifischen Wirtschaftsraum suchen – auch jenseits von China. Ich hätte ja verstanden, Herr Houben, wenn Sie uns da blinde Flecken vorgeworfen hätten, wenn Sie sagen würden: Vietnam, die Philippinen, Indien, Indonesien müssten wir mehr in den Blick nehmen.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident.
Sie können heute zustimmen. Dann bereiten Sie nicht nur Herrn Wirtschaftsminister Altmaier ein schönes Geschenk, sondern – und das ist fast wichtiger – Sie gehen mit uns auch den richtigen Schritt in die richtige Richtung. Das wird vielleicht ein kleiner Parforceritt, aber es ist der beste Angang.
Vielen Dank. – Herzlichen Glückwunsch, Herr Minister!
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Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Bernhard Loos.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Große Koalition hat die Belange der deutschen Wirtschaft in der Außenwirtschaft besonders gut und sicher im Blick, gerade in der Coronakrise, aber auch danach. Das hat sich ja bereits in der 15. Novelle der Außenwirtschaftsverordnung, die sich vor allem mit aktuellen Fragestellungen im Zusammenhang mit der Coronakrise beschäftigt, niedergeschlagen. Für dieses konsequente und zielgerichtete Handeln für die Absicherung der medizinischen Erfordernisse in der Zukunft danke ich ausdrücklich der Bundesregierung und unserem Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier, dem ich natürlich auch von dieser Stelle nochmals alles Gute zum Geburtstag wünsche.
Die Bundesregierung hat hier prompt reagiert und gehandelt. Die Attraktivität Deutschlands für ausländisches Kapital hängt nicht in erster Linie von einem nationalen Außenwirtschaftsgesetz ab, sondern bemisst sich an den herausragenden innovativen Hightechfirmen und den gut ausgebildeten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in unserem Land. Unser Können weckt aber natürlich auch Begehrlichkeiten, wo eigene Innovationen nicht gelingen. Wir in Deutschland stehen für einen internationalen Innovationswettstreit zwischen den Firmen und dem Weltmarkt, nicht aber für eine Politik nach dem Motto „Wer hat den pralleren Geldbeutel?“.
Die Anhörung hat gezeigt: Es geht gerade in Coronazeiten auch um Staaten wie die USA, die versuchen, Unternehmen mit Impfstoff-Know-how aufzukaufen. Danke auch an dieser Stelle an Bundeswirtschaftsminister Altmaier für das 300-Millionen-Euro-Engagement der KfW beim Biotechunternehmen CureVac vor wenigen Tagen.
Mit dem Außenwirtschaftsgesetz wird das deutsche Investitionsprüfungsrecht an die am 11. April 2019 in Kraft getretene EU-Screening-Verordnung angepasst. Deutschland, Italien und Frankreich waren schon im Februar 2017 an die EU-Kommission herangetreten. Ziel war immer, die Eingriffsbefugnisse der Mitgliedstaaten im Kontext unionsfremder Beteiligungen an sicherheitsrelevanten Schlüsseltechnologieunternehmen zu stärken. Interessant ist eine Regelung auf EU-Ebene auch deshalb, weil damit Umgehungen durch Schachtelinvestitionen über EU-Mitgliedsländer verhindert werden.
Über die EU-Vorgaben hinausgehend wird der Vollzug aller meldepflichtigen Erwerbe während einer laufenden Investitionsprüfung künftig schwebend unwirksam sein. Zuwiderhandlungen gegen spezifische Unterlassungspflichten werden zudem als Straftat bei Vorsatz bzw. als Ordnungswidrigkeit bei Fahrlässigkeit eingestuft. Allerdings: Die über das EU-Recht hinausgehenden Regelungen sind kritisch zu betrachten und bedürfen einer inhaltlichen Kompensation. Wir haben daher als Koalition – ich danke dem Koalitionspartner SPD für die gute Zusammenarbeit – entscheidende Änderungen am Regierungsentwurf vorgenommen:
Erstens. Erstmals haben wir klare Rahmenbedingungen zu den Fristen für die Wirtschaft im Gesetz, und zwar im neuen § 14a. Die neue schwebende Unwirksamkeit durfte nicht zu unkalkulierbaren Verzögerungen führen. Wir haben daher eine klare Definition der Prüffristen nun nicht in der Außenwirtschaftsverordnung, sondern im Außenwirtschaftsgesetz. Damit hat unsere Wirtschaft nun Planungssicherheit.
Zweitens: die Möglichkeit, kurze Fristen zu verwirklichen. Im zähen Ringen mit den Ressorts haben wir folgende neue Regelungen erreicht: zwei Monate Aufgreiffrist, vier Monate Prüffrist, drei weitere Monate Prüffrist bei schwierigen Fällen und bei Verteidigungsfragen zusätzlich ein Monat.
Drittens. Eine Evaluierung nach zwei Jahren ist in dem neuen § 31 in Artikel 1 des Gesetzentwurfs verankert. Wir werden in zwei Jahren prüfen, welcher Spielraum bei den Fristen nach unten möglich sein wird; denn auch nach meinem Geschmack sind die Fristen noch ein bisschen lang.
Viertens. Wir haben eine Stärkung des Parlaments erreicht, da die Fristenregelung im Gesetz stehen wird und eben nicht in der Verordnung.
Kollege Loos, Herr Kollege Houben hätte eine Zwischenfrage.
Ja, bitte, wenn die Uhr stehen bleibt.
Absolut.
Super.
Herzlichen Dank, Herr Kollege Loos. – Sie haben sich eben bei Peter Altmaier dafür bedankt, dass er CureVac gekauft hat. Welche Kenntnis haben Sie denn, wer letztendlich diesen Kauf initiiert und wer ihn formal abgeschlossen hat?
Ich denke, da kommt es nicht auf die Details an, wer das initiiert hat, sondern es kommt darauf an, dass man von der Regierungsseite da gehandelt hat, wo man handeln muss.
({0})
Lassen Sie mich aber noch ankündigen: Wir sehen intensiven Vorabdiskussionsbedarf, und zwar dazu, welche Fallgruppen in der geplanten Sechzehnten Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung neu geregelt werden sollten. Es kann aus meiner Sicht nicht sein, dass immer mehr Fallgruppen wie künstliche Intelligenz, Robotik, Halbleiter und Quantentechnologie unter diese Prüfungen fallen sollen. Insbesondere ist es dabei auch notwendig, klarere Unterscheidungen zu treffen.
Deutsche Unternehmen können mit dieser Novelle zum Außenwirtschaftsgesetz effektiver vor Krisenprofiteuren geschützt werden. Aber wir sollten auch sehr aufpassen, dass wir nicht permanent verschärfen. Wir wollen keine Politik der Angst vor ausländischen Investitionen in Deutschland.
({1})
Denn – im Gegenteil –: Auch wir benötigen ausländisches Kapital in Deutschland. Wir wollen aber auch keinen Ausverkauf deutscher Firmen durch ausländische Unternehmen zulassen, weder in der aktuellen Coronakrise noch in einer möglichen Kapitalschwächephase danach.
Beide Aspekte bringt diese Novelle in eine gute und verantwortungsvolle Balance in einem europäischen Rahmen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({2})
Vielen Dank, Kollege Loos. – Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist für die SPD-Fraktion der Kollege Falko Mohrs.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eines vorweg: Auch ich schließe mich den Glückwünschen an Minister Altmaier an. Wir haben eben schon gefrotzelt: Bei so vielen Geschenken der Grünen und der Linken, die sie machen, indem sie heute dem Gesetz zustimmen, wäre nachher vielleicht eine Saalrunde angebracht. – Herr Altmaier, denken Sie darüber nach.
({0})
– Er hat nicht zugehört. Okay. Aber wir wiederholen das nachher.
Bevor wir starten, vielleicht eine kurze Replik auf Sie, Herr Müller von der AfD:
Erstens. Bevor Sie Kolleginnen und Kollegen der Grünen hier auffordern, einer, wie ich finde, furchtbaren Rede zuzuhören, wecken Sie doch einfach beim nächsten Mal Ihren Fraktionsvorsitzenden in der ersten Reihe, der hinter der Zeitung schläft. Ich glaube, das wäre effektiver.
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Zweitens. Wenn Sie sich darüber beschweren, dass die Zusammenarbeit von mehr als zwei oder drei Ministerien zu komplex und zu kompliziert ist, dann sagt das offensichtlich ganz schön viel über Sie und über Ihren Weitblick aus. Ich glaube, in solch komplizierten Fragen ist es richtig und wichtig, dass mehrere Ministerien ihre Expertise zu der Frage zusammenbringen, um eine Entscheidung zu treffen. Ich glaube, das zeigt, wie verantwortungsvoll wir genau mit dieser Frage hier umgehen, und das ist auch gut so.
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Denn es geht, meine Damen und Herren, um den Schutz und um die Aufrechterhaltung von Fähigkeiten, von Fertigkeiten, um unsere eigene Souveränität hier in Deutschland, in Europa, wenn wir über kritische Fähigkeiten von Unternehmen, beispielsweise in der IT-Sicherheitsbranche oder auch in anderen Bereichen wie der Rüstung, sprechen. Um genau solche Fälle geht es hier, wenn Investoren aus Nicht-EU-Staaten genau in diese Unternehmen investieren, um Know-how, um Wissen, um Fähigkeiten aus Deutschland, aus Europa auszuleiten. Das ist eben auch eine Frage von nationaler Sicherheit und Ordnung. Dieses überarbeitete Außenwirtschaftsgesetz hilft uns dabei, genau hier unsere Interessen noch besser, noch effektiver zu schützen, und das, meine Damen und Herren, ist gut.
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Es ist mehrfach angesprochen worden: Es sind zum einen die Ziele, die wir als Deutschland, also national, haben. Es sind aber auch Ziele, die wir bereits vor Jahren in der Diskussion mit der Europäischen Kommission erarbeitet haben, wobei wir jetzt auch mit dieser Außenwirtschaftsverordnung das umsetzen, was die EU-Screening-Verordnung uns aufträgt. Wir machen hier also beides: Wir setzen die richtigen Schwerpunkte, die für uns wichtig sind, und wir setzen um, was auf europäischer Ebene durch die Verordnung von uns gefordert wird.
Klar ist doch auch Folgendes – Herr Houben, da sind wir uns doch, glaube ich, völlig einig –: Wir leben in einer vernetzten Welt, und insbesondere Deutschland mit seiner Ausrichtung auf Export lebt doch davon, dass wir offene Märkte haben. Deswegen ist es völlig unseriös, hier das Schreckgespenst von Protektionismus aufziehen zu lassen. Nein, darum geht es nicht, Herr Houben. Wenn Sie das Gesetz lesen, dann müsste Ihnen das eigentlich klar sein.
Es geht darum – das sage ich hier noch mal in aller Deutlichkeit –, dass wir in den Fällen, in denen wirklich Know-how aus kritischen Unternehmen durch Investitionen in das Nicht-EU-Ausland abfließen würde, sagen: Nein, hier legen wir Beschränkungen ein; hier verhindern wir. – Herr Houben, ich glaube, es ist nun wirklich auch im Interesse einer funktionierenden weltweiten Wirtschaft, dass sie bei aller Offenheit eben auch Schranken und Regeln hat. Ich glaube, es ist gut, dass wir diese Schranken hiermit verbessern.
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Nicht zuletzt: Die letzten Monate rund um Corona haben uns gezeigt, wie wichtig es ist, dass wir auch eigene Fähigkeiten und Fertigkeiten haben und bei der Herstellung von Centartikeln nicht daran scheitern, dass wir die entsprechenden Fähigkeiten und Produktionsstätten nicht haben.
Also, meine Damen und Herren, noch mal: Es geht darum, kritisches Wissen, kritische Fähigkeiten mit unserer Souveränität hier in Deutschland und Europa zu behalten. Das verbessern wir mit dieser Gesetzesnovelle. Ich freue mich, dass so viele zustimmen. Die anderen denken hoffentlich noch darüber nach.
In diesem Sinne: Vielen Dank und Glück auf!
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Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die Tötung von George Floyd hat nicht nur in den USA, sondern weltweit eine Rassismusdebatte ausgelöst, und es ist richtig. Rassismus geht uns alle an. Auch wir in Deutschland müssen diese Debatte konsequent führen. Um es mit den Worten der Bundeskanzlerin zu sagen: „… jetzt kehren wir mal vor der eigenen Haustür“.
Selbstverständlich ist die Situation der deutschen Polizei nicht vergleichbar mit amerikanischen Verhältnissen; das will ich auch noch mal in aller Deutlichkeit sagen.
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Aber auch wir müssen uns noch intensiver mit den Themen Rassismus und Diskriminierung auseinandersetzen, und dazu brauchen wir vor allem eine gute Fehlerkultur.
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Es wäre schon mal ein echter Fortschritt, wenn wir jetzt nicht wieder in die üblichen Reflexe verfallen würden. Während die einen jeden Vorschlag mit „Generalverdacht“ niederschreien, rufen die anderen „Verharmlosung“ zurück. Das kann so nicht weitergehen.
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Das gilt auch für die SPD-Vorsitzende, die, ohne es genau zu wissen, von einem „latenten Rassismus“ bei der Polizei gesprochen hat. Inzwischen hat sie das ja relativiert. Das nenne ich mal echte Fehlerkultur. Aber auch von den Kolleginnen und Kollegen von der Union würde ich mir wünschen, dass sie damit aufhören, jede Diskussion zum Thema mit dem pauschalen Vorwurf der Polizeifeindlichkeit abzuwürgen, nur um keine Argumente in der Sache liefern zu müssen.
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Was ich an Ihren Vorwürfen, ehrlich gesagt, sowieso nicht ganz verstehe: Ein Polizeibeauftragter beim Deutschen Bundestag ist für Sie „Generalverdacht“, aber den Verfassungsschutz mit all seinen Möglichkeiten auf die Polizei loszulassen, um rechten Umtrieben nachzugehen, finden Sie offenbar okay. Das verstehe ich nicht so ganz, aber vielleicht erklären Sie es mir noch mal.
Bei der Aufarbeitung der Vorfälle im KSK, die uns alle in der Öffentlichkeit auch breit beschäftigt haben, sind Sie froh, dass Sie nicht nur auf den MAD angewiesen sind, sondern zusätzlich noch die Wehrbeauftragte haben, und da höre ich auch nichts von „Generalverdacht“.
Wie dem auch sei: Pauschale gegenseitige Vorwürfe bringen uns bei diesem Thema keinen Millimeter weiter.
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Glauben Sie mir: Es tut nicht weh, sich in der Debatte mal ein bisschen zu bewegen, wenn die Richtung stimmt. Die Richtung hat der erste NSU-Untersuchungsausschuss in seinen Empfehlungen bereits vorgegeben. Ich zitiere aus dem Abschlussbericht:
Notwendig ist eine neue Arbeitskultur, die anerkennt, dass z. B. selbstkritisches Denken kein Zeichen von Schwäche ist, sondern dass nur derjenige bessere Arbeitsergebnisse erbringt, der aus Fehlern lernt und lernen will. Zentral ist dabei die Diskurs- und Kritikfähigkeit, d. h., es muss eine „Fehlerkultur“ in den Dienststellen entwickelt werden.
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Wir als grüne Fraktion haben uns diese gemeinsame Empfehlung zum Auftrag gemacht und bereits in der letzten Legislaturperiode einen Gesetzentwurf zum Polizeibeauftragten vorgelegt. Wir wollten ausdrücklich keine sogenannte Beschwerdestelle, weil uns das zu einseitig war.
Wir haben uns für das Konzept „Polizeibeauftragter“ entschieden, weil sich an ihn sowohl Bürgerinnen und Bürger als auch Polizistinnen und Polizisten wenden können. Das stärkt gegenseitiges Vertrauen. Das zeigen auch die vielen guten Beispiele – übrigens auch in CDU-mitregierten Ländern –, wie die Polizeibeauftragte in Schleswig-Holstein. Deshalb soll der Polizeibeauftragte nach unserem Konzept auch unabhängig sein und organisatorisch nicht an die Polizei oder ans Innenministerium angebunden sein, sondern wie die Wehrbeauftragte als Hilfsorgan beim Deutschen Bundestag.
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Wir haben übrigens nie gesagt: Dieses Modell oder gar keines! – Wir haben uns immer offen für Vorschläge gezeigt, und zwar von Anfang an – in der Anhörung, im Ausschuss und auch in vielen Gesprächen, die ich mit Kolleginnen und Kollegen hier im Haus geführt habe. Leider haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, bis heute keine Alternative zu unserem Gesetzentwurf vorgelegt und auch sonst keine eigenen Vorschläge dazu gemacht. Das halte ich schon für ziemlich problemvergessen.
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Wenn die Polizei ein Spiegelbild der Gesellschaft ist, wie Sie es ja auch selber immer wieder gerne sagen, dann gibt es auch in der Polizei Fehlverhalten. Es gibt Diskriminierung, und es gibt Rassismus. Deshalb müssen wir gemeinsam an Lösungen arbeiten;
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denn die Polizei ist ja nicht irgendwer. Sie übt das Gewaltmonopol im Innern aus, sie hat besondere Zugänge, zu Datenbanken, zu Waffen, sie darf in Grundrechte eingreifen.
Die meisten gehen sehr verantwortungsvoll mit diesen Befugnissen um, aber jeder, der das nicht tut, ist einer zu viel. Ob all diese Fälle, die immer wieder an die Oberfläche gespült werden, bedauerliche Einzelfälle oder Ausdruck eines strukturellen Problems sind, wissen weder Sie noch Sie noch ich. Wir beantragen daher heute, dass Bund und Länder eine Studie zu verfassungsfeindlichen Einstellungen bei Polizeibeamten in Auftrag geben, damit die Spekulationen endlich ein Ende haben und wir eine empirische Faktengrundlage bekommen.
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Es gibt jetzt etwas Verwirrung darüber, ob die Bundesregierung eine eigene Studie plant. In der Presse lassen sich Sprecher von Justiz- und Innenministerium dazu zitieren. Horst Seehofer sagte gestern im Ausschuss, er wisse davon nichts. Wie auch immer: Solche Studien müssen unabhängig und nach streng wissenschaftlichen Maßstäben durchgeführt werden, und ich finde, dass wir dazu eine Expertenanhörung im Innenausschuss machen sollten.
Unser Gesetzentwurf zum Polizeibeauftragten wird heute final abgestimmt. Es geht um einen Beitrag dazu, den Umgang mit Fehlern bei der Polizei zu professionalisieren – im Interesse der Bürgerinnen und Bürger, aber gerade auch im Interesse der vielen Polizistinnen und Polizisten, die jeden Tag vorbildlich und mit vollem Einsatz für den Rechtsstaat ihren Dienst versehen.
Ganz herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als nächster Redner hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Dr. Mathias Middelberg.
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Herzlichen Dank, Herr Präsident, und ich sage auch einen ausdrücklichen Dank an die Kollegin Frau Mihalic. Ich fand ihren Beitrag hier in Ton und Art und auch der Sache durchaus angemessen, wenngleich wir trotzdem in der Sache unterschiedlicher Auffassung bleiben. Das will ich hier durchaus auch geraderücken.
Wir besprechen nicht nur Ihren Gesetzentwurf zum Polizeibeauftragten, sondern auch Ihren Antrag mit dem Titel „Verfassungsfeindliche Tendenzen in der Polizei erkennen und entschlossen angehen“. Wenn ich diesen Antrag lese, dann lese ich aus ihm schon sehr viel Misstrauen gegenüber der Polizei heraus. Wenn man diesen Antrag liest, bekommt man den Eindruck: Die, die unsere Verfassung schützen, sind jetzt eigentlich das Problem. – Deswegen ist es mir schon wichtig, zu sagen: Wir teilen dieses Misstrauen ausdrücklich nicht –
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das sage ich ganz klar –, sondern wir haben ein Grundvertrauen in die Polizeibeamten und ‑beamtinnen in diesem Land.
Herr Kollege, Frau Mihalic würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Bitte.
Vielen Dank, Herr Kollege Middelberg, dass Sie die Frage zulassen. – Sie haben jetzt gerade davon gesprochen, dass aus unserem Antrag viel Misstrauen herauszulesen ist, was die Untersuchung verfassungsfeindlicher Tendenzen innerhalb der Polizei betrifft. Deswegen möchte ich Sie fragen, ob Sie die Forderung des Bundes Deutscher Kriminalbeamter kennen, dass die Innenministerkonferenz in dieser Woche den Beschluss fassen soll, bundesweit verfassungsfeindliche Tendenzen innerhalb der Polizei untersuchen zu lassen.
Das ist mir, ehrlich gesagt, noch nicht bekannt gewesen, aber ich sage Ihnen ganz offen: Ich empfinde schon den Begriff „verfassungsfeindliche Tendenzen“ in diesem Sinne als eine Unterstellung.
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Sie sprechen von Tendenzen insgesamt, und diese Tendenzen – das sage ich Ihnen ganz offen – sehe ich nicht.
Diese „Tendenzen“ – und damit fahre ich jetzt auch fort – hat im Grunde genommen ja auch die Vorsitzende einer großen deutschen Volkspartei in der letzten Woche angesprochen, indem sie – und das sage ich auch ganz deutlich – der Polizei gegenüber den Generalverdacht eines „latenten Rassismus“ ausgesprochen hat. Das hat Frau Esken getan, und ich kann auch nicht erkennen, dass sie sich von dieser Aussage in irgendeiner Weise distanziert hätte. Deswegen, glaube ich, müssen wir das wirklich geraderücken.
Unsere Polizei hat kein Rassismusproblem, und es gibt auch keinen latenten und strukturellen Rassismus in der Polizei. Ich glaube, das muss man so klar und deutlich festhalten.
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Die Polizei steht in der Mitte der Gesellschaft; das haben Sie auch zu Recht betont, Frau Mihalic. Deswegen gibt es auch Extremisten und nach meiner Überzeugung sicher auch Rassisten in der Polizei, und es gibt auch Leute, die dort Unrecht tun. Diese Dinge müssen wir konsequent aufklären und auch klar ahnden. Da sind wir uns, glaube ich, einig.
Aber richtig ist, was der niedersächsische Innenminister Boris Pistorius, SPD, festgestellt hat: Wenn man wie Frau Esken eine Feststellung über den latenten Rassismus in unserer Polizei unmittelbar in Zusammenhang mit den schrecklichen Ereignissen, nach dem unglaublichen Verhalten der amerikanischen Polizei in Minneapolis trifft, dann erweckt man den Eindruck, als könne man das eine wirklich mit dem anderen vergleichen. Die amerikanische Situation aber ist eine völlig andere. – Den Ausführungen schließe ich mich ausdrücklich an.
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Dennoch, Frau Mihalic – da haben Sie recht –, muss unrechtmäßiges Verhalten in der Polizei, auch Extremismus, verfolgt und rücksichtslos aufgeklärt werden; das ist vollkommen klar. Aber Sie suggerieren auch in Ihrem Antrag, dass es da, ich sage mal, zwei Probleme gäbe: einmal eine Vielzahl von Fällen und zum anderen Mal keine angemessenen Möglichkeiten der Befassung damit. Ich sehe beides nicht; das sage ich Ihnen klar.
In der Bundespolizei gibt es 49 000 Beschäftigte. In acht Jahren hatten wir 25 Verdachtsfälle von Rassismus. Das betrifft 0,05 Prozent aller Beschäftigten in der Bundespolizei, gesehen über acht Jahre.
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– Nein, das sind die Zahlen, über die wir verfügen. Sie haben ja Zahlen und Statistik auch angesprochen.
Das andere ist die Frage der Instanzen. Das regeln die Länder auf ganz unterschiedliche Art und Weise: mit unabhängigen Stellen, mit Beschwerdestellen, mit Stellen, die bei der Staatskanzlei aufgehängt sind, und mit anderen Instrumenten. Diese Stellen gibt es, und zwar für externe Hinweise genauso wie für interne Hinweise. Es gibt Instrumente der Innenrevision. Es gibt im Übrigen auch für jedermann in Deutschland die Möglichkeit, hier den ganz normalen Rechtsweg zu beschreiten. Ich sage Ihnen ganz klar: Ich habe Vertrauen in diesen Rechtsweg. Bei diesem Rechtsweg ist auch nicht die Polizei der Herr des Verfahrens, sondern bekanntlich die Staatsanwaltschaft, was die gesamte Ermittlung angeht. Im Übrigen entscheiden dann unabhängige Gerichte. Ich muss ganz ehrlich sagen: Ich habe in diese Unabhängigkeit der Gerichte in Deutschland immer noch sehr hohes Vertrauen.
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Das dürfen auch alle anderen Bürger in diesem Land haben, wenn Maßnahmen der Polizei überprüft werden.
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Ich glaube, wir sollten jetzt konkret an die Arbeit gehen. Wir haben den Kabinettsausschuss zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und Rassismus eingesetzt. Das wäre der Ort, das Thema „Rassismus in deutschen Behörden, auch in den Sicherheitsbehörden“ aufzugreifen. Die Themenfelder Menschenrechte, Grundrechte und Diskriminierungsverbot werden in der Polizeiarbeit stetig aufgegriffen: in der Polizeiausbildung, im Polizeitraining, bei zusätzlichen Seminaren. Dort werden auch Diskriminierungslagen durchgegangen, und die Polizeibeamten werden dafür sensibilisiert.
Was mir ein sehr wichtiges Thema ist: die Diversität beim Personal, in unseren Bundesbehörden und auch in der Polizei. Es ist Teil des Nationalen Aktionsplans Integration dieser Bundesregierung. Gerade auf diesem Feld sollten wir engagiert fortfahren.
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Zuletzt will ich Ihnen sagen: Ihr Fokus lag jetzt sehr stark bei der Polizei und unrechtmäßigem Verhalten der Polizei. Wir sollten aber auch der Fairness halber mal betonen: Das Lagebild des Bundeskriminalamts für das letzte Jahr sagt uns: Es gab 38 000 Gewalttaten gegen Polizeivollzugsbeamte. 38 000! Es gab 1 276 Fälle von gefährlicher und schwerer Körperverletzung gegen Polizeivollzugsbeamte. Es gab 41 Fälle, in denen sogar versucht wurde, Polizeibeamte zu töten oder zu ermorden. Das ist die andere Seite der Medaille.
Deswegen sage ich zum Abschluss: Die Polizeibeamten und ‑beamtinnen halten für uns, für uns alle hier in Deutschland den Kopf hin. Sie gewährleisten unsere Sicherheit. Ohne diese Sicherheit könnten wir die Freiheiten – ich meine Redefreiheit, Sie Ihre Redefreiheit heute, wir unsere Meinungsfreiheit, unsere Demonstrationsfreiheit – in diesem Land gar nicht ausüben. Dafür sage ich an dieser Stelle zuvorderst unseren Polizeibeamten und ‑beamtinnen einen herzlichen Dank.
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Der nächste Redner: für die Fraktion der AfD der Kollege Martin Hess.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich angesichts der derzeit stattfindenden Rassismuskampagne gegen unsere Polizei mit einer klaren Feststellung beginnen: Es gibt kein strukturelles Rassismusproblem bei der Polizei.
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Unsere Polizeibeamten leisten trotz widriger Rahmenbedingungen herausragende Arbeit. Die Grundlage ihres Einschreitens ist nicht die Hautfarbe oder Ethnie eines Menschen, sondern dessen Verhalten. Das zeigt sich auch in der Statistik. Bei 1,9 Millionen Polizeieinsätzen im Jahr 2019 in Baden-Württemberg gab es nur vier – ich wiederhole: vier – Beschwerden wegen ethnisch begründeter Diskriminierung oder Überprüfungen. Wo es Fehlverhalten von Beamten gibt, sind die Polizei und die Gerichte in Deutschland sehr wohl in der Lage, dieses konsequent und wirksam zu ahnden. Dafür braucht es weder einen Bundespolizeibeauftragten noch eine angeblich unabhängige Beschwerdestelle.
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Also hören Sie endlich auf, das Gegenteil zu behaupten! Was Sie betreiben, ist keine berechtigte Kritik an staatlichen Institutionen, sondern eine Verächtlichmachung unserer Polizei und Justiz. Schon deshalb dürfen Ihre Anträge auf gar keinen Fall unterstützt werden.
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Wer glaubt, Polizei und Justiz diffamieren zu können, dem muss konsequent und mit allem Nachdruck Einhalt geboten werden.
Aber, sehr geehrte Damen und Herren von den Grünen, Ihnen geht es doch gar nicht um die Bekämpfung realer Missstände oder die Behebung derselben. Worum es Ihnen geht, das ist doch, den generellen Rassismusverdacht gegen die Männer und Frauen auszusprechen, die die Sicherheit unserer Bürger tagtäglich gewährleisten. Die Annahme Ihrer Anträge würde doch im Ergebnis dazu führen, dass Clankriminelle, Straftäter mit Migrationshintergrund und gewalttätige Linksextremisten in noch weit stärkerem Maße als bisher unsere Polizisten mit Rassismusvorwürfen eindecken würden, um so das Einschreiten und die Strafverfolgung zu behindern. Dieser Sabotage der Funktionsfähigkeit unseres Staates werden wir uns entschlossen entgegenstellen.
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Die linken Parteien wollen im Bund das fortsetzen, was ihre Parteifreunde im Berliner Senat begonnen haben. In Berlin müssen Polizeibeamte jetzt selbst nachweisen, ihnen vorgeworfene Diskriminierungen nicht begangen zu haben. Die verheerenden Folgen dieser Beweislastumkehr zeichnen sich schon jetzt ab: Bayern und Baden-Württemberg wollen die Unterstützungseinsätze für Berlin einstellen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Jetzt nicht. – Die Gewerkschaft der Polizei, die den Berliner Regierungsparteien politisch ja eigentlich nahesteht, fordert in Nordrhein-Westfalen, keine Polizisten mehr nach Berlin zu schicken. Sogar Innenminister Seehofer hat angekündigt, Bundespolizeieinsätze in Berlin zu stoppen, um eine Welle ungerechtfertigter Klagen zu vermeiden. Diese Beweislastumkehr, um es klar und deutlich zu sagen, ist für unseren Rechtsstaat und für die Polizei eine unerträgliche Zumutung und muss so schnell wie möglich wieder abgeschafft werden.
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SPD, Grüne und Linke wollen eine effektive Polizeiarbeit erschweren, damit ihre Klientel möglichst ungehindert ihre destruktiven und staatsfeindlichen Aktivitäten entfalten kann.
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Diesem sicherheitspolitischen Wahnsinn muss sich jeder überzeugte Demokrat entschlossen entgegenstellen; denn wir haben kein Rassismusproblem bei der Polizei, sondern wir haben ein Linksextremismusproblem im Deutschen Bundestag.
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SPD-Chefin Saskia Esken erklärt neuerdings offen ihre Sympathie für die Antifa, für jene linksextremistische Gruppierung also, die für massive Angriffe auf unsere Polizeibeamten verantwortlich ist. Frau Esken glaubt auch, in Deutschland latenten Rassismus in den Reihen der Sicherheitskräfte feststellen zu können.
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Für den schnellen politischen Nutzen schreckt sie also nicht davor zurück, den ausgezeichneten Ruf unserer Polizei zu beschädigen. Aber das – da bin ich mir absolut sicher – wird den weiteren Absturz der SPD beschleunigen; denn die Bürger in Deutschland werden diese andauernden substanzlosen Rassismusunterstellungen nicht länger tolerieren.
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Die Wahrheit ist: Polizisten sind nicht Täter, sondern Opfer von Gewalt. In Deutschland ermitteln die Staatsanwaltschaften jährlich in circa 2 000 Fällen wegen rechtswidriger Übergriffe durch Polizeibeamte, und bei weniger als 1 Prozent kommt es zur Verurteilung. Das liegt nicht daran, dass unsere Justiz befangen wäre; das liegt daran, dass die Vorwürfe sich in fast allen Fällen als unbegründet herausstellen. Aber – der Kollege Middelberg hat das schon erwähnt – 38 000 Polizeibeamte werden jährlich Opfer von Gewalttaten, Tendenz steigend. Bekämpfen Sie endlich effektiv die jährlich steigende Gewalt gegen Polizei und Einsatzkräfte, anstatt sich mit den Polizeifeinden der Antifa gemeinzumachen!
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Auch CDU und CSU – das kann ich Ihnen jetzt leider nicht ersparen ‑lassen zu, dass der öffentliche Dienst und damit auch unsere Polizei unter Generalverdacht gestellt wird. Unter der Federführung des Innenministers ist beim Bundesamt für Verfassungsschutz eine sogenannte „Zentralstelle zur Aufklärung rechtsextremistischer Umtriebe im öffentlichen Dienst“ eingerichtet worden. Schon allein über den Begriff „Umtriebe“ ließe sich jetzt trefflich diskutieren. Wer aber eine solche Stelle einrichtet, der stellt die Möglichkeit in den Raum, dass es über den Einzelfall hinausgehenden Rassismus und Rechtsextremismus und damit ein diesbezügliches strukturelles Problem im öffentlichen Dienst in Deutschland tatsächlich geben könnte. Damit beschädigen Sie die Reputation der deutschen Polizei und des gesamten öffentlichen Dienstes.
(Beifall bei der AfD]Turnusende
Das zeigt einmal mehr, wie grün ja mittlerweile sogar schon die CSU geworden ist. Deshalb: Schluss mit diesem Pauschalverdacht gegen den öffentlichen Dienst! Diese Zentralstelle ist unverzüglich wieder abzuschaffen.
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Natürlich – und da besteht absolute Einigkeit – haben Rassisten und Verfassungsfeinde im öffentlichen Dienst nichts verloren. Aber solange Staatsfeinde im Berliner Senat
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über die Arbeitsbedingungen der Polizei bestimmen und solange in Mecklenburg-Vorpommern mit Unterstützung der Union Linksextremisten zu Verfassungsrichtern ernannt werden, so lange stinkt der Fisch vom Kopf.
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Deshalb kann ich nur an die Kollegen der Union appellieren: Hören Sie auf mit diesem Appeasement! Fakt ist und bleibt: Linke, Grüne und Rote sind und bleiben die politischen Feinde unserer Polizei.
Als Polizist und Politiker appelliere ich an die Fraktionen der SPD, der Grünen und der Linken: Hören Sie auf, zu zündeln und polizeifeindliche Stimmung weiter anzuheizen! Sie gefährden damit das staatliche Gewaltmonopol. Zeigen Sie, dass Sie Hetze gegen unsere Polizisten nicht dulden! Verurteilen Sie in aller Deutlichkeit die Sprache des Hasses, mit der linke Journalisten die Gewalt gegen Polizeibeamte befeuern!
In der „taz“ durfte eine Autorin
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unseren Polizisten am 15. Juni tatsächlich eine „autoritäre Persönlichkeit“ und ein „Fascho-Mindset“ attestieren und die Kollegen in menschenverachtender Weise als „Abfall“ diffamieren.
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Diese Sprache kennen wir sonst nur aus Bekennerschreiben der linksextremen Antifa. Alle aufrechten und überzeugten Demokraten müssen eine solche inakzeptable Hetze gegen unsere Polizei klar und deutlich verurteilen. Wer dies auch nur im Ansatz duldet, hat sich als ernstzunehmende politische Kraft in unserem Land disqualifiziert.
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Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende.
Ich komme zum Schluss. – Die AfD stellt sich klar und deutlich hinter unsere Polizei. Gerade in Zeiten, in denen sie sich aus anderen Parteien und Fraktionen ungerechtfertigter Rassimus- und Rechtsextremismusunterstellungen ausgesetzt sieht, ist es wichtig, ein klares politisches Signal der Rückendeckung und Unterstützung an unsere Polizei auszusenden. Unsere Polizisten sind weder Rassisten noch Rechtsextremisten, und deshalb sind alle Anträge konsequent abzulehnen.
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Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Canan Bayram, Bündnis 90/Grüne.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Während der Rede von Herrn Hess habe ich mich gefragt, wie es eigentlich gewesen wäre, wenn in dem NSU-Untersuchungsausschuss auch die AfD hätte mitarbeiten müssen. Ich zitiere aus dem Ausschussbericht:
Notwendig ist eine neue Arbeitskultur, die anerkennt, dass z. B. selbstkritisches Denken kein Zeichen von Schwäche ist, sondern dass nur derjenige bessere Arbeitsergebnisse erbringt, der aus Fehlern lernt und lernen will. Zentral ist dabei die Diskurs- und Kritikfähigkeit, d. h., es muss eine „Fehlerkultur“ in den Dienststellen entwickelt werden.
Da frage ich mich wirklich: Der NSU hat mit die schlimmste Mordserie in Deutschland begangen.
({0})
Mehrere Ausschüsse im Deutschen Bundestag haben sich damit beschäftigt. Was ist denn die Antwort der AfD? Hätten Sie den gemeinsamen Abschlussbericht so geschrieben,
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diese Feststellungen so getroffen? Oder ist es so, wie Ihre Rede den Eindruck erweckt hat, dass Sie auf dem rechten Auge blind sind und keinesfalls dazu bereit sind, Verantwortung zu übernehmen für die Menschen in diesem Land?
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Herr Kollege Hess, wollen Sie erwidern? – Bitte schön.
Selbstverständlich, Herr Präsident. – Sie tun das, was Sie immer tun: Sie zünden Nebelkerzen. Ich kann Ihnen sagen: Ich war 27 Jahre lang Polizeibeamter.
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Die Polizei könnte in diesem Land überhaupt gar nicht die Leistungen bringen, die sie bringt, wenn das, was Sie hier jetzt behauptet haben, stimmen würde. Diese Fehlerkultur, die Ihrer Ansicht und Ihren Ausführungen nach fehlt, die wird bereits gelebt in der Polizei, zumindest in der, wo ich Dienst gemacht habe.
Lassen Sie mich zum Abschluss eines sagen: Sie waren diejenige, die hier im Deutschen Bundestag die Zeichen der Antifa gezeigt hat. Sie haben hier offen Solidarität mit der Antifa geübt, mit Staatsfeinden, mit vom Verfassungsschutz beobachteten Gruppierungen.
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Von Ihnen haben wir uns keine Belehrungen darüber gefallen zu lassen, wer hier für die Bürger Politik macht und wer gegen die Bürger arbeitet. Sie und Ihre Partei arbeiten gegen die Polizei und gegen die Bürger dieses Landes, und dagegen wehren wir uns und setzen uns mit allem, was wir haben, zur Wehr.
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So. Jetzt wollen wir wieder fortfahren in der Rednerreihenfolge. – Für die SPD-Fraktion hat das Wort die Kollegin Susanne Mittag.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren und Kollegen! So. Jetzt wollen wir mal klarstellen, dass die Polizei nicht so denkt wie der Vorredner; denn ich bin auch Polizeibeamtin.
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Jetzt werden wir mal ganz gepflegt mit angewandtem Realismus weitermachen.
Wir alle haben die Bilder aus den USA gesehen, und wir waren entsetzt – durchgängig – über das Ausmaß und die Auswirkungen von Polizeigewalt. Und obgleich die Verhältnisse in den USA sich historisch und strukturell deutlich von den Verhältnissen in der Bundesrepublik unterscheiden, haben die Bilder des Todes von George Floyd und der Demonstrationen zu einer erneuten und auch berechtigten Diskussion hierzulande geführt.
Auch wir haben ein Rassismusproblem; das ist gar kein Geheimnis. Auch hierzulande werden Menschen immer noch aufgrund ihres Aussehens, ihrer Herkunft und manche auch einfach nur wegen ihres Namens schlecht behandelt. Das ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, dem wir uns stellen müssen – im täglichen Leben, in der Wirtschaft, in Verbänden und natürlich auch im öffentlichen Dienst –, und ich unterstütze die Diskussionen um Verbesserungen aus ganzem Herzen.
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Dass ein gesellschaftliches Problem vor der Polizei und auch vor der Justiz nicht haltmacht, ist weder neu noch unerkannt. Nicht zuletzt die Ermittlungen in den Mordfällen des NSU haben uns schon vor Jahren gezeigt, dass einseitige Denkschablonen zu erschütternd falschen Ermittlungsergebnissen führen. Daher hat sich in den vergangenen Jahren schon einiges getan.
Immer mehr Bundesländer haben Polizeibeauftragte eingeführt, auch wenn sie nicht immer so bezeichnet werden. Nordrhein-Westfalen, Hamburg, Brandenburg, Bayern, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, zuletzt Berlin und seit Jahren auch Niedersachsen, sie alle haben Polizeibeauftragte, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Sie sind unterschiedlich besetzt und strukturiert. In Bremen zum Beispiel gibt es einen Beauftragten für den gesamten öffentlichen Dienst.
All diese geschaffenen Ämter haben zum Ziel, verlässliche Anlaufstellen für Bürgerinnen und Bürger zu sein – und dazu gehören übrigens auch Polizisten –, die sich ungerecht behandelt fühlen und auch teilweise ungerecht behandelt wurden. Die Beschwerdestellen sind auch am richtigen Ort: in den Ländern bei den Länderpolizeien und beim Bund bei der Bundespolizei. Zusätzlich – das wurde schon erwähnt – wird beim Verfassungsschutz des Bundes unter anderem eine Zentralstelle eingerichtet für Ermittlungen derartiger Fälle im öffentlichen Dienst; die sind ja nun von der Polizei weit genug entfernt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen: In den vergangenen Jahren wurden in Bund und Ländern bereits Maßnahmen getroffen, und es wird auch weiter reagiert. Das Einzige, was sich zu meiner Verblüffung nicht verändert hat, ist der Gesetzentwurf, der hier von Bündnis 90/Die Grünen vorliegt – erneut in unveränderter Fassung, wenn man von zwei Umformulierungen absieht. Aber da helfen auch nicht die diversen Ergänzungsanträge, die noch dazugekommen sind.
Wenn man Ihre Anträge liest – und wir wollen ja auch mal mit dem Antrag umgehen –, speziell den neu hinzugekommenen Antrag „Verfassungsfeindliche Tendenzen in der Polizei erkennen und entschlossen angehen“, so erwecken Sie den Eindruck, dass Bund und Länder erst auf die Thematik hingewiesen werden müssen. Ignoriert werden dabei alle bereits getätigten Maßnahmen in diesem Bereich, wie die Überprüfung der Sinnhaftigkeit und Effizienz der getätigten Maßnahmen, die Arbeit im Bereich Prävention sowie in der Aus- und Weiterbildung.
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So viele engagierte Menschen arbeiten bereits an den Verbesserungen, und das fällt dabei völlig hinten runter. Vielleicht sollte sich der eine oder andere Verfasser mal beispielhaft in Niedersachsen erkundigen – das hat ja neulich schon mal gut geklappt –, was in diesem Bereich schon fortlaufend gemacht wird. Dieses Thema wird sicher auch – das ist schon erwähnt worden – in den laufenden Innenministerkonferenzen erörtert werden.
Aber ein Aspekt in diesem Antrag ist sehr interessant; allerdings ist das zumindest teilweise schon in Arbeit. Sie fordern darin im Grunde eine stärkere Hell- und Dunkelfeldforschung. Sie möchten über die Polizeistatistiken hinaus mehr über das Ausmaß gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und rechtsextremistische Einstellungen erfahren. Dieser Forschungsansatz – Hell-/Dunkelfeld – ist ein ganz wichtiger Punkt, den wir auch schon debattiert und forciert haben im Periodischen Sicherheitsbericht
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– erst mal die Nerven bewahren, nicht? –, der Anfang 2021 erscheinen wird.
Ein Forschungsauftrag, wie Sie ihn fordern, würde zunächst mal klären, in welchem Umfang verfassungsfeindliche Tendenzen bestehen. Da würde ich allerdings auch noch ein bisschen weitergehen und den gesamten öffentlichen Dienst einbeziehen; da gibt es ja Vernetzungen.
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Also: Nicht nur die Polizei in den Blick nehmen, wie im Antrag vorgeschlagen, sondern auch die Justiz, Verwaltung und – nicht zu unterschätzen – den Bildungsbereich. Denn leider werden auch in diesen zentralen Bereichen immer wieder Menschen mit verfassungsfeindlicher Gesinnung auffällig.
Bislang gibt es dazu nur begrenzt realistische Einschätzungen. Meines Erachtens emotionalisieren die einen die Rassismusdebatte sehr, andere ignorieren oder instrumentalisieren sie. Eine Faktenlage würde allen Beteiligten in der Debatte helfen.
Was die Forschung angeht, ist es aktuell so, dass die südlichen Bundesländer und auch der Bundesinnenminister sie allein für die Polizei ablehnen. Es ist höchste Zeit, diesen Widerstand aufzugeben; denn das Ausmaß an Verfassungsfeindlichkeit und Rechtsextremismus im öffentlichen Dienst zu erforschen, ist ein ganz wichtiger Schritt. Das Spektrum zu erweitern, hilft vielleicht dabei, dass dieses Projekt durchgesetzt werden kann. Wenn wir mehr darüber wissen, können Bund und Länder gezielter mit Prävention, Aus- und Fortbildung und Organisationsanpassung strukturell reagieren. Stattdessen müssen wir uns mit wiederkehrenden Anträgen zu möglichen Fehlentwicklungen befassen, und das ist sehr schade.
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Das bringt mich zurück zur Forderung der Grünen. Sie fordern einen Bundespolizeibeauftragten, der für die Bundespolizei, das BKA und den Zoll sowie für die Polizei des Deutschen Bundestages zuständig und unabhängig sein soll. Das klingt gut und wäre auch eine gute Sache – abgesehen von der Praktikabilität –, wenn es darum ginge, eine übergeordnete Instanz zu haben, die die Polizeien mit beaufsichtigt und strukturelle Defizite oder mögliche Tendenzen in der Arbeit der Polizei erkennen kann. Aber was Sie hier fordern, ist etwas anderes. Das Ziel ist eine weitere Beschwerdestelle – so steht es drin – für alle Bürgerinnen und Bürger und natürlich auch Beamte; alle können sich an sie wenden. Und: Der Beauftragte soll parallel zu den eventuell laufenden staatsanwaltlichen oder Disziplinarermittlungen arbeiten. Es gibt also drei Ebenen. Das heißt, ein Beamter, dem ein Fehlverhalten vorgeworfen wird, hat sich, würde man dem Antrag folgen, auf drei verschiedenen Ermittlungsebenen mit dem Vorwurf auseinanderzusetzen. Das ist nicht wirklich hilfreich. Zusätzlich zu diesen Parallelermittlungen soll auch noch das Beschwerdemanagement durchgeführt werden. Dann soll er auch noch beraten und begleiten, was eigentlich eine anwaltliche Aufgabe ist. Was soll ein Bundespolizeibeauftragter eigentlich noch alles machen?
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Ich denke, da kommen wir dem, was wir eigentlich gemeinsam wollen, nicht wirklich näher.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es muss sich etwas ändern in unserer Gesellschaft. Dabei wollen wir alle gesellschaftlichen Gruppen mitnehmen, weil wir ihnen das zutrauen; das bedeutet in diesem Fall: auch mit der Polizei, die unter verallgemeinernden Schuldzuweisungen ebenso leidet wie jeder andere, der pauschal zu Unrecht diskreditiert wird. Deswegen werden wir diese Anträge ablehnen.
Herzlichen Dank.
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Der nächste Redner ist für die Fraktion der FDP der Kollege Konstantin Kuhle.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Tod des US-Amerikaners George Floyd hat viele Menschen auf der ganzen Welt traurig gemacht und zutiefst verstört, und es hat an vielen Orten auf der Welt und auch in Deutschland Demonstrationen gegen Rassismus gegeben. Ich glaube, es ist wichtig, noch einmal zu sagen, dass man den Menschen, die gegen Rassismus, gegen Ausgrenzung, gegen Diskriminierung demonstrieren, mit Solidarität und Unterstützung begegnen sollte.
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Das Ganze hat auch in Deutschland eine Debatte über die Frage von Rassismus und Polizeigewalt ausgelöst. Ich habe ein bisschen die Sorge, dass in dieser Debatte sehr wenige Akteure bereit sind, überhaupt irgendetwas dazuzulernen. Das geht zunächst los mit der SPD-Vorsitzenden Saskia Esken, die eine pauschale, irritierende Äußerung über die Polizei gemacht hat. Dann hat sich der niedersächsische Innenminister gedacht: Um Gottes willen! Das müssen wir irgendwie einfangen, damit nicht so viele SPD-Wählerinnen und SPD-Wähler in Niedersachsen mitkriegen, was Frau Esken da eigentlich Diffamierendes über die Polizei gesagt hat. – Daraufhin hat er sie nach Nienburg eingeladen, dann hat sie sich das angesehen, und es wurde eine große Läuterungsgeschichte über Frau Esken erzählt.
Mir wäre es lieber gewesen – ich vermute, auch vielen Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten –, man hätte sich vorher einmal mit der Polizei unterhalten und an der entscheidenden Stelle miteinander einen Dialog darüber geführt, wie die Ausbildung der Polizei in Deutschland ist. Dann hätte man gesehen, dass die Ausbildung den entscheidenden Unterschied zwischen der Situation in den Vereinigten Staaten und der Situation in Deutschland ausmacht. Wir können stolz darauf sein, dass unsere Polizei in Deutschland so gut ausgebildet ist.
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Aber es gibt auch andere Akteure – dazu gehören die Kommentatoren, die jüngst in der Tageszeitung „taz“ Polizisten pauschal als menschlichen Abfall bezeichnet haben –, die in dieser Debatte ausschließlich auf Provokation aus sind und null dazulernen wollen. Natürlich kann die „taz“ und können die Autoren im Rahmen ihrer Pressearbeit, im Rahmen der Pressefreiheit schreiben, was sie wollen. Aber ich will schon einmal darauf hinweisen, dass es sehr viele Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte gibt, die die körperliche Unversehrtheit und die anderen Grundrechte – auch die Pressefreiheit – ausgerechnet derjenigen schützen, die sich in so diffamierender und herabwürdigender Weise über die Polizei äußern.
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Auch das leistet unsere Polizei, und auch dafür gilt ihr, gilt allen Frauen und Männern in Uniform ausdrücklich ein Dankeschön.
Meine Damen und Herren, die Grünen haben hier jetzt verschiedene Initiativen vorgelegt, die sich mit der Frage beschäftigen, wie mit rassistischen und diskriminierenden Vorfällen in der Polizei im Einzelnen umgegangen werden kann. Wir begrüßen ausdrücklich, dass diese Debatte hier stattfindet. Wir müssen aber feststellen, dass in den 16 Bundesländern auf Landesebene schon sehr unterschiedliche Modelle existieren: von Vertrauensstellen über Beschwerdestellen bis hin zu Polizeibeauftragten, die es in einigen Bundesländern auch gibt.
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Für uns werden die Ergebnisse aus diesen Ländern in dem Gesetzentwurf nicht hinreichend gewürdigt. Es wird auch nicht hinreichend gewürdigt, dass es auf Bundesebene schon eine Vertrauensstelle gibt. Deswegen werden wir uns enthalten, werden diese Diskussion aber weiter begleiten, weil es natürlich auch Stellen geben muss, an die man sich bei Fehlverhalten, das es im Einzelnen auch gibt, wenden kann.
Ich will aber, meine Damen und Herren, noch auf einen letzten Aspekt zu sprechen kommen, der für meine Begriffe ein bisschen zu kurz kommt. Wir sprechen über strukturellen Rassismus – um es mit Saskia Esken zu sagen: wir sprechen über „latenten Rassismus“ –; wir sprechen über Fehlverhalten; wir sprechen über den Vergleich zwischen den Vereinigten Staaten und Deutschland. Aber wir sollten auch nicht vergessen, dass wir abseits der täglichen Polizeiarbeit konkrete rechtsextremistische Umtriebe in unseren Sicherheitsbehörden haben, wo wir dringend Aufarbeitung betreiben müssen.
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Franco A., „Hannibal“, Nordkreuz, die jüngsten Erkenntnisse aus dem Bereich KSK, die wir gewonnen haben, die Hilferufe, die uns als Parlamentarier und auch die Bundesregierung erreichen:
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Da muss Aufarbeitung stattfinden. Im Beamtenrecht muss etwas geändert werden. Die Staatsanwaltschaften müssen da durchgreifen. Wir müssen uns insgesamt um diese Probleme kümmern und sollten uns bei dieser Debatte nicht verzetteln, indem wir über das Gros der Polizeibeamten sprechen. Auf diese einzelnen rechtsextremistischen Vorfälle muss der Fokus gerichtet werden, und da müssen wir deutlich stärker werden.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Der nächste Redner: für die Fraktion Die Linke der Kollege Dr. André Hahn.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Antrag wollen wir, will Die Linke eine Beschwerdestelle für die Polizeibehörden des Bundes schaffen, an die sich Bürgerinnen und Bürger, aber auch Angehörige der Polizei selbst mit ihren Kritiken und Hinweisen über polizeiliches Fehlverhalten wenden können. Auch die Vorlagen von Bündnis 90/Die Grünen zielen auf die Einrichtung der Stelle eines oder einer unabhängigen Polizeibeauftragten als Ansprechpartner ab. Ich sage ganz klar: Ja, wir brauchen eine solche unabhängige Beschwerde- und Eingabestelle.
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Ich füge hinzu: Der Name ist für uns dabei eher zweitrangig.
Ich sage auch, damit keine Missverständnisse aufkommen: Auch wir sind überzeugt, dass der weit überwiegende Teil der Polizistinnen und Polizisten in unserem Land seine Arbeit gewissenhaft, professionell und kompetent erledigt, und dafür bedanken wir uns bei den Angehörigen der Polizeibehörden in Bund und Ländern; denn es ist ganz gewiss auch Ergebnis ihrer Arbeit, dass wir in diesem Land mit einem vergleichsweise hohen Sicherheitsstandard leben können.
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Dennoch, meine Damen und Herren, müssen wir auch über die Fälle polizeilichen Fehlverhaltens sprechen. Wir müssen darüber reden, weil es diese Fälle gibt und weil sie unzureichend aufgeklärt werden. Kriminologen der Ruhr-Universität Bochum kamen 2019 in der ersten systematischen Untersuchung zu rechtswidriger Polizeigewalt in Deutschland zu dem Ergebnis, dass auf rund 3 400 Fälle nur 7 Verurteilungen kommen. Betroffene haben den Eindruck, dass sie sich nicht durchsetzen können und dass ihre Anzeigen keinen Erfolg haben. Etwa 80 Prozent aller Fälle von unverhältnismäßiger oder gar strafbarer Polizeigewalt werden daher erst gar nicht angezeigt.
Es geht uns aber nicht nur um das Fehlverhalten einzelner Beamter, sondern – das zeigen nicht zuletzt die eklatanten Ermittlungspannen im Zusammenhang mit dem Terrornetzwerk NSU – es geht auch um ein strukturelles Defizit in Teilen der Ermittlungsbehörden. Deshalb wollen wir mit der unabhängigen Beschwerdestelle einen Rahmen schaffen, um solche Fälle aufzuklären und möglichst zu verhindern. Das sind wir den davon betroffenen Bürgerinnen und Bürgern schuldig.
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Wir müssen es aber auch im Interesse der großen Mehrheit der Polizistinnen und Polizistinnen tun, die redlich sind und gewissenhaft ihre Aufgaben erfüllen; denn es gibt eben leider auch gravierendes Fehlverhalten, wodurch das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Integrität der Polizeibehörden nachhaltig erschüttert werden kann. Dem müssen wir entschieden entgegentreten.
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Wir wollen, dass sich jeder in diesem Land mit seinem Anliegen vertrauensvoll an die Polizei wenden kann und dass keiner befürchten muss, wegen seiner Herkunft oder seiner Hautfarbe benachteiligt zu werden.
Es ist schon mehrfach gesagt worden: Zehntausende Menschen in aller Welt gehen nach dem schrecklichen Tod von George Floyd in den USA in diesen Tagen gegen rassistische Polizeigewalt und rassistische Diskriminierung auf die Straßen. Wir als Linke begrüßen das ausdrücklich; denn rassistische Ausgrenzung ist leider auch für viele Bürgerinnen und Bürger in Deutschland ein ernstes Problem, mit dem sie alltäglich konfrontiert sind. Zum Glück haben wir noch keine amerikanischen Verhältnisse, sind weit davon entfernt. Aber es ist unsere gemeinsame Aufgabe, alles zu tun, damit das auch so bleibt.
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Gerade deshalb müssen wir auch über Rassismus und Rechtsextremismus in den deutschen Sicherheitsbehörden sprechen. Da stellen sich natürlich einige Fragen: Wie kann es dazu kommen, dass die Polizei bei den Ermittlungen in der NSU-Mordserie ihre Ermittlungsgruppen BAO „Bosporus“ oder Soko „Halbmond“ nennt, alle Hinweise auf einen rechtsterroristischen Hintergrund der Taten ignoriert und stattdessen vor allem im Umfeld der Opfer ermittelt? Wie kommt es dazu, dass die Kölner Polizei nach sexuellen Übergriffen in der Silvesternacht 2017 den Arbeitsbegriff „Nafri“ kreiert, der für „nordafrikanische Straftäter“ stehen soll? Und wieso ist in unserem Land die Wahrscheinlichkeit, mit einer dunkleren Hautfarbe in eine Polizeikontrolle zu geraten, ungleich größer als bei allen anderen Menschen? Das sind nur einige der Fragen, die wir unter dem Stichwort „institutioneller Rassismus“ dringend stellen müssen. Dazu könnte ein Forschungsprojekt, wie es die Grünen in ihrem Antrag fordern, durchaus hilfreich sein.
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Das setzt allerdings voraus, dass ein solches Projekt transparent ausgestaltet wird, von Beginn an durch eine Fachöffentlichkeit begleitet und unabhängig durchgeführt werden kann, also ohne ministerielle Einflussnahme.
Deshalb ist es weder in der Sache hilfreich noch ist es im Interesse der Polizei, wenn sich Innenminister und Union – auch das ist heute schon gesagt worden – mantraartig hinter dem Vorwurf des Generalsverdachts verschanzen, statt an Konzepten mitzuwirken, wie die Rechte betroffener Bürgerinnen und Bürger besser geschützt werden können und zugleich die Polizeiarbeit verbessert werden kann.
Wir brauchen diese unabhängige Beschwerdestelle, weil die bisherigen Instrumente – von der Dienstaufsichtsbeschwerde bis hin zur Strafanzeige – ganz offensichtlich unzureichend sind. Diese Beschwerdestelle muss räumlich und institutionell getrennt von den bestehenden Polizeidienststellen eingerichtet werden, damit auch Polizistinnen und Polizisten, die mit bestimmten Dingen in ihrem Tätigkeitsbereich nicht einverstanden sind, ebenfalls Beschwerden vorbringen können, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen.
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Letzte Bemerkung: Die Erscheinungsformen von Rassismus sind sehr vielfältig. Wir müssen dafür sensibilisieren, und wir müssen endlich dagegen aktiv werden: in der Gesellschaft, aber auch bei der Polizei.
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Der nächste Redner ist der Kollege Armin Schuster, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir, die Union – das wurde schon gesagt –, lehnen sowohl den Gesetzentwurf als auch die Anträge ab. Ich mache es zunächst fachlich, dann etwas politisch-emotional. Ich kann mich da auch nicht wehren, Frau Mittag und Frau Dr. Mihalic.
Es ist die x-te Wiedervorlage. Seit elf Jahren spreche ich, glaube ich, zum fünften Mal über die Einsetzung eines Polizeibeauftragten. Nichts an Ihrer Vorlage ist besser geworden, außer das Handeln des Bundesinnenministeriums. Wir haben bei der Bundespolizei eine unabhängige Beschwerdestelle. Vielleicht akzeptieren Sie einmal, dass Ihre Vorlage mit dazu beigetragen hat. Wir handeln und haben diesen Erfolg, wir bleiben aber gesprächsbereit. Herr Kuhle hat es gesagt: In den Ländern haben wir unterschiedlichste Modelle, über die wir uns einigen. Mit mir könnten Sie übrigens sogar unter der Überschrift „Haltungen und Einstellungen von Beamten im öffentlichen Dienst“ gerne einmal über eine solche Studie verhandeln, überhaupt kein Problem – aber nicht heute.
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– Nicht heute.
Jetzt komme ich zu dem viel schwerwiegenderen politischen Argument. Ich bin maßlos enttäuscht, weil ich sie überschätzt habe – ich spreche von den Grünen.
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Es könnte heute auch eine Aktuelle Stunde stattfinden; ich mache dazu jetzt eine Aktuelle Stunde. Mitten in der Coronazeit haben wir ja bisher den Ärzten, den Therapeuten, den Krankenpflegern, allen im weißen Bereich zu Recht tief emotional gedankt. Die Menschen haben applaudiert. Für die Polizei haben wir es noch nicht getan. Ich würde gern heute eine Aktuelle Stunde zu der Frage machen: Müssen wir uns nicht bei deutschen Polizisten und Polizistinnen bedanken,
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dass sie in der Coronazeit ohne Abstriche unsere Sicherheit gewährleisten, bis hin zu kruden Demonstrationen, wo sie sich hinstellen müssen, bis hin zu Versammlungen, bei denen offen gegen die Beschränkungen verstoßen wird? Sie sind da und schützen uns.
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Das wäre ein gutes Signal gewesen. Was haben Sie gemacht? Sie machen im Prinzip eine Aktuelle Stunde mit dem Titel „Verfassungsfeindliche Tendenzen in der Polizei erkennen und entschlossen angehen“.
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Meine Damen und Herren, es geht hier um Spitzenpolitik und um die Frage, welche Prozesse und Wirkungen Sie auslösen. George Floyd und diese schreckliche Tat haben es nicht verdient – nicht verdient! –, dass wir das hier instrumentalisieren und eine Scheindebatte führen, für die es in der deutschen Polizei überhaupt keine Rechtfertigung gibt.
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Sie befeuern Ihre politische Agenda durch den vermeintlichen Mord an einem Menschen. Und jetzt meine Damen und Herren, halten Sie sich einmal fest:
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Menschen wie George Floyd würden die deutsche Polizei wählen, wenn sie wählen könnten, wer sie festnehmen soll.
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Sie würden die deutsche Polizei wählen, weil sie wissen: Wenn eine deutsche Polizei handelt, dann gilt Demokratie, dann gilt Rechtsstaatlichkeit und dann gelten alle Vorschriften. – Das würden sich die Menschen weltweit wünschen.
Deswegen geht es in einer Aktuellen Stunde heute darum, nicht Trittbrett zu fahren auf diesen furchtbaren Vorgängen in den USA.
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– Frau Dr. Mihalic, wenn sie sich irgendwann einmal einen Innenministerposten in diesem Land zutrauen – „sie“ kleingeschrieben, es können auch andere sein –,
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dann würden auch Sie erkennen, dass die Probleme von Fehlerkultur, von individueller Fehlerbekämpfung, Verantwortung und unnachgiebigem Handeln, auch im öffentlichen Dienst, jeden Tag von 17 Landes- und Bundesinnenministern gelöst werden. Das ist tagtägliches Geschäft. Die deutsche Polizei ist deshalb so gut, weil deutsche Innenminister für Qualität in dieser Polizei sorgen – völlig unvergleichbar mit den USA und übrigens auch vielen anderen Ländern.
Deswegen glaube ich, Sie haben auch noch die Chance verpasst, Ihrem Justizsenator in Berlin von dieser Stelle einen sanften Hinweis zu geben, dass er in eine Sackgasse fährt und schon ziemlich weit hinten an der Wand angekommen ist. Das könnten sich Bundesgrüne durchaus einmal erlauben. Auch diese Chance haben Sie verpasst,
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weil Sie der Versuchung nicht widerstehen konnten, Ihr politisches Agenda-Setting zu machen. Machen Sie sich doch bitte nicht gemein mit Menschen, die mehr Zuneigung zur Antifa haben als zur deutschen Polizei. Und das finde ich schon ziemlich furchtbar.
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Meine Damen und Herren, der „taz“-Artikel ist nur ein sehr abscheulicher und unrühmlicher Zwischengipfel, den Sie mit dem Verhalten auslösen, welches Sie hier an den Tag legen.
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Wägen Sie bitte ab, welche Kampagnen Sie hier zur Unzeit starten und welche Prozesse das auf der Straße auslöst. Ernten müssen das die deutschen Polizeibeamten am Ende.
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Die Demonstrationen zeigen diese Ausschreitungen schon.
Herr Kollege, die Zeit ist abgelaufen.
Ja. – Meine Damen und Herren, ich bin nicht Politiker, der einmal Polizist war. Ich bin Polizist, der heute Politik macht. Ich war Behördenleiter. Ich habe in Untersuchungsausschüssen gesessen.
Herr Kollege.
Ich weiß, wie hart es ist, der deutschen Polizei bei individuellen Fehlern auch auf die Socken zu steigen.
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Lieber Herr Kollege Schuster.
Und das hat die Union gemacht. Aber: Man kann Vertrauen haben, man kann Führungskompetenz haben, was dann bedeutet, vor, hinter und neben der deutschen Polizei zu stehen.
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Das ist das Signal, das aus dem Deutschen Bundestag genau in diesen Zeiten ins Land hinaus muss.
Ich bedanke mich.
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So. Jetzt ist fertig. – Der nächste Redner ist der Kollege Stephan Thomae von der FDP-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen! Verehrte Kollegen! Lieber Kollege Schuster, ich glaube, dass ich schon im Sinne des ganzen Hauses spreche, wenn ich sage, dass jede Fraktion und jeder hier würdigt und anerkennt, welche Arbeit, welchen Dienst Polizistinnen und Polizisten in diesem Land leisten, und zwar nicht nur während der Coronapandemie bei mancher Demonstration; es gibt ja auch merkwürdige Demonstrationen. Wir würdigen den täglichen Einsatz aller Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten in diesem Lande für unsere Sicherheit, für unsere Freiheit. Wir wissen, dass sie oft genug den Kopf für uns hinhalten – manchmal buchstäblich –, dass sie oft genug ihre Gesundheit aufs Spiel setzen. Bei einer Debatte mit diesem Tenor, bei der es sicherlich auch um Beschwerden über die Polizei und um die Aufarbeitung von Fehlverhalten geht, muss das unbedingt gesagt werden, und das tun wir auch. Das tue ich auch an dieser Stelle für meine Fraktion: Wir danken allen Polizeibeamten für ihren Einsatz.
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Wir wissen natürlich, dass es auch Gewalt gegen die Polizei gibt. Allein im Jahr 2019 gab es gegen 41 Polizeibeamtinnen und ‑beamte in diesem Land Tötungsversuche, die Gott sei Dank alle im Versuchsstadium stecken geblieben sind. Gerade deswegen würdigen wir den Einsatz dieser Menschen. Es verbietet sich daher, Analogien zu ziehen zu dem, was in den USA geschehen ist. Die Bilder aus den USA sind natürlich auch etwas, was wir heute vor Augen haben. Aber es gibt wirklich keine Analogie zwischen US-amerikanischer Polizei und deutscher Polizei. Das in einen Topf zu werfen, verbietet sich auf jeden Fall, meine Damen und Herren.
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Aber das heißt nicht, dass bei uns alles in Butter wäre. Natürlich muss man auch über Fehlentwicklungen sprechen. Es gibt natürlich auch Missstände. Darüber zu reden, ist eine Voraussetzung dafür, dass sie abgestellt werden können.
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Deswegen muss man auch in Bezug auf deutsche Polizeibehörden über Fälle von Social Profiling, von Racial Profiling und über Diskriminierungstatbestände sprechen. Manchmal gibt es nicht nur unbewusste Diskriminierung von Beamten gegenüber Bürgern, sondern auch innerhalb der Polizei. Wir müssen ein System etablieren, um solche Dinge thematisieren und problematisieren zu können, und zwar nicht, um die Polizei anzuprangern, sondern um sie besser zu machen.
Um solche Fehler abzustellen, ist es sicherlich wichtig und sinnvoll, ein System hervorzubringen, das es zum Beispiel ermöglicht, Fälle zu erkennen, bei denen Zweifel an Verfassungstreue von Beamtinnen und Beamten bestehen. Das gibt es natürlich auch. Das zu verschweigen, kann doch nicht im Interesse von uns allen sein, meine Damen und Herren.
Man muss sensibilisieren. Man muss ein solches Analysesystem schaffen, um das Radar zu verbessern und die Antennen zu schärfen. Wie man dieses Kind dann nennt – das kann ein „Polizeibeauftragter“ sein; wir würden einen „Beirat Innere Führung“ vorschlagen, ähnlich wie es ihn in der Bundeswehr gibt –, das ist für uns keine Glaubensfrage.
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Wichtig ist doch, dass eines geschieht: dass wir nicht Misstrauen befeuern und schüren, sondern dass wir Vertrauen schaffen und stärken.
Vielen Dank.
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Für die SPD-Fraktion hat als Nächstes das Wort der Kollege Uli Grötsch.
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Vielen Dank. – Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, dass die Debatte, die in den letzten Tagen über das Thema „Rassismus“, „latenter Rassismus“ oder womöglich „struktureller Rassismus“ bei der Polizei geführt wurde – ich glaube, dass der Kollege Kuhle die Aussage der SPD-Vorsitzenden, was „strukturell“ und „latent“ angeht, nur unabsichtlich verwechselt hat –, was die Art und Weise der Debattenführung angeht, denen in die Hände gespielt hat, denen wir fast alle hier im Hohen Haus eigentlich nicht in die Hände spielen wollen. Denn auf die allerallermeisten Parteien und Fraktionen hier im Deutschen Bundestag trifft doch zu, dass wir wissen, was wir an unserer Polizei haben.
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Die Art und Weise der Debattenführung der letzten Tage hat, glaube ich, mit Blick auf die Große Koalition auch so ein bisschen den Blick dafür verschleiert, was wir in den letzten Jahren getan haben, um die Situation der Polizei in Deutschland zu verbessern. Wir kümmern uns um die Belange der Beamtinnen und Beamten: vom Personalaufwuchs über die Ausbildung und höhere Zulagen bis zur Ausstattung und natürlich zu dem persönlichen Kontakt zu den Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten, den doch auch die allermeisten hier im Deutschen Bundestag regelmäßig pflegen.
Ich weiß aus meiner Zeit und nach mehr als 20 Jahren Erfahrung als Polizeibeamter – viele von Ihnen wissen das auch durch die Kontakte zu den Polizistinnen und Polizisten –, was die Kolleginnen und Kollegen in allen Bereichen der Polizeiarbeit für die Menschen in unserem Land jeden Tag aufs Neue leisten, und das teilweise unter wirklich schwierigsten Bedingungen.
Wahr ist aber natürlich auch, dass es wie überall in unserer Gesellschaft schwarze Schafe gibt. Natürlich – wie auch in allen Bereichen der Gesellschaft – zählt auch hier jeder Einzelfall. An meiner grundsätzlichen Sympathie für einen Polizeibeauftragten auf Bundesebene hat übrigens auch die gegenwärtige und, wie ich finde, letztendlich richtige gesellschaftliche Debatte über Rassismus nichts geändert, im Gegenteil.
Erst letzte Woche hat der Antidiskriminierungsbeauftragte seinen Bericht vorgelegt. Dieser Bericht belegt, dass auch in Deutschland Bürgerinnen und Bürger aufgrund ihrer Hautfarbe und ihres Migrationshintergrundes diskriminiert werden. Und weil das so ist, darf und muss man in Deutschland auch die böse R-Frage stellen dürfen, und zwar nicht nur im Zusammenhang mit der Polizei, sondern überall und in allen Lebensbereichen. Denn warum sollte es in der Gesellschaft Rassismus geben, die Polizei davon aber verschont bleiben, liebe Kolleginnen und Kollegen? Die Polizei ist Teil dieser Gesellschaft, und die Polizei ist naturgemäß auch ein Spiegel dieser Gesellschaft.
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Wer das nicht akzeptiert, kann kein Teil der Bekämpfung des Rassismus in Deutschland sein.
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Ich begrüße ausdrücklich, Herr Staatssekretär Krings, dass das Bundesinnenministerium sich der Thematik des Racial Profiling annimmt und eine umfassende Studie dazu in Auftrag geben will.
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Ich habe in den letzten Tagen sehr viel mit ehemaligen Kolleginnen und Kollegen bei der Polizei gesprochen, und keiner von denen will einen Rassisten als Kollegen. Es liegt im eigenen Interesse der Polizei, ihre schwarzen Schafe loszuwerden.
Aber wir wollen mehr. Denn auch wenn es jetzt aufgrund der Medienaufmerksamkeit um die Polizei geht, geht es uns, der SPD, um den ganzen öffentlichen Dienst an sich, liebe Kolleginnen und Kollegen, und zum Beispiel um die Frage: Darf ein Rechtsextremist als Lehrer im Staatsdienst bleiben? Ist eine Mitgliedschaft in der AfD, zum Beispiel in Brandenburg, wo der gesamte Landesverband jetzt Beobachtungsobjekt des Landesverfassungsschutzes ist, vereinbar mit dem Beamtenstatus eines Polizeibeamten, eines Lehrers oder von jemand anderem im öffentlichen Dienst? Ich meine, nein, und diese Debatte müssen wir führen.
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Ich sage das nicht jeden Tag, aber ich bin Herrn Seehofer durchaus dankbar, dass er das Problem inzwischen auch beim Namen nennt, nämlich dass die größte Gefahr in diesem Land nach wie vor von rechts kommt. Das zeigen auch die steigenden Zahlen im Verfassungsschutzbericht, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Ich möchte sagen: Was bei der Polizei und auch bei der Polizeiausbildung wichtig ist, ist mehr politische Bildung.
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Ich bin 1992 bei der Polizei eingestellt worden; das ist lange her. Wir hatten damals eine Stunde politische Bildung pro Woche und haben dort gelernt so in etwa, was der Unterschied zwischen Bundestag und Bundesrat ist.
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Seitdem hat sich viel verändert, und zwar sowohl in der Polizeiausbildung – das wurde hier heute schon gesagt –, aber natürlich auch in unserer Gesellschaft. Ich glaube, dass die Polizeiausbildung sich auch den gesellschaftlichen Entwicklungen immer weiter und fortlaufend anpassen muss.
Ich glaube durchaus, dass ein unabhängiger Polizeibeauftragter ein geeignetes Instrument sein kann, um auch in diesem Bereich Pflöcke einzuschlagen und Brücken zu bauen, nicht als Beschwerdestelle, sondern gezielt als ein Lobbyist im besten Sinne, um für die Anliegen der Polizei zu werben. Ich sage das insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Gewalt gegen Einsatzkräfte trotz höherer Strafen, die wir eingeführt haben, weiter steigt. Auch das hat Gründe, über die wir diskutieren müssen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen und den Linken, dieses Vorhaben steht nicht im Koalitionsvertrag. Deshalb muss meine Fraktion Ihre Vorlagen ablehnen. Ich würde es sehr begrüßen, wenn meine Unionskolleginnen und ‑kollegen noch einmal intensiv über dieses Thema nachdenken würden. Ich glaube, dass ein unabhängiger Polizeibeauftragter kein Teufelszeug ist. Das ist der Wehrbeauftragte ja auch nicht. Vielmehr ist er eine sehr bewährte Institution in diesem Land.
Der nächste Koalitionsvertrag kommt ganz bestimmt, und zwar schon nach der Wahl im nächsten Jahr, und dann, so die Wählerinnen und Wähler es wollen, kommt das Thema des unabhängigen Polizeibeauftragten wieder auf den Tisch – versprochen!
Vielen Dank.
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Der nächste Redner ist für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Josef Oster.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir führen eine sicher notwendige Debatte über Rassismus in unserer Gesellschaft und in den Gesellschaften dieser Welt. Es ist zweifellos eine beständige Aufgabe für Staat und Gesellschaft, diesen Tendenzen, wo immer möglich, entgegenzutreten.
Diese notwendige Debatte, meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, sollten wir allerdings nicht auf dem Rücken unserer Polizistinnen und Polizisten führen.
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Es ist für mich – das muss ich sagen – schwer zu ertragen, wie mit diesem Antrag der Grünen versucht wird, die Rassismusdebatte aus den USA zu einer Polizeidebatte in Deutschland zu machen, meine sehr geehrten Damen und Herren.
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Der zeitliche Zusammenhang ist ja unbestreitbar.
Ich weiß, Sie hören das nicht gerne – Frau Dr. Mihalic ist jetzt weg, sie ist im Untersuchungsausschuss, habe ich gerade gehört, von daher ist sie entschuldigt; aber ich kann ihr und Ihnen das nicht ersparen –: Natürlich ist auch dieser Antrag wieder Ausdruck eines grundlegenden Misstrauens der Grünen und des linken Spektrums gegenüber den Sicherheitsbehörden in unserem Land.
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Das ist etwas, was nur schwer zu ertragen ist.
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Ich habe mir den Antrag natürlich genau angeschaut. Was Sie von den Grünen dort unter Ziffer I.1 formuliert haben, das sind Selbstverständlichkeiten. Es ist genau das, was jede Beamtin, jeder Beamter am ersten Arbeitstag schwört; es ist der Amtseid, den jeder Beamte zu leisten hat. Und das soll der Bundestag nach Ihrer Auffassung neu beschließen? Das sind für jeden Beamten Selbstverständlichkeiten.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Situation bei uns – auch das muss man hier noch einmal deutlich machen – ist nicht ansatzweise mit der in den USA zu vergleichen.
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Wir verfügen zum Glück über erstklassig ausgebildete und motivierte Polizisten. Davon bin ich, davon ist meine Fraktion zutiefst überzeugt. Ich glaube, darauf dürfen wir als Deutscher Bundestag auch ein wenig stolz sein. Wir legen größten Wert auf eine umfassende Ausbildung, besonders und gerade auch in staatspolitischer und gesellschaftspolitischer Hinsicht. Auch das ist im Übrigen ein ganz wesentlicher Unterschied zur amerikanischen Polizei; das darf man hier sagen.
Wir müssen – das ist meine Überzeugung – die schützen, die uns schützen. Das ist mein Leitmotiv, wenn es um Politik der deutschen Polizei geht. Wir müssen als Politik hinter unseren Polizisten stehen und das auch hier an diesem Rednerpult immer wieder deutlich machen. Sie leisten einen anspruchsvollen und gefährlichen Dienst für unser Land.
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Verehrte Kolleginnen und Kollegen, es gibt für mich keinerlei Anlass, von latentem Rassismus bei der Polizei oder bei den Sicherheitsbehörden zu sprechen. Mit derartigen Debatten und mit solchen Anträgen – ich sage es noch einmal – schafft man vor allen Dingen eines: Man schafft Misstrauen. Für mich ist klar: Wer Misstrauen sät, der wird kein Vertrauen ernten.
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Das Vertrauen in die Arbeit der deutschen Polizei ist so hoch wie in kaum einem anderen Land. Das ist etwas, worum uns andere Länder ausdrücklich beneiden. Und das ist auch der Grund, warum unsere Polizei ein gefragter Partner für internationale Ausbildungsmissionen ist.
All das sind Dinge, auf die wir stolz sein dürfen und an denen wir weiterarbeiten müssen. Natürlich gehört dazu auch eine Fehlerkultur. Natürlich müssen wir schauen, wo es Dinge gibt, die nicht in Ordnung sind, und daran arbeiten. Da sind wir diejenigen, die für gute Vorschläge immer offen und dankbar sind.
Für mich, für die CDU/CSU-Fraktion ist in dieser Debatte abschließend eines wichtig: Wir wissen, was unsere Polizistinnen und Polizisten jeden Tag für unser Land leisten. Wir, die Unionsfraktion, stehen an der Seite unserer Sicherheitskräfte.
Vielen Dank.
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Der nächste Redner ist der fraktionslose Kollege Mario Mieruch.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Idee, einen Ansprechpartner für die Bürger zu schaffen, damit sie sich bei falschem Polizeiverhalten an eine bestimmte Stelle wenden können, ist grundsätzlich gut, ebenso die Idee, eine Stelle zu schaffen, die Polizeibeamten die Möglichkeit gibt, Mängel, die ihrer Pflichterfüllung im Weg stehen, zu adressieren. Und so wurde der Antrag – das habe ich begrüßt – sehr ruhig und sachlich vorgetragen. Es wurde auch dazu aufgerufen, Vorurteile abzubauen und Denkmuster aufzubrechen.
Aber nun konnte man die Debatte hier verfolgen, und es wurde eine ganze Reihe von kontroversen Argumenten vorgetragen. Die Hälfte des Hauses hat der Antragstellerin ja schon wieder einen Bärendienst erwiesen, indem bei bestimmten Argumenten oder Stichworten, wie zum Beispiel Antifa, hier großes Geschrei ausbrach und damit sofort der Beweis angetreten wurde, dass scheinbar doch nicht jeder hier im Haus bereit ist, die Debatte so zu führen, wie es uns hier dargestellt wurde.
Schaut man sich die Jugendorganisationen verschiedener Parteien hier im Hause, ihre Wähler oder das, was auf Social Media abgeht, an, dann weiß man, dass diese Debatte schon reicht, um die Polizei pauschal zum Freiwild zu erklären und zum großen Angriff zu blasen. So widerspricht sich der heute vorliegende Antrag der Grünen durchaus selbst. Er ist eben nicht nur im Kontext von tatsächlich tiefsitzenden Vorurteilen gegen wesentliche Säulen unseres Rechtsstaates und seiner ganz bewussten Gewaltenteilung zu sehen. Nein, die Art und Weise, wie hier vorgegangen wird, hat auch noch System. Denn Sie schreiben im Antrag nichts von Differenzieren oder davon, dass man nicht alles pauschalisieren darf, sondern im Antrag steht:
Der Deutsche Bundestag stellt fest, … dass gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, wie unter anderem rassistische und antisemitische Einstellungsmuster, in der Gesamtgesellschaft nach wie vor weit verbreitet sind.
„Weit verbreitet“!
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– Das stimmt? Das stimmt nicht! – Sie stellen auf diese Art und Weise nicht etwa eine Minderheit oder eine kleine Gruppe unter einen Verdacht, menschenfeindlich, rassistisch oder sonst was zu sein. Nein, Sie weiten diesen Verdacht populistischpauschal auf alle aus.
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Und das ist genau falsch.
Das Ganze geschieht in Anbetracht der Tatsache, dass Frau Künast, statt der Antifa den Geldhahn zuzudrehen, hier auch noch fordert, dass sie institutionalisiert finanziert werden soll. Wenn Ihre links-rot-grünen Aktivisten regelmäßig ganze Stadtteile in Schutt und Asche legen, wenn die Polizei in Leipzig aus dem Hintergrund angegriffen wird, wenn sie mit Stahlkugeln beschossen wird, mit Exkrementen und mit Steinen beworfen wird, wenn Steine von Dächern auf die Polizei geworfen werden, dann ist das kein Aktivismus, das sind Mordversuche – um das ganz klar und deutlich an dieser Stelle zu adressieren.
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Hinter so etwas stellen Sie sich, und die Polizei belegen Sie mit einem Rassismusverdacht. Das ist an Unverschämtheit und Dreistigkeit nicht zu überbieten. Dafür sollten Sie sich schämen; denn man hört nichts von Ihnen. Gehen Sie doch mal in die Rigaer Straße und demonstrieren Sie, damit die aufhören mit dem Scheiß, den sie da machen. Aber das fällt Ihnen nicht ein; das machen Sie nicht. Sie sollten sich dafür schämen.
Ich danke an dieser Stelle der Polizei, dass sie sich trotz solcher Parlamentarier immer noch für die Gesamtheit der Gesellschaft einsetzt.
Vielen Dank.
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Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege Michael Kuffer, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Diese Bemerkung, Frau Kollegin Bayram, haben Sie umsonst gemacht.
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Diese Debatte hat sachliche Argumente zutage gefördert, aber leider auch wieder den Versuch, Polizei-Bashing salonfähig zu machen. Wenn Frau Esken unter dem Beifall von Grünen und Linken der Polizei latenten Rassismus unterstellt, dann kommt darin nicht die Sorge vor Rassismus zum Ausdruck, liebe Kolleginnen und Kollegen; denn dafür bietet vielleicht die Polizei in Minneapolis, aber ganz sicher nicht die deutsche Polizei Anlass.
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Nein, Sie zeigen damit Ihr gespaltenes Verhältnis zu den Sicherheitsbehörden. Ich sage an dieser Stelle Danke an unsere Sicherheitsbehörden. Sie sind die Stützen unseres Landes, Ihre Kritiker sind es nicht.
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Sie haben es verdient, dass wir ihnen den Rücken stärken und nicht in den Rücken fallen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, eines ist doch selbstverständlich: Polizisten üben staatliche Macht aus, die selbstverständlich auch Kontrolle braucht, und zwar durch unsere unabhängigen Gerichte, aber nicht durch eine Paralleljustiz von sogenannten Polizeibeauftragten und erst recht nicht im Sinne eines Pauschalverdachts oder gar einer Beweislastumkehr. Gerade jene Beweislastumkehr, wie sie in Berlin mittlerweile Realität geworden ist, ist in Ihrer Logik, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, absolut nicht stringent. Denn was wird die Folge der Beweislastumkehr sein? Die einzige Möglichkeit, damit umzugehen, ist, im Grunde jede polizeiliche Maßnahme, jeden Handgriff durch Videobeweis zu dokumentieren. Ich erinnere mich noch an Ihr Geschrei im Innenausschuss über den Einsatz von Bodycams und Ähnlichem. Das ist genau das, was Sie damit letztendlich zur Regel machen.
Vor allem an die Adresse der Grünen sage ich: Ihnen geht es nicht um Kontrolle. Es geht Ihnen um Zurücksetzung der Polizei. Ihre alte Polizeifeindlichkeit bricht wieder hervor. Ich sage Ihnen: Wer sich die Polizei zum Feind macht, kann niemals unser Freund sein.
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Das Schlimme an Ihrer Haltung ist aber nicht nur die Zurücksetzung der Polizisten. Das Schlimme ist der politische Kompass, der dabei zutage tritt. Ihr Kompass, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, ist doch komplett verrutscht. Wenn es darum geht, die Bürger zu bevormunden, dann sind Sie für einen starken Staat, und wenn es darum geht, die Bürger zu schützen, sind Sie für einen schwachen Staat. Deshalb frage ich Sie: Wie wollen Sie mit einem solchen Kompass, einer solchen Haltung Verantwortung übernehmen? Damit sind Sie – da sage ich Ihnen ganz ehrlich – von der Fähigkeit zur Regierungsverantwortung so weit entfernt wie die „taz“ von verantwortungsvollem und seriösem Journalismus.
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Ich zitiere mit der Genehmigung des Präsidenten aus der „taz“ vom Montag dieser Woche, in der über die Anschlussverwendung von Polizeibeamten nach der Abschaffung der Polizei wie folgt sinniert wird:
Spontan fällt mir nur eine geeignete Option ein: die Mülldeponie. Nicht als Müllmenschen mit Schlüsseln zu Häusern, sondern auf der Halde, wo sie wirklich nur von Abfall umgeben sind. Unter ihresgleichen fühlen sie sich bestimmt auch selber am wohlsten.
Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Wer solche Artikel wie die „taz“ druckt, betreibt Brandstifterei an unserem Staat und an seiner inneren Verfassung.
({6})
Wer so etwas dadurch billigt, dass er sich nicht aufs Schärfste abgrenzt, der hat ein Extremismusproblem, der reicht den Chaoten die Steine, welche sie hinterher in Leipzig-Connewitz, auf der Hamburger Schanze oder in der Rigaer Straße in Berlin auf unsere Polizisten werfen.
({7})
Herr Kollege Kuffer, der Kollege Lenkert von den Linken würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Nein, jetzt nicht bitte.
Nun zu der Frage, ob das Satire ist. Ersetzen Sie in dem Artikel einfach „Polizisten“ mit irgendeiner anderen Gruppe oder Minderheit mit gemeinsamen Merkmalen. Wenn statt von Polizisten von Menschen mit einer bestimmten Hautfarbe, Herkunft oder Religion die Rede wäre und davon, dass man jene auf die Mülldeponie verbannen möge unter ihresgleichen: Würden Sie das dann immer noch als Satire bezeichnen? – Ich sage, was es ist, nämlich eine gruppenbezogene Diffamierung der widerlichsten Art. Wenn Sie das als Satire durchgehen lassen, dann frage ich mich, wo Satire endet.
({0})
Beim Werfen von Ziegelsteinen auf Polizeibeamte? Beim Inbrandsetzen von Gegenständen? Bei Hetzjagden auf Menschen? Oder ist das dann Realsatire? War der Steine werfende Joschka Fischer der 70er-Jahre in Wahrheit ein verkannter Realsatiriker?
({1})
Die „taz“ jedenfalls heizt mit derlei Schriften die Eskalation an. Ich frage mich, warum die Zeitung dies tut, ja mehr noch, ob es ihr vielleicht genau darauf ankommt, die Stimmung maximal anzuheizen. Wo ist der Unterschied zu den Vorwürfen, die man aus derselben Ecke Springer ehedem gemacht hat und bis heute noch macht?
Ich möchte damit enden, dass ich von dieser Stelle aus – ich sage das stellvertretend für die große Mehrheit der Menschen in diesem Land – Danke sage an unsere Polizei.
({2})
Danke für Ihren Dienst, danke für Ihren Einsatz, danke dafür, was Sie auf sich nehmen. Danke für die Sicherheit und damit die Freiheit, die Sie uns täglich schenken. Gott schütze Sie!
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank, lieber Kollege Kuffer.
Bevor ich das Wort zu einer Kurzintervention dem Kollegen Lenkert von den Linken und dem Kollegen Ehrhorn von der AfD gebe, möchte ich darauf hinweisen, dass die Wahl in wenigen Minuten endet. Wer also noch nicht gewählt hat, möge sich jetzt auf den Weg machen; noch ist Zeit.
Dann erhält jetzt das Wort zu einer Kurzintervention der Kollege Lenkert, Fraktion Die Linke.
Herr Kollege Kuffer, Sie behaupteten in Ihrer Rede soeben, dass Rot-Rot-Grün die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger schwächen würde. Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass im Freistaat Thüringen die CDU-geführte Landesregierung mehrere Tausend Personalstellen kürzte, dass es einen Beförderungsstopp gab und dass sie die Übernahme der Tarifverträge für die Beamtinnen und Beamten des öffentlichen Dienstes jedes Mal um Monate verschleppt hat. Die rot-rot-grüne Landesregierung hat Ihren Abbaupfad gestoppt, hat wieder mehr Kolleginnen und Kollegen eingestellt, die Ausbildung forciert, hat den Beförderungsstopp aufgehoben und hat die Übernahme der Tarifverträge für die Kolleginnen und Kollegen in der Polizei sofort nach Abschluss der Tarifverträge mit Verdi eingeführt. Das heißt also: Wir haben hier nicht nur billig Beifall verkündet, sondern wir haben als Rot-Rot-Grün für die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger gehandelt und keine Sonntagsreden gehalten.
({0})
Das ist die Realität. Das können Sie nachlesen; wenn Sie Statistiken lesen könnten, dann würden Sie das finden. Ich kann Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Polizei, nur empfehlen: An ihren Taten sollt ihr sie messen, nicht an ihren Worten.
Vielen Dank.
({1})
Kollege Kuffer, wollen Sie gleich antworten? – Ich würde sagen, wir hören uns noch die Kurzintervention vom Kollegen Ehrhorn an. Dann können Sie beide zusammennehmen. – Bitte schön.
Vielen Dank für die Erteilung des Wortes. – Lieber Herr Kollege Kuffer, zunächst muss ich etwas sagen, was ich selten sage: Mir hat Ihre Rede durchaus gut gefallen.
({0})
Ich habe – was selten passiert – an der einen oder anderen Stelle sogar applaudiert.
Ihre Rede hat eines sehr deutlich gezeigt, nämlich dass das, was man Ihren Grundeinstellungen zurechnen kann, Lichtjahre entfernt ist von den Einstellungen der Kollegen auf der links-grünen Seite. Deswegen würde mich eines interessieren: Können Sie aufgrund dieser Positionierung ausschließen, dass es eine nächste Regierungskoalition zwischen diesen Grünen und der CDU/CSU gibt?
Danke.
({1})
Kollege Kuffer, Sie können jetzt auf beide Kurzinterventionen antworten, wenn Sie das wollen; Sie müssen natürlich nicht.
({0})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Ich fange mit der Intervention des Kollegen von der Linken an. Ich weiß, dass Sie an solchen Meldungen neuerdings Gefallen finden und dass Sie sich gerne als die Förderer der Polizei darstellen.
({0})
Ich kann nichts zur Situation in Thüringen sagen, aber derartige Reden sind mir aus Bayern bekannt. Der Wahrheitsgehalt dort ist natürlich unter null. Es war nämlich so, dass Sie sich gerne daran geweidet haben, dass Stellen in der Verwaltung reduziert worden sind zugunsten eines permanenten Aufbaus operativer Stellen im Polizeivollzugsdienst. Insofern zeigt das, wie weit es an dieser Stelle mit Ihrer Sachkenntnis her ist. Tatsache ist, dass es dort, wo Sie Verantwortung tragen, sicherheitspolitische Glanzleistungen wie in Berlin den Görlitzer Park mit No-go-Areas gibt.
({1})
Und im Übrigen: Der Erfolg der Landesregierung in Thüringen unter Ihrem Ministerpräsidenten zeigt sich an den Wahlergebnissen und an allem, was dann in Thüringen darauf folgte. Insofern glaube ich, Sie haben keinen Anlass zu übertriebenem Stolz.
({2})
In Richtung des Kollegen von der AfD kann ich nur eines ausschließen, nämlich dass wir uns heute mit den nächsten Bundestagswahlen beschäftigen. Wir kümmern uns um die Arbeit, die noch zu tun ist. Wir haben vieles zustande gebracht in den letzten Jahren, aber wir haben noch eine volle Agenda.
({3})
Darum kümmern wir uns. Um die Wahlen und deren Ergebnisse kümmern wir uns dann, wenn sie vorbei sind. Dann werden wir sehen, was wird. Jetzt werden wir erst einmal weiterarbeiten, so wie Sie das von uns gewöhnt sind.
({4})
Danke.
({5})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sexueller Missbrauch fügt Kindern unermessliches Leid zu. Sie können diese Übergriffe nicht verstehen; ganz oft können sie auch nicht darüber reden. Und das, was alle Kinder in diesem Land, auf dieser Welt eigentlich haben sollten, nämlich das Vertrauen, dass sie sicher und geborgen leben können, das wird aufs Schlimmste verletzt. Menschen, die als Kind sexuell missbraucht worden sind, leiden ein Leben lang darunter.
Die jüngsten Ermittlungen zum Missbrauch von Münster, Bergisch-Gladbach und Lügde, diese systematisch organisierten Gräueltaten gegenüber Kindern lassen uns fassungslos zurück. Sie machen uns traurig – und ich muss zugeben: Mich machen sie auch richtig wütend.
({0})
Bei dieser Wut dürfen wir aber nicht stehen bleiben, sondern wir sind aufgefordert, mit allen Möglichkeiten, die wir haben, diese widerlichen Verbrechen zu verhindern, aufzudecken und – wenn sie vollzogen wurden – auch entsprechend mit Strafen zu belegen.
In der Diskussion der letzten Tage ist die Forderung erhoben worden, ich müsse im Kampf gegen Kinderpornografie und Kindesmissbrauch – wörtlich – „aus dem Quark“ kommen. Ich denke, diese Einschätzung kann man nur dann haben, wenn man die von mir angestoßenen Entscheidungen entweder ignoriert oder vielleicht überhaupt nicht zur Kenntnis genommen hat. Ich bin seit einem Jahr im Amt, meine Damen und Herren, und in diesem Jahr habe ich mehrere Initiativen auf den Weg gebracht, um den Kampf gegen Kinderpornografie und Kindesmissbrauch konsequent zu führen:
Auf meine Initiative wurde den Ermittlern die Möglichkeit gegeben, sich mit computergenerierten Bildern Zugang zu widerlichen Chatgruppen im Darknet zu verschaffen, um so Täter aufspüren zu können.
({1})
Auf meine Initiative wurde das Heranwanzen von Erwachsenen an Kinder und Jugendliche im Internet, um so einen Missbrauch vorzubereiten, vollständig unter Strafe gestellt.
({2})
Gleich im Anschluss an diese Aktuelle Stunde werden wir das von mir vorgelegte Gesetz gegen Hasskriminalität beschließen. In diesem ist auch vorgesehen, dass in Zukunft Plattformen dann, wenn ihnen Kinderpornografie gemeldet wird, dies nicht nur löschen und sperren müssen, sondern auch verpflichtet sind, dies an das Bundeskriminalamt weiterzuleiten, damit zu diesen Tätern, zu diesen Verbrechen schnell Ermittlungen folgen können.
({3})
Und ich werde heute Abend hier den Entwurf eines Gesetzes einbringen, das es ermöglicht, kinderpornografische Inhalte auch auf Messenger-Diensten wie zum Beispiel WhatsApp zu verfolgen.
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Das macht deutlich, wie wichtig es ist, dass Ermittler die erforderlichen Mittel in die Hand bekommen, um diese widerlichen Täter dingfest zu machen. Diese Entdeckungsgefahr, diesen Verfolgungsdruck müssen die Täter spüren. In diesem Zusammenhang wird dann oft der Einwurf vorgebracht: Es handelt sich doch um Triebtäter, und da wird ein solcher Verfolgungsdruck gar nichts bringen. – Ich sage zu diesen Tätern ganz klar: Sie handeln planmäßig – sehr planmäßig –, sie täuschen ihr Umfeld sehr bewusst, und sie setzen ihre Opfer perfide unter Druck. Sie müssen wissen, dass all das nichts hilft, dass wir sie aufspüren und dass wir sie konsequent zur Verantwortung ziehen.
({5})
Dazu gehört dann auch, dass diese widerlichen Straftaten mit Strafen geahndet werden, die dem Unrecht entsprechen.
({6})
Es ist richtig, dass schwerer Kindesmissbrauch auch heute schon mit Strafen von bis zu 15 Jahren geahndet werden kann; Sicherungsverwahrung ist heute ebenfalls möglich, auch bei Ersttätern. Aber ein Blick in die Statistik zeigt uns, dass gerade einmal 0,5 Prozent aller Verurteilungen bei schwerem Kindesmissbrauch, also mit Gewaltanwendung, den Strafrahmen von 10 bis 15 Jahren nutzen. Bei diesen schweren Fällen wird jede dritte Strafe zur Bewährung ausgesetzt. Das macht deutlich, dass Handlungsbedarf besteht.
({7})
Ich will, dass in Zukunft jeder sexuelle Missbrauch ohne Wenn und Aber ein Verbrechen ist.
({8})
Das muss sich auch in den Strafen abbilden, und deswegen werde ich dafür sorgen, dass dies geschieht, zum Beispiel dadurch, dass es einen minderschweren Fall von schwerem Kindesmissbrauch in Zukunft nicht mehr geben wird, meine Damen und Herren.
({9})
Herr Frei, Sie haben hier Vorschläge von der Unionsfraktion vorgelegt. Ich kann Ihnen schon heute sagen, dass sich davon einiges in dem Vorschlag, den ich demnächst vorlegen werde, wiederfinden wird. Bei einem sind wir allerdings absolut anderer Meinung; denn Sie schlagen vor, dass auch der Besitz von Kinderpornografie in Zukunft ein Vergehen bleiben soll. Das halte ich für falsch, und das werde ich anders regeln. Das kann ich heute schon ankündigen.
({10})
Ich will, dass auch der Besitz von Kinderpornografie, hinter dem ein Kindesmissbrauch steht, als Verbrechen eingestuft wird; das ist ein wichtiges Signal.
({11})
Ich weiß, dagegen gibt es Einwände: Dann kann man nicht mehr zu Einstellungen kommen. Und dann kommt oft der Hinweis, dass der Besitz von Kinderpornografie gerade unter Jugendlichen besonders gehandhabt werden muss. Ja, das ist richtig. Ich glaube aber nicht, dass es richtig ist, Jugendlichen zu signalisieren, dass bei Besitz von Kinderpornografie die Verfolgung wegen Geringfügigkeit – und das ist die Folge von Einstellungen – eingestellt wird.
({12})
Das wäre ein völlig falsches Signal an Jugendliche, gerade auch den Betroffenen gegenüber.
({13})
Die WHO schreibt uns ins Stammbuch, dass es wahrscheinlich in jeder Schulklasse zwei missbrauchte Kinder gibt. Deswegen müssen wir deutlich machen, auch gegenüber Jugendlichen, dass hinter diesen Bildern schreckliche Verbrechen stehen. Das bedeutet nicht, dass jeder Jugendliche, der ein solches Bild auf dem Handy hat, zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr verurteilt werden muss; denn schon heute haben Jugendrichter natürlich die Möglichkeiten, bei Jugendlichen altersentsprechende Strafen oder Sanktionen zu verhängen, beispielsweise erzieherische Maßnahmen. Aber diese müssen meiner Meinung nach auch sein. Es muss klar werden: Kinderpornografie ist kein Witz und keine Kleinigkeit. Nein, das ist ein widerliches Verbrechen, hinter dem der Missbrauch eines Kindes steht, und das muss jedem gegenüber deutlich gemacht werden, meine Damen und Herren.
({14})
Aber neben diesen strafrechtlichen Veränderungen brauchen wir auch ganz dringend eine Fortbildungspflicht für Familienrichterinnen und Familienrichter.
({15})
Oft wird nach dem Grundsatz entschieden, dass die Kinder am besten in der Familie aufgehoben sind.
({16})
– Ja, genau, und deswegen mache ich es jetzt auch, weil ich es satt habe, dass wir darüber reden. Ich nutze als Justizministerin die Möglichkeit, die ich habe.
({17})
Es muss nämlich Schluss sein damit, dass solche Entscheidungen zulasten von Kindern getroffen werden. Der Grundsatz „Das Kind ist am besten in der Familie aufgehoben“ ist in den allermeisten Fällen richtig; aber es gibt auch andere Situationen. Die schrecklichen Aufklärungen aktuell in Münster machen doch deutlich, dass man hier besser entschieden hätte, wenn man das Kind aus der Familie herausgenommen hätte. Den Kindern wäre furchtbares Leid erspart geblieben. Wir müssen die Richter befähigen, solche sensiblen Entscheidungen zu treffen, auch durch die Fortbildungspflicht, die in Zukunft besteht. Das ist ganz wichtig, wenn wir unsere Kinder schützen wollen, meine Damen und Herren.
({18})
Und wer es ernst meint mit dem Schutz von Kindern, der muss auch darüber reden, dass wir Kinderrechte im Grundgesetz verankern.
({19})
Das ist keine weiße Salbe. Das Grundgesetz ist unsere Werteordnung. Wenn wir Kinderrechte darin verankern, dann bedeutet das, dass jedes staatliche Handeln – die Exekutive, die Legislative und die Judikative – verpflichtet ist, das Kindeswohl im Blick zu haben, beispielsweise bei Anhörungen und auch bei solchen Entscheidungen. Deswegen kann ich Sie nur auffordern, lieber Koalitionspartner, meine Damen und Herren von der CDU/CSU – wir haben es im Koalitionsvertrag miteinander vereinbart; ich habe einen maßvollen Vorschlag vorgelegt –: Lassen Sie uns endlich dort über diesen Vorschlag diskutieren, wo solche wichtigen Debatten stattfinden müssen, nämlich hier im Parlament. Da gehört es hin. Deswegen: Geben Sie sich einen Ruck, und lassen Sie uns im Interesse der Kinder auch über diesen Vorschlag sprechen.
({20})
Ich werde Ihnen in der nächsten Sitzungswoche einen umfassenden Vorschlag unterbreiten, wie wir aus dieser Wut und dieser Verzweiflung über das, was aufgedeckt wurde, konsequente Handlungen folgen lassen, meine Damen und Herren.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({21})
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion der AfD die Kollegin Mariana Iris Harder-Kühnel.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der sexuelle Missbrauch eines Kindes ist ein abscheuliches Verbrechen. Es ist Mord an der Kinderseele. 2018 wurden 464 Haftstrafen wegen schweren sexuellen Kindesmissbrauchs verhängt; 143 Täter kamen mit milden Strafen davon, und zwar mit Haftstrafen zwischen sechs Monaten und zwei Jahren. Und nun raten Sie mal, wie viele dieser milden Strafen auch noch zur Bewährung ausgesetzt wurden: 97,7 Prozent. 97,7 Prozent dieser verurteilten Kinderschänder kamen mit Bewährung davon, obwohl Kinderschänder unter den Sexualstraftätern die höchste Rückfallquote haben. Das ist eine Schande, eine Schande für unser Land, meine Damen und Herren.
({0})
Es laufen Bestien auf den Straßen frei herum, die kleinen Kindern körperlich Unfassbares angetan und ihnen seelisch das Leben genommen haben. Ein solches Unrecht muss endlich konsequent als Verbrechen bestraft werden.
({1})
Und dass die Bundesjustizministerin Lambrecht von der SPD sexuellen Missbrauch von Kindern noch letzte Woche weiterhin als Vergehen und nur in besonders schweren Fällen als Verbrechen betrachten wollte, ist ein Skandal.
({2})
Und wenn Frau Lambrecht dann auch noch von ihrem Ministerium gegenüber der „Bild“-Zeitung erklären lässt, dass man ansonsten auch den Zungenkuss zwischen 13- und 14-Jährigen als Straftat einzustufen hätte, dann zeugt dies von einer fachlichen Inkompetenz, die Juristen einfach nur fassungslos macht.
({3})
Dass unser armes Land mit einer solchen Justizministerin geschlagen ist, ist bezeichnend für den Zustand, in den Sie alle es gebracht haben.
({4})
Ich kann mich daher der Forderung der Deutschen Kinderhilfe nur anschließen: Frau Lambrecht, treten Sie zurück.
({5})
Aber auch die anderen Fraktionen in diesem Haus haben sich bei diesem Thema nie mit Ruhm bekleckert. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an den früheren rechtspolitischen Sprecher der Grünen, der in einem Buch geschrieben hat – ich zitiere –: Eine Entkriminalisierung der Pedosexualität ist angesichts des jetzigen Zustandes ihrer globalen Kriminalisierung dringend erforderlich. – Nein, meine Damen und Herren, es darf keine Entkriminalisierung der Pedosexualität geben. Stattdessen brauchen wir endlich angemessene, und das heißt härtere Strafen für Kinderschänder.
({6})
Bemerkenswert ist auch, wie sich die CDU nach der Entgleisung der Bundesjustizministerin wieder einmal als Law-and-Order-Partei aufgeplustert hat. Sie haben ja recht, wenn Sie Frau Lambrecht in die Schranken weisen und plötzlich härteres Durchgreifen gegen sexuellen Missbrauch von Kindern fordern. Aber hätte man das nicht schon viel früher tun können und müssen? Die Probleme sind doch lange bekannt,
({7})
die Opfer zahllos. Muss es denn immer erst so richtig knallen, bis etwas getan wird? Ich kann und will das einfach nicht verstehen. Wer regiert denn dieses Land seit Jahrzehnten?
({8})
Meine Damen und Herren, die aktuellen Missbrauchsskandale von Münster und Berlin müssen, wie so viele Missbrauchsfälle davor, bei allen die Alarmglocken schrillen lassen. Ich wiederhole es: Sexueller Kindesmissbrauch ist Mord an der Kinderseele und muss entsprechend hart bestraft werden. Viel zu oft geht es um Täterschutz statt um Opferschutz.
({9})
Viel zu oft steht die Resozialisierung des Täters im Fokus. Davon haben die Opfer dieser Verbrechen gar nichts. Ganz im Gegenteil: Sie werden psychisch zusätzlich belastet, wenn sie wissen, dass die Täter weiter frei herumlaufen dürfen. Das ist eines Rechtsstaats unwürdig und für die AfD nicht hinnehmbar.
({10})
Wir fordern härtere Strafen und eine Nulltoleranzpolitik für Kinderschänder. Kindesmissbrauch ist ein Verbrechen. Die gesetzlichen Mindeststrafen müssen erhöht und die Strafrahmen durch die Gerichte viel öfter voll ausgeschöpft werden. Herstellung, Verbreitung, Erwerb und Besitz von Kinderpornografie müssen genauso bestraft werden wie der Kindesmissbrauch selber. Ein Staat, der Wirtschaftskriminelle oft härter bestraft als pädophile Kinderschänder, hat seinen moralischen Kompass verloren, meine Damen und Herren.
({11})
Wir fordern eine gezielte Stärkung der Polizei durch mehr Personal, durch modernste Technik. Wir fordern, dass Internetprovider verpflichtet werden, einschlägige Hinweise unverzüglich zu melden. Vorbestrafte Kinderschänder müssen besser erfasst und von Kindern konsequent ferngehalten werden. Es ist unfassbar, dass hier in Berlin Kinder von Jugendämtern jahrzehntelang vorbestraften Päderasten zur Pflege gegeben worden sind.
Kuscheljustiz, Pädophilierelativierung, Frühsexualisierung – all das begünstigt derartige Verbrechen an Kindern,
({12})
all das hat in einem Rechtsstaat nichts zu suchen.
({13})
Wer Kindesmissbrauch effektiv bekämpfen will, schafft das nur mit einer Nulltoleranzpolitik. Das sind wir den Opfern schuldig.
Vielen Dank.
({14})
Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Thorsten Frei.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Staufen, Bergisch Gladbach, Lügde, jetzt zuletzt Münster – es ist bedauerlicherweise nur die Spitze des Eisbergs. Die Dimensionen erschrecken jedes Mal aufs Neue. Wenn wir uns den Fall Münster anschauen, sehen wir, dass es hier um Datenmaterial von 500 Terabyte geht. Das heißt, ein Mensch, der das sichten möchte, muss zehn Jahre lang jeden Tag, 24 Stunden, 7 Tage die Woche, solches verbrecherisches Material anschauen, um da durchzukommen. Das sprengt schon die Vorstellungskraft. Zugleich ist es so – darauf weist beispielsweise die EU-Innenkommissarin hin –, dass in Zeiten der Covid-19-Pandemie die Nachfrage nach Kinderpornografie um 30 Prozent gestiegen ist. Wenn man in unsere Polizeiliche Kriminalstatistik schaut und liest, dass Kindesmissbrauch letztes Jahr um 11 Prozent gegenüber dem Vorjahr gestiegen ist, aber auch die Aufklärungsquote im Bereich Kinderpornografie um 65 Prozent gegenüber dem Vorjahr gestiegen ist, stellt man fest: Wir haben es tatsächlich mit der Spitze eines Eisberges zu tun.
Ich glaube, wir sind es unseren Kindern schuldig, als zivilisierte Gesellschaft alles nur Denkbare zu unternehmen, um genau diese schrecklichen Verbrechen zu bekämpfen.
({0})
Es stimmt, Frau Justizministerin: Es ist nicht so, als würden wir erst heute damit anfangen. Erst in diesem Frühjahr haben wir den untauglichen Versuch beim Cybergrooming zur Straftat gemacht. Wir hatten das im Übrigen schon im Koalitionsvertrag vereinbart. Angesichts der neun Seiten Gesetzestext wäre es sicher auch möglich gewesen, diesen Text in weniger als anderthalb Jahren vorzulegen.
({1})
Aber es ist passiert. Wir haben vor allen Dingen – das haben wir im Gesetzgebungsverfahren gemeinsam geschafft – für Polizisten die Möglichkeit geschaffen, mit computergeneriertem Material ins Darknet vorzudringen und dafür zu sorgen, dass die Aufklärung von Straftaten wie in Staufen nicht mehr dem Zufall überlassen bleibt, sondern dass sie tatsächlich möglich ist.
Sie haben recht: Nachher verabschieden wir hier im Deutschen Bundestag ein Gesetz, mit dem wir eben nicht nur die Provider zur Löschung solcher Straftaten aus dem Internet verpflichten, sondern zusätzlich auch mit der Ausleitung an das Bundeskriminalamt ermöglichen, dass eine strafrechtliche Verfolgung eingeleitet werden kann. Das sind gewaltige Fortschritte, aber es ist noch nicht genug.
Ich gebe Ihnen auch recht: Ja, das ist ein umfassendes Problem. Da geht es auch um familienrechtliche Fragen. Da geht es um Fortbildungsfragen. Es geht um Prävention. Es geht um Schutzmaßnahmen für Opfer. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat bereits im Februar 2019 ein 26-Punkte-Papier vorgelegt, in dem wir all diese Punkte adressieren. Ein Teil dieser Vorschläge beschäftigt sich mit der Anpassung der Strafrahmen beim Kindesmissbrauch und bei der Kinderpornografie.
Es sind Verbrechen, soweit es sich um Kindesmissbrauch handelt, und deswegen müssen sie auch genau so bestraft werden. Ich sage das deshalb, weil die Strafandrohung ja nicht nur eine abschreckende, nicht nur eine generalpräventive Wirkung hat, sondern weil es darüber hinaus auch darum geht, strafverfahrensrechtlich zusätzliche Möglichkeiten zu schaffen,
({2})
etwa bei der Frage der Einstellung, bei der Erhebung von Verkehrsdaten, beim Abhören von Telefonen und anderem mehr. Wir schaffen damit für die Ermittler zusätzliche Möglichkeiten; und deswegen ist es richtig, das zu machen.
Im Übrigen, Frau Ministerin: Wenn Sie mich aus einem Brief an Sie zitieren, dann müssen Sie das auch korrekt machen. Da steht nämlich bei der Strafandrohung im Bereich der Kinderpornografie und des Besitzes von Kinderpornografie das Wort „mindestens“. Deswegen sage ich Ihnen an dieser Stelle zu:
({3})
Wir werden uns über diese Frage nicht streiten, sondern wir werden uns schnell einigen, damit wir auch im parlamentarischen Verfahren zügig vorwärtskommen.
({4})
Es geht vor allen Dingen darum, dass wir zusätzliche Möglichkeiten der Strafverfolgung auch im Bereich der Kinderpornografie schaffen. Das ist nicht nur eine Einstiegsstraftat; das ist kein Kavaliersdelikt. Das ist schrecklich. Es geht letztlich darum, dass hinter jedem dieser Fotos und hinter jedem, der dafür etwas bezahlt, ein Kindesmissbrauch steckt. Deswegen brauchen wir dafür zum Beispiel auch die Möglichkeit der Onlinedurchsuchung. Deswegen müssen wir auch die Möglichkeiten verbessern, dafür Untersuchungshaft zu verhängen. Deswegen darf ein Pädokrimineller nicht nach wenigen Jahren wieder ein sauberes Führungszeugnis bekommen und vieles andere mehr. Ich schlage vor, Frau Ministerin, dass Sie sehr, sehr schnell diesen Gesetzentwurf hier in den Deutschen Bundestag einbringen. Wir unterstützen Sie dabei, dafür auch die parlamentarischen Mehrheiten zu schaffen.
Ich warne jedoch davor, diese Frage mit etwas zu belasten, bei dem es noch etwas Diskussionsbedarf gibt. Wir haben überhaupt nichts dagegen, Kinderrechte in anderer Form im Grundgesetz zu platzieren. Aber Sie wissen ganz genau, dass wir mit Ihrem Vorschlag nicht einverstanden sind.
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Das Bundesinnenministerium hat einen alternativen Vorschlag gemacht. Auch darüber können wir gerne reden.
({6})
Zum Schutz des Kindeswohls – das sei mir als abschließende Bemerkung gestattet – muss man nur mal einen Blick in § 1666 BGB werfen. Da steht genau drin, dass, wenn das Kindeswohl – das körperliche, geistige oder seelische Wohl – gefährdet ist und die Eltern nicht in der Lage oder bereit sind, dem abzuhelfen, dann das Familiengericht die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen hat. Genau darum geht es. Deswegen: Im Grundgesetz steht jetzt nichts, was uns daran hindern würde, alles Notwendige zu tun, um unsere Kinder zu schützen. Und das sollten wir tun, und zwar zügig.
Herzlichen Dank.
({7})
Vielen Dank. – Als Nächstes spricht für die Fraktion der FDP die Kollegin Katja Suding.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Sexueller Missbrauch gehört zu dem Schlimmsten, was einem Kind angetan werden kann. Für die meisten von uns ist es kaum vorstellbar, welches Leid ein Kind durchlebt, dem etwas so Schreckliches widerfährt. Für das vergangene Jahr zählt die Kriminalstatistik 15 963 Kinder, die in Deutschland sexuelle Gewalt erleben mussten. Die Dunkelziffer liegt noch viel höher, so die Experten. Zehntausende schutzbedürftige junge Menschen, deren Würde aufs Schlimmste verletzt wurde. Und immer wieder erschüttern uns neue Fälle. Wir erinnern uns exemplarisch an das jahrelange Martyrium des Jungen aus Staufen, an Bergisch Gladbach, und dieser Tage machen uns die neuesten Entwicklungen in Münster fassungslos. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will mich nicht daran gewöhnen, über solche Taten in den Nachrichten zu hören, und wir dürfen uns nicht daran gewöhnen.
({0})
Gerade nach so abscheulichen Taten wie in Münster steht schnell die Forderung nach längeren und härteren Strafen im Raum. Das ist emotional verständlich.
({1})
Doch wir müssen genau hinsehen, ob und wie dieser nachvollziehbare Reflex auch das bringt, was wir uns alle wünschen.
({2})
Das Strafrecht, das ist die Ultima Ratio zur Bewältigung gesellschaftlicher Konflikte, also das letzte Mittel, und deshalb sollte über Strafrechtsverschärfung mit kühlem Kopf und nicht mit heißem Herzen beraten werden.
({3})
Vor allem müssen wir der Versuchung widerstehen, zu glauben, dass Straftaten alleine schon durch eine höhere Strafandrohung verhindert werden könnten.
({4})
Das gilt für Sexualstraftaten in besonderer Weise. Wenn wir das tun, dann wiegen wir uns in falscher Sicherheit, die für die betroffenen Kinder fatal ist.
({5})
Aus Sicht der FDP-Fraktion reicht der Strafrahmen in seinem oberen Bereich dafür aus, auch die widerwärtigsten Formen des Missbrauchs hart zu bestrafen. 15 Jahre plus Sicherungsverwahrung sind schon jetzt möglich. Regelungsbedarf gibt es jedoch am unteren Ende des Strafrahmens. Hier brauchen wir eine Strafuntergrenze bei Kindesmissbrauch, die das bisherige Vergehen zum Verbrechen macht und eine Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr vorsieht.
({6})
Warum diese Verschärfung? Im Unterschied zu den 70er-Jahren, als der sexuelle Kindesmissbrauch vom Verbrechen zum Vergehen herabgestuft wurde, beurteilen wir als Gesellschaft diesen Missbrauch heute anders – Gott sei Dank, will ich hinzufügen. Durch die Höhe der Strafandrohung bringen wir unsere Bewertung einer strafbaren Handlung zum Ausdruck. Als Nichtjuristin würde ich sagen: Wir bringen unsere Abscheu damit zum Ausdruck.
Und dennoch – auch das sei bei aller Emotionalität, die dieses Thema bei uns allen hervorruft, gesagt –: Bei einer Novellierung der entsprechenden Norm sollten wir wirklich sorgsam darauf achten, in minderschweren Fällen, im Einzelfall, nicht den Weg zu verbauen, ein Verfahren auch einstellen zu können, wenn es im Interesse des Kindeswohls ist.
Meine Damen und Herren, auf einer Ausweitung der Strafuntergrenze dürfen wir uns allerdings nicht ausruhen. 15 963 gemeldete Fälle alleine in 2017 plus die Dunkelziffer: Jede dieser schrecklichen Taten ist eine zu viel. Wir müssen alles daransetzen, dass es erst gar nicht dazu kommt.
({7})
In drei Bereichen müssen wir für eine bessere Prävention sorgen.
Erstens: gute Ausstattung bei den Ämtern und Behörden des Kinder- und Jugendschutzes.
({8})
Jugendämter, Sozial- und Gesundheitsbehörden, aber auch Polizei und Gerichte – sie alle haben eine Schlüsselfunktion, wenn es um das frühzeitige Aufdecken von Verdachtsfällen geht. Ihr wachsamer Blick kann zur rechten Zeit Warnzeichen erkennen. Aber statt ihnen mit ausreichend Personal und mit einer guten technischen Ausstattung den Job zu erleichtern, lassen wir sie viel zu oft im Stich. Die Realität sieht nämlich so aus: Personalmangel, endlose Dokumentationspflichten und nicht einmal Diensthandys. Das darf nicht so bleiben, meine Damen und Herren.
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Und zweitens: mehr Personal in den Kitas, das entsprechend qualifiziert ist. Die Chance, dass Erzieherinnen und Erzieher Auffälligkeiten erkennen, ist groß.
({10})
Viele sind für die Kinder wichtige Bezugspersonen. Wer aber gleichzeitig acht, neun oder mehr Kinder zu betreuen hat, dem bleibt kaum Zeit für die notwendige Zuwendung.
({11})
Ministerin Giffey, ich bin froh, dass Sie hier sind und der Debatte lauschen. Sie müssen endlich einsehen, dass Sie Ihr milliardenschweres Gute-KiTa-Gesetz nachbessern müssen.
({12})
Sie verpassen sonst die Chance für mehr Erzieher in den Kitas, die wir so dringend brauchen.
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Und drittens. Wir alle müssen sensibler sein für die Anzeichen von sexuellem Kindesmissbrauch. Diese Taten sind real, sie geschehen. Wir müssen wachsamer sein: als Eltern, als Freunde, als Nachbarn. Das ist unsere gemeinsame gesellschaftliche Verantwortung. Kinder brauchen unseren besonderen Schutz, und deshalb müssen wir noch viel genauer hinsehen und vor allen Dingen mutig handeln, wenn unsere Kinder bedroht sind.
Vielen Dank.
({14})
Vielen Dank. – Nächster Redner ist für Die Linke der Kollege Norbert Müller.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist gut, dass wir heute in der Aktuellen Stunde darüber sprechen können, wie wir Kinder vor sexuellem Missbrauch besser schützen. Leider ist es erst wieder ein schlimmer Anlass – die schrecklichen Taten von Münster –, der dem Thema in der öffentlichen Wahrnehmung Bedeutung verleiht. Für die dort missbrauchten Kinder kommt alles, was wir heute diskutieren, zu spät, und wir können uns nur dafür entschuldigen, dass wir, dass die Gesellschaft diese Kinder nicht besser schützen konnte.
Das Thema Kindermissbrauch – da bin ich sicher – lässt niemanden hier kalt. Der Reflex der gefühlten Ohnmacht, der Wut, dem mit aller Härte zu begegnen, ist nur allzu verständlich. Aber ist es nicht seltsam, dass nach jeder entdeckten grausamen Missbrauchstat über härtere Strafen für Täter gesprochen wird, selten aber über einen guten Schutz für die Opfer?
Ich weiß, die Koalition will den Strafrahmen bei sexuellem Kindesmissbrauch erhöhen, um abzuschrecken. Aber die Erfahrung – darauf ist bereits hingewiesen worden – zeigt und die Wissenschaft bestätigt das auch: Harte Strafen halten pädophile Täter eben nicht von ihrer Tat ab. Die Haupttäter von Lügde wurden zu 12 und 13 Jahren Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Dennoch hat der bestehende Strafrahmen sie von ihren Taten überhaupt nicht abgeschreckt. Was Täter ernsthaft schreckt, ist die Sorge, erwischt zu werden.
({0})
Nur das wird Täter mit pädophilen Neigungen von Missbräuchen abhalten.
Der beste Kinderschutz wäre, wenn jeder Täter wüsste, dass seine Taten mit allergrößter Wahrscheinlichkeit aufgedeckt werden.
({1})
In der Realität gehen wir aber davon aus, dass durchschnittlich in jeder deutschen Grundschulklasse mindestens ein Kind mit Missbrauchserfahrung sitzt. Stimmt das, so wird bisher nur ein sehr, sehr, sehr kleiner Anteil aller Missbräuche überhaupt aufgedeckt.
Ich glaube, wir brauchen einen ganz anderen Ansatz, um Kinder bestmöglich zu schützen, und möchte dafür vier Vorschläge unterbreiten.
Erstens müssen wir die Kinder selbst stärken. Darüber ist heute bisher sehr wenig geredet worden. Kinder, die die Erfahrung gemacht haben, dass sie in schwierigen Situationen von Erwachsenen gehört werden, und die Hilfe finden, werden sich eher wehren können.
({2})
Kinder, die wissen und die erlernen, dass sie Rechte haben, werden schwerer zu Opfern werden. Kinder aber, die erfahren mussten, dass ihnen in einer anderen Situation, vielleicht einer von weniger Tragweite, niemand geholfen hat, deren Probleme ignoriert wurden, werden sich nach einer verstörenden und beschämenden Missbrauchssituation schwerer zu helfen wissen.
Unser Ziel muss es sein, dass wir starke Kinder haben, die ihre Rechte kennen und die von klein auf erlernen, dass ihr Körper nur ihnen selbst gehört.
({3})
Deswegen brauchen wir endlich die Kinderrechte im Grundgesetz, um Kinder selbst zu stärken.
({4})
Ich finde es maximal befremdlich, dass diejenigen, die hier sehr deutlich höhere Strafen für Täter fordern, zugleich die Stärkung der Kinderrechte ablehnen oder blockieren. Ich finde, das ist zynisch.
({5})
– Doch, das hat was miteinander zu tun, und ich erkläre Ihnen das auch. Ich habe es eigentlich gerade versucht.
Ein Kind, das seine Rechte kennt, ein Kind, das selbstbewusst ist, ein Kind, das weiß, dass sein Körper nicht einfach übergriffig behandelt werden kann, ein Kind, das wertgeschätzt wird, und ein Kind, das die Erfahrung macht, dass es seine Rechte auch einfordern kann, das wird sich eher wehren können, und das wird dazu beitragen, dass Taten aufgedeckt werden und Tätern äußerst zügig das Handwerk gelegt wird. Das ist doch der Schlüssel.
({6})
Zweitens brauchen wir eine noch bessere Sensibilisierung von Erzieherinnen und Erziehern, von Lehrerinnen und Lehrern, von Fachkräften in der Kinder- und Jugendhilfe. Gerade weil Täter häufig aus dem näheren Umfeld der Kinder kommen, sind Schule und Kita so wichtig. Das Personal dort muss so qualifiziert sein, dass es erste Anzeichen eines Missbrauchs professionell deuten kann und damit auch einen Umgang findet. Kinder müssen sich dort Fachpersonen anvertrauen, die mit ihnen zu tun haben, in dem Wissen, dass ihnen dann auch geholfen wird.
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Ein wesentliches Instrument hierbei bleibt Aufklärung. Und ja, das sollte tatsächlich bereits im Kindergarten beginnen. Denn was von den Rechten als Frühsexualisierung stigmatisiert wird – genau das haben Sie ja wirklich deutlich getan –, ermöglicht es jungen Menschen überhaupt erst, erlittenes Unrecht in Worte zu fassen.
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Kinder müssen lernen, dass sexualisierte Annäherung durch Erwachsene als Fehlverhalten einzuordnen ist, und sie müssen sich zur Wehr setzen können. Sensibilisierung von Kindern ist eben überhaupt keine Frühsexualisierung, sondern notwendig, damit sie sich wehren können.
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Drittens brauchen wir eine bessere Ausstattung der Kinder- und Jugendhilfe. Die Jugendämter sind personell völlig unterbesetzt. Im Allgemeinen Sozialen Dienst fehlen Zehntausende Mitarbeiter. Eine gut funktionierende Kinder- und Jugendhilfe und leistungsfähige Jugendämter sind gelebter Kinderschutz. Wer im Jugendamt aber 100, 150 oder mehr Fälle auf dem Tisch hat, der übersieht vielleicht einen Missbrauch, und ich finde, Lüdge muss uns da eine Warnung sein.
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Und viertens müssen wir Menschen mit pädophilen Neigungen helfen, nicht zu Tätern zu werden. Es gibt diese Menschen, und es gibt sie in gar keiner so kleinen Zahl. Wir brauchen endlich ein flächendeckendes Präventionsangebot für potenzielle Täter. Es gibt Menschen mit pädophilen Neigungen; das ist so. Die allermeisten meistern ihr Leben, ohne sich an Kindern zu vergehen. Viel zu viele werden aber eben dennoch zu Tätern. Modellprojekte wie das Präventionsprojekt „Kein Täter werden“ der Berliner Charité sind leider die Ausnahme, und ich finde, hier braucht es einen bundesweiten Ausbau und eine öffentliche Finanzierung, weil jeder, der zum Täter wird, am Ende eben auch Opfer hat. Wir müssen dafür sorgen, dass Menschen nicht zum Täter werden, damit Kinder nicht zu Opfern werden.
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Das alles – Herr Präsident, ich komme zum Schluss – ist nicht mit einer Hauruckmaßnahme zu packen. Das ist mit Geld verbunden, auch mit viel Aufwand, und mit Sicherheit ist das nicht so plakativ wie eine Strafrechtsreform, die sich auf den Titelseiten bestimmter Zeitungen gut macht. Aber ich finde, wenn uns der Schutz von Kindern und Jugendlichen wichtig ist, dann sollten wir diese Maßnahmen nicht unversucht lassen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Katja Dörner.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wenn wir nach Münster, nach Lügde, nach Staufen schauen, dann müssen wir in aller Klarheit feststellen: Der Staat hat hier versagt, seine Institutionen haben versagt, und zwar darin, dem Verfassungsauftrag nachzukommen, ein Wächteramt auszuüben und Kinder, die schwächsten Mitglieder in unserer Gesellschaft, zu schützen und vor Schaden zu bewahren. Das darf nicht passieren, und wir müssen uns sehr ernsthaft fragen: Was können wir dafür tun, damit das nicht wieder passiert?
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Jetzt wird viel über das Strafmaß diskutiert. Das kann sinnvoll sein, insbesondere wenn Strafverschärfungen dazu beitragen, Ermittlungsbefugnisse auszuweiten. Aber die Diskussion über das Strafmaß ist mit Blick darauf, Kinder tatsächlich zu schützen, doch ganz offensichtlich völlig unterkomplex.
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Deshalb werde ich hier zum Thema dieser Aktuellen Stunde reden, das da lautet: „Sexuellen Missbrauch effektiv bekämpfen – Kinderschutz ausweiten und Prävention stärken“.
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Ich finde, genau darum sollte es in dieser Debatte eigentlich gehen.
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Wenn wir über Urteile sprechen, dann sollten wir viel mehr die Urteile in den Blick nehmen, die nie gefällt werden, weil nie ermittelt wird, weil die Gewalt gegen Kinder erst gar nicht gesehen wird. Laut Kinderschutzbund muss sich in Deutschland ein Kind an durchschnittlich sieben Erwachsene wenden, bevor ihm überhaupt zugehört und geglaubt wird, dass ihm Gewalt angetan wurde. Das finde ich unerträglich.
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Wir brauchen gesellschaftliche Sensibilisierung, wir brauchen eine Kultur des Hinsehens und dann auch Handelns.
Der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs und auch der Betroffenenrat, denen ich an dieser Stelle für ihre wichtige Arbeit meinen ganz herzlichen Dank aussprechen möchte,
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haben genau zu diesen Fragen wertvolle Vorschläge gemacht, die wir aufgreifen sollten.
Wir erleben immer wieder, dass spezialisierte Fachberatungsstellen gegen Gewalt gegen Kinder um ihre Finanzierung kämpfen müssen. Dabei müssten sie dringend ausgebaut und dauerhaft solide finanziert werden.
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Wir kennen auch die Situation in nicht wenigen der ja oft gescholtenen Jugendämter, die im Bereich Kinderschutz mit einer für die Kinder gefährlichen Kombination aus fehlendem Personal und steigenden Fallzahlen zu kämpfen haben.
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Das liegt nicht in der Zuständigkeit des Bundes – das weiß ich –, aber Kinder effektiv zu schützen, ist eben eine komplexe Aufgabe, und es ist zu wenig, immer nur darauf zu verweisen, dass man für irgendetwas nicht zuständig ist.
Jetzt steht eine Reform des SGB VIII unmittelbar bevor, und diese Reform müssen wir auch im Bereich des Kinderschutzes und im Hinblick auf die Komplexität, die wir beim Kinderschutz haben, nutzen, um hier wirkliche Erfolge zu erzielen.
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Wir haben auch sehr konkrete Baustellen, beispielsweise die Finanzierung der Medizinischen Kinderschutzhotline, die sich an medizinisches Personal wendet. Ich halte solche Angebote für zentrale Bausteine im Kinderschutz, und auch hier hapert es weiterhin an einer soliden und dauerhaften Finanzierung. Und das ist übrigens eine Aufgabe für den Bundeshaushalt. Ich finde, das darf nicht so bleiben.
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Eine Politik des effektiven Kinderschutzes, die eben nicht nur auf kurzfristige Empörung setzt, kostet eben Geld, und das muss es uns doch wert sein, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Geld kosten würde übrigens auch der Ausbau der Kapazitäten bei den Ermittlungsbehörden. Das ist aus unserer Sicht auch ein ganz wichtiger Baustein, um der Täter habhaft zu werden. Auch hier müssen wir deutlich mehr investieren.
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Wir brauchen endlich eine kindgerechte Justiz. Ob jetzt in Münster oder in Staufen: Die Kinder selber wurden überhaupt nicht angehört. Ihnen wurde kein Verfahrensbeistand zur Seite gestellt. Das ist nicht nur ganz klar eine Missachtung ihrer Rechte, sondern zeigt auch, dass wir die familiengerichtlichen Verfahren sehr genau in den Blick nehmen müssen. Wir brauchen die verpflichtenden Fortbildungen für die Familienrichter, weil die eben über höchst sensible Fragen mit weitreichenden Folgen für das Wohl der Kinder entscheiden. Es ist gut, Frau Lambrecht, dass Sie jetzt angekündigt haben, dass diese verpflichtenden Fortbildungen kommen sollen. Ich sage Ihnen aber: In der letzten Sitzungswoche ist genau diese Forderung in unserem Antrag von den Koalitionsfraktionen hier abgelehnt worden. Das, finde ich, kann man so nicht stehen lassen.
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Wir müssen das wirklich verankern, und Sie müssen jetzt auch dafür stehen, dass das in dieser Legislaturperiode wirklich passiert.
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Abschließend: Die Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz ist absolut überfällig. Wer Kinder schützen will, wer Kinder als starke Subjekte verankern will, der muss ihre Rechte explizit ins Grundgesetz schreiben. Ich kann überhaupt nicht nachvollziehen, warum die Union das weiter blockiert. Ich sage aber an die Adresse von Frau Ministerin Lambrecht auch: Es kommt bei Weitem nicht nur darauf an, ob man die Kinderrechte ins Grundgesetz schreibt; es kommt auch darauf an, wie man das tut. Wir wollen, dass die Grundgesetzänderung einen echten Mehrwert für die Kinder hat.
Für einen guten Schutz müssen wir Kinder konsequent anhören und beteiligen, und es muss klar sein, dass ihr Wohl endlich handlungsleitend für alle staatlichen Ebenen sein muss. Dann steigt nämlich auch die Chance, dass der Staat seinem Wächteramt adäquat entsprechen kann.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der SPD der Kollege Dirk Wiese.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die frühere Bundesfamilienministerin und Unabhängige Beauftragte zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs Christine Bergmann hatte recht, als sie an ihrem 80. Geburtstag im vergangenen Jahr sagte, dass man für den Kampf gegen Kindesmissbrauch leider einen sehr langen Atem braucht und dies eine unserer wichtigsten Aufgaben überhaupt darstellt. Dies ist – das muss man immer wieder betonen; und da hat sie recht – eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die jede und jeden von uns in diesem Land in Verantwortung nimmt.
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Darum ist es richtig, jede sinnvolle Strafrechtsverschärfung, Strafrechtsrahmenanpassung auf den Weg und voranzubringen – das begrüßen wir als SPD-Bundestagsfraktion ausdrücklich –, die mit dazu beiträgt, dass es am Ende weniger sexuelle Gewalt gegen Kinder gibt. Hier begrüße ich es auch ausdrücklich, dass die Bundesjustizministerin ihre Vorschläge noch vor der Sommerpause vorlegen wird. Wir werden diese unterstützen und auch dafür sorgen, dass sie zügig durchs Parlament gebracht werden.
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Ich will aber auch anmerken, dass ich von der Debatte in der vergangenen Woche ein kleines bisschen – ja, ich will das nicht unbedingt so sagen – überrascht gewesen bin. Es ist, glaube ich, sicherlich die Aufgabe eines Generalsekretärs einer großen Partei, in manchen Debatten auch die Samthandschuhe auszuziehen und durchaus mal zu versuchen, Schärfe in eine Diskussion reinzubringen. Es ist allerdings etwas schade, wenn sich die Probleme mit dem Studium bei der Differenzierung zwischen Strafrecht AT und Strafrecht BT bei solchen Stellungnahmen fortsetzen.
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Was ich aber nicht richtig finde – das sage ich ganz deutlich –, ist, wenn man sich vor jede Kamera stellt wie in der vergangenen Woche und die Bundesjustizministerin angreift, aber dann heute in einer Aktuellen Stunde, die wir als Koalition beantragt haben, nicht den Mumm hat, an dieser Debatte teilzunehmen. Das finde ich, gelinde gesagt, eine Frechheit von Ihrem Generalsekretär.
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Ich glaube, das Strafrecht ist das eine; es gehört aber genauso dazu – das haben Redner hier schon angesprochen –, die Prävention viel stärker in den Blick zu nehmen. Denn – das muss man immer wieder in der öffentlichen Debatte deutlich machen – das Strafrecht kommt erst dann zur Anwendung, wenn die Tat bereits stattgefunden hat. Darum reicht die reine Fokussierung auf das Strafrecht nicht. Nein, wir brauchen eine Stärkung der Prävention. Wir brauchen eine Prävention auf allen Ebenen. Wir müssen bestehende Projekte aufbauen, Projekte wie „Trau Dich!“ oder „Kein Täter werden“. Wir müssen Jugendämter, Beratungsstellen und Ermittlungsbehörden stärken. Die Arbeit in Schulen, Kitas und Sportvereinen müssen wir stärken. Ich bin der Bundesfamilienministerin Franziska Giffey dankbar, dass sie heute noch mal mehr Präventionsprojekte vorgestellt hat, die wichtig sind und die richtig sind. Das gehört dazu, wenn man umfassenden Kinderschutz will und ihn voranbringen will.
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Ich finde es, ehrlich gesagt, unsäglich, dass in der vergangenen Woche Forderungen aus Nordrhein-Westfalen gekommen sind, alleine den Fokus aufs Strafrecht zu richten, und dann in der vergangenen Woche die Meldung durchkam, dass Einrichtungen des Kinderschutzbundes in Nordrhein-Westfalen nicht ausreichend von der Landesregierung finanziert sind
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und sie in dieser Phase geschlossen werden müssen. Das geht nicht. Wenn wir Prävention wollen, muss man auch hier die Fördergelder erhöhen und dort dafür sorgen, dass Prävention letztendlich möglich ist.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn man umfassenden Kinderschutz will, dann muss man ans Strafrecht ran, ja, dann muss man die Prävention massiv ausbauen; aber dann muss man auch über „Kinderrechte ins Grundgesetz“ reden und diskutieren.
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Ich sage das deutlich: Wir brauchen ein Kindergrundrecht mit Verfassungsrang. Ich kann es nicht nachvollziehen, dass man umfassenden Kinderschutz vonseiten der Union fordert, aber bei diesem Thema nicht mitgehen will.
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Das hat ganz klare Auswirkungen. Man hat das in Münster gesehen. Dort ist in Familiengerichtsentscheidungen das Erziehungsrecht der Mutter höher gewichtet worden als das Kindeswohl.
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Mit einem Kindergrundrecht mit Verfassungsrang wäre es möglicherweise zu anderen Entscheidungen gekommen. Darum gehört zu einem umfassenden Kinderschutz „Kinderrechte ins Grundgesetz“. Wer das nicht mitmacht, kann nicht sagen, er steht an dieser Stelle für umfassenden Kinderschutz.
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Ich hoffe sehr, dass Sie Ihre Blockadehaltung zu einem umfassenden Kinderschutz überdenken und dass wir hier zu einer gemeinsamen Lösung in der Sache kommen. Wir stehen dafür jedenfalls bereit.
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Lassen Sie mich am Ende einmal meinen Dank aussprechen, obwohl ich nicht unbedingt weiß, ob „Dank“ hier das richtige Wort ist. Vor den Polizistinnen und Polizisten, den Ermittlern, die diese Bilder, diesen Dreck – ich sage das so offen – momentan auswerten müssen, vor denen, die da sitzen, kann ich nur meinen Hut ziehen. Wer diese Arbeit momentan in der Polizei leistet, der hat unsere Anerkennung und unseren Respekt verdient. Da braucht man keine blöden Zwischenbemerkungen zu machen, sondern da sollte man mal gemeinsam den Polizisten danken. Das ist eine extreme psychische Belastung, unter der die Kolleginnen und Kollegen da stehen. Darum kann man der Polizei in Nordrhein-Westfalen einfach mal auch ein Danke für diese Tätigkeit sagen.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der AfD der Kollege Thomas Ehrhorn.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Zuschauer! Als in den 90er-Jahren der Fall „Dutroux“ öffentlich wurde, glaubten viele, dies sei ein belgisches Problem, und Derartiges könne bei uns ganz sicher nicht passieren. Welch ein Irrtum! Heute wissen wir es besser. Die Berichte über all die dramatischen Missbrauchsfälle, mit denen wir in der letzten Zeit konfrontiert wurden, füllen so viele Seiten, dass es schwerfällt, das alles an einem Tag zu lesen. Sie zeigen, dass die Bundesrepublik ganz offenkundig zu einer Drehscheibe für Kinderpornografie und Kindesmissbrauch geworden ist, und das nicht erst seit gestern.
Deshalb darf man an dieser Stelle schon mal die Frage stellen, wie es eigentlich dazu kommen konnte, dass dieses Land zu einer Wohlfühlzone für Kinderschänder geworden ist; denn so etwas passiert ja nicht über Nacht. Wir sollten uns vielleicht einmal fragen, ob wir es nicht mit den Folgen eines jahrzehntelangen Staatsversagens zu tun haben, welches den Boden für all das bereitet hat. Wie konnten sich über Jahrzehnte wie im Fall „Kentler“ in unserem Land Pädophilennetzwerke bilden, welche bis in Senatsverwaltungen, Bezirksjugendämter und eine Vielzahl anderer Einrichtungen hineinragen konnten?
({0})
Könnte es vielleicht daran liegen, dass Täter die Risiken, angemessen bestraft zu werden, aufgrund einer viel zu lang gelebten Laissez-faire-Kultur in unserem Land für überschaubar halten? Aufgrund einer ideologisch verbrämten Resozialisierungskultur, die Täterschutz weitaus höher einschätzt und bewertet als den Schutz der potenziellen Opfer? Aufgrund einer Gerichtsbarkeit, die sich auf den Vorstellungen der Frankfurter Schule gründet und Täter eigentlich grundsätzlich nicht für schuldfähig hält?
Erleben wir nicht gerade eine Renaissance einer Ideologie, die den Missbrauch von Kindern begünstigt, wenn nicht sogar fördert? Ich nenne zum Beispiel das als progressiv verkaufte Erziehungskonzept „Original Play“, welches sich seit 2014 in evangelischen Kitas in Berlin – in evangelischen Kitas in Berlin, wo auch sonst? –,
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aber auch in Hamburg und Gott weiß sonst noch wo etabliert hat; ein Konzept, welches offenkundig fremden pädophilen Männern, ohne Wissen der Eltern selbstverständlich, gegen die Zahlung eines Geldbetrages erlaubte, mit Kitakindern zu kuscheln. Das muss man sich mal vorstellen. Dann kommt natürlich das, was kommen muss: Die daraus resultierenden Missbrauchsfälle endeten erst dann, als das Magazin „Kontraste“ anfing, darüber zu berichten.
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Viele von denen, die sich heute medienwirksam mit den Opfern solidarisieren und mit einer zur Schau gestellten Betroffenheit von einem gesamtgesellschaftlichen Problem fabulieren, sollten sich aus dieser Debatte teilweise besser heraushalten.
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Denn viele Konzepte der kindlichen Frühsexualisierung, die vom links-grünen Parteienspektrum initiiert und mitgetragen werden, sind, ehrlich gesagt, nicht viel besser.
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Sozialpädagogik der Vielfalt mit Kuschelhöhlen für Masturbation und Doktorspiele sollen nach dem Willen dieser Leute Einzug in unsere Kitas halten. Ich kann Ihnen nur sagen: Das widert mich an.
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Zusammen mit dem Gender-Mainstreaming steht all das in der Tradition der sogenannten emanzipatorischen Sexualpädagogik. Die Ursprünge sind immer die gleichen. Sie lassen sich zurückverfolgen bis zu den ersten Galionsfiguren der Grünen, bis zu so fragwürdigen Persönlichkeiten wie Daniel Cohn-Bendit.
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Die immer wiederkehrenden Versuche, sich kindlicher Sexualität zu bemächtigen, scheinen in der grünen DNA tief verwurzelt zu sein.
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Eines kann ich Ihnen allerdings versprechen – ich sage das mit Blick auf die Betroffenen, die Eltern und die Opfer –: Mit uns wird es kein Gender-Mainstreaming geben.
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Es wird keine Kuschelhöhlen für Doktorspiele und es wird kein „Original Play“ in den Kitas geben. – Zu diesem dümmlichen Lachen, das ich aus dieser Richtung immer wieder höre, kann ich Ihnen nur sagen: Das ist absolut deplatziert an dieser Stelle; denn witzig ist hier gerade mal überhaupt nichts.
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Dieses Lachen ist genauso peinlich, wie es peinlich ist, dass Leute im Konzert immer wieder an der falschen Stelle klatschen. Das muss hier auch mal gesagt werden.
Meine Damen und Herren, das letzte Versprechen, das ich Ihnen auch noch gebe, ist das Versprechen, dass es mit uns auch in Zukunft niemals Bewährungsstrafen und Täterschutz für Kinderschänder geben wird. Denn wir sind inzwischen die einzige wirkliche Rechtsstaatspartei in diesem Hause,
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und wir nehmen das sehr ernst. Darauf können Sie sich verlassen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin in der Debatte ist für die Fraktion der CDU/CSU die Kollegin Nadine Schön.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass wir bei dieser Debatte längst nicht einer Meinung sind, ist, glaube ich, deutlich geworden. Aber, Herr Ehrhorn, was Sie jetzt vermischt und zu einem Brei gerührt haben, das ist wirklich unsäglich. Kindesmissbrauch und Gender-Mainstreaming auf eine Ebene zu setzen, das ist wirklich unterste Schublade, und das kann man hier so nicht stehen lassen.
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„Die Würde des Menschen ist unantastbar“, das ist Artikel 1 unseres Grundgesetzes. Ich sage: Sexueller Missbrauch an Kindern, das ist die übelste Form, die Würde eines Menschen, die Würde eines kleinen Menschen, anzugreifen. Sexuelle Gewalt ist ein Angriff auf den Körper eines Kindes und ein Angriff auf die Seele; ein Angriff, der Spuren hinterlässt, körperlich, aber vor allem psychisch; Spuren, Schäden, die nie wieder weggehen; Verletzungen der Seele, mit denen die Betroffenen oft ihr Leben lang zu kämpfen haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir tun zu wenig, um unsere Kinder zu schützen. Tagtäglich gelingt es Tätern, sich an Kindern zu vergehen, laut der Statistik auch heute wieder 43-mal in unserem Land. Das ist das Hellfeld; das Dunkelfeld kennen wir nicht. Das darf uns nicht ruhen lassen.
Jetzt habe ich in der Debatte öfter gehört: Jetzt, wo wieder etwas passiert ist, da ruft ihr schnell nach höheren Strafen, und dann ist es erledigt. – Frau Suding hat das gesagt, auch Herr Müller und Frau Dörner. Das stimmt nicht. Wir rufen nicht nur nach höheren Strafen. Als Unionsfraktion haben wir schon vor anderthalb Jahren gesagt: Wir wollen nicht nur Einzelmaßnahmen, wir wollen das Thema ganzheitlich angehen; wir machen ein Gesamtkonzept, das Hilfe, Schutz und auch Strafverfolgung und höhere Strafen vereint, mit Rechtspolitikern, Innenpolitikern, Gesundheitspolitikern, Familien- und Kinderschutzpolitikern. – So muss man das Thema angehen, ganzheitlich und konkret, und das haben wir getan.
({1})
26 Maßnahmen! – Herr Müller, Sie fragen: Wo ist das Konzept? Gucken Sie es sich an! Ich kann Ihnen sagen: Seitdem ist auch schon einiges passiert. Wir haben viele Maßnahmen auf den Weg gebracht und durchgesetzt.
Wir haben die Prävention gestärkt. Das Gefährlichste für Kinder ist nämlich, wenn es eine Mauer des Schweigens gibt, wenn es ein Umfeld gibt, das Anzeichen nicht sieht, das stille Hilferufe nicht hört und das auch nicht weiß, wie es reagieren soll, wenn es erste Anzeichen bemerkt. Deshalb brauchen wir mehr Information, mehr Beratung und bessere Schutzkonzepte.
Wir haben dafür gesorgt, dass die Mittel des Gute-KiTa-Gesetzes auch für Schutzkonzepte verwendet werden können, Frau Suding; von daher war Ihre Kritik völlig deplatziert.
({2})
Die Länder können die Mittel des Gute-KiTa-Gesetzes für Schutzkonzepte verwenden; das ist explizit im Gesetz vorgesehen.
Der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs berät die Länder dabei, wie man Schutzkonzepte an Schulen einführt; auch das wird gemacht. Wir haben seine Arbeit gestärkt und besser, als das bisher der Fall war, finanziert.
Wir haben mobile Beratungsstellen ins Leben gerufen. Gerade läuft ein Projekt an, das den Missbrauch im Netz in den Blick nimmt, vor allem im Peer-to-Peer-Bereich. Wir nutzen künstliche Intelligenz, um in digitalen Netzwerken kinderpornografisches Material zu finden und auch zu entfernen. Wir haben die Strafverfolgungsmöglichkeiten verbessert. Der Versuch von Cybergrooming ist strafbar. Wir haben die Ermittlungen im Darknet gestärkt. Das waren alles Initiativen der Union, alles Initiativen aus den letzten anderthalb Jahren, die wir in dieser kurzen Zeit durchgesetzt haben.
({3})
Wir haben die Traumaambulanzen gestärkt. Ab nächstem Jahr wird es flächendeckend in Deutschland Traumaambulanzen geben und Orte, an denen man eine anonyme Spurensicherung vornehmen lassen kann. Wir haben die Ausbildung von Psychotherapeuten angepasst, damit sie schon im Studium davon erfahren, wie man sexuellen Missbrauch erkennt und wie man die jungen Menschen dann auch entsprechend therapiert.
In diesen anderthalb Jahren haben wir vieles umgesetzt. Das gilt nicht nur für uns; das gilt auch für die Länder. Denn was Herbert Reul und die Landesregierung in NRW in den letzten anderthalb Jahren auf den Weg gebracht haben – eine Stärkung der Polizei und der Sonderkommission zu diesem Thema –, das ist eine Menge, und das hat auch dazu geführt, dass diese schrecklichen Taten jetzt ans Licht kommen. Von daher ist Ihre Kritik, Herr Wiese, und dass Sie das parteipolitisch ausschlachten wollen, wirklich absolut deplatziert.
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Ich bin froh, dass wir jetzt auch die Strafbarkeit angehen. Denn es kann nicht sein, dass der Besitz von Kinderpornografie weniger bestraft wird als ein einfacher Ladendiebstahl; das gehört zum Gesamtkonzept eben auch dazu. Und ja, beim SGB VIII müssen wir den Kinderschutz stärken. Wir müssen schauen, dass die Netzwerke besser greifen, dass keiner durchs Netz fällt, dass wir Anzeichen bemerken und dass den Kindern dann eben auch geholfen wird. Wir müssen auch schauen, dass die Register so ausgerichtet werden, dass darin Kindesmissbrauch nicht schon nach wenigen Jahren gelöscht wird. Vor allem brauchen wir eine Kultur des Hinschauens, von allen. Das ist unsere gemeinsame Verantwortung, und das sind wir den Kindern in unserem Land schuldig.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der SPD der Kollege Dr. Johannes Fechner.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Der sexuelle Missbrauch von Kindern gehört sicherlich zu den schlimmsten Straftaten, weil die Opfer oft über Jahre, über Jahrzehnte traumatisiert sind, weil sie sich nicht wehren können und weil Angehörige oder Personen aus dem Nahfeld, die die Taten begehen, das Vertrauen ausnutzen.
Deswegen war es gut, dass wir schon in der letzten Wahlperiode, aber auch in dieser Wahlperiode im letzten Januar wichtige Maßnahmen beschlossen haben, um sexuelle Gewalt gegen Kinder zu bekämpfen. Denn sexueller Missbrauch von Kindern ist eine schlimme Straftat, und wir alle müssen gemeinsam alles dafür tun, dass wir diese schlimmen Straftaten verhindern.
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Aber wir müssen eben auch genau das tun, was den Kindern tatsächlich hilft, was am effektivsten den sexuellen Missbrauch von Kindern verhindern kann. Dazu gehören sicherlich auch Straferhöhungen, die wir mittragen, aber eben nicht allein.
In unseren Debatten – speziell nach dem Fall in Staufen – haben wir mit vielen Experten gesprochen. Eine Maßnahme, die sie uns besonders ans Herz gelegt haben, war weniger die Erhöhung der Strafrahmen, sondern dass wir es der Polizei ermöglichen, mit PC-generiertem künstlichem kinderpornografischen Material in die Internetchats der Pädophilen zu kommen, und genau das haben wir beschlossen. Wir sind der Forderung von Ermittlern und des Missbrauchsbeauftragten Herrn Rörig nachgekommen. Das war eine ganz wichtige Maßnahme; das will ich hier ausdrücklich sagen.
({1})
Ich habe aus Dank – weil es mich wirklich berührt hat und ich großen Respekt habe, wie die Polizei in Staufen diesen Fall aufgeklärt hat – die Ermittlungsgruppe zu einer Berlin-Reise eingeladen. Ich war erschüttert, zu hören, wie viel Dreck – um es deutlich zu sagen – diese Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten über Wochen anschauen mussten. Deswegen ist auch eins klar: Wir müssen die Polizei technisch noch besser ausstatten, damit solche Arbeiten zukünftig mittels Software und künstlicher Intelligenz wahrgenommen und erfüllt werden können. An der technischen Ausstattung darf der Schutz unserer Kinder sicherlich nicht scheitern, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Ich darf an dieser Stelle auch an den Pakt für den Rechtsstaat erinnern, den wir mit den Ländern vereinbart haben. 220 Millionen Euro stellen wir vom Bund für 2 000 zusätzliche Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte zur Verfügung. Um den sexuellen Missbrauch von Kindern zu bekämpfen, braucht es in der Justiz mehr Personal. Die Länder sind dazu aufgerufen, auch dafür diese 2 000 Stellen zu schaffen und dann tatsächlich auch zu besetzen.
({3})
Es stellt sich natürlich auch bei den Fällen, die wir hier schon besprochen haben, die Frage: Waren die Familiengerichte tatsächlich ausreichend sensibilisiert? Hätten sie nicht Indizien erkennen können? Und vor allem: Hätten sie nicht das Kind anhören müssen? Ich glaube, es hätte angehört werden müssen. Deswegen brauchen wir die Kinderrechte im Grundgesetz, und deswegen brauchen wir auch dringend eine verpflichtende Fortbildung für die Familienrichterinnen und Familienrichter, damit solche Fehler nicht nochmals passieren.
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Ich möchte auch einen Satz zu den Jugendämtern sagen, die bei uns wichtige Arbeit leisten, aber oft unter Personalnot leiden. Ich glaube, es wäre ganz wichtig und höchste Zeit, dass genügend Personal bei den Jugendämtern vorhanden ist, damit die Jugendämter, wenn sie einen Verdacht hinsichtlich einer schwierigen Familie haben, von der sie glauben, da könnte etwas passiert sein, genügend Zeit und genügend Personal haben, diesem Verdacht dann auch nachzugehen.
({5})
Eines ist auch klar: Es kann nicht sein, dass aus Nordrhein-Westfalen heftige Kritik an der Bundesministerin kommt, Nordrhein-Westfalen dann aber zuschaut, wie aus Geldnot Beratungsstellen geschlossen werden. Das kann nicht sein.
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Wenn ein Kind den Mut aufbringt, sich zu offenbaren, oder wenn Verwandte, die das mitbekommen, Hilfe suchen, dann muss es professionelle Hilfe in den Beratungsstellen geben. Deswegen ist eines ganz klar: Die Beratungsstellen dürfen nicht aus Geldmangel geschlossen werden, nicht in Nordrhein-Westfalen und auch sonst nirgendwo.
({7})
Wegen der schlimmen Folgen der sexuellen Gewalt müssen wir auch das Strafrecht verschärfen. Ich bin Justizministerin Lambrecht sehr dankbar, dass sie hier schon konkrete Vorschläge dargestellt hat. Sie hat dafür volle Unterstützung von unserer Seite; denn gezielte Strafrechtsverschärfungen haben eben doch einen Effekt auf die Täter.
Was wir allerdings nicht wollen, sind die parteipolitischen Spielchen und Attacken. Ich finde, es geht nicht, dass Justizministerin Lambrecht von einigen so hart angegriffen wird – und es waren keine Hinterbänkler, sondern es waren der Generalsekretär, ein Innenminister und andere –
({8})
– natürlich von der Union –, obwohl sie es wirklich zu ihrem Kernanliegen gemacht hat, und zwar nicht erst seit den letzten Wochen, den sexuellen Missbrauch von Kindern zu bekämpfen.
({9})
Wir stehen hinter dir, Christine! Du hast gute Vorschläge gemacht; die wollen wir schnell umsetzen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns also ohne billige Stimmungsmache, sondern effektiv das tun, was die Kinder jetzt brauchen, damit wir sie schützen können, nämlich: mehr Prävention, mehr Personal bei den Jugendämtern, gut ausgebildete Familienrichter, mehr Personal bei Polizei und Justiz, genügend Geld in den Beratungsstellen und dort, wo es nötig ist, auch schärfere Strafgesetze. Mit diesem Bündel können wir den sexuellen Missbrauch von Kindern bekämpfen. Lassen Sie uns dies gemeinsam und effektiv tun.
Vielen Dank.
({10})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich mit einem Zitat beginnen: Oft tut auch derjenige Unrecht, der nichts tut. Und wer Unrecht nicht verbietet, obwohl er es könnte, der befiehlt es. – Dieses Zitat ist jetzt fast 2 000 Jahre alt, aber es ist nach wie vor höchst aktuell und gibt uns Anlass, uns auch einmal selbstkritisch zu fragen: Haben wir Unrecht getan, weil wir nicht gehandelt haben? Haben wir Unrecht gar befohlen, weil wir etwas nicht verboten haben? Ich glaube, diese Fragen müssen wir uns angesichts der widerlichen Missbrauchsfälle, die wir jetzt gerade in Münster wieder haben erleben müssen, stellen.
Richtig ist natürlich: Wir haben gehandelt. Wir haben schon in der letzten Wahlperiode den Begriff der kinderpornografischen Schriften ausgeweitet und dadurch etwa Posing-Bilder verboten. Wir haben die Verjährung von Sexualstraftaten eingeschränkt. Wir haben unter Strafe gestellt, dass Bilder von nackten Kindern und Jugendlichen zum Tausch oder entgeltlich angeboten werden. Und wir haben auch die Mindeststrafe für den Besitz von Kinderpornografie auf drei Jahre erhöht.
Auch in dieser Wahlperiode – es ist schon angesprochen worden – haben wir etwa beim Cybergrooming, also wenn versucht wird, im Internet sexuelle Kontakte zu Minderjährigen anzubahnen, den untauglichen Versuch unter Strafe gestellt, und wir haben vor allen Dingen im Hinblick auf die Ermittlungen im Darknet, wo diese widerlichen Missbrauchsdarstellungen gehandelt werden, wo Geschäfte damit gemacht werden, den Ermittlungsbehörden effektive Mittel an die Hand gegeben, dort tatsächlich auch ermitteln zu können.
Richtig ist aber auch: In vielen Bereichen haben wir nicht gehandelt. An Vorschlägen hat es hier nicht gemangelt. Wir haben als Union – es ist erwähnt worden – ein umfassendes Positionspapier mit 26 ganz konkreten Vorschlägen auf den Tisch gelegt, das wir losgelöst von diesen konkreten Taten miteinander besprochen, diskutiert und entwickelt haben, also mit kühlem Kopf und nicht aus kurzfristiger Empörung heraus. Da ging es bei Weitem nicht nur um den Ruf nach höheren Strafen, sondern es war ein ganz umfassendes Konzept. Da ging es darum, die Hilfesysteme für Betroffene zu stärken und auszubauen, die Ermittler zu stärken, Präventionsangebote auszubauen, aber natürlich auch um konsequente Strafverfolgung und um höhere Strafen. Man muss sagen – es ist ein Papier der Union gewesen –: An uns hat es bestimmt nicht gelegen, dass die darin enthaltenen Punkte nicht umgesetzt worden sind.
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Auch das gehört zur Wahrheit: Vieles ist gelungen, und das, was nicht gelungen ist, ist nicht gelungen, weil es politische Widerstände gab – auch in dieser Koalition.
Da wundert mich – das darf ich an der Stelle sagen, Frau Ministerin – der Sinneswandel, den Sie in den letzten Tagen durchlebt haben, dann schon, nämlich dass Sie zuerst gesagt haben: „Wir wollen keine höheren Strafen“, und sich jetzt hinstellen und sagen: „Wir wollen sogar weiter gehen als die Union“. Mit Blick auf den Besitz von Kinderpornografie sagen Sie, dass Sie mit unserem Vorschlag nicht einverstanden sind, sondern dass Sie das zu einem Verbrechen machen wollen. Frau Ministerin, Sie wissen ganz genau, dass wir schon seit Langem dafür eintreten, den Strafrahmen beim Besitz von Kinderpornografie zu erhöhen.
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Und in dem Brief, den Sie angesprochen haben, den Kollege Frei und ich Ihnen geschrieben haben, haben wir ausdrücklich gesagt: Es sind Mindeststrafen. – An uns scheitert es nicht, wenn der Besitz von Kinderpornografie zukünftig ein Verbrechen sein soll, meine Damen und Herren.
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Zur Wahrheit gehört auch – und das sagen Sie völlig zu Recht –: Natürlich kann es nicht nur darum gehen, den Strafrahmen zu erhöhen, sondern wir müssen vor allen Dingen etwas dafür tun, dass Straftaten verhindert werden und, wenn sie begangen worden sind, dass die Ermittlungsbehörden, die Polizei und die Staatsanwaltschaft, auch effektiv ermitteln können.
Wir werden nach dieser Aktuellen Stunde, in 20 Minuten, über den Gesetzentwurf zur Bekämpfung der Hasskriminalität reden. Da gibt es ein ganz konkretes Projekt. Da geht es darum, dass wir gesagt haben: Die Polizei und die Staatsanwaltschaften sollen in den sozialen Medien – wo es nicht nur vielfach Bedrohung, Hetze und Hass gibt, sondern wo es eben auch um die Bekämpfung von Kinderpornografie geht, wo furchtbare Missbrauchstaten abgebildet werden – die Möglichkeit haben, zu ermitteln und die Täter möglichst schnell zu identifizieren und zu bestrafen.
Nach dem, was jetzt von Ihnen vorgeschlagen worden ist, müssen Polizei und Staatsanwaltschaft zukünftig vorher immer ein Gericht einschalten; es gilt jetzt ein Richtervorbehalt. Sie wissen ganz genau, Frau Ministerin, dass das nicht unser Wunsch war, dass wir dagegen gekämpft haben, dass dieser Richtervorbehalt kommt, weil es den Ermittlungsbehörden ihre Arbeit nicht erleichtert. Deswegen bitte ich Sie doch sehr, Ihren Worten, die Sie hier gesagt haben, dass man den Ermittlungsbehörden stärker unter die Arme greifen muss, am Ende auch Taten folgen zu lassen.
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Deswegen, meine Damen und Herren, am Ende der Appell: Lassen Sie uns handeln, lassen Sie uns schnell handeln! Denn das ist doch das Ziel, das uns eint: Wir wollen nicht, dass diese furchtbaren Missbrauchstaten noch einmal vorkommen. Wir wollen Kinder schützen, die aufs Tiefste in ihren Seelen verletzt sind, die ihr Leben lang traumatisiert sind. Deswegen: Lassen Sie uns, unabhängig von den politischen Streitigkeiten, die es natürlich immer gibt, gemeinsam dafür kämpfen, schnell zu handeln, und ein umfassendes Konzept auf den Weg bringen, damit so etwas in der Zukunft nicht mehr passiert. Darum bitte ich Sie um Ihre Zustimmung.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Darf er das?“, „Muss ich das?“, „Bin ich schuld?“ – Sie haben den erschütternden Kampagnenfilm „Anrufen hilft!“ für das Hilfetelefon vielleicht in letzter Zeit gesehen. Ja, es findet statt; Tag für Tag. Wir sind wieder erschüttert. Dieses Mal ist es ein Fall in Münster. Wieder einmal folgen Forderungen nach einer Verschärfung des Strafrechtes. Ja, das sollten wir wohl machen.
Als Kinderbeauftragte der SPD-Fraktion frage ich mich jedoch: Reicht das? Wobei hilft das denn genau? Verhindert die Strafe die Tat? Wohl leider nicht. Wir sind uns sicher einig: Den Kindern ist am meisten geholfen, wenn es gar nicht erst zur Tat kommt. Schutzkonzepte in allen Einrichtungen, die wirksam mit Leben gefüllt sind, überprüft werden, verbindlich sind und auch mit Ressourcen wie Geld und Zeit ausgestattet sind, schaffen sichere Räume, in denen Kinder geschützt sind und sich auch im schlimmsten Falle offenbaren können.
Was braucht es, damit sie das tun? Nicht nur Erwachsene, die reagieren, die kompetent und einfühlsam das Richtige und Notwendige tun. Darüber hinaus braucht es auch das tägliche Erleben, dass das Kind gehört wird. Warum sollte ein Kind, dessen Stimme bislang nie ernst genommen wurde, plötzlich darauf vertrauen, dass seine Stimme im schlimmsten der Fälle auf einmal eine Wirkung entfaltet? Genau deshalb kämpfen wir so für die Kinderrechte im Dreiklang von Schutz, Förderung und Beteiligung.
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Wenn sich das Kind erlebbar und wirksam im täglichen Leben einbringen kann, wird es viel eher darauf vertrauen, dass seine Stimme auch gehört wird, wenn es darum geht, gewaltsame Übergriffe zu beenden.
Schreckt die Höhe der Strafe die Täter wenigstens ab? Ich habe meine Zweifel. Wir haben es oft mit sozial hoch angepassten Menschen zu tun. Immer wieder ist zu hören: Wir hätten das bei der Person oder in der Familie nie für möglich gehalten. Die Täter wissen ganz genau um die Schändlichkeit ihrer Tat. Sie tun es trotzdem. Das, was diese Personen wirklich abschrecken würde, ist, wenn sie fürchten müssten, mit hoher Wahrscheinlichkeit entdeckt zu werden. Und da sind wir bei einem Grundproblem. Die Ermittelnden sind angesichts der unglaublichen Masse an Daten derzeit gar nicht ausreichend in der Lage, alle Taten und alle Täter vor Gericht zu bringen. Es braucht mehr Ermittelnde, und die brauchen die Unterstützung beispielsweise durch Systeme der künstlichen Intelligenz, die beim Aufspüren und Auswerten helfen. Solange das Entdeckungsrisiko so gering bleibt, kann die Strafe noch so hoch sein, sie wird nicht abschrecken.
Wenn aber ein Fall entdeckt wird, dann müssen wir alles dafür tun, dass das Verfahren das Kind nicht abermals traumatisiert. Von der Beweissicherung bis zur Befragung im kindgerechten Rahmen ist noch jede Menge Luft nach oben. Warum gibt es nicht an jedem größeren Ort so etwas wie ein Childhood-Haus?
Nun gibt es aber auch potenzielle Täter, die Hilfe suchen, bevor Kinder zu Schaden kommen. Wie sieht es denn da aus mit flächendeckenden Angeboten, wie beispielsweise „Kein Täter werden“? Ja, ziemlich dünn. So, wie es generell ziemlich dünn aussieht bei Schutzeinrichtungen und bei Hilfen für Familien. Oder haben Sie jemals von einem Jugendamt gehört, das nicht unter Spardruck leidet?
Wir sind also bei den Institutionen. Hier sehe ich neben dem Jugendamt beispielsweise die Familiengerichte. Wussten Sie, dass es keinerlei Fachkenntnisse zum Kinderschutz, zu Kinderrechten, zum Bindungsverhalten braucht, um als Familienrichter oder ‑richterin weitreichende Entscheidungen für die Kinder zu treffen? Viele dieser Richterinnen und Richter sind enorm engagiert. Aber welches Werkzeug stellen wir ihnen denn zur Verfügung? Verbindlich in bestehende Kinderschutznetzwerke vor Ort eingebunden sind sie jedenfalls nicht.
Was zeigt uns der Fall in Münster auch? Das Familiengericht entschied wieder allein zugunsten des Erziehungsrechts der Mutter, vielleicht weil das im Grundgesetz steht, das Kinderrecht aber nicht. Ja, in 99 Komma irgendetwas Prozent der Fälle ist das Kind am besten in der Familie aufgehoben, aber eben nicht immer. Und das hier scheint ein klassischer Fall dafür zu sein. Das hat viel mit der Qualität der gerichtlichen Entscheidung zu tun. Die Kinderkommission des Deutschen Bundestages hat dazu eine Stellungnahme verabschiedet. Das hat aber auch etwas mit der grundgesetzlichen Basis zu tun. Wir wollen endlich die Kinderrechte im Grundgesetz und mit allen anderen so wichtigen Rechten wie dem Erziehungsrecht oder auch
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dem Datenschutz auf Augenhöhe bringen.
Eines noch: Wissen Sie, wer am leichtesten Zugang zu Kindern und Jugendlichen hat? Das sind Jugendliche selbst: Geschwister, Mitschüler, Vereinskameraden. Sie gibt es, und sie erstellen strafbare Bilder, sie teilen sie, sie sind übergriffig und extrem verletzend. Auch das kommt vor. Hier hilft das Strafrecht wenig bis nichts, sondern es helfen nur frühzeitig beste Strukturen in der Jugendhilfe und in der Pädagogik.
Bitte lassen Sie uns also den Schutz der Kinder in seiner Gesamtheit angehen, damit kein Kind mehr Opfer wird.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Alexander Hoffmann.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in diesem Haus oft über Kindesmissbrauch und Kinderpornografie geredet. Ich glaube, die Unionsfraktion hat bei jeder Gelegenheit deutlich gemacht, dass wir wirklich bereit sind, alle Register zu ziehen, um effektiv gegen Kindesmissbrauch und Kinderpornografie vorzugehen. Wenn man zurückguckt, dann sieht man, dass wir in den letzten Jahren durchaus große Erfolge zu verzeichnen haben. Diese Erfolge sind heute auch Ursache dafür, dass immer mehr dieser abscheulichen Taten zutage gefördert werden.
Zur Wahrheit gehört aber auch, Frau Ministerin, dass bei vielen dieser Diskussionen die jeweils zuständigen Justizminister oder Justizministerinnen und auch das BMJV sehr zaghaft an die eine oder andere Fragestellung herangegangen sind. Weil Sie vorhin dargestellt haben, was alles auf Ihre Initiative zurückzuführen ist, will ich die Gelegenheit nutzen, Ihrem Gedächtnis etwas auf die Sprünge zu helfen.
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Wir als Union hätten uns 2014 bei der grundlegenden Novellierung der Bestimmungen zu den Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung schon sehr viel mehr vorstellen können. Wir wollten damals schon „Nein heißt Nein“ in Gesetzesform.
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Wir wollten damals schon den untauglichen Versuch beim Cybergrooming unter Strafe stellen. Das war im Übrigen eine Unionsinitiative. Und wir wollten damals schon den Strafrahmen für den Besitz kinderpornografischen Materials von drei Jahren auf fünf Jahre erhöhen.
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Das war mit Heiko Maas nicht zu machen. Erst nach Druck kam dann bei der Amtsnachfolgerin, nämlich Katarina Barley, glücklicherweise erste Bewegung rein. Plötzlich war es möglich, „Nein heißt Nein“ zu etablieren, und auch die Strafbarkeit des untauglichen Versuchs beim Cybergrooming hat sie zumindest auf den Weg gebracht.
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Womit wir nicht weiterkamen, war die Strafrahmenerhöhung für den Besitz kinderpornografischen Materials. Auch mit der Keuschheitsprobe sind wir damals nicht weitergekommen. Das war ebenfalls keine Initiative von Ihnen,
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Frau Ministerin – Sie haben das vielleicht vergessen –, sondern eine Initiative des Freistaates Bayern im Bundesrat, namentlich des bayerischen Justizministers Winfried Bausback.
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Sie haben dann den Weg frei gemacht für die Keuschheitsprobe.
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Und wir haben dann im November sehr wohl über die Strafrahmenerhöhung für den Besitz kinderpornografischen Materials diskutiert. Ich habe Ihrem Parlamentarischen Staatssekretär Lange – da hinten sitzt er – im Berichterstattergespräch vorgetragen, warum wir die Strafrahmenerhöhung wollen und es damit selbstverständlich dann auch zum Verbrechen erheben wollen, weil nämlich die Strafrahmenobergrenze beim Besitz kinderpornografischen Materials bei drei Jahren endet und der einfache Diebstahl eine Strafrahmenobergrenze von fünf Jahren hat. Das war für uns ein Wertungswiderspruch, wenn man sich vergegenwärtigt, dass hinter jedem dieser abscheulichen Bilder ein echter Missbrauch steckt.
Weil ich dann im Ministerium nicht weitergekommen bin, habe ich das sogar noch einmal in einer E-Mail dem rechtspolitischen Sprecher begründet – so war es ausgemacht –, und er weiß wahrscheinlich, dass ich auf diese E-Mail vom 14. November niemals eine Antwort bekommen habe.
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Frau Ministerin, wir sind froh, dass Sie eingelenkt haben. Aber wenn Sie zeigen wollen, dass das, was Sie heute hier gesagt haben, kein Lippenbekenntnis ist, das vielleicht nur unter dem Druck der öffentlichen Debatte entstanden ist, dann legen Sie noch vor der Sommerpause – diese Erwartung haben wir als Union an Sie – einen Gesetzentwurf vor. Dieser Gesetzentwurf muss neben vielen Komponenten vor allem zwei Bausteine beinhalten:
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Kindesmissbrauch muss ein Verbrechen sein und kein Vergehen. Das muss das Gesetz klarstellen. Wir glauben auch, dass es für die schweren Fälle des sexuellen Missbrauchs sehr wohl eine Debatte in diesem Land darüber braucht, ob dort nicht der Strafrahmen bis zur lebenslangen Freiheitsstrafe gehen muss.
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Selbstverständlich wollen wir – das ist der zweite Baustein – die Strafrahmenerhöhung für den Besitz kinderpornografischen Materials von drei auf fünf Jahre. Für uns ist klar: Null Toleranz für Kinderpornografie, null Toleranz für Kindesmissbrauch. Wir wollen die Kinder schützen und nicht die Täter.
Ich will am Ende, liebe Kolleginnen und Kollegen, ein paar Sätze verlieren zur Opposition. Sie haben nachher die Gelegenheit – der Kollege Luczak hat es gesagt –, bei der Herausgabe von IP-Adressen zu zeigen, dass Sie sehr wohl mit uns gehen, wenn es darum geht, wirksame Instrumente zu schaffen, um der Täter habhaft zu werden.
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Genau dasselbe können Sie im Übrigen bei der Diskussion um die Vorratsdatenspeicherung unter Beweis stellen, wo Sie aber dann dem Thema Datenschutz eine überbordende Bedeutung einräumen. Deswegen: Lassen Sie da bitte Taten folgen! Dann kommen wir in großen Schritten vorwärts.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Vor einem Jahr wurde der damalige Kasseler Regierungspräsident Lübcke ermordet. Vor wenigen Monaten erschoss ein rechtsradikaler Terrorist in Halle zwei unschuldige Menschen, und in Hanau ermordete ein Täter aus rassistischen Motiven neun Menschen.
Wir müssen feststellen, dass sich Hass und Hetze, gerade aus der rechtsradikalen Ecke, immer mehr im Netz ausbreiten und wir allzu oft sehen, dass aus diesen Worten dann Taten werden. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, dürfen wir nicht länger hinnehmen. Wir müssen mehr dagegen tun, dass sich Hass und Hetze im Netz ausbreiten und unsere Gesellschaft vergiften.
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Deswegen bin ich Justizministerin Lambrecht sehr dankbar, dass sie auch bei diesem Thema schnell einen guten Gesetzentwurf vorgelegt hat, und zwar mit ganz verschiedenen Maßnahmen, die wir auch noch erweitert haben. Denn es geht einfach nicht mehr, dass Menschen, die in der Notaufnahme eines Krankenhauses tätig sind, die sich für unsere Mitmenschen aufopfern, gegenüber Angriffen strafrechtlich ungeschützt oder nicht so gut geschützt sind. Deswegen werden wir das verbessern und sie ausdrücklich im Strafgesetzbuch nennen.
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Des Weiteren wollen wir auch Kommunalpolitikern, die sich oft ehrenamtlich für unser Gemeinwesen einsetzen, dabei oft Anfeindungen ausgesetzt sind, und genauso ihren Familien, die auch oft Anfeindungen ausgesetzt sind, einen besseren strafrechtlichen Schutz zukommen lassen, indem wir sie ausdrücklich im Strafgesetzbuch benennen bei den entsprechenden Vorschriften zu Attacken gegen Politiker.
Oft haben wir uns auch schon über die sogenannten Feindeslisten unterhalten. Wir werden dieses Thema nochmals gesondert beraten. Aber ich will ausdrücklich sagen, dass wir auch mit diesem Gesetzentwurf schon gegen die Feindeslisten vorgehen. Wir werden nämlich die Hürden für die Strafbarkeit einer Billigung einer Straftat herabsetzen. Es wird zukünftig nicht mehr erforderlich sein, dass die Tat tatsächlich begangen ist oder der Versuch unternommen wurde.
Wir werden die Voraussetzungen der Strafbarkeit einer Bedrohung reduzieren. Dafür war bisher ein Verbrechen erforderlich. Zukünftig reicht die Bedrohung mit einer einfachen Körperverletzung aus. Ich glaube, dass diese Maßnahmen dazu beitragen werden, dass die Ersteller von Feindeslisten härter bestraft werden können, was seine volle Berechtigung hat, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Wir werden auch den Straftatbestand des § 126 StGB – Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten – verschärfen. Es wird zukünftig auch strafbar sein, Sexualstraftaten anzudrohen. Ich glaube, das ist vor allem für viele Frauen, die gestalkt werden, die verfolgt werden und die solche Dinge erdulden müssen, eine ganz wichtige Maßnahme, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Damit das Strafgesetzbuch dann auch zur Anwendung kommen kann, müssen natürlich erst einmal die Straftaten aufgeklärt werden. Deswegen ist es eine ganz wichtige Maßnahme, dass wir die Betreiber sozialer Netzwerke zukünftig verpflichten, wenn sie von strafbaren Inhalten Kenntnis bekommen, diese dann nicht nur zu löschen, sondern ans Bundeskriminalamt weiterzuleiten. Das Bundeskriminalamt agiert dann als Zentralstelle und wird die Texte, die es von den Netzwerkbetreibern bekommt, vorbereiten und an die zuständigen Staatsanwaltschaften weiterleiten. Das ist eine enorme Verbesserung, weil die Texte dann gleich an die richtigen Staatsanwaltschaften gehen und lange Zuständigkeitsklärungen eben nicht mehr erforderlich sind. Auch das ist eine ganz wichtige Maßnahme.
Meine Damen und Herren, das ist also, wie Sie sehen, ein ganz wichtiger Gesetzentwurf, ein starkes Signal für eine wehrhafte Demokratie, für einen starken Rechtsstaat, ein starkes Signal, dass wir Rechtsterrorismus nicht dulden – sondern bekämpfen –, genauso wenig wie Hass und Hetze im Internet. Stimmen wir diesem guten Gesetzentwurf zu, liebe Kolleginnen und Kollegen!
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Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Stephan Brandner für die Fraktion der AfD.
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Das ist ja hier ein Duft am desinfizierten Rednerpult. Das ist fast ein Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz. Aber gut.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Straftatbestände für strafwürdiges Verhalten zu definieren, ist wichtig und richtig. Noch wichtiger als dies ist jedoch, sich an geltendes Recht zu halten und Verstöße dagegen zu ahnden. In diesem Zusammenhang darf ich darauf hinweisen, dass die größte Oppositionspartei in Deutschland, also die AfD, eigentlich vorhatte, ab morgen die Sitzung eines Satzungsorgans, des Konvents, in Leipzig durchzuführen. Das geht nun leider nicht mehr, weil in der letzten Nacht das Hotel offenbar von linken Straßenterroristen, von denen sich sehr viele in Leipzig finden, angegriffen und schwer beschädigt wurde, von Aktivisten also, meine Damen und Herren, die unter der Herrschaft der Altparteien – nun ja – sozialisiert wurden und unter der Ägide von Frau Merkel im Krampf gegen rechts durch inzwischen wohl milliardenschwere Programminitiativen und Aktionspläne mit Steuergeld gemästet wurden.
Wie bekannt, kommt es ja bei nahezu jeder Veranstaltung der größten Oppositionspartei, also der AfD, durch straff organisierte linke Chaoten, die nahezu alle irgendwie direkt oder indirekt staatlich finanziert werden, zu Straftaten, zumeist zu Nötigungen, Blockaden, Verstößen gegen das Versammlungsgesetz, Beleidigungen, Sachbeschädigungen, Körperverletzungen, Landfriedensbrüchen und anderem. Zu Hunderten und Tausenden werden diese Straftaten begangen. Verfolgt oder gar aufgeklärt werden diese Straftaten aber so gut wie nie.
Es ist so, wie ich sagte: Ganz entscheidend ist die Verfolgung und Ahndung von Straftaten. Das umzusetzen, liebe Frau Lambrecht, davon ist der Gesetzentwurf von Ihnen und von der Großen Koalition ganz weit entfernt. Dieser Gesetzentwurf will eine Art Nebenstrafrecht schaffen und greift ganz unverhohlen alte linke Kampfbegriffe und Floskeln auf, die – wohl nicht ganz zufällig – aus dem Duktus der untergegangenen DDR stammen. Vor allem der Hass und die Hetze.
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Und die Hetze steht nicht mal da auf der Anzeigetafel.
Wer erinnert sich nicht an die alten DDR-Straftatbestände wie die „staatsfeindliche Hetze“ oder „Boykotthetze“, die übrigens zur Verhängung der Todesstrafe, Frau Lambrecht, herangezogen wurden, weshalb eine Übernahme in unseren Sprach- oder Rechtsgebrauch doch eigentlich tunlichst vermieden werden sollte. Ich bin gespannt, inwieweit Sie dann auf die Idee kommen, demnächst hier auf Wunsch der Altparteien möglicherweise Straftatbestände wie „Rowdytum“ oder „Staatsverleugnung“ debattieren zu lassen.
Wie auch der DDR geht es Ihnen von den Altparteien darum, Strafvorschriften zu schaffen, die sehr flexibel und einseitig im politischen Kampf eingesetzt werden können und die die Meinungsfreiheit nach Artikel 5 des Grundgesetzes weiter einschränken. Dazu wollen Sie nun mit einseitigem Blick nach rechts – und rechts ist ja nichts anderes als alles, was nicht grün, links oder irgendwas anderes ist – alles strafbar machen, was bürgerlich, patriotisch oder ansonsten vernünftig ist, und unter den Generalverdacht der Strafbarkeit stellen. Dabei ist es nicht ansatzweise strafbar, rechts, bürgerlich, patriotisch oder auch ansonsten vernünftig zu sein.
Hassrede, meine Damen und Herren, ist kein Rechtsbegriff und auch bestimmt keine Straftat. Dazu haben wir ja auch einen Entschließungsantrag vorgelegt.
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Wäre es anders, so hätte man heute Morgen bereits Martin Schulz für seine Hasstiraden im Rahmen der Europadebatte zur Rechenschaft ziehen sollen. Es hätten sich dann auch Verfahren anschließen müssen, wenn Frau Bayram oder Frau Haßelmann oder damals Herr Kahrs von hier vorne gesprochen haben; denn das war und ist immer Hass pur.
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Das muss man ertragen; aber eine Straftat ist es nicht.
Zudem kommt ja der Hass auch nicht aus einer Richtung. Einige Beispiele für linke Exponenten habe ich gerade genannt. Andere Beispiele finden sich in der Presse, beispielsweise der „taz“, die alle Polizisten auf Müllkippen entsorgen möchte.
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Wir haben den Staatsfunk, Stichwort: Umweltsau. Wir haben linke Parteien, die Reiche erschießen oder in Gulags stecken wollen. Der Hass kommt also überwiegend von links, natürlich aber auch aus dem islamistischen Bereich, freilich auch von rechts. Aber das Ganze auf Rechtsextremismus zu beschränken, geht fehl.
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Meine Damen und Herren, es ist für die Demokratie lebensnotwendig, die Meinungsfreiheit zu schützen. Dafür steht die AfD. Durch Begriffe wie „Hasskriminalität“ oder „Hassrede“ wird die Grenze der Meinungsfreiheit bewusst verwischt, und der Bürger bekommt Angst, sich noch zu äußern, weil er meint, jede Emotion, die er ausleben würde, wäre gleich eine Straftat. Damit schaden Sie unserer Demokratie; Sie schaden der Debatte in unserer Demokratie. Sie sollten dies nicht weiter tun und Ihren eigenen Gesetzentwurf von der Tagesordnung nehmen oder dagegenstimmen. Wir werden dagegenstimmen.
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Unser Entschließungsantrag ist wichtig, dem stimmen wir zu. Aber nehmen Sie Ihren unterirdischen Gesetzentwurf, der die Meinungsfreiheit in Deutschland massiv einschränken würde, zurück.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Dr. Jan-Marco Luczak.
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Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! In der Anonymität des Netzes finden wir ganz oft den Nährboden für Hass und Hetze, für Beleidigungen, für Bedrohungen und für andere ganz furchtbare Dinge wie Kinderpornografie. Die Worte, die wir dort lesen, werden dann leider oftmals auch zu Taten. Wir mussten das in den letzten Monaten, in den letzten Jahren erleben. Daraus folgen manchmal eben auch Anschläge, wie wir sie in Halle und in Hanau erleben mussten, oder auch die Ermordung von Walter Lübcke, deren gerichtliche Aufarbeitung jetzt gerade begonnen hat.
Wir sagen ganz klar – und ich glaube, das eint uns, jedenfalls die allermeisten, Herr Kollege Brandner –, dass wir das nicht hinnehmen können. Denn diese Verrohung, die wir im Netz erleben, ist wirklich eine Bedrohung für unsere freiheitlich demokratische Grundordnung. Ganz anders als Sie, Herr Kollege Brandner, es sagen, werden hier nicht etwa irgendwelche Meinungen unterdrückt, sondern es geht, ganz im Gegenteil, darum, die Meinungsfreiheit im Netz zu schützen.
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Denn was passiert? Wenn Menschen ihre Meinung im Netz äußern, dann werden sie angegriffen, dann werden sie mit schlimmsten Straftaten bedroht; es wird versucht, sie mundtot zu machen. Und dies behindert gerade das, was wir in unserer offenen Gesellschaft brauchen, nämlich einen freien und offenen Diskurs. Deswegen ist es gut und richtig, dass wir jetzt dieses Gesetz auf den Weg bringen, meine Damen und Herren.
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Wir machen im Kern drei Dinge. Zum einen geht es darum, das Netzwerkdurchsetzungsgesetz genau an die schlimmen Dinge, die wir in den sozialen Netzwerken erleben, anzupassen. Wir sagen: Wenn bei Facebook, bei Twitter und auf anderen Plattformen strafrechtlich inkriminierte Vorgänge auftreten, also schwere Straftaten begangen werden – nicht irgendwelche Sachen, über deren strafrechtliche Relevanz man streiten kann, sondern wirklich schwere Straftaten –, dann sollen die Netzwerkbetreiber verpflichtet sein, die entsprechenden Inhalte dem Bundeskriminalamt zu melden und vor allen Dingen auch die Daten an das BKA auszuleiten, die notwendig sind, um die Täter zu identifizieren, damit sie am Ende auch bestraft werden können. Denn das ist doch momentan das Problem: Die Dinge, die im Netz passieren, sind heute schon an vielen Stellen strafbar; wir werden der Täter nur nicht habhaft. Das werden wir mit diesen Änderungen des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes ändern. Zukünftig muss gemeldet werden. Das BKA kann an die Staatsanwaltschaften weiterleiten. Dort kann man die Täter identifizieren, und dann werden sie auch bestraft. Deswegen ist es ein gutes und ein richtiges Gesetz, meine Damen und Herren.
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Damit das am Ende auch funktioniert, nehmen wir im Strafrecht eine ganze Reihe von Änderungen im materiell-rechtlichen Bereich vor. Es ist hier angesprochen worden; das brauche ich im Detail gar nicht mehr zu wiederholen. Es geht darum, dass wir den Tatbestand der Störung des öffentlichen Friedens erweitern. Denn wir sagen: Es ist nicht hinnehmbar, wenn mit Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung gedroht wird, wenn jemand mit Vergewaltigung bedroht wird. Das muss selbstverständlich strafrechtlich erfasst werden. Aber es geht auch um solche Dinge: Wenn gesagt wird: „Ich komme und breche dir beide Beine“, dann ist das bislang nicht vom Bedrohungstatbestand erfasst. Es ist gut und richtig, dass wir an der Stelle nachschärfen.
Herr Luczak, gestatten Sie eine Zwischenfrage von der AfD?
Ja, selbstverständlich, immer gerne.
Herr Luczak, vielen Dank. – Sie haben vorhin gesagt, dass es nur um wirklich schwere Straftaten geht. Sie wollen aber jetzt mit diesem Gesetzentwurf neue Straftatbestände in Deutschland einführen.
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Das heißt, Sie wollen die Meinungsfreiheit noch deutlich stärker einschränken, als sie bisher schon eingeschränkt ist. Wie passt denn das zusammen?
Ich weiß nicht, welche neuen Straftatbestände Sie, Herr Kollege, meinen. Was wir tun, ist, bestehende Straftatbestände zu verändern, sie zu schärfen, weil wir in der Tat sehen, dass das, was dort auf Facebook, auf Twitter passiert – ich habe ja gerade die Beispiele genannt, dass jemand sagt: „Ich breche dir beide Beine“, oder jemandem mit Vergewaltigung gedroht wird –, bisher strafrechtlich nicht vernünftig erfasst war. Deswegen sagen wir: Das kann so nicht bleiben; denn es ist der Versuch, die Menschen, die in den sozialen Netzwerken agieren und dort einen offenen Diskurs führen wollen, mit solchen Bedrohungen, mit solchen Einschüchterungen mundtot zu machen. Das nehmen wir nicht hin. Und deswegen nehmen wir in der Tat auch Veränderungen am materiellen Strafrecht vor. Das ist an dieser Stelle auch richtig.
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Ein letzter Punkt, den ich an dieser Stelle ansprechen möchte, der für uns als Unionsfraktion auch noch ganz wichtig ist. Es geht nicht nur darum, das materielle Strafrecht zu ändern, sondern wir müssen natürlich auch die Ermittlungsbehörden, die Polizeien, die Staatsanwaltschaften in die Lage versetzen, entsprechend effektiv agieren zu können. Wir haben momentan die Situation, dass Polizei und Staatsanwaltschaft bei den sozialen Netzwerken die Daten abfragen können. Das machen sie auf Grundlage der polizeilichen Generalklauseln, §§ 161, 163 StPO. Das funktioniert gut; da gibt es auch keinerlei Beschwerden. Es gibt an dieser Stelle auch keine verfassungsrechtlichen Probleme; das ist alles vom Bundesverfassungsgericht ausgeurteilt.
Jetzt geht das Gesetz aber hin und erschwert die Ermittlungen, indem dort ein Richtervorbehalt eingeführt wird. Da kann man jetzt sagen, verfassungsrechtlich sei das vielleicht doch geboten; da kann man unterschiedlicher Auffassung sein. Wir als Union sagen aber: Wir sind da sehr kritisch – wir müssen uns sehr genau anschauen, ob wir hier nicht zusätzliche Hürden implementieren, die am Ende dazu führen, dass Polizei und Staatsanwaltschaft bei ihren Ermittlungen behindert werden. Deswegen haben wir – letzter Punkt – in dieses Gesetz noch eine Klausel zur Evaluation eingeführt. Wir werden uns sehr genau anschauen, ob dieses Gesetz in der Praxis funktioniert oder ob es Staatsanwaltschaft und Polizei behindert.
Unter dem Strich ist das Gesetz dennoch ein großer Schritt, um unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung auch im Netz zu schützen. Unser Rechtsstaat gilt, digital und real, und das setzen wir mit diesem Gesetz um.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Benjamin Strasser für die Fraktion der FDP.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Lage ist ernst. Wir reden über 170 Menschen in Deutschland, die seit dem Jahr 1990 von Rechtsextremisten ermordet worden sind. Wir reden über einen Anstieg der Zahl rechtsextremistischer Gefährder innerhalb eines Jahres um über 80 Prozent. Diese Zahlen zeigen, dass – erstens – die Bedrohung durch Rechtsextremisten und Rechtsterroristen in Deutschland real ist und – zweitens – Rechtsextremismus von der Politik in Deutschland offensichtlich über Jahre hinweg unterschätzt wurde. Zur Wahrheit gehört: Wir haben seit dem NSU-Skandal wertvolle Jahre verloren, um deutlich härter gegen Rechtsextremisten in Deutschland vorzugehen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich hätte mir diese Einsicht früher gewünscht; denn es gibt für diesen Bereich – anders als beispielsweise beim islamistischen Terrorismus – bis heute kein standardisiertes Gefährdersystem. RADAR-rechts soll 2022 kommen. Das ist gut, aber leider deutlich zu spät.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Hass und Gewalt sind die logische Konsequenz einer gewalttätigen Sprache, und aus Worten werden leider Taten. Deshalb kann man sich hier eben nicht hinstellen und sich treudoof wundern, dass, wenn man selber ein Klima der Angst vor Fremden schafft, sich dann Leute in Deutschland bemüßigt fühlen, aufgrund dieses gesellschaftlichen Resonanzbodens zu Taten zu schreiten. Deshalb ist es richtig, dass von der Bundesregierung heute ein Gesetzentwurf gegen Hass im Internet vorliegt.
Im vorliegenden Gesetzentwurf gibt es Punkte, die wir begrüßen, beispielsweise die Strafverschärfung bei antisemitischen Motiven oder die Ausdehnung des strafrechtlichen Schutzes von Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitikern. Bei einigen Punkten aber haben wir massive Bedenken, beispielsweise wenn es um eine Meldepflicht von Plattformbetreibern geht – das geht am eigentlichen Problem, nämlich der Überlastung von Staatsanwaltschaften, komplett vorbei – oder bei der rechtsstaatlich höchst bedenklichen Pflicht zur Herausgabe von Passwörtern durch Telemedienanbieter. Das lehnen wir ab. Deswegen werden wir uns heute enthalten.
Wir haben bereits vor über einem Jahr ein 13-Punkte-Programm zur Bekämpfung von Rechtsextremismus vorgelegt. Aufgrund der Zeit möchte ich gerne einen Punkt herausgreifen, der uns Freien Demokraten besonders wichtig ist – ich hätte ihn eigentlich mit einem Appell an den Bundesinnenminister verbunden; jetzt ist Herr Kollege Krings da, das ist auch gut,
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Sie können meinen Appell weitergeben –: Einen international aufgestellten Rechtsterrorismus wird man nicht allein durch nationale Maßnahmen bekämpfen können. Für jedes rechtsextreme Konzert in Deutschland, das wir zu Recht verbieten, müssen wir feststellen, dass in Ungarn und anderen Mitgliedstaaten solche Konzerte durchgeführt werden. Sofern wir es endlich probieren, die Szene zu entwaffnen, können wir es gleichzeitig nicht dulden, dass Schießtrainings in den Niederlanden oder in der Tschechischen Republik stattfinden.
Wir als Freie Demokraten erwarten von Ihnen, dass Sie die deutsche EU-Ratspräsidentschaft nutzen, um ein europaweites Programm zum Kampf gegen Rechtsextremismus vorzulegen. Sie haben uns an Ihrer Seite; denn der Gesetzentwurf kann nicht das Ende, sondern nur der Anfang im verstärkten Kampf gegen Rechtsextremismus sein.
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Vielen Dank, Benjamin Strasser. – Schönen Nachmittag Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen! – Der nächste Redner: Niema Movassat für die Fraktion Die Linke.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor Kurzem haben hierzulande über 100 000 Menschen gegen Rassismus demonstriert. Das war ein großartiges Zeichen. Wir brauchen den konsequenten Kampf gegen Rassismus und Menschenverachtung: ob auf der Straße, im Internet oder hier im Parlament – wo immer sich eben Nazis und Rassisten tummeln.
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Deshalb teilen wir als Linke das Anliegen des Gesetzentwurfs der Koalition, Rechtsextremismus und Hasskriminalität etwas entgegenzusetzen. Aber ihr inhaltlicher Ansatz ist falsch.
Ihr Kampf gegen Rechtsextremismus und Hasskriminalität besteht ausschließlich darin, Strafvorschriften zu verschärfen und Eingriffsbefugnisse für Ermittlungsbehörden auszuweiten. Damit springen Sie eindeutig zu kurz.
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Strafverschärfungen sind ein beliebtes Mittel, um politische Handlungsfähigkeit zu demonstrieren; zumal sie nichts kosten. Kriminologisch gesehen bringen sie aber wenig, weil Täter sich selten durch das Strafmaß von einer Tat abschrecken lassen. Zu denken, man könne Rechtsextremismus mit einem schärferen Strafrecht stoppen, wie es die Koalition tut, ist reinste Augenwischerei.
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Zudem schießen einige Änderungen am Ziel vorbei. Nehmen wir etwa die Ausweitung des Tatbestandes der Bedrohung in § 241 Strafgesetzbuch. Geht es nach der Koalition, soll es künftig strafbar sein, jemandem mit einer einfachen Körperverletzung zu drohen. Mit Ihrer Änderung werden Alltagssprüche wie „Ich klatsch dir gleich eine“, die öfter mal auf dem Schulhof gesagt werden, zur Straftat. Es ist zweifellos nicht die feine Art, solche Sprüche zu klopfen, aber das ist kein Fall für die Strafjustiz.
Zudem ändern Sie das Netzwerkdurchsetzungs- und das Telemediengesetz. Sie wollen, dass Betreiber sozialer Netzwerke die IP-Adressen der Ersteller von Beiträgen an das Bundeskriminalamt, BKA, herausgeben, und zwar immer schon dann, wenn eventuell eine Straftat vorliegt. Da Facebook und Co kaum genau juristisch prüfen werden, was eine Straftat ist und was nicht, werden massenhaft Daten an das BKA übermittelt werden. Das ist eine Vorratsdatenspeicherung durch die Hintertür. Zudem will die Koalition, dass Strafverfolgungsbehörden in Zukunft Passwörter für Onlinekonten abfragen dürfen. Wir als Linke lehnen diese Datensammelei ab.
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Wenn Sie wirklich etwas im Kampf gegen Rechtsextremismus tun wollen, hier drei Vorschläge: Erstens. Wir brauchen spezialisierte Staatsanwaltschaften, die dafür sorgen, dass bereits bestehende Gesetze auch im Internet durchgesetzt werden. Zweitens. Stärken Sie die politische Bildung. Drittens. Sorgen Sie in den eigenen Reihen dafür, dass rechtes Gedankengut keinen Platz hat. Egal ob Maaßen oder Sarrazin, nichts ist gefährlicher als die Hetze und der Rassismus in der Mitte der Gesellschaft.
Die Linke wird immer gegen Rechtsextremismus kämpfen. Der vorliegende Gesetzentwurf ist dafür aber ein wirkungsloses Mittel. Deshalb werden wir ihn ablehnen.
Danke schön.
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Vielen Dank, Niema Movassat. – Nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Renate Künast.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es hat nicht erst mit Kassel, Halle und Hanau angefangen. Nein, seit Mitte der 90er-Jahre haben Rechtsextreme in diesem Land entschieden, sich neu zu organisieren, sich zu strukturieren, und einen Aufbau gewagt. Wir merken an vielen Stellen, wie sie versucht haben, sich neu zu organisieren. Viele Wessis, deren Namen ich hier nicht wiederholen will, sind in den Osten gegangen. Vieles ist passiert. Warum sage ich das? Ich sage das, weil ich den einen Schmerz immer habe, nämlich den, dass wir in der Gesamtheit leider so spät aufgewacht sind.
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Die Amadeu-Antonio-Stiftung sagt uns: 208 Tote gibt es durch rechte, rechtsextreme Gewalt seit 1990. Wir haben das beschämend spät aufgegriffen. Das ist eines der wichtigsten Themen: Menschen müssen ihres Lebens sicher sein, egal wo sie herkommen, welche Hautfarbe sie haben und welche politische Meinung sie haben. Die Würde ist unantastbar. Das muss für alle gelten.
Wie ist die Situation im Augenblick? Ich will nur zwei Fakten nennen: Zum einen werden Verschwörungserzählungen instrumentalisiert. Die Coronakrise, die Pandemie wird genutzt, um Hass und Hetze auf die Straße und weiter ins Netz bringen. Zum anderen fühlen sich viele Menschen, viele People of Colour unsicher in diesem Land. Das hat mit Rechtsextremismus gerade auf Netzebene zu tun. 63 Prozent der Frauen sagen, sie würden sich gar nicht mehr ins Netz wagen. Das haben wir alle sehr spät aufgegriffen.
Es ist gut, dass es jetzt entsprechende Gesetze gibt, dass nun endlich klar ist, dass die Aufgabe „Kampf gegen den Rechtsextremismus“ auch im BKA in den Mittelpunkt rücken muss.
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Uns liegt das am Herzen.
Aber ich muss Ihnen sagen: Die vorgelegte Umsetzung Ihrerseits hat zahlreiche Mängel und Leerstellen. Uns fehlt immer noch – ein entsprechender Antrag liegt vor – eine Gesamtstrategie, die Prävention, Opferschutz, Stärkung der Betroffenen und den flächendeckenden Aufbau von Beratungsstellen mit dem rechtlichen Ansatz verbindet. Uns fehlt im Übrigen auch, dass der Begriff „Rasse“ endlich aus dem Grundgesetz gestrichen wird. Das sind die Botschaften.
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Unsere Verfassung ist nicht nur ein historisches Dokument; sie regelt auch unser heutiges Zusammenleben. Wir brauchen ein Demokratiefördergesetz und eine Taskforce Rechtsextremismus.
Jetzt komme ich zu einem zentralen Punkt, den wir wirklich kritisieren. Das Gesetz sieht eine Meldepflicht vor – es ist gut, dass das Bundeskriminalamt endlich Lagebilder erstellen muss –, aber dass massenhaft Benutzerdaten ohne vorherige rechtliche Prüfung nur aufgrund einer Entscheidung von privaten Diensteanbietern ans BKA gehen und dort erst einmal bleiben, auch wenn das BKA den entsprechenden Vorgang nicht als Straftat qualifiziert, ist nicht in Ordnung. Deshalb haben wir im Ausschuss einen Änderungsantrag gestellt; denn es geht auch anders.
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Es ginge mit einem zweitstufigen Verfahren: ein Quick Freeze der Daten und erst dann, wenn es weitergeht, werden die Daten an das BKA weitergegeben. Die Sachverständigen in der Anhörung haben sich auch dafür ausgesprochen.
Kommen Sie bitte zum Schluss?
Ein Gesetz zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Hass im Netz ist dringend nötig, aber dieses Gesetz wird erst der Anfang sein. Wir lassen uns dieses Land nicht von Rechtsextremen nehmen und kaputtmachen, unsere Würde und unser Leben nicht nehmen. Ihnen, Herr Brandner, sage ich – mein letzter Satz im Futur II –: Wenn wir Ihre rechtsextremen Netzwerke und Ambitionen zerstört haben werden, das wird ein guter Tag.
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Vielen Dank, Renate Künast. – Nächster Redner für die SPD-Fraktion: Florian Post.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst möchte ich mich bei der Bundesjustizministerin Christine Lambrecht herzlich dafür bedanken, dass sie sich vom ersten Tage im Amte der Justizministerin dem Kampf gegen Hass und Hetze, gegen Rechtsextremismus und Hasskriminalität im Internet gewidmet hat. Der Gesetzentwurf, der heute zur Abstimmung vorliegt, ist das Ergebnis dieser Bemühungen.
Es darf künftig keine Straftaten mehr unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit geben.
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Hier müssen wir alle Mittel einsetzen. Wir werden das Personal bei den Ermittlungsbehörden aufstocken, wir werden die Schwerpunktstaatsanwaltschaften stärken, wir werden die Präventionsarbeit ausbauen, und wir werden natürlich auch einige Straftatbestände ausweiten, beispielsweise den § 188 Absatz 1 Strafgesetzbuch – hier weiten wir den Schutz von Personen des öffentlichen Lebens auf die kommunale Ebene aus, auf die Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker –, wir werden antisemitische Tatmotive strafverschärfend werten, und wir werden auch Bedrohungen mit einer Tat gegen die körperliche Unversehrtheit oder die sexuelle Selbstbestimmung strafverschärfend werten. Das ist sehr, sehr wichtig.
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Einschüchterung führt im Zweifel zu Rückzug; damit würde die Demokratie Schaden nehmen. Das ist nicht hinnehmbar. Natürlich müssen auch Straftaten in den sozialen Medien verfolgbar sein. Daher ist es gut, richtig und wichtig, dass nun geregelt wird, auf welchen Wegen die Daten herausgegeben werden. Es ist richtig und wichtig, dass wir einen sogenannten Richtervorbehalt bei der Datenabfrage einführen. Es ist richtig, dass wir sehr hohe Hürden für die Passwortherausgabe einführen, dass wir sie der Onlinedurchsuchung gleichstellen, dass sie nur anwendbar ist bei schwersten Straftaten und Berufsgeheimnisträger in diesem Zusammenhang geschützt bleiben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube, dieses Gesetz ist auf der Höhe der Zeit, und es ist überfällig; das ist richtig. Deshalb ist es umso wichtiger, dass es nun endlich kommt. Daher bitte ich Sie jetzt um Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Florian Post. – Der nächste Redner kann sich langsam auf den langen Weg machen: Alexander Hoffmann für die CSU-Fraktion,
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Entschuldigung, für die CDU/CSU-Fraktion; Sie sprechen ja für beide.
Ich habe das trotzdem wohlwollend zur Kenntnis genommen.
Das habe ich mir schon gedacht; deswegen habe ich es ja gesagt.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Vor zwei Tagen hatte der Unterausschuss Bürgerschaftliches Engagement eine Sitzung zum Thema „Kommunalpolitisches Ehrenamt“. Diese Sitzung hatte zwei fast schon tragische Höhepunkte.
Höhepunkt Nummer eins in tragischer Hinsicht waren die Ausführungen eines früheren Bürgermeisters aus Niedersachsen, Arnd Focke, der sein Amt niedergelegt hat wegen erheblicher, aggressiver Anfeindungen von rechts. Das, was er geschildert hat, war erschütternd; erschütternd war auch, was er für seine Familie befürchtet hat.
Den zweiten tragischen Höhepunkt habe ich dabei. Ein Vertreter des Städte- und Gemeindebundes hatte eine Broschüre dabei. Frau Präsidentin, Sie gestatten, dass ich sie ganz kurz vorstelle. Diese Broschüre ist überschrieben mit „Umgang mit Hass und Bedrohung – Hinweise für Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker“. Das ist eine Broschüre des Nationalen Zentrums für Kriminalprävention, unterstützt vom Innenministerium und vom Deutschen Städtetag. Wenn Sie sich diese Broschüre anschauen, läuft es Ihnen kalt den Rücken runter. Da sind Empfehlungen dabei wie die, dass ein Kommunalpolitiker, der sich angefeindet fühlt, mal um das Auto herumlaufen sollte, bevor er losfährt,
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um zu gucken, dass Radmuttern nicht gelockert und Reifen nicht plattgestochen sind.
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Ich möchte dazu zwei Feststellungen machen: Feststellung Nummer eins: Es ist tragisch, dass es so etwas in unserem Land gibt. Feststellung Nummer zwei: Genau aus diesem Grund wollen wir heute den nun vorliegenden Gesetzentwurf beschließen. Durch dieses Gesetz sollen Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker besser geschützt sein; wir beziehen sie in den Schutzbereich des § 188 StGB ein, wo es letztendlich höhere Strafen gibt. Und dieses Gesetz eröffnet uns mehr Möglichkeiten – anders geht es nicht –, der Täter habhaft zu werden.
Damit komme ich zu meinem zweiten Punkt. Die Aktuelle Stunde zum Thema „Kindesmissbrauch und Kinderpornografie“ ist noch keine 30 Minuten her. Wenn wir hier über die Befugnis reden, IP-Adressen auszuleiten, um an die Identität der Täter zu kommen, dann gilt das auch – das muss man wissen – für den Kampf gegen Kinderpornografie. Da wundere ich mich jetzt: Wir waren uns vorhin doch alle einig, dass wir die Täter dingfest machen wollen, dass wir dem Täter keine Sicherheit lassen wollen, sondern er immer damit rechnen muss, erwischt und überführt zu werden. Und Sie lehnen das ab. Das kann ich so nicht stehen lassen. Ich will das hier ausdrücklich betonen: Da sind Sie als Opposition in der Verantwortung; da ist es zu wenig, sich zu enthalten oder gar dagegenzustimmen; da ist Ideologie – Entschuldigung – fehl am Platz.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Alexander Hoffmann. – Letzter Redner in dieser Debatte: Ingmar Jung für die CDU/CSU-Fraktion.
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Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will mal versuchen, die Debatte ein wenig zusammenzufassen.
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Ich bin gespannt, wie die Oppositionsfraktionen gleich abstimmen werden.
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Wenn ich ganz ehrlich bin, muss ich sagen, dass ich von fast niemandem konkret gehört habe, was man nicht oder anders machen sollte als im Gesetzentwurf vorgeschlagen; wir haben zusätzliche Vorschläge gehört.
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– Frau Künast, zu Quick Freeze sage ich was. – Es kam mir fast so vor, als befänden wir uns hier in einer Aktuellen Stunde und nicht in der zweiten und dritten Lesung eines ganz konkreten Gesetzentwurfs.
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– Ich sage gern etwas dazu.
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– Lieber Kollege, im Gegensatz zu dem Redner der FDP-Fraktion lese ich hier keine Rede vor, die ich mir vorher aufgeschrieben habe,
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sondern ich trage meine Eindrücke aus dieser Debatte vor. Deswegen sollten Sie diese Zwischenrufe wirklich unterlassen.
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Ich fange mal an bei Herrn Brandner. Herr Brandner hat ja konkret kurz gesagt, was ihm an diesem Gesetzentwurf nicht passt: dass wir uns einseitig auf Rechtsradikalismus ausrichten, dass wir einseitig versuchen, nur in einer bestimmten Weise Meinungen einzuschränken.
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– Ja, Sie haben offenbar nur die Überschrift auf der Medienwand gelesen. Haben Sie den Gesetzentwurf vielleicht mal gelesen?
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An keiner einzigen Stelle im Gesetzentwurf findet eine Einschränkung auf bestimmte politische Äußerungen statt, an keiner einzigen Stelle.
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– Wenn Sie nur die Überschrift lesen, Herr Brandner, kann ich Ihnen leider auch nicht helfen; das ist wirklich so.
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Das, was Sie hier behauptet haben, ist schlicht und ergreifend falsch.
Zu der Frage, ob hier die Meinungsfreiheit eingeschränkt wird. Der Kollege Dr. Luczak hat es ja schon gesagt; das muss man wirklich mal vom Kopf auf die Füße stellen.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung des Kollegen von der AfD-Fraktion?
Bitte, ja.
Eine kurze Frage: Sie haben gerade gesagt: Es geht nicht konkret gegen Rechtsextremismus. – Warum haben Sie dann bitte den Gesetzentwurf so überschrieben? Und warum haben Sie diesen Tagesordnungspunkt heute so überschrieben, wenn es gar nicht um Rechtsextremismus, sondern um Extremismus allgemein gehen soll? Es liegt doch in der Verantwortung der Regierung, also der Union, auch in Ihrer, die Tagesordnungspunkte und Gesetzentwürfe zu überschreiben.
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Ich bedanke mich bei Ihnen ganz herzlich für die Beförderung, wenn Sie mich als Bundesregierung ansprechen. Ich habe es leider noch nicht so weit geschafft.
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– Frau Künast, er hat gesagt: Warum haben Sie als Bundesregierung diese Überschrift gewählt? – Dann darf ich das bitte auch so beantworten. Das kann ich an der Stelle nicht.
Außerdem ist Ihnen vielleicht nicht entgangen, dass das Ganze natürlich in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext steht, nämlich in dem, was wir in dem letzten Dreivierteljahr erlebt haben; wir haben die Stichworte „Hanau“ und „Halle“ bereits mehrmals gehört. Das ist natürlich ein Anlass gewesen, dieses Gesetzesvorhaben noch weiter voranzutreiben. Es steht vor dem Hintergrund, dass wir es in Deutschland vermehrt mit starkem Rechtsradikalismus zu tun haben. Aber das Gesetz selbst trifft dort keine politische Unterscheidung. Das ist die Begründung dafür.
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Lassen Sie mich noch auf etwas Zweites zu sprechen kommen. Auf den ersten Blick klingt es so gut: „Lasst uns doch die Daten erst mal bei dem sozialen Netzwerk, dem Telemediendienst festhalten und erst später ausleiten, wenn dann eine Prüfung beim BKA stattgefunden hat“ – Stichwort „Quick Freeze“. – Frau Künast, sorry, aber die Variante habe ich von den Sachverständigen nicht so im Kopf behalten.
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Da wurde über zwei unterschiedliche Varianten des Quick Freeze gesprochen.
Das, was Sie so stört, nämlich dass ohne bestehenden Anfangsverdacht – darüber, ob das so stimmt, kann man streiten – IP-Adresse und Portnummer ans BKA ausgeleitet werden, ist bei dem Verfahren, das der Staatsanwalt in der Sachverständigenanhörung vorgetragen hat, eben auch der Fall. Das Problem ist doch: Wenn Sie die Daten beim sozialen Netzwerk einfrieren, dann in die Prüfung gehen und erst danach zum Telekommunikationsanbieter mit den dann ausgeleiteten Daten wollen, kriegen Sie die Verbindung zur physischen Adresse nicht mehr hin. Die einzige Möglichkeit ist ein anderes Quick-Freeze-Verfahren.
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– Ja, darüber können wir reden. Wenn Sie sagen: „IP-Adresse und Portnummer werden ans BKA ausgeleitet“ – das ist nämlich das, was vorgeschlagen wird – „und der Telekommunikationsanbieter freezt“, dann haben Sie aber einen stärkeren Grundrechtseingriff, als wenn Sie ans BKA nur die einfachen Daten ausleiten.
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Das stimmt an der Stelle, meine Damen und Herren, wirklich nicht.
Zum dritten Punkt. Ich möchte auch noch kurz, Herr Movassat, auf das eingehen, was wir von der Linkspartei immer hören. Sie haben uns erklärt: Der Gesetzentwurf ist schlecht; denn wir hätten eigentlich gerne noch etwas anderes gemacht.
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Sie haben gesagt: Wir sollten Spezialstaatsanwaltschaften schaffen. – Erstens machen das die Länder. Und zweitens: In vielen Ländern, in denen die Linkspartei nicht regiert, tun die Länder das bereits. Es gibt Spezialstaatsanwaltschaften. Wir hatten die Sachverständigen bei uns in der Anhörung; die waren alle da. Diese Mittel gibt es. Das ist sicher kein Grund, jetzt an dieser Stelle deswegen das gesamte Gesetz infrage zu stellen. Dann soll man bitte konkrete Änderungsvorschläge machen.
Jetzt habe ich vergessen, was ich zur Meinungsfreiheit und allem anderen noch sagen wollte.
Ja, Sie hätten auch keine Zeit mehr.
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Darauf wollte ich gerade hinweisen, Frau Präsidentin.
Dumm gelaufen.
Vielen Dank. Ich freue mich auf die Zustimmung.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen! Wo Fakten und wissenschaftliche Erkenntnisse ignoriert werden,
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gibt es Verbote, nämlich Fahrverbote. Jahrelang wurde gebetsmühlenartig behauptet, der Automobilverkehr sei quasi allein hauptverantwortlich für die Stickstoffdioxidgrenzwert-Überschreitungen in deutschen Städten.
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Doch der Shutdown hat diese Behauptung als das entlarvt, was sie ist: kompletter Unsinn.
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Denn die Dieselfahrverbote sind ganz offensichtlich ohne jede fundierte wissenschaftliche Datengrundlage erlassen worden.
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Obwohl der Autoverkehr durch den Corona-Shutdown in Deutschland um bis zu 75 Prozent abgenommen hat, ergibt die Auswertung der Daten der Europäischen Umweltagentur
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– hören Sie doch erst mal zu! -
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eindeutig, dass sich der Stickstoffdioxidwert in diesem Zeitraum praktisch nicht verändert hat. Ganz im Gegenteil sind die Messwerte für Stickstoffdioxid teilweise sogar gestiegen.
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Die Hauptursache für die Luftverschmutzung in unseren Städten liegt also ganz offensichtlich woanders. Und im Scheinwerferlicht dieser Erkenntnisse spricht ja sogar Verkehrsminister Scheuer von einem offenkundigen Missverhältnis zwischen dem drastischen Verkehrsrückgang und der trotzdem unveränderten Luftqualität. Und für seinen Parlamentarischen Staatssekretär Bilger – beide sind ja heute da – sind Dieselfahrverbote nun angeblich endgültig vom Tisch.
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Zu dem gleichen Ergebnis kommt der Mitteldeutsche Rundfunk, der mehr als hundert verkehrsnahe Messstationen ausgewertet hat – ich zitiere den MDR –:
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Im Ergebnis gibt es seit dem 22. März trotz weniger Verkehr mehr Feinstaub und nur minimal weniger Stickoxide in der Luft.
Zitat Ende.
Ihre hysterisch im Blindflug veranlassten Fahrverbote sind, wie von uns immer schon gesagt, also ganz offensichtlich sinnlos, nutzlos und für viele Menschen existenzgefährdend.
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Das SPD-geführte Umweltministerium – es ist auf der Regierungsbank vertreten – ignoriert jedoch wider besseres Wissen diese Fakten und behauptet, als wäre nichts passiert, weiterhin, dass die Autos die Hauptursache für das Stickstoffdioxid in unseren Städten sind, und begründet damit die Aufrechterhaltung der Fahrverbote. Statt sich mit den Fakten auseinanderzusetzen, wird dort nach allen möglichen Ausflüchten gesucht, seien es Heizungen, Fernverkehr, Sahara-Sand oder sonstige meteorologischen Einflüsse – alles Dinge, die immer schon da waren, also auch schon vor dem Corona-Shutdown.
Aber was hat uns gerade dieses Umweltministerium nicht immer wieder gesagt? Dass 80 Prozent des Stickstoffdioxids in den Städten vom Auto verursacht werden. Wie kann es dann sein, dass die Stickstoffdioxidwerte über sechs Wochen nahezu gleich bleiben, obwohl im selben Zeitraum fast keine Autos auf den Straßen waren?
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Es ist also höchste Zeit, dass gerade Sie von der CDU/CSU-Fraktion endlich diesen Irrsinn im Umweltministerium beenden und Ihren eigenen Worten Taten endlich folgen lassen. Wir fordern in unserem Antrag nämlich genau das, was Sie selbst vollmundig sagen, nämlich, wie auch von Verkehrsminister Scheuer gefordert, eine unverzügliche wissenschaftliche Untersuchung dieses Missverhältnisses und, wie von Ihrem wirtschaftspolitischen Sprecher Joachim Pfeiffer gefordert, die sofortige Aufhebung der bestehenden Fahrverbote.
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Wir wollen also mit unserem Antrag nichts anderes umsetzen als das, was Ihr Parlamentarischer Staatssekretär Steffen Bilger gefordert hat, nämlich dass Fahrverbote in deutschen Städten endlich vom Tisch sind.
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Für alle – insbesondere von der CDU/CSU-Fraktion –, die sich jetzt immer noch nicht so recht trauen, ihre eigene Fehleinschätzung zuzugeben: Nehmen Sie sich doch einfach ein Beispiel an Konrad Adenauer, der im Bundestag gesagt hat: Niemand in diesem Hohen Hause kann mich daran hindern, innerhalb von 24 Stunden etwas klüger geworden zu sein.
Herzlichen Dank.
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Danke, Marc Bernhard. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Felix Schreiner.
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Geschätzte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ging uns allen in den vergangenen Wochen doch eigentlich ähnlich, wenn wir aus den Wahlkreisen nach Berlin gereist sind: Wir hatten fast leere ICE-Züge. Wer von Ihnen den ÖPNV in dieser Stadt genutzt hat, hatte freie Sitzplatzwahl trotz Rushhour. Das alles zeigt, dass der öffentliche Verkehr in unserem Land in einer Vertrauenskrise steckt, in einer coronabedingten Vertrauenskrise. Das führt zwangsläufig auch vielerorts zu einer Existenzkrise.
Wenn ich im Wahlkreis unterwegs bin, dann sagen mir Busunternehmerinnen und ‑unternehmer mit Blick auf ihren Betriebshof, dass dort Busse stehen, die schon länger nicht mehr bewegt wurden. Wir haben uns darüber im Verkehrsausschuss intensiv unterhalten.
Warum sage ich Ihnen das alles? Weil es schon bezeichnend ist, wenn die AfD den ersten Verkehrsantrag nach Wochen zur Stickoxidbelastung in den Städten bringt und mit einer vermeintlich neuen Datenlage begründet. Ja, liebe Kollegen, so setzt halt jeder seine Prioritäten. Aber ich hätte mir gewünscht, dass man angesichts der gestrigen Demonstration vor dem Brandenburger Tor, wo 1 000 Busunternehmerinnen und ‑unternehmer, Familienunternehmer, nach Berlin gekommen sind, um über ihre Existenzängste, über Zukunftsperspektiven zu diskutieren, dann auch auf einer Seite mit uns als Koalition, vor allem aber an der Seite unseres Bundesverkehrsministers steht, wenn es darum geht, Perspektiven für diese Betriebe auf den Weg zu bringen. Aber auch das können Sie an dieser Stelle von der AfD nicht erwarten, meine Damen und Herren.
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Aber wenn Sie schon über NO2-Belastung mit uns sprechen möchten, dann lassen Sie uns bitte einen Blick auf die Fakten werfen. Seit 2017 – das war der Beginn dieser Legislaturperiode – kann man, glaube ich, feststellen – aber in Ihrem Antrag steht dazu leider kein Wort; es reicht eben nicht, nur Überschriften zu bearbeiten; man muss sich dann auch mal mit den Themen auseinandersetzen –, dass die Zahlen Schritt für Schritt gesunken sind. 2017 hatten wir 65 Städte, die den EU-Grenzwert von 40 Mikrogramm NO2 pro Kubikmeter Luft im Jahresmittel gerissen haben. 2019 waren es noch 25 Städte, die diesen Grenzwert nicht eingehalten haben.
Das zeigt, dass wir es mit der Luftreinhaltung ernst meinen, dass die Politik der Großen Koalition an dieser Stelle wirkt. Wir haben in diesem Zusammenhang das „Sofortprogramm Saubere Luft 2017-2020“ auf den Weg gebracht: 1,5 Milliarden Euro stellen wir den Städten und Kommunen zur Verfügung, um die Luft in ihren Städten besser zu machen.
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Mit Blick auf das Konjunkturprogramm, glaube ich, kann man feststellen: Das Konjunkturprogramm wird weitere Flottenaustauschprogramme auf den Weg bringen, diesmal für die Handwerker, für die KMUs und für gemeinnützige Träger. Das stabilisiert nicht nur die Konjunktur; das wird auch beim Klimaschutz helfen. Es reduziert auch den Schadstoffausstoß. Deshalb ist es eben nicht richtig, wenn die AfD hier argumentiert, da würde überhaupt nichts passieren. Nein, im Gegenteil: Wir bringen die richtigen Dinge auf den Weg. Das führt zu einer Reduzierung der NO2-Emissionen in unserem Land.
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Sie argumentieren in Ihrem Antrag – ich habe ihn ja gelesen, auch wenn es nur zwei Seiten waren –, dass es eben nicht richtig ist, dass der Rückgang des Verkehrs dazu führt, dass der NO2-Wert an den Messstellen runtergeht. Sie haben zwar recht, dass die Werte runtergehen,
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aber Ihre Schlussfolgerung ist eben nicht richtig. Ihr Antrag kommt zu dem Schluss, dass der Straßenverkehr mit den Werten überhaupt nichts zu tun habe und die Hauptquellen der NO2-Belastung völlig andere seien.
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Aber tatsächlich ist die Wahrheit, dass während des Lockdowns die NO2-Werte zurückgegangen sind: in Berlin um 28 Prozent, in Bayern um 26 Prozent und in Hessen sogar um 30 Prozent, also ein Rückgang der NO2-Belastung. Ich glaube, das zeigt, dass die Förderprogramme richtig sind.
Ich möchte Ihnen auch sagen, dass man so was auch zur Kenntnis nehmen muss und dass man auch aufhören muss, den Menschen in Deutschland Angst zu machen, indem man sagt, dass sie jetzt alle von Fahrverboten bedroht sind. Es ist richtig, dass wir Maßnahmen ergreifen, die dazu führen, Menschen Mobilität zu ermöglichen, statt diese Mobilität zu behindern, um damit Fahrverbote zu vermeiden, meine Damen und Herren.
({5})
Man könnte ja – ich habe den Zwischenruf vonseiten der Grünen wohl gehört – auch zur Kenntnis nehmen: Wir hatten in Stuttgart jetzt die Situation – das zu sagen sei als Baden-Württemberger erlaubt –, dass Ihr Verkehrsminister am liebsten ab dem 1. Juli Fahrverbote für die Euro-5-Fahrzeuge erlassen hätte. Es ist, glaube ich, richtig gewesen, dass man ihm mal den Begriff der Vollstreckungsabwehrklage dargelegt hat, weil diese aufschiebende Wirkung haben kann. Damit gewinnt man übrigens auch Zeit, um weitere Maßnahmen zu ergreifen, um Fahrverbote zu vermeiden.
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Meine Damen und Herren, Sie merken, diese Koalition, unser Minister, Andreas Scheuer,
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und die Regierungsfraktionen haben Maßnahmen auf den Weg gebracht, die richtig sind, aber die vor allem eins tun, nämlich wirken.
Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Felix Schreiner. – Nächste Rednerin: für die FDP-Fraktion Judith Skudelny.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Konrad Adenauer war sozusagen ein sprudelnder Quell von Zitaten. Ich möchte mal mit diesem Zitat beginnen: „In der Politik geht es nicht darum, recht zu haben“, in der Politik geht es darum, am Ende „recht zu behalten“.
Als wir im Frühjahr 2019 neue Rahmenbedingungen für Dieselfahrverbote gesetzt haben, war eine Mehrheit dieses Hauses der Meinung, dass mögliche Fahrverbote geeignet und erforderlich sind, um die Luft in den deutschen Städten sauberer zu machen. Sie hat auch gedacht, dass diese Maßnahme angemessen ist. Das heißt, dass die Eingriffe in Freiheit und Eigentum der richtige Weg sind, um ebendiesen Gesundheitsschutz durch saubere Luft zu erhalten.
In Zeiten von Corona wissen wir aber, dass Meinungen, Ansichten, aber auch Wissen nichts Absolutes sind. Dinge ändern sich mit der Erkenntnis. So wie Virologen ihre Erkenntnisse weiterentwickeln und ihre Schlussfolgerungen daran anpassen, müssen auch wir in unserem Haus erkennen, wenn es neue Erkenntnisse gibt.
({0})
In Zeiten von Corona-Lockdown sehen wir, dass der Zusammenhang zwischen sauberer Luft und Verkehr eben doch nicht so eng ist, wie es uns die Koalition im März 2019 weismachen wollte.
({1})
Der Verkehr ist weniger geworden, die Luftbelastung ist in vielen Städten nicht in gleichem Maße gesunken. An manchen Stellen ist sie gleich geblieben; an anderen Stellen ist sie trotz weniger Verkehr sogar noch gestiegen. Diese Erkenntnis wirft die Frage auf: Sind Dieselfahrverbote überhaupt die geeignete Maßnahme, um die Luft in deutschen Städten zu verbessern?
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Selbst das grüne Verkehrsministerium in Baden-Württemberg – eine für uns wirklich unverdächtige Quelle –
({3})
hat jüngst dem Landtag von Baden-Württemberg erklärt, warum es mit Blick auf die NOx-Werte keine Korrelation zwischen Verkehr und Luftverbesserung gibt: Es liegt am Wetter. Das Wetter hat einen deutlich höheren Einfluss auf die Luftqualität, als es der Verkehr hat. Deswegen wird dieser Effekt der Verkehrsminderung durch Wetterlagen deutlich geschluckt. Dadurch sieht man nichts mehr davon.
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Jetzt ist es ungleich schwieriger, das Wetter durch das Bundes-Immissionsschutzgesetz zu beeinflussen. Viel leichter ist es, Dieselfahrerinnen und Dieselfahrer zu enteignen. Und trotzdem sollte es doch der Mehrheit dieses Hauses langsam klar werden, dass der einfachste Weg, nämlich die kalte Enteignung von Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland, in diesem Fall sicherlich nicht der richtige Weg ist, um in den deutschen Innenstädten saubere Luft zu bekommen.
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Das schärfste Schwert, das der Staat hat, ist, zum Wohle der Allgemeinheit in die individuellen Freiheits- und Eigentumsrechte einzugreifen. Deswegen darf so was nur dann erfolgen, wenn die Begründung dafür eindeutig, klar und folgerichtig ist. Genau daran, an der Geeignetheit der Maßnahme, zeigt sich, dass diese im Moment nicht gegeben ist. Die Begründung für die Dieselfahrverbote stimmt nicht mehr.
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Liebe Große Koalition, es ist langsam an der Zeit, dass wir uns auch dieses Gesetz im Lichte der neuen Sachen noch mal angucken. Wir haben im März 2019 gestritten, ob Sie damals recht hatten. Heute wissen wir: Sie haben nicht recht. Deswegen sollten wir diese Gesetzeslage ändern und den Menschen ihr Eigentum wieder zurückgeben.
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Vielen Dank, Kollegin Skudelny. – Nächste Redner: Arno Klare für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Erster Punkt. Die Luftqualität in Deutschland wird seit Jahren immer besser. Stimmt! Da gilt aber auch der Satz, den wir in den letzten Monaten gelernt haben: There is no glory in prevention. – Das heißt, man wird durch Prävention kein Held. Wir haben Prävention gemacht, und jetzt sind die Werte besser geworden. Dann sagen einige rückwirkend: Da war doch gar nichts.
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Frau Skudelny, genau das ist Ihr Denkfehler.
Zweiter Punkt. Die Studienlage zu diesem Thema ist überwältigend gut. So hat die Leopoldina in ihrer Ad-hoc-Stellungnahme vom April 2019, die die Bundesregierung in Auftrag gegeben hat, festgestellt: Es gibt zu diesem Thema 71 000 verfügbare Studien. 71 000! Ich habe sie nicht alle gelesen, aber viele davon.
Dritter Punkt. Die Festlegung von Grenzwerten ist natürlich immer eine politische Abwägungsentscheidung. Die WHO hat zum Beispiel bei Feinstaub der Partikelgröße PM2,5 einen Grenzwert von 10 Mikrogramm gesetzt, wir in Deutschland von 25 Mikrogramm. Bei Stickoxiden haben wir uns dem Grenzwert von 40 Mikrogramm angeschlossen. Österreich hat ihn auf 30 Mikrogramm festgelegt. Also, es ist immer eine wertende Entscheidung.
Nächster Punkt – ganz wichtig –: Es gibt keine gesundheitliche Wirkschwelle; das sagen alle Studien zu Luftschadstoffen. Da wir das Vorsorgeprinzip haben, haben wir uns für ambitionierte Werte entschieden. Das ist der Punkt.
({1})
Jetzt zu den konkreten Zahlen: Am 8. April lag der Durchschnittswert an der Messstelle 118 – die Insider wissen: das ist das Neckartor in Stuttgart – bei 58,87 Mikrogramm Stickoxid und der Tagesmaximalwert bei 84 Mikrogramm. Am 12. April lag der Wert im Durchschnitt bei 25,7 Mikrogramm Stickoxid und bei maximal 38 Mikrogramm. Die letzten beiden Werte wurden am Ostersonntag gemessen. Der andere Wert wurde an einem normalen Mittwoch erhoben, also an einem Werktag. Der Unterschied – Sie wissen die Werte noch: 84, 38, 58, 25 Mikrogramm – besteht nahezu in einer Halbierung. Jetzt zu sagen, das habe nichts mit Verkehr zu tun, ist nicht richtig; das kann man an den Zahlen nicht erkennen. Das gilt für alle Messstationen in Deutschland.
({2})
– Ja, der Unterschied zwischen 84 und 38 ist nicht 30 Prozent. Wo waren Sie denn in der Schule?
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Und wenn Sie dann noch Zweifel haben, schauen Sie auf die Seite der ESA. Der Erdbeobachtungssatellit Sentinel-5P – aus dem Bundeshaushalt übrigens deutlich gefördert – misst den Rückgang bzw. die Bewegung von NOx-Werten.
Herr Kollege – –
Ich sage meinen letzten Satz; das darf ich noch machen.
Ich wollte Sie fragen, ob Sie eine Frage zulassen.
Nein.
({0})
Wenn Sie das tun, dann werden Sie feststellen, dass die Werte in allen Ballungsgebieten während des Shutdowns ungefähr um 50 Prozent abgesunken sind. Übrigens, auf der Karte, die da abgebildet ist, sehen Sie auch Stuttgart, und Sie sehen die gleichen Absenkungen.
({1})
Danke schön, Arno Klare. – Ich muss Sie schon fragen dürfen, ob Sie eine Frage zulassen.
({0})
– Ja, gut. Sie haben sie ja eh nicht zugelassen. – Vielen Dank.
Nächster Redner: für die Fraktion Die Linke Ralph Lenkert.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Ich glaubte, jedes Argument zu Stickoxiden und zum Dieselskandal sei ausgetauscht. Ich habe mich geirrt.
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AfD und FDP haben dank Coronakrise etwas Neues entdeckt: Dieselfahrverbote sind sinnlos; denn bei 40 Prozent weniger Verkehr 2020 sank in Stuttgart die NOx-Belastung eben nicht – obwohl weniger Verkehr war. Die Diesel stehen nach Ihrer Meinung umsonst am Pranger, und Herr Scheuer bläst in das gleiche Horn.
Leider vergaß die AfD, das Wetter zu berücksichtigen.
({1})
Und das Ministerium hat das anscheinend nicht gemerkt; das ist schon blamabel.
({2})
Jetzt fordert die AfD wissenschaftliche Untersuchungen über den Zusammenhang zwischen Stickoxidausstoß und Schadstoffbelastung der Luft. Da frage ich mich, wie Sie Ihre Unterlagen lesen. Im Mai gab es die Leibniz-Wochen. Da hat das Leibniz-Institut für Troposphärenforschung in Leipzig eine Studie mit Berechnungsprogramm, über Jahre erstellt, vorgestellt und gezeigt, welche Auswirkungen in Prozent die einzelnen Bereiche auf die Schadstoffbelastung der Luft haben und wie die Hintergrundbelastung entsteht. Sie hätten sich die Kollegen des Leibniz-Instituts einladen können.
({3})
Das haben Sie scheinbar nicht gemacht; denn mit der Wissenschaft haben Sie es ja doch nicht so am Hut.
Für die Zuschauerinnen und Zuschauer: In Stuttgart herrschten 2019 normale Wetterbedingungen. 2020 herrschte Inversionswetterlage, und es war kälter. Damit ist es logisch, dass die Belastung mit Stickoxiden aus anderen Bereichen höher war. Hätte aber der Verkehr nicht abgenommen, hätten wir im März 2020 deutlich höhere Stickoxidwerte gehabt – mit Schäden für unsere Gesundheit.
Im Übrigen: Die Messwerte aus Hessen und die Messwerte aus Hamburg, die diese Absenkung während der Coronaeinschränkungen zeigen, blenden Sie mal schnell aus, weil sie Ihnen nicht in den Kram passen. Das ist einfach peinlich.
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Liebe Dieselfahrerinnen und Dieselfahrer, dass Sie unter Fahrverboten leiden, haben die betrügerischen Autobosse verursacht, die Ihnen schlechte Pkws untergejubelt haben. Das ist die Ursache.
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Herr Lenkert, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung von Herrn Bernhard?
Wenn es denn unbedingt sein muss.
Sie sollen es entscheiden.
Ja.
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Danke, Herr Lenkert, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Aber ich habe noch eine Frage. Wir reden ja nicht über Momentaufnahmen von Wetterlagen. Wir haben die Situation, dass der Shutdown über sechs Wochen angedauert hat. Sie wollen doch jetzt nicht ernsthaft erzählen, dass das Wetter sechs Wochen lang dafür gesorgt hat, dass trotz bis zu 70 Prozent weniger Verkehr überhaupt keine Veränderung der Stickstoffdioxidwerte stattgefunden hat.
Im Übrigen möchte ich noch darauf hinweisen: Sie haben gerade eben noch dankenswerterweise gesagt, in Hessen seien die Werte gesunken. Wenn ich mir die Datei genau anschaue: In Offenbach am Main sind im Vergleichszeitraum die Werte für Stickstoffdioxid um 17 Prozent gestiegen. Was sagen Sie dazu? Also scheinen die Werte in Hessen doch nicht so gut zu sein.
Ja, Herr Kollege, zu Hessen gehören auch Kassel
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und Nordhessen. Das kann man durchaus berücksichtigen.
Ich komme noch mal auf das Programm zu sprechen, das vom Troposphäreninstitut nördlich von Leipzig seit Jahren getestet wird. Es gibt mehrere Messstationen im Ort und außerhalb des Ortes, die rund um die Uhr die Schadstoffe messen und natürlich auch die Wetterdaten festhalten. Sie erfassen also genau das, was Sie wissenschaftlich untersuchen lassen wollen, nämlich: Welchen Einfluss hat das Wetter? Welchen Einfluss hat Sahara-Staub? Welchen Einfluss hat eine Inversionswetterlage? Welchen Einfluss hat Nieselregen?
2019 gab es im Vergleichszeitraum mehr Niederschläge als 2020. Eine Wetterlage kann auch über sechs oder acht Wochen stabil sein – ich weiß nicht, ob Sie den Sommer 2018 mitbekommen haben –; das heißt, sie kann auch über längere Zeiträume stabil sein. In Stuttgart – das hat Ihnen der Kollege gerade aufgezeigt – gab es unterschiedliche Werte. Auch das blenden Sie aus. Wenn Sie eine Forderung nach Wissenschaft stellen und vorher vorhandene Wissenschaft ausblenden, dann geht es Ihnen nicht um Wissenschaft, dann geht es Ihnen einfach nur darum, zu skandalisieren und nichts zu machen.
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Ich komme zu den Dieselfahrerinnen und Dieselfahrern zurück, die unter dem Betrug der Autokonzerne leiden. Ja, sie haben einen Wertverlust erlitten. Ja, sie leiden unter Fahrverboten. Das ist bitter, und dafür muss jemand zahlen. Und da fordert Die Linke, dass die Verursacher zur Kasse gebeten werden.
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Die Bosse der Autokonzerne haben zu zahlen für den Wertverlust ihrer Pkws. Sie haben zu zahlen für die Zusatzkosten an Tankstellen, weil ihre Pkws mehr verbrauchen als angegeben; auch das ist Betrug. Und sie haben zu zahlen an die Kommunen, damit diese eben ohne Fahrverbote die Grenzwerte einhalten können,
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nämlich durch eine Modernisierung des öffentlichen Personennahverkehrs, durch kostenlose Tickets für Bus und Bahn, wenn die Grenzwerte überschritten werden. Das muss zulasten der betrügerischen Konzerne gehen.
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Belästigen Sie uns also nicht mit solchen Schwachsinnsanträgen, die uns die Zeit für die wirklich wichtigen Sachen, die wir besprechen sollten, rauben. Ich muss Ihren Antrag ablehnen. Ich hätte hier an diesem Pult lieber darüber gesprochen, wie wir den Infektionsschutz verbessern, damit unsere Schulen und Kindergärten trotz Corona wieder öffnen können, wie wir ein Konjunkturpaket erstellen, –
Das führen Sie jetzt nicht mehr aus. Sie sind schon über der Zeit.
– das dem Klima dient.
Vielen Dank.
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Danke, Ralph Lenkert. – Nächster Redner: für Bündnis 90/Die Grünen Oliver Krischer.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was haben wir hier nicht alles schon zum Thema „Diesel und Stickoxide“ gehört! Ich erinnere nur mal an einen Lungenarzt Köhler
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– vielleicht erinnern sich noch einige an den –, der irgendwie auch ein paar Kollegen gefunden und uns erzählt hatte: „Stickoxid ist überhaupt nicht gesundheitsgefährlich“, bis Malte Kreutzfeldt von der „taz“, dem übrigens dafür Dank gebührt, nachgerechnet hat, dass der Mann sich einfach mal um ein paar Faktoren verrechnet hat.
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Dann gab es die Debatte um die falsch platzierten Messstationen. Angeblich messen die alle falsch. Sogar der Verkehrsminister, der sich dahinten in der letzten Reihe rumlümmelt,
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hat sofort gesagt: Das muss untersucht werden. Da muss nachgeguckt werden. – Am Ende ist alles zu Staub zerfallen. Die ganzen Versuche, mithilfe angeblich falscher Messungen das Problem des Stickoxids kleinzureden, sind gescheitert.
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Die Kritik ist zerfallen zu Staub, meine Damen und Herren. Das muss man hier an der Stelle mal klar sagen.
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Und jetzt kommt Frau Skudelny und fügt dem Ganzen etwas Neues hinzu. Ich habe ja gerade die interessante Aussage gehört: Wetter macht Stickoxide. – Ja, das ist ja mal an der Stelle ganz neu, dass Wetter die Schadstoffkonzentrationen beeinflusst. Das ist nun wirklich keine neue Erkenntnis. Wer mal auf die Homepages der Landesumweltämter und des Umweltbundesamtes guckt, der sieht an der Stelle glasklar:
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Es gibt einen Zusammenhang zwischen Corona-Shutdown, Verkehrsaufkommen und Stickoxidkonzentration. Die Kollegen haben das gerade in aller Klarheit ausgeführt.
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Dass wir im Jahr 2020 überhaupt noch über dieses Thema reden müssen, hat eine ganz klare Ursache.
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Eigentlich hätte das vor zehn Jahren schon vorbei sein müssen. Seitdem gilt der europäische Grenzwert, und dass er nach wie vor nicht eingehalten wird, hat eine Ursache: weil die Bundesregierung zugeguckt hat, wie eine ganze Industrie getrickst und betrogen hat und damit dafür gesorgt hat, dass Fahrzeuge zwar auf dem Prüfstand, aber nicht auf der Straße die Grenzwerte einhalten und damit an der Stelle das Problem verursacht haben. Und das muss in der Debatte hier auch klipp und klar gesagt werden.
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Dass wir heute eine langfristige Besserung der Situation haben, das hat nichts mit Herrn Scheuer und der Bundesregierung zu tun, rein gar nichts.
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Die haben in den letzten fünf Jahren seit dem Abgasskandal zu dem Thema überhaupt nichts unternommen, meine Damen und Herren; im Gegenteil. Ich sage das hier in aller Klarheit:
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Herr Scheuer und sein Vorgänger, Herr Dobrindt, waren Schutzpatron der Trickser und Betrüger – die ganze Zeit über, um das in aller Klarheit zu sagen.
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Dass wir heute eine Verbesserung haben, das liegt allein daran, dass Institutionen wie die Deutsche Umwelthilfe, dass Länder und Kommunen jetzt Maßnahmen verwirklichen. Gucken Sie an der Stelle mal nach Köln, wo man sich gestern darauf verständigt hat, etwas für bessere Luft zu unternehmen, und plötzlich finden das in Köln alle gut.
Das sind wichtige Maßnahmen, die wir schon seit langen Jahren hätten machen können, die schon seit langen Jahren hätten von der Bundesregierung durchgesetzt werden können. Da ist nichts gekommen. Der jetzt neuerlich unternommene Versuch, Corona als Ausrede zu benutzen, nichts für bessere Luft in Städten zu machen, ist unredlich, meine Damen und Herren.
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Vielen Dank, Oliver Krischer. – Ich will sagen, dass Minister Scheuer nicht in der letzten Reihe herumlümmelt, sondern sich coronabedingt – –
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– Ich bin jetzt dran, und jetzt ist Ruhe. – Vielmehr sitzt er da, weil sich die Bundesregierung coronabedingt bei den Plätzen aufgeteilt hat. Das wollte ich jetzt mal sagen. – Da wundern Sie sich, dass ich das jetzt sage.
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Nächster Redner in der Debatte: Florian Oßner für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielen Dank, dass Sie das mit unserem Bundesminister Andreas Scheuer klargestellt haben; sonst hätte ich das jetzt machen müssen. Mir tut es auch leid, dass mein Vorredner Oliver Krischer im Endeffekt seinem Spitznamen „Kreischer“ wirklich mehr als gerecht geworden ist.
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Völlig sachgrundlose Anschuldigungen zu machen, ist am Ende in einer Debatte auch nicht zielführend.
Der Antrag der AfD beweist abermals, dass der AfD leider schlichtweg die Ideen langsam ausgehen. Da ist es so, dass tatsächlich immer wieder die gleichen Themen gespielt werden, und es ist wirklich mittlerweile ein Stück weit schade um die kostbare Zeit hier im Plenum.
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Ich selber muss jetzt wirklich nicht wiederholen – wir haben ja schon vielmals an diesem Ort darüber diskutiert –, dass ich nicht ein ausgesprochener Dieselgegner bin. Die hochsauberen und effizienten neuen Verbrenner leisten ja in der Tat einen wesentlichen Beitrag zur CO2-Einsparung. Auch die Deutsche Umwelthilfe braucht sicherlich keine öffentlichen Gelder. Dennoch wäre es wesentlich zielführender, wenn Sie als AfD sich mit den Zukunftsthemen der Mobilität in Deutschland beschäftigten und nicht mit den ewiggestrigen Fragen.
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Was für die AfD der Diesel ist, ist für die Grünen – man hat es ja gerade gehört – das Elektrofahrzeug. Dazwischen passen nach deren Ideologie tatsächlich keine Alternativen. So kann man die nunmehr jahrelang andauernde politische Diskussion kurz zusammenfassen.
Wir als CDU/CSU hingegen stehen für Technologiefreiheit, moderne schadstoffarme Diesel, batteriebetriebene Elektromobilität, synthetische Kraftstoffe und Wasserstofffahrzeuge mit Brennstoffzellen neben Bus, Bahn und Flugzeug. Alle, wirklich alle haben für uns ihre klare Daseinsberechtigung. Damit vereinen wir Ökonomie und Ökologie, ohne sie gegeneinander auszuspielen.
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Dies zeigt sich auch in unseren Projekten und Initiativen, die wir in den letzten Jahren durchgesetzt haben. Besonders freut mich die Nachricht der vergangenen Woche, dass ein großer Schwerpunkt im Konjunkturpaket bei der Nationalen Wasserstoffstrategie liegt. 7 Milliarden Euro sind hier für die Förderung von Wasserstofftechnologien vorgesehen, sowie weitere 2 Milliarden Euro für internationale Partnerschaften. Dafür gebührt ein herzliches Dankeschön den zuständigen Ministern Andi Scheuer, Peter Altmaier und natürlich auch Gerd Müller.
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Mit der Nationalen Wasserstoffstrategie, bei der jetzt auch meine Heimatregion Landshut-Kelheim profitiert, fördern wir nicht nur zeitgleich unseren Klimaschutz, sondern auch unsere Wirtschaftsleistung. Wir leisten durch die Produktion von Grünem Wasserstoff, zum Beispiel in Nordafrika, einen enormen Beitrag zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit und Entwicklung. Ein wichtiger weiterer Baustein auf dem Weg hin zu einer sauberen Mobilität ist auch die Förderung von synthetischen Kraftstoffen.
Abschließend: Für uns als CDU/CSU ist klar: Um unseren Wohlstand in Deutschland zu erhalten, müssen wir in mehreren Mobilitätsdisziplinen Weltmeister werden, in der Elektromobilität, bei synthetischen Kraftstoffen und beim Wasserstoff.
Herzliches „Vergelts Gott!“ fürs Zuhören.
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Danke schön, Florian Oßner. – Ich will Ihnen ankündigen: Ich bin jetzt etwas strenger, was die Nichtzulassung von Zwischenfragen angeht, weil wir unglaublich viel Verspätung haben und jetzt bei 23.45 Uhr für das Ende der Tagesordnung sind. Ich hoffe, Sie verstehen das. Also, es wird jetzt strikter darauf geachtet.
Aber Ulli Nissen – das ist die nächste Rednerin – hält sich an die Redezeit. – Ulli Nissen für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die SPD nimmt den Gesundheitsschutz der Menschen sehr ernst. Das fordern die SDGs, die Nachhaltigkeitsziele 2030, die wir erreichen wollen. Saubere Luft und weniger Lärm sind mir persönlich auch sehr wichtig. Ich bin schon seit 2009 in meinem Frankfurter Wahlkreis elektromobil unterwegs.
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Fahrverbote sind nur das letzte Mittel, um die Luft sauberer zu machen. Für 2019 gibt es gute Nachrichten: Die Luftqualität hat sich deutlich verbessert. Die Anzahl der Städte, in denen der Grenzwert für den Stickoxidausstoß überschritten wurde, hat sich im Vergleich zum Vorjahr mehr als halbiert. Dies zeigt: Die Maßnahmen von Bund, Ländern und Kommunen wirken.
Dies ist vor allem dem Programm „Saubere Luft“ zu verdanken, mit dem wir 1,5 Milliarden Euro in die Hand genommen haben, um die Luftqualität zu verbessern. Teile des Programms waren unter anderem die Nachrüstung von Dieselbussen im ÖPNV, die Elektrifizierung von Taxis, Mietwagen und Carsharing-Fahrzeugen, die Schaffung einer Elektroladeinfrastruktur und die Digitalisierung kommunaler Verkehrssysteme.
Hinzu kommt das Klimaschutzprogramm der Bundesregierung. Hier ist die Elektromobilität ein zentraler Teil. Die zehnjährige Befreiung reiner Elektrofahrzeuge von der Kfz-Steuer wird bis Ende 2030 verlängert.
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Der Umweltbonus für den Kauf von E-Fahrzeugen ist auf bis zu 6 000 Euro erhöht worden.
Aber: Wir geben nicht nur Geld, wir nehmen es auch. 20 Prozent der neu zugelassenen Fahrzeuge entfallen auf Geländewagen, die SUVs, die in einer Großstadt normalerweise keinen Sinn machen. Viele von denen stoßen mehr als 200 Gramm CO2 je Kilometer aus. Mit einer extra angepassten Kfz-Steuer werden Neuwagen, die den EU-Grenzwert überschreiten, jetzt finanziell schlechtergestellt. Wir erhoffen uns davon eine Lenkungswirkung, sodass künftig Verbraucherinnen und Verbraucher zu sparsamen Autos greifen.
Inzwischen hat sich die rot-schwarze Bundesregierung auf ein Konjunkturprogramm mit Wumms geeinigt, das sich auch klimapolitisch sehen lassen kann. Zig Milliarden Euro werden wir für die Umrüstung der Flotten, den weiteren wichtigen Ausbau einer Ladeinfrastruktur, die Förderung der Deutschen Bahn und des ÖPNVs und in die schon angesprochene neue Wasserstoffstrategie investieren, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Eine langfristige und dauerhafte Verbesserung der Luftqualität zugunsten des Schutzes der menschlichen Gesundheit kann nur mit gezielter Luftreinhaltepolitik erreicht werden. Dazu gehört auch, dass deutlich mehr ältere Dieselfahrzeuge nachgerüstet werden, um den Stickoxidausstoß zu senken. Dann wären sie auch nicht vom Fahrverbot betroffen, liebe Kollegen von der AfD. Also, werte Kollegen von der AfD: Statt Aufheben von Fahrverboten Fahrzeuge nachrüsten! Die Gesundheit der Menschen hat Vorrang.
Darüber hinaus kann ich mir persönlich auch gut ein Tempolimit von 130 auf Autobahnen vorstellen. Das spart nicht nur Kraftstoff und CO2-Ausstoß, sondern macht auch das Fahren viel entspannter, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Ulli Nissen. – Der letzte Redner in dieser Debatte: Oliver Grundmann für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Ende einer solchen Debatte hat man ja auch immer die Möglichkeit, die Argumente ein Stück weit zu wägen und einzuordnen.
Erst einmal zum Antragsteller, der AfD. Ihr letzter Antrag zur Klima- und Energiepolitik war ein ganz schlimmes Kauderwelsch. Das hatten wir hier in der entsprechenden Debatte auch diskutiert. Das war eine echte Zumutung. Aber diesmal ist es zumindest schon mal eine Weiterentwicklung, handwerklich aber immer noch stümperhaft mit einer verdrehten Argumentation
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und auch vollkommen falschen Schwerpunkten. Aber das hat mein Kollege Felix Schreiner ja schon hinreichend dargestellt.
Von Ihnen kommt hier im Plenum bzw. auch an anderen Orten immer wieder diese Schwarzmalerei – auch von Ihnen, Herr Bernhard. Mit Ihrer ständigen Panikmache verunsichern Sie die Menschen da draußen – zum einen diejenigen, die vielleicht ein Auto – auch ein Dieselfahrzeug – kaufen wollen, und zum anderen diejenigen, die da draußen, wie viele von uns auch, mit Dieselfahrzeugen auf den Straßen unterwegs sind. Damit erweisen Sie eben auch den Autobauern einen Bärendienst, und damit sind Sie im Grunde keinen Deut besser als Oliver Krischer, der hier eben gerade gesprochen hat, die Grünen allgemein oder die Linken, die den falschen Propheten der Deutschen Umwelthilfe hinterherlaufen.
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Es gibt manchmal aber auch Gute und Vernünftige – das ist teilweise verwunderlich – aus einem Bereich, aus dem man das gar nicht erwarten würde, nämlich aus der Linkspartei. Ich hätte es jedenfalls niemals für möglich gehalten, dass Ihre Linksfraktionskollegin Sahra Wagenknecht mir aus der Seele sprechen würde.
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Im März hat sie nämlich ein großes Interview gegeben und eine Bresche für den ländlichen Raum geschlagen, für die Menschen, die dort auf Autos angewiesen sind. Sie sagte, es sei total abwegig, auf den Bus umzusteigen, der vielleicht nur zweimal am Tag fährt – oder eben vielleicht auch überhaupt nicht.
Wie kam es denn zu solch einer Einsicht? Sie ist aus dem urbanen Berlin in die Fläche von Brandenburg gezogen. Willkommen im ländlichen Raum! Willkommen in der Realität, in der ich lebe, in der Realität von Flächenwahlkreisen, aus denen viele Bundestagsabgeordnete kommen, in der Realität von 40 Millionen Deutschen! 90 Prozent unseres Raumes sind ländlicher Raum.
Ich habe es ehrlicherweise satt, mir hier von Großstädtern und irgendwelchen Umweltlobbyisten permanent etwas vorschreiben oder mich bzw. uns in irgendwelche Ecken stellen zu lassen.
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Wenn ich höre, dass an den immer noch erhöhten Werten während des Shutdowns jetzt auch noch die Landwirte schuld sein sollen – so, wie die Landwirte ja auch an der Coronakrise schuld sein sollen; das hat ja Frau Künast in den letzten Tagen im Parlament gesagt –, dann muss ich sagen: Irgendwann ist auch mal Schluss. So eine unerträgliche Diskussion können wir hier nicht gebrauchen.
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Das ist ein gutes Stichwort; mit Ihrer Redezeit ist auch Schluss.
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Vor dem Hintergrund: Wenn fundierte Erkenntnisse auf dem Tisch liegen, dann werden wir sie hier auch weiter diskutieren, und dann müssen auch entsprechende Schritte erfolgen. Dafür steht jedenfalls die Union.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Oliver Grundmann. – Damit schließe ich die Aussprache.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben mit dem Gebäudeenergiegesetz die Aufgabe, die Herausforderung, alle bestehenden Regeln im Energieeinsparrecht für Gebäude zusammenzufassen, zu vereinheitlichen, zu vereinfachen und den Vollzug und die Anwendung zu erleichtern, aber dennoch die aktuellen energetischen Standards für Gebäude beim Neubau und bei einer Sanierung beizubehalten und nicht zu verschärfen. Ich glaube, alles in allem ist uns das gelungen.
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Es ist uns auch gelungen, im parlamentarischen Verfahren, in der Beratung, einige Verbesserungen zu erreichen. Auf einige gehe ich mal ein:
Erstens. Wir haben dafür gesorgt, dass es kein Monopol der Verbraucherzentralen bei der kostenlosen Energieberatung und stattdessen eine allgemeine Verpflichtung gibt, sich mit einem vertretbaren Aufwand um eine kostenlose Beratung zu bemühen.
Zweitens. Wir haben dafür gesorgt, dass die Speichertechnologien besser in den Fokus genommen und auch besser angerechnet werden können.
Drittens. Die Innovationsklausel wurde deutlich verbessert und offener gestaltet. Die beiden Ministerien haben sich da ein bisschen schwergetan. Wir als Abgeordnete mussten da ein bisschen nachhelfen,
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aber ich glaube, das ist uns am Ende des Tages auch gelungen.
Viertens. Auch über die Biomasse haben wir viel gesprochen; meine Kollegen werden darauf noch eingehen. Sie ist wesentlich besser berücksichtigt und in den Fokus genommen worden.
Von daher kann man sagen: Das Gesetz, das GEG, ist gelungen.
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Jetzt müsste ich sagen: Wenn da nicht noch zwei Punkte wären, auf die ich auch noch eingehen möchte. Sie sind für mich besonders wichtig. Es geht nämlich um zwei Zusätze – zum einen um die Abstandsregelungen für Windkraftanlagen und zum anderen um den 52-GW-PV-Deckel.
Erstens. Wir haben jetzt im Baugesetzbuch geregelt, dass die Länder die Möglichkeit haben, Abstandsregelungen für Windkraftanlagen – es geht um den Abstand zwischen den Windkraftanlagen und der Wohnbebauung – festzulegen. Der Gesetzentwurf sieht eine Regelung vor, die einen Mindestabstand von 1 000 Metern festlegt.
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Das haben wir immer gefordert.
Ich glaube aber, wir haben die Chance verpasst, die Regionen, die stark durch Windenergieanlagen belastet sind, zu befrieden. Wir brauchen die Akzeptanz für den Umbau der Energieversorgung auf Erneuerbare. Ich glaube, hier haben wir eine große Chance verpasst; denn wenn es die Länder nicht richtig machen, dann droht aus einer Mindestabstandsregelung eine Höchstabstandsregelung zu werden. Es bleibt zu hoffen, dass die Länder die Regelung jetzt so treffen, wie es in ihren Koalitionsverträgen steht – wie zum Beispiel in Brandenburg –, sodass verhindert wird, dass 250 Meter hohe Anlagen in der unmittelbaren Nähe von Wohnungen gebaut werden.
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Die Länder selbst wollten diese Regelung und keine bundeseinheitliche Regelung. Ich hoffe, dass das am Ende auch zugunsten der Menschen umgesetzt wird.
Zweitens. Die Änderung zum 52-GW-PV-Deckel ist natürlich generell zu begrüßen. Wir haben oft darüber gesprochen. Aber gut gedacht ist nicht immer gut gemacht.
Ich hätte mir gewünscht, dass wir die Anlagen aus dem Förderbereich des EEG herausnehmen und stattdessen etwas machen, was sich immer bewährt hat. Zum Beispiel hätten wir in Bezug auf diese Anlagen für Marktanreizprogramme sorgen und an Stromspeicher, also Batterien, denken können. Außerdem hätten wir den Eigenverbrauch und dezentrale Lösungen fördern können. Stattdessen nutzen wir wieder die Komfortzone des EEG.
Das wird ein Kostentreiber bleiben und zu negativen Strompreisen führen. Deswegen haben wir eine große Chance für Innovationen und deutsches Know-how vertan.
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Ich hoffe, dass es bei der EEG-Novelle besser wird, allerdings bin ich da ein bisschen skeptisch.
Trotzdem vielen Dank.
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Vielen Dank, Jens Koeppen. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Marc Bernhard.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen! Allein durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz werden die Verbraucher jährlich mit 27 Milliarden Euro belastet. Eine vierköpfige Familie wird für die Energiewende bis zum Jahr 2025 über 25 000 Euro bezahlt haben, und mit der Einführung Ihrer CO2-Steuer zahlt diese vierköpfige Familie ab nächstem Jahr noch mal zusätzlich 1 000 Euro pro Jahr. Bis 2026 wird dieser Betrag auf über 2 600 Euro steigen.
Wir haben die höchste Steuerbelastung aller Zeiten und befinden uns mitten in der Shutdown-Krise. Anstatt jetzt endlich die Reißleine zu ziehen und die Bürger zu entlasten, wollen Sie hier ein Gesetz erlassen, das unmittelbar zu einer weiteren Verteuerung des Wohnens führt.
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Bereits die jetzigen Auflagen der Energieeinsparverordnung gehörten zu den Hauptfaktoren der massiven Mietsteigerungen der letzten Jahre.
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Ihr Klimapaket, zu dem auch dieses Gesetz gehört, wird das Wohnen in Deutschland – Sie können noch so schreien, es ist wahr –
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um weitere 14 Milliarden Euro pro Jahr verteuern. Der Mieterbund rechnet dadurch mit einer Kostensteigerung von durchschnittlich 200 Euro pro Monat für jeden Haushalt.
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Aber damit nicht genug: Die Menschen in Deutschland leiden laut Eurostat unter den höchsten Strompreisen Europas. Diese werden mit jeder weiteren Wind- oder Solaranlage zwangsläufig immer weiter steigen.
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Allein der erste Tag, an dem mehr instabile Energie als konventionelle Energie in das deutsche Stromnetz eingespeist wurde, hat die Menschen 23 Millionen Euro gekostet: 18 Millionen Euro dafür, die konventionellen Kraftwerke zu drosseln; die restlichen 5 Millionen Euro mussten wir an unsere Nachbarländer bezahlen, damit sie uns den überschüssigen Strom abgenommen haben, weil sonst bei uns das Stromnetz zusammengebrochen wäre.
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Während also unsere glücklichen Nachbarn auf unsere Kosten fröhlich Stromeinkaufstage feiern, können sich viele Menschen in Deutschland den Strom nicht mehr leisten, sodass jedes Jahr 350 000 Haushalten der Strom abgestellt wird. Tatsächlich zahlen die Menschen inzwischen die Hälfte ihrer Stromrechnung nur für Ihre vermurkste Energiewende.
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Durch die hier geplante Abschaffung des 52-Gigawatt-Deckels bei der Solarenergie werden die Strompreise noch weiter in die Höhe schießen.
Durch den weiteren Ausbau instabilen Wind- und Solarstroms setzen Sie die Energiesicherheit Deutschlands aufs Spiel.
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Allein 2018 waren 7 000 Netzeingriffe notwendig, um großflächige tagelange Blackouts zu verhindern. Mit Ihrem Maximalabstand von höchstens 1 000 Metern zwischen Windindustrieanlagen und dem nächsten Wohnhaus stellen Sie Ihren energiepolitischen Irrweg über das Wohl und die Gesundheit der Menschen,
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indem Sie gesundheitliche Risiken wie Infraschall und Lärmbelästigung einfach ignorieren. Der von Ihnen heute hier vorliegende Gesetzentwurf vernichtet die Energiesicherheit, gefährdet die Gesundheit, zockt die Bürger weiter ab und ist damit ein weiterer Sargnagel für den sozialen Frieden in Deutschland.
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Danke schön. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Timon Gremmels.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Gebäudeenergiegesetz wächst das zusammen, was im Gebäudebereich zusammengehört: zum einen die Energieeffizienz und zum anderen die Energieversorgung. Das ist ein guter Tag für Deutschland, dass wir das heute auf den Weg bringen.
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Es ist ein guter Gesetzentwurf, den wir im parlamentarischen Verfahren als Koalitionsfraktionen noch besser gemacht haben. Wir haben einen Einstieg geschafft, und zwar: Erneuerbare Energien werden mit diesem Gebäudeenergiegesetz im Gebäudebereich spürbar verbessert. Wir haben Solarenergie auf den Mehrfamilienhäusern mit Speichern deutlich verbessert. Wir haben den Einsatz von Biogas und Biomethan deutlich verbessert. Wir haben sichergestellt, dass Abwärmenutzung aus Abwässern mit aufgenommen wird. Wir haben sichergestellt, dass auch Kohleöfen analog den Ölheizungen auslaufen, dass die nicht weiter gefördert werden und dass die künftig auch verboten werden. Auch Kohlekessel müssen analog den Ölheizungen ein Ende finden, meine sehr verehrten Damen und Herren. Und wir haben noch die Innovationen spürbar vorangebracht. Die Innovationsklausel haben wir geöffnet für Wasserstoff, für synthetische Brennstoffe und für die graue Energie, also die Energiebilanz der Baumaterialien. All das haben wir im Gebäudeenergiegesetz verankert.
({1})
Das ist ein zukunftsfähiges, fortschrittliches Gebäudeenergiegesetz. Ich danke allen meinen Kollegen: Klaus Mindrup, Andreas Rimkus, Matthias Miersch, Johann Saathoff und allen anderen, die daran mitgearbeitet haben, auch dem Koalitionspartner. Es waren sehr produktive Gespräche.
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Herr Kollege, erlauben Sie eine kurze Zwischenfrage oder Kommentierung von der FDP?
Nein. – Das andere, was wir mit diesem Gesetz auf den Weg gebracht haben, ist etwas, wofür wir auch lange gekämpft haben: nämlich die Abschaffung des Solardeckels. Ist es nicht eine gewisse Ironie der Geschichte, lieber Peter Altmaier, dass wir das, was Sie 2012 als Umweltminister als großen Erfolg gefeiert haben, ausgerechnet an Ihrem heutigen Geburtstag abschaffen und beerdigen? Herr Altmaier, das ist eine Ironie der Geschichte.
({0})
Es tut uns aber auch nicht leid; denn eigentlich können wir als Sozialdemokraten Ihnen kein größeres Geschenk an Ihrem Geburtstag machen: als Wirtschafts- und Energieminister etwas zu lockern, etwas abzuschaffen und dadurch neue Impulse in der Energiewende zu setzen; nämlich die Solarenergie, die eine Riesenzukunft hat, die ein Riesenpotenzial hat, zukunftsfähiger zu machen. Mit der Abschaffung des PV-Deckels, des 52-Gigawatt-Deckels, wird es einen neuen Wachstumsmotor für die Solarenergie geben, Herr Altmaier, und ein schöneres Geschenk konnten wir Ihnen gar nicht machen.
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Es wird neue Arbeitsplätze geben; es wird die regionale Wertschöpfung stärken; es wird neue zahlreiche Strommengen geben, die aus diesem Bereich kommen. Das ist ein guter Tag für die erneuerbaren Energien, und das ist unser Geschenk für Sie, Herr Altmaier. Ich freue mich, dass Sie es so dankbar annehmen.
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Aber wir dürfen uns in diesem Bereich auch nicht ausruhen. Im Bereich der erneuerbaren Energien gibt es gerade auch bei der Photovoltaik noch viel zu tun. Wir brauchen eine schnelle Regelung für die Post-EEG-Anlagen, für Anlagen also, die demnächst aus der Förderung durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz herausfallen. Ich sage: Die haben auch ihr Geld verdient. Aber wir dürfen nicht zulassen, dass ab 1. April nächsten Jahres diese Anlagen zurückgebaut werden, obwohl sie nach der Förderung noch guten Strom für Deutschland liefern. Wir brauchen hier eine schnelle Regelung. Wir dürfen nicht wieder wie beim letzten Mal beim EEG es zulassen, dass wir erst in der letzten Minute eine Regelung hinbekommen. Herr Altmaier, das ist die erste Aufgabe, die wir im PV-Bereich noch kurzfristig haben.
Wir haben eine zweite Aufgabe kurzfristig im Bereich Photovoltaik anzugehen, nämlich endlich ein Mieterstromgesetz zu beschließen, das den Namen auch verdient.
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Dafür gibt es ja schon fertige Entwürfe in den Schubladen, die Sie einfach nur rausnehmen und umsetzen müssen. Das wäre ein zweiter Baustein, der den Bereich der Solarenergie voranbringt.
Abschließend möchte ich einen dritten Baustein, meine sehr verehrten Damen und Herren, noch nennen: Wir wollen die Solarpflicht für Neubauten aufnehmen. Wir wollen, dass wir an dieser Stelle auch für Neubauten vorschreiben, dass es eine Solarpflicht gibt.
Mit diesen drei Dingen werden wir uns im Zuge der EEG-Novellierung beschäftigen. Sie sehen: Heute feiern wir, und morgen packen wir es an; denn die Energiewende braucht die Sozialdemokratie. In diesem Sinne: Glück auf!
Schönen Abend!
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Vielen Dank, Timon Gremmels. – Peter Altmaier, dann möchte ich im Namen des ganzen Hauses Ihnen herzlich zu Ihrem Geburtstag gratulieren. Herr Gremmels hat ja gesagt: Das schönste Geschenk ist das Gesetz. – Sonst hätte ich jetzt was gesungen.
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Aber da ja das schönste Geschenk schon das Gesetz ist, bekommen Sie dann zu Ihrem runden Geburtstag ein Ständchen. Alles Gute, Herr Altmaier, im Namen des ganzen Hauses.
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Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Hagen Reinhold.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Ich begrüße Ihre Entscheidung und fahre mit dem GEG fort.
Hey, ich kann gut singen; also, so ist es nicht.
Das weiß ich. Ob das Herrn Altmaier gefreut hätte?
Ja, das ist die andere Frage. – Gut, wir fangen noch mal an. Nächster Redner: für die FDP Hagen Reinhold.
Im GEG gab es zwei Sachen miteinander zu verbinden, und das musste geschafft werden. Das eine ist: Wir brauchen natürlich ein behagliches Wohnklima in neuen Gebäuden, keine Frage. Und wir brauchen weder für Mieter noch für Selbstnutzer die Überforderung bei Nebenkosten. So weit, so richtig. Und wir müssen uns darum kümmern, dass wir das Klima retten. Diese beiden Sachen waren zu kombinieren; das ist nicht gerade gut gelungen. Warum nicht? Weil wir darauf achten müssen, dass wir niedrige Baukosten haben. Wir wollen ja niedrige Mieten in Deutschland; das haben Sie sich ja vorgenommen.
Damit Sie mich nicht missverstehen: Ich will anders als die Truppe da drüben keine zugigen Bretterbuden bauen, indem ich alles abschaffe. Wir brauchen Standards; keine Frage, das sollte so sein. Ich bin auch dafür, dass man Gesetze zusammenlegt, wenn dadurch entbürokratisiert wird. Das hat aber nicht funktioniert. Warum Sie sich aber so auf den Primärenergiebedarf stürzen und dabei Sachen völlig außer Acht lassen, verstehe ich nicht. Wenn CO2-Einsparung das Maß aller Dinge ist: Gebäudesektor rein in den CO2-Zertifikatehandel, jedes Jahr CO2-Zertifikate rausnehmen, und die CO2-Neutralität ist 2050 geschafft wie gewünscht.
({0})
Sache erledigt! Sie selber nehmen sich doch vor: Wasserstoffinitiative, viele andere Sachen, vielleicht zu Energieträgern zu kommen, die CO2-neutral sind. Warum schreiben Sie also an dieser Stelle den Leuten vor, wie viel Energie sie brauchen?
Ich sage Ihnen etwas: Wenn die Bürger in diesem Land losgehen und sagen: „Ich habe da so einen Schmerz im Bauch; das ist so ein Bauchgefühl: Warum muss ich eigentlich statt 10 Zentimeter 20 Zentimeter dämmen? Warum muss ich eine Lüftungsanlage einbauen?“, dann sind das keine Klimaleugner, sondern sie sagen: Das verbraucht doch alles CO2. Die Dämmung muss produziert werden; die ist aus Polystyrol. Da ist Rohöl drin, und bei der Produktion entsteht Methan. Die Leute von der Baufirma kommen mit einem Diesellaster an. Ich muss einen langen Plastedübel reinbohren; das hält aber nur 10 bis 15 Jahre. Spare ich in dieser Zeit überhaupt so viel CO2 ein oder nicht? – Die Beantwortung dieser Frage bleibt das Gesetz nämlich schuldig.
({1})
Deshalb ist es Schwachsinn, sich auf die Primärenergie zu stürzen; das ist nämlich das Ziel.
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Wenn die Zielgröße Klimaschutz ist, dann kann die Antwort darauf nur CO2-Minimierung sein.
Dieses Vorschreiben von zu verbrauchender Energie, wissen Sie, woran mich das immer erinnert? Das erinnert mich daran: Ich kaufe mir ein Auto, und der Hersteller sagt mir, wie viel Sprit ich verbrauche. Das hat noch nie funktioniert,
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bei mir zumindest nicht. Denn es gibt keinen Standardbürger in einem Standardhaus, der sein Standardzimmer auf eine Standardtemperatur heizt; das funktioniert nicht.
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Ich komme vom Bau; ich habe eine Baufirma. Ich war bei genug Neubautenwartungen und Umbauten dabei. Es gibt Millionen falsch eingestellter Heizungen. Die können noch so gut geplant und gebaut worden sein – wir haben nicht genug Wartungsingenieure, die die Heizungen warten; da haben wir ein riesengroßes Problem. Die Heizungen blasen nämlich – anders als Ihre Rechnung am Schreibtisch – ein Vielfaches an CO2 heraus, denn wir legen dem nicht Realwerte zugrunde, sondern rein rechnerische Werte; das ist doch Mist.
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Warum eigentlich eine Mindestanlagengröße? Das wäre genau so, als wenn Sie mir eine Mindestmützengröße für den Winter vorschreiben würden.
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„Schwachsinn!“, sage ich dazu.
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Ich würde mich freuen, wenn es nicht nur im Anschluss an dieses Gesetz und viele andere Gesetze, sondern auch nach Ihrer Regierungszeit noch ein Land gibt, in dem wir gut und gerne leben. Dem sind wir zumindest mit diesem Gesetz nicht ein Stück näher gekommen; es tut mir leid.
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Vielen Dank, Hagen Reinhold. – Nächster Redner: für die Fraktion Die Linke Lorenz Gösta Beutin.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit diesem Gebäudeenergiegesetz legt die Koalition leider den Grundstein für die Verfehlung der Klimaziele im Gebäudebereich, und das ist ein Problem. Sie setzen Standards für Gebäude, die vor zehn Jahren vielleicht die richtigen gewesen wären, aber bereits heute veraltet sind, auch auf EU-Ebene. Damit schaffen Sie als Koalition die Grundlage, dass mit diesen niedrigen Standards Gebäude, die heute gebaut werden, vielleicht in 10 oder 15 Jahren als Sanierungsfälle wieder aufs Neue saniert werden müssen; das wäre eine ökologische Katastrophe.
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Sie haben die Chance verpasst, die Coronakrise zu nutzen, um endlich bezahlbares Wohnen und Klimaschutz miteinander zu verbinden. Das wäre möglich, wenn man die Kosten für energetische Sanierung auf die Warmmietenneutralität begrenzen würde, wie es beispielsweise der Mieterbund fordert. Nein, wir müssen Schluss damit machen, dass Mieterinnen und Mieter mit dem Vorwand energetischer Sanierung aus ihren Wohnungen vertrieben werden und dass damit Immobilienkonzerne ihre Profite machen. Wir brauchen Investitionen, und wir brauchen keine Vertreibung von Mieterinnen und Mietern.
({1})
Die Dramatik ist, dass sich bei diesem Gebäudeenergiegesetz leider in vielen Punkten die Immobilienlobby durchgesetzt hat und dabei das Klima und die soziale Gerechtigkeit auf der Strecke geblieben sind. In diesem Sinne könnte man sagen: Besser hätten wir kein Gebäudeenergiegesetz als dieses schlechte Gebäudeenergiegesetz.
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Erfolgreich – das ist das Schlimme daran; davor haben wir schon in der letzten Sitzungswoche gewarnt – ist die Union beim Erpressen ihres Koalitionspartners SPD gewesen, und das ist eine Dramatik. Denn mit der Möglichkeit von 1 000 Metern Abstand bei Windkraftanlagen in den einzelnen Bundesländern schwächen Sie die Akzeptanz. Das hat das Beispiel des Bundeslandes Bayern gezeigt. Dort ist die Windkraftbranche, ist der Windkraftausbau fast völlig zum Erliegen gekommen, und genau das hätten Sie verhindern müssen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD.
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Statt immer absurderen würden die bestehenden Regelungen im Bundes-Immissionsschutzgesetz vollkommen ausreichen. Akzeptanz schafft man nicht mit Abständen bei Windkraftanlagen; Akzeptanz schafft man, indem man Kommunen, indem man Genossenschaften beteiligt und indem man die großen Energiekonzerne in die Schranken weist; das wäre der richtige Weg.
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Und ja, das ist der richtige Schritt: die Abschaffung des PV-Deckels; die ist längst überfällig. Das wird seit zwei Jahren von den Umweltverbänden und von der Solarbranche gefordert, und jetzt kommt es endlich. Aber es reicht nicht, um in Jubelstürme auszubrechen. Wir brauchen tatsächlich eine PV-Pflicht für Neubauten. Wir brauchen Gesetzesvorhaben, die den klimapolitischen Stillstand nicht zementieren, sondern wir müssen in diesen Punkten weitergehen.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank, Lorenz Gösta Beutin. – Nächster Redner: für Bündnis 90/Die Grünen Chris Kühn.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Herr Koeppen, jetzt einmal ganz im Ernst: Wenn Sie sich heute hierhinstellen und sich für dieses Gebäudeenergiegesetz loben, dass Sie dabei nicht rot werden!
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Fünf Jahre Eiertanz um dieses Gesetz. Die CDU blockiert ohne Ende. Ich glaube, das hat mehr mit Autosuggestion zu tun als mit dem realen Gehalt dessen, was Sie heute hier vorgelegt haben.
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Sie von der CDU feiern sich heute dafür ab, dass Sie den Solardeckel abräumen. Ich meine, Sie haben ihn erfunden; Herr Altmaier hat ihn eingeführt. Das ist doch absurd; das ist doch vollkommen absurd. Es hat im Übrigen auch nichts mit Klimaschutz zu tun, wenn Sie eine Hürde wegräumen, die Sie selber aufgestellt haben. Vorangebracht hat dies das Land auf gar keinen Fall, bei den erneuerbaren Energien gar nicht.
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Es hat Tausende von Arbeitsplätzen gekostet, die auf Ihr Konto gehen und auch ganz persönlich auf Ihr Konto, Herr Koeppen.
Bei der Windkraft tun Sie nichts anderes, als die Büchse der Pandora zu öffnen. 1 000 Meter Abstand zur Wohnbebauung
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mit einer Länderöffnungsklausel. Was Sie einführen, sind nichts anderes als Sperrzonen für Windräder in Deutschland. Das ist ein Flickenteppich an Regelungen, und das ist eben keine Investitionssicherheit für diese Branche in Deutschland, die wir dringend für den Ausbau der Windkraft bräuchten.
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Wir brauchen den Ausbau der Windkraft deswegen, weil wir eine urbane Energiewende brauchen. Mehr E-Autos oder die Umsetzung der Wasserstoffstrategie, das wird nur funktionieren, wenn wir den Windkraftausbau hinbekommen. Das wissen Sie alle selbst; deswegen gucken Sie jetzt so betroffen.
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Deswegen sage ich Ihnen eines ganz klar: Die Windsperrzonen müssen wieder weg!
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Mit den neuen Regelungen im Gebäudeenergiegesetz, für die Sie fünf Jahre gebraucht haben, kommen wir beim Klimaschutz keinen Meter voran. Dieses Gesetz ist nicht zielkompatibel mit den Pariser Klimaschutzzielen, und es ist klimafeindlich; das haben meine Vorredner auch dargestellt. Aber es ist am Ende auch mieterinnen- und mieterfeindlich, weil die Gebäude, die wir jetzt errichten, bis 2050 wieder saniert werden müssen. Das müssen zunächst die Eigentümerinnen und Eigentümer und am Ende noch einmal die Mieterinnen und Mieter bezahlen. Deswegen sage ich Ihnen eines: Dieses Gesetz ist am Ende sozial ungerecht.
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Die Krone der Absurdität des Ganzen ist, dass Sie die Technologie der Ölheizung noch in die übernächste Wahlperiode hinüberretten wollen. Ich sage Ihnen eines: Wir brauchen nicht Ölkessel im Keller, sondern mehr erneuerbare Energien.
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Die Kommunen in Deutschland sind viel weiter. Meine Heimatstadt Tübingen hat einen Ratsbeschluss gefasst: Alle Wohngebäude, die neu errichtet werden, haben KfW-Standard 40. Diesen Mut hätten Sie aufbringen müssen; das wäre ein wahrer Schritt beim Klimaschutz gewesen.
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Ich sage Ihnen eines: Freiburg, Bottrop, Tübingen und andere können das; nur Sie können das anscheinend nicht, weil Sie ein Stück weit die Basis verloren und sich auch ein Stück weit entkoppelt haben von den Debatten, die in den Kommunen wirklich laufen.
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Zum Schluss will ich eines sagen – auch das kam heute wieder hier vor –: Angeblich würden die Effizienzmaßnahmen das Bauen teuer machen. Es ist die Bodenspekulation, die die Baupreise in die Höhe treibt, nicht die Effizienzmaßnahmen.
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Wer glaubt, dass Energieeffizienz am Ende zu mehr Kosten führt, ich weiß nicht, der hat irgendwie gar nichts verstanden. Ich weiß auch nicht, in welchen Ausschüssen die Leute sitzen, die so etwas hier behaupten; denn die müssen in den letzten Jahren überhaupt nicht zugehört haben.
Danke schön.
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Vielen Dank, Chris Kühn. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Dr. Andreas Lenz.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir verabschieden heute das Gebäudeenergiegesetz. Es ist in der Tat so: „Was lange währt, wird endlich gut“, könnte man sagen. Ich finde, das Gesetz ist tatsächlich gut geworden. Deshalb möchte ich mich auch ganz herzlich bei allen, die da mitgewirkt haben, bedanken, sowohl beim Koalitionspartner als auch bei unseren Berichterstattern. Das war schon viel Arbeit; aber ich glaube, das Ergebnis kann sich durchaus sehen lassen. Wir setzen hiermit die EU-Gebäuderichtlinie um, und wir berücksichtigen dabei beide Aspekte: zum einen die Bezahlbarkeit des Wohnens, zum anderen Klimaschutzaspekte. Wir werden beiden Zielen gerecht. Die AfD zitierte ja den Mieterbund. Gerade der Mieterbund sagt: Die Anforderungen an die Energieeffizienz von Gebäuden sind eben nicht verantwortlich für hohe Immobilien- und Mietpreise.
Wir konnten im parlamentarischen Verfahren noch einige wesentliche Verbesserungen erzielen; auch dafür herzlichen Dank. Wir werden die Speicher im Bereich der Photovoltaik stärker berücksichtigen. Wir werden den Einsatz von Biomethan in Heizkesseln als Erfüllungsoption ermöglichen; wir bringen also tatsächlich die Erneuerbaren in den Heizkessel. Die sogenannte Innovationsklausel bleibt tatsächlich eine Innovationsklausel. Wir stärken hier auch die Einsatzmöglichkeiten von Wasserstoff, von synthetischen Gasen. Außerdem wollen wir dadurch Innovationen und Testmöglichkeiten fördern. Wir werden zudem die Tauschprämie auf Kohlekessel ausweiten – auch ein wichtiger Punkt –, und wir berücksichtigen Abwärme aus Abwasser; auch eine innovative Technik.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung der Kollegin aus der Grünenfraktion?
Sehr gerne.
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Sehr geehrter Herr Kollege Lenz, danke, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Sie haben in Ihrer Rede eingangs gesagt, dass Sie mit diesem Gebäudeenergiegesetz EU-Recht umsetzen. Herr Koeppen hatte in seiner Rede gesagt, dass die Aufgabe aus dem Koalitionsvertrag sei, dass die Standards für Energieeffizienz eben nicht angepasst werden sollen.
Nun, an europäisches Recht muss sich die Koalition trotzdem halten. Deswegen möchte ich Sie fragen, wie Sie gedenken der Kommission in Brüssel zu erklären, dass Ihr sogenannter Niedrigstenergiegebäudestandard, der in den europäischen Vertragstexten mit „fast bei null“ liegendem Energieverbrauch definiert wird, erreicht wird. Wie wollen Sie mit dem KfW-70-Standard, den Sie jetzt weiter zulassen – das sind 6 Liter Heizöl pro Quadratmeter im Gebäude –, einen Energieverbrauch von nahezu null erreichen? Das ist eine Riesenenergieverschwendung, und der Stand der Technik ist deutlich weiter. Wie wollen Sie das der EU erklären?
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Herr Lenz.
Liebe Frau Verlinden, das wurde ja schon erklärt. Es gab schon die Gespräche zwischen BMWi und Kommission, und die Kommission hat auch nichts gegen diesen Gesetzentwurf. Insofern ist Ihre Frage damit eigentlich auch erledigt. Das ist der eine Punkt. Natürlich wird es auch eine Evaluierung dieses Gesetzes in 2022 und 2023 geben, und dann werden wir genau schauen, was passiert ist. Aber Fakt ist, dass wir mit diesem Gesetz in Deutschland die höchsten Standards in ganz Europa umsetzen werden.
Wir haben außerdem einen Entschließungsantrag eingereicht. Wir wollen die Kosten für die Energieberatung steuerlich absetzbar machen; das werden wir entsprechend überprüfen.
Also: Wir haben noch einmal viele wichtige Punkte im parlamentarischen Verfahren eingebracht, die insgesamt einen Schub an Energieeffizienz und für Innovation und Technologie geben werden.
Jetzt wurde auch schon eine der angehängten Gesetzesänderungen zum Hauptgesetz hier in der Debatte erklärt; deshalb will ich noch einmal kurz auf die Frage des 52-GW-Deckels eingehen, der bei der Photovoltaik gewirkt hat. Der Herr Kühn von den Grünen hat gesagt, dass der nichts gebracht hätte. Da bin ich anderer Meinung: Wir haben es gerade durch den 52-GW-Deckel geschafft, dass die PV mittlerweile wettbewerbsfähig geworden ist, dass Skaleneffekte entsprechend genutzt wurden. Dafür war der 52-GW-Deckel mit verantwortlich.
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Wir als CSU haben uns immer für die Streichung des 52-GW-Deckels eingesetzt;
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die Streichung wurde auch im Klimaschutzpaket entsprechend verankert.
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Dass Photovoltaik zukünftig weiter eine wichtige Rolle spielen wird, ist auch klar.
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Wir müssen hier weiter unsere Potenziale bei der Entbürokratisierung nutzen. Auch beim Eigenverbrauch müssen wir weiter effizienter werden. Der Zubau bei der Photovoltaik wird sich weiter erhöhen, auch um das Ziel „65 Prozent Erneuerbare im Strombereich bis 2030“ zu erreichen. In Bayern scheint die Sonne etwas häufiger als andernorts in der Republik, und auch deshalb setzen wir in Bayern ganz stark auf die Photovoltaik, meine sehr geehrten Damen und Herren.
Ebenso werden wir bei den Abstandsregelungen für Windräder Möglichkeiten für die Länder schaffen; es wurde schon angesprochen. Natürlich haben wir bei der kommenden EEG-Novellierung noch viel zu tun hinsichtlich des weiteren Ausbaus der Erneuerbaren, gerade auch, wenn es um die Entwicklung von entsprechenden Pfaden geht.
Bezüglich des Kohleausstiegs – daran arbeiten wir gerade parallel intensiv –, aber auch bezüglich der Bezahlbarkeit der Stromkosten und der Versorgungssicherheit werden wir ebenfalls weiter Lösungen liefern und hier entsprechend verabschieden.
Es ist ein gutes und wichtiges Zeichen auch für die Handlungsfähigkeit der Koalition, dass wir heute ein gutes Gebäudeenergiegesetz verabschieden. In diesem Sinne bitte ich um Zustimmung und bedanke mich ganz herzlich.
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Vielen Dank, Dr. Andreas Lenz. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Johann Saathoff.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Energiewende wird oft nur mit Blick auf den Stromsektor diskutiert, also nach dem Motto: Wenn wir im Strombereich alles erneuerbar geschafft haben, hätten wir die Energiewende geschafft. – Aber weit gefehlt! Die Energiewende umfasst eben auch den Gebäudesektor und den Verkehrssektor. Die Sektoren wachsen immer mehr zu einem großen System zusammen, und das wollen wir auch weiterhin fördern.
Wir haben große Fortschritte in der Stromproduktion gemacht: Weit über 40 Prozent der Stromproduktion kommen aus erneuerbaren Energien. Aber wir haben auch große Herausforderungen im Strombereich: Wir wollen nämlich das EEG-Ziel „65 Prozent in 2030“, wie wir es im Koalitionsvertrag vereinbart haben, in diesem Jahr endlich festlegen.
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Dazu gibt es gute Beschlüsse der Ministerpräsidenten, die gestern gefasst wurden. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir da vorankommen.
Im Wärme- und im Verkehrsbereich haben wir allerdings noch keine großen Erfolge zu verzeichnen. Mit dem Gebäudeenergiegesetz bringen wir die Entwicklung im Wärmesektor in die richtige Richtung. Wärme in Gebäuden wird künftig zunehmend erneuerbar, und das ist eine gute Botschaft.
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Die Anrechenbarkeit von Photovoltaikstrom vom Dach wird verbessert, und das ist ein Anreiz für die Nutzung erneuerbarer Energien, gerade auch in den Städten; denn Energiewende findet sonst nur im ländlichen Raum statt. Das Mieterstromgesetz steht noch aus; Kollege Timon Gremmels hat darauf hingewiesen. Das ist schade, aber wir erwarten, dass wir das bald umsetzen können.
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Das Gebäudeenergiegesetz ist damit ein guter und wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer nachhaltigen Wärmeversorgung in den Gebäuden.
Auch gut und wichtig ist der im Ausschuss vorgelegte Änderungsantrag. Endlich schaffen wir den PV-Deckel ab – ehrlich gesagt in letzter Sekunde. Es wurde dringend Zeit. Wir haben die 52 GW nämlich Gott sei Dank erreicht.
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Damit schaffen wir auch das Begrenzungselement für den Erneuerbare-Energien-Ausbau ab. In der genossenschaftlichen Welt sagt man: Wir machen den Weg frei. – In Ostfriesland würde man sagen: Nu kannt rechtschkapen wieder gahn. – Frau Präsidentin, diesmal übersetze ich es direkt: Nun kann es richtig weitergehen.
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Darüber sind wir uns im Koalitionsantrag einig.
Wir sind uns auch einig geworden bei der Diskussion um Abstände für Windenergieanlagen. Die SPD braucht eigentlich überhaupt keine Abstandsregelungen. Abstände werden über Immissionsregelungen bestimmt, also bei Windenergieanlagen über Lärmimission, und eigentlich ist das Regelwerk dafür die TA Lärm. Es gibt auch keine politischen Abstände zu Autobahnen oder zu Kraftwerken. Abstände führen eben auch nicht zu mehr Akzeptanz; das haben wir in der Anhörung deutlich gehört. Eigentlich ist es wie immer im Leben: Beteiligung führt zu Akzeptanz, und nicht Ausgrenzung.
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So führt im energiepolitischen Bereich Bürgerbeteiligung zu mehr Akzeptanz, nicht Abstände.
Die Diskussion hat uns viel Zeit gekostet, liebe Kolleginnen und Kollegen. Leider haben viele Beschäftigte in dieser Zeit ihren Arbeitsplatz verloren. Das werden wir jetzt wieder aufholen müssen. Wir müssen der Windenergie einen neuen Schub geben.
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Jetzt machen wir dazu eine Regelung – zugegeben keine bundesweite Regelung. Die Länder können selber Regelungen treffen, dürfen aber maximal einen Abstand von 1 000 Metern festlegen. Außer Bayern natürlich: Die dürfen zweieinhalb Mal so viel festlegen. Meine Redezeit reicht nicht aus, um mich darüber aufzuregen.
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Das Windland Nummer eins, Niedersachsen, will das nicht. Dort erkennt man die Kombination der ökologischen und ökonomischen Potenziale: Klimapolitik ist Industriepolitik.
Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Johann Saathoff. – Der letzte Redner in der Debatte kommt aus Bayern: Michael Kießling für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Als Bau- und Umweltpolitiker freue ich mich besonders, dass wir dieses Gesetz heute verabschieden; denn wir verbinden damit Energieeffizienz, Klimaschutz und Bezahlbarkeit von Wohnen und Bauen.
Aber zuvor eine Bemerkung zum Antrag der AfD. Liebe AfD, Sie schießen in Ihrem Antrag mit Platzpatronen auf Scheiben und wundern sich, warum Sie nichts treffen. Wenn man Ihren Antrag liest, dann sieht man: Sie schaffen schon beim Neubau den Sanierungsfall, indem Sie jeglichen Standard abschaffen wollen. Und im selben Atemzug ignorieren Sie Marktgesetze, indem Sie sagen: Die Miete ist das Ergebnis von Angebot und Nachfrage und nicht ausschließlich auf die Herstellungskosten zurückzuführen. – Wir zeigen mit dem Gesetz: Kostenbewusstes Bauen und Klimaschutz schließen sich nicht aus. – Ich mache das an zwei Punkten deutlich.
Erstens. Durch die Zusammenführung unterschiedlicher Regelwerke gilt künftig ein einheitliches Anforderungssystem. Mit diesem regeln wir die energetischen Anforderungen an die Errichtung und Sanierung von Gebäuden und an den Einsatz erneuerbarer Energien zur Wärme- und Kälteversorgung. Diese Harmonisierung trägt nicht nur zur Vereinfachung, sondern auch zum Bürokratieabbau bei.
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Zweitens. Wir leisten einen großen Beitrag zum Klimaschutz. Dabei folgen wir weiterhin dem Ansatz, den Energiebedarf eines Gebäudes möglichst gering zu halten. Dafür brauchen wir energieeffiziente Gebäude. Dazu gehören gute Dämmung und gute Fenster jetzt schon zum Standard,
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und es gehören moderne und nachhaltige Haustechniken – wir haben es vorher gehört: Heizungen und Speicher – dazu. Das führt zu einem Mehr an Energieeffizienz bei Gebäuden, zu hochwertiger Bau- und Wohnqualität und zu weniger laufenden Kosten für die Nutzer.
Ein wesentlicher Baustein – das haben wir gehört – für die Energieeffizienz ist die Nutzung erneuerbarer Energien. Daher schaffen wir – das wurde auch schon erwähnt – den 52-Gigawatt-Solardeckel ab. Wir ermöglichen damit Investitionssicherheit und forcieren den Ausbau von erneuerbaren Energien. Im Übrigen verschärfen wir mit dem Gesetz nicht die energetischen Standards; denn die Anforderungen aus der EU-Richtlinie erfüllen wir bereits. Ich gebe meinem Kollegen von der FDP recht: Zu viel Dämmung hilft oft auch nichts. Wir müssen auch die Gesamtbilanz im Auge behalten.
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Meine Damen und Herren, ich denke, mit unserem Dreiklang, Energieeffizienz, Klimaschutz und Bezahlbarkeit in diesem Gesetz unter einen Hut zu bringen, haben wir ein gutes Gesetz geschaffen und dem Baustein für die Energieeffizienz von Gebäuden einen guten Schub gegeben. Damit hoffe ich auf die Zustimmung für dieses Gesetz, sodass wir die Zukunft unserer Gebäude entsprechend gestalten können.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Michael Kießling. – Damit schließe ich die Debatte.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin froh, dass ich in einem geeinten, in einem freien Europa leben darf. Wir können im gesamten EU-Raum leben, reisen und arbeiten. Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber entsenden jedes Jahr 3 Millionen Menschen ins EU-Ausland. Damit das alles fair passiert, braucht es dreierlei: Erstens. Wir müssen Regeln aufstellen. Zweitens. Wir müssen dafür sorgen, dass diese Regeln verstanden werden, auch von der Sprache her verstanden werden, und dass den Betroffenen klar ist, was ihnen zusteht. Drittens. Wir müssen kontrollieren, dass diese Regeln eingehalten werden. Das alles, liebe Kolleginnen und Kollegen, machen wir heute mit der Änderung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes – entsprechend der vor zwei Jahren im EU-Parlament beschlossenen Richtlinie, die wir heute umsetzen.
Nach 20 Jahren musste das Gleichgewicht neu austariert werden, das Gleichgewicht zwischen Dienstleistungsfreiheit auf der einen Seite und den Rechten der entsandten Beschäftigten auf der anderen. Denn entsandte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssen vor Betrug und Ausbeutung geschützt werden, und ihre Arbeitgebenden sollen in der EU auch gleichbehandelt werden. Deshalb ist es gut, dass nicht nur, wie bisher, die Mindestbedingungen garantiert sind.
Erstens. Mit der heutigen Umsetzung weiten wir den Schutz und die Rechte für die Beschäftigten deutlich aus. Was früher per Gesetz und in Tarifverträgen geregelt war und was in unserem Land gilt, gilt für alle, egal wo sie herkommen, egal welchen Arbeitsvertrag sie haben,
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ob es ein deutscher Arbeitsvertrag ist oder ein anderer. Egal ob aus Bottrop, aus Bukarest oder aus Burgsinn: Alle haben das Gleiche verdient.
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Zweitens. Das gilt für die verschiedenen Lohnstufen, das gilt für Zulagen, das gilt für Sachleistungen, die ein Teil der Entlohnung sind. Reise-, Verpflegungs- und Unterbringungskosten dürfen nicht mehr vom Lohn abgezogen werden. Aber diese Regeln müssen bekannt sein. Da leisten die Kolleginnen und Kollegen des DGB-Projektes „Faire Mobilität“ seit zehn Jahren eine hervorragende Arbeit. Wir sorgen dafür, dass dieses Projekt auf Dauer verstetigt ist, damit man planen kann. Wir erhöhen auch die Mittel für dieses Projekt, damit man das ausweiten kann. Denn wir sehen doch ganz aktuell – auch heute wieder –, wie wichtig es ist, aufzuklären. An dieser Stelle also vielen Dank an das Projekt „Faire Mobilität“!
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Die Beschäftigten müssen wissen, was ihnen zusteht, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Drittens ist es sehr wichtig, zu kontrollieren, dass diese Regeln eingehalten werden. „Trau, schau, wem“, sagte der Sozialdemokrat Gustav Kittler schon 1878. Trau, schau, wem! Und es darf nicht sein, dass die Wahrscheinlichkeit, vom Blitz getroffen zu werden, größer ist als die, vom Zoll kontrolliert zu werden, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Wir setzen den erfolgreichen Weg fort, den wir seit Jahren hier in der Finanzkontrolle Schwarzarbeit und beim Zoll gehen.
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Wir werden mehr Verantwortung und mehr Kompetenzen übergeben. Denn die beim Zoll können das. Die machen eine tolle Arbeit. Wir sorgen auch seit Jahren für mehr Arbeitsplätze beim Zoll. Und allein mit diesem Gesetz schaffen wir 1 000 zusätzliche Arbeitsplätze
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bei der Finanzkontrolle Schwarzarbeit, damit es fair zugeht auf unseren Baustellen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben bei diesem Gesetzentwurf auch noch die Finanzierung der Werkstatträte für die Werkstätten der behinderten Menschen auf den Weg gebracht, haben das finanziell abgesichert. Denn es lohnt sich.
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Unser Europa ist eine Erfolgsgeschichte. Wir haben viele Freiheiten. Wir müssen das ausleben und ausnutzen. Aber es muss fair zugehen, und deshalb ist heute ein guter Tag für Europa.
Vielen Dank.
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Für die AfD-Fraktion hat das Wort der Kollege René Springer.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! „Wir können nicht zulassen, dass es über die Dienstleistungsfreiheit … zu Sozialdumping in Deutschland kommt, dass Sicherheitsstandards, die wir aus guten Gründen für unsere … Arbeitnehmer aufgebaut haben, missachtet werden“ und dass Unternehmen „nicht mehr mitkönnen, weil sie kaputtkonkurriert werden. Das kann nicht Sinn der Dienstleistungsfreiheit in Europa sein, und das wird es mit uns … nicht geben.“
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Diese wahren Worte klingen nach AfD-Programm – sind es im Übrigen auch –, sind aber von einem Sozialdemokraten, nämlich von Bundeskanzler Gerhard Schröder, gesprochen in einer Regierungserklärung im Jahr 2005. Wenige Jahre später sprang ihm der damalige Bundesarbeitsminister Olaf Scholz bei und sagte: Wir müssen dafür sorgen, dass die Löhne nicht ins Kellergeschoss gedrückt werden. – Nach diesem sachdienlichen Hinweis ging die Bundesregierung ans Werk und sorgte dafür, dass die Löhne ins Kellergeschoss gedrückt wurden.
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2008 verdienten ein deutscher und ein rumänischer Arbeitnehmer, die nebeneinander an der Werkbank standen, in etwa gleich viel. Heute verdient der rumänische Arbeitnehmer knapp 1 000 Euro weniger – nicht im Jahr, sondern im Monat.
Im selben Zeitraum stieg der Anteil der EU-Ausländer im Niedriglohnsektor in Brandenburg von 37 auf 68 Prozent, in Mecklenburg-Vorpommern auf 70 Prozent, in Thüringen auf 72 Prozent. Diese Länder wurden in den letzten zehn Jahren durchweg von einer Partei regiert oder mitregiert, die sich aus unerfindlichen Gründen immer noch „sozialdemokratisch“ nennt.
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Unter den Augen der SPD wird die Arbeitnehmerentsendung seit Jahren als Mittel eingesetzt, um Lohndumping zu betreiben. Und die CDU hängt da genauso mit drin. Denn wer klebt seit 14 Jahren und 210 Tagen auf diesem Stuhl und ruiniert unser Land?
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Verlierer Ihrer Politik sind EU-Ausländer, die sich oftmals selbst in menschenunwürdige Arbeitsbedingungen begeben. Verlierer sind Unternehmen, die sich an die Regeln halten und dadurch kaputtkonkurriert werden. Und Verlierer sind die deutschen Beschäftigten, die nur noch Mindestlöhne erhalten oder ganz aus der Beschäftigung gedrängt werden.
Kaum irgendwo werden die Auswirkungen der europäischen Lohnkonkurrenz sichtbarer als in der Fleischindustrie. Dort ist die Zahl der deutschen Beschäftigten in den letzten zehn Jahren um 30 000 gesunken, während die Zahl der ausländischen Arbeitskräfte um über 35 000 gestiegen ist. Das sind offizielle Zahlen aus Ihrem Ministerium, Herr Heil. Und den wahren Grund für diese katastrophale Entwicklung kennen Sie auch, Herr Minister: die Freizügigkeit der Europäischen Union und die Zuwanderung aus den osteuropäischen Niedriglohnländern.
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Das sind – und das zeigen inzwischen viele Untersuchungen – auch die Hauptgründe für den Erfolg der Brexit-Kampagne gewesen.
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Wenn die Bundesregierung solche Szenarien in Deutschland abwenden möchte, müssen Lohn- und Sozialdumping endlich effektiv unterbunden werden.
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Der vorliegende Gesetzentwurf leistet das bei Weitem nicht. Er zeigt vielmehr, dass die SPD die Kompetenz, Glaubwürdigkeit und vor allem den politischen Willen verloren hat, unsere Arbeitnehmer zu schützen. Und wer Arbeitnehmer nicht schützt, hat uns zum Gegner.
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Danke sehr.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Uwe Schummer.
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Verehrtes Präsidium! Meine Damen! Meine Herren! Geschlossene Grenzen in Zeiten der Pandemie haben uns gezeigt, wie wichtig das geeinte Europa ist, ein grenzenloses Miteinander von Menschen, der freie Austausch von Dienstleistungen und Waren, von Meinungen, von Kultur. Stattdessen mussten wir bewachte Zäune, fehlende Dienstleister im Baubereich, in der Pflege, in der Landwirtschaft, stockende Lieferketten erleben.
Die historische Wende der Europäischen Union ist doch, dass auf Jahrhunderte von Kriegen Jahrzehnte folgten, in denen sozialer und wirtschaftlicher Austausch stattgefunden hat, Frieden und Wohlstand geschaffen wurden.
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Der Rückfall in Nationalismus, der Rückfall in ein betoniertes Regime, in hohe Grenzen würde allen schaden. Das würde auch unser Land ruinieren. Wir müssen verhindern, dass nationalistische Kräfte Europa beschädigen, so wie es Herr Springer und seine Fraktion wollen. Wir wollen, dass Europa stark ist. Sie wollen Europa runterreden.
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Wichtig ist auch, dass die Europäische Union die soziale Frage thematisiert.
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Die soziale Frage ist beispielsweise mit dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz aufgearbeitet worden. Wir wollen keinen Dumpingimport von Billigarbeitern. Wir wollen faire Löhne und faire Wettbewerbsvoraussetzungen.
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Dadurch erreichen wir letztendlich auch, dass die Akzeptanz Europas gestärkt wird.
Mit der Änderung des Entsendegesetzes, die wir heute beraten und verabschieden werden, werden die Tarifverträge gestärkt – jene nach dem Entsendegesetz, aber auch die Tarifverträge, die bundesweit allgemeinverbindlich sind. Wir verhindern, dass Entgelte – wie bisher möglich – durch Kosten der Unterkunft, für Werkzeug oder Fahrten nachträglich gedrückt werden können, und arbeiten damit auf ein wesentliches Ziel hin, das die Europäische Union in ihrem Grundlagenvertrag formuliert hat, nämlich „die stetige Besserung der Lebens- und Beschäftigungsbedingungen“ für alle Menschen in der Europäischen Union.
Wir wissen: Dazu bedarf es Regeln. Wir kennen auch die Problematik mancher Unterkünfte. Aus meinem Heimatkreis wurde mir ein Brief geschrieben, aus dem hervorging, dass Leiharbeiter aus Rumänien in gemieteten Unterkünften untergebracht wurden, 22 Personen in einer Unterkunft. Für die Schlafstätten mussten sie 340 Euro bezahlen. Die haben dann in Nettetal am Niederrhein gewohnt und in den Niederlanden gearbeitet. – Das darf es nicht mehr geben.
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Deshalb ist die Entsenderichtlinie so entscheidend; mit ihr können wir solche Probleme abstellen.
Wir wollen Kontrollen wie aus einer Hand. Wir wollen, dass das Gesundheitsamt, die Kommunen, die Länder, auch die Agentur für Arbeit, die Bundespolizei und der Zoll durch Datenaustausch vernünftig miteinander die Einhaltung der Regeln durchsetzen. Dafür gibt es Neueinstellungen.
Das Beratungsnetzwerk „Faire Mobilität“, das jetzt beständig personell aufgebaut und finanziell gestärkt wird, berät im Voraus europäische Arbeitnehmer in ihren Sprachen, damit sie wissen, was notwendig ist, was möglich ist, dass sie begleitet werden. Eine gute Beratung und Begleitung ist die beste Prävention von Ausbeutung und Skandalen. Beide Seiten – sowohl die Unternehmen als auch die Beschäftigten – wissen dann, was notwendig, was sicher ist.
Das Entsendegesetz hat zwei politische Ziele: gute Arbeits- und Lohnbedingungen europaweit, und zwar durch eine stetige Besserung der Lebens- und Beschäftigungsbedingungen – wie im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union verankert –, sowie fairen Wettbewerb. Letztendlich machen wir heute einen wichtigen Schritt – sicherlich nicht den letzten, aber einen wichtigen Schritt – auf dem Weg der stetigen Besserung der Lebens- und Beschäftigungsbedingungen. An diesem Projekt Europa werden wir weiterarbeiten und nicht zulassen, dass es von Ihnen rückabgewickelt wird.
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Für die FDP-Fraktion hat das Wort der Kollege Carl-Julius Cronenberg.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Sachverständige vom Beratungsnetzwerk „Faire Mobilität“ hat es in der Anhörung am Montag eindrücklich geschildert – Bernd Rützel ist darauf eingegangen –: Viel zu viele entsandte Arbeitnehmer in Deutschland treffen auf unhaltbare Bedingungen bei Arbeitsschutz oder Unterbringung. Oft fehlt es an Kenntnissen der Sprache oder von Arbeitnehmerrechten. Deshalb ist es richtig, dass der Staat hier in besonderer Weise hinschaut. Dafür muss aber nicht das Entsenderecht verschärft werden. Es reicht, wenn geltendes Recht konsequent durchgesetzt wird.
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Das ist in der Fleischindustrie so, bei den Paketboten und auch auf deutschen Baustellen.
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Versetzen Sie sich in die Lage eines bulgarischen Bauarbeiters, der für einen Job nach Deutschland kommt. Er kommt doch, weil er – erstens – hier deutlich mehr verdient als zu Hause und weil er – zweitens – dem deutschen Rechtsstaat und den Sozialstandards vertraut, darauf vertraut, dass Recht hier in Deutschland wirklich gilt.
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Nur hilft die Kleinteiligkeit des Gesetzes genau da nicht. Es geht – erstens – an der Lebenswirklichkeit der Beschäftigten vorbei, schafft – zweitens – neue Rechtsunsicherheiten und überfordert – drittens – massiv die Kontrollbehörden.
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Kurzum: Sie machen nationales Entsenderecht komplizierter; besser wird es nicht. Wer hofft, so würde das Unterlaufen bestehender Arbeitsschutzstandards in Zukunft verhindert, wird bitter enttäuscht werden.
Sie wecken nicht nur unerfüllbare Hoffnungen. Sie senden auch das falsche Signal an unsere Nachbarn. Entsendungen sind kein Teufelswerk zur Legalisierung von Ausbeutung, sondern Ausdruck von Zusammenwachsen in Europa.
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Entsendungen sind gelebter Binnenmarkt. Italienische Monteure richten in Deutschland Maschinen ein. Da geht es nicht um Lohndumping, sondern um spezialisierte Fachkräfte. Polnische Pflegekräfte kommen und kümmern sich um unsere Eltern. Und bulgarische Bauarbeiter bauen hier Wohnungen, die wir dringend benötigen, und verdienen dabei übrigens doppelt so viel wie zu Hause. Entsendelöhne ziehen lokale Löhne hoch und schaffen Wohlstand und Wachstum auch in Osteuropa. So funktioniert Aufwärtskonvergenz ganz konkret, jeden Tag.
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Die Kanzlerin hat heute Morgen völlig zu Recht gesagt: Gerade jetzt muss es darum gehen, Konvergenz und Zusammenhalt in Europa zu sichern. – Deshalb, liebe Bundesregierung: Nutzen Sie die EU-Ratspräsidentschaft, und schaffen Sie erstens endlich Klarheit, was eine Entsendung mit Dienstleistungsbezug überhaupt ist; Dienstreisen sind es nicht. Zweitens. Sorgen Sie dafür, dass hochbezahlte Fachkräfte von Entsendebürokratie befreit werden, wie das in Österreich vorgelebt wird. Drittens. Bauen Sie mit unseren europäischen Partnern endlich eine vollständig digitalisierte Informationsplattform bei der Europäischen Arbeitsagentur auf.
Ausbeutung durch Sozialdumping tolerieren wir so wenig wie Sie, Herr Heil, aber lenken Sie nicht von Vollzugsdefiziten, Regelungslücken oder Zuständigkeitswirrwarr ab, indem Sie die Ursachen für Missstände in der Entsendung suchen. In Anlehnung an Ihre Rede in der ersten Lesung sage ich: Wer Ausbeutung bekämpft, hat die Freien Demokraten auf seiner Seite. Wer neue Bürokratie schafft, hat uns zum Gegner.
Vielen Dank.
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Für die Fraktion Die Linke hat das Wort der Kollege Pascal Meiser.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die skandalösen Zustände beim Fleischmagnaten Tönnies – mindestens 650 Beschäftigte sollen sich dort in kürzester Zeit mit dem Coronavirus infiziert haben – sollten auch dem Letzten hier vor Augen geführt haben: Es ist höchste Zeit, die vielen Menschen, die aus anderen Ländern nach Deutschland kommen und unser Land mit am Laufen halten, endlich wirkungsvoll vor Ausbeutung zu schützen.
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Sie alle wissen aber auch: Gerade die Ausbeutung der aus dem Ausland nach Deutschland entsandten Beschäftigten ist keinesfalls alleine ein Problem der Schlachtindustrie. Arbeitsminister Heil hat dazu vor zwei Wochen an dieser Stelle erklärt, er wolle ein faires, ein sozialeres Europa für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gestalten. Doch der heute hier zur abschließenden Beratung anstehende Gesetzentwurf zur Umsetzung der europäischen Entsenderichtlinie wird diesem Anspruch ganz sicher nicht gerecht.
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Das sagen nicht nur wir Linke; das sehen auch die Gewerkschaften unisono so.
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Ja, es gibt darin auch kleine Verbesserungen. Dazu gehört ganz sicher – das wurde vom Kollegen Rützel hier schon groß gefeiert, und das gönne ich ihm auch –, dass das Beratungsnetzwerk „Faire Mobilität“ endlich auf eine solide finanzielle Basis gestellt wird.
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Fakt ist: Auch die Mehrzahl der Sachverständigen ist in der Anhörung zu dem Ergebnis gekommen, dass der Gesetzentwurf der Bundesregierung weit hinter den europarechtlichen Möglichkeiten zurückbleibt und schon gar nicht dafür sorgt, dass künftig tatsächlich gilt: gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort.
Ich will zwei besonders eklatante Punkte benennen. Erstens. Warum halten Sie so starrsinnig daran fest, entsandten Beschäftigten die Ansprüche aus regionalen allgemeinverbindlichen Tarifverträgen vorzuenthalten, obwohl das deutsche Tarifvertragssystem vorrangig aus regionalen Tarifverträgen besteht? Ich kann mir das nur mit massivem Lobbyismus erklären. Aber wenn dem so ist, dann stehen Sie auch dazu und nennen hier Ross und Reiter.
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Denn was ist das Ergebnis Ihrer Hasenfüßigkeit? Ich erkläre Ihnen das gerne an einem Beispiel. Bei uns in Berlin und Brandenburg wurde vor Kurzem der regionale Lohntarifvertrag für das Elektrohandwerk für allgemeinverbindlich erklärt. Er gilt seitdem für alle hiesigen Unternehmen. Doch für die polnischen Elektroinstallateure werden diese Tarifverträge nach dem, was Sie hier vorschlagen, weiter nicht gelten. Das ist schlecht für die polnischen Elektroinstallateure, die um einen angemessenen Lohn gebracht werden, und das ist schlecht für die hiesigen Unternehmen, weil sie nach Tarif bezahlen müssen, die ausländische Konkurrenz aber nicht. Wenn das so bleibt, dann tragen Sie von der Koalition die alleinige Verantwortung dafür. Das wäre wirklich grob fahrlässig.
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Und glauben Sie mir: Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände sind ganz sicher in der Lage, regionale Tarifverträge europarechtskonform auszugestalten. Ihre Haltung, meine Damen und Herren von der Koalition, ist jedoch durch und durch von Misstrauen gegenüber den Tarifvertragsparteien geprägt. Und deshalb – das sage ich insbesondere Ihnen, meine Damen und Herren von der Union –: Stellen Sie sich bloß nicht immer hierhin und reden von Tarifautonomie. Ich sage Ihnen: Bei diesem Thema wäre ich an Ihrer Stelle künftig so klein mit Hut.
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Zweitens. Sie halten daran fest, dass per Rechtsverordnung lediglich diejenigen Tarifverträge auf entsandte Beschäftigte erstreckt werden können, die nicht mehr als drei Lohnstufen umfassen. Von einer solchen Beschränkung ist kein Wort in der europäischen Richtlinie zu lesen. Damit rauben Sie sich und den Tarifparteien ohne Not ein wichtiges Instrument gegen Lohndumping, und das ist wirklich unverantwortlich.
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Herr Kollege, denken Sie an Ihre Zeit?
Ich komme zum Schluss.
Wenn Sie tatsächlich effektiv gegen grenzüberschreitende Ausbeutung vorgehen wollen, dann kann das heute hier bestenfalls ein klitzekleiner Anfang gewesen sein. Sie müssen jetzt schnell kräftig nacharbeiten. Wir Linke helfen Ihnen dabei gerne auf die Sprünge.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Für Bündnis 90/Die Grünen erhält nun das Wort die Kollegin Beate Müller-Gemmeke.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Minister! Kolleginnen und Kollegen! Das Thema heute ist komplex, aber wichtig. Es geht darum, ob endsandte Beschäftigte aus dem EU-Ausland fair behandelt werden. Es geht darum, ob das soziale Europa, über das wir immer reden, auch tatsächlich sozial ausgestaltet wird. Vor diesem Hintergrund ist das Gesetz wahrlich kein großer Wurf. Im Gegenteil: Die Gestaltungsspielräume wurden in keiner Weise genutzt, und genau das kritisieren wir.
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Sie hätten die Entsenderichtlinie besser und konsequenter umsetzen können und auch müssen. Zu zwei Stellen, die uns besonders wichtig sind, haben wir Änderungsanträge vorgelegt, über die wir nachher abstimmen lassen.
Erstens. Nur bundesweite Tarifverträge können für entsandte Beschäftigte allgemeinverbindlich erklärt werden, und damit werden alle regionalen Tarifverträge ausgeschlossen, obwohl es in Deutschland kaum bundesweite, sondern vor allem regionale Tarifverträge gibt. Unser Sachverständiger Professor Rödl hat in der Anhörung bestätigt, dass es für diese Einschränkung keinen guten Grund gibt, und bezeichnet das sogar als Verstoß gegen die Entsenderichtlinie.
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Regionale Tarifverträge müssen wie bundesweite Tarifverträge behandelt werden. Genau das beantragen wir nachher mit unserem Änderungsantrag.
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Zweitens. Die Entsenderichtlinie spricht ganz eindeutig von gleicher Entlohnung. Im Gesetzentwurf aber gibt es wieder Mindestentgeltsätze und darüber hinausgehende Entgeltbestandteile. Dann werden die Tarifverträge für entsandte Beschäftigte auch noch auf drei Stufen begrenzt – das betrifft unseren zweiten Änderungsantrag –; denn diese drei Stufen schränken die Tarifpartner ohne Not ein. Damit gefährden Sie beispielsweise auch einen guten Tarifvertrag in der Pflege, der im letzten Herbst mit dem Pflegelöhneverbesserungsgesetz überhaupt erst ermöglicht wurde. Das ist einfach nur absurd und nicht nachvollziehbar.
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Natürlich gibt es auch Verbesserungen. Die Kosten für Unterkunft, Anreise oder Verpflegung können jetzt nicht mehr mit dem Lohn verrechnet werden, die Standards für Unterkünfte können besser geregelt werden, und – ganz wichtig, es wurde schon angesprochen – die Beratung durch das DGB-Projekt „Faire Mobilität“ wird endlich dauerhaft finanziert. Das fordern wir schon lange. Das alles sind gute und notwendige Verbesserungen. Deshalb werden wir auch, bei aller Kritik, dem Gesetzentwurf am Ende zustimmen.
Und doch bleibt der Gesetzentwurf weit hinter der Entsenderichtlinie zurück. Damit wurde – ich muss es noch einmal deutlich sagen – eine Chance verpasst. Wir wollen ein soziales Europa. Wir wollen gleichen Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort, und dafür werden wir weiter streiten und kämpfen.
Vielen Dank.
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Die Kollegin Dagmar Schmidt hat nunmehr das Wort für die Fraktion der SPD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Europa ist in diesen Zeiten noch wertvoller, als es für uns sowieso schon war. Grenzkontrollen, früher selbstverständlich, kommen uns heute wie Fremdkörper vor. Freizügigkeit ist eine zentrale Errungenschaft der Europäischen Union für Familien, für Freunde, für den Tourismus, für Waren und Dienstleistungen, aber eben auch für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Und genau für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die nach Deutschland entsandt werden, schaffen wir mit diesem Gesetz zahlreiche Verbesserungen.
Wenn die aufgelisteten gesetzlichen Arbeitsbedingungen in einem bundesweiten Tarifvertrag geregelt sind, dann gelten sie jetzt für alle Branchen und nicht mehr nur noch für das Baugewerbe. Statt nur Mindestentgelten können entsandte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer jetzt auch andere Elemente, die tarifvertraglich vereinbart sind, wie zum Beispiel Schmutz- oder Gefahrenzulagen, erhalten, und die Vergütung kann stärker nach Tätigkeit, Qualifizierung und Berufserfahrung differenziert werden.
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Das Gesetz verhindert, dass Aufwandsentschädigungen für Reise, Unterkunft oder Verpflegung auf den Lohn angerechnet werden, und es gelten bessere Bestimmungen für die Unterkünfte. – All das ist der Mühe wert.
Die Pandemie hat uns manche Missstände noch einmal besonders deutlich vor Augen geführt. In der Fleischindustrie – das ist schon genannt worden –, aber eben nicht nur dort gibt es Zustände, die einem sozialen und demokratischen Europa zutiefst unwürdig sind.
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Das gilt auch für die Situation von Lkw-Fahrern und Lkw-Fahrerinnen, aber auch für die Situation von Pflegekräften aus Osteuropa und vielen anderen, die hier hart arbeiten und oftmals nicht einmal den Mindestlohn gezahlt bekommen.
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Das ist inakzeptabel.
Es geht nicht nur darum, Regeln aufzustellen, sondern auch darum, sie durchzusetzen. Was brauchen wir dafür? Erstens. Man muss um seine Rechte wissen. Deswegen haben wir aus dem Programm „Faire Mobilität“ eine Institution „Faire Mobilität“ gemacht und die Mittel dafür erhöht, und das ist auch gut so.
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Und man muss zweitens mehr und besser kontrollieren. Deswegen gibt es 1 000 zusätzliche Stellen beim Zoll, und auch das ist gut so.
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Aber all das bleibt natürlich nicht die einzige sozialstaatliche Antwort, die wir auf den europäischen Binnenmarkt geben. Das Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“ noch besser umzusetzen – die Frage der regionalen Tarifverträge ist angesprochen worden – ist aller Mühen wert: weil es die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die hier arbeiten, verdient haben, weil es die Unternehmen, die faire Löhne und gute Arbeitsbedingungen sicherstellen, schützt, weil es Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die hier in Deutschland ihre Arbeit machen, vor Dumpinglöhnen schützt und weil wir keinen europäischen Wettbewerb um niedrige Löhne, sondern einen Wettbewerb um die beste Leistung wollen.
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Nur ein soziales und gerechtes Europa ist auch ein starkes Europa, und das brauchen wir mehr denn je.
In diesem Sinne: Glück auf!
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Als Nächstes hat das Wort der Kollege Peter Aumer von der CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der Umsetzung der revidierten Arbeitnehmerentsenderichtlinie stärken wir den europäischen Binnenmarkt, sichern wir freie Mobilität von Unternehmern und Arbeitnehmern und schützen wir vor allem die Arbeitnehmer vor Lohndumping und die Unternehmer vor unfairem Wettbewerb.
Warum musste die Richtlinie revidiert werden? Die Zahlen sind eindeutig: 2017 waren rund 2,3 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Europa entsandt; der Anstieg zwischen 2010 und 2017 betrug 40 Prozent, und der Anstieg geht rasant weiter. Deswegen brauchte es diese Revidierung der Entsenderichtlinie und die Umsetzung in deutsches Recht.
Man hat bei der Rede des Kollegen der AfD gemerkt, dass Sie mit der Rasanz des europäischen Zusammenwachsens nicht mitkommen.
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Uns ist wichtig, dass wir die Menschen mitnehmen, dass wir die sozialen Aspekte berücksichtigen, aber auch, dass wir die wirtschaftlichen Faktoren im Auge haben.
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, das zeigt, dass die beiden Grundprinzipien der Europäischen Union, die Arbeitnehmerfreizügigkeit auf der einen Seite und die Dienstleistungsfreiheit auf der anderen Seite, erfolgreiche Prinzipien sind, dass sie wirken und den Menschen in unserem geeinten Europa eine Zukunft geben. Wir müssen schauen, dass wir faire und sozial ausgewogene rechtliche Rahmenbedingungen schaffen. Wir müssen zum einen die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Blick haben und zum anderen faire und gleiche Arbeitsbedingungen für die Unternehmer schaffen, und das nach dem Grundsatz: gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort.
Das Gesetz, das wir heute beschließen, regelt – wir haben es vorhin schon gehört – unter anderem den Umgang mit Zulagen, es regelt die Unterkunft, und es regelt, dass Arbeitnehmer, die länger als 12 bzw. 18 Monate in Deutschland arbeiten – das ist immerhin jeder zehnte Arbeitnehmer –, gleichgestellt sind mit Arbeitnehmern, die dauerhaft in Deutschland beschäftigt sind.
Ich glaube, wir legen hier einen ausgewogenen Gesetzentwurf vor. Es ist für die Zukunft wichtig, dass wir Transparenz schaffen, damit die Arbeitnehmer, die nach Deutschland kommen, wissen, was sie verdienen können, damit sie Tarifverträge kennen und die Arbeitsbedingungen kennenlernen.
Es ist auch positiv, dass das Projekt „Faire Mobilität“ und die Finanzkontrolle Schwarzarbeit mit mehr Geld und mehr Personal ausgestattet werden. So können die rechtlichen Rahmenbedingungen ihre positive Wirkung entfalten.
Wir bitten um Ihre Zustimmung.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Kollege Aumer. – Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Wilfried Oellers, CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Europäische Union zeichnet sich durch ihre Dienstleistungsfreiheit aus, und die Arbeitnehmerentsendung ist ein Beispiel für diese Dienstleistungsfreiheit. Sie hat insbesondere in den letzten Jahren zahlenmäßig enorm zugenommen. Etwa ein Viertel aller Entsendungen europaweit hat mit Deutschland zu tun, entweder weil Arbeitnehmer nach Deutschland kommen oder von Deutschland aus ins Ausland entsandt werden. Deswegen ist dieses Thema gerade für uns hier in Deutschland ein sehr wichtiges.
Die europäische Ebene ist im Rahmen der Richtlinie dem Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“ gefolgt. Interessant ist – darauf möchte ich hinweisen –, dass es eine Subsidiaritätsrüge der osteuropäischen Staaten gegen diese Richtlinie gab. Erfreulich ist, dass man sich nun trotzdem auf diese Richtlinie verständigen konnte; denn sie verpflichtet alle Nationalstaaten, sie entsprechend umzusetzen, sodass die Mitarbeiter, die in das jeweilige Land entsandt werden, entsprechend den örtlichen Lohngegebenheiten bezahlt werden. Das betrifft insbesondere auch Regelungen zu Überstunden, Mindesturlaubsansprüchen, Ruhezeiten, zur Sicherheit am Arbeitsplatz, zum Gesundheitsschutz und – ein aktuelles Thema in der Fleischbranche – die Rechtsvorschriften für Unterkünfte. Hinzu kommen Zulagen, aber auch Reise-, Unterbringungs- und Verpflegungskosten. Bemerkenswert an dieser Regelung ist, dass es verboten ist, die Entsendezulagen mit dem Lohn zu verrechnen. Somit kann es hier nicht zu einem missbräuchlichen Verrechnen dieser Zahlungen kommen.
Wenn die Entsendungen länger als 12 Monate dauern – mit einer möglichen Verlängerung auf 18 Monate –, gilt das gesamte nationale Arbeitsrecht; für uns in Deutschland würde das heißen: bis hin zum Kündigungsschutz. Daher sind die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die nach Deutschland entsandt werden, hier gut geschützt und haben klare Rechte.
Allerdings wird es wichtig sein, dass bei der Umsetzung auch Entgelttransparenz hergestellt wird. Herr Minister, in diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal meine Bitte an das BMAS richten, dass die entsprechenden Tarifregister und Tarifverträge veröffentlicht werden, damit die Unternehmer die Arbeitnehmer entsprechend vergüten können. Ich bitte Sie, sehr geehrter Herr Minister, sich auf europäischer Ebene dafür einzusetzen, dass auch die anderen Länder ihre Lohnstrukturen offenlegen, transparent und einfach zugänglich für die deutschen Unternehmer, die ins Ausland entsenden, und zwar mit Übersetzungen ins Deutsche; denn je kleiner das Unternehmen ist, desto schwieriger ist es für dieses Unternehmen, Tarifverträge aus anderen Ländern übersetzen zu lassen.
Die Kontrolle durch die Finanzkontrolle Schwarzarbeit ist angesprochen worden, das Programm „Faire Mobilität“ auch. Die Mittel werden nicht nur verstetigt, sondern sogar verdoppelt, und der Anteil des DGB wird von 15 auf 11 Prozent reduziert. Somit kommt der Bund seiner Verpflichtung auf jeden Fall nach.
Gestatten Sie mir, in der letzten halben Minute meiner Redezeit als Behindertenbeauftragter meiner Fraktion darauf hinzuweisen, dass wir nicht nur die Mittel für „Faire Mobilität“ verstetigen, sondern auch die Mittel für Werkstatträte Deutschland e. V., den Dachverband, die Vertretung der Werkstattbeschäftigten in Deutschland. Diese Finanzierung wird mit einer konkreten Regelung nun auch für die Zukunft sichergestellt. Darüber hinaus erhalten die Werkstatträte die Möglichkeit – das haben wir auch den Betriebsräten ermöglicht –, in Coronazeiten Beschlüsse per Videokonferenz zu fassen und mithilfe elektronischer Mittel zu tagen. Ich denke, insgesamt ist das ein Gesetzespaket, dem man zustimmen kann.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Kollege Oellers. – Ich schließe die Aussprache.
Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Frage der atomaren Abrüstung ist insbesondere für die Menschen hier in Deutschland, in Europa eine Frage von Sein oder Nichtsein. Es ist eine existenzielle Frage. Der letzte von mehreren Verträgen zur Abrüstung und auch zur Begrenzung von Atomwaffen, der New-START-Vertrag zwischen den USA und Russland, ist akut in Gefahr. Er läuft im Februar 2021 aus, wenn es nicht gelingt, ihn zu verlängern. Ein unkontrolliertes atomares Wettrüsten noch nicht absehbaren Ausmaßes würde beginnen. Dies gilt es zu verhindern.
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Wenn wir uns aber die Aktivitäten der Bundesregierung genau in dieser Sache anschauen, müssen wir von einem Totalversagen sprechen. Die USA unter Präsident Donald Trump steigen aus einem völkerrechtlichen Abkommen nach dem anderen aus. Ein Abrüstungsvertrag wie der INF wird einfach so gekündigt, und die Bundesregierung übernimmt auch noch die Kündigungslegenden des US-amerikanischen Präsidenten.
Jetzt droht es noch schlimmer zu werden: Jetzt will US-Präsident Donald Trump den New-START-Vertrag nicht weiter verlängern. Zwar hat man aufseiten der USA jetzt doch noch Gesprächen mit Russland zugestimmt – am 22. Juni in Wien –, aber immer wieder wird von der US-Regierung eine Beteiligung Chinas – übrigens bisheriger Nichtvertragspartner – eingefordert und sogar zur Bedingung gemacht für die Verlängerung des New-START-Vertrags. Eine selbstbewusste Bundesregierung müsste doch genau diesen Versuch von Trump, die Verlängerung des New-START-Vertrags zu torpedieren und den Schwarzen Peter China und Russland zuzuschieben, massiv kritisieren.
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Allein: Hier ist nichts von der Bundesregierung zu hören. Und das ist fatal, liebe Kolleginnen und Kollegen. Es müsste doch ein großes sicherheitspolitisches Interesse an der Verlängerung dieses Vertrages geben. Denn zum einen begrenzt der New-START-Vertrag die Zahl einsatzbereiter strategischer Nuklearwaffen, zum anderen aber schafft er durch sein gut funktionierendes Überprüfungssystem ein hohes Maß an Transparenz und Sicherheit. Durch die Stillhaltepolitik der Bundesregierung gegenüber den USA droht man, sich hier zu einem Erfüllungsgehilfen eines Präsidenten zu machen, der sich erklärtermaßen für atomare Aufrüstung, die Modernisierung von US-Atomwaffen und auch für atomar führbare Kriege einsetzt. Das halten wir für eine brandgefährliche Politik der Bundesregierung.
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Statt diesem Wahnsinn entgegenzutreten, verweigert die Bundesregierung auch noch die Unterzeichnung des Atomwaffenverbotsvertrags – und das, damit Deutschland als heimliche Atommacht von US-Gnaden im Rahmen der nuklearen Teilhabe der NATO sich weiter vorbehalten kann, unter Freigabe des US-Präsidenten selbst Atomwaffen einzusetzen. Wir als Linke fragen Sie: Warum wollen Sie, dass die in Deutschland gelagerten Massenvernichtungswaffen der USA nicht abgezogen werden? Warum begreifen Sie als Bundesregierung nicht, dass das potenzielle Schlachtfeld eines möglichen Atomkriegs genau hier, in der Mitte Europas, in Deutschland sein wird? Es ist doch eine unverantwortliche Politik von Ihnen,
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dass Sie nicht darauf hinwirken wollen, dass diese Massenvernichtungswaffen abgezogen werden. Wer glaubwürdig für atomare Abrüstung eintreten will, der muss sich für ein neues deutsch-amerikanisches Verhältnis einsetzen. Und glauben Sie mir: Für eine Freundschaft unserer beiden Völker braucht es weder US-Atomwaffen in Deutschland noch US-Soldaten.
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In diesem Sinne: Wirken Sie darauf hin, dass die US-amerikanischen Atomwaffen aus Deutschland abgezogen werden! Lassen Sie die US-Soldaten auch gehen; betteln Sie nicht, dass sie noch hierbleiben dürfen. Und zeigen Sie endlich ein Ende dieses Duckmäusertums gegenüber den USA! Und zeigen Sie klare Kante gegenüber Trump!
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Nikolas Löbel, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den vergangenen Jahren sind die wesentlichen Säulen unserer internationalen Sicherheitsarchitektur durch politisches Handeln vor allen Dingen jenseits des Atlantiks stark ins Wanken geraten.
Die Bundesregierung hat im Jahresabrüstungsbericht 2019 die aktuelle sicherheitspolitische Situation sehr deutlich skizziert – ich darf zitieren –: Die „Zukunft der nuklearen Ordnung, die Wiederbelebung von Rüstungskontrolle und Abrüstung, die Eindämmung von Proliferationskrisen und der Umgang mit neuen Technologien und Konfliktfeldern“ gehören zu den zentralen sicherheits- und abrüstungspolitischen Herausforderungen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zur Wahrheit gehört auch: Der INF-Vertrag, er ist Geschichte. Wir müssen leider feststellen, dass mit dem Ende des INF-Vertrags ein wesentlicher Stützpfeiler europäischer Sicherheit endgültig weggebrochen ist. Auch die Zukunft des New-START-Vertrags bleibt ungewiss. New START ist der einzig verbleibende Vertrag der nuklearen Rüstungskontrolle. Er beschränkt die strategischen Arsenale der zwei größten Atommächte, die weltweit über das Gros aller nuklearen Waffen verfügen, und er schafft Transparenz durch weitreichende Verifikationsmaßnahmen. Deshalb begrüßen wir, dass die Bundesregierung sich wiederholt und hochrangig und eindeutig für eine Verlängerung des New-START-Vertrags starkgemacht hat.
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Denn der Erhalt von New START ist die Grundlage für Gespräche zu einer Ausweitung des Vertrags und seine Anpassung an aktuelle Sicherheitsherausforderungen. Die Vertragsbestandteile von New START zeigen auch auf, wie klar definiert Rüstungskontrolle und Abrüstung gemeinschaftlich vereinbart werden können. New START sieht dabei jeweils bis zu 18 Verifikationsbesuche pro Jahr sowie einen regelmäßigen Datenaustausch vor.
Nach Aussage beider Vertragspartner wurden gegenseitige Verifikationsbesuche vereinbarungsgemäß und erfolgreich durchgeführt. Das zeigt: Der Vertrag funktioniert. Dennoch droht der amerikanische Präsident, den Vertrag einseitig zu kündigen. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist falsch; das hat die deutsche Bundesregierung mehrfach deutlich gemacht, und das machen wir heute mit dieser Debatte im Deutschen Bundestag ebenfalls deutlich.
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Der Vertrag läuft zwar im Februar 2021 aus, sieht jedoch die Möglichkeit für eine einmalige fünfjährige Verlängerung vor. Ja, wir brauchen eine Verlängerung, wir brauchen keine Aufkündigung, sondern wir brauchen eine Verlängerung und eine Ausweitung auf weitere Vertragspartner. Denn mit dem Ende des INF-Vertrags bleibt New START eben der einzige Vertrag, der die nuklearen Arsenale der beiden größten Nuklearwaffenstaaten beschränkt.
Beide Staaten setzen den Vertrag bisher vollständig um. Die Bundesrepublik Deutschland hat ebenso wie ihre europäischen Partner ein vitales Interesse an der Verlängerung von New START; denn durch die Begrenzung der Nuklearwaffenarsenale trägt der Vertrag fundamental zum Erhalt der strategischen Stabilität bei und dient so auch deutschen und europäischen Sicherheitsinteressen. Das umfassende Verifikationsregime von New START, es schafft Transparenz und wirkt gleichzeitig vertrauensbildend. Genau das ist es, was wir in diesen Zeiten von steigenden Sicherheitsbedenken brauchen: Wir brauchen mehr Transparenz und mehr Vertrauen und weniger Abschottung.
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Dennoch: Ganz falsch liegen die USA nicht, zumindest mit ihrem erklärten Anliegen, ein mögliches New-START-Nachfolgeregime auch auf neue russische Waffensysteme auszudehnen und zudem China zu mehr Engagement in der nuklearen Rüstungskontrolle zu bewegen. Dieses Ziel ist richtig und berechtigt. Doch die Vereinigten Staaten von Amerika und ihre Administration wählen den falschen Weg, um ihr Ziel zu erreichen. Zu drohen, den Vertrag aufzukündigen und eines Tages den Vertrag tatsächlich zu kündigen, zerstört die gemeinsame Basis für mehr internationale Rüstungskontrolle und Abrüstung. Denn die Verlängerung von New START würde den hierfür erforderlichen umfassenden Verhandlungen zwischen den USA, Russland, China, aber auch beispielsweise zwischen Frankreich und Großbritannien die notwendige Zeit und das notwendige Vertrauen geben. Deshalb begrüßen wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion, dass die Bundesregierung sich vorbehaltlos für die Verlängerung des Vertrages ausspricht, und wir fordern gemeinsam mit der Bundesregierung sowohl Washington als auch Moskau zu konkreten Gesprächen auf, am Vertrag festzuhalten und einen Folgevertrag ab 2021 zu erarbeiten.
Weil der Fortbestand des Vertrages von so großer Bedeutung ist, ist dieser Vertrag immer wieder regelmäßiger Tagesordnungspunkt der Gespräche zwischen dem Bundesaußenminister und seinem US-amerikanischen oder auch seinem russischen Amtskollegen. Zudem nutzt die Bundesregierung multilaterale Foren wie die Generaldebatte des Ersten Ausschusses der Vereinten Nationen oder Treffen der NATO-Außenminister, um sich für den Erhalt und die Verlängerung von New START auszusprechen. Ich bin mir sicher: So wird auch der deutsche Außenminister die Gelegenheit des Außenministertreffens am 22. Juni in Wien nutzen, um die Position Deutschlands deutlich zu machen.
Deutschland hat ein großes sicherheitspolitisches Interesse an der Verlängerung des Vertrages. New START ist ein guter Vertrag. Er reduziert und beschränkt die Anzahl einsatzbereiter strategischer Nuklearwaffen, und er schafft durch sein gut funktionierendes Überprüfungssystem ein hohes Maß an Transparenz und Sicherheit. Ein Auslaufen des Vertrages, des letzten noch existierenden Rüstungsbegrenzungsvertrages im Bereich der Nuklearwaffen zwischen Russland und den USA, wäre eine ernsthafte Gefährdung des Friedens in der Welt. Eine neue Runde atomarer Aufrüstung wäre wahrscheinlich die unmittelbare Folge. Deshalb kommt der Bundesregierung beim Kampf um den Erhalt und die Erneuerung und die Verlängerung von New START erneut eine ganz wichtige Rolle zu – eine Rolle als Moderator, als Mahner und als Motivator. Der Erhalt der letzten Säule der bisherigen internationalen Sicherheitsarchitektur ist im Interesse von uns allen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Für die Fraktion der AfD hat das Wort der Kollege Armin-Paulus Hampel.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Besucher haben wir keine. Liebe Zuschauer, wenn Sie noch an den Schirmen sind, zu Hause! Vieles, lieber Herr Löbel – wo sitzt er? –, was Sie gerade gesagt haben, ist ja richtig. Es stimmt, wir Deutschen haben ein großes Interesse daran, dass diese Verträge weitergeführt werden. Wir haben ein Interesse daran, dass die INF-Regelungen beibehalten werden und wir keine neuen Mittelstreckenraketen in Europa haben. Nur, das Traurige ist – das können Sie in allen Einzelheiten jetzt darstellen, egal von welcher Fraktion hier –: Es interessiert, meine Damen und Herren, in Washington kein Schwein.
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Das ist das Traurige an der Sache: Ob in China ein Sack Reis umfällt oder im Deutschen Bundestag diskutiert wird, interessiert in Washington keinen mehr, und das nicht erst seit Donald Trump, sondern ich verweise darauf, dass es schon eine Forderung der Obama-Regierung war, dass der deutsche Verteidigungsanteil auf 2 Prozent hochgeschraubt wird. Auch die Demokraten haben im Kongress dafür gestimmt, Deutschland wegen Nord Stream 2 mit Sanktionen zu belegen. Warum das alles? Weil es einen Dialog zwischen den Vereinigten Staaten und der Bundesrepublik Deutschland seit der Präsidentschaft Trump gar nicht mehr gibt. Weil wir anfangen, dem amerikanischen Präsidenten rote Linien aufzeigen zu wollen.
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Ein deutscher Bundespräsident ignoriert den US-Präsidenten bei seinem USA-Besuch, ein ehemaliger Außenminister nannte ihn im Wahlkampf Hassprediger, und Frau Merkel sagt mal kurzfristig G7 ab, weil man ja eventuell ahnt – oder auch hofft –, im Herbst könnte der Mann nicht mehr Präsident sein. Das ist derzeitige deutsche – was heißt „Politik“? – Nichtpolitik. Wir haben im Auswärtigen Ausschuss den Staatsminister gefragt. Wenn eine solche Situation, wie sie jetzt entstanden ist, in früheren Zeiten entstanden wäre, dann wäre jeder deutsche Außenminister subito nach Washington geflogen; den Kanzler hätte er mitgenommen, oder umgekehrt. Und man hätte mit den amerikanischen Freunden das Problem so lange diskutiert, bis es vom Tisch ist. – Heute reist kein Schwein mehr nach Washington. Erstens sind wir nicht willkommen, zweitens zeigen wir rote Linien auf,
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und drittens gibt es nicht mal auf Anfrage an die Bundesregierung einen Reisetermin von Herrn Maas oder Frau Merkel. Das ist das Unglaubliche in der heutigen deutsch-amerikanischen Situation.
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– Ich kann Ihnen eins sagen: Auf die Frage, warum denn Frau Merkel nicht reist, wurde angeführt, dass die Coronaeinreisebestimmungen Probleme machen könnten. So absurd wird heute im Auswärtigen Ausschuss diskutiert. Das ist doch lächerlich.
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Zum Thema zurück:
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Auch für uns ist eine weitere Fortführung des Vertrages interessant, wichtig und gut. Aber wir müssen uns schon bereitfinden, mit den Amerikanern wieder einen Dialog führen,
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und zwar auf realpolitischer Basis, Herr Kollege, nicht auf Träumerbasis à la Merkel und Maas.
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Sie müssen mit dem Präsidenten leben, den Sie in Washington haben, und sich nicht irgendeinen erträumen, den es dann im Herbst vielleicht doch nicht geben wird. Auch dann geht die Weltpolitik weiter.
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Wir sind also dafür, dass wir eine Verständigung mit Russland suchen – ich habe es schon mal gesagt –, um den INF-Vertrag vielleicht auf Basis einer gemeinsamen europäischen Regelung fortzuführen.
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Beim START-Vertrag bleibt Ihnen in der Tat nichts anderes übrig, als nach Washington zu reisen.
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Nur, ob das heute erhobenen Hauptes noch möglich ist, wage ich zu bezweifeln. Noch mal: In Washington interessiert das deutsche Lamento und auch Ihr Lamento, Frau Kollegin, zurzeit kein Schwein. Das ist die traurige Realität.
Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren.
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Für die SPD-Fraktion hat als Nächstes das Wort der Kollege Dr. Karl-Heinz Brunner.
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Sehr verehrter Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Ich will zu den Äußerungen zu Rüstungsausgaben in Höhe von 2 Prozent des BIP nichts sagen, weil sie so aberwitzig und absurd sind, wie die 2-Prozent-Diskussionen immer waren. Wer unser BIP anschaut, sieht: Wenn sich die wirtschaftliche Situation nicht ändert und wenn unsere Maßnahmen nicht greifen, werden wir uns auf die 2 Prozent sehr schnell zubewegen, egal, was wir wollen. Aber dann haben wir am Ende gar nichts in den Händen.
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Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, am 26. März 2010 – das dürfte in Deutschland unstrittig sein – hat der Deutsche Bundestag beschlossen, dass Deutschland atomwaffenfrei und nuklearfrei sein soll. Das war gut, das war richtig. Das war eine gute Entscheidung, die der Deutsche Bundestag getroffen hat.
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Diese Entscheidung, die der Deutsche Bundestag getroffen hat, bedarf aber zu ihrer Umsetzung einer klugen, einer vernünftigen und vor allen Dingen einer machbaren Politik. Dazu müssen wir wissen, dass Abrüstung – und nukleare Abrüstung ist am Ende dieser Kette – nur dann möglich ist, wenn es uns wieder gelingt, den Dreiklang aus Vertrauensbildung, aus Verifikation und letztendlich dann aus Abrüstung herzustellen.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, diesen Dreiklang herzustellen, gelingt uns leider Gottes nicht durch „America first“, „Russia first“, „Germany first“, sondern nur dadurch, dass wir klug und vertrauensvoll vorgehen.
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Dies haben wir, die Weltgemeinschaft, die Russische Föderation und die USA, mit den START-Abkommen gemacht: mit START I, mit START II und letztendlich dann mit New START, dem Vertrag, der im April 2010 in Prag durch die damaligen Präsidenten Barack Obama und Dimitrij Medwedew unterzeichnete wurde. Er hat eine gute Message, würde ich sagen, gehabt, indem die Zahl der einsatzbereitgehaltenen nuklearen Sprengköpfe auf 1 550 und die der Trägersysteme auf 800 begrenzt wurden und er einen guten Austausch von Informationen und gegenseitiger Verifikation hinsichtlich der Begrenzung ermöglichte. New START hat deshalb auch einen maßgeblichen Beitrag zur geopolitischen Stabilität nicht nur zwischen den USA und Russland geleistet, sondern auch in Europa, in Deutschland und anderswo zu friedlichem Leben geführt.
New START ist – das wissen wir alle, die sich mit der Materie beschäftigen – nicht ohne Schwächen: Auch wenn Russland und die USA nach wie vor die mit Abstand größten Atommächte dieses Globus sind, versuchen auch andere Staaten – das wissen wir –, ihre nukleare Option auszubauen. Trotzdem ist klar, dass eine Welt ohne diesen Vertrag, ohne New START, so sage ich, weit weniger sicher wäre. Mittlerweile ist leider Gottes New START neben Open Skies eines der letzten verbliebenen Abkommen zur Rüstungskontrolle, und zwar zur nuklearen Rüstungskontrolle zwischen den nuklearen Supermächten USA und Russland. Schon deswegen wäre es schade, nein, ein fatales Signal, wenn 2021 New START sang- und klanglos auslaufen würde. Es wäre ein dramatischer Rückschritt für die weltweite Abrüstung. Dies gilt umso mehr, weil derzeit kein Ersatz in Sicht ist.
Diese große Bedeutung von New START hebt auch der Antrag der Linken hervor. Das ist ein gutes Zeichen. Ich habe ja schon Forderungen gesehen, die sich weitaus bizarrer dargestellt haben. Zu Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, und dem klaren Antrag der Grünen, Nuklearwaffen aus Deutschland am besten sofort abzuziehen, muss man aber sagen: Man sollte sich einmal darauf verlassen, dass die Bundesregierung, insbesondere der Außenminister, hier nicht nur hinsichtlich des Neustarts der Abrüstungsinitiativen an vielen Baustellen mit vollem Einsatz bei der Sache ist und bleiben wird, auch ohne dass der Deutsche Bundestag die Anträge einzelner Fraktionen, in denen ein bestimmtes Regierungshandeln gewünscht wird, umsetzt. Dieser Antrag zeigt eigentlich eher die Geringschätzung gegenüber der Bundesregierung. Sie soll das tun, was eigentlich ihre Aufgabe ist, und das tut sie.
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Alles in allem weiß ich nicht, was ich von Ihren Anträgen halten soll. Offensichtlich wissen Sie selbst es auch nicht; denn am Schluss kommen Sie alle immer zum Ergebnis: Wir müssen New START erhalten. Wie wir das machen, sagen wir nicht. – Und: Die nuklearen Sprengköpfe sollten aus Europa und aus Deutschland so schnell wie möglich abgezogen werden.
Ja, man muss – und das sage ich auch ganz deutlich – über die nukleare Teilhabe reden. Man muss diskutieren. Man muss den Beschluss des Deutschen Bundestages in eine realitätsnahe Politik umsetzen; denn das ist ein wichtiges Thema.
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Dieses wichtige Thema muss debattiert werden, so wie die Sozialdemokratie dies macht: intern, extern mit den Menschen draußen in der Gesellschaft. Aber: Wir müssen uns bei der nuklearen Teilhabe auch im Klaren darüber sein, dass kluge Politik nicht bedeutet: Ich gebe jegliche Verhandlungsmasse auf und mache dadurch die Welt besser.
Ich möchte mal ein Beispiel bringen. Wenn ich Karten spiele und bei dem Kartenspiel ein gutes Blatt habe – ich habe mir sagen lassen, da ich aus Bayern komme, dass Schafkopf und Skat natürlich ganz unterschiedlich gespielt werden –, dann werde ich bei diesem guten Blatt nicht die Joker, also die guten Karten, die ich habe, aus der Hand geben, um dann zu verhandeln. Ich sage ganz deutlich mit Blick auf Europa: Wie könnte Deutschland auf Nuklearwaffen verzichten und dabei sagen: „Wir geben auf und haben jetzt eine bessere Verhandlungsposition mit der Russischen Föderation,
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wenn diese gleichzeitig in Kaliningrad einen Sprengkopf hat?“ Da muss ich was im Köcher haben, um verhandeln zu können.
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Wenn ich abrüsten will, muss ich Maßnahmen zur Verhandlung und Einrichtungen zum Verhandeln haben, und dazu dient die nukleare Teilhabe.
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Ich sage auch ganz klar für die deutsche Sozialdemokratie und für unsere Fraktion in diesem Hohen Haus: Sicherheitspolitik und nukleare Teilhabe in Deutschland und in Europa bedeutet auch, dass wir mit den Parteien diese Maßnahmen verhandeln –
Herr Kollege, kommen Sie zum Ende.
– danke, Herr Präsident, ich komme zum Ende – und dass wir letztendlich – last, but not least – unser Ziel eines atomwaffenfreien Europa und atomwaffenfreien Deutschland nicht aus den Augen verlieren.
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Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Zeit für die namentliche Abstimmung geht allmählich zu Ende. Wer noch nicht abgestimmt hat, sollte jetzt aufbrechen. Herr Kollege Bijan Djir-Sarai von der FDP, haben Sie schon abgestimmt?
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– Das ist gut. Dann erteile ich Ihnen jetzt das Wort.
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Exakt! – Herr Präsident, vielen Dank für Ihre Fürsorge! – Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um es direkt auch hier am Anfang der Debatte ganz deutlich zu sagen: Das Ende des New-START-Vertrages wäre nicht nur bedauerlich, sondern außerordentlich gefährlich für Deutschland, für Europa und übrigens für die gesamte internationale Gemeinschaft.
Nach dem Scheitern von INF, JCPoA und Open Skies ist New START faktisch einer der letzten großen Kooperationen der internationalen Rüstungskontrolle. Gerade deshalb, meine Damen und Herren, muss alles darangesetzt werden, damit nicht auch noch dieser Vertrag scheitert. Gerade in unsicheren Zeiten wie diesen muss auf die Verbindlichkeit internationaler Verträge besonders geachtet werden.
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Die Bundesregierung hätte ihre Bemühungen sowohl bilateral als auch innerhalb des NATO-Bündnisses schon längst intensivieren müssen; denn nicht erst seit gestern wissen wir, wie Präsident Trump mit internationalen Abkommen umgeht. Auch wird bei dieser Debatte viel zu oft vergessen, worum es eigentlich hier geht: Es geht um eine nachhaltige Sicherheitsarchitektur für Deutschland und Europa.
Viel früher hätte die Bundesregierung auf die immer wieder im Raum stehenden Vorwürfe der Vertragsverletzung Russlands reagieren müssen. Viel früher hätte die Bundesregierung auf die zum Teil berechtigte Kritik der US-Administration eingehen müssen. Es war nicht die Trump-Administration – das ist ja vorhin schon gesagt worden –, die diese Debatte angestoßen hat. Diese Debatte hat schon in der Obama-Administration existiert, meine Damen und Herren.
Auch die Tatsache, dass Staaten wie Iran und Pakistan nuklear aufrüsten, stellt die Sinnhaftigkeit einiger Verträge seit geraumer Zeit infrage. Die internationalen Regelwerke müssen daher der politischen Realität angepasst werden.
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Unser ehemaliger Außenminister Guido Westerwelle hat sich immer für eine atomwaffenfreie Welt eingesetzt.
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Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen müssen ein zentrales Anliegen deutscher Außenpolitik sein. Dennoch dürfen wir auf dem Weg dahin – und das ist der große Unterschied – nicht naiv sein. Eine einseitige, von hier ausgehende Abrüstung wäre nicht nur naiv, sondern gefährlich. Übrigens: Auch das hat Guido Westerwelle immer gesagt. Ich sage das, weil hier in den Debatten gelegentlich unser Freund Guido Westerwelle falsch zitiert wird.
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Man kann nicht – das ist das, was man dieser Bundesregierung und auch einigen, die sich in dieser Debatte äußern, vorwerfen muss – auf der einen Seite Multilateralismus predigen und auf der anderen Seite zugleich den Ausstieg aus multilateralen Bündnissen mit demselben Zungenschlag fordern. Ein derartiger Schritt würde Deutschland in der NATO isolieren. Es wäre schlecht für Deutschland, schlecht für Europa und übrigens auch schlecht für die NATO.
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Deutschland kommt eine besondere Verantwortung zu. Deutschland muss außen- und sicherheitspolitisch endlich mehr Verantwortung übernehmen.
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Meine Damen und Herren, die Welt von heute ist viel komplizierter und komplexer geworden. Dementsprechend ist Abrüstung heute viel komplizierter und komplexer als vor einigen Jahren. Ich erwarte von der Bundesregierung, dass sie sich mit der Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft mit aller Kraft für eine sinnvolle und nachhaltige Sicherheitsarchitektur in Europa einsetzt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Die nächste Rednerin ist für Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Katja Keul.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Risiko einer nuklearen Katastrophe ist wieder da. Es war nie wirklich weg. Aber wir hatten zwischendurch mal eine Phase, in der es eingehegt schien durch Verträge, Vertrauen und Rüstungskontrolle. Es schien, als hätte die Menschheit tatsächlich begriffen, dass Abschreckung durch tausendfachen Overkill bzw. die Drohung mit dem doppelten Selbstmord die Welt nicht sicherer macht. Davor stand die Erkenntnis, dass die Technologie eben nicht wirklich beherrschbar ist, da sowohl Mensch als auch Technik Fehler machen. General George Lee Butler, früherer Oberbefehlshaber des US-Atomraketenarsenals, sagte dazu – Zitat –:
Wir sind im Kalten Krieg dem atomaren Untergang nur durch eine Mischung von Sachverstand, Glück und göttlicher Fügung entgangen, und ich befürchte, das letztere hatte den größten Anteil daran.
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Seit 1956 standen wir 46-mal vor der Nuklearkatastrophe: 26-mal war es technisches und 20-mal menschliches Versagen. Soll also keiner glauben, dass das in Zeiten der künstlichen Intelligenz besser würde! Im Gegenteil: Die Reaktionszeiten, die nötig sind, um automatisierte Prozesse durch menschliches Eingreifen zu stoppen, werden immer kürzer. Und der menschliche Verstand ist seit dem Kalten Krieg leider auch nicht entsprechend gewachsen.
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Auch nach der langjährigen Phase der Rüstungskontrolle stehen sich jeweils mehr als 1 500 amerikanische und russische Atomsprengköpfe gegenüber, die unmittelbar einsatzbereit, also quasi scharf gestellt sind. Und es wird weiter investiert. Allein die USA wollen in den nächsten zehn Jahren 500 Milliarden Dollar in Atomwaffen investieren. Es braucht für New START ein Folgeabkommen – mit oder ohne China. Alles andere wäre eine Katastrophe für zukünftige Generationen.
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Ein multilaterales Abkommen gibt es übrigens schon. Nach dem Atomwaffensperrvertrag sind die Atomstaaten schon lange verpflichtet, endlich abzurüsten.
Die Bundesregierung hat zwar auf die konkreten bilateralen Verhandlungen zwischen den beiden größten Atommächten wenig Einfluss, sie kann aber trotzdem zweierlei tun: erstens die nukleare Teilhabe und damit Atomwaffen auf deutschem Boden aufgeben und zweitens den Atomwaffenverbotsvertrag unterstützen, der aus Protest gegen die Aufrüstung der Nuklearmächte von der UN-Vollversammlung beschlossen wurde.
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Unsere Sicherheit hängt nicht an Atomwaffen; im Gegenteil: Ihr Einsatz würde uns in Europa alle gleichermaßen treffen. In Sicherheit sind wir erst, wenn Atomwaffen abgerüstet und vernichtet werden.
Die gestrigen Beschlüsse der NATO-Ministerkonferenz machen es nicht besser. Laut Generalsekretär Stoltenberg habe die Allianz sich auf einen Rahmen für die Abschreckung geeinigt, wie es ihn seit den 60er-Jahren nicht mehr gegeben habe. Wir Grüne halten diesen Weg für falsch.
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Wir stehen zum Bundestagsbeschluss von 2010. Lassen Sie uns mit dem Abzug der Atomwaffen aus Büchel ein Zeichen setzen! Gerade in Zeiten eskalierender Konflikte brauchen wir ein entschlossenes Eintreten für eine atomwaffenfreie Welt. Hören wir auf General Butler, und verlassen wir uns nicht allein auf die göttliche Fügung!
Vielen Dank.
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Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem New-START-Vertrag ist die Anzahl der Gefechtsköpfe von 2 200 auf 1 500 reduziert worden, und die Anzahl der Trägerraketen hat sich von 1 600 auf 800 halbiert. Der New-START-Vertrag ist der letzte große Abrüstungsvertrag im Rahmen einer globalen Abrüstungsstrategie. Deswegen hat jede Initiative unsere Unterstützung verdient, diesen New-START-Vertrag, der nächstes Jahr auslaufen soll, zu verlängern oder ihn gar durch ein neues Abkommen abzulösen. Wir brauchen ihn. Wir wollen, dass die weltweite nukleare Abrüstung ihre Fortsetzung findet, und wir schauen optimistisch auf die nächste Runde, die nächste Woche in Wien beginnen wird.
Wir teilen auch, wie Sie wissen, die Vision einer nuklearwaffenfreien Welt. Die Proliferation von Atomwaffen und der dadurch mögliche Schaden eines nuklearen Sturmes, der die Menschheit vernichten kann, ist eine der ganz großen Gefahren unserer Zeit. Das zu verhindern muss deswegen im Mittelpunkt der internationalen Sicherheitspolitik stehen. Aber wir werden diese Fragen nicht lösen, wenn wir sie auf die Frage des Abbaus und des Rückgangs der nuklearen Teilhabe in Deutschland reduzieren.
Wir brauchen die nukleare Teilhabe, weil davon auch unmittelbar die Sicherheitsarchitektur der NATO und damit auch unsere Glaubwürdigkeit im Bündnis abhängen.
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Wir dürfen nicht vergessen, dass die Sicherheit, die Deutschland erfahren hat, nur deswegen möglich war, weil die Vereinigten Staaten im Rahmen ihrer Nuklearstrategie einen Sicherheitsschirm über Europa gespannt haben.
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Deswegen ist es nur recht und billig, dass wir als großer NATO-Partner auch bereit sind, unseren Beitrag in diesem Bündnis zu leisten.
Wenn es um die Gefährlichkeit von Atomwaffen geht, dann geht es nicht in erster Linie um die mehrere Dutzend taktischen Atomwaffen, die in Büchel oder woanders liegen mögen; es geht um die strategischen Atomwaffen, um die U-Boot-gestützten und raketengestützten Atomwaffen. Das sind die Arsenale, die wir reduzieren wollen. Die taktischen Atomwaffen brauchen wir, weil es auch darum geht, rote Linien zu definieren. In einer Welt, in der ich feststellen muss, dass in Kaliningrad Raketen stationiert werden, in einer Welt, in der ich feststellen muss, dass sich die russische Strategie ändert, braucht auch die NATO ein klares Potenzial, zu sagen: Hier ist eine rote Linie. Hier handeln wir in der NATO gemeinsam, um Freiheit und Sicherheit zu verteidigen.
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Wenn wir darüber sprechen, die nukleare Teilhabe aufzugeben, dann wäre doch die konsequente Frage: Was folgt daraus? Folgt daraus beispielsweise eine Neustationierung von taktischen Atomwaffen in Polen oder in anderen Staaten? Das, meine Damen und Herren, würde der NATO-Russland-Grundakte von 1997 widersprechen und damit eigentlich die Gefahr der Eskalation erst vergrößern und sie nicht kleiner werden lassen.
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Wir müssen aber alles dafür tun, dass die Gefahr der Eskalation geringer wird.
Auch müssen wir feststellen, dass es im Augenblick keine europäische Option gibt. Wir können Freiheit und Sicherheit im Augenblick nicht ohne das transatlantische Bündnis sicherstellen. Deswegen stehen wir zur NATO und zum transatlantischen Bündnis, und ein wichtiger Bestandteil ist dabei auch die nukleare Teilhabe. Deswegen: Lassen Sie uns unsere Verantwortung wahrnehmen,
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für Abrüstung und für eine Reduzierung der Atomwaffen, aber in einer Art und Weise, die gleichzeitig auch unsere Freiheit und Sicherheit garantiert.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Ich schließe die Aussprache.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man in das Gesetz blickt, das wir heute verabschieden wollen, dann ist das eigentlich rein technisch sehr unspektakulär. Der entscheidende Satz lautet:
Das Bundesministerium der Finanzen wird ermächtigt, Gewährleistungen bis zur Höhe von insgesamt 6 383 820 000 Euro zur Absicherung der Kredite der Europäischen Union zu übernehmen ...
Spannend wird es dann, wenn man sich damit beschäftigt, worum es bei dieser Kreditabsicherung geht; denn die Krise der letzten Wochen und Monate hat uns ja nicht nur gezeigt, welche Schwächen in den Gesundheitssystemen der verschiedenen Staaten dieser Erde vorherrschen. Sie hat auch leidvoll und deutlich zum Ausdruck gebracht, welche Schwächen es in den Sozialsystemen in Europa und weltweit gibt.
Wenn man zum Beispiel sieht, was in den Vereinigten Staaten von Amerika los ist, wo binnen weniger Wochen über 41 Millionen Menschen ihre Arbeit verloren haben, ihren Arbeitsplatz verloren haben und sich heute die Frage stellen müssen, welche Jobperspektive sie haben, dann weiß man, wie wichtig es ist, dass man Arbeitsmarktinstrumente hat, die genau dort ansetzen. Wenn wir in die Europäische Union gucken, dann sehen wir, dann erleben wir, dass es sehr unterschiedliche, verschiedene Systeme gibt, gut ausgeprägte Systeme und solche, die nicht sehr gut funktionieren.
Ich glaube, wir können als Abgeordnete des Deutschen Bundestages auch mit Stolz sagen: Wir haben hier in der Bundesrepublik Deutschland ein sehr gut funktionierendes System des Kurzarbeitergeldes, ein System, auf das viele Menschen, viele Staaten, sehr neidvoll gucken, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Dieses unser Kurzarbeitergeld hat uns geholfen, Hunderttausende Arbeitsplätze in diesem Land zu erhalten. Es sichert Menschen Perspektive, und es ist ein System, das jetzt gerne viele andere Staaten auch aufbauen wollen; und genau dabei wollen wir ihnen helfen. Genau dabei will ihnen die Europäische Union helfen, indem sie ein 100 Milliarden Euro schweres Programm auflegt und mit zinsgünstigen Darlehen dafür sorgt, dass es solidarische Systeme des Kurzarbeitergeldes in Zukunft auch in anderen europäischen Ländern geben kann. Das begrüßen wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ausdrücklich.
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Dieses 100 Milliarden Euro schwere Programm ist eingebettet in eine Vielzahl anderer Programme; es ist eine kräftige Säule der europäischen Solidarität. Wir haben bereits in der vorletzten Sitzung des Deutschen Bundestages hier ein Programm im Umfang von 240 Milliarden Euro mit auf den Weg gebracht, um über den ESM Kredite zur Verbesserung der Gesundheitssysteme anbieten zu können. Wir wissen von dem 200 Milliarden Euro schweren Programm der Europäischen Investitionsbank für Liquiditätshilfen für kleine und mittlere Unternehmen. Und wir kennen den insbesondere von Olaf Scholz und Bruno Le Maire ausgearbeiteten Plan, das 500-Milliarden-Euro-Programm zum Wiederaufbau Europas. All das muss man zusammendenken, und all das ist zusammengedacht gelebte europäische Solidarität, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Solidarität innerhalb des europäischen Binnenmarktes ist auch für uns Abgeordnete des Deutschen Bundestages und ist auch für die europäische Wirtschaft wichtig; denn – man kann es nicht häufig genug sagen – die deutsche Wirtschaft wird sich nur dann wieder erholen können, wenn sich auch die europäische Wirtschaft erholt. Wir leben in einem vernetzten europäischen Binnenmarkt, und diejenigen, die nur auf den nationalen Markt gucken, die nur auf Deutschland gucken und die sagen: „Wir müssen doch eigentlich nur dafür Sorge tragen, dass hier Geld ausgegeben wird“, die verkennen, dass wir in einer verflochtenen Wirtschaft leben und arbeiten, und legen die Axt an den Erfolg unserer Wirtschaft in Deutschland. Deshalb ist dieses Paket der Solidarität auch genau das richtige und auch gerade im deutschen Interesse, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Wir wollen am Ende ein stärkeres und ein solidarischeres Europa haben. Und ich bin der festen Überzeugung, dass wir am Ende dann auch ein geeinteres Europa haben, wenn unsere europäischen Partner merken: Wir stehen als Europa auch in der Krise zusammen.
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Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Für die Fraktion der AfD hat das Wort die Kollegin Ulrike Schielke-Ziesing.
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Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Bürger! Heute debattieren wir in der zweiten und dritten Lesung ein zwar gut klingendes, aber wenig sinnvolles europäisches Instrument zur Rettung in Not geratener Mitgliedstaaten.
Die deutsche Idee der Kurzarbeit hat sich bei uns bewährt und findet europaweit Anerkennung. Zur erfolgreichen Bewältigung einer wirtschaftlichen Krise gehört aber mehr, als nur die Arbeitsplätze oder die Arbeitslosigkeit zu subventionieren. Eine disziplinierte Haushaltsführung erlaubt es uns Deutschen, das Programm der Kurzarbeit aufrechtzuerhalten. Diese disziplinierte Haushaltsführung würde man sich auch bei anderen europäischen Ländern wünschen. Die Verschuldung mancher EU-Mitgliedstaaten ist aber jenseits von Gut und Böse. Nur um ein paar Zahlen zu nennen: Griechenland 170 Prozent, Italien 134 Prozent, Portugal 117 Prozent, Spanien 98 Prozent und Deutschland weniger als 60 Prozent des jeweiligen BIPs. Das sind alles Zahlen aus Vor-Coronazeiten, genauer: aus dem vierten Quartal 2019.
Betrachten wir aber einmal Europas Systeme zum Kurzarbeitergeld. Hier gibt es große Unterschiede im Hinblick auf die Höhe der Auszahlung, Bezugsdauer und Versteuerung. Ein spanischer Angestellter erhält bei maximal möglicher Bezugsdauer rund 38 600 Euro ausgezahlt, während ein deutscher Bezieher des Kurzarbeitergeldes auf lediglich circa 21 300 Euro kommt. Wie soll denn jetzt mit SURE das alles gerecht verteilt werden? In beiden Ländern zahlen die Bezieher beim Erhalt des Kurzarbeitergeldes keine Steuern oder Sozialabgaben. In Deutschland werden aber eventuell Steuern bei der Einkommensteuererklärung im Folgejahr fällig.
Wie wir aus der ersten Beratung im Plenum wissen, mangelt es derzeit ja nicht an finanzieller Unterstützung innerhalb der EU. Im Zuge der Coronakrise hat Italien beispielsweise die ESM-Mittel in maximaler Höhe von 39 Milliarden Euro ausgeschlagen. Ähnlich wie bei SURE wären die ESM-Mittel ein Darlehen oder Kredit. Warum, denken Sie, hat Italien diese Hilfe nicht wahrgenommen und soll Ihrer Meinung nach die SURE-Mittel in Anspruch nehmen? Nun, für das ESM-Darlehen haftet Italien selbst, für SURE-Kredite – ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten aus der Verordnung des Rates vom 2. April 2020 – gilt:
Bleibt eine Rückzahlung durch einen Mitgliedstaat aus, kann die Kommission für die Rückzahlung der im Namen der Union begebenen entsprechenden Anleihen erneut Kredite aufnehmen („Roll-over“).
Mit anderen Worten: Wenn ein Mitgliedstaat seine Kredite nicht bedienen kann, dann springt die EU ein. Was soll das denn anderes sein als eine Schuldenunion?
Übrigens: Diese Passage ist im aktuellen Gesetzentwurf der Bundesregierung erst gar nicht enthalten. Man würde meinen, die Bundesregierung macht sich über die Rückzahlung der Darlehen keine Gedanken.
Das Garantiesystem für die Mitgliedstaaten soll zum 31. Dezember 2022 enden. Im Gesetzentwurf ist eine Ermächtigung der EU-Kommission verbaut, die dieses System um jeweils sechs weitere Monate verlängern kann, sofern die EU-Kommission schlussfolgert, dass die gravierenden wirtschaftlichen Störungen in den Mitgliedstaaten weiterhin bestehen. SURE ist damit mitnichten ein zeitlich begrenztes Instrument. Ein Ende ist nicht fest definiert.
Wie kann dann auseinandergehalten werden, dass die schlechte wirtschaftliche Situation beispielsweise in Griechenland nun noch von Corona herrührt oder nicht? Und wie ist definiert, ab wann es dem entsprechenden Land dann wieder besser geht und die Hilfen eingestellt werden?
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Konkrete Vorgaben dazu sind nicht zu finden.
Damit ist dann doch durch die Hintertür das eingeführt, was die SPD schon so lange wollte – eine Arbeitslosenrückversicherung auf europäischer Ebene.
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Darüber sollte sich die CDU/CSU-Fraktion im Klaren sein.
Vielen Dank.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Carsten Körber.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Seit drei Monaten sind wir mit der Coronapandemie und ihren Auswirkungen konfrontiert. Das Coronavirus trifft und betrifft einen jeden von uns. Es betrifft uns alle unmittelbar in unserem privaten Leben, es betrifft uns als Gemeinschaft und als Gesellschaft, und es betrifft auch unsere Volkswirtschaft.
Die Unternehmen haben Aufträge verloren, Lieferketten wurden unterbrochen, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mussten, wo dies irgend möglich war, ins Homeoffice gehen, und es wurden so viele Menschen wie noch nie in Kurzarbeit geschickt – insgesamt bis zu10 Millionen. Mittlerweile sind wir zum Glück an einem Punkt, an dem viele zwischenzeitlich notwendige Einschränkungen und Verbote wieder gelockert und aufgehoben werden konnten.
Bislang – und das ist nicht nur mein Eindruck – hatten wir die Situation in Deutschland recht gut im Griff. Unsere Maßnahmen zur Einschränkung des öffentlichen Lebens waren im internationalen Vergleich maßvoll, aber sie waren wirkungsvoll. Die Entwicklung in Deutschland zeigt – gerade im Vergleich zur Lage in anderen Ländern –, dass wir ganz offensichtlich auch vieles richtig gemacht haben. Deswegen ist es jetzt gut und richtig, dass wir nun solidarisch mit unseren europäischen Partnern sind.
Deshalb haben wir uns bereits im April mit unseren Partnern auf das Drei-Säulen-Konzept zur Stabilisierung der Euro-Zone verständigt. Dieses Paket umfasst folgende drei Elemente: Kredite der Europäischen Investitionsbank, EIB, in Höhe von bis zu 200 Milliarden Euro für kleine und mittelständische Unternehmen; das neue EU-Kurzarbeiterprogramm SURE mit bis zu 100 Milliarden Euro, über das wir jetzt debattieren und dann beschließen werden; schließlich den Euro-Krisenfonds ESM mit bis zu 240 Milliarden Euro für Gesundheitskosten. Das sind insgesamt 540 Milliarden Euro.
Die europäische Solidarität, so kritisieren manche, sei doch viel zu teuer. Richtig ist: Ja, das ist Geld. Und richtig ist auch: Das ist richtig viel Geld. Aber diese Solidarität mit unseren Partnern in der EU ist notwendig, gerade auch für uns als Exportnation; denn diese Mittel sind doch keine Almosen, die wir irgendwie verteilen; nein, das sind sie nicht. Zum einen handelt es sich um Kredite, die zurückgezahlt werden müssen,
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und zum anderen kommt auch unsere Wirtschaft doch nur dann wieder auf die Beine, wenn all diejenigen, die unsere Güter und Dienstleistungen kaufen sollen, selbst wieder auf die Beine kommen.
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Es ist in unserem ureigenen Interesse, dass Italien, Frankreich, Spanien und all die anderen, die weitaus stärker von den Folgen der Coronapandemie betroffen sind als wir, diese dramatischen Folgen so gut, so schnell und so umfassend wie möglich bewältigen. Wir wollen und wir werden unsere europäischen Partner in dieser Krise nach Kräften unterstützen.
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Das, was wir hier tun, liegt im Rahmen unserer Möglichkeiten, und unsere Verantwortung gebietet es, dass wir das tun; denn die Europäische Union ist eben nicht nur eine Wirtschaftsgemeinschaft. Sie ist doch weit mehr. Schließlich teilen wir auch gemeinsame Werte und Ideale.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Sichert?
Nein.
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Deshalb unterstützen wir die SURE-Initiative von Ursula von der Leyen. Diese befristete Nothilfe wird dazu beitragen, den durch die Krise in der EU schwer getroffenen Menschen mit Kurzarbeit eine Brücke zu bauen und ihre Arbeitsplätze zu sichern.
Lassen Sie mich eines aber deutlich betonen, weil das eben auch in dieser Debatte schon wieder sachlich falsch dargestellt wurde: Es geht hier eben nicht um eine europäische Arbeitslosenversicherung, es geht nicht um die Vereinheitlichung des Kurzarbeitergeldes, und es geht schon gar nicht um eine Vergemeinschaftung von Schulden. Im Gegenteil!
Erstens ist das SURE-Programm nicht auf Dauer angelegt, sondern nur für die aktuelle Krise. Es ist befristet bis Ende 2022, und nur in bestimmten eng definierten Ausnahmefällen ist es jeweils um sechs Monate verlängerbar.
Zweitens handelt es sich eben nicht um Zuschüsse, sondern um Kredite in Höhe von bis zu 100 Milliarden Euro, für die die europäischen Nationalstaaten mit ihren Haushalten garantieren.
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Unser Anteil liegt dabei bei 6,3 Milliarden Euro.
Drittens. Diese Kredite sind konditioniert. Sie dienen ausschließlich der Finanzierung von Kurzarbeit und dem Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz.
({2})
In Zeiten von Corona haben wir in Deutschland unsere Kurzarbeiterregelung an die krisenbedingten Bedürfnisse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Land angepasst und insgesamt deutlich verbessert. Dazu wollen wir nun auch auf europäischer Ebene unseren Beitrag leisten.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank, Herr Präsident. – Werter Herr Kollege, Sie haben in Ihrer Rede gesagt: Wir unterstützen unsere europäischen Partner. – Ist unsere Aufgabe als Politiker im Deutschen Bundestag nicht vielmehr, die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen sowie die Unternehmen hier in diesem Land in allererster Linie zu unterstützen?
Wir haben in den letzten Wochen gesehen, dass immer mehr Geld nach Europa geht; Sie haben selber von 540 Milliarden Euro gesprochen. Das Konjunkturpaket wird uns voraussichtlich 135 Milliarden Euro kosten. Wir sehen, dass uns die Europäische Union schon jetzt jedes Jahr 18 Milliarden Euro kostet, und der deutsche Beitrag an die Europäische Union soll noch mal um 42 Prozent erhöht werden. Heute sollen noch mal knapp 7 Milliarden Euro für Kurzarbeit in allen möglichen anderen europäischen Ländern bereitgestellt werden.
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Wo ist denn irgendwann mal Schluss? Wir wissen ja nicht mal mehr, wie am Ende dieses Jahres die Kurzarbeit und die Arbeitslosen in Deutschland bezahlt werden sollen, weil nach den vorausschauenden Prognosen des BMAS irgendwann im August die Kassen voraussichtlich leer sind, und dann werden wir über Nachtragshaushalte und anderes reden müssen.
({1})
Das heißt, wir haben voraussichtlich nicht mal genug Geld bis Ende dieses Jahres bzw. bis zum nächsten Jahr, um die Kurzarbeit und die Arbeitslosengelder mit den jetzigen Haushalten finanzieren zu können. Wir werden Nachtragshaushalte brauchen und geben auf der anderen Seite immer mehr Geld an die Europäische Union. Wo ist denn irgendwann mal Schluss mit „immer mehr Geld an die EU“?
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Sehr geehrter Herr Kollege, zum einen verwechseln Sie Garantien mit Direktzahlungen, und zum anderen: Wenn Sie meiner Rede aufmerksam zugehört hätten, dann wüssten Sie, dass ich davon sprach, dass wir als die Exportnation in Europa natürlich ein vitales Interesse daran haben, dass unsere Märkte – vor allen Dingen auch innerhalb der Europäischen Union – wieder auf die Beine kommen; denn nur so unterstützen wir auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unserem Land, indem ihre Arbeitsplätze in unserem Land erhalten bleiben.
Deshalb halte ich diesen Weg auch nach Ihrer Kurzintervention nach wie vor für absolut richtig.
Danke.
({0})
Geschätzter Herr Vizepräsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Zur Überraschung mancher: Die FDP wird diesem Gesetzentwurf zustimmen. Warum wird sie das tun? Weil es hier um die Frage geht, die wir uns alle hier in dieser Krise immer wieder stellen müssen: Wie sorge ich dafür, dass Mitmenschen – und Mitmenschen sind auch europäische Mitmenschen – nicht Angst davor haben müssen, was morgen passiert?
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– Ja, für Sie sind Nordkoreaner Mitmenschen.
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Aber Sie haben für sie genauso wenig Mitgefühl wie für Europäer, und das ist der Unterschied zwischen Ihrer Partei und den anderen Parteien hier in diesem Bundestag.
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Meine Damen und Herren, wir haben es mit der sozialen Marktwirtschaft erreicht, dass wir über das Kurzarbeitergeld dafür sorgen, dass die, die eigentlich in früheren Zeiten noch voller Angst in die Zukunft blicken mussten, sagen können: Ich habe wenigstens einen Brückenbau; ich habe eine Möglichkeit, die dafür sorgt, dass ich nicht heute schon in die Tiefe gucken muss, sondern dass eben hier die Mittel zur Verfügung gestellt werden.
Übrigens, das möchte ich auch noch mal in Richtung der Großen Koalition sagen: Kurzarbeitergeld ist keine Leistung des Staates. Das ist eine Leistung der Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die der Staat vermittelt. Das sollten wir immer wieder auch im Auge behalten, wenn wir über Kurzarbeit und Leistungsausweitung reden.
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Deswegen ist es wichtig, dass wir auf europäischer Ebene – da stimme ich meinem Vorredner ausdrücklich zu – dafür sorgen, dass wir das auf Dauer einführen. Nur, Kollege Rohde: Das, was Sie jetzt sagen, dass mit diesen Mitteln von SURE schon die Kurzarbeiterregelungen so, wie sie in Deutschland gemacht worden sind, eingeführt werden, ist nicht der Fall. SURE hilft nur dabei, die gegenwärtig schon existierenden Systeme so zu stabilisieren, dass sie keinen Einbruch erleiden und die Länder Europas um uns herum eben nicht noch weiter in die Krise hineinrutschen.
Was notwendig ist – da sind wir uns einig –, ist, dass all die Länder, die noch nicht dieses System hatten, mit dem bei uns Arbeitgeber und Arbeitnehmer angespart haben, dieses System in Zukunft einführen. Da wird die FDP als Oppositionsfraktion ganz genau gucken, was der inzwischen ja wohl klar werdende und durch Nachtragshaushalte sich auch finanzierende Kanzlerkandidat Scholz da an Vereinbarungen im Rahmen der europäischen – angeblichen – Arbeitslosenrückversicherung treffen will. Zur Bedingung gehört ganz klar: Je mehr wir europäisieren, umso mehr erwarten wir auch, dass Puffer von den Staaten angelegt werden und man sich eben nicht darauf beruft, dass es am Ende ja schon der deutsche Steuerzahler leisten wird. Das ist ein Verständnis von Europa, wie es meine Fraktion hat.
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Meine Damen und Herren, ich will noch kurz etwas Weiteres sagen, das sehr wichtig ist: Mit diesem Programm wird auch Selbstständigen geholfen. Da wird mehr getan als das, was die Bundesregierung im Moment im zweiten Nachtrag macht.
Wir haben dann noch – ich lobe da die Kollegin Hagedorn ausdrücklich – weitere Artikel in dem Gesetz, die ich ganz kurz erwähnen will. Der Wirtschaftsstabilisierungsfonds, den wir gemacht haben, hat einige Mängel und Schwächen, die in der kurzen Zeit, in der wir ihn gemacht haben, vorkommen können. Er bekommt jetzt neue Regelungen, die aber – das will ich ausdrücklich sagen, und auch deswegen werden Sie von uns unterstützt – dafür sorgen, dass der Druck wächst, dass der Staat aus Unternehmen, die er übernimmt, wie die Lufthansa, schnell herausgeht. Das wird die Hauptaufgabe der Wirtschaftsstabilisierung sein. Entscheidend ist nicht die Frage: „Wo gehen wir rein?“, sondern die Frage, mit welchen klebrigen Fingern dieser Staat und der sogenannte Bundeswirtschaftsminister – ich will ja verhindern, dass ihr gleich applaudiert – da reingehen. Deswegen stimmen wir hier zu.
Herzlichen Dank.
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Die nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Arbeitslosigkeit bedroht die Existenz vieler Menschen in Europa und weltweit. Darum werden wir als Linke alle Maßnahmen unterstützen, die Arbeitslosigkeit verhindern.
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Für die Bundesrepublik hatten wir ja gleich zu Beginn der Krise ein Kurzarbeitergeld von 90 Prozent gefordert; denn die jetzige Regelung ist ungerecht und benachteiligt Beschäftigte kleiner und mittlerer Unternehmen. Denn große Konzerne können es sich leisten, das Kurzarbeitergeld aufzustocken; für kleine Unternehmen ist das finanziell nicht möglich. Darum halten wir an unserer Forderung fest: Für die Bundesrepublik 90 Prozent Kurzarbeitergeld.
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Doch zurück zu SURE. Diese Initiative findet unsere Unterstützung. Doch wir sagen Ihnen auch: Es wäre gut, gemeinsame Regelungen nicht nur während der Krise zu haben. Die EU muss die Krise nutzen, um endlich eine wirkliche europäische Sozialunion durchzusetzen. Wir wollen gemeinsame, wirksame europäische Sozialstandards.
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Wir wollen also nicht nur eine Wirtschaftsunion, sondern eine echte Sozialunion. Ich sage an die Adresse der Bundesregierung: Sie sollten die Zeit der EU-Ratspräsidentschaft nutzen, um wirklich für eine wirksame Sozialunion zu arbeiten. Das wäre ein gutes Ziel.
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Die Zeit der Marktradikalen muss in Europa endlich vorbei sein; denn diese Zeit hat eine kleine Minderheit sehr reich gemacht und viele Menschen in Armut zurückgelassen. Das ist nicht nur ein Problem in Südeuropa. Armut sehen wir auch in Frankreich und hier in Deutschland. Das darf so nicht bleiben.
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Das beste Kurzarbeitergeld nützt auch nichts, wenn die Radikalen die Löhne und Renten immer weiter drücken und den Mindestlohn infrage stellen. Darum erneuere ich auch hier an dieser Stelle unsere Forderung: 12 Euro Mindestlohn, und zwar sofort!
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Wir beschließen ja mit diesem Gesetz auch Änderungen zum Wirtschaftsstabilisierungsfonds. Das sind redaktionelle Änderungen. Trotzdem sage ich Ihnen: Das beste Kurzarbeitergeld nützt nichts, wenn Konzerne ihre Gewinne in Steueroasen verstecken und dann noch die Unverschämtheit besitzen, den Staat anzupumpen, wie die Lufthansa. Noch schlimmer: Die Lufthansa will mit unserem Steuergeld den Abbau von 22 000 Stellen finanzieren. Das darf nicht zugelassen werden. Ich fordere die Bundesregierung auf, das zu verhindern.
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Meine Damen und Herren, wir sagen: Gewinne dürfen nicht weiter privatisiert und die Verluste dürfen nicht der Allgemeinheit übergeholfen werden. Es ist endlich Zeit für mehr Gerechtigkeit. Wenn wir die Europäische Union zu einer echten Sozialunion ausgestalten, wenn wir schon in der Krise umsteuern und nicht sagen: „Wenn die Krise vorbei ist, dann wird alles so weitergehen“, dann wären wir auf dem richtigen Weg. Wir als Linke stehen dafür, dass wir in Europa soziale Gerechtigkeit und nicht nur wirtschaftliche Zusammenarbeit wollen.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Der nächste Redner ist für Bündnis 90/Grüne der Kollege Sven-Christian Kindler.
({0})
Sehr geehrter Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist gut, dass das SURE-Programm kommt. Millionen Menschen in Europa, die sonst ihre Arbeitsplätze verloren hätten, können damit Kurzarbeitergelder beziehen, und wir können damit auch Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz finanzieren. Das Ganze ist nicht nur eine Hilfe für Beschäftigte, sondern es stabilisiert auch Unternehmen und Betriebe. Es hilft insgesamt auch, den europäischen Binnenmarkt zu stabilisieren. Das ist gut, und deswegen werden wir heute zustimmen.
({0})
Aber was nicht gut ist: dass wir erst eine große globale und europäische Krise brauchen, damit die Bundesregierung sich als Ganzes bewegt. Das ist akutes Krisenmanagement, aber keine langfristige und dauerhafte Krisenvorsorge. Deswegen haben wir Grüne ja in der Vergangenheit schon lange eine Arbeitslosenrückversicherung gefordert. Wir haben auch bemerkt, dass der Bundesfinanzminister Scholz das letztes Jahr gefordert hat; aber er konnte sich leider in der Bundesregierung nicht gegen die Union durchsetzen. Ich finde, das muss sich ändern. Es geht nicht, dass auf europäischer Ebene weiterhin die Union eine dauerhafte Arbeitslosenrückversicherung blockiert. Die Europäische Kommission will Ende des Jahres uns einen Vorschlag machen. Ich erwarte, dass die Bundesregierung sich dann gesprächsbereit zeigt und das auch mitmacht.
({1})
Denn eine dauerhafte Arbeitslosenrückversicherung und mittelfristig auch eine mögliche Basisarbeitslosenversicherung unterstützen nicht nur soziale Gerechtigkeit und sozialen Zusammenhalt, sondern die wirken auch als wirtschaftlicher, als makroökonomischer Stabilisator in der Euro-Zone. Was wir brauchen, sind doch mehr Stabilität, mehr Instrumente für Stabilität in der Euro-Zone, damit wir von der nächsten Krise nicht wieder wirtschaftlich überrollt werden. Wir müssen vorbereitet sein. Das muss eine zentrale Lehre aus dieser Krise sein.
({2})
Deswegen begrüße ich auch ausdrücklich, dass die Union in dieser Krise sich bewegt hat. Denn in den letzten Jahren haben wir doch gesehen, dass die Union mit Wolfgang Schäuble an der Spitze eine harte Austeritätspolitik in Europa vertreten hat
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und vor allen Dingen darauf gesetzt hat, dass jeder für sich handeln sollte, also national orientierte Lösungen statt echter europäischer Antworten. Aber mit dieser Politik wird jetzt auch ein Stück weit gebrochen, nicht nur durch SURE. Gerade der Vorschlag von Emmanuel Macron und Angela Merkel für einen Recovery Fund und für gemeinsame europäische Anleihen bedeutet auch eine Änderung, die wir begrüßen.
({4})
Warum ist das eine Änderung? Man muss schon festhalten: Es ist auch ein Stück weit eine geistige Wende der Union weg von der Politik von Wolfgang Schäuble hin zu einer Europapolitik im Sinne Helmut Kohls, und das begrüßen wir ausdrücklich.
Was aber nicht passieren darf, ist, dass man jetzt einfach dabei stehen bleibt und sagt: Okay, das war eine Ausnahme; nach dieser Krise kehren wir zur alten Politik zurück. – Denn wir wissen doch, dass die wirtschaftlichen Krisen nicht weniger werden. Wir müssen dauerhaft Vorsorge betreiben. Wir müssen dauerhaft dafür sorgen, dass Europa krisenfest wird und wir Stabilität haben.
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Wir wollen diesen Kontinent weiterentwickeln; darum muss es gehen. Wir brauchen eine Weiterentwicklung der Wirtschafts- und Währungsunion. Wir müssen dafür sorgen, dass wir besser aus dieser Krise herauskommen, als wir in sie hineingegangen sind. Wir können also nicht zur alten Normalität vor Corona zurückkehren. Wir müssen dafür sorgen, dass alle Europäerinnen und Europäer eine bessere Zukunft haben. Dafür müssen wir uns einsetzen.
({6})
Die nächste Rednerin ist die Kollegin Angelika Glöckner für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Das aktuelle Infektionsgeschehen um Corona gibt Anlass zu vorsichtigem Optimismus, und dennoch wissen wir alle, dass die Folgen des Lockdowns noch nicht überwunden sind. Zum Schutz von Wirtschaft und Arbeitsplätzen brauchen wir weitere Maßnahmen auf nationaler Ebene, aber eben auch auf europäischer Ebene.
Ich bin deshalb sehr froh, dass wir heute das SURE-Gewährleistungsgesetz beschließen werden. Ich will an dieser Stelle auch noch mal ganz deutlich meinen Dank an unseren Bundesfinanzminister übermitteln, der sich doch sehr stark dafür eingesetzt hat, dass die ganz unterschiedlichen europäischen Positionen geeint werden. Vielen Dank, Olaf Scholz!
({0})
SURE wird bedürftigen Staaten helfen, Programme einzurichten – es wurde schon vielfach genannt – für Kurzarbeit, zur Unterstützung Selbstständiger, um den Gesundheitsschutz zu stärken. Die daraus entstehenden Kosten werden durch Kredite mit langfristigen Rückzahlungsmöglichkeiten abgefedert.
({1})
Ich werbe hier ausdrücklich um Zustimmung, sage das aber auch mit dem Hinweis: Es ist nur ein erster Schritt; denn weitere Schritte sind nötig.
Beispielsweise – es wurde genannt – brauchen wir solidarische Mindestsicherungssysteme, die gestärkt werden müssen.
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Ich will an dieser Stelle klar betonen: Bei der Verkündung der Europäischen Säule sozialer Rechte haben sich alle europäischen Mitgliedstaaten dazu bekannt, dass sie ihre nationalen Gesetze an ihr ausrichten werden. Ich will in diesem Zusammenhang betonen, dass die Idee von Olaf Scholz einer europäischen Arbeitslosenrückversicherung sehr wohl viel Beachtung verdient, auch wenn unser Koalitionspartner da noch nicht mitgeht.
Warum erzähle ich das alles? Diese Maßnahmen sind wichtige Schritte, um unsere Sozialsysteme, aber eben auch um unsere Wirtschaft zu stärken. Gerade in Zeiten der Krise sind sie ein wichtiger Stabilitätsfaktor,
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ohne den sich die Staaten noch mehr verschulden. Kolleginnen und Kollegen, gerade wir als Exportnation müssen doch ein hervorgehobenes Interesse daran haben, dass die Kaufkraft in den europäischen Mitgliedstaaten stark bleibt.
({4})
Wichtig ist auch, dass die EU durch sozialen Zusammenhalt in einer unruhigen Welt unsere gemeinsamen Werte nach außen stark vertreten kann: Demokratie und Freiheit, darum geht es doch heute in der Welt. Das ist ein Merkmal, das wir nie vergessen dürfen.
Ich will abschließend noch mal ganz konkret sagen: Ich befürworte das SURE-Programm; es ist ein erster Schritt. Aber Europa muss sozialer werden. Ich freue mich in diesem Zusammenhang auf unsere EU-Ratspräsidentschaft, in die ich große Erwartungen setze.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank. – Frau Kollegin Dr. Petry, Sie können sich schon auf den Weg machen. Bis Sie hier sind, ist hier auch gereinigt.
Die Kollegin Dr. Frauke Petry ist die nächste Rednerin.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich bin nicht sicher, was schlimmer ist: eine Bundesregierung, die leichtfertig über 6 Milliarden Euro Garantien nach dem Gießkannenprinzip an europäische Nachbarländer verschenkt und damit den Weg zu weiteren automatisierten Garantien für die nächsten Jahre beschreitet, oder eine flügellahme Opposition, die dies fast geräuschlos geschehen lässt.
Dass Sie, Herr Fricke von der FDP, auch noch Ihre Zustimmung rühmen, zeigt, wie sehr Ihre Partei ihre Finanzkompetenz eingebüßt hat. Dass Sie sogar noch im Haushaltsausschuss zu Protokoll geben können, dass es sich um eine temporäre Maßnahme handelt, während selbst hier im Plenarsaal alle offen darüber reden, dass es ein langfristiges Instrument ist – Sie können doch die Dokumente der Europäischen Union lesen und können das nicht überlesen haben –, das zeugt mindestens schon von eigener Ignoranz.
Fakt ist: 6,4 Milliarden Euro Garantien für ein europäisches Kurzarbeitergeld sind nur der Anfang, und das sagen SPD und alle linken Parteien ganz offen. Der eigentliche Tabubruch ist der damit verbundene Einstieg in eine europäische Arbeitslosenversicherung, die sich, aus Frankreich immer wieder angeschoben, seit Jahren anbahnt – wohlgemerkt: nicht eine gemeinsame Rentenversicherung, nicht eine gemeinsame Krankenversicherung, und fragen Sie mal, warum.
Sie verstoßen eindeutig gegen das europäische Verschuldungsverbot, Sie betreten unter dem durchsichtigen Coronavorwand einmal mehr den Weg in die gemeinsame Staatsverschuldung, und es gibt keinerlei Auflagen für diese Finanzhilfen wie noch bei den Rettungsschirmen, noch nicht mal eine Prüfung der Bedürftigkeit.
Wir reden über mindestens 10 Jahre Laufzeit der Garantien bei Aufnahme des geplanten 100-Milliarden-Kreditvolumens, und das auch nur dann, wenn die Rückzahlung regulär erfolgt. Aber beim Lesen der EU-Verordnung können Sie selbst das bereits jetzt mit einem großen Fragezeichen versehen. Die Einbringer des Gesetzentwurfs – CDU/CSU und SPD – geben ganz offen zu, dass die – Zitat – „mittelbaren finanziellen Auswirkungen … nicht bezifferbar“ sind. Deutlicher kann ein finanzieller Offenbarungseid nicht sein.
Herr Finanzminister, Frau Kanzlerin, Sie bestehlen einmal mehr Ihre eigenen Bürger, Sie bestehlen aber auch langfristig Europa, nämlich seiner wirtschaftlichen und sozialen Stabilität. Aber vermutlich glauben Sie, dass nach den vielen hundert Milliarden Euro der vergangenen Jahre in Rettungsschirmen, Target-Salden und auch dem neuerlich gesteigerten EU-Beitrag von bald über 40 Milliarden Euro diese vermeintlich lächerlichen 6 Milliarden Euro nicht mehr ins Gewicht fallen.
Meine Damen und Herren, Geld erhält keine Freundschaft, auch europäische Freundschaften lassen sich nicht kaufen, und widerstandsfähig ist ein Individuum wie ein Staat, wenn mithilfe des eigenen Immunsystems die Krise gemeistert wurde.
Frau Kollegin, kommen Sie zum Ende.
Ihre Politik der vorschnellen Geldgeschenke ist genauso toxisch wie vorschnell verabreichte Medikamente. Wir können dieses Gesetz zwar nicht aufhalten; aber wir protestieren dagegen und reichen einen Änderungsantrag ein, der in der Lage wäre, die schweren Folgen dieses Entwurfes abzumildern.
Danke.
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Der Kollege Florian Oßner ist der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt. Herr Kollege Oßner.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen heute von einem Instrument für die Europäische Union, welches sich in Deutschland bereits zur Finanzkrise 2009 und nun wieder in der Coronapandemie absolut bewährt hat: die Kurzarbeit.
Aus meiner Sicht ein geniales Instrument: Trotz Umsatzeinbrüchen müssen Unternehmer nicht sofort ihre Mitarbeiter auf die Straße setzen, sondern können Kurzarbeit beantragen und damit die Beschäftigung weitestgehend erhalten. Damit ist man nach der Krise nicht auf langwierige Mitarbeiterakquise angewiesen, sondern kann sofort wieder mit neuen Aufträgen durchstarten. So ist es ein sehr effizientes Instrument, um wirtschaftliche und soziale Stabilität im Land zu halten. Es war auch ein maßgeblicher Garant dafür, dass wir aus der letzten Krise wesentlich besser rausgekommen sind, als wir in sie reingingen; damit ist es wirklich eine starke Erfolgsgeschichte. Deshalb: großes Lob an die damalige und heutige Bundesregierung.
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Der langjährige CSU-Vorsitzende und bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber
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hat kürzlich in einem Interview mit dem „Tagesspiegel“ gesagt – ich zitiere mit Zustimmung des Präsidenten –:
Corona wird uns noch lange … beschäftigen und unser Leben verändern. Nicht nur in Europa, sondern weltweit. Wir wissen aber noch nicht, mit welcher Intensität, gerade was die wirtschaftlichen Folgen betrifft. Die Pandemie ist für unsere Gesellschaft die größte Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg.
Für uns als CDU/CSU ist in diesem Zusammenhang die Solidarität mit unseren europäischen Nachbarn ein wesentlicher Grundpfeiler unserer Politik. Aber klar ist hierbei für uns auch, dass Solidarität immer Hand in Hand geht mit Eigenverantwortung. Solidarität darf auch nicht gleichgesetzt werden mit Schlendrian. Sie darf eben nicht für die Fehler der Vergangenheit herhalten. Nicht das Stopfen von bestehenden Haushaltslöchern, sondern das Investieren in die Zukunft muss am Ende unsere Maxime sein.
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Die Europäische Kommission wird mit SURE in die Lage versetzt, 100 Milliarden Euro als Kredite an die Mitgliedstaaten auszugeben. Hierzu sind Bürgschaften der Mitgliedstaaten in Höhe von 25 Milliarden Euro erforderlich. Davon trägt Deutschland 6,4 Milliarden Euro als Garantie, nicht als Zuschuss, wie heute schon angesprochen worden ist – ein durchaus überschaubares Risiko. Das Programm soll rückwirkend vom 1. Februar dieses Jahres bis Ende 2022 laufen.
Als Koalitionsfraktionen begrüßen wir diesen Gesetzentwurf, weil wir damit ein wichtiges Zeichen für über 170 Millionen Arbeitnehmer in Europa setzen.
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Dabei ist entscheidend – um sofort allen Kritikern vorzugreifen, die schon immer etwas gegen Europa gehabt haben –: Das Instrument ist sowohl zeitlich als auch in der finanziellen Höhe begrenzt. Hinzu kommt, dass die Kommission die bereitgestellten Garantien erst abruft, sofern Eigenmittel erschöpft sind. Das finanzielle Risiko ist also klar begrenzt auf die Krisenzeit. Zudem handelt es sich um eine Bürgschaft für einen Kredit; diese wird nur im Fall einer Staatsinsolvenz gezogen. Wäre dies der Fall – so ehrlich, glaube ich, müssen wir alle hier sein –, wäre die Europäische Union, so wie sie heute besteht, nicht mehr denkbar.
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Der Vorwurf mancher Kritiker, wir würden hier in die europäische Arbeitslosenversicherung einsteigen, läuft deshalb völlig ins Leere.
Darüber hinaus geht es hierbei auch um Europas Stellung in der Welt. In China springt die Wirtschaft wieder richtig an. Wir müssen verhindern, dass Chinas Firmen die großen Gewinner und Europas Firmen die großen Verlierer der Krise werden. Die Machtverhältnisse zwischen den USA, China und Europa werden gerade neu sortiert. Mit SURE und den anderen Hilfspaketen, die wir in den letzten Wochen verabschiedet haben, sichern wir viele Arbeitsplätze in Europa und damit auch den Wohlstand in Deutschland. Nur mit einem gesunden Wachstum und einer hohen Beschäftigung werden wir unsere Zukunft im internationalen Wettbewerb meistern. Mit den hier beschlossenen Maßnahmen geben wir ein wichtiges Signal: Deutschland ist nur dann stark, wenn auch Europa stark ist. Deshalb bitte ich um die Zustimmung.
Herzliches „Vergelts Gott!“ fürs Zuhören!
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Bürgerkrieg in der Syrischen Arabischen Republik ist weitestgehend befriedet, doch das Land liegt in Trümmern. Der Wiederaufbau kommt indes nur schleppend in Gang, da die sogenannte westliche Wertegemeinschaft das syrische Volk mit radikalen Sanktionen straft. An ein arabisches Land werden rein westliche Wertemaßstäbe angelegt, welche in Bezug auf andere arabische Länder wie zum Beispiel Saudi-Arabien überhaupt keine Rolle spielen. Dies ist moralisch verlogen sowie politisch unklug und an Scheinheiligkeit nicht zu überbieten.
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Es ist scheinheilig gegenüber einer Nation, die kulturell und religiös grundsätzlich anders konstituiert ist, als westeuropäische Staaten es sind, einer Nation, die jahrelang von einem von fremden Mächten befeuerten Bürgerkrieg heimgesucht wurde – einem Bürgerkrieg wohlgemerkt, der nicht zuletzt durch raumfremde und in ihrem Vorgehen barbarische Kräfte eskaliert wurde, welche auch von westlichen Staaten, allen voran den Vereinigten Staaten von Amerika, unterstützt wurden und immer noch werden.
Die fortwährende Ächtung der syrischen Regierung sowie deren Nichteinbeziehung in sachverhaltsrelevante multilaterale Konferenzen stehen einem nachhaltigen Versöhnungs- und Wiederaufbauprozess Syriens diametral entgegen. Abwegig, beinahe zynisch ist überdies die Annahme, die Ächtung der syrischen Regierung mitsamt den daraus erwachsenden katastrophalen Konsequenzen erfolge im Namen respektive zugunsten des syrischen Volkes selbst. Das Gegenteil ist richtig. Die Sanktionen schaden nicht der gewählten Regierung Assad, sondern der syrischen Bevölkerung und den kleinen und mittleren Unternehmen direkt. Sie verhindern den Wiederaufbau des Mittelstandes und die Konsolidierung der Wirtschaft. So fehlt es unter anderem an dringend benötigten Ersatzteilen für Maschinen in allen zivilen Industriesparten, aber insbesondere auch an medizinischen Verbrauchsstoffen und Medikamenten. Obwohl Wirtschaftssektoren wie Nahrungsmittel- und Pharmaproduktion offiziell nicht direkt von den Sanktionen betroffen sind, sind indirekte Auswirkungen so stark, dass auch in diesen lebensnotwendigen Bereichen massive Lieferengpässe existieren und das Leid der Bevölkerung verstärken.
Besonders gravierend wirken zudem die finanzpolitischen Sanktionen. Die Abschneidung des Zugangs zum internationalen Zahlungsverkehr und zum Kapitalmarkt sowie die daraus resultierenden Beschränkungen des Handels entfalten verheerende Wirkungen auf die wirtschaftliche Lage Syriens. Kursstürze und Wertverlust der syrischen Lira sind die Folge.
Klar zu sagen ist: Wer die Sanktionen weiterhin unterstützt, trägt eine erhebliche Mitschuld an der sich verstärkenden humanitären Misere, in der sich das Land derzeit befindet.
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Die Bundesregierung nimmt dies aus ideologischen Gründen und aus Treue zu fragwürdigen Zielen ihrer Partner, der sogenannten Koalition der Willigen, billigend in Kauf.
Derzeit leben allein in Deutschland über 760 000 syrische Staatsbürger. Ein Großteil von ihnen muss durch den deutschen Sozialstaat, also durch den deutschen Steuerzahler, versorgt werden. Die Möglichkeit zur Heimkehr in ihr Land wird durch die gegenwärtige Sanktionspolitik verschleppt, wenn nicht sogar letztendlich verhindert. Dies alles scheint in den Augen der Bundesregierung offenbar ein legitimes Mittel der derzeitigen Außenpolitik zu sein, ohne im Geringsten die Interessen Deutschlands zu berücksichtigen.
Das Vorgehen der syrischen Regierung im Norden des Landes mag, mit westeuropäischen Maßstäben gemessen, hart erscheinen.
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Ich gebe allerdings zu bedenken, dass bis an die Zähne bewaffnete und barbarisch vorgehende Islamistenmilizen nicht durch gutes Zureden allein zu bekämpfen sein werden.
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Zusammenfassend ist zu sagen: Die derzeitige Sanktionspolitik führt zu einer weiteren Destabilisierung Syriens und damit der gesamten Region mit der Gefahr, in einen erneuten Bürgerkrieg zu münden. Wer neues Leid und neue Flüchtlingsströme in Richtung Deutschland verhindern will, muss sich jetzt für eine Aufhebung der Sanktionen einsetzen.
Vielen Dank.
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Für die Fraktion der CDU/CSU hat nun die Kollegin Ursula Groden-Kranich das Wort.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Syrien ist ein zutiefst gebeuteltes Land. Es wird nicht nur, wie derzeit so viele Länder weltweit, von Corona heimgesucht, sondern – da liegt das Hauptproblem – schon seit 2011 von seiner eigenen Regierung. Das Assad-Regime ist ähnlich zerstörerisch wie das Virus und genauso heimtückisch und unempfindlich gegen gute oder schlechte Ratschläge von außen. Ähnlich wie das Virus im schlimmsten Fall den eigenen Wirt tötet, richtet sich auch Assad perfiderweise seit Jahren gegen sein eigenes Volk und zerstört sein eigenes Land,
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das doch eine so unglaublich reiche Kultur und Geschichte hat und dank seiner Bodenschätze und seiner jungen, gut ausgebildeten Bevölkerung auch ökonomisch sehr wohlhabend sein könnte.
Leider ist im Gegensatz zu Corona bei Assad nicht einmal ansatzweise ein Impfstoff in Sicht, ganz sicher nicht in Ihren Anträgen. Ihre Haltung zu Syrien erinnert mich auf ungute Weise an Ihr Verhalten bei Corona. Auch in Syrien hilft kein blindes Zurück zum Normalzustand, kein Ignorieren der Tatsache, dass aus Syrien Geflüchtete kein Zuhause mehr haben, und vor allem keine falsche Toleranz eines Unrechtsregimes, auch nicht unter dem Deckmantel der Bekämpfung der Coronapandemie und schon gar nicht Besuche von AfD-Abgeordneten in Syrien.
Ja, Sanktionen treffen immer auch die Bevölkerung. Aber leider sind sie oftmals fast die einzige wirksame Medizin gegen ein krankes Regime.
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Weder Viren noch Diktatoren verschwinden oder werden dadurch ungefährlicher, dass man kurzerhand erklärt, sie seien eigentlich ganz harmlos. Hier helfen nur Völkerrecht und Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft,
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und zwar in zwei Formen: zum einen mit massiver humanitärer und medizinischer Hilfe, wie sie seit Jahren von der Bundesrepublik Deutschland mit Millionensummen und großer Expertise, beispielsweise aus dem BMZ, unterstützt wird, zum anderen aber auch mit strenger Kontrolle durch die Vereinten Nationen, wie wir sie gemeinsam mit unseren europäischen Partnern, allen voran Frankreich, praktizieren. Nur so können wir Syrien stabilisieren und irgendwann auf Frieden hoffen.
Vielen Dank.
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Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Djir-Sarai das Wort.
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Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit 2011 herrscht in Syrien ein brutaler Krieg, dem bereits Hunderttausende Menschen zum Opfer gefallen sind. Aus dem Ruf nach Freiheit ist ein Konflikt geworden. Aus dem Konflikt ist ein Bürgerkrieg geworden. Und aus dem Bürgerkrieg ist ein internationaler Stellvertreterkrieg geworden. Deutschland und Europa sind dabei von Anfang an passive Zuschauer gewesen. Selbst die USA und die Vereinten Nationen spielen kaum noch eine ernste Rolle.
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Es gab Sanktionen, die nichts bewirkten. Es gab Resolutionen, die nicht umgesetzt wurden. Es gab Deeskalationszonen, die keine waren. Es gab Waffenruhen, die nicht eingehalten wurden. Es gab humanitäre Hilfe, die oft nicht am Ziel ankam. Und es gab viele leere Worte.
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Nun hat Assad zwar seine territoriale Herrschaft nahezu wiederhergestellt, doch in der Zwischenzeit haben Russland, Iran und die Türkei vor Ort Fakten geschaffen. Heute ist Assad nicht viel mehr als eine Marionette seiner skrupellosen Unterstützer. Vor allem geben heute Moskau und Teheran den Ton an. Iran und Russland haben Syrien mit zerstört. Sie werden aber nicht in der Lage und willens sein, Syrien wiederaufzubauen.
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Und Assad? Er wird den Krieg vermutlich gewinnen, aber den Frieden verlieren.
Meine Damen und Herren, dieser Krieg ist von vorne bis hinten das Paradebeispiel für das Versagen deutscher und europäischer Außen- und Sicherheitspolitik.
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Dieser Krieg ist das beste Beispiel dafür, wie irrelevant Europa selbst in der direkten Nachbarschaft geworden ist.
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Und während wir reden, werden weitere unschuldige Menschen in Assads Folterkellern brutal ermordet. Unter diesen Menschen sind viele, die es gewagt haben, ihre Meinung zu äußern, sich für ihre Rechte und eine bessere Zukunft einzusetzen. Die Vernichtung und Vertreibung des eigenen Volkes ist für Assad kein Kollateralschaden, sondern Teil einer mörderischen Strategie.
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Meine Damen und Herren, jetzt, in dieser Situation, eine Normalisierung der Beziehungen mit Syrien unter dem Kriegsverbrecher Assad anzustreben, wäre genau das falsche Signal und übrigens auch nicht zu verantworten.
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Kooperationen mit der syrischen Zivilgesellschaft ja, natürlich, aber Wiederaufbau und Normalisierung mit Assad nein, das darf nicht passieren.
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– Stellen Sie doch eine Frage, wenn Sie eine haben. Das würde mich sehr freuen. Dann bekomme ich auch mehr Redezeit und kann Ihre Frage beantworten. Das würde ich sehr gerne machen.
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Baschar al-Assad ist ein Massenmörder, der mit russisch-iranischer Hilfe bewusst einen unvorstellbar grausamen Krieg gegen die eigene Zivilbevölkerung führt. Es ist weder im Interesse Deutschlands und Europas, hinter Moskau und Teheran aufzuräumen, noch ist eine Rehabilitierung Assads in irgendeiner Art und Weise mit freiheitlich-demokratischen Werten vereinbar, meine Damen und Herren.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat der Kollege Frank Schwabe für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! In der Tat: Es tobt in Syrien seit 2011 ein Krieg, der die größte humanitäre Katastrophe neben dem Jemen mit 13 Millionen Menschen auf der Flucht hervorgebracht hat. Übrigens sind 600 000 bis 700 000 davon in Deutschland. Ich glaube, es ist wichtig, die Dimensionen dessen, was wir hier innenpolitisch diskutieren, ein bisschen zu begreifen.
Ich glaube, wir müssen uns ehrlich machen: Es ist mittlerweile wieder die Zeit von Stellvertreterkriegen, und es ist ein solcher Stellvertreterkrieg, der dort geführt wird. Solange die Rahmenbedingungen schlecht bleiben – und die Rahmenbedingungen sind schlecht –, solange wir auf UN-Ebene keine neuen Initiativen zu einer gemeinsamen Politik hinbekommen, solange wir den Multilateralismus nicht stärken, ist es eben wahnsinnig schwierig, solche Konflikte von außen international zu lösen.
Das heißt, wir müssen uns eingestehen, dass die Möglichkeiten begrenzt sind, was nicht heißt, dass wir nicht trotzdem alles tun müssen, um Türen für Verhandlungen zu öffnen, dass wir nicht alles tun müssen, um Menschen zu helfen, möglichst vor Ort. In der Tat: Die Bundesregierung hat das in den letzten Jahren mit Mitteln in Milliardenhöhe getan. Ich denke, diese werden in den nächsten Jahren eher noch aufgestockt werden müssen und werden. Das ist im Übrigen die sogenannte humanitäre Hilfe, die gerade von der antragstellenden Partei ja im Prinzip abgelehnt und infrage gestellt wird. Aber wir müssen den Menschen auch helfen, wenn sie hier sind, weil es eben Menschen sind, die unsere Unterstützung brauchen. Und wir brauchen die Nutzung des internationalen Rechts, des Völkerrechts und entsprechend auch des Völkerstrafrechts.
Bei all dem, was wir international diskutieren, und dem, was auch bei den Verhandlungen in Genf Grundlage ist, muss man natürlich die Realitäten anerkennen, und sie werden auch anerkannt. Es müssen aber die Konfliktparteien selber sein, die – auch mit internationaler Hilfe – am Ende zu einer Lösung kommen.
Was man aber nicht machen darf – und das darf man in keinem Fall machen, nicht in diesem Konflikt und nicht in anderen Konflikten –, ist, Diktatoren oder autoritäre Herrscher zu hofieren. Dann fühlen sie sich nämlich angeregt, weitere Verbrechen zu begehen. Das machen aber diejenigen, die hier für die AfD im Deutschen Bundestag sitzen. Das macht der Herr Oehme auf der Krim und andere auch; das wird ja noch zu diskutieren sein.
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Sie delegitimieren die deutsche Außenpolitik. Sie delegitimieren den Europarat und den Deutschen Bundestag mit seiner Kompetenz, Wahlbeobachtungen vorzunehmen, und Sie organisieren Propagandabesuche in Syrien.
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Ich muss sagen: Ich habe ein bisschen in das Machwerk reingeguckt, das Sie da auf den Weg gebracht haben. Ich finde es wirklich abscheulich, wie Sie die Leute dort hofieren und wie Sie am Ende lustige Fotos mit dem Großmufti machen, der dazu aufgerufen hat, Selbstmörder nach Europa zu schicken. Sie haben vielleicht vergessen, dass das der Fall ist.
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Sie machen das nur, weil Sie das Szenario aufbauen wollen, dass ja alles so super sei in Syrien und deswegen die Geflüchteten, die in Deutschland sind, entsprechend zurückkehren können. Ich halte mich da an das Auswärtige Amt, das eingeschätzt hat, dass es keine sicheren Bereiche in Syrien gibt, weswegen klar ist, dass wir Menschen aus Deutschland auch nicht dorthin zurückführen können – zurzeit jedenfalls nicht.
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In Syrien herrscht ein schreckliches Folterregime: Hunderttausende Tote, 13 Millionen Menschen auf der Flucht, Chemiewaffen, die gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt werden. Und natürlich sind es auch Islamisten, die schrecklichste Verbrechen dort verüben. Aber die Hauptverantwortung trägt eine Person, und das ist der Diktator des Landes, Baschar al-Assad. Das muss, glaube ich, auch klar gesagt werden. Noch mal: Solche Leute hofiert man nicht.
Es gibt andere, die dort entsprechend Verantwortung tragen und die sich wirklich die Hände schmutzig machen: der Iran – der ist genannt worden –, die Türkei und Russland. Alle drei Staaten verüben schwerste Menschenrechtsverletzungen und Menschenrechtsverbrechen. Und es gibt Luftangriffe. Da wundere ich mich allerdings über beide Seiten des Hauses, dass Luftangriffe auf Krankenhäuser immer mal wieder benannt werden, aber dass das immer so ein bisschen relativierend geschieht. Russland begeht Kriegsverbrechen in Syrien, und Russland muss dafür auch zur Verantwortung gezogen werden.
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Deswegen finde ich es richtig, was im Grünenantrag steht, nämlich dass wir die Kriegsverbrechen dokumentieren und dann entsprechend am Ende auch die Menschen zur Verantwortung ziehen müssen, die dafür verantwortlich sind.
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Das können wir dort, wo es möglich ist, über den Internationalen Strafgerichtshof machen, und dort, wo es nicht möglich ist, über finanzielle Sanktionen für einzelne Personen, zum Beispiel über Maßnahmen, wie es sie im Magnitsky Act gibt, oder eben über die Anwendung des Weltrechtsprinzips.
Da kann man, glaube ich, aus Deutschland heraus selbstbewusst sagen, dass wir da wirklich gut und vorbildlich sind. Wir sind vorbildlich bei der Anwendung des Weltrechtsprinzips. Wir haben Anklage gegen zwei Syrer vor dem Oberlandesgericht in Koblenz erhoben. Einer davon soll für 4 000 Folterungen und 58 Ermordungen verantwortlich sein. Wir haben gerade heute eine neue Anzeige gegen neun hochrangige Funktionäre des syrischen Regimes und des Luftwaffengeheimdienstes wegen sexueller Gewalt – in Klammern: Vergewaltigung, Elektroschocks im Genitalbereich und erzwungene Abtreibung – erstattet. Ich glaube, darauf können wir wirklich stolz sein. Da sind wir jetzt auch weltweit führend und müssen das entsprechend weiter ausbauen.
Es bleibt dabei: Wir sollten alles tun, um die Verbrechen zu ahnden und auch entsprechend abzuschrecken. Wir müssen alles tun, um den gepeinigten Menschen zu helfen: in Syrien, rund um Syrien, in der Türkei, aber eben auch bei uns. Wir müssen Verhandlungslösungen möglich machen, dürfen Gesprächsfäden nicht abreißen lassen, müssen Türen öffnen für den Moment, in dem eben Verhandlungslösungen vielleicht dann doch möglich sind. Aber in gar keinem Fall dürfen wir Diktatoren hofieren.
Vielen herzlichen Dank.
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Das Wort hat die Kollegin Heike Hänsel für die Fraktion Die Linke.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen! Die Coronapandemie trifft schon uns alle hier in den reichen Industriestaaten hart. Wie viel härter natürlich sind die Auswirkungen dann erst in den Krisen- und Kriegsregionen dieser Welt? Genau deshalb unterstützen wir den eindringlichen Appell von UN-Generalsekretär António Guterres für eine globale Waffenruhe und den Stopp der einseitigen und – das muss man dazusagen, Frau Groden-Kranich – völkerrechtswidrigen Wirtschaftssanktionen gegen zahlreiche Länder dieser Welt. Diese müssen endlich gestoppt werden, damit die Menschen auch in diesen Regionen gegen die Pandemie kämpfen können.
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Das gilt natürlich auch für Syrien. Die Menschen leiden nämlich zusätzlich zu dem Krieg unter den schweren Sanktionen der USA und der EU. Erst gestern sind neue extraterritoriale US-Sanktionen verhängt worden, die auf eine totale Zerstörung der syrischen Wirtschaft setzen. Die humanitäre Lage und der Wiederaufbau dieses geschundenen Landes werden damit noch schwieriger. Schon heute leben laut Schätzungen mehr als 80 Prozent der im Land verbliebenen Syrer und Syrerinnen unterhalb der Armutsgrenze. 11 Millionen von ihnen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen.
Die Auswirkungen der Sanktionen sind seit Jahren bekannt. Das Medizinjournal „The Lancet“ urteilte schon 2015 – ich zitiere –:
Sanktionen zählen zu den Hauptursachen für das Leid der Bevölkerung in Syrien und sind eine bedeutende Ursache für die Verstetigung des Konflikts … sie hätten ‚die Brutalität dieses Konflikts vielfach verschärft’.
Auch der European Council on Foreign Relations stufte die Sanktionen 2019 als – Zitat – „Politik der verbrannten Erde“ ein, „die unterschiedslos und willkürlich gewöhnliche Syrer bestraft ...“. Laut Oxfam ist insbesondere auch die medizinische Versorgung der Bevölkerung betroffen. Lebenswichtige Medikamente, zum Beispiel zur Krebstherapie, fehlen.
Ich bin auch der Meinung, dass alle Kriegsverbrechen in Syrien, egal von welcher Seite, untersucht und geahndet werden müssen; das fordern wir auch.
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Aber die Sanktionen für den Regime Change sind auch ein Verbrechen an der Bevölkerung in Syrien, und deswegen müssen sie gestoppt werden.
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Für eine Friedenslösung müssen alle Kämpfe, alle Bombardierungen und Waffenlieferungen von allen Seiten eingestellt werden, und eben auch diese tödlichen Sanktionen. Viel wichtiger wäre es – da könnte die Bundesregierung die Initiative ergreifen im Rahmen ihres UN-Vorsitzes –, dass endlich der Wiederaufbau in Syrien unterstützt wird.
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Während die syrische Bevölkerung von der EU also quasi ausgehungert wird, wird aber die Besatzungsmacht Türkei in Syrien weiterhin großzügig mit Geld unterstützt.
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Die EU-Kommission stellt jetzt Erdogan sogar einen Scheck über eine halbe Milliarde Euro aus und fördert damit seine Politik in Syrien.
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Und so kann die Türkei jetzt übrigens ja auch den Nordirak bombardieren. Die deutschen Waffenlieferungen laufen ja trotzdem weiter. Herr Schwabe, dazu hätten Sie auch mal einen Ton sagen können.
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Waffenlieferungen an diesen Autokraten lehnen wir auch ab. Im syrischen Idlib, das von al-Qaida und der Türkei kontrolliert wird, wird jetzt die türkische Lira sogar als Währung eingeführt – in Syrien. Die Türkei betreibt hier eine klare Annexionspolitik – genauso in den kurdischen Regionen im Norden Syriens, ohne dass das Auswärtige Amt auch nur einen Hauch von Kritik formuliert. Auch das ist eine moralische Bankrotterklärung.
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Kollegin Hänsel.
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin.
Es darf keine Rüstungsexporte und Finanzhilfen mehr für die Türkei geben. Das wäre ein Beitrag zu Frieden in Syrien – eine Verelendung der syrischen Bevölkerung, so wie sie die deutsche Außenpolitik betreibt, ganz bestimmt nicht.
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Das Wort hat der Kollege Omid Nouripour.
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Während Sie auf dem Weg nach vorn sind – man kann sich nicht aussuchen, zu welchen Themen debattiert wird, wenn die Fraktion einen ans Redepult schickt –, gratuliere ich Ihnen sicherlich im Namen des ganzen Hauses zu Ihrem heutigen Geburtstag.
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Herzlichen Dank, liebe Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den letzten Tagen und Wochen ist in Syrien etwas sehr Bewegendes passiert: Überall dort, wo der Druck der Repression abgenommen hat, gab es quasi sofort friedliche Demonstrationen gegen Assad. Die Leute sind teilweise mit denselben Parolen wie 2011 in großen Zahlen auf die Straße gegangen – in Daraa, einer Stadt im Süden, die in den letzten neun Jahren massiv vor allem von Fassbomben getroffen worden ist, in Suwaida, einer Stadt, die zum großen Teil drusisch geprägt ist. Den Leuten, die meinen, Assad sei derjenige, der die Christinnen und Christen in Syrien schützt, sage ich: Auch diese Leute gehen friedlich gegen Assad auf die Straße. Was sagt uns das?
Erstens. Diese Leute sind unglaublich mutig.
Zweitens. Das syrische Volk hat die letzten Jahre so gelitten – unter Dschihadisten, unter der türkischen völkerrechtswidrigen Invasion im Norden, unter iranischen Milizen, unter russischen Kriegsverbrechen –; aber das Hauptleid hat das Regime von Assad verursacht. Wenn die AfD in ihren Anträgen in diesem Zusammenhang von Friedenspolitik spricht, dann deutet das darauf hin, dass sie gar nicht weiß, was Frieden eigentlich bedeutet.
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Drittens. Wir haben uns als Deutsche, als Europäerinnen und Europäer in den letzten neun Jahren mehr oder minder freiwillig in die dritte Reihe begeben, haben uns da, wo wir vielleicht etwas hätten tun können, komplett rausgehalten. Wir können uns aber nicht leisten, bei diesen Demonstrationen einfach nur zuzusehen. Diesen Leuten schulden wir, dass wir wenigstens einen Entwurf haben, uns Gedanken machen, wie man das Land befrieden kann, was man dort tun muss und wie denn eigentlich eine Ordnung in Syrien nach dem möglichen Frieden aussehen kann. Aber wir sind auch verpflichtet, diese Menschen, die syrische Gesellschaft, als unsere Partner zu verstehen,
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mit ihnen zu sprechen. Das ist eine Partnerschaft, die wir wagen müssen. Das ist eine Investition in Frieden und in Gerechtigkeit.
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Viertens. Genauso, wie Sie den Begriff Frieden anscheinend nicht verstehen, wissen Sie auch nicht, was dort passiert, wo angeblich Frieden eingezogen ist. Das ist etwas, was mich, ehrlich gesagt, entsetzt; das bleibt auch in anderen Anträgen der Linken immer wieder einfach aus. Da, wo die Leute zurückgekehrt sind, gibt es so viele Berichte von Leuten, die einfach verschwunden sind, von Folter, von Leuten, die einfach auf der Straße verhaftet worden sind. Das ist der Grund, warum die Leute nicht zurückgehen.
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Das Entscheidende ist die politische Verfolgung in dem Land, in einem Land, in dem es über 100 000 Häftlinge gibt, die politisch motiviert in Folterknästen sitzen.
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Das ist entscheidend. Wie kann man da von Rückkehr sprechen und sich über die Ursachen ausschweigen, warum sie nicht zurückkehren können? Versteht ihr nicht, dass ihr denen in die Hände spielt, indem ihr einfach verschweigt, was Assad dort veranstaltet? Genau so spielt ihr denen in die Hände, während wir darum kämpfen, Syrien zu befrieden, damit die Menschen zurückkehren können. Das können sie nicht, weil Assad so agiert, wie er dort agiert.
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Der letzte Punkt. Wir sollten auch darüber reden, wo die Leute nicht demonstrieren, weil es nicht geht. Am allerschlimmsten ist es in Idlib. Da leiden die Leute unter Dschihadisten, aber auch unter den Bombardements und darunter, dass es kaum mehr Krankenhäuser gibt, weil sie von den Russen und mit den Fassbomben der Assad-Armee weggebombt wurden. Deshalb haben wir zu diesem Thema einen Antrag eingebracht: weil die Situation in Idlib so dramatisch ist, weil die Leute dort eingekesselt sind – von der türkischen Armee im Norden, von den Dschihadisten im Inneren und von Assad und den Affiliierten.
Den mutigen Menschen in Not, die ich beschrieben habe, Respekt zu zollen, bedeutet, dass wir in erster Linie – nicht nur, aber in erster Linie – über die Kriegsverbrechen von Assad sprechen müssen.
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Das ist, finde ich, unsere Verantwortung, wenn wir Frieden in Syrien wollen.
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Das Wort hat der Kollege Thomas Erndl für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eines muss man bei dieser Debatte der AfD lassen: Ihre Anträge sorgen für Klarheit. Denn damit wird wirklich klar, dass Sie von Russland geblendet sind,
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von der Situation in der Region wenig Ahnung haben und sich an der Seite von Diktatoren und Kriegsverbrechern wie Assad am wohlsten fühlen. Dass Sie hier all das zu Papier gebracht haben, was auf Assads Wunschliste steht, verdeutlicht einmal mehr: Der AfD kann man in der Außenpolitik nicht trauen.
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Ich will es zum Ende dieser Debatte noch mal an drei Beispielen aufzeigen – Frau Hänsel, Sie können da auch genau hinhören –:
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Erstens. In den AfD-Anträgen wird behauptet, dass die westliche Politik für die Notlage und wirtschaftliche Destabilisierung in Syrien größtenteils mitverantwortlich ist. Das ist grob falsch, meine Damen und Herren. Sie verschweigen, dass das Assad-Regime mit russischer und iranischer Unterstützung das Land komplett zerstört hat und die Wirtschaft am Boden liegt. Heute sind rund 40 Prozent der Syrer arbeitslos, und 80 Prozent leben in Armut. Das ist zweifelsohne das Ergebnis von Assads Vernichtungskrieg gegen das eigene Volk und nicht die Folge unserer Politik.
Zweitens. Sie fordern in der jetzigen Lage, die finanziellen Sanktionen gegen das Regime und seine korrupten Eliten zu lockern. Richtig ist: Wir müssen natürlich alles tun, um die notleidende Bevölkerung zu unterstützen,
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um humanitäre Hilfe zu leisten. Das gilt besonders für die knapp 1 Million Binnenvertriebenen in der Region Idlib. Aber grob falsch wäre, die Sanktionen gegen das Kriegsverbrecherregime aufzuheben und damit Assad für die grausame Kriegsführung zu belohnen.
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Im Gegenteil: Der Druck auf Assad und seinen engsten Unterstützerzirkel in Politik, Wirtschaft und Militär muss hoch gehalten werden.
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Schließlich der dritte Punkt. Sie regen jetzt eine Unterstützung Deutschlands beim Wiederaufbau Syriens an. Das ist zum jetzigen Zeitpunkt wiederum grober Unsinn; denn das würde jetzt dazu führen, dass die aktuellen Machtverhältnisse zementiert werden,
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die sich Assad mitunter mit Giftgas und Fassbomben erkämpft hat. Von einem Wiederaufbau unter Assad würden nur die gesellschaftlichen Schichten profitieren, die seinen Krieg mitgetragen haben, und das Elend würde bleiben. Denn anders, als Sie behaupten, kann es unter Assad keinen gesellschaftlichen Aussöhnungsprozess geben. Er mag vielleicht den Krieg gewonnen haben, aber den Frieden hat er nicht erreicht.
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– Dann wird es umso richtiger sein. Am besten hören Sie es noch mehrmals.
Eine Zukunft in Syrien mit Assad kann es nicht geben. Einen Wiederaufbau ohne glaubhaften politischen Prozess kann es auch nicht geben. Wir brauchen in dieser Frage Fortschritte, die jedoch nicht sichtbar sind. Wir können aber da, wo es möglich ist, also in den nicht vom Regime kontrollierten Gebieten, die Zivilgesellschaft stärken,
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Resilienz aufbauen, Zukunftsstrukturen schaffen, in Zukunftsstrukturen investieren,
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beispielsweise in den kurdischen Gebieten oder möglicherweise im Nordwesten.
Die Lösung kann aber sicherlich nicht sein, Kriegsverbrechern Legitimität zu geben, so wie Sie das mit Ihren Anträgen versuchen. Deswegen ist das alles komplett abzulehnen.
Herzlichen Dank.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nur vier Jahre war das Schlafmittel Contergan auf dem Markt und hat doch in dieser kurzen Zeit weltweit das Leben von mehr als 10 000 Kindern und ihren Familien dramatisch verändert. Und glauben Sie mir: Es macht einen gewaltigen Unterschied, ob man über diese Veränderungen etwas in Studien oder in der Presse liest oder ob man persönlich Menschen kennenlernt, die durch Contergan geschädigt worden sind. Das musste ich jedenfalls feststellen, als ich 2013 die Berichterstattung für Contergan übernommen habe. Mich hat von Anfang an beeindruckt, wie die Betroffenen trotz teils schwerster Behinderungen ihr Leben selbstbewusst gemeistert haben und auch weiterhin meistern. Dafür verdienen sie unseren Respekt und unsere Anerkennung.
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Anerkennung und Wertschätzung sind das eine. Aus Sicht vieler Betroffenen fehlt noch eine ehrliche Entschuldigung der Firma Grünenthal. Das Unternehmen hat zwar sein Bedauern über die eigene Kommunikation und sein Mitgefühl zum Ausdruck gebracht; das reicht vielen Betroffenen aber nicht aus. Ich würde mich riesig freuen, wenn die jetzigen Eigentümer des Unternehmens die Größe aufbrächten und sich formell für all das Leid, das das Arzneimittel Contergan verursacht hat, entschuldigen würden. Vielleicht wäre so endlich ein Schlussstrich in der Auseinandersetzung möglich.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, man kann die Entscheidung über den uns jetzt vorliegenden Entwurf eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Conterganstiftungsgesetzes besser verstehen, wenn man einen kurzen Blick in die Vergangenheit wirft. 1957 kam das Schlaf- und Beruhigungsmittel Contergan mit dem Wirkstoff Thalidomid auf den Markt. Es konnte rezeptfrei erworben werden und wurde millionenfach verkauft. Oft hat eine einzige Tablette während der Schwangerschaft ausgereicht, um das Kind im Mutterleib zu schädigen. Viele Kinder starben unmittelbar nach der Geburt; den anderen räumte man keine hohe Überlebenschance ein. Durch die Aufmerksamkeit unter anderem des Kinderarztes Dr. Lenz wurden die gehäuft auftretenden Fehlbildungen bei Säuglingen mit dem Arzneimittel Contergan in Verbindung gebracht. Schlussendlich wurde das Medikament dann im November 1961 vom Markt genommen.
1968 wurden neun führende Mitglieder der Firma Grünenthal vor Gericht gestellt. Der Prozess endete mit einem Vergleich. Grünenthal zahlte 100 Millionen D-Mark an die Stiftung „Hilfswerk für behinderte Kinder“, die heutige Conterganstiftung. 2009 erfolgte eine weitere Zahlung über 50 Millionen Euro. Das Unternehmen ist, wie ich finde, finanziell glimpflich davongekommen; denn mit dem Vergleich ging ein Klageverzicht einher. Damit bestehen keine weiteren Ansprüche gegenüber dem Unternehmen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bis heute unterstützt die Conterganstiftung des Bundes Betroffene in vielen Teilen der Welt. Die Renten, die jährlichen Sonderzahlungen und die bei Rentenkapitalisierung zu zahlenden Abfindungsbeiträge sowie die Mittel für die spezifischen Bedarfe werden aus dem Bundeshaushalt finanziert.
Der Staat trägt eine Mitverantwortung für den Skandal; denn ein Arzneimittelrecht im heutigen Sinne existierte zur damaligen Zeit nicht. Die Unbedenklichkeit von Medikamenten wurde durch die Herstellerfirma eigenverantwortlich geprüft. Infolge des Skandals hat sich Gott sei Dank die Arzneimittelsicherheit stark verbessert.
Die monatliche Rente ist für viele Betroffene und ihre Familien das Haupteinkommen. Dementsprechend groß ist die Bestürzung und Sorge seitens brasilianischer Thalomid-Geschädigter gewesen, als ihnen die Stiftung schriftlich ein neues Anhörungsverfahren ankündigte. Damit wurde die Rechtmäßigkeit der Zahlung von Leistungen infrage gestellt. Begründet wurde das Schreiben mit neuen Erkenntnissen zu Sedalis; so heißt das Medikament, das die Mütter der brasilianischen Geschädigten eingenommen hatten. Dieses sei nun doch ein Lizenzprodukt und somit kein Medikament, das Grünenthal hergestellt und vertrieben habe, verlautbarte die Stiftung. Auch wenn die Vorgehensweise der Stiftung verwaltungstechnisch in Ordnung gewesen sein mag, ich hätte mir einen sensibleren Umgang mit den Betroffenen gewünscht. „Sensibler Umgang“ heißt: Man verschickt Schreiben in der jeweiligen Landessprache,
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und man sichert sich besser ab, bevor man ankündigt, dass man Menschen mit Behinderungen nach fast 50 Jahren ihre Rente und damit ihre Existenzgrundlage entziehen will.
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An dieser Stelle möchte ich kurz auf die Wortmeldung von Ihnen, Frau Rüffer, in der gestrigen Ausschusssitzung eingehen. Da, wo Menschen arbeiten, passieren Fehler. Die Schärfe Ihrer Kritik, die Sie gegenüber dem ehrenamtlichen Vorstand der Stiftung angebracht haben, halte ich für nicht angemessen.
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Es ist auch nicht so, dass die Berichterstatter der Koalition diese Fehler nicht sehen oder nicht diskutieren. Aber wir verharren nicht in der Fehleranalyse. Stattdessen haben wir sofort die Betroffenen in den Blick genommen und die beste Lösung für sie gesucht. Dies ist uns mit dem vorliegenden Gesetzentwurf gelungen. Das nenne ich gute pragmatische Politik im Interesse der Menschen.
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Ich will noch etwas sehr deutlich sagen: Nicht die Conterganstiftung ist der grundsätzliche Verursacher, sondern das Unternehmen, das Contergan auf den Markt gebracht hat. Und auch im Fall der brasilianischen Geschädigten hat Grünenthal dazu beigetragen, dass die Stiftung zu der Auffassung kommen konnte, bei Sedalis handle es sich um ein Lizenzprodukt. Schauen Sie sich bitte den Schriftwechsel dazu an. Grünenthal betont mit Blick auf Sedalis, man habe sich womöglich missverständlich ausgedrückt.
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Wir haben als Berichterstatter, nachdem wir von dem Vorgang erfahren haben, sofort Gespräche mit den handelnden Personen und den anderen Fraktionen des Bundestages geführt. Wir Berichterstatter waren sofort der Auffassung, dass eine Aberkennung von Leistungen nach Jahrzehnten nicht zumutbar ist. Wir waren uns auch darüber einig, dass der Vertrauensschutz der Betroffenen einen hohen Stellenwert hat. Darum haben wir einen Weg gesucht, wie man ein Klageverfahren und eine längere Situation der Unsicherheit vermeiden kann. Wir wollten auch einen Jahre dauernden Prozess vermeiden, weil das Risiko am Ende bei den Betroffenen gelandet wäre, zumal sich nach so langer Zeit nicht zweifelsfrei feststellen lässt, ob es sich bei Sedalis um ein Lizenzprodukt handelt oder nicht.
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Mit dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf, liebe Kolleginnen und Kollegen, geben wir nicht nur den brasilianischen Geschädigten ihre finanzielle Sicherheit zurück, sondern stellen auch grundsätzlich klar, dass alle Betroffenen ihren Leistungsanspruch bis zum Ende ihres Lebens behalten. Das ist eine gute Entscheidung, ganz im Sinne der Betroffenen.
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Jetzt muss ich mich sputen, obwohl ich so viel Redezeit hatte. Ich wollte noch kurz auf die Finanzierung der Kompetenzzentren eingehen. Diese haben wir schon mit dem Vierten Gesetz zur Änderung des Conterganstiftungsgsgesetzes angelegt; aber es fehlt noch die Ermächtigung, dass die Kompetenzzentren aus den Mitteln, die wir für die spezifischen Bedarfe jährlich zur Verfügung stellen, finanziert werden können. 30 Millionen Euro stellen wir dafür zur Verfügung, 3 Millionen davon sollen für die Kompetenzzentren verwandt werden. Ich gehe davon aus, dass es bei dieser Aufteilung der Summe bleibt. Damit bringen wir die Kompetenzzentren auch finanziell auf den Weg. Das ist gut für die Betroffenen. Zu den ursprünglichen Schädigungen kommen im Laufe der Zeit neue Schädigungen hinzu, insbesondere was die Nerven und die Gefäße angeht.
Insgesamt ist das eine gute Gesetzesvorlage, und ich bitte Sie ganz herzlich um Ihre Zustimmung. Ich würde mich freuen, wenn wir das heute einstimmig über die Bühne bringen könnten.
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat die Abgeordnete Mariana Harder-Kühnel für die AfD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Conterganskandal war einer der größten Arzneimittelskandale in der Geschichte der Bundesrepublik. Contergan wurde millionenfach an schwangere Frauen verkauft. Es führte bei Neugeborenen zu einer Häufung schwerer Fehlbildungen von Gliedmaßen und Organen. Unzählige Totgeburten gingen auf Contergan zurück. Hier wurde ein Verbrechen an Menschen begangen.
Aktuell leben in Deutschland noch etwa 2 600 Contergangeschädigte. Es handelt sich um Menschen, die unseren besonderen Respekt und unsere besondere Fürsorge verdienen. Wir freuen uns bei jedem Einzelnen von ihnen darüber, dass es ihn gibt. Trotz der Hürden, denen Contergangeschädigte im Alltag begegnen, sind sie häufig glückliche Menschen, Menschen, die andere Menschen glücklich machen, und jeder Einzelne von ihnen ist ein Argument für das Leben und ein Argument gegen Massentötungen, wie sie von aggressiven Abtreibungsapologeten in immer unverhohlenerer Weise betrieben werden.
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Manche politischen Gruppierungen wollen Schwangerschaftsabbrüche bis in den neunten Monat hinein legalisieren, was nichts anderes ist als Kindsmord.
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Manche fordern die Aufhebung des Werbeverbotes für Schwangerschaftsabbrüche, während sie sich gleichzeitig aus vorgeblichen Gesundheitsgründen über Tabak- und Alkoholwerbung echauffieren,
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so als ob das Rauchen einer Zigarette schlimmer wäre als ein abgetriebenes Kind.
Und natürlich möchten diese Milieus auch noch das Abtreibungsrecht weiter lockern, was vor allem bei behinderten Kindern als Argument ins Spiel gebracht wird.
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Damit geben diese Leute unfreiwillig zu, dass Behinderte für sie nur Menschen zweiter Klasse sind.
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Wir lehnen diese Kultur des Todes ab. Sie ist schlichtweg falsch und verabscheuungswürdig.
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Vier Dinge sind charakteristisch für jeden sozialistischen Menschenversuch: die Zerstörung von Privateigentum, die Zerstörung von Tradition, die Zerstörung von Religion und die Zerstörung der Familie.
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Die Zerstörung all dessen endet zwangsläufig in Armut, Orientierungslosigkeit, Werteverlust und letztlich im Tod.
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100 000 abgetriebene Kinder pro Jahr sind ein Indikator dafür, wie weit der schleichende Sozialismus hierzulande bereits fortgeschritten ist.
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Man will eine neue Welt schaffen, indem man die alte Welt beseitigt. Die Kultur eines Volkes erkennt man daran, wie es mit seinen Toten umgeht, man erkennt sie daran, wie es mit seinen ungeborenen Kindern umgeht, und man erkennt sie daran, wie es mit seinen behinderten Menschen umgeht.
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Es ist unsere Pflicht, mit allem gut umzugehen.
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Aus nachvollziehbaren Gründen ist es selten, dass wir die Arbeit der Bundesregierung loben. Den hier eingebrachten Gesetzentwurf befürworten wir aber, weil er in der Sache richtig ist.
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Es ist gut, wenn bereits bewilligte Bundesmittel in medizinische Kompetenzzentren fließen. Diese Zentren ermöglichen die bessere Beratung und Behandlung contergangeschädigter Menschen. Und es ist richtig, die im Gesetzentwurf vorgesehenen berechtigten Leistungsansprüche dieser Menschen nicht mehr abzuerkennen; denn sie haben ein Leben voller Hürden. Legen wir ihnen keine weiteren in den Weg.
Vielen Dank.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vorweg zu meiner Rede: Frau Harder-Kühnel, ich finde, man kann im Deutschen Bundestag über vieles reden; aber dass Sie zum heutigen Zeitpunkt bei einem so wichtigen Thema, bei dem es um die Würde der Contergangeschädigten geht, diese Rede missbrauchen, um Ihrem Populismus freien Lauf zu lassen, das finde ich total daneben. Ich finde, Sie sollten sich was schämen!
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Das Thema Contergan war im letzten November wieder in den Medien. Brasilianische Conterganopfer liefen Gefahr, ihre Rente zu verlieren. Es gab eine intensive Debatte über den Anerkennungsstatus von Betroffenen. Viele Menschen sahen plötzlich ihre Lebensgrundlage bedroht. Für uns als Koalitionsfraktionen aus CDU/CSU und SPD war sofort klar: Eine Aberkennung der Leistungen darf es niemals geben.
Mit dem heute vorliegenden Entwurf eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Conterganstiftungsgesetzes machen wir klar: Kein Conterganopfer, das – oft jahrzehntelang – Renten von der Conterganstiftung bezogen hat, wird diese verlieren, wenn es nicht vorsätzlich falsche oder vorsätzlich unvollständige Angaben gemacht hat.
Uns ist wichtig, dass die betroffenen Contergangeschädigten nicht unnötig lange in der Sorge um ihre wirtschaftliche Existenz leben müssen. Deshalb haben wir schnell, umfassend und pragmatisch gehandelt, um eine umfassende Rechtssicherheit sicherzustellen. Die Betroffenen können sich dadurch auf die Anerkennung ihres Status und ihrer Leistung verlassen. Statt zu bangen und zu kämpfen, können sie ihren verbleibenden Lebensweg möglichst sorgenfrei planen. Diese pragmatische gesetzliche Lösung ist wichtig, weil es nach 50, zum Teil über 60 Jahren schwierig ist, nachzuweisen, welches Medikament die Mutter in der Schwangerschaft genommen hat und dass die Fehlbildungen Folge eines thalidomidhaltigen Präparates der Firma Grünenthal sind.
Außerdem halte ich das Vertrauen der Leistungsberechtigten in den Fortbestand ihrer Leistungsansprüche für besonders schutzwürdig. Die Bundesrepublik übernimmt seit der Gründung des Hilfswerks für behinderte Kinder, der heutigen Conterganstiftung für behinderte Menschen, Verantwortung für die Betroffenen. Zu dieser Verantwortung stehen wir auch weiterhin uneingeschränkt.
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Aufwendige Vertrauensschutzprüfungen im Einzelfall im Zusammenhang mit einer Entscheidung über die Fortzahlungen der Leistungen werden künftig entfallen. Das ist richtig und wichtig für die Betroffenen.
Ich danke an dieser Stelle herzlich meiner Mitberichterstatterin Ursula Schulte von der SPD für die kollegiale und reibungslose Zusammenarbeit. Auch danke ich herzlich dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und Frau Bundesministerin Giffey für die Unterstützung bei der Erstellung dieses wichtigen Gesetzentwurfs.
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Für uns als CDU/CSU-Bundestagsfraktion war es schon immer ein wichtiges Anliegen, Betroffene mit Conterganschäden zu unterstützen, weil wir hier als Staat eine ganz besondere Verantwortung tragen. Diese Verantwortung wurde Ende der 50er-, Anfang der 60er-Jahre begründet, als ein Medikament mit dem Wirkstoff Thalidomid und dem Namen Contergan als rezeptfreies Schlaf- und Beruhigungsmittel verkauft wurde. Frauen, die dieses Medikament während der Schwangerschaft eingenommen hatten, haben Kinder mit schweren Fehlbildungen geboren. Viele dieser Kinder sind unmittelbar nach der Geburt oder wenig später verstorben. Zum Teil reichte schon die Einnahme einer einzigen Tablette, um den Schaden auszulösen.
Die Firma Grünenthal GmbH, die das Medikament Contergan entwickelt hatte, zahlte damals im Rahmen eines Vergleichs eine Entschädigung in Höhe von 100 Millionen D-Mark in die Stiftung „Hilfswerk für behinderte Kinder“ ein. Im Gegenzug wurden weitere Ansprüche gegen den Hersteller in gesetzliche Leistungsansprüche umgewandelt.
Contergan hat nicht nur das Schicksal von Einzelnen, sondern oft das ganzer Familien bestimmt. Die Kinder, die überlebten, sind heute erwachsen und haben oft einen sehr langen Leidensweg hinter sich. Vor diesem Hintergrund ist es uns wichtig, die Lebensrealität der Betroffenen im Blick zu behalten, sie zu unterstützen und unsere Maßnahmen bei Bedarf anzupassen und auszuweiten. Dafür haben wir in den letzten Jahren einiges getan.
2013 haben wir mit dem Dritten Gesetz zur Änderung des Conterganstiftungsgesetzes eine angemessene und zukunftsorientierte Unterstützung der Betroffenen sichergestellt. Konkret haben wir die Conterganrente deutlich erhöht und neue Leistungen zur Deckung spezifischer Bedarfe im Einzelfall für die rund 2 600 Leistungsberechtigten eingeführt. Hierfür haben wir zusätzliche Bundesmittel in Höhe von 30 Millionen Euro pro Jahr bereitgestellt.
Durch das Vierte Gesetz zur Änderung des Conterganstiftungsgesetzes haben wir zum 1. Januar 2017 anstelle von individuell bedarfsdeckenden Leistungen für spezifische Bedarfe eine Gewährung pauschaler Leistungen zur Deckung spezifischer Bedarfe eingeführt. Aus diesem Betrag in Höhe von 30 Millionen Euro pro Jahr haben wir außerdem die Förderung multidisziplinärer medizinischer Kompetenzzentren vorgesehen. Mit diesen Zentren wollen wir die medizinischen Beratungs- und Behandlungsangebote und damit die Lebenssituation für betroffene Menschen verbessern.
Allerdings hat der Bundesrechnungshof festgestellt, dass die gesetzliche Ermächtigungsgrundlage für die Förderung dieser Kompetenzzentren bisher fehlt. Mit dem fünften Änderungsgesetz schaffen wir heute diese Ermächtigungsgrundlage. Weil die Förderung der Kompetenzzentren aus Stiftungsmitteln gesetzlich verankert wird, kann das Förderverfahren noch im Haushaltsjahr 2020 beginnen. Die weitere Ausgestaltung der Kompetenzzentren und deren Förderung werden auch nach Verabschiedung dieses Gesetzes ein wichtiges Thema für uns sein, welches wir im Blick behalten werden.
Das alles zeigt: Wir als CDU/CSU-Fraktion empfinden das Schicksal der Contergangeschädigten als wichtig. Wir werden uns auch weiterhin für die Verbesserung der Lebensumstände einsetzen.
Vielen Dank.
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Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Jens Beeck das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor einigen Monaten besuchte ich eine Berlinerin, die mich angeschrieben hatte, weil sie in Eigenregie und auf eigene finanzielle Verantwortung ihren Assistenzhund ausgebildet hatte. Das Kennenlernen war für mich sehr beeindruckend; denn die Dame gehört zu den Menschen in Deutschland, die aufgrund der Einnahme des thalidomidhaltigen Medikamentes Contergan eine extreme Verkürzung ihrer beiden Arme aufweist.
Sie lebt – auch dank ihres tierischen Helfers – selbstbestimmt, eigenständig in ihrer eigenen Wohnung. Der Hausnotruf wird im Notfall vom Hund bedient. Der Hund bringt Dinge; er betätigt Lichtschalter. Das eigenständige Leben, die Selbstbestimmtheit vor allen Dingen in der eigenen Wohnung ist für diese gut ausgebildete, im besten Sinne vornehme Dame von zentraler Bedeutung in ihrem Leben. Vieles, was die Voraussetzungen dafür schafft, dass sie so leben kann, wird durch Leistungen der Stiftung überhaupt erst ermöglicht.
Die Contergangeneration nähert sich dem Erreichen des Rentenalters. Die altersbedingten Verschleißerscheinungen und Krankheitsbilder kommen nun noch on top auf die vielfältigen thalidomidbedingten und sehr individuellen Ausprägungen der lebenslangen Spät- und Folgeschäden. Das eigenständige und selbstbestimmte Leben für die Betroffenen weiter zu ermöglichen, wird Anstrengungen erfordern.
Der Bedarf an Assistenz, der Bedarf an Umbauten, der Bedarf an Pflege wird weiter wachsen. Staat und Gesellschaft müssen sich vor dem Hintergrund der Ereignisse von vor mittlerweile über 60 Jahren dieser Verantwortung stellen. Es bleibt eine besondere Verpflichtung für uns alle, und es ist gut, dass wir uns dieser Verpflichtung in diesem Hause heute nahezu einstimmig stellen.
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Zugleich ist nachvollziehbar – und es verdient unsere Akzeptanz –, dass viele der Betroffenen die Aufarbeitung noch immer als eher mangelhaft und ausbaufähig empfinden. Die Politik hat die Verpflichtung, die Folgen des Contergandesasters, die zu langsame Reaktion der damals Verantwortlichen, die viel zu lange Suche nach Schuldigen heute bestmöglich aufzufangen. Deswegen war es richtig, deswegen ist es richtig, dass der Staat die Conterganstiftung mit ins Leben gerufen hat und sich dauerhaft und immer noch engagiert an ihrer Finanzierung beteiligt.
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Das fünfte Conterganstiftungsgesetz hat im Kern drei Botschaften:
Erstens. Die Verantwortung der Gesellschaft und des Gesetzgebers bleibt hoch. Mit unterschiedlichen Akzentuierungen, liebe Corinna, haben alle Berichterstatter das in diesem Hause sehr konstruktiv deutlich gemacht.
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Das ist ein gutes Zeichen für die Betroffenen. Ich will mich bei all den Berichterstatterinnen und Berichterstattern bedanken. Ausdrücklich bedanken will ich mich auch bei Frau Staatssekretärin Marks, dass es dank ihrer Intervention gelungen ist – auch mit dem Haus, Frau Kollegin Giffey –, einen sehr konstruktiven Dialog an dieser Stelle zu führen.
Zweitens. Die Mitbürgerinnen und Mitbürger, die von Conterganschäden betroffen sind, haben nach jahrzehntelangem Leistungsbezug einen unverbrüchlichen Anspruch auf Vertrauensschutz. Deswegen wird es eine Aberkennung von Leistungen nach diesen vielen Jahren nicht mehr geben.
Drittens. Die Betroffenen werden von uns gehört. Deswegen sind auch die Eingaben, die es noch zum Fünften Gesetz zur Änderung des Conterganstiftungsgesetzes gegeben hat, mit eingeflossen, beispielsweise in der Formulierung, dass nur vorsätzlich unvollständige Angaben überhaupt zu Überprüfungsverfahren führen können. Ein Wort machte einen großen Unterschied.
Lassen Sie mich zum Ende kommen. Frau Kollegin Harder-Kühnel, wenn Sie die ersten Sekunden und die letzten Sekunden Ihrer Rede genutzt hätten, hätte die AfD die Chance gehabt, das erste Mal einen sozialpolitischen Beitrag von Gewicht in diesem Hause mitzugestalten. Dass Sie diese Chance einmal mehr zulasten der Betroffenen, über die Sie gesprochen haben – ohne jeden Respekt vor diesen Menschen –, haben vorbeiziehen lassen, ist mehr als schade. Sie sollten sich vielleicht mal überlegen, ob Sie nicht irgendwann an Respekt vor den Mitmenschen, den Wählerinnen und Wählern, den Bürgerinnen und Bürger in diesem Land dazugewinnen
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und dies nutzen, um hier ordnungsgemäß in der Sozialpolitik mitzuwirken.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
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Das Wort hat der Abgeordnete Sören Pellmann für die Fraktion Die Linke.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zwei Anmerkungen, Frau Harder-Kühnel, habe ich zu Ihrer Rede. Erstens: Thema verfehlt! Und zweitens: Eine Fraktion, die in einer ihrer ersten parlamentarischen Initiativen Menschen mit Behinderungen das Lebensrecht abgesprochen hat, sollte zu diesem Thema lieber schweigen.
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10. April 1970 war das Datum, an dem der Prozess mit einem Vergleich endete. Knapp 50 Jahre danach erhielten 58 Betroffene in Brasilien Post – einige meiner Vorrednerinnen und Vorredner sind schon darauf eingegangen –, natürlich in deutscher Sprache formuliert, und sie sollten angehört werden. Darin wurde den noch lebenden Geschädigten der Widerruf der Anerkennungsbescheide durch die Stiftung angekündigt.
Die Conterganstiftung begründet ihr Vorgehen damit, dass Sedalis kein Präparat der Grünenthal GmbH sei, sondern ein Medikament – ich zitiere –, „welches durch einen Lizenznehmer in eigener Verantwortung hergestellt und vertrieben wurde“. Die Conterganstiftung sei nicht für diese Entschädigungen zuständig, heißt es weiter. Selbst Grünenthal sieht „keine Veranlassung“, an der bisherigen „Bewertung zu zweifeln“.
Es ist beschämend, dass die Conterganstiftung diesen Schritt geht und der Bundestag nun zum Handeln gezwungen wird.
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Es ist beschämend, dass Betroffenen ihre Lebensgrundlage entzogen werden soll. Vergegenwärtigen wir uns doch mal die Situation von Menschen mit Behinderung in Brasilien, für die wir hier in einer ausdrücklichen Verantwortung stehen. Kein Geld von der Conterganstiftung – was bedeutet das für die Betroffenen? Keine Bezahlung von Pflegeleistungen möglich, keine Bezahlung von Medikamenten möglich, kein barrierefreies Wohnen möglich; aufgrund des brasilianischen Systems weitere gesellschaftliche Stigmatisierung und Isolation. Was wollen wir diesen Menschen eigentlich noch antun?
Umso erfreulicher, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist das Handeln der demokratischen Fraktionen hier im Hohen Hause. In offenen Gesprächen zur Lösung dieses Vorgangs durch das Ministerium und unter den Fraktionen über Regierungsgrenzen hinweg suchen wir nach einer gemeinsamen Lösung. Das wünschte ich mir gerade in diesen Themenfeldern öfter und häufiger.
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Die Conterganstiftung beweist mit diesem Handeln – diese Kritik muss ich an dieser Stelle loswerden –, dass die Überarbeitung der Stiftungsstrukturen und die Stärkung der Rechte der contergangeschädigten Menschen sowie ihrer Vertreterinnen und Vertreter in den Stiftungsorganen längst überfällig sind und dass hier noch nachzuarbeiten sein wird. Die Strukturänderungen wurden seitens der Bundesregierung schon sehr lange versprochen, aber bisher leider nicht umgesetzt. Die Frage ist: Warum? Der Prozess lässt bereits sehr lange auf sich warten. Lassen Sie ihn uns endlich gemeinsam und konstruktiv zu Ende bringen; denn dieser Vorgang beweist genau diese Notwendigkeit.
Vielen Dank.
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Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Corinna Rüffer das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Endlich hat die Frau Rüffer das Wort; sie ist ja auch schon mehrfach angesprochen worden.“ – Ich will Ihnen ganz am Anfang sagen: Ich bin erschüttert – ich bin eigentlich seit vielen Monaten erschüttert – über das, was hier vorgefallen ist. Ich bin erschüttert über die Exegese, die dazu geführt hat, dass wir hier heute stehen.
Vom Ergebnis her will ich Ihnen sagen: Wir werden natürlich zustimmen. Wir werden deshalb zustimmen, weil diese Änderung des Conterganstiftungsgesetzes den Menschen endlich Schutz gibt, dass ihnen im Nachhinein die Leistungen nicht mehr entzogen werden können. Es ist an sich schon ein Skandal ist, dass wir diesen Schutzwall ziehen müssen.
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Wir stimmen auch deshalb zu, weil wir 2016 schon mal zugestimmt haben, als es darum ging, die Finanzierung der medizinischen Kompetenzzentren aus Stiftungsmitteln heraus zu ermöglichen. Uns hat der Bundesrechnungshof dazu aufgefordert, dafür jetzt auch die gesetzliche Grundlage zu legen. Also, es gibt überhaupt keinen Grund, dass wir uns hier beweihräuchern für das, was wir heute tun.
Aber der eigentliche Grund – und das ist wichtig –, warum wir hier heute stehen, ist ein Skandal, der im letzten Dezember vom „Spiegel“ und anderen aufgedeckt worden ist. Der Skandal besteht darin, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass die Conterganstiftung im Oktober des Jahres 2019 gegenüber 60 Geschädigten, vor allen Dingen aus Brasilien, Mexiko, aber auch Finnland, ein Anhörungsverfahren eingeleitet hat und ihnen mitgeteilt hat: Wir entziehen Ihnen nach 40 Jahren – nach 40 Jahren! – die Conterganrente. Wir entziehen Ihnen gerade mal die Existenz. Jetzt fragen Sie sich: Auf welcher Grundlage ist dieses Anhörungsverfahren eingeleitet worden? Man würde sich denken: Die haben das in der Stiftung doch bestimmt gut geprüft, bevor sie die Leute, die Portugiesisch sprechen, auf Deutsch angeschrieben haben.
Jetzt muss man sagen: Die Stiftung hat keinen Kontakt zur Firma Grünenthal aufgenommen, und die Stiftung hat über lange Zeit den Kontakt zur Firma Grünenthal verweigert, um hier zu einer Klärung zu kommen. Des Weiteren hat sich die Stiftung nicht mal den Lizenzvertrag angeschaut, der öffentlich zugänglich gewesen ist. Diesen Lizenzvertrag hat sie sich erst angeschaut, nachdem wir eine schriftliche Frage zu diesem Thema gestellt haben. Das Ganze ist also ohne Prüfung geschehen. Bis heute ist nicht ersichtlich, ob, in welcher Weise und auf welcher Grundlage eine Prüfung vorgenommen wurde. Ohne Prüfung sind die Menschen einfach mit dem Entzug ihrer Existenzgrundlage bedroht worden. Das ist der Skandal, über den wir heute reden.
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Ich bin seit 2013 Berichterstatterin in diesem Parlament für das Thema Contergan. Einen herzlichen Dank an die Berichterstatterinnen und Berichterstatter der anderen Fraktionen! Sie sind hier nämlich wahrlich nicht das Problem. Aber ich kann Ihnen sagen, dass in dieser Stiftung ganz viel im Argen liegt und dass das Bundesfamilienministerium aus unserer Sicht in diesem Fall seine Rechtsaufsicht nicht wahrgenommen hat, seiner Aufgabe nicht gerecht geworden ist.
Was wir heute tun, ist notwendig. Aber was wir ab morgen tun müssen, ist, diesen Skandal aufzudecken. Wir müssen endlich an die Stiftungsstruktur herangehen, an den Kern des Problems, weil, glaube ich, keiner von uns Lust hat, in wenigen Monaten, Jahren oder wann auch immer wieder hier zu stehen und irgendwelche Skandale aufzudecken. Wir brauchen eine Stiftung, vor der auch die deutschen Contergangeschädigten keine Angst haben müssen.
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Kollegin Rüffer.
Wir brauchen eine Stiftung, bei der diese Menschen im Mittelpunkt stehen, eine Stiftung, die transparente, demokratische Strukturen hat, Strukturen, die wir nachvollziehen können. Wir brauchen ein Bundesfamilienministerium, das seine Aufgaben ernst nimmt.
Kollegin Rüffer, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Jetzt komme ich zum Ende. – Wir haben unter den Berichterstatterinnen und Berichterstattern vereinbart, dass wir dementsprechend noch in dieser Legislaturperiode aktiv werden. Und ich werde nicht ruhen, bis etwas geschieht, weil ich keine Lust habe, immer und immer wieder diese Debatten zu führen.
Danke.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Wilfried Oellers das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! „Ruhe und Schlaf zu fördern vermag Contergan. Dieses gefahrlose Medikament belastet den Leber-Stoffwechsel nicht, beeinflußt weder den Blutdruck noch den Kreislauf und wird auch von empfindlichen Patienten gut vertragen.“ Dieses Zitat stellt einen Auszug aus dem Werbetext dar, mit dem Ende der 50er-Jahre die Chemie Grünenthal GmbH aus Stolberg – in meinem Nachbarwahlkreis – für das vermeintliche Wundermittel Contergan warb.
Das verhängnisvolle Ergebnis: 4 000 Kinder kamen um das Jahr 1960 allein in Deutschland mit Fehlbildungen auf die Welt; weltweit waren es an die 10 000. Heute, bald 60 Jahre nach Aufdeckung des Skandals, leben in Deutschland noch etwas mehr als 2 000 von ihnen. Vor Kurzem habe ich mit einem Betroffenen telefoniert, der seit vielen Jahren den Finger in die Wunde legt, wenn es um die Rechte von Contergangeschädigten geht. Seinen besonderen Unmut äußerte er über die schon seit einigen Monaten laufende Debatte – die Thematik wurde hier ja sehr umfangreich angesprochen – über den Anerkennungsstatus von Betroffenen in Brasilien, hervorgerufen durch die rechtlich strittige Frage, ob das Präparat, das ihre Mütter während der Schwangerschaft eingenommen hatten, nun der Firma Grünenthal zuzuschreiben sei oder nicht.
Ich bin sehr froh, dass die Gespräche und Verhandlungen zwischen allen Beteiligten in den Gesetzentwurf gemündet sind, den wir als Regierungskoalition heute vorlegen, auch wenn es schade ist, dass es dazu kommen musste. Der Gesetzentwurf sieht vor, dass eine Aberkennung von Leistungsansprüchen grundsätzlich nicht mehr erfolgen kann. Eine Ausnahme gilt nur dann, wenn durch die leistungsberechtigten Personen vorsätzlich unrichtige oder vorsätzlich unvollständige Angaben gemacht wurden. Das ist eine gute Lösung, die weltweit allen Betroffenen unbürokratisch und schnell zu mehr Rechtssicherheit verhelfen und ihnen die Verunsicherung der letzten Monate nehmen wird. Man darf nämlich bei alledem nicht vergessen, wie schwer das tägliche Leben der contergangeschädigten Menschen ohnehin schon ist und bei der langsam ins Seniorenalter kommenden Generation mit all den Folgeschäden zunehmend wird.
Daher freue ich mich auch sehr, dass wir mit dem Gesetzentwurf die finanzielle Förderung von medizinischen Kompetenzzentren durch die Zuwendung nun mit einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage im Conterganstiftungsgesetz auf eine sichere Basis stellen. Damit schaffen wir nicht nur kurzfristig eine Handlungsgrundlage, um das Förderverfahren für die Kompetenzzentren noch im Haushaltsjahr 2020 beginnen zu können, wir schaffen vor allen Dingen mittel- und langfristig auch eine Basis, um medizinisches Expertenwissen zugunsten der Betroffenen weiterzuentwickeln und zu vernetzen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Geschichte der Conterganstiftung dokumentiert wie unter einem Brennglas auch den Weg, den wir in der Behindertenpolitik in Deutschland – von der Fürsorge hin zur Teilhabe von Menschen mit Behinderungen – in den letzten Jahrzehnten, beschleunigt vom hiesigen Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonventionen vor gut zehn Jahren, gegangen sind. 1972 gegründet unter dem Namen „Stiftung ‚Hilfswerk für behinderte Kinderʼ“, steht die heutige „Conterganstiftung für behinderte Menschen“ mit all ihren Leistungen mehr denn je für das Ziel, die Teilhabe und Selbstbestimmung Conterganbetroffener zu fördern.
Als Behindertenbeauftragter stehe ich immer wieder vor der Frage, wie die Teilhabe von Menschen mit ganz unterschiedlichen Beeinträchtigungen verbessert werden kann. Dabei möchte ich nicht ausschließen, dass es vielleicht die einen oder anderen Menschen mit Behinderungen gibt, die sich ein ähnlich umfangreiches Leistungssystem wünschen würden wie das für die Contergangeschädigten. Doch bei allen Vergleichen dürfen wir nie vergessen, was am Anfang stand: einer der größten Arzneimittelskandale der Bundesrepublik Deutschland, der uns als Staat ganz besonders in die Verantwortung nimmt, gute Voraussetzungen für die gesellschaftliche Teilhabe der Contergangeschädigten auch in Zukunft zu gewährleisten.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
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Ich schließe die Aussprache.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wasserstoff in großen Mengen und zu wirtschaftlichen Preisen ist der einzige Weg, um Klimaschutz und die Sicherung des Industriestandortes zu verbinden. Regenerativ hergestellter Wasserstoff ist die Grundlage für synthetische Kraftstoffe, für E-Fuels – also klimaneutralen Diesel, klimaneutrales Benzin, klimaneutrales Kerosin –, mit denen wir die ausgereifte Verbrennungstechnologie auch in Zukunft klimaneutral nutzen können. Das sichert Millionen von Arbeitsplätzen in der Luftfahrt, in der Automobil- und in der Zuliefererindustrie.
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Deshalb ist es dringend erforderlich, dass wir endlich vorankommen mit einer Wasserstoffstrategie, die diesen Namen verdient.
Ich habe an dieser Stelle bereits im November des vergangenen Jahres eine europäische Wasserstoffstrategie gefordert; denn wir brauchen in großen Mengen klimaneutral hergestellten Wasserstoff. Wir verstehen überhaupt nicht, dass es so lange gebraucht hat, bis die Bundesregierung, bis dieses Haus sich dazu durchgerungen hat, Druck zu machen, nicht nur für eine nationale Wasserstoffstrategie, sondern eben auch für europäische Ansätze.
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So wie wir die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl nach dem Zweiten Weltkrieg als Nukleus für die europäische Integration genutzt haben, können wir jetzt ideale Standorte für die Sonnen- und Windenergie nutzen, um Wasserstoff klimaneutral herzustellen, den wir dringend brauchen zur Dekarbonisierung der Stahlindustrie, zur Dekarbonisierung unserer Industrieprozesse, vor allen Dingen aber auch für Mobilitätsanwendungen. Wenn bei einer Ausschreibung etwa in Portugal für 1,4 Eurocent die Kilowattstunde Photovoltaikstrom entsteht, dann ist das Ganze auch wirtschaftlich. Vor diesem Hintergrund freuen wir uns auch, dass anfängliche Skepsis – etwa bei der Fraktion der Grünen, die sich hier noch im November skeptisch geäußert hat –
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heute ausgeräumt zu sein scheint. Sie sind da in unsere Richtung gegangen. Das freut uns. Wir werten das auch als Erfolg unserer Überzeugungsarbeit, meine Damen und Herren.
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Wenn die Europäische Kommission in der nächsten Woche Eckpunkte für eine europäische Wasserstoffstrategie vorlegt, dann werten wir auch das als einen Erfolg der Bemühungen, die die Liberalen auch im Europäischen Parlament vorgenommen haben. Wir glauben, dass die Wasserstoffstrategie dringend erforderlich ist, und wir fordern an dieser Stelle auch eine entsprechende Betonung der Wasserstoffbrennstoffzellentechnik. Wir müssen aufpassen, dass die Technologie der Brennstoffzelle, die in Deutschland, die in Europa erfunden worden ist, nicht in andere Länder dieser Welt abwandert.
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Wir müssen dafür sorgen, dass eben nicht Länder wie China, wie Japan, wie Südkorea uns Europäern, uns Deutschen hier den Rang ablaufen, meine Damen und Herren. Deshalb ist es dringend erforderlich, dass notwendige Schritte für die Umsetzung der Brennstoffzellentechnologie in Deutschland, in Europa gemacht werden.
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Dazu gehören für uns die Abschaffung der Diskriminierung des Wasserstoffs und der synthetischen Kraftstoffe etwa bei der Flottengrenzwertgesetzgebung der EU. Es ist doch nicht einzusehen, dass beim jetzigen Strommix Batterie/Elektromobilitäts-Autos mit null Klimaeffekt angesetzt werden, obwohl das gar nicht stimmt, gleichzeitig aber synthetische Kraftstoffe nicht berücksichtigt werden.
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Diese Diskriminierung der Wasserstofftechnologie muss beendet werden.
Auch die Sektorkopplung muss verbessert und endlich zugelassen werden, die Hemmnisse für die Herstellung von Wasserstoff aus Überschussstrom, etwa aus Wind und Photovoltaik, müssen dringend beseitigt werden. Dass dafür EEG-Umlage anfällt, versteht niemand. Wir brauchen dringend einen ökologischen Ordnungsrahmen der sozialen Marktwirtschaft. Die Diskriminierung des Wasserstoffs muss beendet werden, meine Damen und Herren. Und ja, wir plädieren für die Ausweitung des europäischen Emissionshandelssystems auf die Sektoren Verkehr und Wärme, und wir plädieren dafür, dass dieser marktwirtschaftliche Ordnungsrahmen auch ausgedehnt wird, zum Beispiel auf Länder wie Nordafrika oder andere Länder der Welt. Denn es ist völlig egal, wo klimaneutraler Wasserstoff hergestellt wird, Hauptsache, das Klima wird geschützt, und Hauptsache, der Wasserstoff wird zu wirtschaftlich wettbewerbsfähigen Preisen hergestellt.
Das war jetzt ein gutes Schlusswort, Herr Kollege.
Dann können Klimaschutz und Arbeitsplätze verbunden werden.
Vielen Dank.
({0})
Ich mache darauf aufmerksam, dass ich jetzt angesichts der fortgeschrittenen Zeit auf die strikte Einhaltung der Redezeit achten werde.
Nächster Redner ist Mark Helfrich für die Fraktion der CDU/CSU.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wasserstoff wird gerade zum Allzweckenergieträger der Zukunft oder, salopp gesagt, zur eierlegenden Wollmilchsau der Energiewende.
In der Tat ist Wasserstoff vielseitig verwendbar: Er kann bisherige Brennstoffe wie Öl, Koks oder Erdgas in der Industrie ersetzen und ist zudem ein universeller Grundstoff für die chemische Industrie. Im Bereich der Mobilität sind Wasserstoff und daraus hergestellte synthetische Kraftstoffe der Treibstoff der Zukunft. Egal ob in Flugzeugen, Schiffen, Zügen, Bussen oder Lkws: Überall, wo Batterieantriebe nicht praktikabel sind, sind Wasserstoff und synthetische Kraftstoffe flexibel einsetzbar. Auch im Wärmesektor, zum Transport von erneuerbarer Energie oder als Energiespeicher, ist Wasserstoff geeignet. Wird er zudem mithilfe von Power to Gas aus Sonnen- oder Windenergie erzeugt, ist Wasserstoff auch ein Klimaschützer. Für mich ist die Power-to-Gas-Technologie neben der Photovoltaik und der Windkraft die dritte Säule der globalen Energiewende.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, nun zu Ihrer Wasserstofffarbenlehre. Nach Weißem, Grünem, Grauem, Blauem und Türkisem gibt es jetzt also auch Bunten Wasserstoff. Fehlt eigentlich nur noch der Gelbe Wasserstoff.
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Dieser könnte wahlweise für Wasserstoff aus Atomstrom stehen oder alternativ auch für Knallgas.
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Okay, das war jetzt nicht wirklich nett. Ich nehme das auch mit dem Ausdruck des Bedauerns sofort wieder zurück.
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Aber was will ich damit sagen? Wer in Deutschland 2020 die Diskussion über Bunten Wasserstoff anzettelt, erweist dem Thema Wasserstoff einen Bärendienst. Werden andere Länder Blauen Wasserstoff vorantreiben? Mit Sicherheit. Ist das Thema „unterirdische CO2-Speicherung“ in Deutschland tot? Mit Sicherheit.
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Wäre das bei CO2-freier Methanpyrolyse bzw. Türkisem Wasserstoff anders? Mit Sicherheit. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, sind gerade dabei, das Kind mit dem Bade auszuschütten.
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Meine Damen und Herren, Wasserstoff steht nur marginal als natürlicher Rohstoff zur Verfügung. Deshalb muss er zuerst hergestellt werden. Die Wasserstoffstrategie der Bundesregierung wird deshalb sowohl den technischen Ausbau von Elektrolyseuren fördern als auch die Voraussetzungen dafür schaffen, dass ein Markt für Wasserstoff entsteht.
So wollen wir bis 2030 in einem ersten Schritt Erzeugungsanlagen für Grünen Wasserstoff mit bis zu 5 Gigawatt Gesamtleistung fördern. Spätestens bis 2040 soll sich die Erzeugungsleistung auf 10 Gigawatt verdoppeln. Deshalb stellen wir für den Technologiehochlauf 7 Milliarden Euro bereit.
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Damit kann Grüner Wasserstoff so schnell wie möglich in industriellem Maßstab in Deutschland produziert werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit sich erneuerbarer Wasserstoff am Markt durchsetzen kann, brauchen wir ihn zu wettbewerbsfähigen Preisen. Hierbei ist die EEG-Umlage ein wichtiger und im Übrigen auch symbolischer Hebel für die Produktion in Deutschland. Die angekündigte Prüfung einer Befreiung des für die Wasserstofferzeugung benötigten Stroms von der EEG-Umlage ist ein erster Schritt. Wenn wir es aber ernst meinen mit dem Thema, dann müssen wir die Befreiung noch in diesem Jahr in der großen EEG-Novelle verankern.
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Bei der Wasserstoffverwendung gilt für mich: Eine Einschränkung auf bestimmte Sektoren würde kurzfristig erschließbare Absatzmärkte und CO2-Senkungspotenziale ausblenden und so den Hochlauf der Elektrolyseleistung bremsen. Unser Ziel ist es, Deutschland international zu einem Vorreiter bei Grünem Wasserstoff zu machen und die Nummer eins bei Wasserstofftechnologien in der Welt zu werden.
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Eines ist aber auch klar: Die anvisierten 10 Gigawatt Erzeugungsleistung werden nicht ausreichen. Sie sind mit Blick auf eine vollendete Energiewende nicht mehr als der berühmte Tropfen auf den heißen Stein.
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Die Produktion von Wasserstoff benötigt viel erneuerbare Energie, die wir in Deutschland nicht werden erzeugen können, die aber auf diesem Planeten durchaus vorhanden ist. Vor allem die Länder Nordafrikas sind geeignete Produktionsstandorte für Grünen Wasserstoff, da dort die Sonne nahezu unbegrenzt scheint. Für die dafür notwendigen internationalen Energiepartnerschaften sind zusätzliche 2 Milliarden Euro im Konjunkturprogramm vorgesehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, Sie fordern in Ihrem Antrag eine europäische Wasserstoffunion. Und in der Tat: Das Vorbild der Montanunion für eine Wasserstoffunion hat durchaus Charme. Deshalb hat zu Beginn dieser Woche Deutschland zusammen mit den Penta-Staaten die EU-Kommission dazu aufgefordert, eine Strategie für den Ausbau klimafreundlicher Wasserstoffenergie vorzulegen. Neben Deutschland fordern Österreich, Benelux, Frankreich sowie die Schweiz ein gemeinsames Vorgehen beim Thema Wasserstoff. Sie sehen also: Die Bundesregierung ist Ihnen schon einen Schritt voraus.
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– Das ist immer eine Frage des Betrachtungswinkels.
Sehr geehrte Damen und Herren, Wasserstoff besitzt das Potenzial, die globale Energiewende auf die Erfolgsspur zu bringen. Ohne Wasserstoff wird es keinen klimaneutralen Kontinent Europa geben.
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Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Steffen Kotré für die Fraktion der AfD.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wasserstoff soll nun der neue Heilsbringer sein. Aber ich glaube, ich muss Sie an dieser Stelle noch mal ganz kurz aus dem Wolkenkuckucksheim herunter auf die Erde ziehen.
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Die Wasserstofftechnologie ist 180 Jahre alt, und niemand ist bis vor Kurzem auf die Idee gekommen, im Wasserstoff den Heiligen Gral unserer Energieversorgung zu sehen. Warum nicht? Weil wir Gas, Kohle, Öl und selbstverständlich Kernenergie haben – und damit einen gesunden Energiemix.
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Aber die Energiewendeideologen sehen ihr Experiment gescheitert. Die sogenannte Energiewende fährt gerade an die Wand – physikalisch, weil wir viele Stromausfälle bekommen, und ökonomisch mit der Ausplünderung nicht mehr nur der Stromkunden, sondern in Zukunft bald auch der Steuerzahler.
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Anstatt an dieser Stelle umzukehren, schlittern wir also weiter in den Sumpf der verschwendeten Subvention hinein. Nach den schädlichen Coronamaßnahmen können wir uns das gar nicht mehr leisten.
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Es ist eigentlich kein Geld mehr da für weitere Experimente.
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Der Knackpunkt ist der Wirkungsgrad. Gegenüber den wettbewerbsfähigen Energien haben wir beim Wasserstoff, beim industriell hergestellten Wasserstoff, eine Vernichtung des Nutzungsgrads von 75 Prozent.
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Wir müssen also viermal mehr Energie hineinstecken, als wir herausbekommen und tatsächlich nutzen können. Wasserstofftechnologie kann ein Nischenprodukt sein, jawohl, aber eben auch nur das.
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Wenn ich hier das Stichwort „europäische Strategie“ höre: Na ja, auf europäischer Ebene haben ja nicht mal die Coronamaßnahmen geklappt. Der Euro klappt nicht, und auch die restliche Zusammenarbeit klappt nicht, meine Damen und Herren. Warum soll es an der Stelle dann funktionieren?
Die zentralplanerische Fehlinvestition in Wasserstoff bedeutet leider gleichzeitig auch den zerstörerischen weiteren Ausbau der erneuerbaren Energien. Das bedeutet gleichzeitig eine weitere Umweltzerstörung und die Senkung unserer Lebensqualität.
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Ein trauriges Beispiel an dieser Stelle ist der Reinhardswald in Hessen, der Märchenwald der Gebrüder Grimm, ein malerischer ursprünglicher Rückzugsort für Menschen und Tiere. Jahrhundertealte Bäume sollen nun abgeholzt werden für Windenergieanlagen.
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Windenergieanlagen werden, wenn das so umgesetzt wird, diesen Urwald leider in eine Industrielandschaft verwandeln.
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Im Hambacher Forst sind die Leute auf die Bäume geklettert. Das links-grüne Lager hat sich für den Erhalt eines unbedeutenden Stücks Wald eingesetzt. Die gleichen Leute verantworten bzw. sympathisieren jetzt damit, dass unsere letzten noch verbliebenen Urwälder vernichtet werden sollen. Das ist eine Zerstörung von Heimat, meine Damen und Herren.
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Das ist der Beginn von Dystopien und Huxleys schöner neuen Welt. Das ist schlicht ein Verbrechen an Natur, Umwelt und den Menschen, meine Damen und Herren. Und wenn wir weitergehen ins Reich der Schnapsideen, dann ist klar: Auch der Wasserstoff aus Nordafrika ist eine solche.
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Wir geben unsere Energieversorgung in ausländische Hände. Wir machen uns abhängig von ausländischen Machthabern. Welch ein Irrsinn, meine Damen und Herren!
({12})
Oder Wasserstoff in der Stahlindustrie: Schon heute ist Deutschland in diesem Sektor kaum wettbewerbsfähig. Da kommt nun die Bundesregierung daher und will Stahlproduzenten die Kohle wegnehmen,
({13})
um die Nutzung von Wasserstoff in diesem Bereich zu animieren. Der teure Wasserstoffstahl hat auf dem Weltmarkt keine Chance. Die Asiaten würden uns mit ihren Produkten überschwemmen. Das würden wir mit unserem Wohlstand und dem Wegfall unserer Arbeitsplätze bezahlen müssen.
Nein, lassen wir diesen Wahnsinn der Energiewende! Lassen Sie uns zurückkehren zu einem vernünftigen Strompreis! Wir könnten den Strompreis halbieren! Jawohl, wir könnten ihn halbieren, –
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Sie müssen zum Schluss kommen.
– wenn wir diese ganzen Experimente jetzt lassen. Schluss mit dem Wahn der Energiewende! Schützen wir unsere Heimat!
Vielen Dank.
({0})
Nächster Redner in der Debatte ist für die Fraktion der SPD der Kollege Andreas Rimkus.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorab: Die vorliegenden Anträge von FDP und Grünen erfüllen mich, nur durch gelegentliches Stirnrunzeln unterbrochen, größtenteils wahrlich mit Frohsinn und Heiterkeit.
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Wie Sie wissen, engagiere ich mich seit Langem für Sektorkopplung und Wasserstoffwirtschaft, und ich freue mich deshalb, dass wir uns offensichtlich mittlerweile alle – zumindest die Ernstzunehmenden – einig sind, dass der Wasserstoff der Missing Link ist, der die Energiewende zu einem integralen Bestandteil unseres Energiesystems macht.
Wer mich kennt, weiß, dass ich keine konstruktive Debatte scheue, sondern in höchstem Maße schätze – ob im Ausschuss, auf Podien oder im Parlamentskreis Sektorkopplung, in dem ja auch zwei der heutigen Antragsteller vertreten sind, sehr geehrte Frau Dr. Nestle und lieber Herr Professor Dr. Neumann. Sie beide verzeihen mir trotz allem – oder vielleicht gerade deshalb – hoffentlich den kleinen Seitenhieb: Es tut mir leid, dass die Bundesregierung Ihren Anträgen mit der Vorlage der Wasserstoffstrategie und des Konjunkturprogramms nun doch leider etwas zuvorgekommen ist.
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Das ist ja nun ein Riesenschritt. Wer hätte gedacht, dass wir das tatsächlich schaffen.
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– Unfassbar, in der Tat!
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Damit möchte ich Ihre Beiträge aber auch gar nicht sachlich herabwürdigen, im Gegenteil: Ich sehe zahlreiche richtige Ansätze. Gut, dass wir diese Diskussion im Ausschuss fortführen.
Aber – das muss ich auch sagen – für viele Ihrer Forderungen sind in der NWS, der Nationalen Wasserstoffstrategie, und im Konjunkturpaket bereits eindeutige Weichenstellungen vorgenommen worden.
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Das gilt zum Beispiel für den Aufbau von Heimatmarkt und Infrastruktur
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und für die Perspektive einer europäischen Wasserstoffunion, auch wenn diese in der NWS zugegebenermaßen ganz anders heißt, nämlich „europäische Wasserstoffgesellschaft“. Das gilt ebenso für den Aufbau internationaler Energiepartnerschaften oder etwa für die Frage einer ambitionierten Umsetzung der Renewable Energy Directive II.
Aber natürlich gibt es im Detail auch Unterschiede, keine Frage. Die FDP etwa verbittet sich die Diskriminierung von Blauem und Türkisem Wasserstoff. Dabei spricht doch niemand vom Verbot für diese Farben. Vielmehr wollen wir den Grünen Wasserstoff gezielt fördern, um ihn möglichst schnell konkurrenzfähig zu machen, weil er das größte Potenzial für Wertschöpfung und Klimaschutz bietet.
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Die Grünen hingegen fordern für Produktion und Einsatz von Wasserstoff strengere Bedingungen und erhebliche Verbesserungen beim Ausbau der erneuerbaren Energien. Das ist eine gute Nachricht: Haben wir doch gerade heute und hier beschlossen. Insofern bin ich froh, dass wir zwischen diesen beiden Positionen stehen, wenn auch ein bisschen weiter links. Da fühle ich mich richtig gut zu Hause; denn die wahre Farbe des Wasserstoffs ist nicht bunt, nicht grün, sondern rot; denn sie schafft Arbeitsplätze.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion Die Linke der Kollege Lorenz Gösta Beutin.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jetzt haben wir schon wieder etwas gelernt: Stichwort „roter Wasserstoff“. Das Erstaunliche dabei ist: Von einer sehr bunten Wasserstoffwelt träumt ja nun auch die FDP in ihrem Antrag.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir gegen braune Hetze eintreten, dann sind wir uns einig: Da brauchen wir die bunte Vielfalt. Aber uneinig sind wir uns dann doch beim Wasserstoff. Hier hilft die bunte Vielfalt nicht weiter.
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Das will ich einmal kurz erklären.
Eine falsche Vorstellung begegnet mir immer wieder, zum Beispiel bei Facebook oder in Diskussionen im privaten Leben. Menschen denken: Man nimmt das Wasser, packt das Wasser in den Tank, dann fährt das Auto los und das ist dann irgendwie alles besser als eine Batterie. – Man muss tatsächlich noch einmal über die eine oder andere Sache nachdenken, beispielsweise darüber, dass wir in Deutschland die Situation haben, dass über 90 Prozent des Wasserstoffs eben mithilfe von Erdgas hergestellt wird. Bei der Verbrennung von Erdgas werden CO2 und Methan freigesetzt. Deshalb: Natürlich brauchen wir Wasserstoff in der Energiewende. Aber – da hat die Bundesregierung im letzten halben Jahr dazugelernt, auch dank des beständigen Drucks aus dem Bundesumweltministerium – das Zentrale ist der Grüne Wasserstoff, der Wasserstoff, der aus erneuerbaren Energien gewonnen wird. Nur dieser ist in der Energiewende nachhaltig.
({1})
Einig sind sich die Bundesregierung und die FDP, dass man auch auf Wasserstoffimporte setzen will. Nun werden wir auf lange Sicht um Wasserstoffimporte sicher nicht herumkommen. Aber kurzfristig gilt – das muss man doch sagen –: Es ist der falsche Weg, wenn man Wasserstoff aus Staaten importieren will, die die Energiewende selbst nicht auf die Reihe kriegen, aus Staaten, die im Netz einen Ökostromanteil von weniger als 10 Prozent haben. Denn dann verlagert man das Problem. Dann reizt man diese Staaten dazu an, im eigenen Land weiter ihre Kohle und ihre Atomkraft zu nutzen und den guten, den Grünen Wasserstoff nach Deutschland zu exportieren. Das wäre der vollkommen falsche Weg.
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Ein weiteres Problem in der Wasserstoffstrategie der Bundesregierung: Auch der Einsatz im Verkehrsbereich, konkret im Pkw-Bereich, ist der falsche Weg; denn Grünen Wasserstoff in Pkws zu nutzen, bedeutet einen teuren und einen sehr energieaufwendigen Weg. Wir brauchen Grünen Wasserstoff, aber wir brauchen ihn zuvörderst für die Dekarbonisierung der Industrie. Wir brauchen ihn für lange Strecken, beispielsweise im Güterverkehr. Wir brauchen ihn perspektivisch auch bei Flugzeugen. Aber wir sollten ihn bitte nicht im Pkw-Verkehr verschwenden.
Wir brauchen Wasserstoff. Wir brauchen erneuerbaren Wasserstoff. Aber wir müssen ihn effizient und nachhaltig einsetzen; denn zur Verschwendung ist er zu schade.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank. – Zum letzten Tagesordnungspunkt – Brennstoffemissionshandelsgesetz und Batteriegesetz – haben schon mehrere Redner ihre Rede zu Protokoll gegeben. Die, die es noch nicht getan haben, möchte ich ermuntern, das ebenfalls zu tun.
Wir fahren in der Debatte fort. Nächste Rednerin ist die Kollegin Ingrid Nestle für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich über die Anträge der FDP.
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Denn da steht viel Richtiges drin. Wir teilen Ihre Ziele.
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Allein, die Umsetzung wird so noch nicht funktionieren.
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Das fängt damit an, dass Sie die Methanpyrolyse falsch beschreiben. Nein, ein Hauptprodukt ist eben nicht CO2; das ist doch gerade der Clou daran. Es geht damit weiter, dass Sie behaupten, Blauer Wasserstoff sei CO2-neutral. Nein, das ist er eben nicht.
Aber noch weitaus problematischer ist Ihre Annahme, dass Wasserstoff in schier unbegrenzter Menge ganz kostenlos zur Verfügung stehen wird – irgendwoher, aber keiner weiß, woher.
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Nein, auch das stimmt nicht. Wasserstoff wird wertvoll bleiben. Eine Wasserstoffstrategie muss sich darauf einstellen.
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Ich möchte Ihnen nur ein Beispiel aus Ihrem Antrag nennen. Sie meinen, durch den Einsatz von synthetischen Kraftstoffen könnten Verbrennungsmotoren sowie Öl- und Gasheizungen klimaneutral betrieben werden. Da hätten Sie noch nichts für die Industrie, noch nichts für die Flugzeuge, noch nichts für die Schiffe, noch nichts für die Versorgungssicherheit beim Strom getan. Alleine dafür bräuchten Sie dreimal die komplette Stromproduktion Deutschlands und jede Menge CO2, das, aus der Luft abgeschieden, sicherlich nicht zu vertretbaren Kosten zur Verfügung stehen wird. Das ist doch kein sinnvolles Konzept.
({5})
Und die Kosten? An manchen Stellen bürden Sie den Nutzern drei- bis viermal höhere Kosten auf, nur weil Sie so auf dem Vergangenen beharren. Sie schaffen es mit Ihrer Wasserstoffstrategie, absurde Kosten zu produzieren, keine Versorgungssicherheit zu schaffen; denn dieses blinde Vertrauen „Der Wasserstoff wird irgendwo herkommen“ – das wird nicht funktionieren.
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Das ist auch kein Klimaschutz; denn Klimaschutz bedeutet nicht: Ja, ja, die ganzen alten Strukturen können bleiben, und irgendein Wasserstoff wird uns retten. – Das, verehrte FDP, wird nicht funktionieren.
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Nun zur Wasserstoffstrategie der Bundesregierung. Was die fachliche Richtigkeit angeht, ist sie zum Glück um einiges besser. Nur leider beantworten Sie nicht die entscheidenden Fragen. Gerade mal 100 Terawattstunden Wasserstoff wollen Sie in 2030 zur Verfügung haben. Damit werden Sie niemals die ganzen Sektoren bedienen können, die Sie selbst fröhlich aufzählen. Selbst bei den 100 Terawattstunden wissen Sie bei über 80 Prozent nicht, woher dieser Wasserstoff kommen soll. Auch das kann doch nicht funktionieren.
({8})
Wenn wir an dieser Stelle schon gerne über den Import reden und auch Sie sehr viel darüber reden: Warum sorgen Sie nicht endlich dafür, dass statt fossiler LNG-Terminals in Deutschland Wasserstoffterminals gebaut werden, damit Import überhaupt stattfinden kann?
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Deshalb bitte ich Sie: Unterstützen Sie unseren Grünenantrag! Er würde dafür sorgen, dass die Stärken von Wasserstoff, seine Speicherbarkeit und seine Flexibilität, in den Mittelpunkt gestellt würden. Durch eine Reform der Abgaben und Umlagen könnte der Wasserstoff genau dort und dann produziert werden, wo tatsächlich die Erneuerbaren sind.
Wasserstoff wird nicht zur Erfolgsgeschichte, indem man das Blaue vom Himmel verspricht. Wasserstoff wird zur Erfolgsgeschichte, indem man die erneuerbaren Energien ausbaut und indem man die Stärken des Wasserstoffs zur Geltung bringt. Das tut unser Antrag.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Andreas Steier.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Fast alle Redner hier eint ein Ziel: Wir wollen eine sichere, saubere und nachhaltige Energieversorgung. Sauber heißt dabei: Wir wollen uns und unseren Nachkommen keine Lasten aufbürden, die die Umwelt und das Klima verändern.
({0})
Nachhaltig heißt dabei: Wir dürfen bei der Technologie nicht eingeengt nach nationalen Kriterien suchen, sondern die Technologien müssen weltweit nutzbar sein. Es braucht Tempo; denn die Einhaltung des 2-Grad-Zieles lässt sich nur dann erreichen, wenn wir die fossilen Rohstoffe möglichst schnell durch nachhaltige ersetzen.
Schnelligkeit und Nachhaltigkeit lassen sich nur dann erreichen, wenn wir in der Wahl der Technologie offen sind, wenn wir die Ideen der vielen Köpfe in Deutschland nutzen, wenn wir den Anforderungen vor Ort gerecht werden und die Stärken der deutschen Wirtschaft nutzen. Nur dann erreichen wir eine optimale und passgenaue Lösung für die unterschiedlichen Anforderungen vor Ort.
Der Wasserstofftechnologie mit ihren vielfältigen technologischen Anwendungen kommt dabei eine zentrale Rolle zu. Aber hierbei gilt es, darauf zu achten, dass wir uns bei der Energieversorgung nicht in eine einseitige Abhängigkeit von einzelnen Staaten begeben, dass wir im Wettbewerb um die besten Technologien die Nase immer ein Stückchen vorn haben und dass wir nicht durch hohe Kosten für unsere Energie oder durch Unsicherheiten in unserer Energieversorgung unseren Wirtschaftsstandort Deutschland gefährden.
In diesem Zusammenhang ist es gut, dass Wasserstoff eines der wichtigsten Themen unserer Bundesregierung ist. Es ist gut, dass es eine Nationale Wasserstoffstrategie gibt. Es ist gut, dass wir mit Stefan Kaufmann einen Beauftragten der Bundesregierung für Wasserstoff haben, der die Sache konkret in die Hand nehmen kann.
({1})
Es ist gut, dass Wasserstoff ein zentrales Thema für die deutsche EU-Ratspräsidentschaft wird.
Das Ziel: Wir wollen Deutschland zu einem führenden Ausrüster für Wasserstofftechnologie in der Welt machen. Wir wollen mit technologischem Fortschritt die Fragen beantworten, die für Nutzung, für Transport und für Erzeugung des Wasserstoffs wichtig sind. Wir wollen mit internationalen Partnerschaften in Europa und Afrika dafür sorgen, dass wir diesen Ländern neue Chancen durch technologische und wirtschaftliche Entwicklung geben und dass wir unseren eigenen Energiebedarf nachhaltig decken können.
Dafür nehmen wir viel Geld in die Hand: 9 Milliarden Euro. Dabei baut unsere Forschungsministerin Anja Karliczek auf eine weltweit führende deutsche Forschungslandschaft. Durch die Initiative zu Grünem Wasserstoff, die Gründung einer europäischen Wasserstoffpartnerschaft und die Vereinbarungen zur Zusammenarbeit Deutschlands mit westafrikanischen Staaten sollen diese Kräfte für eine nachhaltige Erzeugung gebündelt und europäisch und international vernetzt werden.
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Dabei ist mir aber besonders wichtig: Wir müssen aufhören, immer über Wirkungsgrade zu diskutieren.
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Der Wirkungsgrad ist dann wichtig, wenn wir einen begrenzten, teuer gekauften Rohstoff wie Erdöl nutzen wollen.
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Sonne und Wind sind aber erst mal kostenlos da,
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und sie sind auch ausreichend vorhanden.
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Die entscheidende Frage ist: Wie viel Aufwand müssen wir betreiben, um die kostenlose Ressource an einem bestimmten Ort nutzen zu können? Wie kann zum Beispiel Windenergie aus dem Norden bei mir vor Ort in Trier dann genutzt werden, wenn ich sie gerade brauche? Da bietet natürlich Wasserstoff eine entscheidende Antwort.
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Die Wasserstoffstrategie und die Vorhaben der Bundesregierung in der EU-Ratspräsidentschaft geben hierfür die richtige Antwort. Die Gewinner sind unser Mittelstand, unsere Industrie und wir alle.
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Als Ingenieur freue ich mich, diesen Prozess weiterhin kritisch im Sinn der Sache auch hier im Parlament zu begleiten.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist für die Fraktion der SPD der Kollege René Röspel.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Prinzip ist total einfach: Sie haben Wasser. Sie brauchen Technologie; das können wir in Deutschland. Wir merken jetzt schon nach den Verlautbarungen der Nationalen Wasserstoffstrategie: Ganz viele junge Menschen sind begeistert, wollen an dieser Technologie mitarbeiten. Sie brauchen Energie und können dann Wasser spalten. Heraus kommen Wasserstoff und Sauerstoff.
({0})
Entscheidend ist für die Frage, ob das klimafreundlich und umweltfreundlich ist, welche Form der Energie Sie einsetzen. Das heißt, wir brauchen erneuerbare Energien. Darin sind sich auch die Grünen mit uns in ihrem Antrag einig; den finde ich ganz gut. Die meisten Punkte sind allerdings durch die 38 Maßnahmen der Wasserstoffstrategie schon erledigt. Das will die SPD seit Langem. Mit der Koalition insgesamt bringen wir jetzt eine gute Strategie auf den Weg. Wir wollen einen Grünen Wasserstoff – da habt ihr mit dem Namen Glück gehabt –, einen Wasserstoff, der aus erneuerbaren Quellen hergestellt wird.
({1})
Aber wir haben auch gesehen: In den letzten Jahren gab es zur Erreichung des Ziels, erneuerbare und umweltfreundliche Energie bereitzustellen, immer einen innovationsfeindlichen Störfaktor namens FDP.
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Wesentlich, wenn wir Photovoltaik und Windenergie nutzen wollen, ist, dass auch die Rahmenbedingungen stimmen. Was wir seit 2012 erlebt haben, ist, dass Sie mit der Einführung des 52-Gigawatt-Solardeckels, den wir heute durch Gesetzesänderungen aufgehoben haben, die deutsche hochtechnologische Solarindustrie fast kaputtgemacht haben. Das haben wir heute zurückgenommen.
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Zur Windenergie. Ich komme aus NRW.
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Da gibt es einen Innovationsminister der FDP, bei dem man heute nicht weiß, was er morgen sagen wird.
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Seine Aussagen sind volatiler als das Photovoltaikspektrum in einem Jahr.
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Auch das werden wir verändern.
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Wir brauchen nämlich auch Windenergie. Da, wo Sie Verantwortung tragen, blockieren und hemmen Sie das.
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Auch das werden wir ändern.
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– Ja, wir verändern das, weil wir regieren. Da, wo Sie regieren, handeln Sie anders.
({10})
Jetzt kommt Ihr FDP-Antrag zu Blauem Wasserstoff.
({11})
Da verändern Sie an einer Stelle eine wichtige Voraussetzung. Sie ersetzen nämlich Wasser durch Erdgas. Erdgas ist im Wesentlichen nichts anderes als Methan. Das müssen Sie als fossilen Rohstoff erst mal gewinnen. Schauen Sie sich doch mal den Transport von Erdgas – das nennt man Vorkettenemission – an: Ein Drittel unseres Erdgases in Deutschland bekommen wir aus Russland.
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Wenn Sie nur 1 Prozent Leckage in den Pipelines haben: Es entweicht Methan, ein 20- oder 30-fach klimaschädlicheres Gas als Kohlendioxid. Das ist kontraproduktiv.
Sie setzen also den falschen Stoff ein, nämlich Erdgas statt Wasser. Am Ende produzieren Sie mit Ihrer Methode auch noch Kohlendioxid, weil Wasserstoff und Kohlendioxid Endprodukte sind. Dann müssen Sie dieses Kohlendioxid unter Einsatz von Energie sozusagen wieder ausfällen und wollen es unterirdisch verpressen.
Diese Konzeption ist weder klimafreundlich noch innovativ. Deswegen werden wir Ihren Antrag freundlich ablehnen. Das ist der falsche Weg, und die Nationale Wasserstoffstrategie ist der richtige Weg.
Vielen Dank.
({13})
Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben heute schon sehr viel über den Kampf gegen Kindesmissbrauch und Kinderpornografie gesprochen. Auch wenn es auf den ersten Blick nicht ersichtlich ist, aber auch das Gesetz, das ich jetzt einbringe, das ich jetzt hier vorstelle, dient dazu, dass die Bekämpfung von Kindesmissbrauch und Kinderpornografie noch besser erfolgen kann.
Die heute eingebrachte Gesetzesvorlage ist ein Update für unser Strafgesetzbuch. Wir modernisieren das Gesetz in mehrfacher Hinsicht. Ich möchte Ihnen gerne zwei Punkte besonders darlegen.
Wir machen das StGB fit für digitale Kommunikation im Internet. Zurzeit nehmen nämlich ganz viele Bestimmungen noch darauf Bezug, dass ein Täter „Schriften“ verbreitet. Das klingt nach Fotokopierer, nach Druckerschwärze und nach Papier. Das ist nicht mehr zeitgemäß, das geht an der modernen Lebensrealität vorbei; denn die Straftaten, um die es geht, werden heute im Internet begangen, über Videosharingplattformen, mit Messengerdiensten oder per E-Mail. Ich meine damit Straftaten wie Volksverhetzung oder Kinderpornografie. Hier muss der Rechtsstaat auf der Höhe der technischen Entwicklung sein.
Das erreichen wir mit unserem Gesetzentwurf; den veralteten Begriff „Schrift“ motten wir nämlich ein. In Zukunft soll es nur noch um die „Inhalte“ gehen. Für einen Inhalt ist es nämlich egal, auf welchen technischen Wegen er verbreitet wird. Ein Inhalt muss nicht gedruckt werden. Ein Inhalt kann auch gestreamt werden oder mit Messengerdiensten wie WhatsApp verbreitet werden. Kurzum: Auf die Verbreitungstechnik kommt es in Zukunft nicht mehr an. Dann ist auch egal, ob der digitale Verbreitungsweg ein Telemediendienst ist oder nicht. Das hat bisher in der Praxis nämlich zu schwierigen Abgrenzungsfragen geführt.
Mit der Entwicklung von der Schrift zum Inhalt setzen wir ein weiteres Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag um.
Ein weiterer Punkt ist, dass wir das Strafrecht an einer weiteren, an einer ganz anderen Stelle modernisieren. In der Vorschrift über die Schuldunfähigkeit ist bisher von „Schwachsinn“ und von „Abartigkeit“ die Rede. Diese Wörter passen nicht mehr in unsere Zeit. Sie sind abwertend, sie sind diskriminierend. Kein Psychiater würde sie heute noch benutzen.
({0})
Deshalb ersetzen wir diese Wörter durch Begriffe, die neutral und sachlich sind. In Zukunft soll in den Vorschriften von „Intelligenzminderung“ und von „Störung“ die Rede sein. Das ist auch ein Anliegen des Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung. Inhaltlich ändert sich durch die neuen Begriffe nichts. Insoweit bleibt in diesem hochsensiblen Bereich des Strafrechts alles beim Bewährten. Es geht uns darum, die herabsetzende und die diskriminierende Sprache zu beenden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch die Software des Rechtsstaats braucht von Zeit zu Zeit ein Update. Heute ist es an der Zeit, das Strafgesetzbuch, das StGB, an die Herausforderungen der Gegenwart anzupassen. Ich bitte um Ihre Unterstützung in den anstehenden Beratungen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist für die Fraktion der AfD der Kollege Jens Maier.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Richtig ist, dass sich das Strafrecht an die technische Entwicklung anpassen muss und dass der Begriff der Schrift beziehungsweise der Schriften, wie er im Strafgesetzbuch enthalten ist, in der Welt des Internets nicht mehr zeitgemäß ist.
Der Telemedienbegriff in § 184d StGB umfasst nicht die Übertragung durch Telekommunikationsdienste oder telekommunikationsgestützte Dienste. Das heißt, die reine Übertragung von Signalen über Telekommunikationsnetze einschließlich Rundfunknetzen oder die Signalübertragung durch Dienste, die keinen räumlich und zeitlich trennbaren Leistungsfluss auslösen, sondern bei denen die Inhaltsleistung noch während der Telekommunikationsverbindung erfüllt wird, stellen keine Telemedien im Sinne des Strafgesetzbuchs dar. Streaming-on-Demand fällt unter den Begriff Telemedien, ein Livestream nicht. Es ist daher gut, dass man da versucht, eine Lösung zu finden, die Unklarheiten und Strafbarkeitslücken beseitigt.
Im Bereich der Kinderpornografie ist nicht zu beanstanden, dass man nicht mehr das Übertragungsmedium, sondern allein den Inhalt in den Mittelpunkt der Tatbestände stellt. Das ist sachgerecht; denn in diesen Fällen soll ja nicht nur die Übertragung, sondern bereits die Erstellung von derartigen Aufnahmen verhindert werden.
Bedenklich aber ist, wenn man quasi in einem Abwasch dann auch noch die Fälle der Volksverhetzung und das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen in das Paket einfügt. Der Schutzzweck der Normen in den §§ 130 und 86a StGB liegt darin, den öffentlichen Frieden zu schützen. Der öffentliche Friede wird allerdings weit weniger beeinträchtigt, wenn jemand Inhalte einmalig in einem Livestream kommuniziert, als wenn er diese Inhalte dauerhaft und unbegrenzt für ein Streaming-on-Demand abrufbar hält. Da bestehen qualitativ deutliche Unterschiede.
({0})
Diese Tatbestände werden durch die geplante Gesetzesänderung mehr und mehr zu reinen Meinungsdelikten umgebastelt, sodass bereits Liveäußerungen bei SkypeOut ohne Speicherung oder Aufzeichnung der Äußerungen eine Strafbarkeit begründen können. Da sind dann nur noch die Gedanken frei.
Die Einschränkung im Tatbestand durch das Merkmal der Geeignetheit, den öffentlichen Frieden zu stören, dürfte als Korrektiv nicht ausreichen, weil ja bereits die bloße Möglichkeit, geäußerte Inhalte weiterzuverbreiten, ausreicht, um die Geeignetheit zur Störung des öffentlichen Friedens zu begründen. Das ist eine erhebliche Ausweitung der Strafbarkeit.
Zum Schluss zu dem, was vorhin auch von der Frau Justizministerin angesprochen wurde: zu den geplanten Änderungen in den §§ 20 StGB und 12 OWiG. Sie zeigen, dass die Sprachpolizei jetzt auch im Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht unterwegs ist. Warum man da Änderungsbedarf sieht, leuchtet nicht wirklich ein. Denn ob man einen Straftäter jetzt nicht mehr als schwachsinnig, sondern als intelligenzvermindert bezeichnet und eine „schwere andere seelische Abartigkeit“ jetzt eine „schwere andere seelische Störung“ nennt, das wird, nehme ich an, den allermeisten betreffenden Straftätern völlig egal sein.
({1})
Es erhöht schon gar nicht deren Intelligenz oder macht sie störungsfreier.
Im Ausschuss wird noch einiges zu erörtern sein.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Ingmar Jung.
({0})
– Schauen wir mal, wie lange es dauert.
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Die Uhr läuft überhaupt nicht. Ich habe wahrscheinlich sogar noch viel mehr Redezeit.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch wir von der CDU/CSU-Fraktion teilen die Anliegen, die diesem Gesetz zugrunde liegen, und teilen in weiten Teilen auch all das, was jetzt vorgeschlagen ist.
Wir haben eben schon die drei Hauptteile gehört. Tatsächlich ist es so, dass wir im Moment viele Straftatbestände haben, die entweder die Tatbestandlichkeit oder die Qualifikation oder Ähnliches daran knüpfen, dass etwas in Schriften verbreitet wird, dass es in Schriften zu finden ist. Beispiele haben wir schon gehört. Im Zusammenhang mit der dritten Lesung des Gesetzentwurfs zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität haben wir übrigens auch noch ein ganz neues Beispiel geschaffen: in der Qualifikation beim Bedrohungstatbestand.
Inzwischen ist die Situation, dass wir zwar einiges den Schriften gleichgestellt haben – was zum Beispiel auf Tonträgern, auf Datenträgern ist –, wir aber immer feststellen müssen, dass die technische Entwicklung weiter voranschreitet, sodass gewisse Dingen nicht mehr erfasst sind, wie zum Beispiel – schon öfter gehört – Livestreams. Da ist es, glaube ich, ein guter Vorschlag und eine gute Idee, nicht immer wieder einzelne Dinge zu dem Schriftenbegriff hinzuzufügen oder ihm gleichzustellen, sondern die Begrifflichkeit umzustellen auf das, was gemeint ist, nämlich die Inhalte, die in Kommunikationsmitteln übertragen werden. Insofern ist das, glaube ich, ein guter Vorschlag.
Ich sage auch ganz deutlich im Namen der CDU/CSU-Fraktion: Im Gegensatz zur AfD sind wir der Meinung, dass Volksverhetzung auch dann strafbar sein soll, wenn sie im Livestream stattfindet und nicht dauerhaft gespeichert ist. Da unterscheiden wir uns sehr deutlich von Ihnen.
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Der zweite Teil betrifft die sogenannten Auslandsstraftaten. Im Moment ist eine Straftat strafbar, die im Inland begangen wird. Dem gleichgestellt ist, wenn der Erfolg im Inland eintritt. Dazu hat uns der BGH sehr deutlich ins Stammbuch geschrieben, dass er bei Gefährdungsdelikten das nicht mehr erfüllt sehen will. Deswegen nehmen wir hier einige Ergänzungen vor. Auch hier sind die Volksverhetzung oder das Auffordern zu Straftaten erfasst – typischerweise Straftatbestände, die vom Ausland aus mit Wirkung in Deutschland verübt werden können. Da haben wir ein gewisses Abgrenzungsproblem gehabt, möglicherweise eine Strafbarkeitslücke. Das wird klar und richtig gestellt. Deswegen ist auch das ein richtiges Anliegen.
Letzter Punkt: die schon mehrmals angesprochene Änderung beim § 20 StGB. In der Tat ist es so, dass es für die Praxis keine Auswirkung haben wird; denn es kommt darauf an, ob der Täter die Reife, die Einsichtsfähigkeit haben konnte. Aber die Gründe, die dem zugrunde liegen, sind mit Schwachsinn und mit Abartigkeit wirklich nicht mehr zeitgemäß ausdrückt und auch nicht mehr so, wie sie irgendjemand wissenschaftlich ausdrücken würde. Da, denke ich, ist es eine vernünftige Lösung, jetzt andere Begriffe zu nehmen. Ich bin mir bei „Störung“ nicht so ganz sicher, ob es am Ende ausreichend bestimmt ist. Aber das werden wir sicherlich noch miteinander besprechen können.
Liebe Kollegen von der SPD, in der Tat ist Strafrecht AT nach 23 Uhr etwas für Liebhaber. Insofern schenke ich uns allen drei Minuten und wünsche uns frohe Beratungen.
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Das nehme ich gerne an und weise darauf hin, dass für den letzten Tagesordnungspunkt alle zu Protokoll gegeben haben mit Ausnahme von drei Rednern. Die sollten noch mal in sich gehen und überlegen, ob sie sich anschließen wollen.
Wir fahren in dieser Debatte fort. Nächster Redner ist der Kollege Dr. Jürgen Martens für die FDP.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es wäre schön, wenn wir hier über Fragen des Allgemeinen Teils des Strafrechts sprechen könnten; das ist nämlich wirklich etwas für Feinschmecker. Übrigens: Keine Strafrechtsordnung auf der Welt leistet sich einen so ausdifferenzierten und feinziselierten Allgemeinen Teil des Strafrechts, während wir bei der Strafzumessung hinterher bloß mit der großen Kelle wieder in denselben Topf hauen; aber das ist ein anderes Problem.
Hier geht es um die „Modernisierung“, um die sprachliche Aufhübschung des Strafgesetzbuches. In der Tat: Der Begriff der Schrift, selbst wie er in § 11 Absatz 3 StGB definiert wurde, ist nicht mehr zeitgemäß und muss angepasst werden. Eine besondere gesetzgeberische Leistung ist darin allerdings nicht zu erblicken – habe ich gedacht, bis ich eben die Ministerin hörte, die dem erstaunten Haus klargemacht hat, dass es sich hierbei um einen weiteren planvoll gesetzten Baustein in der Strategie der Verfolgung von Kindesmissbrauch handelt. Man lernt eben immer wieder dazu, meine Damen und Herren.
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Gleichwohl gibt es neben diesem technischen Anpassungsbedarf weiterhin Anpassungsbedarf im materiellen Teil. Es gibt Regelungen, die nun wirklich überholt sind. Wir haben einige genannt: Die Verschleppung in die DDR nach § 234a StGB ist weiterhin strafbar, auch wenn es die DDR schon seit 30 Jahren nicht mehr gibt, die Störung der Bestattungsfeier, der Scheckkartenmissbrauch, der gute alte, feiert fröhlich weiterhin Urstände, obwohl es die Scheckkarten in dieser Form auch nicht mehr gibt.
Wir, die FDP, haben in unserem Antrag zur Vorbereitung von Strafrechtsreformgesetzen konkrete Beispiele genannt. Vielleicht finden die Große Koalition und das Ministerium noch die Kraft, in der verbleibenden Legislatur weitere Vorschläge zu machen,
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mit denen ein wenig mehr Modernisierung als nur die Ersetzung des Schriftenbegriffes vorgenommen wird.
Gleichwohl: Wir werden sehen, ob das Gesetz nach den Beratungen im Rechtsausschuss hier wieder so in die nächste Lesung kommt, wie wir es jetzt dort hineingeben.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion Die Linke der Kollege Friedrich Straetmanns.
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– Arminia Bielefeld ist aufgestiegen;
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das können wir zwischendurch bekannt geben für diejenigen, die es noch nicht wissen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ja, natürlich: Arminia Bielefeld ist aufgestiegen. Ich grüße daher alle Fans, die wie ich mitgefiebert haben.
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Heute beraten wir aber den Entwurf eines Gesetzes der Bundesregierung zur Änderung des Strafgesetzbuches, zur Modernisierung des Schriftenbegriffs. Ich komme nicht umhin, festzustellen, dass der Bundesregierung aus meiner Sicht etwas Außergewöhnliches gelungen ist: Sie hat einen Entwurf zum Strafgesetzbuch vorgelegt, bei dem ich nicht schon in der ersten Lesung meine Ablehnung zum Ausdruck bringen muss. Es handelt sich nämlich tatsächlich um eine Modernisierung und nicht um die übliche Law-and-Order-Verschärfungspraxis.
Die Änderung des Schriftenbegriffs und die Verschiebung zur Strafbarkeit von Inhalten sind sinnvoll und überfällig, da die Verbreitung strafbarer Inhalte heute vorrangig digital erfolgt.
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Auch die Erweiterung von § 5 Strafgesetzbuch begrüße ich. Dass zukünftig Volksverhetzung, das Verbreiten von Propagandamitteln, das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen und öffentliches Auffordern zu Straftaten über das Internet, die aus dem Ausland durch einen Deutschen begangen werden und sich im Inland verbreiten, strafbar sind, ist überfällig. Dass über so lange Zeit rechtsradikale Hetze nur deswegen nicht strafrechtlich verfolgt werden konnte, weil die Täter Server im Ausland nutzten, war sehr schädlich für unsere Rechts- und Debattenkultur.
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Die Hetzer haben sich nämlich an die Straflosigkeit gewöhnt und wurden immer lauter. Aber auch hier hilft die Existenz von Strafbarkeit nicht von selbst, es besteht auf Regierungsseite Handlungsbedarf. Sie müssen nämlich im Bereich des Rechtsradikalismus endlich Ihr Vollzugsdefizit ausgleichen und die Bundesländer ebenfalls dazu anhalten. Abseits dessen braucht es allerdings auch ein Problembewusstsein für diesen Kriminalitätsbereich. Schaffen Sie dieses in Ihrem Kabinett!
Die Änderung von § 20 Strafgesetzbuch, wonach die Schuldunfähigkeit – wir haben es gehört – nicht mehr an Begriffen wie „Schwachsinn“ und „Abartigkeit“ geknüpft werden soll, ist überfällig. Als Richter erlaube ich mir aber den Hinweis, dass als Alternative zu den neuen Begriffen auch eine Abkehr von den starren Kategorien denkbar gewesen wäre, um mehr auf den individuellen Fall zu schauen. Aber dazu diskutieren wir dann sicherlich im Rechtsausschuss.
Zusammengefasst liegen hier taugliche Änderungen vor, und so werden wir das Gesetz auch in der Folge besprechen. Da das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz im Bereich Strafrecht offenbar auch zu sinnvollen Vorlagen fähig ist,
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wäre es doch möglich, die unzähligen Strafrechtsverschärfungen der vergangenen Jahre einmal ausgiebig auf ihre Tauglichkeit zu evaluieren, so wie es meine Fraktion, Die Linke, schon lange fordert.
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Dafür werde ich jedenfalls als Ostwestfale und Bielefelder weiter streiten – stur, hartnäckig und kämpferisch.
Vielen Dank.
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Bis Arminia Bielefeld wieder abgestiegen ist.
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So, wir fahren fort in der Debatte. Als Nächste hat das Wort, für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, die Kollegin Canan Bayram.
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Vielen Dank, Herr Präsident; jetzt ist ja wieder Stimmung hier in der Bude. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Gesetzentwurf ist eine der sehr seltenen Beispiele für systematisches Arbeiten der Bundesregierung am Strafgesetzbuch. Auch wenn es dabei überwiegend um formale Änderungen geht: Zentrale Aufgabe des Bundesjustizministeriums ist es, die Einheit der Rechtsordnung, die Einheit des Strafgesetzbuches im Blick zu behalten und dabei die Grundsätze des Strafrechts mit der nötigen Festigkeit zu wahren. Dabei weder vor der „Bild“-Zeitung noch vor dem Koalitionspartner einzuknicken, gelingt hier allerdings nicht. Was wir derzeit zum § 176 Strafgesetzbuch erleben, ist jenseits jeder rationalen Kriminalpolitik, gegen alle wissenschaftliche Erkenntnis und bringt das System des Strafgesetzbuches durcheinander – es rettet übrigens auch kein Kind, meine Damen und Herren.
Was an systematischer Arbeit beim Strafgesetzbuch zum Beispiel fehlt, ist die seit Jahren ausstehende Gesamtüberarbeitung seines Dreizehnten Abschnitts, der Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Dafür liegt ein Expertenbericht dem BMJV vor. Über punktuelle Änderungen hinaus wird aber nichts getan.
Was ebenfalls seit Jahren fehlt, ist die Überarbeitung und Reform der Tötungsdelikte. Da traut sich die Koalition nicht heran.
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2015 hatte eine Expertengruppe Empfehlungen vorgelegt, dann gab es, 2016, einen Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums, und dann ist die SPD vor der Union eingeknickt. Bei dem Gesetzentwurf, den wir heute beraten, werden richtigerweise überholte Begriffe wie „Schwachsinn“ und „Abartigkeit“ ersetzt. Auch bei den Tötungsdelikten gibt es Begriffe, die auf die sogenannte Tätertypenlehre der Nationalsozialisten zurückgehen und reformiert werden müssten.
Selbst kleine Veränderungen, die Gegenstand des heute zu beratenden Gesetzentwurfs hätten sein können, bleiben unbearbeitet. Was ist etwa mit dem Begriff der schädlichen Neigung im Jugendgerichtsgesetz? Der ursprünglich 1941 eingeführte Begriff ist stigmatisierend und unterstellt eine Defektpersönlichkeit; er ist zudem viel zu unbestimmt. Die Unionsländer hatten dazu im Bundesrat schon vor einigen Jahren einen guten Vorschlag gemacht, den könnte man einfach übernehmen.
Und was ist mit dem Begriff der rassischen Gruppe im Volksverhetzungsparagrafen, § 130 StGB: Kann die Koalition oder das Bundesjustizministerium einmal erklären, wer mit diesem Begriff gemeint sein soll? Mit dem vorliegenden Gesetz wird zwar § 130 Strafgesetzbuch geändert, was im Inland wahrnehmbare Handlungen, die im Ausland stattfinden, angeht – gut so! –, aber eine wirkliche Reform bekommt die Bundesregierung auch bei dieser Gelegenheit nicht zustande.
Insgesamt handelt es sich gleichwohl um einen ordentlichen Gesetzentwurf, den wir wohlwollend beraten werden.
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Vielen Dank. – Der Kollege Dr. Karl-Heinz Brunner, SPD, hat seine Rede zu Protokoll
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Letzter Redner in der Debatte ist für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Alexander Hoffmann.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Ich bin mir durchaus darüber im Klaren, dass die Protokollgabe der Rede des Kollegen Brunner bei mir die Messlatte hoch hängt. Deswegen in aller Kürze: Der Rechtsstaat ist immer so viel wert, wie er auch in der Lage ist, mit der Zeit auf Augenhöhe zu bleiben. Ich möchte von dem vorliegenden Gesetzentwurf zwei Bausteine gesondert – in aller Kürze – herausgreifen.
Wir etablieren hier eine Modernisierung des Schriftenbegriffs in § 11 Absatz 3 StGB. Das ist etwas, was sich jeder erklären kann – die Ministerin hat es vorhin schon schön dargestellt –: Früher war eine Schrift immer ein Inhalt, der auf einem papierenen Trägermedium transportiert worden ist. Heute, im digitalen Zeitalter, geschieht das im Internet, über moderne Informations- und Kommunikationstechnik. Dazu muss sichergestellt sein, dass es auch einen Übertragungsvorgang geben kann, ohne dass der Inhalt beim Empfänger gespeichert ist. Das alles wollen wir abbilden mit diesem Gesetzentwurf.
Ich möchte aber einen kleinen Exkurs einbauen, aus gegebenem Anlass. Wir haben heute viel hier in diesem Haus diskutiert über die effektive Bekämpfung von Kinderpornografie. Da sollten wir uns schon einmal ganz kurz die Zeit nehmen, festzustellen, dass die Digitalisierung im Hinblick auf die Bekämpfung von Kinderpornografie ganz besondere Herausforderungen erzeugt, und zwar in zweierlei Hinsicht: Zum einen ist es so, dass der Umstand, dass es eben keine papierenen Trägermedien mehr gibt, dazu führt, dass wir bei allen Skandalen im Zusammenhang mit Kindesmissbrauch und Kinderpornografie wahrnehmen können, dass zigtausendfach Bilder gefertigt und verbreitet werden. Ich glaube, das ist eine Herausforderung für den Rechtsstaat.
Die zweite Komponente will ich hier auch ansprechen, weil das Täterbild ein anderes ist: Überlegen Sie einmal, wie pädophile Täter sich in den 80er-Jahren hätten vernetzen können! Das wäre kaum möglich gewesen, das wäre eigentlich nur möglich gewesen, indem man immer auch die Entdeckung riskiert. Heute, im Schutzkreis des Internets, findet Vernetzung statt, findet Austausch statt, finden Verabredungen statt, finden auch, unter Umständen, Anstachelung und Anstiftung statt. Ich glaube, dass wir diesem Phänomen begegnen müssen. Da will ich einfach appellieren, dass wir alle eine breite Front bilden und bereit sein müssen, solche Täter dingfest zu machen und wirklich dort alle Register zu ziehen.
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Der zweite Baustein – nur in aller Kürze; der Kollege Jung hat es schon sehr schön dargestellt –: Man muss natürlich im digitalen Zeitalter auch die Frage überdenken: „Wo ist der Ort der Tatbegehung?“, weil jemand im Ausland digital etwas in Gang setzen kann, was am Schluss einen „Erfolg“ im Inland zeitigt. Ich glaube, auch das bildet der vorliegende Entwurf sehr gut ab. Deswegen freue ich mich auf die weiteren Beratungen.
Die folgenden 1 Minute 46 Sekunden schenke ich uns allen natürlich sehr gerne.
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Einen schönen Abend. Danke.
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Vielen Dank, das wird gern akzeptiert. Sie waren der letzte Redner; deshalb schließe ich die Aussprache.
– Freunde werden wir sowieso nicht.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Landsleute! Das Gesetz zur Änderung des Brennstoffemissionshandelsgesetzes ist laut Gutachten vom 8. Juni 2020 des Juristen Professor Dr. Rainer Wernsmann aus Passau verfassungswidrig. Das trifft auf die von den Umweltzerstörern durchgesetzte Erhöhung im Änderungsgesetz ebenfalls zu.
Die Begründung der Regierung für die Notwendigkeit und Wirkung des Gesetzes in Bezug auf das Weltklima sind falsch, die fälschlich als Klimaschutzziele beschriebenen/umschriebenen Versuche zur Senkung des CO2-Ausstoßes sind in ihren Auswirkungen auf ein imaginäres Weltklima nicht nachweisbar. Der inzwischen deutlich messbare Rückgang der Emissionen aufgrund des weltweiten Wirtschaftseinbruchs zeigt überdies keinerlei Rückgang oder auch nur eine Dämpfung des Anstiegs der CO2-Konzentration. Die menschengemachten CO2-Emissionen spielen offensichtlich im natürlichen Kohlenstoffkreislauf – genauso wie Dieselfahrzeuge für erhöhte Stickoxidwerte – eine völlig unbedeutende Rolle.
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Damit verfehlt das Gesetz – ebenso wie alle Vorgänger – seinen Zweck, es muss daher aus diesen Gründen verworfen werden.
In der Begründung zum Gesetz wird unter „Alternativen“ behauptet, dass es dazu keine Alternative gebe – wie auch die allseits beliebte Kanzlerin immer wieder von „alternativlos“ spricht. Hier im Parlament sieht man, dass es eine Alternative gibt.
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In diesem Fall wäre die Alternative die vollständige Abschaffung dieses und vergleichbarer Gesetze wegen erwiesener Nutz- und Wirkungslosigkeit bei gleichzeitig exorbitanten Kosten.
Die Deutschen wurden vom Staat noch nie so rücksichtslos ausgeplündert wie heute: Im Jahr 2018 kassierte er etwa 770 Milliarden Euro Steuern. Die Steuereinnahmen des Staates haben sich seit Anfang der 90er-Jahre nahezu verdoppelt, obwohl die Bevölkerung kaum zugenommen hat – abgesehen natürlich von den Millionen durch den deutschen Steuerzahler alimentierten Wirtschaftsmigranten.
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Was aber zugenommen hat, ist der ins Maßlose gesteigerte Wahn der neosozialistischen Regierung, die Welt retten zu müssen und das Geld der Deutschen mit vollen Händen an jeden zu verteilen, der nur laut genug schreit. – Sie schreien auch laut; super! – Ein Beleg dafür, dass wir auf dem Weg in eine sozialistische Diktatur sind,
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ist das staatstragende Prinzip, gegen die Interessen der Bürger zu handeln. Nicht nur, dass diese Regierung uns Bürger in nie dagewesenem Maße ausplündert, sie will uns auch das Auto wegnehmen, uns vorschreiben, wie wir wohnen und leben sollen, selbst beim Essen werden wir gegängelt.
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Die Umweltministerin nennt diesen Gesinnungsterror „sinnvolle Lebenslenkungswirkung“. Sinnvoll wäre es, wenn die unfähigste Umweltministerin seit Eiskugel-Jürgen ihren Ministerposten zur Verfügung stellen würde.
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Natürlich soll die CO2-Steuer – nichts anderes als eine Steuer wird hier eingeführt – als asozialer Umverteilungsmechanismus genutzt werden. Mit Umverteilung kennen sich Sozis aus.
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– Ganz genau. Dabei ist völlig offen, wer benachteiligt wird und wer profitieren soll.
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In unserem dazu gestellten Antrag fordern wir auch vor dem Hintergrund des durch die Regierung verordneten fast kompletten Herunterfahrens der Wirtschaft, wirkungslose bzw. überflüssige Ausgaben einzusparen.
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Sie haben nicht nur grundgesetzlich garantierte Freiheitsrechte der Bürger ausgehebelt und zwingen sie dazu, einen Maulkorb zu tragen.
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Die allermeisten haben deutlich weniger verdient. Millionen werden wegen Ihnen ihre Arbeit verlieren. Zehntausende Kleinunternehmer verschulden sich oder gehen pleite.
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Laut einer Mitgliederumfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertages sinkt die Wirtschaftsleistung um deutlich mehr als 10 Prozent. Wir steuern auf die schlimmste Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg zu. Und Sie haben nichts Besseres zu tun, als den Rest der deutschen Wirtschaft auf dem Altar der Weltuntergangspropheten zu opfern.
In den Medien gerieren sich einige von Ihnen als die Retter in der Not. Sie sind nicht die Retter, Sie sind die Totengräber der deutschen Wirtschaft und der deutschen Nation. Einer Ihrer Sargnägel unter Hunderten anderen ist dieses heute vorgestellte Gesetz. Deswegen werden wir es natürlich ablehnen.
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Das war der letzte Redner. – Ich schließe die Aussprache.