Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Arbeit der Bundesregierung in diesen Tagen hat eine klare Priorität: Es ist die Bewältigung der Coronapandemie in all ihren Ausprägungen. Während noch vor Wochen im Wesentlichen eine Eindämmung des Ausbruchsgeschehens im Mittelpunkt stand, steht momentan die Bewältigung der wirtschaftlichen Folgen im Mittelpunkt unserer Arbeit. Deshalb hat die Koalition vor wenigen Tagen ein Konjunktur- und Zukunftspaket beschlossen. Es wurde wiederum von der Bundesregierung in der heutigen Kabinettssitzung beschlossen. Zuvor gab es am vergangenen Montag einen Umlaufbeschluss. Außerdem fand am vergangenen Freitag eine Sondersitzung der Bundesregierung statt. Dieses Konjunktur- und Zukunftspaket wird nun in den Beratungsgang des Bundestages und des Bundesrates eingebracht.
Zu den wesentlichen Elementen dieses Pakets gehört zum einen die Belebung der Konjunktur in dieser schwierigen Situation. Das Flaggschiff in diesem Bereich ist aus meiner Sicht die Absenkung der Mehrwertsteuer ab dem 1. Juli für ein halbes Jahr, um die Binnennachfrage zu stärken.
Ein zweiter sehr großer Punkt zielt auf die Stärkung unserer Kommunen ab. Wir werden bis zu 75 Prozent der Kosten der Unterkunft übernehmen, was die Kommunen jährlich – dafür wollen wir auch auf Dauer sorgen – in einer Größenordnung von bis zu 4 Milliarden Euro entlastet. Weil gerade im Bereich öffentlicher Personennahverkehr die Einnahmen fehlen, werden wir außerdem einmalig die Regionalisierungsmittel um 2,5 Milliarden Euro anheben.
Darüber hinaus liegt uns die Situation von Familien sehr am Herzen; deshalb führen wir den Kinderbonus von 300 Euro ein. Wir sorgen auch dafür, dass Alleinerziehende über die entsprechende Freibetragsanhebung in der Pandemie mehr finanzielle Möglichkeiten haben.
Die deutsche Wirtschaft stärken wir insbesondere mit dem am Freitag im Kabinett beschlossenen Gesetz mit sehr vielen steuerlichen Maßnahmen, die auch zusätzliche Liquidität für die Unternehmen bringen. Ein weiterer großer Punkt ist das vom Bundeswirtschaftsministerium auf den Weg gebrachte Paket zur Überbrückung von Umsatzeinbrüchen bei den Unternehmen.
Neben diesen gesetzgeberischen Maßnahmen haben wir zur Vermeidung einer zweiten Welle viele Maßnahmen ergriffen, die wir heute auch in der Ministerpräsidentenkonferenz mit den Ministerpräsidenten besprechen werden, zum Beispiel die Stärkung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes, damit uns die Kontaktnachverfolgung vollständig gelingt.
Seit gestern Morgen ist unsere Corona-Warn-App neben der normalen, klassischen, personenbezogenen Kontaktnachverfolgung durch die Gesundheitsämter ein wichtiges Instrument. Damit ist insbesondere da, wo wir mit Menschen zusammenkommen, die wir nicht kennen, eine Kontaktnachverfolgung möglich. Viele haben ja lange auf diese App gewartet. In der Tat, wir sind nicht die Ersten weltweit, die eine solche App vorstellen. Aber ich glaube, die deutsche ist schon etwas Besonderes:
Erstens. Sie arbeitet nämlich zum einen dezentral und völlig pseudonymisiert. Das heißt, es gibt keine Ausleitung von persönlichen Informationen an den Staat.
Zweitens. Sie ist völlig freiwillig.
Drittens. Was ich am Anfang noch gar nicht im Funktionsumfang dieser App gesehen habe: Wir binden die Labore in Deutschland an, was ermöglicht, dass man sehr schnell sein Testergebnis erfährt. Momentan kann das ja noch etwas dauern, ungefähr 24 bis 36 Stunden. Das ist eine ganz kritische Zeit; denn in dieser Phase können die infrage kommenden Kontakte noch nicht gewarnt werden, wenn man infiziert ist. Über die Anbindung der Labore erfährt man schneller sein Testergebnis und kann wiederum die Leute, die man angesteckt haben könnte, schneller warnen. Das macht die App schon zu etwas Exzeptionellem, auch im Vergleich zu anderen, vergleichbaren Produkten. Deshalb freue ich mich, dass wir heute vermelden können, dass innerhalb der ersten 24 Stunden bereits über 6 Millionen Deutsche dieser App ihr Vertrauen geschenkt und sie sich runtergeladen haben.
Vielen Dank, Herr Bundesminister. – Wir beginnen jetzt mit der Regierungsbefragung zu den einleitenden Ausführungen des Herrn Ministers zum Geschäftsbereich des Kanzleramtes, zu den vorangegangenen Kabinettssitzungen sowie zu allgemeinen Fragen.
Das Wort hat zunächst für die AfD-Fraktion die Kollegin Beatrix von Storch.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister, wir müssen über das Thema Lockdown reden. Der Lockdown zieht ökonomische und soziale Folgen in massivem Umfang nach sich. Sie haben gesagt: Die wirtschaftlichen Folgen sind zentral. – Das ist so.
Wir haben Grundrechte außer Kraft gesetzt und beendet.
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Wir haben die wirtschaftliche Betätigung eingestellt. In der Folge rollt eine Welle von Unternehmensinsolvenzen in nie gekanntem Ausmaß auf uns zu, um das etwas bildhafter zu umschreiben; bei Ihnen war das der Satz mit den wirtschaftlichen Folgen. Den Unternehmensinsolvenzen folgen die Unternehmerinsolvenzen. Hunderttausende von privaten Existenzen sind zerstört. Zum Teil ist das Familienvermögen, das über Generationen in kleinen Betrieben aufgebaut worden ist, für immer weg. Kurzarbeiterzahlen und die Arbeitslosenzahlen explodieren. Die Staatsverschuldung nimmt ein Ausmaß an, das keiner mehr nachvollziehen kann.
Meine Frage ist: Hat die Bundesregierung die Maßnahmen, die sie ergriffen hat, inzwischen analysiert und bewertet? Und da Sie schon von der Vermeidung einer zweiten Welle sprechen: Welche Maßnahmen, die Sie jetzt getroffen haben, würden Sie bei einer zweiten Welle nicht mehr ergreifen, weil Sie festgestellt haben, sie sind unverhältnismäßig, grundgesetzwidrig oder wirkungslos?
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Herr Minister.
Frau Kollegin, um zunächst eines deutlich zu machen: Die drastischen Folgen, die Sie geschildert haben, sind die Folgen einer Pandemie und nicht die Folgen des Handelns der Bundesregierung.
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Ein Zweites: Es wäre eine Fehleinschätzung, zu glauben, dass die Menschen in Deutschland einkaufen und große Investitionen tätigen würden, wenn uns die Pandemie aus dem Ruder läuft. Wir haben viele Maßnahmen ergriffen, um die Gesundheit der Menschen zu schützen. Dazu waren Kontaktbeschränkungen und Einschränkungen unserer Freiheitsrechte notwendig. Das ist richtig. Aber hätten wir das nicht gemacht – das sehen wir in Ländern, die wesentlich anders vorgegangen sind als wir –, hätte das trotzdem dazu geführt, dass die Wirtschaft in vergleichbarer Weise geschädigt worden wäre. Wer glaubt, dass Konsumfreude entsteht, dass die Leute gerne in Restaurants gehen oder in den Urlaub fahren, wenn sie die Sorge haben, dass sie krank werden und dann medizinisch nicht richtig versorgt werden, liegt falsch. Es funktioniert nicht, hier einen Gegensatz aufzumachen. Gesundheitsschutz und die Chance auf Erholung der Wirtschaft sind zwei Seiten derselben Medaille.
Die Maßnahmen, die wir ergriffen haben, waren richtig. Jetzt planen wir nicht die Maßnahmen für eine zweite Welle, sondern wir planen Maßnahmen, um eine zweite Welle zu verhindern. Dazu gehört es, den Öffentlichen Gesundheitsdienst zu stärken, dazu gehört unsere Corona-Warn-App, und dazu gehören die lokalen Beschränkungen. Mit dieser Strategie sind wir momentan außerordentlich erfolgreich.
Nachfrage?
Ja, sehr gerne. – Die Bundesregierung hat also keinen Fehler gemacht, auch aus der jetzigen Perspektive? Sie können sagen, Sie haben in der Vergangenheit keinen Fehler gemacht? Das Zweite ist: Können Sie ausschließen, dass, wenn die Vermeidung der zweiten Welle nicht klappt, ein zweiter Lockdown kommt? Können Sie ausschließen, dass wir noch mal einen Lockdown bekommen?
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Wenn Sie mich besser kennen würden, würden Sie sicher wissen, dass ich niemals sagen würde, dass ich ohne Fehler bin oder dass die Bundesregierung ohne Fehler ist. Fehler passieren immer, zumal in einer Phase, in der wir es mit einem Virus zu tun haben, das völlig neu auf diesem Planeten ist, das keiner kennt.
Zum Ergebnis unseres bisherigen Handelns insgesamt muss man sehr deutlich sagen: Es gab im internationalen Vergleich Länder, die deutlich restriktiver gehandelt haben. Sie haben eben gesagt, wir haben das Wirtschaften eingestellt. – Das haben wir nicht. Wir haben überall dort Beschränkungen auferlegt, wo es zu Publikumsverkehr kommt, aber ansonsten haben wir die ganze deutsche Wirtschaft dem Grunde nach weiterlaufen lassen.
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Sie hatte ja auch Probleme, weil Lieferketten nicht funktioniert haben, weil zum Beispiel in Spanien oder in anderen Ländern die wirtschaftlichen Beschränkungen viel weiter gingen. Auf der anderen Seite gibt es Länder wie zum Beispiel Schweden und Großbritannien, die sich später und weniger entschieden als wir auf Beschränkungen eingelassen haben und heute mit wesentlich höheren Todeszahlen zu kämpfen haben.
Ich bin ziemlich überzeugt, dass die Gesamtstrategie, so wie wir sie als Bundesregierung mit der breiten Unterstützung des Bundestages gefahren haben, im Hinblick auf die gesundheitlichen, aber auch auf die wirtschaftlichen und sozialen Folgen ein sehr ausgewogener Weg war, um den uns übrigens viele Menschen auf der Welt beneiden.
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Gibt es unmittelbar zu diesem Thema noch Nachfragen? – Das ist nicht der Fall. Dann kommen wir zum nächsten gemeldeten Fragesteller. Das ist der Kollege Carsten Schneider, SPD-Fraktion.
Herr Minister, Sie haben zu Beginn Ihrer Ausführungen auf das Konjunkturpaket hingewiesen. Einige Maßnahmen, zumindest was die Mehrwertsteuersenkung angeht, haben die Koalitionsfraktionen zeitlich befristet. Der Kinderbonus in Höhe von 300 Euro wird einmalig ausgezahlt. Das wurde gestern per Paralleleinbringung beschlossen.
In unserem Beschluss ist keine Kompensation der Länderausgaben enthalten, sondern die Länder tragen einen Teil der Lasten im Zuge der Steuerverteilung. Da wir am Freitag das Gesetz beraten und in anderthalb Wochen am 29. Juni in einer Sondersitzung beschließen werden, ist meine Frage, ob die Bundesregierung plant, über den Verteilungsschlüssel, den wir per Steuergesetz, Stichwort „Einkommensteuerverteilung“, festgelegt haben, hinaus den Ländern entgegenzukommen und einen größeren Anteil – und, wenn ja, welchen Anteil – zu finanzieren. Dieser Punkt scheint mir noch offen zu sein.
Herr Minister.
Herr Kollege, das ist insofern richtig, als heute Nachmittag eine Ministerpräsidentenkonferenz mit der Bundeskanzlerin stattfindet. Bisher ist das Konjunkturpaket sozusagen ein Beschluss der Koalition; umgesetzt wird er von der Bundesregierung. Natürlich brauchen wir an ganz vielen Stellen auch die Unterstützung der Länder für dieses Paket. Wir haben sehr frühzeitig deutlich gemacht – auch der Bundesfinanzminister hat es sehr frühzeitig deutlich gemacht –, dass wir als Bund bereit sind, die Ausfälle, die im nächsten halben Jahr durch die Mehrwertsteuersenkung anfallen, komplett zu tragen. Darüber hinaus haben wir deutlich gemacht – das ist jedenfalls der aktuelle Beratungsgegenstand –, dass wir bereit sind, den Kinderbonus vollständig zu übernehmen, da er über das Kindergeld ausgezahlt wird; sonst ist grundsätzlich eine hälftige Finanzierung durch die Länder erforderlich. Ansonsten gehen wir davon aus, dass dort, wo wir jetzt Programme auflegen und es zu Liquiditäts- und Verschiebeeffekten im Bereich der Steuern kommt, die Länder den entsprechenden Finanzierungsanteil selber tragen. Darüber wird sicherlich heute in der Ministerpräsidentenkonferenz zwischen der Bundesregierung und den Ländern noch erheblicher Diskussionsbedarf bestehen.
Noch eine Frage? – Bitte schön.
Eine kleine Zusatzbemerkung, gekleidet in eine Frage: Geben Sie doch bitte in der Besprechung, die Sie nachher noch haben werden – von diesem Verfassungsorgan zum nächsten, repräsentiert durch die Ministerpräsidenten –, weiter, dass die Länder und Gemeinden den übergroßen Anteil am Steueraufkommen haben und sie dementsprechend an der Finanzierung der Kosten des Konjunkturprogramms beteiligt sein sollen. Ansonsten ist der Bund nämlich überfordert. – Vielen Dank.
Das werde ich gerne wortwörtlich so weitergeben.
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Dazu noch speziell eine Nachfrage? – Dann erteile ich das Wort dem nächsten Fragesteller: Stephan Thomae für die FDP-Fraktion.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Bundesminister, ich habe eine Frage zu einem anderen Thema Ihres Geschäftsbereiches. Am 19. Mai hat das Bundesverfassungsgericht eine Entscheidung zur Kontrolle des Bundesnachrichtendienstes bei der Überwachung des Fernmeldeverkehrs von Ausländern im Ausland verkündet. Es hat unter anderem eine neue parlamentarische Kontrolle des BND modelliert und auch die Grundrechtsbindung des BND schärfer gefasst. Daraufhin wurde Kritik laut, dass diese Entscheidung die Arbeitsfähigkeit des BND zu beeinträchtigen in der Lage sei, vor allem die Zusammenarbeitsfähigkeit mit ausländischen Nachrichtendiensten.
Deswegen ist meine Frage an Sie, ob die Regierung die Auffassung teilt, dass eine stärkere, eine bessere parlamentarische Kontrolle die Arbeitsfähigkeit des BND beeinträchtigen wird oder ob nicht vielmehr eine bessere parlamentarische Kontrolle nützlich sein kann, um den Dienst besser zu machen.
Das Zweite würde ich unterstützen. Ich habe das Urteil des Bundesverfassungsgerichts sehr begrüßt. Wir haben ja nach den letzten Ereignissen im Kontext NSA eine sehr umfassende Neuregelung des BND-Gesetzes vorgenommen. Wir hatten uns dafür entschieden, dass der BND in Zukunft auf einer sehr, sehr klaren Rechtsgrundlage arbeiten soll. Diese Verfassungsklage war insofern wichtig, weil damit die Frage gestellt wurde, ob das BND-Gesetz auch aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts in Ordnung ist.
Ich finde das Urteil sehr ausgewogen. Es hat zum einen die wichtige staatliche Aufgabe des BND, uns als Bundesregierung, aber auch Sie als Parlament mit wichtigen und verlässlichen Informationen über die komplexe Lage im Ausland aufzuklären, sehr betont. In diesem Zusammenhang hat es auch betont, dass die Arbeitsfähigkeit einer Ausland-Ausland-Aufklärung wichtig ist und erhalten werden muss. Insofern ist dieses Urteil eine sehr gute Grundlage. Das Zweite, was betont wurde, ist, dass die parlamentarische Kontrolle aber auch durch einen richterlichen Spruchkörper – eine quasi richterliche Kontrolle – noch verstärkt werden muss.
Deshalb setzen wir dieses Urteil sehr gerne um. Denn ich gehe davon aus, dass dadurch die Akzeptanz der Arbeit des BND und auch die Rechtssicherheit hinsichtlich der Arbeit im BND gestärkt werden. Ich gehe davon aus, dass das neue BND-Gesetz, das wir am Ende hier gemeinsam beschließen werden, für die Arbeit dieses Nachrichtendienstes eine wichtige Stärkung bedeutet und keine Schwächung.
Nachfrage, Herr Kollege?
Ja, gerne. – Ich will es ausdrücklich würdigen, dass Sie die Nützlichkeit der Kontrolle des BND an dieser Stelle unterstreichen.
Vielleicht erlauben Sie eine Nachfrage: Wird der Gesetzentwurf der Regierung zur Neufassung des Kontrollmechanismus eine Stärkung der Kontrollmöglichkeiten und ‑befugnisse des Parlaments vorsehen, oder wollen Sie diese Möglichkeiten des Parlaments möglichst knapphalten?
Wir sind noch in einem sehr frühen Stadium. Ich habe im Kanzleramt jetzt erst mal Aufträge erteilt. Wir werden unseren Entwurf eng mit dem Innen- und dem Justizministerium abstimmen müssen. Mein Ziel ist, dem Parlament möglichst früh im Herbst einen Entwurf vorzulegen, damit wir das Verfahren im Winter, spätestens im Frühjahr abschließen können. Ich glaube, dass das ein guter Zeitrahmen ist, um sicherzustellen, dass dieses Gesetz nicht Gegenstand irgendwelcher Debatten wird, die weniger mit dem BND als mit dem Bundestagswahlkampf zu tun haben. Insofern arbeiten wir eilig; aber es ist jetzt noch zu früh, um erste Aussagen zur Ausgestaltung des Entwurfs zu machen.
Vielen Dank. – Unmittelbar dazu eine Nachfrage des Kollegen Benjamin Strasser, ebenfalls FDP-Fraktion.
Herr Staatsminister Braun, in dem Verfassungsgerichtsurteil wird darauf hingewiesen, dass eine klassische präventive Kontrolle der Nachrichtendienste, wie es sie in anderen Ländern dieser Welt gibt, in Deutschland so nicht möglich ist. Das hat Konsequenzen für das Parlament bei der Nachrichtendienstkontrolle. Wir haben das Staatsversagen im Zusammenhang mit dem NSU erlebt, wir haben einen Anschlag auf dem Breitscheidplatz erlebt und feststellen müssen, dass das Parlamentarische Kontrollgremium offensichtlich nicht immer rechtzeitig von Nachrichtendiensten über die Zustände in diesen Diensten informiert worden ist. Weil wir als Bundestagsfraktion Ihnen einen Gesetzentwurf zur Einführung eines parlamentarischen Nachrichtendienstbeauftragten vorgelegt haben, ist meine Frage an Sie, wie Sie in dieser BND-Reformnovelle die präventive parlamentarische Kontrolle stärken wollen oder ob das für diese Bundesregierung kein Thema ist, weil aus ihrer Sicht alles so stimmt, wie es momentan läuft.
Das Bundesverfassungsgerichtsurteil macht ja deutlich, dass nicht alles so stimmt, wie es jetzt läuft. Deshalb ändern wir das ja jetzt.
Ich habe gerade gesagt, dass es noch ein bisschen früh ist, um über Einzelheiten zu sprechen; aber wir müssen auch aufpassen: Das Urteil bezieht sich auf die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung, und viele der von Ihnen genannten schrecklichen Ereignisse im Inland fallen nicht in den engeren Bereich der Zuständigkeit des BND und betreffen auch nicht den engeren Bereich dessen, worum es in dem Urteil geht. Das muss man ein bisschen auseinanderhalten. Aber die parlamentarische Kontrolle ist natürlich wichtig.
Darüber hinaus steht es dem Parlament natürlich immer frei, diese Frage für sich zu definieren. Wir werden selbstverständlich versuchen, für das, was das Bundesverfassungsgericht vorgibt, also für das Zusammenspiel von politischer Kontrolle und richterlicher Kontrolle, einen Vorschlag zu unterbreiten, den Sie alle gut finden und der die Waagschale, die das Bundesverfassungsgericht einfordert, auch wirklich widerspiegelt.
Eine Nachfrage, Herr Kollege?
Verstehe ich Sie richtig: Der Gesetzentwurf wird von der Bundesregierung vorgelegt werden, nicht von den Parlamentsfraktionen? Also auch für den Bereich der parlamentarischen Kontrolle legt die Bundesregierung einen Gesetzentwurf vor, einen Gesamtgesetzentwurf, der auch uns glücklich macht? So habe ich Sie gerade verstanden.
Wir werden einen Entwurf zur Änderung des BND-Gesetzes vorlegen, der allen Anforderungen dieses Gerichtsurteils Rechnung trägt.
Gibt es unmittelbar dazu noch Wortmeldungen? – Das ist nicht der Fall. Dann kommen wir zum nächsten Fragesteller: Das ist der Kollege Rudolf Henke, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Minister, der Koalitionsausschuss hat in Aussicht gestellt, auch bei dem Thema Ausbildungsplätze aktiv zu werden und anzuerkennen, wenn Betriebe die Zahl ihrer Ausbildungsplätze nicht reduzieren oder gar erhöhen. Ausbildungsverträge kann man ja zu jedem Zeitpunkt im Jahr abschließen, wenn man das möchte. Wenn die Ausbildung nicht im August oder September beginnt, lässt sie sich aber nicht so gut mit den Berufskollegs synchronisieren. Deswegen starten die meisten Ausbildungsverhältnisse im August oder im September. Meine Frage ist: Wie sieht der Zeitplan für die Umsetzung dieser Förderabsicht aus? Wann können die Organisationen der Wirtschaft auf ihre Mitglieder zugehen und gewissermaßen für eine verstärkte Anstrengung in diesem Ausbildungsjahr werben?
Da haben Sie völlig recht. Wir arbeiten mit Hochdruck daran, weil wir natürlich auch die Sorge haben, dass manch einer mit dem Abschluss eines Ausbildungsvertrages wartet. Es finden noch letzte Gespräche zwischen der Bildungsministerin und dem Minister für Arbeit und Soziales statt. Aber ich bin ziemlich sicher, dass wir im Kabinett in der nächsten, spätestens in der übernächsten Woche das Programm auf den Weg bringen werden. Es soll die Schaffung von Ausbildungsplätzen honorieren.
Das zweite Thema, das uns sehr beschäftigt, ist, dass durch die viele Kurzarbeit, die wir momentan in Deutschland haben, teilweise auch die Ausbildung der vorhandenen Azubis nicht mehr so stattfindet, wie es sein sollte. Auch das soll adressiert werden.
Nachfrage?
Die kommende Sitzungswoche wird die letzte Sitzungswoche des Bundestages vor der Sommerpause sein. Kann ich Ihrer Antwort entnehmen, dass Sie das so einschätzen, dass es zur Wirksamkeit dieses Programms keiner Gesetzesänderungen bedarf?
Ja, wir gehen momentan davon aus, dass das Programm untergesetzlich erfolgt, vorbehaltlich neuer Erkenntnisse, die uns in den nächsten Wochen noch erreichen. Was wir vom Deutschen Bundestag brauchen, ist die Zustimmung zum Nachtragshaushalt in der nächsten Sitzungswoche. In diesem sind die benötigten Mittel veranschlagt. Den Nachtragshaushalt haben wir heute im Kabinett auf den Weg gebracht; er muss nach der Sitzung des Bundesrates am 3. Juli 2020 in Kraft treten. Das ist eine wesentliche Voraussetzung – das gilt für alle unsere Programme im Rahmen des Konjunkturpaketes –, damit wir die Programme schnell finanzwirksam ausrollen können.
Vielen Dank, Herr Bundesminister. – Dazu eine unmittelbare Nachfrage der Kollegin Yasmin Fahimi, SPD-Fraktion.
Teilen Sie die Auffassung, dass mit Blick auf die Coronapandemie die Ausbildungsbetriebe nicht nur dadurch betroffen sind, dass sie in Kurzarbeit geraten sind? Das ist ja ein offensichtliches Problem. Deswegen hat es auch eine Beschlusslage gegeben, dass es eine Übernahmeprämie geben soll. Das heißt, Unternehmen, die Auszubildende aus von Insolvenz betroffenen oder von Insolvenz bedrohten Betrieben übernehmen, sollen eine Prämie erhalten. Muss es nicht insgesamt darum gehen, unabhängig von der Betriebsgröße regionale Ausbildungsmärkte zu stabilisieren? Das heißt, dass wir nicht nur die unmittelbar von Corona betroffenen Betriebe in den Blick nehmen müssen, sondern auch die Ausbildungsaktivitäten unterstützen und honorieren müssen, die in solchen Formen – durch Auftrags- und Verbundausbildung, durch Übernahme etc. – erfolgen. Das heißt, dass die Prämie auch für Ausbildungsplätze gezahlt werden muss, die zusätzlich geschaffen werden, auch wenn der Betrieb nicht von Corona betroffen ist.
Grundsätzlich haben wir eine Menge Instrumente, um Ausbildung zu stärken. Im Rahmen des Konjunkturpakets wird genau auf die wirtschaftlichen Folgen der Coronapandemie geschaut. Das heißt, soweit wirtschaftliche Betroffenheit besteht, wird das auch sehr umfangreich wirken.
Wir haben die Säulen, die Sie gerade genannt haben, auch die, die ich eben schon beschrieben habe. Das Bundesinstitut für Berufsbildung wird uns Anfang Juli nochmals einen Bericht über die Lage am Ausbildungsmarkt geben. Dann werden wir uns – dazu haben wir uns ebenfalls verabredet – im Lichte dieses Berichtes sehr genau angucken, ob zwischen den Instrumenten, die wir jetzt quasi im Vorgriff aufgrund derjenigen Probleme geschaffen haben, von denen wir bisher wissen, dass es sie am Arbeitsmarkt für Azubis gibt, noch weitere Lücken klaffen.
Das Oberziel über dem Ganzen lautet: Wir wollen auf gar keinen Fall, dass es durch Corona im Bereich der beruflichen Bildung in irgendeiner Weise zu einem verlorenen Jahrgang kommt. Wir wollen, dass die jungen Menschen einen Ausbildungsplatz haben. Wir wollen, dass diejenigen, die einen haben, ihn behalten, und wir wollen, dass auch die Ausbildung im Betrieb weiter gut funktioniert.
Nachfrage? – Nicht. Gut. – Dann kommen wir zum nächsten Fragesteller. Das ist der Kollege André Hahn, Fraktion Die Linke.
Herr Minister, Sie sind als Chef des Bundeskanzleramtes auch für die Dienst- und Fachaufsicht über die deutschen Nachrichtendienste zuständig; ich komme also auf das Thema noch mal zurück. Das Bundesverfassungsgericht hat das Gesetz über die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung des BND in zentralen Teilen für verfassungswidrig erklärt und damit auch die massive Kritik der Opposition bei der Beschlussfassung im Prinzip bestätigt.
Nun hat das Gericht in seinem Urteil bezüglich dieses Gesetzes eine Übergangsfrist gelassen und dem Gesetzgeber aufgetragen, bis Ende 2021 eine Novellierung dieses Gesetzes vorzunehmen. In diesem Zusammenhang habe ich folgende Frage: Wie wollen und wie werden Sie sicherstellen, dass alle von den Karlsruher Richtern für verfassungswidrig erklärten Praktiken sofort beendet werden und nicht einfach bis Ende 2021 weitergeführt werden? Was werden Sie in dieser Richtung tun? Welche Überlegung haben Sie zur Stärkung der Kontrollbefugnisse des Parlaments, insbesondere was die Auskunftspflichten der Bundesregierung gegenüber den Abgeordneten zur Arbeit der Nachrichtendienste angeht?
Ich habe ja auf die vorangegangenen Fragen sowohl zur parlamentarischen Kontrolle als auch zum Zeitplan viel gesagt. Sie haben dabei gemerkt, dass der Zeitplan, den ich mir hier vorstelle und für dessen Einhaltung ich kämpfen werde, deutlich ambitionierter ist. Mein Vorsatz ist, dass wir die Fristen, die das Verfassungsgericht hier gesetzt hat, nicht voll ausschöpfen, sondern die neue Rechtsgrundlage nach Möglichkeit deutlich schneller schaffen. Das liegt nicht alleine in meiner Macht, aber das, was ich dafür tun kann, werde ich tun.
Nachfrage, Herr Kollege?
Ja. – Sie haben natürlich jetzt die Frage nicht beantwortet, ob der BND die für verfassungswidrig erklärten Praktiken weiter anwendet. Und was die parlamentarische Kontrolle angeht, stellt sich für mich schon die Frage, wie ernst die Bundesregierung tatsächlich die verfassungsgemäße Pflicht, auf Fragen von Abgeordneten wahrheitsgemäß und vollständig zu antworten, nimmt.
Ich habe selbst in den letzten Wochen mehrere Anfragen zu hoch umstrittenen internationalen Kooperationen des BND gestellt, über die es im In- und Ausland breite mediale Berichterstattung gab und von denen in diesem Hause niemand Kenntnis hatte. Ebenso wenig sind meine entsprechenden Fragen im Parlamentarischen Kontrollgremium, dessen Mitglied ich bin, ausreichend beantwortet worden. Ich beziehe mich auf die Geheimoperationen „Rubikon“ und „Maximator“, wobei zumindest letztere unter Beteiligung des BND offenbar immer noch läuft.
In diesem Zusammenhang möchte ich wirklich wissen, ob Sie es darauf anlegen, dass Abgeordnete oder dass die Opposition auch hinsichtlich dieser Frage vor Gericht gehen muss, ehe Sie Fragen ordnungsgemäß beantworten. Alle Antworten sind bislang lapidar mit Hinweis auf angebliches Staatswohlinteresse verweigert worden. Das ist ein Punkt, den eigentlich niemand hier im Haus länger hinnehmen kann. Wollen Sie das von sich aus ändern, oder braucht es auch dafür eine Klage in Karlsruhe?
Also, ich würde mal sehr für uns in Anspruch nehmen, dass wir alles tun, um den Deutschen Bundestag und vor allen Dingen auch die für die Kontrolle der Nachrichtendienste zuständigen Gremien vollständig und richtig zu informieren. Wir machen das mit großem Nachdruck. Das gilt auch für das, was Sie eben gesagt haben, für die Frage, wie wir vorgehen.
Der BND muss immer auf der Grundlage des Rechts arbeiten. Wir können jetzt nicht im Vorgriff auf eine Novelle zum BND-Gesetz – abweichend von der derzeitigen Rechtslage – die Arbeitsweise verändern. Das ist, glaube ich, sehr klar. An der Stelle, wo uns das Urteil aus unserer Sicht Zurückhaltung auferlegt, tun wir das auch. Aber im Grundsatz können wir nicht von der Rechtslage abweichen. Den Weg, um das Verfassungsgerichtsurteil angemessen umzusetzen, beschreiten wir zügig. Das habe ich zugesagt.
Ansonsten beantworten wir alles sehr ordentlich. Soweit es Geheimhaltungsaspekte gibt, hat der Deutsche Bundestag ja genau dafür Gremien, wo die Geheimhaltung gewahrt ist, und da werden Sie auch umfassend informiert.
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Dazu unmittelbar noch eine Nachfrage? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die nächste Fragestellerin die Kollegin Annalena Baerbock, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Staatsminister, herzlichen Dank für Ihre Ausführungen zu den letzten Wochen. – Ein Bereich, den Sie nicht angesprochen haben, sind die Ausstattung mit Schutzmaterialien und deren Produktion. Da ist man ja am Anfang etwas holprig an den Start gekommen. Man hat dann Anfang April erklärt, es gebe einen Arbeitsstab Produktion, woran sehr viele Ministerien beteiligt waren. Dann haben wir Ende Mai nachgefragt, wer denn jetzt federführend zuständig ist. Darauf konnte die Staatssekretärin damals keine Antwort geben und sprach von einer dynamischen Entwicklung der Zuständigkeiten zwischen den Ressorts.
Die Frage: Sind diese Zuständigkeiten jetzt geklärt? Vor allen Dingen: Wie gedenken Sie, die Probleme, die wir nach wie vor haben, zu lösen? Es gibt auf der einen Seite Schutzmasken, die leider nicht abgenommen werden. Es gibt die Situation in Krankenhäusern, dass nach wie vor medizinisches Personal seine Masken waschen muss, weil nicht ausreichend Schutzmasken vorhanden sind. Auf der anderen Seite gibt es Hersteller, die ihre Produktion umstellen wollen, aber keine gesicherten Abnahmegarantien haben. Das heißt, neben der Frage, wer eigentlich zuständig ist, stelle ich folgende Frage: Wie gedenken Sie, dafür zu sorgen, dass die Materialien dann auch in die Einrichtungen kommen?
Im Grundsatz ist es so, dass wir einen Arbeitsstab Produktion in Deutschland gebildet haben, sozusagen aus der Erkenntnis heraus, dass wir selber zwar der Hersteller vieler Maschinen und Anlagen sind und auch im Bereich der Veredlung von Grundstoffen tätig sind, dass wir selber aber das in Deutschland nicht zur Anwendung bringen. Deshalb haben wir beschlossen, sowohl das Mittel der Investitionskostenzuschüsse zu verwenden als auch den Bereich zu adressieren, was langfristige Perspektiven für den Absatz angeht. In dem Bereich werden jetzt auch erste Produktionslinien in Deutschland aufgebaut. Das geht natürlich nur da, wo die Produktionsmaschinen quasi schon fertig sind. Weitere werden hergestellt, und so werden wir hoffentlich bis Ende August auch eine nennenswerte Schutzausrüstungsproduktion in Deutschland haben. Die Federführung für diesen Arbeitsstab Produktion liegt beim Bundeswirtschaftsminister; er ist dafür zuständig und kümmert sich darum sehr intensiv.
Davon unabhängig ist die Beschaffung im Ausland, vornehmlich in Asien. Das ist die Aufgabe des Bundesgesundheitsministers. Da ist es in der Tat so, dass wir, nachdem wir anfänglich sehr viele Verträge gemacht, sich die Lieferungen aber verzögert haben, jetzt sehr, sehr große Mengen an Lieferungen haben, die auch zum Teil beim Bund verbleiben, weil uns die Länder und die Kassenärztlichen Vereinigungen aufgrund ihrer ausreichenden Ausstattung darum bitten, nicht weiter zuzuliefern. Insofern dürfte das Problem, das Sie geschildert haben, nämlich dass vor Ort immer noch Knappheit herrscht, jedenfalls aus unserer Sicht eigentlich nicht mehr auftreten. Momentan ist wirklich genügend Ware in Deutschland.
Nachfrage, Frau Kollegin?
Ja. – Das unterstreicht aus meiner Sicht das Problem. Wenn genügend Ware da ist, aber sie nicht an die Frau oder an den Mann in den Pflegeeinrichtungen und in den Krankenhäusern kommt, dann gibt es ja offensichtlich weiterhin ein Koordinierungsproblem. Ich hoffe, dass das trotzdem angenommen wird.
Noch mal eine Nachfrage, weil Sie den chinesischen Markt angesprochen haben. Man hat ja den deutschen Herstellern gesagt: Bitte stellt um; wir schaffen euch eine Abnahmegarantie. – Jetzt ist genau der Punkt, den Sie angesprochen haben: Das Gesundheitsministerium beschafft aber weiter in China.
Die Frage lautet: Viele Hersteller, die umstellen wollten und sich im April angemeldet haben, haben nur eine Abnahmegarantie bis Ende 2021. Sie haben ja heute auch verkündet, zusätzlich zum Arbeitsstab Produktion eine Nationale Reserve Gesundheitsschutz aufzubauen. Gedenken Sie, diese Nationale Reserve allein mit in Deutschland bzw. Europa produzierten Schutzmaterialien auszustatten, und geben Sie den Herstellern dann eine Perspektive über 2021 hinaus, damit wir nicht wieder in die Situation geraten, festzustellen, dass wir Schutzmaterialien brauchen, dass aber leider der Lieferverkehr, der global organisiert ist, nicht in der Lage ist, den Bedarf zu decken?
Wir haben in der Tat im Kabinett neulich den Beschluss gefasst, eine Nationale Reserve aufzubauen. Das ist eigentlich eine Lehre aus der Krise. Das merkt man ja in einer solchen Krise: Manchmal ist nicht das Handeln in der Krise das Problem, sondern das fehlende Handeln vor der Krise, weil man eine solche Pandemie nicht in dem Ausmaß vorhergesehen hat. Deshalb ist es, glaube ich, richtig, dass wir unsere dezentralen Einrichtungen, also die Krankenhäuser und die Pflegeeinrichtungen, zu einer Reservebildung animieren, sodass man auch eine gewisse Zeit, wenn der Nachschub knapp wird, auskommt, bevor wirklich Versorgungsengpässe in der medizinischen Versorgung auftreten. Wir haben aber gesagt: Wir wollen auch eine Nationale Reserve aufbauen. Das werden wir jetzt in den nächsten Monaten tun. Dafür kommen Masken aus unserer deutschen Produktion infrage; aber dafür kommen natürlich auch diejenigen infrage, die wir jetzt bezogen haben und die momentan nicht abgenommen werden können. Aber beides ist der Fall.
Was die Konditionen angeht: Momentan höre ich jedenfalls aus unserem Arbeitsstab Produktion, dass wir erfreulicherweise sehr viele Firmen gefunden haben, die bereit sind, auf eine nationale Produktion für den europäischen Markt aufzubauen. Die Konditionen, die im BMWi mit den Firmen besprochen werden, sind offenkundig auskömmlich. Also, das funktioniert. Es ist nicht so, dass wir da momentan keine Nachfrage hätten. Der Aufbau der Produktion läuft unter den gegebenen Bedingungen ganz gut.
Unmittelbar dazu der Kollege Dr. Schinnenburg, FDP-Fraktion.
Herr Minister, ist es richtig, dass bei über der Hälfte der im Ausland bestellten Schutzausrüstung Probleme auftraten, sei es, dass sie nicht geliefert wurde, sei es, dass sie nicht in der vorgesehenen Zeit geliefert wurde, sei es, dass es Qualitätsmängel gab? Und wie hat die Bundesregierung darauf reagiert?
Ob bei der Hälfte der Schutzausrüstung Probleme auftraten, kann ich Ihnen jetzt, ehrlich gesagt, nicht aus dem Kopf bestätigen. Aber es ist doch ganz klar, dass zu Beginn dieser Krise viele Länder beschafft haben und dass deshalb die Beschaffung schwierig war. Wir haben von Anfang an den TÜV Nord einbezogen und auch schon vor Ort Prüfungen der Lieferungen vorgenommen, um das Problem, dass wir fehlerhafte Ware bekommen, so weit wie möglich zu reduzieren. Trotz dieser Vorsichtsmaßnahmen ist es auch in Deutschland bei der Ware, die hier ankam, noch mal zu Problemen gekommen.
Ein besonderes Thema dabei ist ein spezielles Verfahren, das wir angewendet haben: das sogenannte Open-House-Verfahren. Dabei haben wir nicht quasi die Ware im Ausland abgeholt, sondern wir haben quasi die Lieferung der Ware direkt auf den Hof in Deutschland bekommen. Da konnte natürlich die Prüfung der Ware erst im Nachgang, nach dem Eingang der Ware, hier bei uns erfolgen. Auch da gab es wieder mehrere Probleme, was die Qualität angeht. Aber das alles wird entsprechend kontrolliert, und Ware, die nicht dem versprochenen Qualitätsstand entspricht, wird natürlich auch zurückgegeben.
Nachfrage noch, Herr Kollege?
Die Zahl habe ich von Ihrem Kollegen Herrn Gebhart heute Morgen im Gesundheitsausschuss. Ich muss nur nachfragen, weil das ja eine vertrauliche Sitzung war: Sie können die Zahl nicht bestätigen? Vielleicht kann Herr Gebhart sie bestätigen.
Möchte Herr Gebhart dazu was sagen?
Herr Gebhart, möchten Sie etwas bestätigen? – Herr Gebhart möchte nichts bestätigen.
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Dann ist die nächste Fragestellerin die Kollegin Katharina Dröge, Bündnis 90/Die Grünen.
Vielen Dank, Herr Braun, dass Sie bestätigt haben, dass das Bundeswirtschaftsministerium für den Aufbau der Produktion zuständig ist. Es wäre super, wenn Sie das dem Bundeswirtschaftsminister auch mal sagen könnten, weil der uns bislang im Ausschuss immer gesagt hat, er sei für die Produktion von Vlies- und Schutzmasken zuständig, und für den Rest sei das Bundesgesundheitsministerium zuständig. Das Gesundheitsministerium hat auf das Wirtschaftsministerium verwiesen. Also, da wäre vielleicht eine Klarstellung des Bundeskanzleramtes, auch für die Ressorts, gut. Schön, wenn Sie das so klar haben.
Meine Frage wäre: Welchen Bedarf prognostizieren Sie denn für die Produktion in Deutschland als notwendig? Sie wollen nun eine Nationale Reserve aufbauen. Die Unternehmen, die jetzt umstellen müssen, brauchen Sicherheit. Welche Mengen werden Sie langfristig in Deutschland abnehmen, unabhängig davon, wie sich der Markt entwickelt? Gibt es dazu Zahlen von Ihnen, eine verbindliche Einschätzung? Denn die Unternehmen müssen ja jetzt im Sommer melden, ob sie umstellen. Das ist die eine Frage, die ich an Sie habe.
Die zweite Frage ist: Welche Güter kommen denn in diese Nationale Reserve? Atemschutzmasken, und das war’s? Haben Sie da schon eine Liste fertig?
Das Dritte betrifft die interessante Erkenntnis: Sie sagen, es seien genug Masken da. – Reden Sie noch mal mit den Krankenhäusern! Die Ärzte hängen wirklich abends ihre Masken zum Trocknen auf und benutzen sie am nächsten Tag wieder. Klären Sie, warum die Masken nicht in den Krankenhäusern ankommen!
Also, das war eine dreiteilige Frage.
Ja.
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Kollege Braun, können Sie die beantworten?
Als Erstes, damit da keine Verwirrung entsteht: Es gibt neben dem Grundsatz natürlich immer Sonderfälle in einer Bundesregierung; sonst wäre es auch zu einfach. Der ganze Bereich Arzneimittel fällt natürlich auch aufgrund der dort gebündelten Kompetenzen sehr stark in die Zuständigkeit des BMG. Das heißt, wenn es um die Zulassung und die Arzneimittelproduktion in Deutschland geht, dann ist das ein anderer Fall. Aber das, worüber wir im Wesentlichen gerade reden, sind ja Schutzmasken, Schutzkittel und verschiedene Verbrauchsmaterialien. Wir haben insgesamt elf Produktkategorien gebildet, die wir für sehr essenziell halten. Je nach Haltbarkeit, Kostenfaktor und bisherigem Produktionsanteil in Deutschland ist das alles ein bisschen unterschiedlich zu bewerten; das kann man nicht so pauschal sagen.
So ist es auch mit der Höhe der Reserve. Wir haben in der Bundesregierung, zwischen BMWi, BMG und auch anderen betroffenen Ministerien, ein gemeinsames Verständnis entwickelt, was unter den Bedingungen des Fortgangs der Pandemie und bei unterschiedlichen möglichen Entwicklungen sozusagen eine sinnvolle nationale Reserve ist. Das können wir gerne noch mal detaillierter im Nachgang berichten; aber es ist nicht anhand von zwei Zahlen darzulegen, wie hoch diese Reserve ist.
Frau Dröge.
Vielen Dank, Herr Braun. – Meine erste Frage wäre, ob denn dann die Produktionskapazitäten, die in Deutschland aufgebaut werden sollen, nur für die Nationale Reserve da sind oder ob sie in diesen zwei, drei Krisenjahren auch den Bedarf von Betrieben, den täglichen Bedarf der Krankenhäuser und Pflegeheime decken sollen und mit welchen Höhen Sie da eigentlich rechnen. Denn auch das müssen Unternehmen ja wissen, wenn sie sich entscheiden, umzustellen.
Und das Zweite ist: Sie haben gesagt, elf Produktkategorien hätten Sie identifiziert, die wichtig sind. Meine Erkenntnis ist, dass das Bundeswirtschaftsministerium bislang alleine den Aufbau der Produktion für Vlies- und Schutzmasken fördert. Wann beginnt denn die Förderung für Produktionskapazitäten in den anderen Bereichen?
Also, zunächst mal ist es so, dass die nationale Produktion nicht nur für die Nationale Reserve gedacht ist, sondern wir haben immer ausdrücklich gesagt: für den europäischen Markt. Das, was wir an Produktion in einem Binnenmarkt aufbauen, kann nicht nur für Deutschland sein, das kann auch schon gar nicht nur für die Nationale Reserve sein, sondern das ist Teil des europäischen Binnenmarkts. Im Grunde müssen wir deshalb alle Produktionsthemen auch mit unseren europäischen Nachbarn besprechen; das ist ja schon ein interessantes Thema. Wir kommen aus einer Zeit, in der wir generell auf globale Märkte gesetzt haben. Diese Pandemie hat uns ein Stück weit das Gefühl gegeben, dass es auch Dinge gibt, die man eher in einem – auch räumlich – engeren Umfeld produzieren muss. Deshalb geht es ein Stück weit um Souveränität, aus meiner Sicht nie nur für Deutschland, sondern immer für Europa. Deshalb ist es auch etwas, was wir im Ergebnis nicht alleine machen. Wir haben die jeweiligen Fachminister gebeten, das Thema auf europäischer Ebene zu vertiefen. Am Ende muss nicht alles Deutschland machen, sondern das können auch andere in Europa tun. Ich selber bin mit meinem französischen Amtskollegen regelmäßig im Gespräch darüber. So wird sich diese Produktionsstrategie jetzt schrittweise weiterentwickeln.
Vielen Dank. – Ich lasse jetzt noch zwei Fragen dazu zu, und dann machen wir weiter in der Reihenfolge. – Frau Kollegin Künast, Bündnis 90/Die Grünen.
Danke, Herr Präsident. – Herr Braun, ich freue mich, dass jetzt immerhin geografisch eingesehen wurde, dass es, wenn Erkrankungen auftreten, sinnvoll ist, in Deutschland bzw. – noch besser – in Europa eine eigene Produktion in diesem Kontext aufzubauen, weil man ja nie weiß, an welcher Stelle des Globus Probleme auftreten und Produktionen massiv eingeschränkt werden. Jetzt wüsste ich aber gerne – Frau Dröge hat das ja schon gefragt –: Wie breit nehmen Sie das? Denken Sie beim Bedarf an Pflegeheime, berücksichtigen Sie alle, denken Sie auch an Unternehmen?
Ich möchte das gerne auch noch zeitlich verstehen. Da ja nach dieser Pandemie potenziell vor der nächsten Pandemie ist – das sehen wir, wenn wir alle Analysen, auch die von 2012 des Robert-Koch-Instituts, angucken –, müssen wir doch eine Reserve grundsätzlich aufbauen und dürfen sie nicht zeitlich befristen. Deshalb möchte ich gerne wissen: Können Sie mal grob beschreiben, wie Sie das zeitlich planen? Können Sie grundsätzlich sagen: „Wir werden immer eine solche Nationale Reserve mit einem bestimmten Mindeststandard haben, immer und nicht nur für die nächsten zwei, drei Jahre, bis es einen Impfstoff gibt“?
Das kann ich absolut bestätigen. Unser Ziel ist nicht, eine Nationale Reserve für den Moment aufzubauen, sondern aus meiner Sicht ist das eine ganz grundsätzliche Entscheidung, damit man für den Fall eines späteren Auftretens einer neuen Pandemie zunächst einmal nicht wieder in eine solche Situation kommt, in der sehr schnell die bestehende Bevorratung zu Ende ist, und man dann in eine weltweite Marktsituation kommt mit hohen Preisen und mit Qualitätsproblemen. Das ist doch eine der Lehren aus dieser Pandemie. Deshalb werden wir die Nationale Reserve jetzt schrittweise aufbauen und aus meiner Sicht auch dauerhaft beibehalten.
Bei der Geschwindigkeit des Aufbaus muss man Folgendes sehen: Auf der einen Seite stellt sich die Frage, wie schnell der Aufbau der nationalen Produktion gelingt, bei der dann natürlich die Qualität sehr schön gesichert ist, und auf der anderen Seite die Frage, wie sich die Preise an den Weltmärkten entwickeln. Es ist, glaube ich, angesichts der Tatsache, dass momentan in vielen Ländern auf der Welt diese Pandemie viel schlechtere Verläufe nimmt als bei uns, auch nicht richtig, jetzt zu hohen Preisen die Nationale Reserve in Deutschland sehr schnell aufzubauen und damit die Verknappung auf dem Weltmarkt zulasten anderer, schwerer belasteter Länder voranzutreiben. Das alles wägen wir ab, und so entscheiden wir.
Letzte Frage zu diesem Thema: der Kollege Dr. Rainer Kraft, AfD-Fraktion.
Danke, Herr Präsident. – Herr Minister, 2012 hatte das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe ein Szenario für einen Pandemiefall durchgespielt. Meine Frage ist: Ist als Ergebnis dieses Szenarios nicht eigentlich die Schaffung einer nationalen Bevorratung gefordert worden, und, wenn ja, wo war denn diese nationale Bevorratung 2020, acht Jahre später?
Wir haben, wenn ich mich mal zurückerinnere, vom Bundesamt schon mehrfach Vorschläge bekommen, auch zum Beispiel zur Bevorratung und dazu, was Privatpersonen vorhalten sollen. Es gab jedes Mal in Deutschland eine massive Diskussion darüber, was für wenig wahrscheinliche Szenarien da an die Wand gemalt werden. Insofern: Die Zahl der Menschen, die die Wahrscheinlichkeit des Eintretens einer solchen Pandemie nicht ausreichend ernst eingeschätzt haben, ist, glaube ich, relativ groß. Ich gehe davon aus – ich habe es schon gesagt –, dass, wenn wieder eine Pandemie auftritt, uns das nicht wieder passiert. Deshalb ziehen wir jetzt die Lehren und bauen eine solche Nationale Reserve auf.
Nachfrage?
Also hat die Regierung – wir reden nicht von Privatpersonen – eine Einschätzung dieses Szenarios vorgenommen, hat das für nicht wahrscheinlich erachtet und deswegen keine Aktionen vorgenommen. Verstehe ich Ihre Aussage richtig?
Über die genauen Schritte, die wir auf diesen Bericht hin eingeleitet haben, kann ich Ihnen jetzt im Augenblick nicht berichten. Aber dass der Status so war, dass wir im März in eine Lage gekommen sind, in der unsere Vorräte sehr schnell erschöpft waren, ist offenkundig.
Vielen Dank. – Der nächste Fragesteller: der Kollege Stephan Brandner, AfD-Fraktion.
Auch ich beschäftige mich mit der Coronafrage im weitesten Sinne und dabei mit den zwei Applikationen, den beiden Apps, die sozusagen im Angebot der Bundesregierung sind. Es gibt ja diese Datenspende-App von Anfang April, die aus meiner Sicht wohl eher ein Ladenhüter war. Also ich habe zumindest keine genauen Zahlen gefunden, die belegen, wie viele Personen in Deutschland davon Gebrauch gemacht haben. Diese Datenspende-App soll ja über Smart-Uhren Körperdaten erfassen und an das Robert-Koch-Institut weiterleiten, angeblich anonymisiert. Auf der anderen Seite gibt es die Corona-Warn-App, die gestern angeblich mit sehr großem Erfolg gestartet ist.
Die erste App, diese Datenspende-App, weiß also, wer ich bin, kennt meine Körperdaten, meine Körperfunktionen, und diese Daten werden an das Robert-Koch-Institut übermittelt. Die zweite App weiß, wo ich bin. Bisher sind beide Apps getrennt. Jetzt habe ich in einem Interview mit Ihnen, Herr Braun, das Sie am 16. Juni T-Online gegeben haben, gelesen, dass Sie davon reden, in der Corona-Warn-App die Funktion einer Datenspende an das Robert-Koch-Institut einzuführen, also aus meiner Sicht diese beiden bisher getrennten Apps – Körperdaten und Aufenthaltsorte – zusammenzuführen.
Meine Frage dahin gehend ist: Welche Daten sollen in die Corona-Warn-App zuerst eingespielt und dann aus ihr übermittelt werden und warum?
Für die Frage bin ich Ihnen ernsthaft dankbar.
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Denn das Missverständnis müssen wir wirklich gleich mal aufklären: Das hat gar nichts miteinander zu tun. Die Datenspende-App war in der Tat vom Robert-Koch-Institut ins Leben gerufen worden, um mitten in der Pandemie mehr Informationen gesundheitlicher Art zu bekommen. Das hat mit unserer Corona-Warn-App nichts zu tun, auch nicht in Zukunft.
Was wir uns bei der Corona-Warn-App überlegt haben, ist Folgendes: Als wir damals den dezentralen Ansatz gewählt haben, haben wir ja entschieden, dass außer den „Nummernschildern“, den pseudonymisierten Daten von Infizierten, die dann allen anderen zur Verfügung gestellt werden, damit sie gewarnt werden können, überhaupt keine Daten in irgendeiner Weise aus dem eigenen Handy ausgeleitet werden. Das heißt, all die Fragen, die Sie in den nächsten Wochen bewegen werden – wie viele Leute wurden alarmiert, wie viele Kontakte wurden informiert? –, können wir nicht beantworten, weil wir es nicht wissen, weil die App freiwillig und dezentral ist und deshalb keinerlei Daten dem Robert-Koch-Institut und schon gar nicht der Bundesregierung zur Verfügung stehen.
Es gibt aber zwei Dinge, die von allgemeinem Interesse sind. Das eine ist, zu erfahren, ob der rechnerische Algorithmus, der in der App das Risiko einschätzt, eigentlich präzise oder verbesserungswürdig ist. In Apps, die mit Datenschutz wenig zu tun haben, in sozialen Netzwerken, werden sekündlich die Algorithmen anhand der Erfahrungen im wirklichen Leben neu justiert. Sie lernen und werden besser; aber unsere App lernt momentan nichts. Deshalb denken wir darüber nach, ob in einer nächsten Version die App entweder so weiter genutzt werden soll wie bisher – es ändert sich nichts; es entsteht auch kein Nachteil – oder ob die Funktion einer Datenspende eingeführt werden soll, bei der man erklärt: Ich bin bereit, meinen Datenverlauf an das Robert-Koch-Institut zu melden. – Dann hätten wir die Chance, aufgrund dieser freiwillig abgegebenen Daten ein solches Lernen zu ermöglichen und epidemiologische Auswertungen vorzunehmen. Aber auch hier gilt das Prinzip der doppelten Freiwilligkeit. Die App zu nutzen, ist freiwillig, und die Datenspende erfolgt nur freiwillig, nur nach Wunsch, nicht notwendigerweise. Das würde den Nachteil der dezentralen Lösung ausgleichen im Hinblick auf die Fragen: Wie werden wir immer präziser, damit wir die Richtigen warnen? Können wir ein paar grundepidemiologische Ausleitungen anhand der Daten machen, die an das Robert-Koch-Institut, völlig anonymisiert und völlig freiwillig, geschickt werden? Das ist jetzt noch nicht spruchreif. Aber das ist der nächste Gedanke; das sollten Sie wissen. Mit Gesundheitsdaten, Standortdaten und personenbezogenen Daten wird die Corona-Warn-App niemals etwas zu tun haben.
Zufrieden oder Nachfrage? – Nachfrage.
Ich bin eigentlich unzufriedener als vor meiner Frage. Deshalb stelle ich gerne eine Nachfrage. – Herr Braun, mir liegt das Interview vor. Da loben Sie zunächst mal die Corona-Warn-App. Höchste Datenschutzqualität werde es geben; aber es würden Daten fehlen. Dann werden Sie gefragt, welche Daten denn fehlen, und dann sagen Sie angeblich wörtlich:
Wir
– also wahrscheinlich die Bundesregierung –
wollen im zweiten Schritt eine anonyme Datenspende in der App einführen, sodass Nutzer – vollkommen freiwillig! – ihre Daten dem Robert-Koch-Institut übermitteln können.
Sie wollen also die beiden Apps zusammenführen.
Meine Frage noch mal: Um welche Daten geht es denn da konkret?
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Was haben denn beispielsweise der Herzschlag oder die Körpertemperatur – die ja erfasst werden über diese sogenannten Smartwatches – damit zu tun, ob jemand an Corona erkrankt ist oder nicht?
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Wollen Sie noch mal wiederholen?
Das Wort „Datenspende“ hat nicht diese eine App gepachtet, sondern bei allen Daten, die man hat, kann man sich überlegen, ob man sie jemandem gibt oder nicht. Bei der Datenspende aus der Corona-App geht es nur um die Daten, die die Corona-App selber hat, das heißt um die völlig anonymisierten Daten über die eigenen Kontakte nur zu dem Zweck, dass wir diese App optimieren können. Es geht dabei nämlich um die Frage – darüber wird es auch noch Diskussionen geben; das Thema ist noch nicht abgeschlossen –: Wenn einige Leute sich bereit erklären, ihre Daten an das Robert-Koch-Institut auszuleiten, und wir dadurch den Algorithmus hinter dieser App für uns alle besser machen, dann kann es sehr gut sein – das ist jedenfalls meine Hoffnung, und es ist auch realistisch –, dass wir weniger Leute warnen müssen, dass möglicherweise weniger Leute in Quarantäne gehen müssen und wir präziser sagen können, wer wirklich ein Risiko hat, sich angesteckt zu haben.
Also haben wir es hier auch mit einem Instrument der Grundrechtswahrung zu tun. Deshalb ist, glaube ich, die Diskussion sinnvoll. Aber weil uns klar war, dass es schwieriger ist, das zu erklären, als zu sagen, dass die App nichts ausleitet, ist das im ersten Schritt nicht enthalten. Das ist erst der nächste Schritt, und über den werden wir sensibel reden. Damit Sie es noch mal ganz klar haben: Mit persönlichen Gesundheitsdaten, mit Smartwatches, mit Herzschlag, mit Bewegungsprofilen hat und wird die Corona-Warn-App niemals etwas zu tun haben.
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Vielen Dank. – Unmittelbar dazu – wenn der Beifall verklungen ist – die Kollegin Annalena Baerbock, Bündnis 90/Die Grünen.
Aus meiner Sicht ist es sehr gut, dass die App jetzt an den Start gegangen ist, und im Sinne des gesamten Landes und des Schutzes unserer Bevölkerung wäre es sicher gut, wenn auch jeder hier im Deutschen Bundestag sie sich entsprechend runterladen und sie anwenden würde. Es ist freiwillig – das ist richtig –, und das kann auch jeder selbst entscheiden; aber es hätte eine Vorbildfunktion. Nichtsdestotrotz hat man ja gestern festgestellt: Für einige Menschen, die sich die App runterladen wollten, um ihre Mitmenschen zu schützen bzw. schneller Daten zu generieren, war das leider nicht möglich, insbesondere bei älteren Geräten. Das betrifft ja einen großen Teil der Bevölkerung, gerade auch jüngere Menschen, bei denen ja stark darauf gehofft wird, dass sie sich an der Nutzung dieser App beteiligen.
Sie haben gerade von der zweiten Version gesprochen. Mir ist auch klar, dass es im Hintergrund schon etliche Schwierigkeiten im Hinblick auf Schnittstellen mit den beiden Anbietern gegeben hat. Nichtsdestotrotz: Werden Sie da Druck machen, damit die Installation auf jedem Handy entsprechend möglich ist und man nicht unbedingt das neueste Gerät haben muss, damit die Durchdringung der Bevölkerung dann auch wirklich gewährleistet werden kann? Das betrifft insbesondere die Menschen, die sich die App runterladen wollen, das aber leider nicht tun können, weil sie nicht genug Geld haben, sich ein neues Handy zu beschaffen.
Wir sind im ständigen Austausch auch mit den großen Herstellern der Betriebssysteme. Da sind wir in der Tat nicht ganz frei. Wenn das Betriebssystem des jeweiligen Handys nicht kooperiert, dann besteht keine Möglichkeit, diese App vernünftig dort aufzuspielen. Da anders vorzugehen, hatten wir sozusagen in der Diskussion am Anfang sehr lange überlegt; das haben andere Länder auch gemacht. Eine so programmierte App ist aber völlig unpraktikabel; die müsste nämlich immer im Vordergrund laufen. In dem Moment, wo man telefoniert, eine SMS schreibt oder irgendeine andere Funktion des Handys benutzt, würde die Kontaktnachverfolgung abbrechen, weil ein normales Betriebssystem im Hintergrund die Bluetooth-Funktion aus Energiespargründen abschaltet. Deshalb sind wir bei der Installation der App darauf angewiesen, dass wir ein Betriebssystem haben, das ebendiesen Betrieb im Hintergrund ermöglicht, und dadurch kommt jetzt die Einschränkung zustande, dass es eben nur eine begrenzte Zahl von Handys gibt – es sind allerdings die allermeisten –, auf denen sie eingesetzt werden kann. Wir reden mit den Herstellern der Betriebssysteme weiter darüber, ob Erweiterungen möglich sind. Aber das kann ich momentan noch nicht abschließend zusagen.
Gut. – Dann noch eine Nachfrage unmittelbar dazu. Der Kollege Dr. Achim Kessler, Fraktion Die Linke.
Herr Minister, wir haben es sehr begrüßt, dass Sie im Zuge der Weiterentwicklung der Ursprungsidee der App unter dem Druck der Öffentlichkeit einen Kurswechsel hin zu mehr Transparenz und zu mehr Datensparsamkeit vorgenommen haben. Unverständlich ist uns geblieben, dass Sie für diese App nicht, wie ursprünglich angekündigt, eine gesetzliche Grundlage gewählt haben, was ja unter anderem auch ermöglicht hätte, diese Freiwilligkeit, die Sie immer betonen, gesetzlich abzusichern. Das ist nach wie vor ein großes Problem, weil Freiwilligkeit nicht nur rechtlich eingeschränkt werden kann, sondern auch durch sozialen Druck. So muss laut dem Arbeitsrechtler Professor Fuhlrott zum Beispiel der Arbeitgeber informiert werden, wenn die App Alarm schlägt, dass jemand infiziert ist. Solange jemand aber keine Symptome hat, gilt er nicht als arbeitsunfähig. Das heißt also, er muss dann gegebenenfalls mit Lohneinbußen rechnen. Wie wollen Sie denn ohne gesetzliche Grundlage sicherstellen, dass es nicht zu solchen Nachteilen zum Beispiel für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer kommt?
Also, ich empfehle Ihnen, sich auch mal unsere Ausarbeitungen dazu auf der Homepage der App anzuschauen; da ist das sehr präzise dargestellt. Denn man muss sich klarmachen, welchen rechtlichen Status die App hat. Wenn wir es komplett freiwillig machen, wenn wir das sozusagen nicht als staatliches Projekt machen, sondern sagen: „Das ist eine App, die gibt es im App Store, und wer möchte, kann die freiwillig nutzen“, dann warne ich uns davor, jetzt die verschiedensten gesetzlichen Fragen darauf aufzubauen. Das ist auch unnötig; denn den Vergleichsfall gibt es in der analogen Welt. Es gilt immer der Grundsatz: Was in der analogen Welt gilt, gilt in der digitalen auch.
Wenn ich vorgestern mit einem guten Freund zusammengesessen habe, der mich heute anruft und sagt: „Ich habe heute einen positiven Coronatest bekommen. Wir saßen vorgestern zusammen. Da musst du dir jetzt mal überlegen, was du machst. Es könnte ja sein, dass ich dich angesteckt habe“, ist das der gleiche Fall, wie wenn man sozusagen App neben App zusammensitzt: Der Kontakt wird festgestellt, ich werde positiv getestet, löse die Information aus, und bei dem anderen erscheint dann eben das Warnsignal „höheres Risiko“. Das ist der gleiche Fall; den haben wir in der analogen Welt bei jeder Infektionskrankheit und hatten ihn auch bei Corona schon hundertfach, die ganze Zeit. Das, was dann empfohlen wird, ist, dass man unmittelbar mit dem Gesundheitsamt oder dem Hausarzt oder unserer entsprechenden zentralen Telefonnummer Kontakt aufnimmt. Dann kann unmittelbar die Krankschreibung, die Quarantäne oder eben die Entwarnung erfolgen. Und deshalb entsteht da kein neues Problem. Das muss man klar sagen. Es ist das Gleiche wie bisher auch.
Noch eine Frage? – Ja, bitte schön.
Aber, Herr Minister, Sie können doch das Problem nicht einfach wegleugnen. Wir wissen natürlich, dass unter Umständen ein Druck aufgebaut wird, diese App zu nutzen.
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Was machen Sie denn bzw. welche Maßnahmen treffen Sie denn, damit zum Beispiel ein Arbeitgeber nicht verlangt, dass diese App auf Diensthandys aufgespielt und eingesetzt wird? Da müssen Sie sich doch Gedanken gemacht haben, wie man solchem sozialen Druck entgegentritt, der die Freiwilligkeit beeinträchtigt.
Das ist auch ganz einfach: Diese App hat einen Schieberegler. Die können Sie aufspielen, die können Sie einsetzen, und Sie können die Kontaktnachverfolgung ausschalten. Damit unterstreichen wir sozusagen noch mal das Prinzip „Freiwilligkeit“.
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Ich habe in der ersten Pressekonferenz – und ich sage das auch hier gern wieder – immer wieder gesagt: Es ist von der Bundesregierung nicht nur nicht erwünscht, dass Arbeitgeber oder Kinobetreiber oder Restaurantbesitzer das verpflichtend machen, sondern es ergibt auch gar keinen Sinn; denn diese App muss ich einsetzen. Ich muss das Handy mit mir tragen, ich muss Bluetooth einschalten und die Kontaktnachverfolgung aktivieren. Wenn ich das konsequent tue, dann erfahre ich mehr über mein individuelles Risiko. Wenn ich sage: „Ich möchte gar nicht, dass da irgendwann mal was rot aufleuchtet“, dann kann ich das Handy liegen lassen, ich kann die Kontaktnachverfolgung ausstellen, ich kann das Bluetooth abschalten. Es gibt tausend Möglichkeiten, keine gescheite Auskunft zu geben. Deshalb würde eine App-Pflicht auch dem Arbeitgeber nichts nützen. Auch der Restaurantbetreiber kann deshalb sozusagen das Feststellen seiner Gäste, was wir ihm infektiologisch aufgegeben haben, nicht aufgeben. Das ersetzt nichts. Die App ist nur für einen selbst.
So, jetzt gibt es noch zwei Fragen zu diesem Thema: vom Kollegen Zimmermann und vom Kollegen Höferlin. – Kollege Jens Zimmermann.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister, Sie haben in dieser Befragung jetzt einige Antworten zur Corona-App geben müssen; die haben mich auch überzeugt; das will ich sagen. Eine Ihrer wichtigsten Verteidigungslinien war: dezentraler Ansatz, Datensparsamkeit. Ich will ausdrücklich loben, dass Sie und auch Minister Spahn sich vor einigen Wochen dafür entschieden haben, diesen Weg zu gehen, anders als zum Beispiel jetzt in Frankreich, wo alles zentral gespeichert wird und wo wir in große Datenschutzprobleme hineinlaufen.
Deswegen meine Frage an Sie: Glauben Sie, dass das nicht auch ein Ansatz für andere Projekte sein könnte – Open Source und Datensparsamkeit –, dafür zu sorgen, gegenüber den großen amerikanischen Plattformen oder auch den chinesischen Ansätzen wettbewerbsfähig zu sein?
Ja, absolut. Also, das könnte man jetzt einfach mit Ja beantworten.
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Aber ich will gerne noch dazusagen, dass ich sowieso glaube, dass wir in Deutschland häufig das Gefühl haben, im Bereich der Digitalisierung mit dem asiatisch-pazifischen Raum oder den USA irgendwie nicht mithalten zu können. Die App ist ein Beispiel dafür, dass das Gegenteil der Fall sein kann. Wenn wir hohe Datenschutzstandards ansetzen, wenn wir Diskriminierungsfreiheit bei KI zum Leitmotiv machen, wenn wir IT-Sicherheit als Grundlage sehr gut umsetzen, dann, glaube ich, ist genau das verhältnismäßig. Es geht um Werte, die wir in Europa haben, es geht um Prinzipien, die wir in Europa haben, und wenn wir diese sozusagen jetzt in der Digitalisierung umsetzen, dann haben wir eine ganz große Chance, dass Digitalisierung made in Europe eben ein besonderes Maß an Glaubwürdigkeit besitzt.
Insbesondere was das Thema „Open Source“ betrifft, muss ich wirklich sagen: Wir haben mehr Rückmeldungen zu dieser App bekommen, als wir erwartet haben. Das hat uns in der ersten Sekunde erschreckt, weil das auch für die Entwickler sehr viel Arbeit war. Aber da kamen sehr viele fundierte Hinweise, wie man die App besser machen kann. Wir haben das meiste davon auch wirklich eingebaut, weil es kluge, wichtige Hinweise waren. Insofern: Die Community an so einem Projekt mitarbeiten zu lassen, ist aus meiner Sicht ein großer Erfolg. Ich bin auch überzeugt: Es wird beispielgebend sein für weitere Projekte der Bundesregierung.
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Gut. Sie kommen ja sowieso gleich noch mal dran. – Der Kollege Manuel Höferlin. Bitte schön.
Danke schön, Herr Präsident. – Herr Minister, ich möchte noch mal kurz zurückkommen zu dem Thema „ältere Geräte“. Wir sind uns ja einig, dass möglichst viele Menschen die App installieren können sollen. Mir ist klar, dass das eher eine Frage des Betriebssystems ist, also die Hersteller der Geräte betrifft, als eine Frage der Software, weil die Funktion der Kontakterkennung ja im Betriebssystem verankert ist. Jetzt betrifft das aber eine sehr große Anzahl von Geräten. Zum Beispiel ist es nicht möglich, auf iPhones wie dem Modell 5s oder dem Modell 6, die dazu durchaus in der Lage wären, da sie mit einem 64-Bit-Betriebssystem laufen, die Corona-Warn-App zu installieren. Würden Sie sich den Forderungen an Apple anschließen, für diese endlich ein iOS-Update anzubieten? Denn es liegt nur an Apple, dies zu machen. Es ist ja lediglich eine betriebswirtschaftliche Frage, das nicht zu machen.
Die zweite Frage: Wie gehen wir mit den vielen Nutzern um, die zum Beispiel bei einem großen deutschen Telekommunikationsanbieter Huawei-Handys gekauft haben, denen ja ein Android-System zugrunde liegt? Die haben zwar, soweit ich weiß, auch diese Google-/Apple-API in ihr System eingebaut und sind grundsätzlich Corona-Warn-App-ready, aber man kann sie derzeit nicht aufspielen.
Alles richtig und auch alles Dinge, die wir in den Gesprächen mit den verschiedenen Herstellern und Betriebssystemanbietern thematisieren. Es sind jetzt sozusagen zwei Tage seit dem Launch vergangen. Wir haben jetzt erst mal so viele Geräte eingeschlossen, wie möglich war. Das Weitere müssen wir in Gesprächen klären. Dazu kann ich jetzt noch kein Versprechen geben; aber es ist natürlich unser Ziel.
Mit dieser API, die wir jetzt haben, sind die meisten Handys, die in Deutschland auf dem Markt sind, erreichbar. Wir haben natürlich auch ein Interesse daran, dass die Corona-Warn-App noch mehr Leuten zur Verfügung steht. Aber wie weit wir da kommen, bleibt offen. Da kann man jetzt noch nicht einzelnen Handybesitzern Entwarnung geben, die von diesem Problem betroffen sind.
Okay? – Nein. Nachfrage.
Die Frage zu Huawei-Handys wurde nicht beantwortet. Sie haben sich jetzt mehr auf die Google/Apple-Geschichte bezogen. Die Frage bezog sich explizit aber auch auf die Handys des Unternehmens Huawei, die ja von der Telekom stark in den Markt gebracht wurden.
Da handelt es sich im Wesentlichen ja auch um Android-Systeme. Über das Vehikel dieses Betriebssystem reden wir natürlich auch.
Gut. – Dann machen wir weiter in der Reihenfolge. Der nächste Fragesteller: Kollege Jens Zimmermann mit neuem Thema.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Nicht ganz neues Thema, aber jetzt muss ich mir nicht überlegen, wie ich das beim Thema Corona-App noch mit einbaue. Es passt jedenfalls zu Ihren Ausführungen, in denen Sie ja zu Recht ein hohes Lied auf die digitale Souveränität angestimmt haben. Dem will ich mich anschließen. Dennoch stellt sich nach wie vor im Zusammenhang mit der digitalen Souveränität in Deutschland und in Europa – wir reden über den 5G-Ausbau; wir haben im Konjunkturpakt dafür 5 Milliarden Euro zusätzlich vorgesehen – die Frage der IT-Sicherheit bzw., wie wir es mit einem politischen Vorbehalt halten, was bestimmte Ausrüster angeht. Ich glaube, das ist eine Frage, die alle umtreibt und die ganz dringend schnell beantwortet werden muss; denn es macht wenig Sinn, 5 Milliarden Euro aus einem Konjunkturpaket zu investieren, wenn immer noch nicht klar ist, welche Netzwerkausrüster eigentlich dafür genutzt werden können.
Vielen Dank. – Diese 5 Milliarden Euro sind aus meiner Sicht ein starkes Signal. Bisher diskutieren wir immer die Fragen, ob wir irgendjemandem im deutschen Markt Schwierigkeiten machen oder nicht und ob es vertrauenswürdige Anbieter gibt, die im Wesentlichen aber nicht in Deutschland sitzen, die man unterstützen kann. Ich mache mir schon seit langer Zeit darüber Gedanken, dass wir zwar immer wieder von technologischer Souveränität in Deutschland im digitalen Zeitalter reden, aber dann, wenn man sich mal anschaut, wo wir diese digitale Souveränität tatsächlich haben, einem nicht so viele Bereiche einfallen.
Die 5 Milliarden Euro sind deswegen sozusagen in dem zweiten Teil dieses Paktes enthalten, weil es weniger ein Konjunkturpaket im Sinne von schnell, sondern ein Zukunftspaket im Sinne von langfristig ist. Unsere Strategie ist, in dem Bereich IT-Sicherheit und insbesondere bei der Sicherheit von Kommunikation sehr viel Geld in die Hand zu nehmen mit dem Ziel, da wirklich eine eigene industrielle Produktion aufzubauen. Das betrifft nicht nur Forschung und Entwicklung, sondern es soll eine eigene industrielle Fertigkeit sein. Das brauchen wir auch, weil ich davon überzeugt bin, dass wir uns als ein Land, das sich immer wieder anschickt, Exportweltmeister zu sein, in Zukunft sehr schwer damit tun, über Marktrestriktionen zu reden. Wir sollten vielmehr versuchen, diese Probleme über Wettbewerbsfähigkeit zu lösen. Und dafür sind diese 5 Milliarden Euro ein starkes Signal.
Okay? – Nachfrage.
Vielen Dank, Herr Minister. – Was den Ausbau der Infrastruktur generell angeht, sind wir einer Meinung. Die Frage – da will ich noch mal präzisieren – ist: Was plant das Kanzleramt auch mit Hinblick auf die Ressortabstimmung, die irgendwann demnächst eingeleitet wird, im IT-Sicherheitsgesetz zu tun, um möglicherweise durch den Bundessicherheitsrat oder ein anderes exekutives Gremium im Vorfeld, also ex ante, einen politischen Vorbehalt auch gegenüber gewissen Herstellern einzuführen?
Wir haben eben sehr intensiv über Artikel, die einen Wert von wenigen Cent haben, diskutiert, also Atemschutzmasken. Da sagen wir: Die müssen in Deutschland hergestellt werden, um Sicherheit, um Souveränität zu gewähren. – Hier reden wir über einen Zukunftsmarkt in Milliardenhöhe, für den wir in Europa noch Hersteller haben. Die überleben aktuell im Wesentlichen deshalb, weil sie den nordamerikanischen Markt komplett für sich haben. Aber die Deutsche Telekom kauft bei chinesischen Dumpinganbietern ein und leistet somit keinen Beitrag zur digitalen Souveränität Deutschlands.
Ihre Frage macht genau das Dilemma deutlich. Ich glaube, wenn wir über das IT-Sicherheitsgesetz reden, reden wir über Sicherheit. Wenn wir das mit der Frage von Dumpinganbietern bzw. Marktzugang vermischen, dann erwecken wir den falschen Anschein, als wollten wir in irgendeiner Weise wirtschaftliche Interessen unter dem Deckmäntelchen der Sicherheit verfolgen. Das darf auf gar keinen Fall der Fall sein. Wir haben im Hinblick auf fairen Handel und Wettbewerb Dinge wie das Außenwirtschaftsgesetz und andere Regelungen, wo wir auch auf Souveränitätsfragen eingehen. Beim IT-Sicherheitsgesetz geht es darum, höchste Sicherheitsstandards für den Ausbau unseres 5G-Netzes zu definieren. Aber es sind Sicherheitsinteressen und keine Wirtschaftsinteressen, die dort eine Rolle spielen dürfen.
Jetzt noch eine Nachfrage zu diesem Thema vom Kollegen Gustav Herzog, und dann machen wir weiter. Bitte schön.
Herr Minister, anschließend an das vorherige Thema: Es geht ja auch um Schnelligkeit. Die Mobilfunknetzbetreiber stehen unter einem großen Druck. Sie haben Versorgungsauflagen zu erfüllen. Sie müssen die Zusagen, die im zweiten Mobilfunkgipfel noch mal konkretisiert wurden, erfüllen. Und die Erwartungshaltung bei Funklöchern kennen wir ja alle. Also: Es muss gebaut und ausgerüstet werden. Jetzt besteht aber eine Unsicherheit – der Kollege Zimmermann hat es angesprochen –: Welche Komponenten für 5G kann ich zukünftig einbauen? Denn die Politik hat noch keine Entscheidung getroffen, was den Sicherheitskatalog, die Garantieerklärung, die Vertrauenswürdigkeitsprüfung angeht. Können Sie sich dem Gedanken anschließen, diese Regelungen – § 9b im neuen IT-SiG und § 109 TKG – vielleicht in einem eigenen Gesetzgebungsverfahren vorzuziehen, um zumindest für die TK-Ausrüster und die Betreiber sehr schnell Rechtssicherheit zu schaffen, statt vielleicht erst Ende des Jahres oder im Frühjahr nächsten Jahres?
Ja, absolut. Wir haben auch versprochen, dass wir die Fragen, die jetzt im Zusammenhang mit dem Ausbau von 5G entstehen, schnell beantworten, weil das richtig ist. Wir haben ja im Dezember letzten Jahres die Mobilfunkstrategie verabredet. Wir stocken jetzt, wenn Sie das im Nachtragshaushalt unterstützen, auch den Digitalfonds noch mal um eine weitere Milliarde Euro auf. Wir sind Ausbau-ready, auch für die weißen Flecken, die von den Ausbauauflagen der TK-Unternehmen nicht erfasst sind. Deshalb wollen auch wir eine schnelle Klärung dieser Fragen. Wir arbeiten von daher mit Hochdruck daran und werden das in Kürze dem Bundestag vorlegen.
Ich darf noch mal konkretisieren: Es geht um die Frage bezüglich § 9b im IT-SiG und § 109 TKG, also um diesen Sicherheitskatalog und alles, was damit zusammenhängt.
Den Sicherheitskatalog TKG lösen wir aus der großen TKG-Novelle heraus. Das wollen Sie zugesagt haben?
Ja.
Ja.
Aber sind Sie auch bereit, aus dem IT-SiG diese Frage herauszulösen? Denn da steht ja noch viel mehr drin: Verbraucherschutz, was das BSI alles in Zukunft machen soll.
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Also TKG ja, aber das IT-Sicherheitsgesetz muss man sozusagen in der Gesamtschau betrachten. Das, glaube ich, würde keinen Sinn ergeben.
Gut. Vielen Dank. – Der nächste Fragesteller: der Kollege Johannes Vogel, FDP.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister, Selbstständige fühlen sich in diesem Land von der Politik zu oft als Erwerbstätige zweiter Klasse behandelt, und das ist auch Thema jetzt in der Coronakrise.
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Hintergrund ist, dass die Soforthilfe nur für Betriebsausgaben verwendet werden kann und nicht für den sogenannten Unternehmerlohn. Das ist ein Problem für ganz viele: Coaches, Künstler, ganz viele andere moderne Selbstständige in diesem Land. Das Problem ist länger bekannt. Alle Bundesländer – alle 16, egal in welcher Regierungskoalition – haben die Bundesregierung aufgefordert, das zu ändern. Trotzdem haben Sie das bei der Verlängerung nicht getan.
Sie haben letzte Woche in der Sendung „maybrit illner“, als Sie genau auf dieses Problem angesprochen wurden, gesagt, das sei gelöst, es solle jetzt nur noch um das Ausmaß des Umsatzeinbruches gehen. Am nächsten Morgen hat das BMWi per Pressemitteilung klargestellt, dass das mitnichten der Fall ist, sondern das Problem bestehen bleibt. Meine Frage ist: Was gilt jetzt? Waren Sie in der Talkshow möglicherweise nicht tief genug im Thema – was verständlich wäre –, wollten Sie der kritischen Frage ausweichen – was sehr bedauerlich wäre –, oder gibt es Hoffnung, dass das Kanzleramt Druck macht auf BMWi, BMAS und BMF, das Problem doch noch zu lösen?
Also, ich habe sehr deutlich gesagt, dass sich das neue Programm am Umsatzausfall orientiert; das ist auch richtig. Das Zweite: Das Thema Unternehmerlohn haben wir aus grundsätzlichen Erwägungen anders gelöst. Die Frage ist, wie wir den Unternehmerlohn neu definieren, wie hoch er angemessenerweise in der Coronakrise ist. Wir können da den Inhaber eines größeren mittelständischen Betriebs – die Grenze liegt bei 249 Mitarbeitern – nicht mit dem kleinen soloselbstständigen Künstler vergleichen. Ich glaube, dass es nicht möglich ist, so etwas in angemessener Weise unbürokratisch und unanfechtbar zu lösen, gerade weil es sich dabei um ein Programm handelt, dessen Inanspruchnahme noch an anderen Kriterien geknüpft ist. So hätten wir am Ende ein Nebeneinander von Menschen, die entweder ihren Lebensunterhalt daraus beziehen oder nicht. Unter Gerechtigkeitsaspekten – auch wenn es erst mal gut klingt – kann ich mir dafür schlichtweg keine sehr gute Lösung vorstellen.
Wir haben deshalb von Anfang an die Vermögensprüfung und anderes im Bereich der Grundsicherung zurückgestellt, sodass derjenige, der jetzt durch die Coronakrise vorübergehend einen Einnahmeausfall hat, auf die Grundsicherung zurückgreifen kann, ohne die ganzen Vorbedingungen, die normalerweise bei einer längerfristigen Arbeitslosigkeit gelten, erfüllen zu müssen. Insofern ist es vielleicht kein Instrument, dessen Inanspruchnahme dem Einzelnen leichtfällt; aber unter Gerechtigkeitsaspekten – was die Höhe angeht – ist es ein eingespieltes und klar definiertes Instrument. Insofern gibt es für das Problem eine Lösung. Ich glaube nicht, dass uns am Ende ein Programm, das auch Unternehmerlohn berücksichtigt, unter Gerechtigkeitsaspekten zufriedenstellen würde.
Gut, vielen Dank. – Bitte schön.
Abgesehen davon, dass es bei der Vermögensprüfung durchaus Probleme gibt – Stichwort: Vermögen zur Altersvorsorge –, und abgesehen davon, dass die Selbstständigen natürlich sagen: „Moment mal, die Regeln beim Kurzarbeitergeld werden in der Krise extra verändert, das Kurzarbeitergeld wird erhöht, um den Gang zum Jobcenter zu vermeiden, und uns Selbstständige verweist ihr aufs Jobcenter“, und ich diesen Unmut absolut verstehen kann, ist Ihr Argument, ehrlich gesagt, nicht überzeugend.
Erstens. Wenn Sie dieser Überzeugung sind, sollten Sie sie dann nicht auch vor einem Millionenpublikum in einer Talkshow offen vertreten, auch wenn das die Zuhörer nicht zufriedenstellt?
Und zweitens. Wie passt es dazu, dass Länder wie zum Beispiel Nordrhein-Westfalen – für März und April gab es ein entsprechendes Übergangsprogramm – oder Länder wie Baden-Württemberg sehr wohl Lösungen für das Problem gefunden haben und alle Länder der Auffassung sind und der Bundesregierung auch dargestellt haben, dass das natürlich auch in einem Bundesprogramm lösbar wäre? Also, wollen Sie es nicht lösen, oder können Sie es wirklich nicht lösen? Letzteres ist nicht überzeugend, wenn es entsprechende Länderprogramme gibt, die genau das schaffen.
Jetzt will ich mal sehr deutlich sagen, dass ich bei der von Ihnen gesehenen Talkshow auch sehr deutlich darauf hingewiesen habe, dass es neben dem Unternehmensprogramm auch noch mit dem heute im Kabinett beschlossenen Kulturprogramm eine besondere Lösung gibt, die darauf hinarbeitet, dass Kultur wieder stattfindet. Ich glaube, es steht uns gut an, darüber nachzudenken, wie man das Stattfinden wieder möglich macht, und nicht, wie man sozusagen das Nichtstattfinden alimentiert. Das ist heute ein ganz wichtiger Schritt gewesen. 1 Milliarde Euro allein für den Kulturbereich ist im Verhältnis auch eine wirklich sehr, sehr hohe Summe. So, das ist das eine.
Das andere: Wenn die Länder in ihrer Verantwortung solche Programme auflegen, ist das in Ordnung. Aber wenn sich 16 Länder einig sind, dass der Bund was tun sollte, dann sage ich an deren Adresse nach fünf Jahren Koordinierung von Bund-Länder-Aktivitäten: Sie sind herzlich eingeladen, das auch selbst zu machen.
Vielen Dank, Herr Minister. – Wir beenden an dieser Stelle die Befragung.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 17. Juni 1953 demonstrierten fast 1 Million Menschen – eine Zahl, die man sich auch im Lichte mancher Demonstrationen, die wir in diesen Zeiten in Deutschland erleben, wirklich mal auf der Zunge zergehen lassen sollte – in über 700 Städten und Gemeinden in der ehemaligen DDR. Begonnen als Protest von Arbeitern entwickelte sich binnen weniger Stunden, ohne dass es Smartphones gab – sozusagen durch Mund-zu-Mund-Propaganda –, ein Volksaufstand.
Eine der wenigen demokratischen Massenbewegungen der deutschen Geschichte erreichte am 17. Juni 1953 ihren Höhepunkt und wurde dann mit Waffengewalt und Repressionen brutal beendet. Viele Menschen erfuhren das damals auf schreckliche Weise im wahrsten Sinne des Wortes am eigenen Leibe, und von einem solchen Schicksal möchte ich heute berichten, weil ich es für wichtig halte, dass wir auch die Namen und die Geschichten der damals betroffenen Menschen bewahren.
Gut gelungen ist das beispielsweise auch auf der Internetseite der Bundeszentrale für politische Bildung, auf der ich mir die Informationen über Paul Ochsenbauer besorgt habe:
Paul Ochsenbauer wird am 26. Juli 1937 in Leipzig als ältestes von vier Kindern geboren.
Er war 1953 also 15 Jahre jung.
Seine zwei Jahre jüngere Schwester Brigitte beschreibt die Familie als sehr harmonisch, der Vater sei nicht politisch aktiv gewesen, der Vater habe aber den Grundsatz vertreten, dass man sich seinen Namen durch Arbeit verdienen müsse. Die Kinder werden katholisch erzogen und dazu angehalten, Sport zu treiben, was den Eltern in ihrer eigenen Kindheit nicht möglich gewesen war.
Im Juni 1953 ist Paul Ochsenbauer im zweiten Lehrjahr als Schlosser … und steht kurz vor dem Berufsabschluss. Im Oktober des Vorjahres ist er dem „Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands" beigetreten und beteiligt sich dort am Arbeitskreis für Stadtgeschichte. Er ist aktiver Schwimmer und will nach seiner Lehre eine Segelflugschule besuchen. In der FDJ und dem FDGB ist er nach Auskunft seiner Schwester weniger aus innerer Überzeugung denn aus äußeren Zwängen Mitglied gewesen.
… Paul Ochsenbauer verlässt am 17. Juni 1953 morgens sein Elternhaus und bleibt verschwunden. Die Eltern stellen sofort Nachforschungen an, erhalten aber erst 14 Tage später, am 1. Juli, die polizeiliche Auskunft, dass ihr Sohn tot sei. Es ist von einem „tödlichen Unfall“ die Rede; Näheres erfahren die Eltern nicht.
Erst nach 1989, nach der Öffnung der DDR-Archive, wird deutlich, was wirklich geschehen ist. Er
– der 15-jährige Paul –
soll einen „Befehl abgerissen und einem sowjetischen Offizier ins Gesicht geworfen“ haben. Ob er daraufhin standrechtlich erschossen oder auf andere Weise getötet wurde, ließ sich bislang nicht klären.
Ein Kind für eine Lappalie!
Zusammen mit den anderen Toten des Volksaufstandes wird Paul Ochsenbauer am 20. Juni zwischen 2.15 Uhr und 7.30 Uhr auf dem Leipziger Südfriedhof
– namenlos –
eingeäschert, ohne die Angehörigen zu informieren, geschweige denn um Erlaubnis gefragt zu haben. Erst am 15. Juli, vier Tage nach Aufhebung des Kriegsrechtes in Leipzig, gibt der Staatsanwalt die Urnen zur Bestattung frei.
Die Kriminalpolizei wiederum lässt sich bis zum 4. August Zeit. So wird Paul Ochsenbauer am 14. August um 13.30 Uhr
– im kleinsten Familienkreis –
auf dem Friedhof Leipzig-Plagwitz beigesetzt.
Eine Familie ist gebrochen, ein Menschenleben genommen!
Seit 1994 erinnert in der Grab- und Gedenkanlage für die Opfer der stalinistischen Gewaltherrschaft im Urnengarten Nord auf dem Leipziger Südfriedhof ein Gedenkstein daran, auf dem die Namen der Opfer – auch der von Paul Ochsenbauer – vermerkt sind.
Freya Klier, die Bürgerrechtlerin, die in der DDR ebenfalls drangsaliert und inhaftiert wurde, Berufsverbote erhielt und schließlich ausgebürgert wurde, hat Paul Ochsenbauer 2013 in einem berühmt gewordenen Dokumentarfilm über den 17. Juni ein Denkmal gesetzt. Freya Klier wurde vor einigen Tagen mit dem Karl-Wilhelm-Fricke-Preis der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur ausgezeichnet. Der Preis erinnert an einen Menschen, den die Stasi sogar aus Westberlin in die DDR entführen ließ, um ihn mundtot zu machen. Karl-Wilhelm Fricke hat sich durch Haft und Strafe aber nicht mundtot machen lassen. Im Gegenteil: Nach seiner Entlassung wurde er Journalist. Die Repressionen in der DDR waren und blieben sein Thema – auch nach dem Fall der Mauer 1989.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine sehr verehrten Damen und Herren, die DDR hat die Freiheit vieler Einzelner systematisch brutal beschnitten. Sie war ein Unrechtsstaat.
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Das und die Opfer dürfen wir nie vergessen.
Die mutigen Aufständischen des 17. Juni traten für Freiheit und Demokratie ein. Viele von ihnen beriefen sich dabei auf eine Zeile der DDR-Hymne, die erst 1990 wieder ins Bewusstsein vieler rückte: „Deutschland, einig Vaterland“. Es hat 36 weitere Jahre gedauert, bis die Friedliche Revolution die Forderung nach Demokratie und Freiheit in ganz Deutschland verwirklichte.
Wir setzen den Freiheits- und Einheitsbewegungen im Herzen unserer Bundeshauptstadt nun ein Denkmal. Letzte Woche fand der symbolische Spatenstich für das Freiheits- und Einheitsdenkmal statt. Ich freue mich, dass wir uns am heutigen Gedenktag des 17. Juni 1953 auch über dieses Freiheits- und Einheitsdenkmal freuen können.
Ein letzter Satz als Beauftragter der Bundesregierung für die neuen Bundesländer: Ich bin sehr aufmerksam bei Demonstrationen, die in diesen Tagen und Wochen stattfinden und in denen direkte Bezüge zu den Repressionen in der ehemaligen DDR hergestellt werden, die so natürlich in keinster Weise der Wahrheit entsprechen. Deswegen will ich denen, die für sich in Anspruch nehmen, sie seien das Volk, ganz deutlich sagen: Sie sind jedenfalls nicht die Mehrheit des Volkes.
Danke schön.
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Vielen Dank, Herr Wanderwitz. Sie haben die Stasiunterlagenbehörde erwähnt. Das nehme ich zum Anlass, ganz herzlich Roland Jahn zu begrüßen, der als Beauftragter der Bundesregierung für die Stasiunterlagen auf der Tribüne an dieser Debatte teilnimmt. Herzlich willkommen!
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Nächster Redner ist der Kollege Tino Chrupalla für die Fraktion der AfD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte auch die Vertreter der Vereinigung 17. Juni 1953 e. V. auf der Tribüne begrüßen.
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Wir gedenken heute des Volksaufstandes am 17. Juni 1953, bei dem mindestens 55 Menschen zu Tode kamen – durch die Staatsgewalt im sowjetisch besetzen Teil Deutschlands. Unter den Opfern waren auch Frauen und Jugendliche.
Neben Leipzig und Berlin war meine Heimat Ostsachsen/Niederschlesien Zentrum des Widerstands. Der Protest richtete sich nicht nur gegen die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen, unter denen die Menschen zu leiden hatten. Die Wut richtete sich auch gegen die kommunistische Gewaltherrschaft und gegen die Nachkriegsordnung. In Görlitz und Niesky stürmten Arbeiter und mutige Bürger MfS-Kreisdienststellen und Gefängnisse und entmachteten die Staatsgewalt. Der Bürgermeister wurde spontan abgewählt. Für einige Stunden war Görlitz eine freie Stadt.
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Aber die Aufstände wurden schon bald mit brutaler Militärgewalt niedergeschlagen. In den Tagen nach dem Aufstand wurden Bürger mit Hausdurchsuchungen und Verhaftungen terrorisiert. Die Regierung deutete den Aufstand als faschistischen Umsturzversuch. 10 000 Menschen wurden in den Folgemonaten verhaftet. 16 angebliche Rädelsführer des Aufstands von Niesky wurden in einem Schauprozess in Dresden verurteilt. Die Ehefrau des Hauptangeklagten aus Görlitz erhielt folgenden Zweizeiler von der Staatsanwaltschaft:
Wir teilen Ihnen mit, dass Lothar Markwirth am 18.7.1953 zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt wurde. Das Vermögen wurde eingezogen.
Zwei Todesurteile wurden gefällt und vollstreckt. Trotz Gnadengesuch wurden Erna Dorn und Ernst Jennrich mit der Fallschwertmaschine hingerichtet. Für die harten Urteile zeichnete die First Lady des DDR-Justizterrors, Genossin Hilde Benjamin, verantwortlich; im Westen auch bekannt unter dem Namen „Rote Guillotine“.
Erinnerung heißt für mich, sich die Ereignisse noch einmal ins Gedächtnis zu rufen. Und Gedenken heißt, den Toten einen angemessenen Raum in unserem Bewusstsein zu geben. Sie starben als Märtyrer für die Freiheit – für unsere Freiheit.
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Ich bin nicht mit allem einverstanden, was die Bundeszentrale für politische Bildung macht. Aber ich begrüße die Tatsache, dass die Ermordeten vom 17. Juni auf der Homepage namentlich und mit Bild aufgeführt sind. Ein nationales Mahnmal für die Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft in Deutschland steht noch aus – die AfD sieht der baldigen Umsetzung erwartungsvoll entgegen.
Die Ära der stalinistisch-sowjetischen Besatzung Deutschlands ist beendet. Und auch Russland hat sich von der kommunistischen Gewaltherrschaft befreit. Mögen unsere Landsleute, die am 17. Juni ihr Leben ließen, in Frieden ruhen. Und mögen all die anderen politisch Verfolgten, die in den nachfolgenden Jahren in Gefängnissen zu leiden hatten und noch leben, ihren Frieden finden. Möge unser Land in Zukunft verschont bleiben von jeder Form der Gewalt- und Fremdherrschaft.
Ich danke Ihnen.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin in der Debatte ist für die Fraktion der SPD die Kollegin Katrin Budde.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der 17. Juni 1953 ist ein besonderer Tag. Ohne ihn und die mutigen Frauen und Männer dieses Tages säßen wir heute nicht hier. Wir säßen nicht hier im Reichstag als ein Parlament des wiedervereinten Deutschlands.
Dieser Tag war der erste Nadelstich, der den Sozialismus, der die Diktaturen in der DDR und Osteuropa, der die Macht der Sowjetunion ins Wanken gebracht hat. Der 17. Juni war der erste Volksaufstand im sowjetischen Machtbereich. Und die Männer und Frauen, die damals, an diesem Tag, zu über 1 Million an mehr als 700 Orten in der ehemaligen DDR auf die Straße gegangen sind, sind keine tragischen Heldinnen und Helden, wie man es oft lesen kann; es sind mutige Heldinnen und Helden, und es sind die Wegbereiter unserer heutigen Demokratie.
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Ihnen gehört unser Respekt, unsere Anerkennung, und ihnen gebührt Ehre.
Tauchen wir mal ganz kurz in die Jahre 1952 und 1953 in der DDR ein. 1952 hatte die SED beschlossen, den Sozialismus planmäßig aufzubauen. Die kasernierte Volkspolizei wurde in eine Armee umgebaut und ausgebaut. Die pazifistische Phase der DDR wurde für beendet erklärt. Es kam zusätzlich zu Enteignungen und zur Überführung von fast allen Betrieben in das sozialistische Eigentum. Die Zwangskollektivierung in der Landwirtschaft wurde durchgesetzt. Die Länder wurden aufgelöst, die Landtage und die Landesregierungen verschwanden. Nachdem die scheindemokratischen Strukturen, die es noch gab, schon 1952 zur Farce verkommen waren, wurde mit der Einführung der 14 Bezirke die vollständige politische Kontrolle über die Verwaltung übernommen – kontrolliert, bestimmt, geführt von den Ersten Sekretären der SED-Bezirksparteileitungen. Das war das Ende aller demokratischen Möglichkeiten und die klare Ansage: Es gibt einen zentralistischen Einheitsstaat.
Wenn man sich die Originaldokumente von Walter Ulbricht heute mal in der Audiothek anhört, denkt man: Das ist echt peinlich. – Und man wundert sich, dass es dann hinterher noch Hurrarufe gab. Das wirkt wie eine schlechte Comedy, wenn man da reinhört. Aber, meine Damen und Herren, für die Menschen, die im Osten gelebt haben, war das etwas ganz anderes: Das war das endgültige Ende von Freiheit und Demokratie, es war gefährlich, es war beängstigend, und es war einschüchternd.
Der Plan ging nicht auf. Die Waren des täglichen Bedarfs wurden immer rarer, immer teurer, die Situation verschärfte sich. Noch mehr mittelständische Betriebe wurden verstaatlicht, die Eigentümer wurden inhaftiert. Die Zwangskollektivierungen in der Landwirtschaft wurden verschärft, Tausende Bäuerinnen und Bauern wurden inhaftiert. Und das war nicht nur in der DDR so, meine Damen und Herren; das war überall im sowjetischen Machtbereich so. Die Biografien dieser Männer und Frauen, der unschuldigen Bäuerinnen und Bauern, der Selbstständigen, der Arbeiterinnen und Arbeiter, der Handwerker, der Intellektuellen, füllen die Gefängniszellen in den Erinnerungsstätten überall dort, wo es kommunistische Gewaltherrschaft gab.
Der Kampf gegen die Kirche verschärfte sich. Die Junge Gemeinde wurde als illegale Organisation verboten. Im April und Mai 1953 wurden Tausende Schülerinnen und Schüler, Studentinnen und Studenten deshalb von Oberschulen und Universitäten verwiesen, weil sie Mitglied der Jungen Gemeinde waren, weil sie Christinnen und Christen waren.
Bis April 1953 flohen 300 000 Menschen in den Westen. Die Zahl der politischen Inhaftierten, der Häftlinge, stieg von 37 000 auf 67 000. Und auch wenn nach Stalins Tod auf Geheiß der neuen sowjetischen Machthaber die Marionetten in der DDR die vielen Repressionen wieder zurückgenommen haben: Es half nicht mehr, es war zu spät. – Die Machthaber hatten sich getäuscht – Gott sei Dank. Sie dachten, sie könnten es mit einer inszenierten Rücknahme der Normenerhöhungen noch verändern, in den Griff bekommen. Aber nein! Die Normenerhöhungen und die Repressionen waren der Anlass, der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Aber es war bei Weitem nicht nur materieller Unmut.
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Der 17. Juni 1953 wuchs sich zu einem Volksaufstand aus, zu einer Massenerhebung mit Streiks und Demonstrationen. Und er mündete in weit mehr als materiellen Forderungen, nämlich in der Forderung nach freien Wahlen, dem Ende der deutschen Teilung, dem Rücktritt der Regierung und nach freien Gewerkschaften.
Wer sich die Originaldokumente von damals ansieht, der sieht die Hoffnung, der sieht den Mut, der sieht die Freude in den Gesichtern der Menschen auf den Straßen, der sieht, wie gut es ihnen tut, wenn sie in einer Gemeinschaft ähnlich Denkender für eine bessere Zukunft streiten. Damit hatten die Mächtigen in der DDR nicht gerechnet – und damit, dass sich das Volk erheben würde, schon gar nicht, genauso wenig übrigens wie im Herbst 1989.
Aber: Auch der Westen ist von diesem Volksaufstand in der DDR 1953 überrascht gewesen, genauso wie er es im Oktober 1989 war. Auch das gehört zur gesamtdeutschen Wahrheit. Keine der beiden Seiten des Kalten Krieges hatte mit solch einer Kraft und Zivilcourage gerechnet. Auch die Alliierten waren sowohl 1953 als auch 1989 überrascht und nicht wirklich erfreut, muss man sagen; denn sie hatten Angst, dass das dem Status quo der westeuropäischen Sicherheit schaden könnte.
Frau Budde, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein. – Niemand griff ein, niemand bezog wirklich Position für die Menschen unter sowjetischer Besatzung. Die Angst vor einem neuen Krieg war 1953 schlichtweg zu groß. Im Gegenteil: Hört man sich die Originaldokumente dieser Zeit, auch die des RIAS, an, stellt man fest, dass die DDR-Bürger schnell zur Besonnenheit aufgerufen werden. Es wurde gesagt: Eine Besatzungsmacht darf das eben. Die sowjetische Besatzungsmacht tat das auch: Sie rief das Kriegsrecht aus, ließ die Panzer rollen und beendete die Hoffnungen des 17. Juni blutig. Mehr als 50 Todesopfer, Tausende Inhaftierte und standrechtliche Erschießungen waren die Folge.
Und danach? Im Osten wurde der Volksaufstand totgeschwiegen und bewusst ausgeblendet, oder er wurde als Werk von ausländischen Faschisten, Kapitalisten und Agenten verunglimpft. Im Westen gab es zunächst große Aufmerksamkeit. Es wurde der Tag der deutschen Einheit, ein freier Tag. Aber was mit großer Aufmerksamkeit begann, endete schnell, je mehr sich die Teilung vertiefte, der Abstand da war und die Hoffnung auf eine deutsche Einheit schwand, mit einem Tag für Familienausflüge.
Aber der 17. Juni 1953 wurde auch benutzt, und zwar von allen, auch in der westdeutschen Politik. Adenauer begründete seine Politik der Westintegration damit, nur die Unterstützung der Westmächte werde die Wiedervereinigung bringen. Wehner hingegen forderte alle Besatzungsmächte auf, die Gespräche zu intensiveren und Anstrengungen in Richtung Wiedervereinigung zu unternehmen. Nur Brandt brachte es, für mich persönlich jedenfalls, auf den Punkt. Er sagte, für ihn war es ein Aufstand der Arbeiterklasse, in dem sich soziale und nationale Ziele verbanden. Er sagte: „Sie wollen demokratisieren, nicht restaurieren.“ Auch das ist durchaus eine Parallele zum Herbst 1989.
Der vergessene Tag? – Ich glaube, ja, aber bei mir persönlich nicht. Bei mir in der Familie wurde über den 17. Juni geredet, auch zu DDR-Zeiten, aber ich weiß inzwischen, dass das nicht überall der Fall war, auch im Westen nicht. Und trotzdem: Es ist wichtig, dass wir an den 17. Juni erinnern. Es war das erste Mal, dass sich das Volk erhoben hat Wir sind das den mutigen Menschen und Opfern des 17. Juni 1953 schuldig,
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wir sind das den Opfern der kommunistischen Diktatur, der Gewaltherrschaft der SED in den Jahren danach schuldig, wir sind das den mutigen Menschen des Herbstes 1989 schuldig, und wir sind es unseren Kindern schuldig. Denn wir dürfen Demokratie nicht verspielen. Wir müssen sie verteidigen, und wir müssen sie zukunftssicher machen.
Heute sind unsere Freiheitsrechte selbstverständlich für uns, auch für uns, die wir aus Ostdeutschland kommen. Aber sie waren es nicht immer. Sie wurden von den Frauen und Männern des 17. Juni 1953 und aus dem Herbst 1989 errungen. Im Jahr 2020 geht es darum, diese Rechte zu schätzen und zu nutzen als freie und mündige Bürgerinnen und Bürger, die die Frauen und Männer des 17. Juni 1953 unter den Bedingungen der Diktatur für einen kurzen historischen Augenblick auch waren. Deshalb muss der 17. Juni zum Lehrkanon an den Schulen und in der politischen Bildung gehören. Das ist wichtig, um die Wurzeln der Demokratiebewegung im Osten zu begreifen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin für die Fraktion der FDP ist die Kollegin Linda Teuteberg.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! „Kollegen, reiht Euch ein! Wir wollen freie Menschen sein!“ Dieser Ruf erschallte am 16. Juni 1953 in Berlin und auch an anderen Orten in der damaligen DDR. Eine Senkung der Arbeitsnormen, die Freilassung politischer Gefangener, der Rücktritt der Regierung der SED-Diktatur, freie Wahlen und die Einheit Deutschlands – mutig traten Menschen am 17. Juni 1953 in der ganzen sogenannten DDR für diese Ziele ein.
Die Hoffnungen der Demonstrierenden wurden schon im Laufe des Nachmittags zerstört, als sowjetische Panzer auffuhren, um den Aufstand niederzuschlagen. Trotzdem blieben die Ereignisse ein Trauma für die SED-Führung. Mehr als drei Jahrzehnte später fragte Stasichef Erich Mielke angesichts wachsender Bürgerproteste 1989: „Ist es so, dass morgen der 17. Juni ausbricht?“ Das zeigt das paranoide Verhältnis der DDR-Obrigkeit zu den Ereignissen im Juni 1953, allem zur Schau getragenen Selbstbewusstsein zum Trotz.
Erinnerung, um die es heute geht, kann vieles, im Guten und im Schlechten. Das Gedenken an den 17. Juni hat eine lange, wechselvolle Geschichte; Frau Kollegin Budde ist darauf eingegangen. Der 17. Juni ist ein herausragendes Ereignis deutscher und europäischer Freiheitsgeschichte.
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Wir haben den Auftrag, uns die Ereignisse immer wieder anzueignen, zu fragen: Was sollte davon Allgemeingut werden, was sollte Teil unserer kollektiven Erinnerung sein und bleiben? In diesem Zusammenhang möchte ich drei Punkte ansprechen.
Zum Ersten. Die Unterdrückung war Existenzbedingung des Sozialismus. Mit weiterer historischer Erfahrung und aktuellem internationalen Vergleich füge ich hinzu: Sie ist es auch weiterhin.
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Jene Tage im Juni 1953 ließen unübersehbar werden, dass die SED-Herrschaft keine Basis in der DDR-Bevölkerung hatte, dass sie nur mit brutaler Waffengewalt aufrechterhalten werden konnte. Von Wolfgang Leonhard ist überliefert, dass Walter Ulbricht 1945 bei der Rückkehr nach Deutschland sagte: „Es ist doch ganz klar: Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben.“ Am 17. Juni 1953 wurde selbst für den unbedarftesten Betrachter klar, dass das nicht mal mehr demokratisch aussah.
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Um es klipp und klar zu sagen: Die Menschen im Osten unseres Landes haben der SED nie in freien, geheimen und gleichen Wahlen ein Mandat erteilt, die Geschicke dieses Teils unseres Landes zu bestimmen.
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Und deshalb schrieb auch die „New York Times“ am 18. Juni 1953: „Wir wissen jetzt, und die Welt weiß es, dass in dem deutschen Volk ein Mut und ein Geist leben, die die Unterdrückung nicht ewig dulden werden.“ Da nützte auch die Diffamierung als vermeintlich faschistische Provokation ausländischer Agenten nichts.
Zweitens. Es wird manchen überraschen, wenn ich als liberale Politikerin darauf hinweise, dass 1953 vor allem eine große Streikwelle stattfand, also eine Art Arbeiteraufstand. Und dass es ohne diese Forderung der Arbeiter nach gerechter Entlohnung nie und nimmer zu den Massenprotesten gekommen wäre, die dann in der Forderung nach völliger Neuordnung der politischen Verhältnisse und schließlich in dem Wunsch nach Wiedervereinigung endeten. Das ist ein Beispiel für die Bildung falscher Gegensätze. Viele deuten die Ereignisse entweder nur als Arbeiteraufstand im Gegensatz zu einer Demokratiebewegung oder nur als demokratische Bewegung. Beides gehört aber zusammen und ist kein Gegensatz.
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Denn der SED-Staat war schon nach wenigen Jahren aufgrund seiner wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Verfassung nicht in der Lage, den Menschen ein vergleichbar gutes Auskommen zu sichern. Er hat nicht nur die Freiheitsrechte mit Füßen getreten, sondern er verwehrte den Menschen den Wohlstand, der in der Bundesrepublik schon bald zur Selbstverständlichkeit wurde. Es ist zu sagen, dass der größte Feind der SED nicht so sehr – wie es über die Landwirtschaft in der Planwirtschaft immer ironisch gesagt wird – Frühling, Sommer, Herbst und Winter waren. Nein, es waren die Ergebnisse einer ruinösen Wirtschaftspolitik, die hart arbeitende Menschen um ihren Lohn brachten.
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Die Lehre des 17. Juni ist nicht zuletzt die Erkenntnis, dass mit der Verstaatlichung der Betriebe auch der beschleunigte wirtschaftliche Niedergang einherging. Vom Schweigen darüber ist es nicht weit bis zu der Illusion, man hätte die DDR mit ein paar Reformen retten können; ein weites Feld für Verschwörungserzählungen. Als Freie Demokratin ist mir da wichtig: Die Menschen wussten damals – ob sie wegen wirtschaftlicher oder demokratischer oder beider Motive auf die Straße gingen –, dass die Freiheit unteilbar ist, dass wirtschaftliche und politische Freiheit sowie individuelle und gesellschaftliche Freiheit zusammengehören und nicht gegeneinander ausgespielt.
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Schließlich ist auch an den 18. Juni 1990 zu denken. Morgen vor 30 Jahren beschloss die Volkskammer eine Verfassungsänderung, mit der jeder Bezug auf den Sozialismus aus der damaligen Verfassung der DDR entfernt wurde.
Damit komme ich zu aktuellen Bezügen der Causa Borchardt, die eigentlich eine Causa von mehreren ist: von Herrn Riexinger und der Linken, von Frau Schwesig und Sozialdemokraten und manchen in der Union.
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Es geht um die grundsätzliche Frage, dass unsere Verfassung ein Samen ist und Freiheit auch hier unteilbar ist. Die Wirtschaftsordnung ist Teil der Verfassung. Berufsfreiheit, Eigentumsfreiheit und die Freiheit zur Bildung unabhängiger Gewerkschaften sind Inhalte unseres Grundgesetzes. Und wer sagt, er sei nur zum Hüten der Verfassung da, das habe mit der Wirtschaftsordnung nichts zu tun, der hat unser Grundgesetz leider nicht verstanden.
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Unser Grundgesetz ordnet nicht plump wie die damalige DDR-Verfassung eine bestimmte Wirtschaftsordnung an, aber es ist nicht beliebig oder neutral. Mit diesen Freiheiten zur Entfaltung des Menschen auch in wirtschaftlicher und beruflicher Hinsicht, hinsichtlich freier Gewerkschaftsbildung und Tarifautonomie wurden Weichenstellungen vorgenommen.
Wir sollten in den nächsten Wochen und Monaten, finde ich, zwei konkrete Dinge berücksichtigen:
Wir sollten den überfraktionellen Weg bei der Schaffung des neuen Opferbeauftragten suchen, den die Große Koalition übrigens versprochen hat; das sind wir den Opfern schuldig.
Wer sich mit der wechselvollen Geschichte des Gedenkens an den 17. Juni beschäftigt, der weiß, dass es in den Jahren der Teilung unseres Landes einen jährlichen Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland gab, mit einer Regierungserklärung des Kanzlers und einer intensiven Aussprache im Deutschen Bundestag. 30 Jahre Einheit in Freiheit – davon haben die Menschen, die am 17. Juni 1953 viel riskiert haben, geträumt – sind Grund genug für uns, ein starkes Zeichen zu setzen. Damit zu Feierlichkeit und Freude auch die Ernsthaftigkeit hinzukommt, sollten wir eine Debatte über die innere Einheit unseres Landes führen, und zwar anlässlich eines Berichts der Bundesregierung zur Lage im wiedervereinigten Deutschland, mit einer Regierungserklärung der Kanzlerin und einer Aussprache hier im Plenum dieses Hauses. Diese Aussprache ist notwendig, sie ist Ausdruck von Ernsthaftigkeit und Debattenfreude in einer reifen Demokratie. Sie gehört in dieses Parlament.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Als Nächste spricht für die Fraktion Die Linke die Kollegin Petra Pau.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der 17. Juni 1953 war in der DDR ein schwarzer Tag. Seit Längerem anschwellende Proteste wurden insbesondere durch die Sowjetarmee blutig niedergeschlagen.
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Es gab zahlreiche Tote, ungezählte Verletzte sowie Tausende Verhaftungen. Daran ist zu erinnern.
Proteste gab es vielerorts, nicht nur in Ostberlin. Die Gründe waren so vielfältig wie die Forderungen. Es ging um soziale Rechte, etwa Lohnerhöhungen oder die Rücknahme staatlich verordneter Arbeitsnormen, und es ging um Demokratie und Bürgerrechte, zum Beispiel um Pressefreiheit und die Forderung nach freien Wahlen. Die Reaktionen der SED-Spitze waren zwiespältig. Vielen sozialen Forderungen wurde infolge des 17. Juni entsprochen. Das führte zu Verbesserungen der Arbeits- und Lebensbedingungen für Millionen Bürgerinnen und Bürger. Die politischen Forderungen wiederum wurden missachtet, der Führungsanspruch der SED verfestigt und mithin der Sozialismus sowjetischer Prägung verhärtet. Mitglieder der SED, die diesen Kurs für falsch hielten, wurden aus der Partei geworfen, etliche gar inhaftiert. Andere, wie überhaupt viele Bürgerinnen und Bürger der damaligen DDR, verließen das Land gen Westen.
So gab es rund um den 17. Juni 1953 eine Entwicklung, die in vielem an den Herbst 1989 erinnerte und die schließlich zur Implosion des Sozialismus sowjetischer Prägung führte, und das nicht nur in der DDR, und – ich unterstreiche hier – das auch völlig zu Recht.
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Als Linke sage ich rückblickend: Ein Sozialismus, in dem soziale Rechte und Freiheits- und Bürgerrechte nicht als gleichwertig gelten, ist kein Sozialismus.
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Man darf soziale Rechte sowie Freiheits- und Bürgerrechte nicht gegeneinanderstellen und auch nicht miteinander verrechnen. Wer dies dennoch tut, ist nicht links.
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Das ist das Credo der Partei und auch der Fraktion Die Linke. Damit unterstreiche ich auch: Unser Bruch mit dem Stalinismus als System von 1989 gilt unwiderruflich. Wer das infrage stellt, ist kein Linker.
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Nun wurden soziale Rechte, Freiheits- und Bürgerrechte nicht nur im Sozialismus sowjetischer Prägung beschränkt oder ausgesetzt. Wir erleben das auch heute, weltweit. Überall, wo dies geschieht, ist Widerspruch gefragt.
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Deshalb möchte ich abschließend auf einen Umstand eingehen, der die soziale und politische Krise in der DDR damals beschleunigte. Die USA und die UdSSR befanden sich längst im Kalten Krieg. In beiden Ländern wurde massiv hochgerüstet. Damit wuchs der finanzielle Druck der Sowjetunion auf die DDR, den die SED-Führung an die Bevölkerung durchreichte. Mit Blick auf Aktuelles gebe ich zu bedenken: Wir erleben durchaus auch heute auf dieser Welt eine Militarisierung der Politik, verbunden mit einer gewaltigen Aufrüstung. Die Linke – das unterstreiche ich hier – ist dagegen: aus historischen, aus sozialen und aus Friedensgründen.
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Vielen Dank. – Der Kollege Bystron erhält Gelegenheit zu einer Kurzintervention.
Frau Pau, Respekt für diesen Drahtseilakt, den Sie hier vollbracht haben, und Respekt, dass Sie sich von dem Terrorregime der SED distanziert haben. Aber ich möchte Ihnen ein Zitat von Wladimir Iljitsch Lenin angedeihen lassen: Taten sprechen, nicht Worte. – Wenn Sie sich wirklich distanzieren, warum geben Sie als Partei dann das in diesem Unrechtsregime erworbene Vermögen nicht zurück?
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Wollen Sie antworten? – Nein. – Dann fahren wir fort in der Debatte. Nächste Rednerin ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Monika Lazar.
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– Herr Kollege Brandner, solche Zwischenrufe stehen Ihnen nicht zu, die sind respektlos.
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Ich glaube, das war ein ironischer Zwischenruf. Ich erteile Ihnen dafür einen Ordnungsruf.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Roland Jahn! „Wir fordern ein besseres Leben, wir fordern freie Wahlen“, mit diesen und anderen Losungen zogen vor 67 Jahren Leipziger Arbeiterinnen und Arbeiter ins Zentrum der Stadt. Bereits vor dem 17. Juni 1953 hatte sich in der ganzen DDR der Widerstand der Arbeiter gegen die harten Arbeits- und Lebensbedingungen und gegen die schlechte Versorgungslage formiert. Die Unzufriedenheit brach sich in Stadt und Land Bahn. Aus den Forderungen, Normerhöhungen zurückzunehmen, wurde der Ruf nach Freiheit, freien Wahlen, einer neuen Regierung und dem Ende des Sozialismus.
Aber noch am selben Tag wurde die Hoffnung der Aufständischen begraben. In Leipzig war die Streikwelle in der Nacht zuvor angekommen. Bis Mittag demonstrierten schon über 100 000 Menschen in der Stadt. In der Beethovenstraße versuchten viele, das Untersuchungsgefängnis zu stürmen, wurden aber mit Waffengewalt davon abgehalten. Um 14 Uhr trafen sowjetische Truppen ein und trieben die Demonstranten auseinander. Um 15 Uhr war in Leipzig der erste Tote zu beklagen. Ein 19-jähriger Mann starb, als Stasioffiziere und Volkspolizisten in die Menge schossen. Neun Tote und mindestens 95 Verletzte waren im Bezirk Leipzig zu beklagen. In den folgenden Tagen ebbte die Streikwelle zwar nicht komplett ab, aber das Ende des Aufstands war besiegelt. Bis zum 11. Juli 1953 galt in Leipzig das Kriegsrecht.
Unmittelbar nach dem Aufstand setzte eine große Verhaftungswelle ein. Von den fast 1 000 Verhafteten in Leipzig wurden in den Folgemonaten über 100 Personen zu langjährigen Haftstrafen verurteilt, einer auch zum Tode. Noch heute erinnern in der Leipziger Innenstadt zwei in Bronze gegossene Kettenspuren an die Niederschlagung des Aufstandes.
Warum sollte man nun so detailliert von den Ereignissen in einer Stadt sprechen? Wir müssen verstehen, dass sich die Geschichte des Aufstandes vom 17. Juni 1953 aus vielen unterschiedlichen Bildern der Hoffnung und des Leids zusammensetzt und dass sie an vielen verschiedenen Orten geschrieben wurde.
Ich persönlich hatte ja ein etwas schwieriges Verhältnis zu diesem Datum. Aufgewachsen in der DDR, wurde uns schon in der Schule beigebracht, dass damals ein vom Westen gesteuerter konterrevolutionärer Putschversuch unternommen werden sollte. Das war wenig glaubhaft und eben die typische SED-Bürokratensprache, die man schon sehr schnell satthatte und die mehr verbarg als erklärte. Die Interpretation in der Bundesrepublik fand ich allerdings auch nicht sonderlich überzeugend. Da überwog für mich eher ein wohlfeiler und paternalistischer Blick auf die armen Brüder und Schwestern im Osten.
Im Grunde war es für Ost- und Westdeutschland erst nach 1990 und nach der Friedlichen Revolution 1989 möglich, einen entstaubten und emanzipierten Blick auf die Ereignisse rund um den 17. Juni 1953 zu werfen. Die Aufstände in Polen und Ungarn 1956, der Prager Frühling 1968, die Streiks und Demonstrationen in Polen in den 1970er- und 1980er-Jahren und schließlich das Ende der Diktaturen in Osteuropa, das alles zeigt uns: Der Wunsch nach Freiheit lässt sich nicht für immer mundtot machen und von Panzern überrollen.
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So warf der 17. Juni 1953 seinen Schatten viele Jahre in die Zukunft und prägte die Ängste der Opposition in der DDR. Noch im September 1989, bei den ersten Montagsdemonstrationen in Leipzig, als das bisherige System schon erste Risse zeigte, und auch am 9. Oktober, dem entscheidenden Tag in Leipzig, war noch immer die Angst vor einer gewalttätigen Niederschlagung da, auch bei jungen Leuten. Doch zum Glück fielen diesmal keine Schüsse.
Der 9. Oktober 1989 zeigte, dass es möglich war, gemeinsam das Trauma des 17. Juni 1953 zu überwinden. Aus der Forderung nach einem besseren Leben war die Forderung nach Demokratie, Freiheit und Menschenrechten geworden, und der Staat konnte den Ruf nach Freiheit nun nicht mehr ignorieren. Die Opfer des 17. Juni 1953 mahnen uns, die Werte von Freiheit und Demokratie hochzuhalten und zu verteidigen, und das muss auch weiterhin unsere gemeinsame Aufgabe sein.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Manfred Grund für die CDU/CSU.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Andere Länder, andere Nationalfeiertage: In den USA ist es der 4. Juli als Tag der Unabhängigkeitserklärung, Frankreich hat den 14. Juli, Sturm auf die Bastille, und Russland begeht besonders den 9. Mai als Tag des Sieges über den Hitlerfaschismus. Wir erinnern uns hier und heute an den 17. Juni, welcher bis zur deutschen Wiedervereinigung der Nationalfeiertag der Bundesrepublik Deutschland war.
Warum überhaupt Nationalfeiertage? Zuallererst: Ohne Nationen mit einer gemeinsamen Geschichte keine Nationalfeiertage. An solchen Feiertagen versichern sich Nationen ihrer Geschichte, ihrer Identität, ihres Zusammenhaltes. Eine Nation ist stark vom Wir-Gefühl seiner Bevölkerung abhängig. Es geht – und ich nehme Bezug auf Ausführungen des Verfassungsrechtlers Ernst-Wolfgang Böckenförde – um das Staatsvolk als politische Schicksalsgemeinschaft. Im Nationalstaat ist der Zusammenhalt Grundlage des Gesellschaftsvertrages. Um auch in Krisenzeiten füreinander einzustehen, ist die Voraussetzung, gemeinsame Herausforderungen auch gemeinsam zu bewältigen.
Damit ist die Demokratie mehr als jede andere Regierungsform darauf angewiesen, dass ihre Bürger sie bejahen und mit Leben erfüllen. Ob diese Zustimmung nur vom Kopf oder auch vom Herzen ausgeht, es braucht zur Identifikation Symbole, und es braucht einen entspannten Umgang mit diesen Symbolen. Wenn wir nicht Flagge zeigen, eignen sich andere diese Symbole an. Und mit Bertolt Brecht finde ich: Man kann und man darf sein Land auch lieben.
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Und ja, es gibt auch einen fröhlichen Patriotismus und nicht nur einen Hurra-Patriotismus.
Aber zurück zum 17. Juni. Marion Gräfin Dönhoff veröffentlichte bereits eine Woche nach dem 17. Juni 1953 Folgendes:
Der 17. Juni 1953 wird einst und vielleicht nicht nur in die deutsche Geschichte eingehen als ein großer, ein symbolischer Tag. … Die erste wirkliche deutsche Revolution, ausgetragen von Arbeitern, die sich gegen das kommunistische Herrschaftsparadies empörten.
Und weiter:
Der 17. Juni hat unwiderlegbar bewiesen, dass die Einheit Deutschlands eine historische Notwendigkeit ist.
Andere Geschichtsbetrachter sehen im 17. Juni 1953 sogar den ersten Massenaufstand gegen die stalinistische Diktatur, gegen den stalinistischen Totalitarismus.
Nicht nur das historische Ereignis 17. Juni 1953 ist hier beschrieben, sondern auch seine Zuschreibungen als Revolution der Arbeiter gegen das kommunistische Herrschaftssystem, Einheit Deutschlands als historische Notwendigkeit, Aufstand gegen Totalitarismus. All diese Zuschreibungen mussten damals und seitdem bis heute bei jedem ordentlichen Kommunisten die Fußnägel zurückrollen; bei manchen bekennenden Linken ist das bis heute auch so geblieben.
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In der DDR-Geschichtsschreibung wurde der 17. Juni ganz schnell zum faschistischen Putschversuch erklärt, eingefädelt durch imperialistische Agenten im Auftrag der bösen Bonner Ultras. Das SED-Regime perfektionierte nach der Niederwerfung seinen Repressionsapparat mit MfS, kasernierter Volkspolizei, Kampfgruppen der Arbeiterklasse. Es folgten Schauprozesse, Säuberungswellen, Hinrichtungen, Zwangsaussiedlungen, Kirchenkampf, Mauerbau, Zwangskollektivierung, Verstaatlichung und Mangelwirtschaft, das ganze realsozialistische Elend also.
Wenn sich übrigens Erich Honecker – das sei hier auch erwähnt – mit seinen Geraer Forderungen einer eigenen DDR-Staatsbürgerschaft und der Auflösung der Erfassungsstelle von DDR-Unrecht in Salzgitter durchgesetzt hätte, dann hätten nach dem Mauerfall 17 Millionen Ostdeutsche Asyl in der Bundesrepublik beantragen müssen, weil sie eben nicht mehr Deutsche nach dem Grundgesetz gewesen wären.
Teile der westdeutschen Politik und der westdeutschen intellektuellen Öffentlichkeit waren schnell bereit, Honecker nachzugeben.
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So hatten alle damals SPD-regierten Bundesländer die Finanzierung der Erfassungsstelle Salzgitter eingestellt, wollten deren Arbeit beenden. In dieser Erfassungsstelle von DDR-Unrecht wurden auch die Verbrechen nach Niederschlagung des Volksaufstandes vom 17. Juni dokumentiert, und mancher Häftling in Bautzen hat nur überlebt in der Hoffnung, das an ihm begangene Unrecht wird dokumentiert, wird nicht vergessen, und die Täter werden vor Gericht gestellt.
Trotz aller Repressionen war der Wunsch nach Einheit des Vaterlandes nicht aufzuhalten. Die deutsche Einheit nahm ihren Lauf, und weder Ochs’ noch Esel hielten ihn auf.
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Wir gedenken heute des 17. Juni, und wir freuen uns auf unseren neuen Nationalfeiertag, den wir zum 30. Mal feiern, den 3. Oktober. Die Freiheitskämpfer von 1989 stehen auf den Schultern der Freiheitskämpfer von 1953.
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1989/90 wurde vollendet, was 1953 begann. Auch deshalb dürfen wir stolz sein auf unser Land, in welchem wir in Freiheit zusammenleben. Wir müssen es ja nicht alle gleichermaßen lieben.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Leif-Erik Holm für die Fraktion der AfD.
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Sehr geehrte Bürger! Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der 17. Juni 1953 ist und bleibt ein bedeutender Tag unserer Geschichte, weil er uns zeigt, dass wir Bürger den Lauf der Dinge beeinflussen können. Auch wenn der Aufstand damals blutig niedergeschlagen wurde, so war er dennoch der Grundstein für die spätere Friedliche Revolution. Wir können uns vor den Mutigen von damals nur verneigen.
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Aber was lernen wir aus diesem Tag? Der 17. Juni zeigt, dass Sozialismus immer mit Gewaltherrschaft einhergeht. Er funktioniert nur mit Zwang, weil die Menschen nämlich keine Lust haben, sich von einem Politbüro umerziehen zu lassen, sondern ihr eigenes Leben wollen. Sozialismus hat nie funktioniert und wird nie funktionieren.
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Aber können wir sicher sein, dass es nicht wieder versucht wird? Nein, können wir nicht. Das Kuscheln der Altparteien mit der umbenannten SED muss jeden erschrecken, der die Freiheit schätzt.
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Sogar die Union feiert heute Verbrüderung mit der SED nach dem Motto „Einmal Blockpartei, immer Blockpartei“.
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Anders lässt es sich nicht erklären, dass Sie, liebe Kollegen von der CDU, einer Betonkommunistin in Mecklenburg-Vorpommern ins höchste Richteramt als Verfassungsrichterin verholfen haben.
Mal abgesehen davon, dass Frau Borchardt nicht einmal die Befähigung zum Richteramt hat, ist sie Mitbegründerin der Antikapitalistischen Linken, die als linksextremistisch eingestuft wird und einem revolutionär-kommunistischen Weltbild anhängt. Distanziert davon hat sich Frau Borchardt nie. Im Gegenteil: Bis heute relativiert sie die vielen Mauertoten. Bei einer Gedenkminute für die Opfer im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern ist sie demonstrativ sitzen geblieben. Viel schlimmer kann man die Opfer nicht verhöhnen.
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Und das wohl Perfideste: Wenn die Zeitungsberichte stimmen, hat diese Frau als Bürgermeisterin in der DDR Republikflüchtlingen kurz vor deren Ausreise das Haus abgepresst. Wie kann man eine solche Frau zur Verfassungsrichterin wählen? Von allen linken Parteien erwarte ich ja nichts anderes. Aber dass die CDU einer solchen Person mit ins Amt verhilft, ist wirklich bemerkenswert.
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Ich sage dazu nur: Wer den Schutz der Verfassung einer Richterin überlässt, die mit der Verfassung offensichtlich Probleme hat, der macht den Bock zum Gärtner und wird damit selbst zum Risiko für die Demokratie.
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Im Übrigen ist diese Wahl im CDU-Heimatverband der Kanzlerin passiert. Wo ist eigentlich der Ruf von Frau Merkel, dass das rückgängig gemacht werden muss? Da ist sie doch auch schnell bei der Sache. Diesmal hören wir nichts, und das ist bezeichnend für den Zustand der CDU.
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Diese Partei betätigt sich heute als Steigbügelhalter für Linksextreme. Dass es dagegen bei Ihnen kein Aufbegehren gibt, das ist das Schlimme. Das zeigt die ganze Würstchenhaftigkeit Ihrer Truppe.
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Die Opferverbände kommunistischer Gewaltherrschaft haben die richtige Vokabel für dieses Verhalten der Union gefunden. Sie lautet ganz einfach: Schande. Die Bürger, die 1953 und 1989 gegen das kommunistische Regime auf die Straße gegangen sind, werden der CDU diese Totalkapitulation vor den SED-Jüngern nicht vergessen. Die CDU hat damit das Erbe der Wiedervereinigung und auch das Erbe der mutigen Männer des 17. Juni verraten.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion der SPD die Kollegin Elisabeth Kaiser.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Roland Jahn! Der 17. Juni ist ein denkwürdiger Tag in der deutschen Geschichte, dessen es zu erinnern gilt. Vieles können wir auch heute noch aus den Ereignissen von damals lernen. Vor 67 Jahren, im Frühsommer 1953, sorgte ein Volksaufstand in der damals noch jungen DDR für Panik bei Regierung und SED. Streiks in Betrieben, Demonstrationen in über 700 Orten, vor allem in Mitteldeutschland und Berlin, sowie bewaffnete Auseinandersetzungen erschütterten das Land östlich der Elbe.
Die Wucht und Dynamik der Geschehnisse und die Unzufriedenheit über die herrschenden Zustände überraschten nicht nur die Führungen in Ostberlin und Moskau, sondern auch in der Bundesrepublik und die westlichen Alliierten. Die Sowjetführung reagierte mit kompromissloser Härte, um den Aufstand niederzuschlagen. Dutzende Tote und mehr als 15 000 Inhaftierungen waren das Resultat.
Doch was war passiert? Während die Bundesrepublik sich mithilfe des Marshallplanes schnell von den Kriegsfolgen erholte, litt die DDR in den 50er-Jahren unter großen Wirtschaftsproblemen. Diese gründeten vor allem in enormen Reparationsleistungen an die sowjetische Besatzungsmacht. Als Konsequenz sollten die Arbeitsnormen um 10 Prozent erhöht und Gehälter sogar gekürzt werden. Dabei war die Versorgungslage aber schon prekär. Es fehlte vielfach an der Grundversorgung mit Lebensmitteln und Konsumgütern. Der Unmut der Bevölkerung stieg.
Zur existenziellen Not vieler Menschen kamen die politische Repression, Bevormundung und Verfolgung jener, die Kritik am Weg zum Sozialismus und an der Art der Regierungsführung übten. Deshalb gingen 1953 nicht nur Arbeiterinnen und Arbeiter auf die Straße, sondern auch Bauern, Angestellte, Verkäuferinnen und Verkäufer, sogar Mitglieder der SED und der Sicherheitsorgane. Sie alle protestierten gegen die Ignoranz der Staatsführung gegenüber ihrer Lebenslage und ihren Zukunftsängsten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der 17. Juni 1953 war lange vor meiner Zeit. Doch auch mir als junger Vertreterin dieses Hohen Hauses macht dieser Tag eins ganz klar: Wenn wir als Politikerinnen und Politiker die Sorgen der Menschen, die sich an uns wenden, nicht ernst nehmen, wenn politische Entscheidungen nicht transparent sind, wenn wir uns dem Verdacht aussetzen, käuflich zu sein, wenn unsere Taten nicht zu unseren Worten passen, dann handeln wir genauso ignorant wie die Politiker vor 67 Jahren.
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Die Coronapandemie hat die Wunden unserer heutigen Gesellschaft schonungslos offengelegt. Seit Jahren wissen wir, dass Pflegekräfte, Verkäuferinnen und Verkäufer, Lkw-Fahrerinnen und Lkw-Fahrer unterbezahlt sind. Dabei sind sie es, die unseren Alltag am Laufen halten. Die Kluft zwischen Arm und Reich, die Unterschiede zwischen Stadt und Land gerade beim Internetzugang, die Sorgen Alleinerziehender, die Einsamkeit älterer Menschen: All diese Probleme hat die Pandemie schlaglichtartig ins Bewusstsein geholt. Corona hat auch am gesellschaftlichen Zusammenhalt gerüttelt. Die Krise hat Existenzfragen aufgeworfen und Konflikte geschürt. Freiheitsrechte wurden beschränkt, um die Pandemie einzudämmen. All dies führte bei einem Teil der Bevölkerung zu verstärktem Unmut, trotz deutlich sinkender Infektionszahlen, trotz schnell und großzügig geschnürter Hilfspakete.
Diese Mischung aus Zukunftsängsten und Unverständnis wurde zu Misstrauen gegen politisch Verantwortliche. Frauen und Männer unterschiedlicher Herkunft, Junge und Alte gingen in Anticoronademos auf die Straße. Das ist ihr Recht; das muss unsere Demokratie aushalten. Genau darin liegt auch die Stärke unserer freiheitlichen Demokratie heute. Für die Möglichkeit, Unmut zu artikulieren, Missstände aufzuzeigen und dagegen zu protestieren, genau dafür gingen die Menschen 1953 und später 1989 auf die Straße. Der Opfer der Niederschlagung des Volksaufstandes gedenken wir heute. Ihnen gilt unser größter Respekt.
Die Vergangenheit und die aktuelle Situation lehren: Zur Überwindung von Krisen braucht es erst recht den solidarischen Zusammenhalt aller. Wut und Aggression nützen wenig, um die Ausnahmesituation zu meistern. Überlassen wir die Zweifler und Unzufriedenen nicht den Demagogen am rechten Rand! Helfen wir ihnen, trotz aller Einschnitte wieder Mut zu fassen! Wir, die oft als „die da oben“ wahrgenommen werden, müssen vor Ort konkrete Notlagen erfassen und hier im Parlament Auswege suchen. Das aktuelle Konjunkturprogramm ist ein erster wichtiger Schritt, um zügig aus der Krise zu kommen. Achten wir darauf, dass auch die Schwachen stark aus der Krise gehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der 17. Juni war bis 1990 in den westlichen Bundesländern ein nationaler Feiertag, der vom 3. Oktober, dem Tag der Deutschen Einheit, abgelöst wurde. Vergessen ist er nicht. Er ist heute unser Auftrag, sorgsam mit Freiheitsrechten umzugehen, Sorgen ernst zu nehmen und gemeinsam nach Lösungen zu suchen, um niemanden zurückzulassen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion der CDU/CSU die Kollegin Elisabeth Motschmann.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Roland Jahn! Mit der Straße des 17. Juni verbinden junge Leute die gewonnene Fußballweltmeisterschaft, Silvesterpartys, Volksfeste. Aber wissen sie noch, was eigentlich wirklich an diesem Tag geschehen ist? Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass dies kein Tag mit einem Verfallsdatum wird.
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An diesem Tag haben über 1 Millionen Menschen in Berlin und in 700 Städten der DDR demonstriert. Was haben sie denn gerufen? „Berliner kommt, und reiht euch ein! Wir wollen keine Sklaven sein!“ Keine Sklaven sein! Es ging um Arbeitsbedingungen, freie Wahlen, Menschenrechte und natürlich um den Abzug der sowjetischen Armee – völlig nachvollziehbare Forderungen.
Die Rufe nach Freiheit und Demokratie wurden brutal erstickt; das ist hier schon angeklungen. Was ich nicht verstehe, ist, dass die Linken bis heute von einem „faschistischen Putschversuch“ sprechen.
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Auf der Homepage der Linken kann man die Stellungnahme Ihrer Historischen Kommission zum 17. Juni nachlesen; sollten Sie vielleicht mal tun.
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Dort heißt es, „die Befunde der zeitgeschichtlichen Forschung“ bescheinigen „den sowjetischen Truppen ein maßvolles Vorgehen“.
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Meine Damen und Herren, diese Verharmlosung ist unglaublich und unglaublich verantwortungslos.
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Das Kriegsrecht wurde ausgerufen, der Aufstand wurde durch 600 sowjetische Panzer niedergewalzt, Menschen wurden standrechtlich erschossen, Demonstranten starben durch sowjetische Kugeln, etwa 15 000 Menschen wurden nach dem Aufstand verhaftet, über 1 600 Menschen wurden im Zusammenhang mit dem Aufstand verurteilt. Und das bezeichnen Sie als „maßvolles Vorgehen“? Das glauben Sie doch wohl selber nicht!
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Mit dem 17. Juni erlosch die Hoffnung der Menschen in der DDR auf Freiheit und Wiedervereinigung. Es folgten 36 Jahre Unfreiheit und Unterdrückung. Ja, die DDR war ein Unrechtsstaat.
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Daran kann es keinen Zweifel geben, und daran erinnern allein über 100 Kilometer – also die Strecke von Hamburg nach Bremen oder von Bremen nach Hamburg – Stasiakten, die wir auch in Zukunft sorgsam aufbewahren und den Betroffenen zur Verfügung stellen wollen.
Aber auch das ist richtig: Die meisten DDR-Bürger hatten dieses Unrecht nicht zu verantworten. Viele haben gelitten. Sie waren Opfer – verfolgt, enteignet. Manche arrangierten sich, um ihre Familien nicht in Gefahr zu bringen. Und nicht ohne Grund sind Millionen von Menschen aus ihrer Heimat, der DDR, in den Westen geflohen. Erst 1989, 36 Jahre nach dem Volksaufstand, ist es den Menschen in der DDR gelungen, sich von der Diktatur zu befreien. Das freut uns heute immer noch und immer wieder.
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Der Mauerfall war und ist der glücklichste Moment unserer Geschichte. Aber wir sollten uns auch immer wieder daran erinnern, dass der 17. Juni 1953 der erste Befreiungsversuch aus dieser DDR-Diktatur war und leider gescheitert ist. Deshalb muss dieser Tag fester Bestandteil unserer Erinnerungskultur sein.
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Wie gut, dass wir übrigens kürzlich das Freiheits- und Einheitsdenkmal endlich auf den Weg gebracht haben. Dieses Denkmal erinnert an die mutigen Frauen und Männer von 1989. Es kann uns aber auch daran erinnern, dass der erste Befreiungsversuch 1953 leider gescheitert ist. Ich finde es ein schönes Bild, dass die 89er-Revolution auf den Schultern der 53er-Revolution steht.
Ich möchte schließen mit einem sehr schönen Zitat von Konrad Adenauer – das sei mir auch mal gegönnt –:
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„Der 17. Juni ist uns ein Tag der Trauer, er ist uns ein Tag der Treue, er ist uns ein Tag des Mutes und der Hoffnung.“ Und diese Hoffnung sollte uns alle verbinden, damit das, was wir damals erlebt haben, nie wieder in diesem Land geschieht.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Dr. Volker Ullrich für die Fraktion der CDU/CSU.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die mutigen Frauen und Männer des 17. Juni wollten Freiheit und Einheit, Selbstbestimmung und freie Wahlen. Sie wollten Aufbruch aus der Diktatur heraus. Und das ist der Grund, weshalb es auf den ersten Bildern hoffnungsfroh gestimmte Menschen zu sehen gibt. Am Ende war dieser Aufbruch nicht erfolgreich. Die Regierung der DDR hat gemeinsam mit der Sowjetunion diese Hoffnungen blutig zerschlagen. Aber es war nur ein vermeintlicher und vorübergehender Sieg der Diktatur.
Die Frauen und Männer des 17. Juni haben das Richtige getan. In der übersichtlichen Reihe der deutschen demokratischen Revolutionen steht der 17. Juni 1953 in einer Reihe mit 1848. Überzeugungen und Ideale konnten sich für den Moment nicht durchsetzen; aber sie haben den richtigen Weg der Geschichte aufgezeigt. Deswegen sind wir jedem Einzelnen des 17. Juni 1953 dankbar.
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Der 17. Juni hatte auch eine europäische Dimension. Er hat die Aufstände in Ungarn 1956, in der Tschechoslowakei 1968 und in Polen 1980 inspiriert. Wir müssen uns fragen: Wäre die Friedliche Revolution von 1989 wirklich so verlaufen, wenn die Menschen von 1953 mit ihrer Haltung nicht Vorbild gewesen wären, weil ja bereits einmal die Möglichkeit der Freiheit in der Luft lag?
Die Niederschlagung des Aufstands hat viele Opfer gefordert; ich empfehle jedem die erschütternde Dokumentation über Paul Ochsenbauer. Standrechtliche Erschießungen, Todesurteile, lange Zuchthausstrafen, Tausende sind inhaftiert und entrechtet worden, viele mussten fliehen und ihre Heimat verlassen. All der Opfer gedenken wir heute.
Die Frage, ob die DDR denn ein Unrechtsstaat gewesen sei oder nicht, war bereits nach diesem 17. Juni eindeutig entschieden.
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Die angeblich demokratische Republik, in Wahrheit eine sozialistisch-kommunistische Diktatur, war bereits zu diesem Zeitpunkt moralisch am Ende; sie hat es bloß nicht gewusst.
Wir müssen heute dafür sorgen, dass der 17. Juni nicht in Vergessenheit gerät, gerade in beiden Teilen unseres zusammengewachsenen Landes. Im Westteil war bis 1990 der 17. Juni ein Feiertag. Aber wir müssen uns fragen, ob gerade in den 80er-Jahren er am Ende nicht eher ein weiterer freier Tag war, über den wir uns vielleicht zu gedankenlos freuten, während die Menschen jenseits der Mauer nur wieder einen weiteren unfreien Tag zu erdulden hatten.
Wir brauchen 67 Jahre nach dem 17. Juni eine Wiederbelebung und Verstärkung der Erinnerungskultur. Wir müssen uns fragen, ob genügend Straßen und Plätze auch im Westteil unseres Landes nach den Helden und Opfern des 17. Juni benannt sind. Ein Vergessen darf es beim 17. Juni nicht geben.
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Denn uns ist allen klar: Ohne den 17. Juni hätten wir den glücklichen Moment des 3. Oktober nicht erleben dürfen.
Der große Historiker Fritz Stern – damit möchte ich schließen – hat im Deutschen Bundestag 1987 davon gesprochen – auch bei einer Rede zum Thema 17. Juni –, dass Freiheit etwas wunderbar Verführerisches ist. Und daraus erwächst unsere Verantwortung für die Verfasstheit unseres Landes und für den Einsatz für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte. Das sind wir uns, aber auch den Menschen des 17. Juni schuldig.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Wir sind damit am Ende der Aussprache. Ich schließe diesen Tagesordnungspunkt.
Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Seit 21 Jahren ist die Bundeswehr nun schon im Rahmen von KFOR im Kosovo vor Ort. Das ist wahrlich eine lange Zeitspanne, und sie provoziert zwei durchaus berechtigte Fragen, über die wir reden müssen, wenn wir hier heute über eine Mandatsverlängerung für diesen Einsatz entscheiden. Erstens: Was ist in dieser Zeit erreicht worden? Und zweitens: Warum beenden wir diesen Einsatz nicht endlich?
Eine Antwort auf diese Fragen sind wir dabei nicht nur den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes schuldig. Vielmehr müssen wir uns an die vielen Tausend Soldatinnen und Soldaten wenden, die im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte treu ihren Dienst im Kosovo geleistet haben und dies auch weiterhin tun. Ihnen möchte ich an dieser Stelle meine Dankbarkeit ausdrücken.
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Als die Bundeswehr am 12. Juni 1999 zum ersten Mal kosovarischen Boden betrat, hatte die Region gerade eine Phase furchtbarster ethnischer Gewalt durchlebt, wie es sie in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben hatte.
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In den Monaten zuvor waren Tausende Zivilisten getötet und Hunderttausende in einem systematischen Terrorakt gewaltsam vertrieben worden. Offiziell war der Krieg zwar vorbei, der Konflikt aber lange nicht befriedet, und gewaltsame Auseinandersetzungen waren nach wie vor auf der Tagesordnung. Der Kosovo stand unter der Verwaltungshoheit der Vereinten Nationen; eine funktionierende Staatlichkeit im Land erschien fast illusorisch nach einer Dekade der Brutalität.
Ruft man sich diese Situation heute zurück ins Gedächtnis, ist offensichtlich, was seitdem erreicht wurde: Das Land hat sich mit internationaler Unterstützung und mit seiner Unabhängigkeitserklärung eine moderne, demokratische Verfassung gegeben. – Das alles war nur möglich unter dem Schutz von KFOR.
Warum also den Einsatz trotzdem nicht beenden? Im Kosovo eifern nach wie vor Nationalisten und Separatisten sowie Glücksritter aller Art darum, alte Wunden offen zu halten und künstliche völkische Rivalitäten zu befeuern. So behindern sie nicht nur seit Jahren das gewaltige Potenzial der Länder, die sie so sehr zu lieben vorgeben. Nein, sie machen sie auch zunehmend zu nützlichen Handlangern für auswärtige Mächte, die wenig Interesse an einem politisch stabilen Westbalkan haben.
Leider benutzen neben Russland inzwischen auch die USA sowie Teile von Europa den Westbalkan als Übungsplatz für vorerst gedankliche Experimente, wie zum Beispiel wenn es um das Thema „Landtausch zwischen Serbien und dem Kosovo“ geht;
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ein Unterfangen, das sich blitzartig zum Feuerinferno über den ganzen Westbalkan und darüber hinaus ausbreiten kann.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt zwar kein Feuer auf dem Westbalkan wie sonst wo auf der Welt, aber die Glut im Kosovo ist noch lange nicht ausgelöscht.
Und nun das Wichtigste: Unsere militärische Mission funktioniert hauptsächlich durch ihre psychologische Wirkung auf die Bevölkerung. Sie wirkt friedensstiftend und beruhigend auf die Bevölkerung in ihrer Angst, dass sie wieder einmal von korrupten politischen Eliten ins Verderben getrieben werden könnte.
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Das alles leistet KFOR seit Jahren mit Erfolg und, was noch viel wichtiger ist, mit dem großen Zuspruch der kosovarischen Bevölkerung – zuletzt im Rahmen der Bekämpfung der Coronapandemie. Deshalb bitte ich Sie im Namen der Friedenssicherung auf dem Westbalkan und in Anerkennung der Leistung der Friedensstifter, zu denen auch die KFOR-Mission gehört, der Mandatsverlängerung zuzustimmen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Herzlichen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner ist der Kollege Jens Kestner, AfD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Zuschauer auf den Tribünen daheim! Kameraden in Pristina und alle Kosovo-Veteranen, die dieser Debatte hier folgen! Als General Harff zum Einmarsch am Grenzübergang Morina dem serbischen Befehlshaber ein Ultimatum stellte und eine Frist von 30 Minuten einräumte und mit den Worten: „Die Frist läuft aus. Sie haben noch 28 Minuten. Ende der Diskussion“, in die Annalen der Bundeswehr einging, waren alle noch im Glauben: Hier beginnt etwas Gutes, hier beginnt etwas Gerechtes.
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Ich selbst durfte meinen Dienst 1999 und 2002 im Kosovo im Raum Orahovac leisten mit vielen anderen Kameraden zusammen. Wir waren beseelt davon, etwas Gutes zu tun und allen Bevölkerungsgruppen gerecht zu werden. Jeder hat auf seinem Posten immer sein Bestes gegeben. Wir waren überzeugt davon, dass unsere Volksvertreter politisch weise handeln und den Rahmen, welchen wir mit unserem Einsatz absichern, nutzen würden. Aber wo stehen wir nach über 20 Jahren Einsatz im Kosovo, nach über 20 Jahren KFOR? Heute wissen wir: Es begann alles mit einer politischen Lüge.
Es ist an der Zeit, zuzugeben, dass die Mission Kosovo misslungen ist und dass das Kosovo ein gescheiterter Staat ist; denn mit aller finanziellen, militärischen und fachlichen Unterstützung der internationalen Gemeinschaft haben wir es nicht geschafft, elementare Voraussetzungen für die politische und wirtschaftliche Autokratie des Kosovo zu schaffen. Jede weitere Anstrengung, das Kosovo zu einem funktionierenden demokratischen Staat zu machen, ist eine vergebliche Aufgabe. Oder – wie würden die Engländer sagen? –: Es ist das Peitschen eines toten Pferdes.
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Neueste Untersuchungen zeigen, dass 74,8 Prozent der Befragten in Albanien und 63,9 Prozent der Befragten im Kosovo die Vereinigung von Kosovo und Albanien unterstützen. Daher haben wir in den letzten zwei Jahrzehnten nicht den Wunsch nach der Unabhängigkeit der Albaner im Kosovo unterstützt, sondern das Staatsaufbauprojekt zur Schaffung des sogenannten Großalbaniens.
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Möchte Deutschland in die Geschichte eingehen als ein Land, welches an einer illegalen und gewaltsamen Beschlagnahme von Territorien von einem unabhängigen Staat beteiligt war, um dieses Territorium einem anderen Staat zu übereignen? Die deutsche Regierung verhindert die Wiedereingliederung des Kosovo an Serbien, einem demokratischen Staat, in dem die Albaner alle Rechte und die größte Autonomie genießen würden, und unterstützt einen gescheiterten Pseudostaat, in dem die Serben in den letzten zwei Jahrzehnten Opfer monströser Verbrecher gewesen sind und bis heute in abgeschotteten Enklaven leben und der Gnade albanischer Chauvinisten ausgeliefert sind.
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Eine gerechte nachhaltige Lösung des Kosovoproblems wäre die Wiedereingliederung der südserbischen Provinz an Serbien oder zumindest die Wiedereingliederung von Teilen dieses von Serben bewohnten Gebietes. Das unabhängige Kosovo ist ein Mekka für Kriegsverbrecher, organisierte Kriminalität und für Islamisten. Es gibt keine größere Stadt in Europa, in der es keine aus dem Kosovo stammende organisierte kriminelle Vereinigung gibt. Seit 1999 wurden 147 Kirchen und Klöster der serbisch-orthodoxen Kirche im Kosovo vermint, verbrannt oder beschädigt.
Das Kosovo ist ein Rekrutierungszentrum für radikale Islamisten, und wir gefährden durch die Unterstützung der Separatisten in Pristina auch und gerade deutsche Bürger. Die meisten Freiwilligen vom Balkan, die bei ISIS gekämpft haben, kommen aus dem Kosovo. Viele von ihnen sind nach Hause zurückgekehrt und werden nach Verbüßung symbolischer kurzer Haftstrafen durch ganz Europa reisen.
Kommen Sie zum Schluss, bitte.
Jawohl, ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Sollten Europa und Deutschland für diese gescheiterte Staatlichkeit im Kosovo diesen hohen Preis bezahlen? Ich denke, nicht, und ich denke auch nicht, dass dafür 20 Jahre deutsche Soldaten treu gedient haben, meine Person eingeschlossen. Beenden wir diesen Einsatz und machen uns ehrlich unseren Soldaten und unserem Volk gegenüber!
Danke schön.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Peter Beyer, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die internationale Truppe, die in KFOR Dienst tut, und auch die deutschen Soldatinnen und Soldaten sind hoch angesehen in ihren Leistungen, die sie dort erbringen. Sie haben bisher einen richtig guten Job gemacht und werden das auch in Zukunft tun. Ich rufe von hier aus ein herzliches Dankeschön für diese Dienste!
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Meine Damen und Herren, am Land Kosovo zerren viele interne und externe Kräfte. Deshalb ist es so wichtig, dass man sich für den Zusammenhalt der Gesellschaft, der Menschen, der Länder, der Region einsetzt. Besondere Verantwortung kommt der neuen Regierung unter Premierminister Avdullah Hoti zu. Er muss gute Regierungsführung walten lassen; es muss eine Versöhnung gelingen durch Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Ganz konkret wird es dann, wenn wir uns einmal das neue Regierungsprogramm anschauen: Der Kampf gegen Korruption, gegen die organisierte Kriminalität, gegen das Coronavirus muss mit hoher Priorität versehen werden, und es muss für Bildung vieles getan werden.
Natürlich hat auch ein Relaunch, ein zeitnahes, ernsthaftes Wiederaufleben des Normalisierungsprozesses, des Dialogs mit dem nördlichen Nachbarn Serbien hohe Priorität. Es müssen nicht neue Ideen erfunden werden. Ich sage: Schaut in Brüssel I und in Brüssel II nach. Ich rufe Serbien und Kosovo zu: Do your Homework! – Wir brauchen keinen Dirty Deal; lasst euch nicht durch Druck von außen dazu hinreißen. Wir brauchen keine Gebietsveränderung. Wir brauchen keine Abschaffung von Specialist Prosecutor’s Office oder Specialist Chambers, die Bestandteil eines schmutzigen Deals sein könnten. Das hilft den Menschen nicht; das hilft der Region nicht; das hilft der Europäischen Union nicht. Stichwort „Europäische Union“: Daher kann nur ein EU-geführter Dialog, ein EU-geführter Prozess dazu führen, dass Verhandlungen über ein rechtlich bindendes und umfassendes Abkommen stattfinden.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir wissen nicht, was am 27. Juni im Weißen Haus bei dem mit „Friedensgesprächen“ titulierten Treffen stattfinden soll. Eines wissen wir leider genau: Die Europäische Union wird nicht mit dabei sein. Diese Länder sind EU-Aspiranten. Deswegen fordere ich von dieser Stelle die Trump-Administration vehement und mit großem Nachdruck dazu auf: Ladet dazu einen Hohen EU-Vertreter, Miroslav Lajcak, zu den Gesprächen ein. Ich fordere auch dazu auf, dass die intransparenten Spielchen des Beauftragten der US-Administration für den Westbalkan aufhören. Das ist der ganzen Sache nicht dienlich und nicht würdig; insbesondere ist die absurde Schlacht bei Twitter unwürdig, wo der Sonderbeauftragte für Serbien und Kosovo der US-Administration davon schwadroniert, die EU habe visafreies Reisen nicht geliefert. Ja können denn die Vereinigten Staaten von Amerika ein visafreies Reisen für diese Länder garantieren und liefern? Das ist blanker Unsinn. Im Übrigen empfiehlt es sich auch, sich vorher mit der Region einmal zu beschäftigen. Dann hätte man als Sonderbeauftragter der US-Administration feststellen können, dass Serben schon seit Längerem visafrei reisen können, und die Kosovaren werden das auch zeitnah können.
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Daher muss die EU mit einer starken politischen Agenda auftreten. Miroslav Lajcak, der Sonderbeauftragte der Europäischen Kommission ist die gesamte Woche in Pristina; danach wird er nach Serbien fahren und dort die Gespräche führen. Das ist gut.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Neben dem politischen Prozess – damit komme ich zum Schluss, Herr Präsident – muss es natürlich auch wirtschaftliche Unterstützung geben. Die EU-Kommission hat hierfür 3,3 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. Das sind richtige Zeichen. KFOR wird auch in Zukunft in diesem verunsicherten Land gute Dienste tun und auch gebraucht werden. Deswegen sollten wir unsere Zustimmung zur Verlängerung des Mandats erteilen.
Herzlichen Dank.
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Ich weise die Redner der größeren Fraktionen darauf hin, dass ich künftig, wenn meiner Bitte nicht gefolgt wird, den nachfolgenden Rednern die Zeit entsprechend abziehen werde.
Als nächster Redner hat der Kollege Christian Sauter, FDP-Fraktion, das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Seit 1999 ist Deutschland mit der Bundeswehr als Truppensteller an der internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo beteiligt. Kernziele der Beteiligung sind: Gewährleistung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, Unterstützung der zivilen internationalen Präsenz, Stabilisierung des Demokratieprozesses und die Hilfe beim Aufbau der Sicherheitskräfte. Dennoch, nach über 20 Jahren der Präsenz, findet die Beteiligung unter nicht einfachen Rahmenbedingungen statt: Korruption, Kriminalität und nicht gelöste ethnische Spannungen zeigen, dass der Frieden nicht auf einem festen Fundament steht. Auswirkungen der Coronapandemie sind unklar; dazu trug auch die zwischenzeitliche Regierungskrise bei.
Aber: KFOR hat in einigen Punkten und Zielen auch deutliche Erfolge gezeigt. Denn festzuhalten bleibt, dass in den letzten gut zwei Jahrzehnten ein Maß an Stabilität gewährleistet werden konnte. Momentan sind 64 deutsche Soldaten bei KFOR im Einsatz – bei einer Obergrenze von 400. Zwar ist Deutschland nur noch der achtgrößte Truppensteller, besetzt aber 25 Prozent aller Abteilungsleiterdienstposten; daran wird auch die Wertschätzung unserer Partner deutlich. Die Fortschritte des KFOR-Mandates zeigen sich in der immer wieder nach unten angepassten Mandatsobergrenze. So konnte auch nicht benötigte Infrastruktur abgegeben werden.
Es muss aber auch klar sein: KFOR kann nicht dauerhaft und endlos fortgeführt werden; aber es ist eines der Mandate, das zumindest eine Perspektive auf einen Abschluss bietet. Der Kosovo hat noch einen langen Weg vor sich: Kampf gegen Kriminalität, Korruption und mangelnde Rechtsstaatlichkeit. Das ist von zentraler Bedeutung, ebenso, dass ein Abkommen mit Serbien zustande kommt. Außenpolitisch muss Deutschland sein Gewicht dringend stärker in die EU einbringen; denn noch immer ist keine klare Linie aller EU-Partner zum Status des Kosovo erkennbar.
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Am 27. Juli 2020 ist ein Treffen beider Parteien in Washington im Weißen Haus geplant – ohne Beteiligung der EU –, mit unklarem Ausgang. Weitere Präsenz ist auch deshalb richtig, da sonst Russland, die Türkei und China versuchen werden, ihren Einfluss in der Region auszubauen.
Fazit: Der KFOR-Einsatz hat Erfolge gezeigt. KFOR ist ein Stabilitätsanker in der Region; aber die Herausforderungen bleiben groß. Die Bundeswehr und damit Deutschland erfahren große Wertschätzung bei der örtlichen Bevölkerung. Das verdanken wir ganz ausdrücklich den vielen deutschen Soldaten, die ihren Dienst im Mandat über diesen langen Zeitraum geleistet haben. Vielen Dank dafür! Wir stimmen dem Antrag der Bundesregierung zu.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Debattenredner ist der Kollege Dr. Gregor Gysi, Fraktion Die Linke.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Chancen für einen sicherheitspolitischen Neuanfang nach dem Ende des Kalten Krieges blieben ungenutzt. Das gilt für die NATO, das gilt für das Verhältnis zu Russland und vieles andere. Mit dem völkerrechtswidrigen Krieg gegen Restjugoslawien, mit der völkerrechtswidrigen Bombardierung Belgrads und mit der völkerrechtswidrigen Lostrennung des Kosovo begann ein Zeitalter der faktischen Abschaffung des Gewaltverbots, der territorialen Integrität der Staaten, überhaupt des Völkerrechts.
Ich war bei dem damaligen Präsidenten Barzani im Nordirak. Er wollte den Teil trennen. Ich sagte: Das geht ja nicht ohne Zustimmung des Irak insgesamt. – Da sagte er mir: Wieso? Ging doch beim Kosovo auch. – Puigdemont aus Katalonien war bei mir und sagte: Wieso? Beim Kosovo ging es doch auch. – Und russische Politiker stützen sich bei der Annexion der Krim auch auf das Kosovo.
Sie selbst berufen sich bei Ihrem Mandat immer auf die Sicherheitsratsresolution 1244. Aus ihr zitiere ich jetzt einmal wörtlich. Da heißt es:
Der Sicherheitsrat … ermächtigt den Generalsekretär, … eine Übergangsverwaltung für das Kosovo bereitzustellen, unter der die Bevölkerung des Kosovo substantielle Autonomie innerhalb der Bundesrepublik Jugoslawien genießen kann …
Und in Anlage I der Resolution wird folgendes Ziel formuliert – wiederum wörtlich –:
… eine substantielle Selbstverwaltung für das Kosovo unter voller Berücksichtigung … der Prinzipien der Souveränität und territorialen Unversehrtheit der Bundesrepublik Jugoslawien und der anderen Länder der Region …
Sie haben zusammen mit anderen Regierungen das negative Beispiel für den Völkerrechtsbruch geschaffen,
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und schon wegen der Verletzung der Resolution durch die Lostrennung des Kosovo ist sie keine Grundlage mehr für den Militäreinsatz.
Übrigens: Der KFOR-Einsatz dauert jetzt 21 Jahre. Bisher liegen die Kosten für Deutschland bei etwa 3,5 Milliarden Euro, und es ist kein Ende in Sicht. Unabhängig von meiner generellen Ablehnung kranken alle internationalen Bundeswehreinsätze daran, dass es kein nachvollziehbares Ziel gibt, sodass in keinem Fall ein Ende abzusehen ist.
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Im Mandat für die Bundeswehr werden ja auch die Aufgaben formuliert, und dazu gehört, die Einbindung militärischer Sicherheitskräfte des Kosovo – jetzt wörtlich – „in euro-atlantische Strukturen“ vorzubereiten. Was heißt denn das? Das Kosovo soll in die NATO? Heißt das, dass Sie die Bundeswehr da noch 50 Jahre stehen lassen, bis es so weit ist? Das ist doch alles absurd.
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Ich sage Ihnen: Wenn etwas im Kosovo gefährdet ist, dann sind es die serbischen Klöster und Heiligtümer, aber die kann man durch Vertrag schützen; dafür braucht man keine Soldaten. Deshalb braucht es kein neues Mandat, sondern das sofortige Ende des Bundeswehreinsatzes im Kosovo.
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Herzlichen Dank, Herr Kollege Dr. Gysi. – Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Katja Keul, Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Hinblick auf meinen Vorredner will ich noch einmal klarstellen: Ja, der Luftkrieg der NATO gegen Serbien 1999 war völkerrechtswidrig, und ich persönlich hätte dem auch nie zugestimmt. Das KFOR-Mandat aber kam danach und war und ist eine internationale Sicherheitspräsenz auf der Grundlage eines geltenden UN-Mandats.
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Also, halten Sie doch bitte die Dinge auseinander, damit ich das nicht jedes Mal wieder für Sie tun muss.
Heute sind noch 70 Bundeswehrsoldaten im Kosovo beratend tätig, die nur noch als Sicherheitsreserve über ein exekutives Mandat verfügen. Die Bundesregierung begründet die Notwendigkeit mit weiterhin bestehenden Spannungen und der Gefahr ethnischer Auseinandersetzungen, und das ist in Anbetracht der politischen Lage auch nachvollziehbar.
Die politischen Fronten verlaufen inzwischen nicht mehr nur zwischen Serbien und Kosovo, sondern sie werden immer unübersichtlicher. Da finden sich die beiden Präsidenten Thaci und Vucic sowie der ehemalige US-Sondergesandte Grenell auf der einen Seite und der gestürzte Premier Kurti und die parlamentarischen Mehrheiten beider Länder auf der anderen Seite. Dabei scheint eines aber klar: Frieden und Stabilität im Kosovo wird es erst geben, wenn sich Serbien und Kosovo auf einen Grundlagenvertrag einigen, der die bilateralen Beziehungen rechtlich bindend regelt. In welcher Form sie das tun, muss am Ende Entscheidung zweier souveräner Länder sein.
Die internationale Militärpräsenz kann da nur wenig beitragen. Sie kann allenfalls daran erinnern, dass eine gewaltsame Klärung dieser Fragen jedenfalls nicht hingenommen werden würde. Das ist sicher eine wichtige und berechtigte Funktion. Trotzdem muss ich an dieser Stelle die Mandatierung von 400 Soldaten kritisieren, weil sie im Umfang nicht dem militärisch Erforderlichen entspricht. Immerhin gewähren wir als Bundestag ein Mandat, das die Bundeswehr zur Anwendung militärischer Gewalt ermächtigt. Deswegen ist es schon eine gewisse Zumutung, wenn Sie hier den fünffachen Umfang von dem beantragen, was wirklich gebraucht wird.
Frau Kollegin Keul, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Nastic?
Ja, bitte.
Ich habe die Uhr angehalten.
Vielen Dank, Frau Keul, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Sie sprachen von ethnischen Auseinandersetzungen im Kosovo. Meine Frage ist: Ist Ihnen bekannt, dass in ganzen Regionen im Süden Serbiens verschiedenste Minderheiten und Ethnien seit vielen, vielen Jahrzehnten und Jahrhunderten in Frieden zusammenleben? Zum Beispiel sind in Bujanovac mehr als 90 Prozent der Bevölkerung albanischer Herkunft, in Presevo sind es 50 Prozent. Also scheint es doch eher daran zu liegen, dass bestimmte Banditen, die ja einige Redner hier erwähnt haben, und andere im Kosovo eben politisch das Sagen haben. Was sagen Sie dazu? Wieso ist es nicht möglich, dort gemeinsam friedlich zu leben, einen Steinwurf entfernt, nur 20 Kilometer weiter, für alle Ethnien und Religionen aber schon?
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Es ist schön für alle Regionen, in denen das friedliche Zusammenleben funktioniert. Es funktioniert aber noch nicht reibungslos im Bereich Kosovo/Serbien; da geben Sie mir sicherlich recht. Dass dort auch kriminelle Machenschaften eine Rolle spielen und die Mafia und die organisierte Kriminalität zu den Hauptproblemen des Kosovo gehören, das ist hier sicherlich unstreitig. Aber das bedeutet ja nicht, dass man der Gewalt freien Lauf lassen sollte.
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Ich war bei meinen Bedenken stehen geblieben. – Dass die Bundeswehr im Rahmen des Mandats seit letztem Jahr auch den Aufbau kosovarischer Streitkräfte begleitet, halte ich vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlich umstrittenen Parlamentsbeschlüsse für kritisch.
Hauptaufgabe der Bundeswehr im Kosovo bleibt aber die Unterstützung von KFOR, und die ist sicherheitspolitisch nach wie vor sinnvoll und berechtigt, sodass wir der Verlängerung auch erneut zustimmen werden.
21 Jahre KFOR zeigen uns allerdings auch deutlich die Grenzen dessen auf, was mit Militäreinsätzen geleistet werden kann. Das Land hat gerade einmal 1,8 Millionen Einwohner und hatte zu Höchstzeiten 50 000 internationale Soldaten, davon zeitweise 6 000 Bundeswehrsoldaten, im Land. Daran sollten wir denken, wenn wir heute von der Bundeswehr erwarten, dass sie nicht nur in Mali, sondern auch gleich in Syrien und dann noch im Irak zu Frieden und Stabilität beitragen soll.
Dabei kennt die militärische Führung die Begrenztheit ihrer Mittel nach meinem Eindruck oft besser als die politische Führung. Die Bundeswehr hat einen Anspruch darauf, dass ihr die politische Führung einen realistischen und erfüllbaren Auftrag erteilt. Das sollte in Zukunft mehr bedacht werden, bevor wir die Bundeswehr in eine immer größere Zahl von Einsätzen schicken und uns dann wundern, dass die Streitkräfte am Ende überlastet sind.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Keul. – Nächster Redner ist für die SPD-Fraktion der Kollege Dr. Eberhard Brecht.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 21 Jahre KFOR sind eine Erfolgsgeschichte der multilateralen Sicherheitspolitik.
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Im Gegensatz zu dem Zwischenruf denke ich, dass KFOR nicht eine proalbanische und auch keine proserbische Aktion ist, sondern KFOR steht für die Option einer friedlichen Zukunft des Kosovo.
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Wie wir eben auch wieder gehört haben, ist die Fraktion Die Linke auf einem ähnlichen Trip wie die AfD. Die Linke ist nach wie vor eine einseitig proserbische Partei.
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In Ihrer letzten Rede, Kollege Neu, sprachen Sie von der „südserbischen Provinz Kosovo“
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und sogar von einer „deutschen Kolonie“.
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Nun frage ich mich, ob wir vielleicht bezüglich der Wortwahl mal in den Duden schauen sollten. Unter „Kolonialismus“ versteht man eine Politik der Inbesitznahme
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– erst einmal zuhören – und Ausbeutung fremder Gebiete. So hat also das Deutsche Kaiserreich jährlich bis zu 2 000 Tonnen Kautschuk aus Kamerun, die Portugiesen haben bis zu 200 000 Tonnen Kaffee aus Angola, die Briten bis zu 290 Tonnen Elfenbein aus Afrika und die Franzosen 26 000 Sklaven – ich sage es einmal sehr freundlich – importiert.
Nun wüsste ich nicht, welche Güter Deutschland oder andere EU-Staaten dem Kosovo gewaltsam entrissen haben sollen.
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Im Gegenteil: Fast 700 Millionen Euro flossen als deutsche Entwicklungszusammenarbeit in den kleinen Balkanstaat. So wurde ein vorzeigbares Schulsystem aufgebaut, eine Wasser- und Abwasserinfrastruktur hergestellt, und jetzt soll das nicht mehr benötigte militärische Feldlager in Prizren in einen Technologiepark umgewandelt werden. Das mögen Sie als Linke vielleicht als Teil einer militarisierten Außen- und Sicherheitspolitik Deutschlands verstehen. Ich nenne es eine beispielhafte Konversion, die erst durch unsere Soldatinnen und Soldaten ermöglicht wurde.
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Ich war als Abgeordneter sehr oft im Kosovo, und ich konnte miterleben, wie sich dieses Land Stück für Stück vom Krieg erholt hat. Und ich weiß, welch hohes Ansehen die Bundeswehr bei der Einwohnerschaft im Kosovo genießt. Dennoch kann uns das Ergebnis von KFOR und insbesondere von EULEX nicht zufriedenstellen. Noch immer laufen Kriegsverbrecher der UCK und serbischer Milizen frei herum, noch immer gibt es Korruption, noch immer agieren mafiose Clans im Kosovo. Dennoch sollten wir uns mit jeder Form der Überheblichkeit zurückhalten. Es soll ja auch EU-Staaten geben, die mit dem Thema „organisierte Kriminalität“ nicht ganz zurechtkommen.
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Wenn 21 Jahre KFOR eine Erfolgsgeschichte sind, sollten wir jetzt diesen Erfolg stabilisieren und im Sprachgebrauch von Alexander Neu unsere Kolonie –
Kommen Sie zum Schluss, bitte.
– im Kosovo weiterhin unterstützen.
Vielen Dank und Entschuldigung, dass ich überzogen habe.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner ist für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Dr. Andreas Nick.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Fast auf den Tag genau vor 21 Jahren, am 11. Juni 1999, hat der Deutsche Bundestag erstmals dem Mandat für die KFOR-Mission zugestimmt. Verteidigungsminister war damals übrigens einer meiner Vorgänger im Wahlkreis, der SPD-Kollege Rudolf Scharping. Seither leistet die Bundeswehr im Rahmen von KFOR einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung Kosovos und der gesamten Region. Der Einsatz steht unter der operativen Führung der NATO. Seine Grundlage ist allerdings die UN-Resolution 1244, die einen klaren Auftrag erteilt hat, nämlich die Sicherstellung eines friedlichen und sicheren Umfeldes und die Unterstützung der Entwicklung zu einem stabilen demokratischen, multiethnischen und friedlichen Kosovo. Aus rein militärischer Sicht können wir heute von einer soliden Erfüllung dieses erteilten Auftrags sprechen. Daher möchte ich den Zehntausenden deutschen Soldaten herzlich danken, die seit zwei Jahrzehnten im Kosovo ihren Dienst geleistet haben.
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Ich will aber ausdrücklich auch an die 29 Toten erinnern, die die Bundeswehr in diesem Einsatz zu beklagen hatte.
Meine Damen und Herren, wesentlicher Bestandteil einer erfolgreichen Mission ist auch eine Strategie zur Beendigung. Seit 1999 wurde die Gesamtpräsenz von KFOR schrittweise von über 50 000 auf 3 500 Soldaten reduziert, und auf diesem Weg fahren wir mit unserem Kontingent fort. Zweifelsohne bestehen im Kosovo zahlreiche Herausforderungen fort: Kriminalität, Korruption, aber auch Herausforderungen bei der Festigung demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen, wie wir es in der jüngsten Vergangenheit erlebt haben. Daher bedarf es weiterhin des Engagements der internationalen Gemeinschaft. Die Aufgaben liegen jetzt aber ganz eindeutig nicht mehr im militärischen, sondern ganz vorrangig im zivilen Bereich. Die Präsenz von KFOR unterstützt daher auch weiterhin das umfangreiche zivile Engagement zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit, etwa mit der EU-Mission EULEX Kosovo.
Kosovo ist über einen Beobachterstatus im Europarat vertreten, und seit 1999 unterstützt der Europarat die Umsetzung der Reformagenda, nicht zuletzt durch umfangreiche Beratungsarbeit der Venedig-Kommission oder jetzt auch durch die Tätigkeit des Kollegen Peter Beyer als Berichterstatter für das Kosovo in der Parlamentarischen Versammlung.
Kosovo lässt sich aber nicht ohne den regionalen Kontext betrachten. Der unter EU-Vermittlung 2013 begonnene politische Normalisierungsdialog Belgrad/Pristina stagniert. Auch deshalb ist KFOR als ein von Serbien und Kosovo gleichermaßen respektierter Garant für Stabilität und Sicherheit weiterhin notwendig. Unser europäisches Ziel bleibt ein Abkommen zur umfassenden Normalisierung der bilateralen Beziehungen, auch als nachhaltige Grundlage für einen möglichen EU-Beitritt beider Länder. In diesem Prozess verdienen der EU-Außenbeauftragte Borrell und der neue Sonderbeauftragte Miroslav Lajcak unsere volle Unterstützung.
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Äußerst besorgt sind wir hingegen über die von Vertretern der US-Administration wiederholt geäußerten Gedankenspiele zu einem Gebietsaustausch.
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Vor diesem Hintergrund haben wir von der Einladung des Weißen Hauses an die Staatspräsidenten Kosovos und Serbiens für den 27. Juni erfahren. In aller Klarheit: Allein die Idee, in Europa wieder Grenzen anhand von ethnischen Bevölkerungsgruppen zu ziehen, ist eine elementare Gefahr für Frieden und Sicherheit.
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Ein solcher Schritt würde für die multiethnische Region des westlichen Balkans die Büchse der Pandora öffnen, etwa mit Blick nach Bosnien-Herzegowina.
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Umso wichtiger ist, dass wir das Kosovo auf dem selbst gewählten europäischen Weg unterstützen: zu einem demokratischen Staat, einer multiethnischen Gesellschaft, einer unabhängigen Justiz, einer funktionierenden Verwaltung, begleitet von einer kritischen und freien Presse. Diesen Weg unterstützen wir auch mit der Verlängerung des Mandates. Deshalb stimmt die Unionsfraktion dem Mandat zu.
Vielen Dank.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Während der vorletzten Sitzung des Verteidigungsausschusses vor rund drei Wochen hat der Kollege Dr. Brecht eher beiläufig erwähnt, dass er bei der damaligen Abstimmung über die Sicherheitspräsenz am 11. Juni 1999 im Bundestag dabei war. Dieser Einsatz sah damals übrigens bis zu 8 500 Soldaten vor. Sinngemäß hat er gesagt: Als wir damals über die Notwendigkeit einer Sicherheitspräsenz im Kosovo befunden haben, hatten wir einen Flächenbrand, den es zu löschen galt. – Heute sind es nur noch vereinzelte Glutnester, die es gibt. Aber auch diese Glutnester erfordern weiterhin unsere Anwesenheit, allerdings reduziert.
Der Flächenbrand, den wir am 11. Juni 1999 vorliegen hatten, lässt sich am besten anhand der Zahlen vor und nach dem Kosovokrieg Vertriebener und anhand der Zahlen obdachlos Gewordener verdeutlichen. Das macht übrigens sonst immer Herr Staatssekretär Dr. Tauber; ich erinnere mich sehr gut an die Zahlen. Im Juni 1999 hatten knapp 863 000 Zivilisten außerhalb des Kosovo Zuflucht gesucht bzw. waren daraus vertrieben worden. Weitere 590 000 Personen waren innerhalb des Kosovo „internally displaced“, das heißt, sie hatten keine Wohnung mehr oder lebten außerhalb ihrer eigenen Wohnstatt. Die meisten derjenigen, die 1999 kriegsbedingt Kosovo verlassen haben, sind zurückgekehrt, und die anderen, die heute im Ausland leben, kehren mindestens einmal im Jahr zwischen Mai und September aus familiären Gründen ins Kosovo zurück, weil dort ihre Verwandten leben, weil das ihre Heimat ist.
Weshalb braucht es dann noch die internationale Sicherheitspräsenz, und worin bestehen die Glutnester? So ist zum Beispiel am 16. Januar 2018 der serbische Politiker Ivanovic in Mitrovica erschossen worden. Unmittelbar danach wurden die laufenden Gespräche zwischen Politikern beider Länder abgebrochen, und der serbische Präsident Vucic berief eine Sitzung des nationalen Sicherheitsrates ein. Als wenig hilfreich erwies sich auch die Entscheidung der Regierung des Kosovo, Ende November 2018 auf alle aus Serbien eingeführten Waren einen Zoll in Höhe von 100 Prozent des Preises der Ware einzuführen. Dies wiederum war indirekt, aber letztlich doch eine Reaktion auf die im Spätsommer 2018, auf Druck Trumps im Übrigen, für kurze Zeit zwischen den Präsidenten Vucic und Thaci erörterte Frage eines Gebietstausches. Diese Idee eines Gebietstausches, das, was AfD und Linke hier so übereinstimmend als Selbstverständlichkeit in den Raum gestellt haben, hat damals hohe Wellen geschlagen. Beide Politiker bekamen Druck von der eigenen Regierung und aus der Bevölkerung. Denn zum Beispiel in der serbischen Verfassung von 2006 ist Kosovo in der Präambel als unabdinglicher Teil Serbiens aufgeführt. Das reicht aber offensichtlich aus, um seitens der AfD Kosovo als Failed State zu bezeichnen und, so Herr Dr. Friesen bei der letzten Sitzung, diesen auf ethnischen Erwägungen beruhenden Gebietstausch als Faktum hinzustellen.
Bei der Fraktion Die Linke – das ist schon zur Sprache gekommen – reicht es aus, um aus der Nichtbefolgung ihrer Ratschläge, nämlich eine Neuaufteilung nach ethnischen Gesichtspunkten vorzunehmen, zu folgern, dass man dann Kosovo als deutsche Kolonie ansehen müsste. Es war also etwas komplizierter. Wie auch immer: Im Windschatten von KFOR hat sich Stabilität entwickelt.
Kommen Sie zum Schluss, Herr Kollege.
Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich unseren Soldatinnen und Soldaten, die Dienst getan haben und dies weiterhin tun, danken.
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Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss. Sie haben noch einen Satz.
Ein Erfolg: Vor genau elf Tagen sind die Zölle von 100 Prozent auf alle serbischen Waren aufgehoben worden. Das ist eine gute Voraussetzung, um jetzt wirklich konstruktive Gespräche zu führen.
Ich darf Sie bitten, dafür zu stimmen, dieses Sicherheitspotenzial beizubehalten. Bitte stimmen Sie dieser Beschlussvorlage zu.
Vielen Dank.
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Damit schließe ich die Aussprache.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Mindestlohn muss jetzt auf wenigstens 12 Euro erhöht werden. So kommen wir mit Wumms aus der Krise.
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Doch davon, liebe Bundesregierung, liest man überhaupt nichts in Ihrem Konjunkturpaket. Eine Erhöhung des Mindestlohnes und eine Stärkung der Tarifbindung stützen die Binnennachfrage und die Konjunktur deutlich mehr als Ihre befristete Mehrwertsteuersenkung à la Gießkanne, bei der sich Konzerne wie Amazon die Hände reiben. Jeder zusätzliche Euro in den unteren Einkommensgruppen fließt direkt in den Konsum und kommt somit der Wirtschaft und vor allem den Menschen zugute.
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Ein Drittel der Beschäftigten erhält derzeit weniger als 12 Euro pro Stunde und würde somit von einer Anhebung der Lohnuntergrenze direkt profitieren. Das ist so wichtig, insbesondere für Beschäftigte in den sogenannten systemrelevanten Berufen, also in der Nahrungsmittelproduktion, im Einzelhandel, in der Landwirtschaft usw. Die machen doch gerade für uns einen so wichtigen Job und werden teilweise so mies bezahlt, dass sie finanziell kaum über die Runden kommen. Vom Klatschen und Loben vonseiten der Politik kann niemand seine Familie ernähren und niemand seine Miete bezahlen.
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Deswegen ist es Zeit, aus diesem Hohen Haus endlich Taten folgen zu lassen.
Der aktuelle Mindestlohn ist ein Armutslohn. Das stellt sogar die EU-Kommission fest. In den meisten Ländern reicht der Mindestlohn aus, um das Armutsrisiko zu senken. In einem der reichsten Länder, nämlich in Deutschland, reicht er nicht aus. Das ist beschämend.
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Meine Gewerkschaft NGG und meine Partei Die Linke waren die Ersten, die die Notwendigkeit eines Mindestlohns erkannt haben,
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und ich bin stolz darauf, dass es ihn deswegen heute gibt.
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Üblicherweise kommt jetzt immer die gleiche Leier. Aber ich sage Ihnen, warum wir uns damals bei der Einführung des Mindestlohns enthalten haben. Wir haben uns deswegen enthalten, weil er seit der Einführung viel zu niedrig ist und nicht vor Armut schützt. Das Problem zieht sich durch wie ein roter Faden, bis heute.
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Ich bin froh, dass die lieben Kolleginnen und Kollegen von der SPD und von den Grünen das verstanden haben und für den Mindestlohn in Höhe von 12 Euro sind, im Übrigen auch die überwiegende Mehrheit in diesem Land. Eine Studie im Auftrag des DGB hat ergeben, dass 78 Prozent der Befragten für einen Mindestlohn von 12 Euro wären,
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im Übrigen auch eine Mehrheit der FDP-Anhänger. Wenn Sie jetzt wieder damit kommen und sagen, das soll die Politik den Profis überlassen, dann hoffe ich, dass Sie heute die Anzeige in der „FAZ“ gelesen haben, eine Seite lang.
(Die Rednerin hält eine Zeitungsseite hoch)
Über 200 Wissenschaftler unterstützen die Forderungen zur Mindestlohnerhöhung auf 12 Euro.
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Deswegen: den Mindestlohn einmalig auf ein armutsfestes Niveau anheben. Dann kann die Mindestlohnkommission auf dieser Basis wieder die Erhöhungen beschließen.
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Mir ist allerdings schon klar, welches Problem die SPD in der Bundesregierung hat. Das Problem heißt Union. Teile der Union haben eine Zurückhaltung, ja sogar eine Absenkung des Mindestlohns gefordert, völlig aberwitzig und am wirtschaftlichen Sachverstand vorbei.
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Respekt vor arbeitenden Menschen sieht wirklich anders aus. Wie bei der Grundrente agieren Sie von der Union weder christlich noch sozial, sondern schäbig.
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Neben dem entsprechenden Mindestlohn sind natürlich auch die Kontrollen wichtig. Allein seit 2015, seit Einführung des Mindestlohns, sind der Sozialversicherung insgesamt 8 Milliarden Euro verloren gegangen, vom Lohnraub an den Beschäftigten ganz zu schweigen.
Deswegen bleiben wir dabei: Ein Mindestlohn von 12 Euro ist notwendig. Das stärkt die Tarifentwicklung und die Sozialversicherungssysteme. Es ist der sozialste Weg aus der Krise. Das ist der Wumms, den dieses Land nötig hat.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es war vor ziemlich genau sechs Jahren, als wir hier im Plenarsaal die Debatte über die Einführung des Mindestlohns hatten und die damalige Arbeits- und Sozialministerin, Andrea Nahles, diesen als einen Meilenstein in der sozialpolitischen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland beschrieben hat.
({0})
Sie hatte recht. Er war ein Meilenstein aus zwei Gründen: erstens, weil nach langen Debatten ein Mindestlohn eingeführt worden ist, und zweitens, weil der Deutsche Bundestag die kluge Selbstbeschränkung ausgeübt hat, diesen Mindestlohn nicht selbst festzulegen, sondern eine Mindestlohnkommission einzusetzen, die über die Höhe des Mindestlohns verhandelt. Der Bundestag würde ihn dann umsetzen, aber nicht selbst die Entscheidung darüber fällen, wie hoch der Mindestlohn ist.
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Ich fand das klug. Und das, finde ich, sollten wir weiterhin beibehalten.
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– Jetzt sagt der Kollege Birkwald völlig zu Recht, es gab einen Einstandswert – völlig richtig, den musste es geben. Aber wir haben danach die Dinge aus unserer Hand gegeben und haben gesagt: Das soll die Mindestlohnkommission regeln. – Das finde ich nach wir vor klug.
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Lieber Kollege Birkwald, wenn man einmal ganz ehrlich ist, wird man sehen: Wenn wir heute sofort einen Mindestlohn von 12 Euro beschließen würden, dann weiß ich doch, was morgen passiert. Sie fordern dann morgen einen Mindestlohn von 16 Euro. Das ist doch wie der Wettlauf zwischen Hase und Igel. Hier können wir nie gewinnen.
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Meine Damen und Herren, ich lasse mich auch gerne auf eine Diskussion darüber ein, ob der Mindestlohn zu niedrig ist oder ob er nicht zu niedrig ist. Der Mindestlohn ist zumindest kein sozialpolitisches Instrument – das war der Irrtum von Frau Ferschl –, sondern er ist eine ordnungspolitische Maßnahme zur Regulierung des Wettbewerbs. Und das, finde ich, sollte man sich immer einmal vor Augen halten. Er ist eben nicht der gerechte Lohn der katholischen Soziallehre, er ist auch nicht der gerechte Lohn, der bei Adam Smith im „Wohlstand der Nationen“ aufgetaucht ist, sondern er ist in der ordoliberalen Tradition ein Mindestlohn, der den Wettbewerb reguliert. Und das soll er aus meiner Sicht auch bleiben.
Nun ist in vielerlei Hinsicht – heute in der Ausschusssitzung war das wieder so – darüber debattiert worden: Ist der Mindestlohn im europäischen Vergleich zu niedrig? Ja, darüber kann man diskutieren. Wenn man den Median des Lohns annimmt, ist die Bundesrepublik ziemlich weit hinten im europäischen Vergleich. Nimmt man den Durchschnittslohn im europäischen Vergleich an, dann ist der Mindestlohn in Deutschland europäisches Mittelfeld. Nimmt man hingegen die Kaufkraft als Kriterium für den Mindestlohn, dann sind wir in Europa in der Spitzengruppe. Und dann kann aus meiner Sicht überhaupt keine Rede davon sein, Frau Ferschl, dass der Mindestlohn gewissermaßen Armut gebiert, wenn die Kaufkraft in der europäischen Spitzengruppe liegt. Ich finde, da sollten Sie Ihre Statistiken noch einmal ordentlich durchsehen.
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Meine Damen und Herren, sind wir als Union dagegen, dass der Mindestlohn auf 12 Euro steigt? Nein, wir sind nicht dagegen. Wenn die Mindestlohnkommission vorschlägt, den Mindestlohn auf 12 Euro hochzusetzen, dann ist doch völlig klar, dass nach dem Gesetz, wie wir es bislang beschlossen haben, dann auch der Mindestlohn von uns auf dieser Basis festgelegt werden wird. Da gibt es doch überhaupt kein Vertun.
Herr Kollege? Erlauben Sie – –
Nur, was wir nicht wollen, ist gewissermaßen der immerwährende Eingriff des Gesetzgebers in die Lohnfindung. Wir haben der Mindestlohnkommission eine Möglichkeit gegeben, über die nachholende Tarifentwicklung hinaus tätig zu werden und andere gesamtwirtschaftliche Überlegungen bei der Festlegung des Mindestlohnes einzubeziehen.
Herr Kollege, erlauben Sie Zwischenfragen?
Ich mache das gerne, Herr Präsident, und ich habe nur darauf gewartet, dass Sie mich fragen.
Aha, das ist sehr schön. Ich habe es vorhin schon versucht. – Frau Kollegin Ferschl hat die erste Zwischenfrage.
Vielen Dank, Herr Präsident, und danke, Herr Professor Zimmer, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Sie haben ja gerade selber auf den im europäischen Vergleich sehr, sehr niedrigen Mindestlohn in Bezug auf den Median hingewiesen. Da liegen wir ja nicht nur im mittleren unteren Feld, sondern wirklich ganz deutlich unten. Sie haben auch gesagt, Sie haben nichts gegen einen Mindestlohn von 12 Euro, wenn ihn die Mindestlohnkommission beschließt. Das ist immer die Argumentation, die von Ihnen und von der Union kommt,
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die ich aber, ehrlich gesagt, ziemlich zynisch finde, weil der Mindestlohn von Beginn an eben zu niedrig war, viel zu wenig Kaufkraft entfaltet und viel zu wenige Menschen vor Armut schützt.
Es ist ja immer die große Aussage, man müsste die Tarifautonomie stützen. Im Übrigen – das sei auch einmal angemerkt –: Wir sind mit Sicherheit für die Tarifautonomie. Wir wollen Tarifverträge sogar stärker, weil wir für eine Erleichterung der Allgemeinverbindlicherklärung sind.
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Aber die Mindestlohnkommission hat doch eine Krux, und die steht in der Geschäftsordnung; aus dieser will ich ganz kurz zitieren. In der Geschäftsordnung der Mindestlohnkommission steht, dass „die Anpassung des Mindestlohns … im Regelfall gemäß der Entwicklung des Tarifindex des Statistischen Bundesamts … in den beiden vorhergehenden Kalenderjahren“ erfolgen soll und dass „von diesem Prinzip“ nur mit einer „2/3-Mehrheit der stimmberechtigten Mitglieder“ der Mindestlohnkommission abgewichen werden kann.
Das bedeutet letztendlich, dass wir immer wieder daran gebunden sind und diesen zu niedrigen Mindestlohn fortlaufend festschreiben. Wir wären bei den durchschnittlichen Erhöhungen im Jahr 2033 bei einem Mindestlohn von 12 Euro. Das ist aberwitzig. Also müsste man richtigerweise sagen, man nimmt den Mindestlohn einmal raus, erhöht ihn, um dann wieder die Kommission arbeiten zu lassen. Denn mit den Stimmen der Arbeitgeber wird mit Sicherheit kein einmalig größerer Sprung beschlossen werden.
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Frau Ferschl, Sie haben mit einem völlig recht: Diese Geschäftsordnung, die sich die Mindestlohnkommission gegeben hat, entspricht nicht den Intentionen, die wir als Gesetzgeber damals gehabt haben.
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Eines muss man auch in aller Deutlichkeit sagen – das haben wir dieser Mindestlohnkommission auch wiederholt gesagt –: Wir haben damals in dem Gesetz vorgesehen, dass die Mindestlohnkommission eben nicht nur eine nachholende Tarifentwicklung festschreibt. Denn dafür brauchen wir keine Mindestlohnkommission. Dafür brauchen sich nur zwei Leute zum Kaffee zu treffen und zu sagen: „Das sind die Werte, die wir jetzt annehmen“, um dann den Mindestlohn entsprechend zu erhöhen.
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Nein, wir wollten, dass die Mindestlohnkommission sehr genau nachschaut: Ist es vielleicht sinnvoll, jetzt die Nachfrage zu stärken? Ist es vielleicht sinnvoll, aus anderen Gründen den Mindestlohn zu erhöhen? Ich brauche keine Mindestlohnkommission, Frau Ferschl, um lediglich eine nachholende Tarifentwicklung aufzuschreiben. Dafür reicht ein Notariatsgehilfe. Deswegen sind wir auch der Meinung: Es ist ein Fehler, was hier in der Geschäftsordnung festgehalten worden ist, und das muss geändert werden. Aber das bedeutet nicht, dass wir selbst den Mindestlohn neu festlegen, sondern nur, dass die Mindestlohnkommission so arbeitet, wie wir das gerne hätten. Dann wären auch vernünftige Mindestlohnabschlüsse möglich.
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Meine Damen und Herren, ich glaube, dass es das Vorrecht der Opposition ist, höhere Mindestlöhne zu fordern, und dass es auch das Vorrecht der Opposition ist, dies auf gesetzlichem Wege zu tun. Aber ich glaube, dass es eben nur das Vorrecht der Opposition ist und verantwortliches Verhandeln in der Regierung bedeutet, dass wir uns an die Gesetze halten
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und die Mindestlohnkommission arbeiten lassen mit dem Hinweis darauf, wie wir gerne die Arbeit hätten, nämlich auf gesetzlicher Grundlage. Ich denke, dass wir damit besser fahren, als in die Tarifverhandlungen der Mindestlohnkommission selbst einzugreifen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Zimmer. – Zwischenfragen können zu einer Verdoppelung der Redezeit führen. Herr Zimmer, das ist kein Vorwurf an Sie.
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– Das dachte ich mir schon.
Nächster Redner ist der Kollege Jürgen Pohl, AfD-Fraktion.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen! Werte Zuschauer an den TV-Geräten! Die Bevölkerung sagt: Das Maß ist voll. – Meine Damen und Herren, die Fehler, die die Regierung in den letzten Monaten machte, waren groß genug. Ohne jede Rücksicht wurden Arbeitsplätze von Millionen von Beschäftigten in Gefahr gebracht oder sogar vernichtet. Dem Krisenmanagement der Bundesregierung mangelt es gerade mit dem Blick auf die Ökonomie und die sozialen Bedürfnisse der Menschen an Maß und Verantwortungsbewusstsein.
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Überall hat der Lockdown verheerenden wirtschaftlichen Schaden angerichtet. Die Prognosen sämtlicher Wirtschaftsforschungsinstitute für die kommenden Monate gleichen Katastrophenmeldungen. In Deutschland dürften viele kleine und mittelständische Betriebe den von der Bundesregierung angeordneten Lockdown nicht überleben. Das heißt, die Politik der Bundesregierung zerstört im großen Stil die Existenzen von Unternehmern und deren Mitarbeitern.
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Liebe Abgeordnete von den Linken, es ist schon eine recht billige Nummer im Zuge des allgemeinen Gezerres um Coronahilfen, schnell noch Anträge hinterherzuschieben und die dort mit zu verpacken, obwohl Sie im Ausschuss für Arbeit und Soziales regelmäßig und krachend mit Ihren Mindestlohnanträgen scheitern. Sie stellen diesen Antrag auch alleinig, um die Gunst der Stunde zu nutzen und Klientelpolitik zu machen.
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Sie werden doch wohl nicht denken, dass Sie heute im Sturm die Herzen Ihrer parlamentarischen Kollegen erobern werden.
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Kommen wir mal zu Ihrem Antrag. Schauen wir uns diesen Antrag mal an – ich will es den Leuten zu Hause auch mal zeigen –:
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Wir haben eine einzige Seite
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und ein bisschen, würde man sagen.
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Das können die aber nicht sehen, Herr Kollege.
Mit dieser einen Seite und ein bisschen soll auf einmal der Mindestlohn pauschal um 20, 25 Prozent erhöht werden.
({0})
Mit dieser einen Seite soll die Mindestlohnkommission geknebelt werden. Ich sage eines: Ihr Antrag vom 28. Februar 2018, von vor zwei Jahren, der Gleiches oder Ähnliches wollte, hatte wenigstens noch vier Seiten und dahinter eine Begründung. Die ersparen wir uns heute. Ich meine: Das ist gar nichts, was Sie da gebracht haben.
({1})
Ich sage Ihnen eines: Der deutsche Arbeitnehmer, den Sie hier angeblich vertreten wollen, dieser deutsche Arbeitnehmer, den Sie am 17. Juni 1953 in den Knast und in die Folterkammern der Russen gesteckt haben,
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dieser Arbeitnehmer hätte mehr Achtung und mehr Qualität in Ihrer Arbeit verdient. Sie können doch nicht kommen und sagen: „Das ist der Antrag, der den deutschen Arbeitnehmer und deutschen Mindestlöhner rettet“, und liefern so ein dürftiges Ding ab. Das ist gar nichts!
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– Natürlich bin ich dafür.
({4})
– Alles zu seiner Zeit, wenn die Betriebe sich das leisten können.
({5})
Ich sage Ihnen eines:
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– Das habe ich nie gesagt. Ich persönlich bin voll für eine Mindestlohnerhöhung.
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Ich bin für die soziale Sicherstellung der Arbeitnehmer. Aber diese Arbeitnehmer brauchen auch noch einen Arbeitsplatz, Herr Birkwald. Und wenn Sie jetzt den deutschen Unternehmern aufgeben: „Sie zahlen alle pauschal 20, 30 Prozent mehr Mindestlohn“, wie viele Arbeitsplätze sollen dann verloren gehen? Wo wollen Sie die dann alle beschäftigen? Sehen Sie, genauso ist das.
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Das heißt, es ist keine Zeit für Klientelpolitik. Meine Damen und Herren, um das Land wieder nach vorne zu bringen, wäre es Zeit, gemeinsam an einem Strang für eine gemeinsame Wirtschafts- und vor allem soziale Politik zu kämpfen. In diesem Sinne: Lassen Sie uns im Ausschuss darüber sprechen.
Danke schön für die 10 Sekunden.
({9})
Herr Kollege Pohl, es waren 20 Sekunden, aber ist auch egal; das machen die anderen auch. – Nächster Redner wird nach der Reinigung des Rednerpults der Kollege Bernd Rützel, SPD-Fraktion, sein.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich freue mich auf jeden Fall, dass wir heute wieder mal über die Erfolgsgeschichte Mindestlohn sprechen. Vielen Dank für Ihren Antrag dazu, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken. Auch für mich ist es ein Jubiläum. Ich darf hier heute zum zehnten Mal zum Mindestlohn sprechen.
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Wir haben auch schon öfter über die Höhe des Mindestlohnes gesprochen, und ja, klar: 9,35 Euro – der aktuelle Mindestlohn – sind zu wenig; das ist zu niedrig.
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Arbeit ist mehr wert als diese 9,35 Euro in der Stunde. Es lohnt sich auch, dafür zu kämpfen, und es lohnt sich, politisch zu kämpfen.
Kollegin Ferschl hat, wie ich auch, die heutige ganzseitige Anzeige in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ dabeigehabt, in der Hunderte von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sagen: Hände weg von einer Reduzierung des Mindestlohnes wegen Corona! Im Gegenteil: Ihr müsst ihn erhöhen. – Genau das hat letztes Jahr auch der SPD-Parteitag im Sozialstaatspaket beschlossen. Das ist ganz klare Beschlusslage bei uns.
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Wir sagen aber auch: Der Mindestlohn ist nach wie vor eine Krücke. Besser wäre es, Tarifverträge zu haben, sodass die Leute ein Anrecht auf bessere und höhere Löhne haben.
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Morgen beschließen wir hier an dieser Stelle Änderungen im Arbeitnehmer-Entsendegesetz. Das ist ein komplizierter Name, aber dieses Gesetz bringt Fairness auf dem Arbeitsmarkt, und es werden Tariflöhne bezahlt.
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Ich gebe dem Kollegen Zimmer recht: 2014, als wir den Mindestlohn auf den Weg gebracht haben, haben wir in die Tarifautonomie eingegriffen. Wir haben diesen Lohn einmal festgelegt und gesagt: Die Mindestlohnkommission, in der Gewerkschafter und Unternehmer sitzen, können das mit der Tarifautonomie besser; die machen das. – Das ist richtig, und das soll auch so sein.
Aber wir stellen heute, nach sechs Jahren, fest, dass der Mindestlohn von 8,50 Euro nach den Erhöhungen bei 9,35 Euro gelandet ist. Das waren Trippelschritte. Das ist viel zu wenig; das geht zu langsam, und deswegen brauchen wir hier an dieser Stelle einen richtigen Wumms. Apropos „Wumms“: Olaf Scholz hat schon vor zwei Jahren gefordert, einen Mindestlohn von 12 Euro auf den Weg zu bringen.
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Und wer sollte ihm an dieser Stelle widersprechen?
Ich sage auch: Ja, es ist wieder Zeit. Wir müssen politisch eingreifen; woanders machen wir das auch. Das ist nicht nur notwendig, sondern es ist auch geboten, dass wir das tun. Danach kann die Mindestlohnkommission weiter Trippelschritte gehen.
Danke.
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Vielen Dank, Herr Kollege Rützel. – Nächster Redner ist für die FDP-Fraktion der Kollege Carl-Julius Cronenberg.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die gesundheitliche Bedrohung durch Corona sinkt, Gott sei Dank. Gleichzeitig steigt für viele Menschen die soziale Bedrohung durch die Folgen der Pandemie.
Allein 7 Millionen Kurzarbeiter bangen in diesen Tagen um ihren Job. Die schnelle und entschlossene Anpassung des Kurzarbeitergelds hilft, aber machen wir uns nichts vor: Wir haben noch keinen blassen Schimmer, für wie viele betroffene Beschäftigte es zurück in den Job geht und für wie viele in die Arbeitslosigkeit. Deshalb lautet das Gebot der Stunde, den hohen Beschäftigungsstand zu halten und nicht politisch motiviert zu gefährden.
Die Linke wünscht sich nun einen Mindestlohn, der in sozialpolitischer Absicht Armut bekämpft und damit über das ursprüngliche Ziel, wettbewerbspolitisch vor Lohndumping zu schützen, hinausgeht. Ihr Wunsch ist legitim; ordnungspolitisch klug ist er nicht. 28 Prozent Lohnerhöhung ohne entsprechende Produktivitätserhöhung: Das gefährdet Arbeitsplätze.
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– Dazu kommen wir noch.
Bei der Einführung des Mindestlohns vor sechs Jahren hat der Gesetzgeber aus gutem Grund sehr behutsam in bestehende Tariflöhne eingegriffen. Keine 5 Prozent der Tariflöhne mussten nach oben angepasst werden. Bei Ihrem Vorschlag heute wären das 20 Prozent, also viermal so viel. Das würde konsequenterweise entweder zur Folge haben, dass nahezu alle Tariflohngruppen angehoben werden – so höhlen Sie die Tarifautonomie weiter massiv aus – oder dass Sie damit den Lohnabstand zu den mittleren Lohngruppen abschaffen, was ungerecht gegenüber den Leistungsträgern ist,
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und zudem setzt es Fehlanreize bei den Schlüsselthemen Aus- und Weiterbildung.
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Außerdem ist in beiden Fällen zu befürchten, dass die Tarifbindung sinkt, und das ist schlecht.
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Schließlich würden Sie die Eintrittsbarriere in den ersten Arbeitsmarkt für die Schwächsten unserer Gesellschaft erhöhen: Ältere, Langzeitarbeitslose, Flüchtlinge, alleinerziehende Mütter. Sie würden ihnen die Chance nehmen, sich hochzuarbeiten, und das lehnen wir ab.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, Sie befinden sich inzwischen aber in guter Gesellschaft. Die Lust, den Mindestlohn politisch festzusetzen, ist längst wie ein Virus auf die Koalitionsfraktionen übergesprungen.
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Fast alle – Bernd Rützel hat es gerade noch mal bestätigt – wollen politisch eingreifen. Liebe SPD, die populistischen Forderungen der Linken zu kopieren, bringt Ihnen keine Wähler zurück, und liebe Union, die politische Absenkung des Mindestlohns oder selbst das Einfrieren rettet keinen Job.
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Die Unabhängigkeit der Mindestlohnkommission ist der Garant für die Arbeitsmarktstabilität, genau wie die Unabhängigkeit der Zentralbank Garant für Währungsstabilität ist. Lassen Sie die Mindestlohnkommission einfach in Ruhe ihre Arbeit machen; Matthias Zimmer hat an der Stelle doch vollkommen recht. Und warten Sie die Evaluation ab! Die haben Sie sich für dieses Jahr doch sowieso vorgenommen.
Ganz ehrlich: Wenn mir oder den Freien Demokraten vor fünf Jahren jemand prophezeit hätte, dass wir zu den letzten Gralshütern des deutschen Mindestlohngesetzes gehören würden, dann hätte ich ihn für verrückt erklärt.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Bevor wir fortfahren, stehe ich vor einem ganz kleinen Problem, das ich jetzt eigenmächtig löse.
Ich bin von der AfD-Fraktion darauf hingewiesen worden, dass es zumindest in Teilen des Jakob-Kaiser-Hauses zum Beginn der namentlichen Abstimmung über den KFOR-Einsatz nicht geklingelt hat, und ich bin gebeten worden, die namentliche Abstimmung um 15 Minuten zu verlängern, was deshalb unangemessen wäre, weil von der Mitteilung bis zu dem Zeitpunkt, den ich jetzt benennen werde, ausreichend Zeit ist bzw. war, um vom Jakob-Kaiser-Haus hierherzukommen.
Ich werde die namentliche Abstimmung bis 17.46 Uhr verlängern; das reicht aus. Damit ist dem Begehren der AfD-Fraktion Rechnung getragen, und alle, die noch unterwegs sind, können abstimmen.
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Ich muss das noch mal für die Lobby bekannt geben: Die namentliche Abstimmung zum KFOR-Einsatz wird bis 17.46 Uhr verlängert wegen eines möglichen technischen Problems bei der Durchsage im Jakob-Kaiser-Haus.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Beate Müller-Gemmeke, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Wenn in Zeiten von Corona der Mindestlohn infrage gestellt wird, wenn es die Debatte gibt, dass der Mindestlohn abgesenkt oder zumindest die Erhöhung ausgesetzt werden soll, dann verunsichert das Millionen von Menschen im Niedriglohnbereich, und dabei geht es auch um Beschäftigte, die vor Kurzem noch als systemrelevant bezeichnet wurden, weil sie für uns das Leben am Laufen gehalten haben. – Dieser Hinweis war mir jetzt einfach wichtig; denn diese Debatte – auch in der Union – ist nicht nur schräg, sondern vor allem zynisch.
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Genau wegen solcher Diskussionen waren wir Grünen bei der Forderung, den Mindestlohn parlamentarisch – also hier im Bundestag – zu erhöhen, anfangs zögerlich; denn wenn der Mindestlohn politisch erhöht werden kann, dann kann er auch politisch abgesenkt werden. Deshalb stehen auch wir weiterhin zur Mindestlohnkommission. Wir wollen sie aber stärken, damit sie Freiheiten und Spielräume bekommt und tatsächlich gestalten kann.
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Der Mindestlohn ist eine Frage der Gerechtigkeit. Er muss die Beschäftigten vor Lohndumping und die Unternehmen vor Schmutzkonkurrenz schützen, und ein Mindestlohn muss natürlich vor allem die Menschen vor Armut schützen. Aber genau das ist eben nicht der Fall, und deshalb muss der Mindestlohn deutlich erhöht werden.
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Auch wir sagen: 12 Euro – aber in Zeiten von Corona vielleicht nicht in einem Schritt, sondern schrittweise. Genau das schreiben ja auch die wissenschaftlichen Institute der Hans-Böckler-Stiftung in einer Stellungnahme an die Mindestlohnkommission. Eine Erhöhung in Schritten, aber dennoch sehr schnell auf 12 Euro: Das könnte eine gute Strategie sein, und ich hoffe sehr, dass sich ein breites Bündnis für diesen Weg, für diese Strategie starkmacht. Vielleicht kann dann auch die SPD bei dieser Strategie mitmachen.
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Das wäre jetzt, in der Coronakrise, auch ökonomisch genau das Richtige.
Wenn der Mindestlohn jetzt steigt, dann werden Millionen von Menschen jeden einzelnen Euro davon auch ausgeben. Das stärkt die Nachfrage. Und dieser positive Impuls wäre gerade jetzt für die Wirtschaft extrem wichtig.
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Für die Beschäftigten ist es wichtig, dass ihre Arbeit fair entlohnt wird. Und das geht am besten mit guten Tarifverträgen. Dafür ist auch der Mindestlohn wichtig; denn er stärkt und stabilisiert das Tarifvertragssystem von unten. Es braucht aber noch mehr Anreize, um die Tarifbindung zu stärken. Tarifverträge, die für alle gelten, und Tariftreueregelungen – das sind die Stichworte. Neben einem höheren Mindestlohn braucht es also ein Bündel von Maßnahmen. Nur so entsteht Lohngerechtigkeit und damit auch mehr Nachfrage, und beides ist in Zeiten von Corona wichtig und dringend notwendig.
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Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Müller-Gemmeke. – Nächster Redner ist der Kollege Thomas Heilmann, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine lieben Kollegen! Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, weniger auf der Tribüne als an den digitalen Endgeräten! Liebe Linksfraktion, Sie bleiben eine monothematische Partei.
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Deshalb führen wir heute wieder einmal – ich weiß nicht, zum wievielten Mal – exakt dieselbe Debatte. Sie wollen einen politisch festgesetzten Mindestlohn,
({1})
und wir wollen einen, der marktwirtschaftlich von Arbeitgebern und Arbeitnehmern ermittelt wird. Meine Vorredner sind darauf eingegangen.
Als ich nun gestern meine Rede vorbereiten wollte, war Ihr Antrag noch gar nicht eingereicht. Ich habe meine Fraktionskollegen um Rat gebeten, und die haben gesagt: Nimm einfach den alten Antrag; die schreiben eh immer von sich selber ab.
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So werden Sie von außen betrachtet. Und deshalb habe ich mir überlegt, Ihnen einen Vorschlag zu machen: Begeben Sie sich außerhalb dessen, was Sie immer denken, außerhalb Ihrer Blase, und erweitern Sie Ihren Horizont.
Das Konjunktur- und Aufbruchspaket der Bundesregierung enthält 57 Punkte. Jeder einzelne wäre eine Debatte wert. Und bei jedem einzelnen stellt sich die Frage: Was sagt eigentlich die Linkspartei dazu?
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– Von mir aus auch „Die Linke“. – Ich habe auf Ihrer Fraktionshomepage nachgeschaut: Es gibt dort gerade mal zwei ziemlich kurze und ziemlich dürre Statements. Die kann man vielleicht mit „Ja, aber“ zusammenfassen. Details? Fehlanzeige!
Noch bemerkenswerter ist die Homepage Ihrer Partei Die Linke. Auch dort habe ich nachgeguckt. Gleich am Anfang findet man einen sehr langen Artikel, der sehr sachlich das Paket darstellt. Dann kommen die Reaktionen, allerdings nicht von Ihnen.
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Vielmehr zitieren Sie zu meiner Überraschung zuerst die Reaktionen der CDU, dann die der SPD, dann der anderen Parteien, dann der Gewerkschaften, dann der Umweltverbände usw. Nur Ihre eigenen gibt es da irgendwie nicht. Das bedeutet: Auf der Homepage der Linken findet man mehr dazu, was die CDU zum Konjunkturpaket sagt, als dazu, was Ihre eigene Partei sagt – zu meiner großen Überraschung.
({5})
Das könnte man „übertriebene Fairness“ nennen. Mein Fazit ist: Die Linkspartei
({6})
hat nicht nur keine neuen Ideen, sondern oft nicht mal eine Meinung.
Deshalb habe ich noch eine Anregung für Sie mitgebracht: 64 Bundestagsabgeordnete und Experten haben gleich 103 neue Vorschläge entwickelt und in einem Buch „Neustaat“ aufgeschrieben. Dort finden Sie, wie unser Staat modernisiert werden könnte. Dort finden Sie, wie wir neue Arbeitsplätze schaffen wollen. Dort finden Sie, wie wir Menschen helfen könnten, mit den anstehenden Veränderungen zurechtzukommen; denn das ist aus unserer Sicht die effektivste Armutsbekämpfung. Wir skizzieren, wie möglichst alle von der technologischen Transformation profitieren könnten. Sie finden in „Neustaat“ auch einen neuen Vorschlag – das müsste Sie interessieren –, wie wir die gesetzliche Rente stärken können.
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Wir haben insgesamt eine Bestandsaufnahme vorgenommen, was der Staat heute kann, was er nicht so gut kann und vor allem, wie es besser werden könnte.
Liebe Linkspartei,
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lassen Sie uns bitte über die Lösungen der Zukunft diskutieren, werden Sie aktuell. Nutzen Sie zum Beispiel die Chancen des „Neustaats“,
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und wiederholen Sie nicht immer dieselben Anträge!
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Vielen Dank, Herr Kollege Heilmann.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. Aber ich finde, man kann sich schon gar nicht mehr vorstellen, wo wir heute ohne den Mindestlohn wären. Seit er eingeführt wurde, haben Millionen Beschäftigte davon profitiert. Das betrifft zum Beispiel die Beschäftigten in der Gastronomie, im Sicherheitsgewerbe und im Einzelhandel. Meine Damen und Herren, das sind zu einem großen Teil genau die Menschen, die wir jetzt in der Coronakrise als Helden des Alltags feiern. Sie profitieren maßgeblich vom Mindestlohn. Und, Herr Cronenberg, das sind die Leistungsträger unserer Gesellschaft.
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Die Linke – auch das gehört zur historischen Wahrheit – hat damals nicht für das Mindestlohngesetz gestimmt, obwohl sie eigentlich dafür war.
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Die Gründe waren damals: 8,50 Euro waren Ihnen zu wenig, und die Ausnahmen waren Ihnen zu viel. Frau Ferschl, Sie haben das ja eben noch mal ausdrücklich verteidigt.
Aber ich sage Ihnen was: Die Ausnahmen waren uns auch zu viel. – Aber das ist der Unterschied zwischen Ihnen und uns: Sie merken nicht, wenn man eine historische Chance hat, die man wahrnehmen muss.
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Sie sagen: Entweder bekommen wir den Mindestlohn zu unseren Konditionen, oder wir wollen ihn gar nicht.
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Und eines ist sicher: Wenn wir Ihrer Strategie gefolgt wären, dann hätten wir heute keinen Mindestlohn.
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Sie fordern nun, den Mindestlohn auf 12 Euro zu erhöhen. Es ist kein Geheimnis: Die SPD will das auch. Nur schlagen wir einen anderen Weg als die Linken vor. Lohnfindung ist ja erst mal nicht Aufgabe des Gesetzgebers, sondern Sache der Tarifparteien.
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Ein gesetzlich neu festgelegter Mindestlohn ist daher schon ein sehr starker Eingriff in die Tarifautonomie. Ein solcher Eingriff geht nicht ohne intensive Beteiligung der Sozialpartner. Und die sind in der Mindestlohnkommission vertreten. Die Entscheidung über die Höhe des Mindestlohns sollte von ihr getroffen werden.
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Und im Gesetz ist für das Jahr 2020 eine Evaluation vorgesehen. 2020 ist übrigens jetzt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, uns alle eint ein politisches Ziel: Der Mindestlohn soll für ein existenzsicherndes Einkommen sorgen, und das bedeutet: für ein armutsfestes Einkommen nicht nur heute, sondern auch in Zukunft. Der Lohn soll nämlich so hoch sein, dass er einen auskömmlichen Rentenanspruch mit sich bringt. Ich halte es für sinnvoll, diese Sicherungsfunktion nach einer Evaluation des Mindestlohns neu in den Auftrag der Mindestlohnkommission zu schreiben.
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Und dann gibt es auch 12 Euro.
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Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Stephan Stracke, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bei der Festsetzung der Höhe des Mindestlohns geht es im Grundsatz um eine Lösung eines Zielkonflikts. Dieser Zielkonflikt besteht zwischen der Beschäftigungssicherung einerseits und der Armutsvermeidung andererseits. Bei der Einführung des Mindestlohns ging dieser erstaunlich problemlos über die Bühne. Das hat sicherlich mit dem konjunkturellen Umfeld zu tun, aber auch damit, dass die Eingriffsintensität des Mindestlohns in das Lohngefüge von der Wissenschaft weitgehend überschätzt wurde.
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Wir stellen allerdings fest, dass es seit Einführung des Mindestlohns erhebliche Verstöße zu verzeichnen gab. 2017 waren es schätzungsweise 1,8 Millionen Fälle. Das zeigt, worin unsere Aufgabe liegt: Wir müssen die Kontrolldichte erhöhen, um verstärkt gegen Verstöße vorgehen zu können. Das tun wir auch, beispielsweise mit der Stärkung der Zollverwaltung und vielen anderen Dingen mehr.
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Das tut in diesem Bereich gut.
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Im Zuge der Coronakrise stecken wir jetzt allerdings in der tiefsten Rezession der Nachkriegsgeschichte. Damit unterliegt der Mindestlohn zum ersten Mal einer Bewährungsprobe. Wir müssen alles daransetzen – und das tun Koalition und Regierung –, Beschäftigung in dieser Phase zu sichern und nicht zu gefährden. Derjenige, der jetzt für eine schlagartige Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro ist, der gefährdet im Ergebnis Beschäftigung, und das ist kontraproduktiv. Man spielt nicht mit Arbeitsplätzen, und man spielt auch nicht mit Existenzen. Das ist der Grund, weswegen wir den vorliegenden Antrag ablehnen.
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Die Anpassung des Mindestlohns ist nicht Aufgabe von Politik. Wir haben ihn einmal festgesetzt,
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aber dann das weitere Vorgehen aus guten Gründen der Mindestlohnkommission übergeben; denn wir wissen, dass es die Tarifvertragsparteien sind, die für die Festsetzung des Tariflohns berufen sind. Lohnpolitik ist im Übrigen genauso wie Geldpolitik nicht originäre Aufgabe des Staates. Deswegen haben wir die Tarifautonomie als wesentliches Prinzip im Grundgesetz etabliert. Die Tarifvertragsparteien sind für die Lohnfindung zuständig, und die Lohnentwicklung bestimmt letztendlich die Höhe des Mindestlohns. Umgekehrt gilt im Übrigen, dass der Mindestlohn in einigen Branchen die Tarifdynamik beeinflusst. Diese Wechselwirkung muss man sich klar vor Augen halten.
Die Mindestlohnanpassung folgt der Tariflohnentwicklung. Das ist eine gute Regel. Sie hat sich bewährt, und an ihr wollen wir festhalten;
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denn sie nimmt diejenigen in die Verantwortung, die für die Tarifentwicklung in diesem Lande am besten berufen sind, nämlich die Tarifvertragsparteien.
Herzliches Dankeschön.
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Vielen Dank, Herr Kollege Stracke. – Damit schließe ich die Aussprache.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Gäste! „Man vergisst vielleicht, wo man die Friedenspfeife begraben hat. Aber man vergisst niemals, wo das Beil liegt.“ Dieses Zitat von Mark Twain klingt so, als beschreibe es den langanhaltenden Konflikt im Libanon.
Verheerende Anschläge der PLO von libanesischem Territorium aus geführt hatten 1978 zur Folge, dass eine verheerende Konfrontation zwischen Israel und dem Libanon stattfand. Israel besetzte Teile des südlichen Gebietes, obwohl sich die libanesische Regierung vom PLO-Terror losgesagt und distanziert hatte. Als Reaktion auf dieses militärische Eingreifen Israels verabschiedeten die Vereinten Nationen die Resolution 425, auch, um weitere Eskalationen zu verhindern. 1978 startete zudem die allererste UNIFIL-Mission.
So alt ist dieser Konflikt mindestens, und seitdem markiert die sogenannte Blaue Linie als Demarkationslinie die Grenze zwischen Israel und dem Libanon. Immer wieder finden dort trotz UN-Einsätzen Zwischenfälle statt, so etwa, als 2006 zwei israelische Soldaten von Terroristen verschleppt und fünf getötet wurden. Immer wieder hat sich bestätigt, dass die Blaue Linie Teil eines höchst fragilen Waffenstillstands ist.
Ferner ist es uns noch nicht hinreichend gelungen, die Hisbollah-Terrormiliz aus diesem Territorium fernzuhalten, was für den Frieden dort aber eminent wichtig wäre. Wir mögen, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Situation beklagen, aber stellen Sie sich nur einen ganz kurzen Moment vor, was für ein Ausmaß von Tod, Mord und Krieg es bedeuten würde, gäbe es dort keine UNIFIL-Mission.
Heute stimmen wir also über die Fortsetzung des Einsatzes der Bundeswehr mit rund 300 Soldatinnen und Soldaten zum Schutz und zur Stabilisierung des Libanon als Teil der UNIFIL-Mission ab. Dies soll zugleich den Frieden an der Blauen Linie sicherstellen. Unsere Soldatinnen und Soldaten sollen mit der Korvette „Ludwigshafen am Rhein“ auch gewährleisten, dass humanitäre Hilfe die Menschen erreichen kann. Lassen Sie mich deshalb die Gelegenheit nutzen, diesen Soldatinnen und Soldaten noch einmal herzlich Danke zu sagen.
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Die Fortsetzung des UNIFIL-Einsatzes ist heute wichtiger denn je. Warum ist das so? Bei Feuergefechten zwischen der Hisbollah und Israel etwa gelang es UNIFIL im August und im September des vergangenen Jahres, als Vermittler einen eminent wichtigen Beitrag zur raschen Einstellung der Feindseligkeiten zu leisten. Der Libanon stand seit jeher als multiethnischer und multireligiöser Staat vor immensen Herausforderungen und Konflikten, insbesondere durch den Druck der vom Iran unterstützten schiitischen Hisbollah-Milizen, aber auch durch massive Spannungen im Inneren des Landes. Stets ist dieser Konflikt eine harte friedenspolitische Probe für den Libanon.
Lassen Sie mich ganz konkret ein paar Zahlen nennen: Von November 2019 bis Februar 2020 konnte UNIFIL sage und schreibe 393 Antipersonenminen räumen – ein Auftrag, der fortgesetzt werden muss, meine ich, liebe Kolleginnen und Kollegen. Und obwohl der Libanon gerade einmal 6 Millionen Einwohner zählt, hat das Land über 1 Million Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen; auch das ist zu beachten.
Deshalb bitte ich Sie heute um Unterstützung für dieses Mandat. Ja, manche von Ihnen würden sagen, Friede sei mehr als die Abwesenheit von Krieg. Blicken wir aber auf den Libanon, wäre schon das ein großer Gewinn.
Vielen Dank.
({1})
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner ist der Kollege Berengar Elsner von Gronow, AfD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als ich in meinem Redebeitrag im Ausschuss zu diesem Einsatz sagte, dass es selbstverständlich legitim sei, wenn Soldaten als mündige Bürger in Uniform die Sinnhaftigkeit von Einsätzen hinterfragen, wurde mir seitens des Staatssekretärs Dr. Tauber Unredlichkeit, also Ehrlosigkeit, Charakterlosigkeit, unterstellt, weil ich in Abrede stellen würde, dass das in der Bundeswehr möglich sei. Zum einen habe ich das so nie gesagt, sondern nur die Zulässigkeit benannt, was eigentlich selbstverständlich sein sollte.
({0})
Zum anderen glauben Sie anscheinend mittlerweile wirklich an Ihre eigene Propaganda, oder es geht Ihnen nur noch darum, den politischen Wettbewerber schlechtzumachen. Ich weiß nicht, was schlimmer ist. Denn natürlich kann man als Soldat alles sagen, aber wenn es nicht dem parteipolitisch Gewünschten entspricht, hat man eben mit den Konsequenzen zu rechnen.
({1})
Frau Möller unterstellte mir dann, mit falschen Tatsachenbehauptungen meine eigene politische Meinung als Meinung der Soldaten darzustellen, was eine bekannte miese Masche von rechts sei. Auch diese ehrabschneidende Unterstellung weise ich deutlich zurück.
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Statt mit persönlichen Angriffen, Beleidigungen und Unterstellungen die Sachebene derart zu verlassen,
({3})
empfehle ich Ihnen: Sprechen Sie auch mit den einsatzerprobten Kameraden, mit denen Sie gedient haben, verdienen Sie sich das Vertrauen der Soldaten, um ehrliche Rückmeldungen zu erhalten und nicht nur die gewünschte Klarmeldung: Jawohl, Herr Staatssekretär, jawohl, Frau Abgeordnete, alles prima.
Dann würden Sie auch über diesen Einsatz Beurteilungen hören, die durchaus nicht dem entsprechen, was Sie uns, dem Parlament und der Öffentlichkeit gegenüber darstellen. Und ich rede hier nicht von einem unzufriedenen Einzelfall, wie Sie unsere Quellen so gerne desavouieren. Der Soldat gibt ja nicht mit dem Anlegen seiner Uniform das Gehirn ab oder stellt das Denken damit ein. Wenn er mit offenen Augen seinen Dienst tut, kommt er zu Einschätzungen, wie hier im Einsatz UNIFIL, die den Ihren durchaus zuwiderlaufen.
({4})
Einiges davon habe ich im Ausschuss benannt, wenn auch dort wie hier die Zeit dafür nicht ausreichte. Die Details erspare ich uns an dieser Stelle; sie wurden oft genug im Zusammenhang mit der Mandatsverlängerung genannt. Viel mehr könnte man nennen.
Um nicht ungewollt den falschen Eindruck zu erwecken, die Kritikpunkte seien von der Bundeswehr zu verantworten, sage ich hier ganz klar: Das, was man an diesem Einsatz kritisieren kann und muss, liegt nicht an mangelnden Fähigkeiten oder einem mangelnden Willen unserer Soldaten, sondern an den unzulänglichen Rahmenbedingungen, und diese werden politisch verantwortet.
({5})
Es bleibt abschließend festzuhalten, dass der Nutzen und die Nachhaltigkeit des deutschen Engagements in keinem guten Verhältnis zum Aufwand stehen, die messbaren positiven Effekte zu gering sind. Hören Sie also auf, Ideologie und Schönfärberei in der Politik zu betreiben. Fangen Sie an, Realpolitik im Sinne der Deutschen zum Wohle unseres Landes zu machen. Hören Sie auf, Ressourcen an Personal, Material und Finanzmitteln für Schaufensterpolitik zu verwenden. Holen Sie unsere Soldaten nach Hause.
({6})
Vielen Dank, Herr Kollege. – Bevor der Kollege Dr. Wadephul zu Wort kommt, teile ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses (3. Ausschuss) zu dem Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der internationalen Sicherheitspräsenz in Kosovo (KFOR) Drucksachen 19/19001 und 19/19587, mit: abgegebene Stimmen 670. Mit Ja haben gestimmt 513, mit Nein haben gestimmt 152, Enthaltungen 5. Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 670;
davon
ja: 513
nein: 152
enthalten: 5
Ja
CDU/CSU
Dr. Michael von Abercron
Stephan Albani
Norbert Maria Altenkamp
Philipp Amthor
Artur Auernhammer
Peter Aumer
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Maik Beermann
Manfred Behrens (Börde)
Veronika Bellmann
Sybille Benning
Dr. André Berghegger
Melanie Bernstein
Christoph Bernstiel
Peter Beyer
Marc Biadacz
Steffen Bilger
Peter Bleser
Norbert Brackmann
Michael Brand (Fulda)
Dr. Reinhard Brandl
Silvia Breher
Sebastian Brehm
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Dr. Carsten Brodesser
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Michael Donth
Marie-Luise Dött
Hansjörg Durz
Thomas Erndl
Hermann Färber
Uwe Feiler
EnakFerlemann
Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land)
Dr. Maria Flachsbarth
Thorsten Frei
Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof)
Michael Frieser
Hans-Joachim Fuchtel
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Eckhard Gnodtke
Ursula Groden-Kranich
Hermann Gröhe
Klaus-Dieter Gröhler
Michael Grosse-Brömer
Astrid Grotelüschen
Manfred Grund
Oliver Grundmann
Monika Grütters
Fritz Güntzler
Olav Gutting
Christian Haase
Florian Hahn
Jürgen Hardt
Matthias Hauer
Mark Hauptmann
Dr. Matthias Heider
Mechthild Heil
Thomas Heilmann
Frank Heinrich (Chemnitz)
Mark Helfrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Marc Henrichmann
Ansgar Heveling
Christian Hirte
Dr. Heribert Hirte
Alexander Hoffmann
Karl Holmeier
Erich Irlstorfer
Hans-Jürgen Irmer
Thomas Jarzombek
Andreas Jung
Ingmar Jung
Alois Karl
Anja Karliczek
Torbjörn Kartes
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Ronja Kemmer
Roderich Kiesewetter
Michael Kießling
Dr. Georg Kippels
Volkmar Klein
Axel Knoerig
Markus Koob
Carsten Körber
Alexander Krauß
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Michael Kuffer
Dr. Roy Kühne
Dr. Dr. h. c. Karl A. Lamers
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Silke Launert
Jens Lehmann
Paul Lehrieder
Dr. Andreas Lenz
Antje Lezius
Andrea Lindholz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Nikolas Löbel
Bernhard Loos
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Dr. Saskia Ludwig
Karin Maag
Yvonne Magwas
Dr. Thomas de Maizière
Gisela Manderla
Dr. Astrid Mannes
Matern von Marschall
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer (Altötting)
Dr. Michael Meister
Jan Metzler
Dr. h. c. (UnivKyiv) Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Karsten Möring
Elisabeth Motschmann
Axel Müller
Dr. Gerd Müller
Sepp Müller
Carsten Müller (Braunschweig)
Stefan Müller (Erlangen)
Dr. Andreas Nick
Petra Nicolaisen
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Wilfried Oellers
Florian Oßner
Josef Oster
Henning Otte
Ingrid Pahlmann
Sylvia Pantel
Martin Patzelt
Dr. Joachim Pfeiffer
Stephan Pilsinger
Dr. Christoph Ploß
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Kerstin Radomski
Alois Rainer
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Stefan Rouenhoff
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht
Stefan Sauer
Anita Schäfer (Saalstadt)
Dr. Wolfgang Schäuble
Jana Schimke
Tankred Schipanski
Christian Schmidt (Fürth)
Dr. Claudia Schmidtke
Patrick Schnieder
Nadine Schön
Felix Schreiner
Dr. Klaus-Peter Schulze
Uwe Schummer
Armin Schuster (Weil am Rhein)
Torsten Schweiger
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Thomas Silberhorn
Björn Simon
Tino Sorge
Katrin Staffler
Frank Steffel
Dr. Wolfgang Stefinger
Albert Stegemann
Andreas Steier
Peter Stein (Rostock)
Sebastian Steineke
Johannes Steiniger
Christian Frhr. von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Dr. Peter Tauber
Dr. Hermann-Josef Tebroke
Hans-Jürgen Thies
Alexander Throm
Dr. Dietlind Tiemann
Antje Tillmann
Markus Uhl
Dr. Volker Ullrich
Arnold Vaatz
Kerstin Vieregge
Volkmar Vogel (Kleinsaara)
Christoph de Vries
Kees de Vries
Dr. Johann David Wadephul
Marco Wanderwitz
Nina Warken
Kai Wegner
Albert H. Weiler
Marcus Weinberg (Hamburg)
Dr. Anja Weisgerber
Peter Weiß (Emmendingen)
Sabine Weiss (Wesel I)
Ingo Wellenreuther
Marian Wendt
Kai Whittaker
Annette Widmann-Mauz
Bettina Margarethe Wiesmann
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth Winkelmeier-Becker
Oliver Wittke
Tobias Zech
Emmi Zeulner
Paul Ziemiak
Dr. Matthias Zimmer
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Bela Bach
Heike Baehrens
Ulrike Bahr
Nezahat Baradari
Doris Barnett
Dr. Matthias Bartke
Sören Bartol
Bärbel Bas
Lothar Binding (Heidelberg)
Dr. Eberhard Brecht
Leni Breymaier
Dr. Karl-Heinz Brunner
Katrin Budde
Dr. Lars Castellucci
Bernhard Daldrup
Dr. Daniela De Ridder
Dr. KarambaDiaby
Esther Dilcher
Sabine Dittmar
Saskia Esken
Yasmin Fahimi
Dr. Johannes Fechner
Dr. Fritz Felgentreu
Dr. Edgar Franke
Ulrich Freese
Dagmar Freitag
Michael Gerdes
Martin Gerster
Angelika Glöckner
TimonGremmels
Kerstin Griese
Michael Groß
Uli Grötsch
Bettina Hagedorn
Rita Hagl-Kehl
MetinHakverdi
Sebastian Hartmann
Dirk Heidenblut
Gabriela Heinrich
Marcus Held
Wolfgang Hellmich
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Thomas Hitschler
Frank Junge
Josip Juratovic
Thomas Jurk
Oliver Kaczmarek
Elisabeth Kaiser
Ralf Kapschack
Gabriele Katzmarek
CanselKiziltepe
Arno Klare
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe
Anette Kramme
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)
Dr. Karl Lauterbach
Sylvia Lehmann
Helge Lindh
Kirsten Lühmann
Heiko Maas
Isabel Mackensen
Caren Marks
Dorothee Martin
Katja Mast
Christoph Matschie
Hilde Mattheis
Dr. Matthias Miersch
Klaus Mindrup
Susanne Mittag
FalkoMohrs
Claudia Moll
Siemtje Möller
Bettina Müller
Detlef Müller (Chemnitz)
Michelle Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Dietmar Nietan
Ulli Nissen
Thomas Oppermann
Josephine Ortleb
Mahmut Özdemir (Duisburg)
Christian Petry
Detlev Pilger
Sabine Poschmann
Florian Post
Achim Post (Minden)
Florian Pronold
Martin Rabanus
MechthildRawert
Andreas Rimkus
Sönke Rix
Dennis Rohde
Dr. Martin Rosemann
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth (Heringen)
Susann Rüthrich
Bernd Rützel
Sarah Ryglewski
Johann Saathoff
Axel Schäfer (Bochum)
Dr. Nina Scheer
Marianne Schieder
Udo Schiefner
Dr. Nils Schmid
Uwe Schmidt
Ulla Schmidt (Aachen)
Dagmar Schmidt (Wetzlar)
Carsten Schneider (Erfurt)
Johannes Schraps
Michael Schrodi
Ursula Schulte
Martin Schulz
Swen Schulz (Spandau)
Frank Schwabe
Stefan Schwartze
Andreas Schwarz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Rainer Spiering
Svenja Stadler
Martina Stamm-Fibich
Sonja Amalie Steffen
Mathias Stein
Kerstin Tack
Claudia Tausend
Michael Thews
Markus Töns
Carsten Träger
Ute Vogt
Marja-Liisa Völlers
Dirk Vöpel
Gabi Weber
Dr. Joe Weingarten
Bernd Westphal
Dirk Wiese
Gülistan Yüksel
Dr. Jens Zimmermann
FDP
Grigorios Aggelidis
Renata Alt
Christine Aschenberg-Dugnus
Nicole Bauer
Jens Beeck
Dr. Jens Brandenburg (Rhein-Neckar)
Mario Brandenburg (Südpfalz)
Sandra Bubendorfer-Licht
Dr. Marco Buschmann
Karlheinz Busen
Carl-Julius Cronenberg
Britta Katharina Dassler
Bijan Djir-Sarai
Christian Dürr
Hartmut Ebbing
Dr. Marcus Faber
Daniel Föst
Otto Fricke
Thomas Hacker
Peter Heidt
Katrin Helling-Plahr
Markus Herbrand
Torsten Herbst
Katja Hessel
Dr. Gero Clemens Hocker
Manuel Höferlin
Dr. Christoph Hoffmann
Reinhard Houben
Ulla Ihnen
Olaf In der Beek
Gyde Jensen
Dr. Christian Jung
Karsten Klein
Dr. Marcel Klinge
Daniela Kluckert
Pascal Kober
Dr. Lukas Köhler
Carina Konrad
Wolfgang Kubicki
Konstantin Kuhle
Alexander Kulitz
Alexander Graf Lambsdorff
Ulrich Lechte
Christian Lindner
Michael Georg Link (Heilbronn)
Oliver Luksic
Till Mansmann
Dr. Jürgen Martens
Christoph Meyer
Alexander Müller
Roman Müller-Böhm
Frank Müller-Rosentritt
Dr. Martin Neumann (Lausitz)
Matthias Nölke
Hagen Reinhold
Bernd Reuther
Dr. h. c. Thomas Sattelberger
Christian Sauter
Frank Schäffler
Dr. Wieland Schinnenburg
Matthias Seestern-Pauly
Frank Sitta
Dr. Hermann Otto Solms
Bettina Stark-Watzinger
Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann
Benjamin Strasser
Katja Suding
Linda Teuteberg
Michael Theurer
Stephan Thomae
Manfred Todtenhausen
Dr. Florian Toncar
Dr. Andrew Ullmann
Gerald Ullrich
Nicole Westig
Katharina Willkomm
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Lisa Badum
Annalena Baerbock
Margarete Bause
Dr. DanyalBayaz
Dr. Franziska Brantner
Agnieszka Brugger
Dr. Anna Christmann
EkinDeligöz
Katja Dörner
Katharina Dröge
Harald Ebner
Matthias Gastel
Kai Gehring
Stefan Gelbhaar
Katrin Göring-Eckardt
Erhard Grundl
Anja Hajduk
Britta Haßelmann
Dr. Bettina Hoffmann
Dr. Anton Hofreiter
Ottmar von Holtz
Dieter Janecek
Dr. Kirsten Kappert-Gonther
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Oliver Krischer
Stephan Kühn (Dresden)
Christian Kühn (Tübingen)
Renate Künast
Markus Kurth
Sven Lehmann
Steffi Lemke
Dr. Tobias Lindner
Dr. Irene Mihalic
Claudia Müller
Dr. Ingrid Nestle
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Cem Özdemir
Filiz Polat
TabeaRößner
Claudia Roth (Augsburg)
Dr. Manuela Rottmann
Manuel Sarrazin
UlleSchauws
Dr. Frithjof Schmidt
Stefan Schmidt
Charlotte Schneidewind-Hartnagel
Kordula Schulz-Asche
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
Margit Stumpp
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Dr. Julia Verlinden
Daniela Wagner
Beate Walter-Rosenheimer
Gerhard Zickenheiner
Nein
AfD
Dr. Bernd Baumann
Marc Bernhard
Andreas Bleck
Peter Boehringer
Stephan Brandner
Jürgen Braun
Marcus Bühl
Matthias Büttner
Petr Bystron
Tino Chrupalla
Joana Cotar
Thomas Ehrhorn
Berengar Elsner von Gronow
Dr. Michael Espendiller
Peter Felser
Dietmar Friedhoff
Dr. Anton Friesen
Markus Frohnmaier
Dr. Götz Frömming
Dr. Alexander Gauland
Dr. Axel Gehrke
Albrecht Glaser
Franziska Gminder
Wilhelm von Gottberg
Armin-Paulus Hampel
Mariana Iris Harder-Kühnel
Dr. Roland Hartwig
Jochen Haug
Martin Hebner
Udo Theodor Hemmelgarn
Waldemar Herdt
Martin Hess
Dr. Heiko Heßenkemper
Karsten Hilse
Nicole Höchst
Martin Hohmann
Dr. Bruno Hollnagel
Leif-Erik Holm
Johannes Huber
Fabian Jacobi
Dr. Marc Jongen
Jens Kestner
Stefan Keuter
Norbert Kleinwächter
Enrico Komning
Jörn König
Steffen Kotré
Dr. Rainer Kraft
Rüdiger Lucassen
Jens Maier
Dr. Lothar Maier
Dr. Birgit Malsack-Winkemann
Corinna Miazga
Andreas Mrosek
Hansjörg Müller
Volker Münz
Sebastian Münzenmaier
Christoph Neumann
Jan Ralf Nolte
Ulrich Oehme
GeroldOtten
Frank Pasemann
Tobias Matthias Peterka
Paul Viktor Podolay
Jürgen Pohl
Stephan Protschka
Martin Erwin Renner
Roman Johannes Reusch
Ulrike Schielke-Ziesing
Dr. Robby Schlund
Jörg Schneider
Uwe Schulz
Thomas Seitz
Martin Sichert
Dr. Dirk Spaniel
René Springer
Beatrix von Storch
Dr. Alice Weidel
Dr. Harald Weyel
Wolfgang Wiehle
Dr. Heiko Wildberg
Dr. Christian Wirth
Uwe Witt
DIE LINKE
Doris Achelwilm
Gökay Akbulut
Simone Barrientos
Dr. Dietmar Bartsch
Lorenz Gösta Beutin
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm-Förster
Michel Brandt
Christine Buchholz
Dr. Birke Bull-Bischoff
Jörg Cezanne
Sevim Dağdelen
Fabio De Masi
Dr. Diether Dehm
Anke Domscheit-Berg
Klaus Ernst
Susanne Ferschl
Brigitte Freihold
Nicole Gohlke
Dr. Gregor Gysi
Dr. André Hahn
Heike Hänsel
Matthias Höhn
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Kerstin Kassner
Dr. Achim Kessler
Katja Kipping
Jan Korte
Jutta Krellmann
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Pascal Meiser
Amira Mohamed Ali
NiemaMovassat
Norbert Müller (Potsdam)
ZaklinNastic
Dr. Alexander S. Neu
Thomas Nord
Petra Pau
Sören Pellmann
Victor Perli
Tobias Pflüger
Martina Renner
Bernd Riexinger
Eva-Maria Schreiber
Dr. Petra Sitte
HelinEvrim Sommer
Kersten Steinke
Friedrich Straetmanns
Dr. Kirsten Tackmann
Jessica Tatti
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Dr. Sahra Wagenknecht
Andreas Wagner
Harald Weinberg
Katrin Werner
Sabine Zimmermann (Zwickau)
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Canan Bayram
Sylvia Kotting-Uhl
Fraktionslos
Marco Bülow
Verena Hartmann
Uwe Kamann
Enthalten
FDP
Reginald Hanke
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Monika Lazar
Beate Müller-Gemmeke
Lisa Paus
Corinna Rüffer
Abgeordnete, die sich wegen gesetzlichen Mutterschutzes für ihre Abwesenheit entschuldigt haben, sind in der Liste der entschuldigten Abgeordneten (Anlage 1) aufgeführt.
Nunmehr erteile ich dem Kollegen Dr. Johann Wadephul, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der UNIFIL-Einsatz der deutschen Bundeswehr ist einer der längsten Einsätze. Seit 2006 sind wir im Rahmen dieses Mandates der Vereinten Nationen aktiv. Der Einsatz steht nicht immer im Scheinwerferlicht der medialen Aufmerksamkeit, weder hier in Deutschland noch international; er wirkt wenig spektakulär. Deswegen möchte ich hier klar sagen: Unsere Soldatinnen und Soldaten leisten im Stillen einen politisch unendlich wichtigen Beitrag für Frieden und Stabilität im östlichen Mittelmeer. Ich möchte den Soldatinnen und Soldaten, die dort eingesetzt sind, unseren aufrichtigen Dank und unsere Anerkennung für ihren Dienst aussprechen.
({0})
Aber es ist in der Tat so, dass ein langer Einsatz begründet werden muss. Aufwand und Nutzen müssen auch wir hier abwägen. Was tun wir dort? Warum tun wir das? Was geht uns diese Region an?
Erstens. Es geht um die fortgesetzte Stabilität des Libanon. Er ist ein Schlüsselstaat an der Grenze zu Israel und Syrien. Wenn der Libanon stabil bleibt, hat das Signalwirkung für die gesamte Region. Die fragile Demokratie im Libanon steht unter einem ungeheuren Druck durch extremistische Gruppen wie Hisbollah, durch Einflussnahmen des Iran, durch Korruption, durch die Wirtschaftskrise und jüngst natürlich auch durch die Coronapandemie. Unser Ziel ist es, zu einer nachhaltigen politischen Stabilisierung des Libanon beizutragen. Wenn wir mit UNIFIL nicht den Rahmen dafür bieten, die Lage vor Ort abzukühlen, kommt es möglicherweise nicht dazu.
Zweitens. Ein instabiler Libanon würde die Lage in Syrien, aber insbesondere die Sicherheit unseres Partners Israel massiv beeinflussen. Sie von der AfD sagen ja immer, das liege in Ihrem Interesse. Deswegen sollten Sie vielleicht bei dieser Abstimmung Ihren hehren Worten, an der Seite Israels zu stehen, einfach mal Taten folgen lassen. Israel fordert uns auf, den Einsatz fortzusetzen.
({1})
Also, wenn Sie wirklich Israel-Freunde sind, dann sollten Sie an dieser Stelle auch dabei sein.
Kaum ein Staat ist so in die Region eingewoben wie der Libanon und so anfällig für alles, was in der Region geschieht. Wir alle wissen um die Schwierigkeiten und die Eskalationsgefahren rund um den Nahostfrieden, und es wäre fatal, wenn zu diesem Pulverfass noch ein instabiler Libanon dazukäme. Deswegen muss es unser Ziel sein, diesen Staat zu stabilisieren. Das ist ein existenzieller Beitrag zur Sicherheit unseres Freundes Israel.
An dieser Stelle möchte ich Ihnen, Herr Außenminister, herzlich danken für Ihren erfolgreichen Besuch in Israel, der deutlich gemacht hat, dass wir an der Seite Israels stehen. Herzlichen Dank auch für den klaren Appell – ich möchte ihn hier im Namen dieses Hauses wiederholen –, dort keine Maßnahmen im Sinne einer Landannexion vorzunehmen, sondern am Staat Israel, den wir in seiner Existenz wie kaum jemand sonst in Europa unterstützen, aber auch an der Zweistaatenlösung mit einem existenzfähigen palästinensischen Staat festzuhalten.
({2})
Ich glaube, das ist von großer Bedeutung für die Stabilität vor Ort. Es ist wirklich unsere Hoffnung, dass Anfang Juli dort nicht etwas anderes passiert.
Auch ich möchte würdigen, wie die Kollegin De Ridder das schon getan hat, was der Libanon, eine fragile Demokratie mit einer schwachen wirtschaftlichen Grundlage, leistet – ich finde, das sollten wir hier einmal sagen –: Der Libanon hat so viele Flüchtlinge aufgenommen wie kein anderes Land in der Region, und das ist eine große Leistung des libanesischen Volkes. Das sollten wir hier anerkennen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben die Auswüchse eines Flüchtlingsstroms erlebt. Es ist nicht nur ein Gebot der Humanität, sondern es liegt auch in unserem ureigenen deutschen Interesse, dass sich nicht weitere Flüchtlingsströme auf den Weg nach Europa machen. Es liegt in unserem ureigenen deutschen Interesse, den Libanon zu stabilisieren und ihm dabei zu helfen, mit dieser großen Zahl an Flüchtlingen klarzukommen.
({3})
Drittens. Der Osten des Mittelmeeres wird immer mehr zu einer geopolitischen Bruchzone. Die Lage dort wird immer komplizierter und krisenanfälliger. So hat beispielsweise Russland mit dem Ausbau seiner Marinebasis im syrischen Tartus dauerhaft seinen militärischen und politischen Einfluss ausgebaut, und Russland ist auch in Libyen bereits aktiv. Aufkommende Streitigkeiten um Öl- und Gasfelder sind Entwicklungen, die uns besorgt machen müssen und um die wir uns kümmern müssen. Sie betreffen EU-Mitgliedstaaten und NATO-Partner. Deswegen ist es gut und richtig, dass die Vereinten Nationen dort Präsenz zeigen und dass Deutschland dabei ist. Gerade in der Region meinen immer mehr Staaten – das verkommt zu einer ganz schlechten Sitte; das ist eine Katastrophe –, auch unser NATO-Partner Türkei, man könne sich außerhalb des Völkerrechts einfach mal militärisch engagieren. Deutschland steht hinter der internationalen Werteordnung und an der Seite der Vereinten Nationen. Das ist der Rahmen, in dem wir nachhaltig für Frieden und Sicherheit dort sorgen können. Deswegen ist der Einsatz richtig.
Danke schön.
({4})
Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Wadephul. – Nächster Redner ist der Kollege Ulrich Lechte, FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Zuschauer auf den Rängen! Der Libanon leidet derzeit nicht nur unter der Coronapandemie wie alle anderen auch, er kämpft auch mit einer ganzen Reihe von weiteren Herausforderungen. So gehen seit Monaten junge Menschen gegen Korruption, Misswirtschaft und auch gegen die politische Klasse auf die Straße. Die inneren Verwerfungen haben auch Auswirkungen auf die krisengeschüttelte Region. Deshalb ist unser Engagement in einer der ältesten UN-Missionen, nämlich UNIFIL, gerade in diesen Zeiten unerlässlich. Insbesondere jetzt, wo die innenpolitischen Herausforderungen sehr groß sind, zeigt sich die Bedeutung dieser Mission. Die internationale Gemeinschaft versucht mit UNIFIL, zumindest von außen eine gewisse Stabilität zu gewährleisten. Dies funktioniert nicht perfekt, aber wir möchten uns alle nicht ausdenken, wie die Lage aussehen würde, wenn es diese Mission, an der sich auch Deutschland beteiligt, nicht gäbe.
Gerade für die Stabilisierung des Südlibanons ist UNIFIL unverzichtbar.
({0})
Die Begleitung von libanesischen Streitkräften entlang der blauen Linie ist dabei von zentraler Bedeutung für die Wahrung und Sicherung von Stabilität und trägt auch zum Schutze Israels bei. Wir brauchen diese Mission, um größere Auseinandersetzungen zwischen dem Libanon und Israel zu unterbinden. Dafür tragen die internationale Gemeinschaft und auch Deutschland in dieser Region eine große Verantwortung. Jedoch dürfen wir nicht die Augen vor den Problemen vor Ort verschließen. Seit mehr als einem Jahrzehnt versagt man bei der Entwaffnung von bewaffneten Gruppen wie der Hisbollah, die ein dominierender Faktor im Land ist und direkt mit Teheran zusammenarbeitet. Mit einer dominanten Hisbollah wird man wohl kaum eine dauerhafte Waffenruhe zwischen Israel und dem Libanon erreichen können.
Neben der militärischen Mission im Libanon dürfen wir aber auch die humanitären Aspekte nicht vernachlässigen; die Kollegin De Ridder ist darauf schon eingegangen. Nicht umsonst wird im Mandatstext die Hilfe zur Sicherung von humanitären Helfern erwähnt. Die humanitäre Hilfe ist im Libanon unabdingbar; denn dort ist jeder sechste Einwohner ein Geflüchteter. Man stelle sich vor, was in Deutschland los wäre, wenn jeder Sechste bei uns ein Flüchtling wäre. Seit Jahren ist es verpasst worden, ausreichend finanzielle Mittel für die syrischen Flüchtlinge im Libanon zur Verfügung zu stellen. So sind beispielsweise nur 18 Prozent – da rede ich jetzt nicht von dem Projekt, das wir mal hatten – der Finanzierung für den Bedarf des UNHCR gedeckt. Oder anders gesagt: Es gibt ein Funding Gap von 82 Prozent im Jahr 2020. Meine Damen und Herren, das ist katastrophal.
({1})
Die Unterfinanzierung im Libanon ist hierbei kein Einzelfall – der Minister, der sich gerade mit seinem Staatsminister unterhält, weiß das –, sondern leider die Regel. Deutschland und die internationale Gemeinschaft können und müssen hier mehr tun, um die Flüchtlingshilfe zu stärken. Die Unterstützung des UNHCR und anderer internationaler Organisationen ist hierfür genau der richtige Weg; denn damit leisten wir auch letztlich einen wichtigen Beitrag für den Frieden und die Stabilität in der Region.
Die FDP-Bundestagsfraktion unterstützt den Antrag der Bundesregierung. Wir stimmen dem Mandat zu.
Vielen Dank.
({2})
Herzlichen Dank, Herr Kollege Lechte. – Nächster Redner ist für die Fraktion Die Linke der Kollege Matthias Höhn.
({0})
Herr Präsident, herzlichen Dank. – Wir reden über UNIFIL, also über den Einsatz der Vereinten Nationen im Libanon. Es ist schon darauf hingewiesen worden: Seit 1978 läuft dieses Mandat in unterschiedlichen Ausprägungen.
Die erste Bemerkung, die ich in meiner Redezeit machen will, betrifft das Thema „Waffen, Waffenschmuggel und Hisbollah“. Mehrere Vorredner sind darauf eingegangen. Der ehemalige israelische Ministerpräsident Ehud Barak hat im Mai 2020 – das ist noch nicht so lange her – im „Tagesspiegel“ ein Interview gegeben, und dort ist nachzulesen, dass er darauf hinweist, dass sich seit 2006, also seit Ende des Libanon-Krieges, seit der Neukonstituierung des UNIFIL-Mandats und auch seit unserem Engagement seitens der Bundesrepublik, die Zahl der Raketen der Hisbollah verzehnfacht hat. Wenn wir hier immer wieder, jedes Mal wenn wir dieses Mandat verlängern, darauf hinweisen, dass die Unterbindung des Waffenschmuggels, die Entwaffnung der Hisbollah eine der zentralen Aufgaben ist, und exakt im Mandatszeitraum, in den letzten 14 Jahren, sich die Zahl der Raketen verzehnfacht hat, dann muss das doch mal zu einem Nachdenken und zu einer Konsequenz und darf nicht immer zu einem Weiter-so führen, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({0})
Dann erwarte ich auch von den Fraktionen, die diesem Mandat zustimmen, dass sie sich dieser Tatsache einmal stellen und nicht so tun, als ginge das einfach so weiter. Nein, das Mandat wird einer zentralen Aufgabe nicht gerecht, und das ignorieren Sie.
Die zweite Bemerkung: Herr Wadephul, Sie haben mehrmals gesagt, der Libanon müsse stabil bleiben. Leider ist der Libanon schon lange nicht mehr stabil. Frau De Ridder hat auf die lange Geschichte dieses Mandats hingewiesen; das kann ich und muss ich jetzt nicht wiederholen. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, das Mandat ist mal als Übergangsmandat gestartet worden. Das I in UNIFIL steht für „Interim“, 42 Jahre! Wenn wir uns einmal nach 42 Jahren anschauen, wo denn die Region steht, ob sie stabil ist und wie die Konfliktsituationen sind, so wird gesagt: Aber jetzt können wir nicht abziehen, weil die Lage schwierig ist. – Ja, das ist sie, aber das ist sie seit Jahrzehnten. Deswegen erwarte ich von der Bundesregierung genauso wie von den Vereinten Nationen, dass es mal eine Überlegung gibt, wie wir aus dieser Situation herauskommen, meine sehr verehrten Damen und Herren,
({1})
und dass wir nicht in fünf oder zehn Jahren dieselbe Diskussion führen, die wir jetzt nach 42 Jahren dieses Mandates führen.
({2})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Stichwort „Annexion“ ist schon gefallen. Herr Wadephul, ich stimme Ihnen ja ausdrücklich zu, dass wir als deutsche Seite alles dafür tun müssen, die israelische Seite davon abzuhalten.
({3})
Aber Sie wissen sehr genau, wie groß oder wie klein unser Einfluss in dieser Frage ist, und Sie wissen, welches Eskalationspotenzial in diesen Plänen liegt.
Auch hier erwarte ich von der Bundesregierung, dass es eine Überlegung gibt, was das denn für dieses Mandat heißt; denn wir alle wissen nicht, was das für die Region –
Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss.
– und auch für unsere Soldatinnen und Soldaten bedeutet, die in dieser Region unterwegs sind.
Wir werden dem Mandat nicht zustimmen.
Herzlichen Dank.
({0})
Vielen Dank, Herr Kollege Höhn. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Tobias Lindner, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Vielen Dank. – Geschätzter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, es ist richtig: Wir reden über einen der längsten Bundeswehreinsätze seit 2006, und ja, wir reden auch über eines der längsten UN-Blauhelmmandate. Ja, es ist auch richtig: Das I in UNIFIL steht für „Interim“. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir uns die Weltgeschichte verdeutlichen – wir haben heute Mittag von diesem Pult aus über den 17. Juni 1953 diskutiert, und ich könnte jetzt andere Beispiele aus der ganzen Welt anführen –, sehen wir: Ein Interim kann manchmal leider sehr lange, viele Jahrzehnte dauern. Das kann doch nicht das Kriterium sein, anhand dessen wir prüfen, ob eine Beteiligung an UNIFIL in den nächsten zwölf Monaten sinnvoll ist oder nicht, sondern wir müssen uns eine ganz andere Frage stellen.
Wir alle müssen uns die Frage stellen: Wird der Libanon, wird das östliche Mittelmeer, wird diese Region, die im Moment vor vielen Herausforderungen steht, in den kommenden zwölf Monaten durch das UNIFIL-Mandat sicherer oder unsicherer werden? Meine Fraktion hat hierauf eine ganz klare Antwort: Wir werden diesem Mandat zustimmen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({0})
Wir tun dies nicht nur – darauf ist in der Debatte schon eingegangen worden –, weil sich die Lage im Libanon noch einmal verschlimmert hat. Der Libanon steht nicht nur vor Herausforderungen im Zusammenhang mit Covid-19. Er ist von einer Wirtschaftskrise gebeutelt. Wir sehen in den Abendnachrichten regelmäßig Berichte über Demonstrationen und Ausschreitungen, und der Libanon wird seit Kurzem von einer Regierung geführt, in der nicht mehr alle Volksgruppen so vertreten sind, dass das fragile Geflecht verschiedener Gruppen in diesem Land wirklich vernünftig austariert ist.
Aber wir stimmen diesem Mandat auch zu, weil die beiden Konfliktparteien Israel und der Libanon unser Engagement an dieser Stelle begrüßen und erwarten. Das ist ein seltenes Zeichen bei Auslandseinsätzen; aber für mich ist das ein gutes Zeichen, weswegen ich dieses Mandat unterstützen kann.
({1})
Ich will noch zwei Punkte ansprechen. Herr Kollege Höhn, wenn Sie beklagen, dass Waffenschmuggel auf anderem Wege als auf dem Seeweg stattfindet, dann sage ich: Ja, das ist bedauerlich. Aber ich finde es gerade von einer Fraktion wie Ihrer, die hier in diesem Haus noch nie einem Auslandseinsatz der Bundeswehr zugestimmt hat, ein bisschen wohlfeil,
({2})
sich dann hierhinzustellen und zu sagen: Ja, dann müssen wir dieses und jenes tun.
({3})
Das UNIFIL-Mandat, bei dem Ihre Fraktion dann zustimmt, würde ich gerne kennenlernen, um ehrlich zu sein.
({4})
Allerletzter Punkt. Für Deutschland gehört das Existenzrecht Israels zur Staatsräson. Aber wir sehen mit großer Sorge die politischen Entwicklungen und die Diskussionen um eine mögliche Annexion von Gebieten im Westjordanland. Genauso wie ein Ende dieses Mandats die Region in den nächsten zwölf Monaten nicht sicherer machen würde, so würde eine Annexion des Westjordanlandes den Nahen und Mittleren Osten nicht sicherer und eine Zweistaatenlösung nicht wahrscheinlicher machen.
Herzlichen Dank.
({5})
Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Siemtje Möller, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident, vielen Dank. – Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Kollege Elsner von Gronow, ich erinnere mich sehr gut an diese Ausschusssitzung, in der wir im Rahmen der Diskussion rund um KFOR einige, wenn man so will, weinerlicher Beiträge von Ihnen und auch von Ihrem Kollegen Kestner hatten. Es tut mir leid, dass anscheinend meine Kritik an Ihnen Sie so schwer getroffen hat. Aber Sie, die sich doch so sehr rühmen, in einer Partei zu sein, wo noch echte Männer sind: Warum haben Sie denn nicht die Ausschusssitzung genutzt, um sich noch mal zu Wort zu melden?
({0})
Sie haben dort geschwiegen und nutzen jetzt eine Debatte zu einem anderen Bundeswehreinsatz, um sich im Nachhinein über etwas zu beklagen, was Sie auch dort von Mann zu Frau hätten klären können.
({1})
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des gerade Angesprochenen?
Ich finde, das müssen Sie sich jetzt anhören. Ich erlaube keine Zwischenfrage.
({0})
Wir haben damals in der Ausschusssitzung klargemacht, dass – und darauf haben Sie sich ja bezogen – allen Soldatinnen und Soldaten viele Wege freistehen, um Äußerungen oder auch Kritik Vorgesetzten oder auch Politikerinnen und Politikern zukommen zu lassen. Diese Wege können immer genutzt werden.
Ich habe auch in der Ausschusssitzung eine Situation klar geschildert, die ich auch hier noch mal deutlich machen möchte. Ich erinnere mich sehr, sehr gut, dass wir im Rahmen eines Besuchs auf einer Fregatte mit dem jetzigen Vizepräsidenten des Bundestages Thomas Oppermann mit Soldaten und Soldatinnen unterschiedlicher Dienstgrade eine wirklich intensive politische Diskussion zu dem Für und Wider der Operation Sophia geführt haben. Die Soldatinnen und Soldaten haben überhaupt nicht davor zurückgeschreckt, ihre persönliche Meinung zu Pro und Kontra, zu vermeintlichen Pull- und Push-Faktoren vorzubringen. Ich verstehe nicht, wo das Problem ist, das Sie versuchen aufzuzeigen. Es gibt diese Wege, und Politikerinnen und Politiker, die ich kenne, nutzen diese Möglichkeiten auch, um mit der Truppe ins Gespräch zu kommen. Aber es steht Ihnen natürlich frei, dies auch zu tun. Dazu will ich Sie ausdrücklich ermutigen.
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das eigentliche Thema der jetzigen Debatte ist ja das Mandat für UNIFIL. Es sind sehr viele gute Dinge dazu gesagt worden. Ich möchte vor allen Dingen voranstellen, dass wir als SPD-Fraktion diesen Antrag unterstützen.
Ich möchte ein besonderes Augenmerk auf den maritimen Anteil legen. Seit 2006 beteiligt sich Deutschland immer mit einem eigenen Flottenverband an diesem maritimen Anteil. Insgesamt sind über 81 000 Schiffe kontrolliert worden. Mehr als 10 000 Schiffe sind an die libanesischen Behörden weitergeleitet worden. Es geht darum, seeseitig das Waffenembargo und auch den Waffenstillstand zu überwachen und gleichzeitig Ausbildungshilfen für die libanesische Marine zu leisten, damit der libanesische Staat befähigt wird, eigene Strukturen aufzubauen und am besten selber die Küstengewässer zu sichern. Wir beteiligen uns immer mit einem eigenen Verband. Im Moment ist das die Korvette „Ludwigshafen“. – An dieser Stelle vielen Dank für Ihren Dienst. Sie wissen, dass Sie sich immer mit den Sorgen und Nöten, die Sie im Einsatz haben, an uns wenden können.
Ich werbe an dieser Stelle um Zustimmung zu diesem Antrag.
Vielen Dank.
({2})
Herzlichen Dank, Frau Kollegin. – Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Berengar Elsner von Gronow, AfD.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. – Ich erspare mir jetzt das, was ich an Details ausführen könnte. Es geht mir nicht darum, zu behaupten, dass der einzelne Soldat nicht die Möglichkeit hätte, diverse Wege für Beschwerden und Ähnliches zu nutzen. Es geht vielmehr darum, dass in einer wirklichen Rückkopplung mit der Truppe tatsächlich ganze Einsätze und deren Erfolg anders bewertet werden, als es uns seitens der Regierung und seitens der verantwortlichen Parteien präsentiert wird.
({0})
Das auszusprechen, ist durchaus legitim und, wie ich meine, auch berechtigtes Anliegen einer Opposition.
({1})
Im Übrigen, zu Ihrer Anmerkung gerade, warum ich denn die Möglichkeit nicht genutzt hätte, direkt im Ausschuss zu antworten: Das verfängt nicht. So wie Sie gerade meine direkte Erwiderung nicht zugelassen haben, hat der Ausschussvorsitzende – er kann das bestätigen – meine Erwiderung im Ausschuss nicht zugelassen. Somit war mir diese Möglichkeit nicht geblieben.
({2})
Mit Blick auf die Uhr: Somit verfängt Ihr Argument nicht. Das ist das typische Verhalten von Heckenschützen, die sich dann dem Gegenfeuer entziehen.
Danke.
({3})
Frau Kollegin Möller, Sie können, wenn Sie wollen, antworten; Sie müssen nicht. – Ich sehe, Sie wollen nicht.
Dann kommen wir zur nächsten Rednerin. Das ist die Kollegin Gisela Manderla, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kollegen und Kolleginnen! Ja, man muss nach 42 Jahren natürlich überlegen, wie man in dieser fragilen Region weiter verfährt. Dass diese Region fragil ist, sehen wir doch täglich an den Nachrichten, die wir über die Medien und durch unsere Informanten bekommen. Es gibt im Moment keine dauerhafte Stabilität im Libanon. Aber es ist auch eine Tatsache, liebe Kollegen und Kolleginnen, dass der Nahe Osten quasi vor unserer Haustür liegt. Wer das noch nicht verstanden hat, der begreift es dann, wenn er an die Flüchtlingskrise im Jahr 2015 denkt. Das wollen wir doch nicht mehr wiederholen.
Es muss auch noch einmal gesagt werden, dass im Libanon über 1 Million Flüchtlinge leben, unter schwierigsten Bedingungen, unter schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen und unter schwierigen sicherheitspolitischen Bedingungen. Das ist der größte Anteil von Flüchtlingen in einem Land, wenn man vom Bevölkerungsanteil ausgeht. Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wir natürlich unseren Einsatz bei UNIFIL fortführen.
Es gibt noch mehrere Maßnahmen, die hier noch nicht genannt worden sind. Wir müssen beachten, dass die Hisbollah – das wurde ja auch zu Recht von Herrn Höhn gesagt – in der Region immer stärker wird. Sie besitzt inzwischen 130 000 Kurz-, Mittel- und Langstreckenraketen. Ich denke, dagegen müssen wir etwas tun. Es gab zum Beispiel im letzten September einen Raketenangriff auf Israel. Da war es die UNIFIL, die im Hintergrund dafür gesorgt hat, dass dieser Angriff nicht eskalierte.
Eine weitere Maßnahme von UNIFIL ist der Dreiparteienmechanismus. Dieser Mechanismus, bei dem UNIFIL mit Israel spricht, mit dem Libanon spricht und auch – bitte – bilaterale Gespräche führt, diese Kommunikation führt zu Deeskalation und hat durchaus vertrauensbildende Wirkung.
Was auch gesagt werden muss, meine Damen und Herren: Die Blauhelme führen im Libanon nicht nur sicherheitspolitische Aktionen durch, sondern sorgen auch dafür, dass im Libanon ausgebildet wird, unter anderem das Militär und die Marine im Libanon. Dort hat es durchaus Fortschritte gegeben.
Die Argumente sind ausgetauscht, und es ist klar, dass die CDU/CSU diesem Antrag zustimmt. Ich freue mich, wenn unsere Soldaten und Soldatinnen, denen unser Respekt uneingeschränkt gilt, sich weiter in dieser Region engagieren.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Libanon hat über 6 Millionen Einwohner – das ist nicht viel mehr, als das Bundesland Hessen Einwohner hat – auf einer Fläche von 10 000 Quadratkilometer, ein bisschen größer als die Hälfte des Bundeslandes Sachsen. Dennoch wird deutlich, dass in diesem kleinen Teil des Mittleren und Nahen Ostens sich die Probleme wie unter einem Brennglas wiederfinden. Der Libanon hat drei große religiöse Gemeinschaften: Sunniten, Schiiten und christliche Maroniten. Der Libanon ist ein Land, welches in den letzten Monaten von einer schweren Wirtschaftskrise gekennzeichnet war: eine Arbeitslosigkeit von 35 Prozent und ein Rückgang des BIP um über 30 Prozent. All das zusammen zeigt uns, dass es im Nahen und Mittleren Osten nur dann eine stabile Entwicklung geben kann, wenn der Libanon, in dem diese Probleme zusammenkommen, auch eine gute Entwicklung hat. Es liegt auch im deutschen und europäischen Interesse, dass der Libanon stabilisiert wird, weil davon die Sicherheit Israels abhängt. In den letzten Jahren war es immer wieder der Fall, dass gerade auch von der Hisbollah, die sich in den letzten Jahren im Libanon festgesetzt hat, Raketen auf Israel abgeschossen worden sind.
UNIFIL ist eine Möglichkeit, um in diesem Gesamtkontext eine Stabilität in die Region zu bringen. Da ist auch wichtig, dass man miteinander spricht, dass der Waffenstillstand, der immer wieder brüchig ist, auch eingehalten wird. Es liegt im Interesse sowohl Israels als auch des Libanons, dass UNIFIL durch seine Präsenz dafür sorgt, dass der Waffenstillstand eingehalten wird und dass wir Schritt für Schritt, auch wenn es noch lange dauert, zu einem dauerhaften Frieden kommen. Ich glaube, das ist wichtig für die gesamte Region.
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Wenn man sich das Kontingent der Bundeswehr ansieht, dann weiß man, dass das nur ein untergeordneter Teil ist. Es sind über 10 000 Soldatinnen und Soldaten, die an der Mission beteiligt sind, und wir stellen 300 Soldatinnen und Soldaten, vornehmlich im Bereich Marine. Aber welchen Eindruck würde es auf die internationale Gemeinschaft machen, wenn ausgerechnet wir uns bei dieser wichtigen Frage zurückziehen würden? Das Gegenteil muss doch der Fall sein. Gerade wegen der Komplexität dieser Situation und weil wir ein hohes Interesse an einer Friedensordnung im Nahen Osten haben, müssen wir unseren eigenen Beitrag leisten. „Unser Beitrag“ bedeutet, dass immer dann, wenn wir sagen – übrigens auch im eigenen Lande –: „Wir wollen die Hisbollah entwaffnen und zurückdrängen“, wir auch dafür Sorge tragen müssen, dass es dort, wo die Menschen noch stärker betroffen sind, auch passiert. Deswegen bitte ich Sie um Zustimmung zu diesem Mandat.
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Vielen Dank, Dr. Volker Ullrich. – Einen schönen Abend von mir Ihnen!
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir führen heute eine längst überfällige Debatte. Endlich sprechen wir darüber, welche Folgen die aktuelle Krise für Frauen hat. Dass wir das erst heute tun, ist ernüchternd. Diese Debatte hätte längst von der Bundesregierung kommen müssen.
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Seit Monaten werden Frauen übersehen.
Dabei sehen wir in den letzten Monaten sehr genau: Die Krise ist nicht geschlechterneutral. Eine repräsentative Umfrage zur aktuellen Belastung zeigt sehr deutlich: Es sind die Frauen, die seit dem Shutdown besonders unzufrieden mit ihrer Lebenssituation sind. Und das hat einen Grund: Frauen halten in dieser Krise sprichwörtlich den Laden am Laufen.
Es sind vor allem Frauen, die in den systemrelevanten Berufen als Pflegekräfte, Erzieherinnen oder als Verkäuferinnen einer höheren Infektionsgefahr ausgesetzt sind, und viele von ihnen werden viel zu schlecht bezahlt.
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Es sind überwiegend Frauen, die mit unbezahlter Arbeit zu Hause die Lücke schließen, die durch die Kita- und Schulschließungen entstanden ist. Denn in unserer Gesellschaft gibt es – trotz aller gleichstellungspolitischen Erfolge – noch immer die stillschweigende Erwartung an Frauen, in der Krise einzuspringen. Das zeigt, wie brüchig die bislang erlangte Gleichstellung ist. Und es zeigt: Das Private ist politisch.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, schauen wir auf das konkrete Handeln dieser Bundesregierung: Im milliardenschweren Konjunkturpaket kommen Frauen nicht vor. Da hilft es auch nichts, wenn Ministerin Giffey den Familienbonus nun als Leistung für Frauen verkauft. Warum sitzt sie als zuständige Ministerin nicht im ständigen Krisenkabinett?
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Die zentrale Frage ist: Wird die Bundesregierung dem Anspruch gerecht, die Interessen aller im Blick zu haben? Nein, das wird sie nicht! Nicht für Frauen. Und das ist fatal.
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In unserem grünen Antrag zeigen wir auf, was es jetzt braucht, um geschlechtergerechter aus der Krise zu kommen. Zahlreiche Frauenverbände mahnen und fragen zu Recht: Wann, wenn nicht jetzt? Darum fordern wir, die Veränderungen der Strukturen, die Frauen immer noch benachteiligen, jetzt in Angriff zu nehmen.
Meine Damen und Herren, das Grundgesetz gibt der Bundesregierung einen aktiven Auftrag, bestehende Nachteile für Frauen zu beseitigen. Jetzt ist die Zeit, mit einem Geschlechtergerechtigkeitscheck alle bestehenden und kommenden Krisenmaßnahmen fair für alle auszugestalten.
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Im Sinne von Good Governance, guter Regierungsführung, werden die Gesetze besser, wenn sie mit Blick auf die Auswirkungen auf die Geschlechter erarbeitet werden.
Wir wollen, dass Paare, die sich Erwerbs- und Sorgearbeit fair aufteilen wollen, dies auch tun können. Aber solange Frauen strukturell schlechter gestellt sind mit schlechter bezahlten Jobs und schlechteren Karrierechancen, ist genau das für viele Paare sehr schwer. Deswegen brauchen wir endlich eine bessere Bezahlung von Sorgeberufen, Entgeltgleichheit und ein Ende des unfairen Ehegattensplittings.
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Das Kurzarbeitergeld muss besonders für kleine Einkommen weiter angehoben werden – das haben wir gefordert –, und es muss Schluss sein mit der Benachteiligung von Frauen bei den Lohnersatzleistungen durch die Steuerklassen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir können aus der Krise viel lernen. Wir reden jetzt seit Wochen darüber, dass wir – wie unter einem Brennglas – sehen, wo die Probleme in der Geschlechtergerechtigkeit liegen. Ich sage Ihnen: Wenn wir die Probleme jetzt klar sehen, dann können wir sie anpacken. Die Chance ist da! Jetzt ist die Zeit für Geschlechtergerechtigkeit.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Ulle Schauws. – Nächste Rednerin: für die CDU/CSU-Fraktion Melanie Bernstein.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die vorliegenden Anträge zur Geschlechtergerechtigkeit lesen sich, mit Verlaub, wie ein Drittaufguss aus der ideologischen Mottenkiste.
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Ich fasse zusammen: Die Grünen möchten Steuervorteile für Unternehmen mit festen Quoten, neue Stabsstellen, neue Krisenräte und Kommissionen, mehr Geld vom Staat, mehr Steuern, höhere Belastungen für kleine und mittelständische Unternehmen und einen Rechtsanspruch auf Homeoffice – und natürlich gesetzlich verankerte Quoten für Listen und Wahlkreise.
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Den Linken reicht das alles nicht. Hier geht es gleich an die ganz dicken Bretter. Ich zitiere:
Das kapitalistische Wirtschaftssystem kann nicht angemessen auf Krisen reagieren, … sondern verschärft sie noch.
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Da trifft es sich gut, dass heute der 17. Juni ist, ein guter Tag, um sich mal daran zu erinnern, wie der Staat in sozialistischen Systemen auf Krisen reagiert,
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mal ganz abgesehen von der Tatsache, dass sich die Supermärkte im Sozialismus auch ohne Krise vorrangig durch leere Regale auszeichnen.
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Da ist dann zumindest der Unterschied in der Lebensqualität der Menschen mit oder ohne Krise nicht so groß, weil es allen gleich schlecht geht – also allen bis auf die Parteifunktionäre, die in den Stabsstellen und Kommissionen sitzen.
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Irgendeinen konstruktiven Vorschlag habe ich in beiden Anträgen vergeblich gesucht. Um es mal ganz klar zu sagen: Die Coronakrise hat Deutschland in eine seit dem Zweiten Weltkrieg nicht gekannte wirtschaftliche Situation gebracht, gemessen an der Ausgangslage. Die Bundesregierung versucht alles Menschenmögliche, um unser Land sicher und mit so geringem Schaden wie möglich durch diese schwere Zeit zu bringen. Dazu haben wir das größte staatliche Hilfspaket unserer Geschichte verabschiedet. Nur wenn Unternehmen und ihre Angestellten Steuern zahlen, können wir Hilfspakete überhaupt bezahlen.
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Da helfen aber keine Stabsstellen und auch nicht die gesetzliche Pflicht, aus jedem Minijob eine volle Stelle zu machen. Das Ergebnis wäre dann nämlich, dass es diesen Job – Mini- oder nicht – gar nicht mehr gäbe.
Ja, die Frauen haben in dieser Krise Großartiges geleistet.
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Kinder zu betreuen und gleichzeitig zu arbeiten, ist eine heftige Belastung, vor der ich ganz großen Respekt habe.
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Und ja, wir haben beobachtet, dass geschlossene Kitas und Schulen nicht immer, aber oft dazu führen, dass Frauen einen höheren Anteil an der häuslichen Arbeit übernehmen als Männer. Dazu hat die CDU/CSU-Fraktion gerade vorgestern ein digitales Fachgespräch geführt, mit guten Impulsen, etwa zur Reform des Elterngeldes. Es ging da auch um das isländische Modell, wo Elternzeit zu gleichen Teilen genommen werden muss und auch nicht auf den Partner übertragen werden kann. Da können wir ansetzen. Das ist seriöse, lösungsorientierte Politik.
Man darf aber auch mal sagen, dass viele Unternehmen mit großem Engagement Digitalisierung vorangetrieben und flexible Arbeitsmodelle gefunden haben, um ihre Mitarbeiter zu unterstützen und halten zu können. An dieser Stelle auch dafür herzlichen Dank!
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Melanie Bernstein. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Thomas Ehrhorn.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Zuschauer! Die Geschichte, die ich jetzt erzähle, veranschaulicht in eindrücklicher Weise, welches Maß an Absurdität die nicht enden wollende Diskussion um die angebliche Benachteiligung von Frauen in unserer Gesellschaft inzwischen angenommen hat.
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Im letzten Jahr gab sich eine Delegation der Gleichstellungsbeauftragten höherer Bundesbehörden ein Stelldichein im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
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Sie berichteten über ihre Arbeit im Zusammenhang mit dem Bundesgleichstellungsgesetz. Fragen waren erlaubt, also stellte ich die Frage, meine Damen und Herren: Wie viele männliche und wie viele weibliche Gleichstellungsbeauftragte gibt es denn? Die Antwort war: Na, hören Sie mal! Selbstverständlich gibt es nur weibliche und keinen einzigen männlichen Gleichstellungsbeauftragten.
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Auf meine weitere Frage, warum das denn so sei, war die Antwort: Na, hören Sie mal, das müssten Sie doch eigentlich wissen! Das Gleichstellungsgesetz gibt das nicht her. Männer haben nach dem Bundesgleichstellungsgesetz weder das aktive noch das passive Wahlrecht. – Will also sagen: Männer können nicht nur nicht gewählt werden, sondern sie dürfen auch gar nicht erst mit abstimmen. Ist doch toll!
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- „Ja, richtig!“ höre ich da gerade. Wunderbar!
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Ja, genau. Dass Sie das richtig finden, das glaube ich Ihnen sogar.
Was heißt das eigentlich? Heißt das, dass nach dem Bundesgleichstellungsgesetz Frauen und Männer grundsätzlich gleich sind, aber Frauen etwas gleicher sind?
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Oder heißt das, dass jemand, der zufällig das Pech hatte, als Mann auf die Welt zu kommen, in diesem Moment schon jegliches Recht, als Gleichstellungsbeauftragter gewählt zu werden, verwirkt hat, weil er möglicherweise so etwas wie ein Macho-Gen in sich trägt?
Man muss sich das Ganze mal umgekehrt vorstellen. Man stelle sich mal eine Organisation vor, die sich die Gleichstellung der Geschlechter auf die Fahnen geschrieben hat und explizit alle Frauen ausschließt. Ich glaube, das Geschrei linker Frauenrechtsorganisationen würde diese Bundesrepublik bis ins Mark erschüttern, meine Damen und Herren.
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Man würde wahrscheinlich den Verfassungsschutz auf den Plan rufen wegen klar erkennbarer gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, und das in diesem Falle wahrscheinlich sogar mit Recht.
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Erklärt wird das Ganze dann immer mit den angeblichen strukturellen Benachteiligungen, unter denen Frauen zu leiden haben
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und die man natürlich ausgleichen muss.
Ja, eine dieser strukturellen Benachteiligungen liegt eben darin, dass sich immer noch mehr Frauen als Männer dafür entscheiden, nach der Geburt ihres Kindes eine Zeit zu Hause zu bleiben und die Karriere zu unterbrechen. Wenn Sie sich mal von den Personalabteilungen großer Industrieunternehmen erklären lassen, wie das Anforderungsprofil für Führungspositionen aussieht, dann wird man Ihnen sagen: Möglichst jung, optimal ausgebildet und eine möglichst lange, am besten zehnjährige Berufserfahrung. – Das ist eben etwas im Anforderungsprofil, was auch heute noch offenkundig von mehr Männern als Frauen erfüllt werden kann.
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Wenn nun irgendjemand in diesem Hohen Hause glaubt, hier könnten wir Abhilfe schaffen, indem wir ganz einfach dasselbe tun wie beim Gleichstellungsgesetz, nach dem Motto „Ene, mene, muh – und raus sind alle Männer!“
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oder – umgekehrt gesprochen – „Egal wie qualifiziert ein Mann ist, gewählt wird halt immer die Frau“, -
Kommen Sie bitte zum Schluss.
– dann kann ich nur sagen: Sie haben das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland entweder nicht gelesen oder nicht verstanden.
Vielen Dank.
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Danke schön. – Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Josephine Ortleb.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wie die Kollegin Ulle Schauws richtig feststellt, legt die Coronakrise viele Ungerechtigkeiten offen. Sie funktioniert wie eine Taschenlampe und wirft ein Licht dahin, wo zuvor weibliche Lebensrealitäten in dunkle Ecken gedrängt wurden. Aber Themen wie „Pflege“, „unbezahlte Sorgearbeit“, „Vereinbarkeit“ und „Repräsentanz von Frauen in Entscheidungsgremien“ lassen sich nicht mehr verdrängen.
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Die Systemrelevanz von unbezahlter wie auch bezahlter Arbeit, die von Frauen geleistet wird, wird endlich sichtbar. Gleichzeitig rücken Schieflagen wieder in unseren Fokus, von denen wir glaubten, sie überwunden zu haben.
Dies stellen Sie, liebe Grüne, auch in Ihrem Antrag richtigerweise fest. Für beides brauchen wir Lösungen. Zum einen brauchen wir, um die tatsächliche Gleichstellung der Geschlechter zu erreichen, strukturelle Veränderungen in unserer Gesellschaft.
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Genauso nötig sind aber gerade auch kurzfristige Hilfen für Frauen, die sie sicher durch die Krise bringen. So stellt man sich berechtigterweise die Frage: Was tun die Maßnahmen der Bundesregierung im Konjunkturpaket für Frauen? Wenn man mit „Strg+F“ das Wort „Frauen“ im Papier sucht, findet man erst mal: nichts. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, so einfach darf man es sich an dieser Stelle nicht machen. Man muss sich jede einzelne Maßnahme genau anschauen; denn unser Konjunkturprogramm ist weder ein gleichstellungspolitischer Ausfall, noch sind Frauen voll aus dem Blick der SPD geraten.
Etwa die Überbrückungshilfen für kleine und mittelständische Unternehmen kommen insbesondere der Tourismus-, Hotel- und Gaststättenbranche zugute. Wie schon von den Soforthilfen profitieren also Frauen überdurchschnittlich; denn etwa 65 Prozent der Beschäftigten sind hier weiblich. Wir bleiben unserer Linie treu und stärken Branchen, in denen mehrheitlich Frauen arbeiten.
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Auch beim Ausbau der Kinderbetreuung entlasten wir Frauen bei der unbezahlten Sorgearbeit.
Und von der zunächst befristeten Verdopplung des Entlastungsbetrags für Alleinerziehende profitieren Frauen am meisten; denn 90 Prozent der Alleinerziehenden sind weiblich.
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Allein diese Beispiele zeigen: Die Hilfen werden bei Frauen unmittelbar ankommen.
Die größeren Hürden sind aber immer noch die Strukturen in unserer Gesellschaft, die Frauen diskriminieren und eine echte Gleichstellung verhindern. Wenn wir nicht wollen, dass die nächste Krise auch auf dem Rücken der Frauen ausgetragen wird, brauchen wir mehr Licht im Dunkeln, als es uns eine Taschenlampe geben kann. Wir dürfen nicht riskieren, dass Frauen zum Dank traditionell nur weiter Blumen geschenkt wird. Diese Zeiten sind vorbei!
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Blumen, Klatschkonzerte und nette Worte helfen nicht, wenn es um gleiche Rechte und echte Selbstbestimmung geht.
Unsere Vorschläge für mehr Gleichstellung liegen vor. Denn wir als SPD-Bundestagsfraktion wollen statt Blumen mehr Frauen in Führungspositionen, statt Blumen eine nachhaltige Aufwertung von sozialen Berufen, statt Blumen eine Grundrente, die die Lebensleistung von Frauen anerkennt, statt Blumen eine Strategie, die die Gleichstellungspolitik in Deutschland stärkt. Denn für uns als SPD-Bundestagsfraktion haben Frauen immer Konjunktur!
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Josephine Ortleb. – Nächste Rednerin: für die FDP-Fraktion Nicole Bauer.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Viele Länder schauen anerkennend nach Deutschland. Bisher, so scheint es, haben wir die Coronakrise gut überstanden. Doch Fallzahlen, Intensivbetten und Sterberaten sind eben nicht alles, was zählt. Fragen Sie doch mal die Familien, die Kinder, die Eltern! Die vielen Eltern, die wochenlang Homeschooling und Homeoffice vereinbart haben. Sie kommen auf dem Zahnfleisch daher.
Vollzeitkinderbetreuung, Lehrerersatz und nebenbei unzählig viele Videokonferenzen und Telefonkonferenzen im eigenen Job – das ist unglaublich; das funktioniert nicht. Genau da müssen wir ansetzen.
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Wer jedoch gerne etwas anderes behauptet, verhöhnt im eigentlichen Sinne die Fachkräfte in den Kitas und die Lehrerinnen und Lehrer an den Schulen, die tagtäglich Großartiges leisten. Das möchte ich ausdrücklich an dieser Stelle noch mal betonen, sehr geehrte Damen und Herren.
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Deshalb darf es eigentlich nur eine Notlösung sein und keinesfalls ein Dauerzustand. Denn was passiert denn in den Familien hierzulande? Wer sind diejenigen, die neben Homeoffice Homeschooling und den Haushalt wuppen? Das sind überwiegend die Frauen. Es sind die Mütter, die beruflich zurückstecken, die in Teilzeit zurückgehen oder ihre meist ohnehin geringe Teilzeit noch weiter reduzieren. Aber warum ist das so? Ist das immer wirklich so freiwillig gewählt? Genau darüber müssen wir sprechen, meine Damen und Herren! Wir sprechen über einen Rückwärtstrend in unserer Gesellschaft. Wir sprechen über eine unfaire Rollenverteilung im Normalzustand.
Krisen verdeutlichen eigentlich nur und verstärken die bestehende Schieflage. Die Vereinten Nationen weisen ja auch ausdrücklich darauf hin, dass wir eigentlich einen „Angriff auf die Emanzipation“ haben. Wir wollen nicht zurückgeworfen werden, wir wollen klar nach vorne! Deshalb fordern wir Freie Demokraten die Bundesregierung auf, einen Zukunftsgipfel Emanzipation einzurichten, der eigentlich längst überfällig ist.
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Wir müssen uns dabei damit beschäftigen: Wie können wir uns besser aufstellen? Wie können wir den Männern und Frauen echte Chancenverwirklichung ermöglichen? Wie können wir Müttern und Vätern echte Wahlfreiheit ermöglichen, damit sie die Verantwortung zwischen Familie und Beruf eigenständig aufteilen können? Und wie können wir die Krise als eine Chance begreifen und daraus lernen – als eine Chance der Veränderung und eine Chance des Neudenkens?
Wir brauchen eine Strategie mit ganz klaren Maßnahmen. Bei dieser Strategieentwicklung setzen wir auf Diversity, auf eine Fülle von möglichst vielen Perspektiven. Denn für uns ist klar: In einer modernen Gesellschaft darf es nicht vom Geschlecht abhängen, wie man durch die Krise kommt. – Wir wollen Männer und Frauen, Mütter und Väter künftig gleichermaßen krisenfest machen. Das ist unser Ziel und unser Anliegen.
Herzlichen Dank.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Gleichstellungspolitik des Bundes ist in dieser Wahlperiode wieder äußerst bescheiden und blockiert. Das zeigt sich in der Coronakrise deutlicher als vorher schon. Aus allen Lebenslagen wird uns berichtet, was es bedeutet, dass die GroKo sich nicht reinhängt, frauenspezifische Nachteile und Extralasten abzustellen. Sichtbar wird dieser Unwille anhand von Krisenstäben und Hilfspaketen, die mit einer Selbstverständlichkeit an Frauen vorbeigebaut werden, dass es 2020 kaum zu fassen ist.
Aktuell streitet sich die GroKo um ein neues Führungspositionengesetz, damit die Privatwirtschaft zumindest Einzelfrauen in Vorstände lässt. Das ist so was von zu wenig, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass ich nur hoffe: Verkäuferinnen und Pflegekräfte sind bald aus dem gröbsten Krisendruck heraus und machen richtig Alarm.
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Als Linke grüßen wir selbstverständlich alle, die heute und in diesen Tagen gegen den Pflegenotstand auf die Straße gehen. Wir sind hier an eurer Seite! Denn ja, es ist unbegreiflich, dass Pflegekräfte weiter auf die überfällige Aufwertung warten und obendrein als Notfallregelung das Arbeitszeitgesetz ausgehebelt wurde, damit der Laden auf ihre Kosten läuft. Wenn CSU und Wirtschaftsflügel der CDU sogar noch wollen, dass es aus Profitgründen gleich dabei bleibt, hätten sie sich beim Applaus für die systemrelevant Tätigen letztens lieber enthalten sollen. So geht es überhaupt nicht!
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Anders als zur Finanzkrise 2008 sind aktuell zum Beispiel mit der Gastronomie, dem Tourismus oder dem Kulturbereich maßgeblich Branchen mit hohem Frauenanteil von Lohneinbußen und auch Jobverlust betroffen, darunter Geringverdienende – aus bestimmten Gründen ebenfalls eher Frauen –, über deren Umstände hier viel zu wenig gesprochen wird. Es ist auch nicht hinnehmbar, dass Frauen selbstverständlich die Hauptlasten zu Hause tragen – zuletzt sehr deutlich beim Homeschooling –, dass viele durch steuerliche Fehlanreize wie dem Ehegattensplitting und anderen Maßnahmen und Rückständigkeiten zurückstecken. Es ist höchste Zeit, bei all diesen Maßnahmen darzulegen, wie sie sich geschlechterspezifisch und vor allem geschlechtergerecht auswirken. Das hat bislang bei der Krisenbewältigung komplett gefehlt.
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Klar: „Frauen sind aber noch immer mitgedacht“, heißt es dann, und es gibt ja noch 300 Euro Kinderbonus, der allerdings bei Alleinerziehenden mit dem Kindesunterhalt verrechnet wird, sodass nur noch 150 Euro bleiben. Und klar, auch Männer übernehmen inzwischen Familienaufgaben. Dass aber all das gegen patriarchale Windmühlen nicht reicht, sehen wir spätestens bei der Masse an Armutsrentnern, die vor allem weiblich sind. Wenn jetzt kein Umsteuern passiert, nehmen diese Gerechtigkeitslücken zu. Das ist nicht akzeptabel! Es muss nach vorne gehen.
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Wie Gleichstellung funktioniert, ist bekannt, in unserem Antrag auch nachzulesen. Es gibt reichlich Strategisches zu tun, zum Beispiel höhere Mindestlöhne und Kurzarbeitergelder, Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen, Aufwertung unterbezahlter Sorgeberufe, Umverteilung von Ressourcen wie Geld und Zeit.
Setzen Sie sich endlich für Geschlechtergerechtigkeit ein!
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Vielen Dank, Doris Achelwilm. – Nächste Rednerin: für die CDU/CSU-Fraktion Silvia Breher.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Geschlechtergerecht aus der Corona-Krise“ – so lautet der Titel des Antrags der Grünen, der heute debattiert wird. Meine Vorrednerinnen haben heute schon mehrfach gesagt, wie schwierig die Lage war, wie schwierig es auch noch immer für Familien und insbesondere für Frauen in dieser Coronakrise ist.
Nicht zuletzt, weil ich selber drei Kinder im Grundschulalter habe, möchte ich, auch im Namen meiner Fraktion, den Familien und ganz besonders den Frauen einfach mal für alles, was sie geleistet haben, und für alles, was sie noch immer leisten, von ganzem Herzen Danke sagen.
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Diese Debatte heute ist wichtig, nicht nur, weil wir das Thema kennen, weil wir die Probleme und die Herausforderungen rund um Geschlechtergerechtigkeit kennen und weil wir unsere unterschiedliche Herangehensweise, unsere verschiedenen Lösungsansätze kennen. Nein, diese Debatte heute ist auch wichtig, weil schon allein der Titel dieser Debatte in Männerrunden zu einem Schmunzeln führt und weil dieses Thema heute Morgen im Ausschuss beim Fachgespräch zum Dritten Gleichstellungsbericht bei einem männlichen Kollegen für ein vorpubertäres Gekicher gesorgt hat.
Frau Professor Dr. Yollu-Tok hat uns heute unter anderem davon berichtet, dass Werte und Normen auch in Bezug auf Geschlechterstereotypen wichtig sind. Es geht um Werte und Normen – das finde ich in diesem Zusammenhang wirklich wichtig. Lassen Sie uns debattieren, lassen Sie uns unterschiedlicher Meinung sein, lassen Sie uns unterschiedliche Lösungsansätze haben – aber lassen Sie uns alle gemeinsam eine Haltung haben für gleiche Verwirklichungschancen von Männern und Frauen!
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Heute liegen uns fünf Anträge vor. Während der AfD zu diesem Thema – wir haben es auch nicht anders erwartet – nichts Besseres einfällt, als dass auch Männer als Gleichstellungsbeauftragte gewählt werden müssen, gibt es im Übrigen umfangreiche Ideen und Vorschläge; sie wurden schon dargestellt. Ich freue mich auf die intensive Beratung im Ausschuss.
Schade finde ich allerdings, dass Die Linke diese Debatte für ihre üblichen Neidanträge – beispielsweise Vermögensteuer in Form einer Millionärssteuer – nutzt.
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Sie macht sich zwar über einen flächendeckenden Zugang zu Abtreibungen Sorgen, aber ich kann nicht eine einzige Pressemeldung der Linken zur aktuellen Debatte der Strafverschärfung bei Kinderpornographie und Kindesmissbrauch finden. Das wiederum finde ich sehr schade.
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Zum Ende meiner Rede möchte ich – denn ich bin ein durch und durch positiv denkender Mensch – auch dieser Krise einen positiven Impuls für die Zukunft abgewinnen. Ja, den großen Teil der Care-Arbeit zu Hause werden aktuell und auch in Zukunft noch die Frauen leisten; aber – und das ist auch eine Besonderheit der Coronakrise – plötzlich gab es in Haushalten ganz neu verteilte Rollenbilder. Männer mussten zu Hause bleiben, weil sie in Kurzarbeit waren, Homeoffice hatten oder weil die Frau in einem systemrelevanten Beruf gearbeitet hat. Plötzlich haben Männer die Erfahrung gemacht, dass sie auf einmal alleine für die Kindererziehung verantwortlich sind. Das hat, positiv gedacht, zumindest Potenzial für einen Kulturwandel. Auch dafür möchte ich diese Debatte nutzen.
Vielen Dank.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben heute fünf Anträge vorliegen; vier davon befassen sich mit dem Thema „Gleichstellung, Geschlechtergerechtigkeit in und nach der Coronakrise“. Ohne die Rede der Kollegin Launert zu kennen, kann ich hier schon mal festhalten, dass die Frauen in dieser Debatte die besten Reden gehalten haben. Herr Ehrhorn, mit Verlaub, Sie mögen das Grundgesetz gelesen haben, aber verstanden haben Sie es garantiert nicht.
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1994 haben die Kolleginnen und Kollegen in diesem Hause Artikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes dahin gehend ergänzt, dass wir gefälligst die Aufgabe haben, die tatsächliche Gleichberechtigung von Frauen und Männern zu fördern und auf die Beseitigung bestehender Nachteile hinzuwirken. Das ist unser Job hier, und genau das machen auch Gleichstellungsbeauftragte, die wir mit Gesetzen einsetzen.
Ich glaube, wir haben heute oder auch in der Zukunft drei Fragen zu beantworten: Wie wirken sich die Maßnahmen, die jetzt getroffen wurden, auf Frauen und Männer aus? Wo stehen wir gleichstellungspolitisch nach der Coronakrise? Und was müssen wir tun, um keinen Rückfall in alte Rollenbilder zu erleben? Das sind die Fragen. Wir haben in den letzten Wochen eine Fülle von Einzelmaßnahmen beschlossen, und es wird auch nicht die eine Maßnahme geben, die Geschlechtergerechtigkeit herstellt. Aber ich finde schon, dass man sagen kann, dass der Familienbonus auch Frauen zugutekommt; es gibt halt keine armen Kinder und reiche Mütter dazu. Das ist das eine.
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Das andere ist die Mehrwertsteuersenkung. Wir alle wissen: Wer wenig Einkommen hat, gibt anteilsmäßig mehr für den Konsum aus. Da wirkt es auch. Wir haben auch vorher schon etliche Maßnahmen beschlossen. Bei der Kurzarbeit bin ich nicht wunschlos glücklich. Es gibt sie, das ist gut so; aber Fakt ist auch: In den Männerbranchen wird das gesetzliche Kurzarbeitergeld eher aufgestockt, in den Frauenbranchen nicht. Darum hätte ich mir auch gewünscht, dass die Erhöhung ein bisschen früher kommt als das, was wir jetzt miteinander verabreden konnten. Also, auch da sind Frauen benachteiligt: weniger Geld, und das noch von weniger Entgelt. Das wird sicherlich schwierig. Und deshalb glaube ich, dass es ganz richtig ist, wenn wir am Ende des Tages – ich gehe davon aus, dass es auch von den Ministerien gemacht wird – die Hilfspakete evaluieren.
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Die SPD-Fraktion erwartet von allen Ministerinnen und Ministern, dass sie sich gefälligst an die Geschäftsordnung der Regierung halten und das Gender-Mainstreaming-Prinzip bei ihrer Arbeit anwenden.
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Das kann man erwarten.
Zu diesen vielen, vielen Einzelmaßnahmen wird jetzt auch noch die Grundrente kommen, von der überwiegend Frauen profitieren werden. Auch von dem Tarifvertrag, der für die Altenpflege angestrebt wird, werden Frauen profitieren. Natürlich! Und dann müssen wir miteinander schauen, wo wir am Ende des Tages landen. Nach diesen vielen inspirierenden Anträgen freue ich mich jedenfalls auf die Debatte im Ausschuss.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit!
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Vielen Dank, Leni Breymaier. – Und die letzte Rednerin in dieser Debatte ist Dr. Silke Launert für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Eine Familie, drei Töchter, alle gut ausgebildet, jede hat zwei Kinder, ungefähr im selben Alter, Kindergarten- bzw. Grundschulalter: drei komplett verschiedene Lebensmodelle bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
Warum fange ich mit dem Beispiel meiner eigenen Familie an? Weil ich mir genau vorgestellt habe, wie die Diskussion heute läuft. Ich habe mich ab meinem sechsten Lebensjahr dafür eingesetzt, dass Frauen stark sind, gleichberechtigt sind, alle Chancen haben, so wie es das Grundgesetz verlangt: Gleichberechtigung, nicht Gleichstellung, aber Gleichberechtigung. Jede soll die Chance haben, das zu verwirklichen, was sie will. Und wenn sie 80 Stunden arbeiten will und noch zwei Kinder großziehen will, dann muss es auch dafür die entsprechenden Rahmenbedingungen geben.
Aber es gibt auch Frauen, wie in meiner eigenen Familie, die es anders wollen. Dieselben Rahmenbedingungen führen zu komplett verschiedenen Entscheidungen. Und auch das muss man respektieren, weil das Grundgesetz Gleichberechtigung, aber nicht Gleichstellung vorschreibt. Und bei all der Diskussion und all den guten Argumenten und guten Ansätzen, um wirklich Gleichberechtigung herzustellen, müssen wir das im Blick haben. Gleichberechtigung ist nicht Gleichstellung.
Ich nenne Ihnen ein Beispiel; es wird oft darüber geschimpft und als negatives Beispiel genannt: Frauen mit minderjährigen Kindern arbeiten nur zu einem Drittel Vollzeit, aber 95 Prozent der Männer. Die Wirtschaft will natürlich, dass alle Vollzeit arbeiten, ganz klar; denn wir brauchen die Fachkräfte. Der Staat will auch, dass alle Vollzeit arbeiten; denn wir brauchen diejenigen, die in die Renten- und in die Krankenversicherung einzahlen. Aus Gleichstellungssicht will ich es auch, weil keine Frau von einem Mann abhängig sein soll. Und trotzdem sagt der „Deutsche Post Glücksatlas“ komischerweise, dass ausgerechnet diejenigen mit Kindern, die in Teilzeit arbeiten, am glücklichsten sind.
Wissen Sie, was ich meine? Es ist nicht mein Lebensmodell, und ich halte mich für glücklich; aber viele andere Frauen entscheiden es für sich anders, und auch darauf müssen wir bei all dem achtgeben. Wenn wir wollen, dass Frauen beides können, müssen wir die Rahmenbedingungen setzen. Ich glaube, die Regelungen im Zusammenhang mit der Ganztagsbetreuung jetzt auch für Grundschulkinder sind ein richtigen Schritt. Wir haben aktuell im Zusammenhang mit dem Konjunkturprogramm da noch einmal nachgelegt. Das ist selbstverständlich, sonst hat keine Frau eine echte Wahlfreiheit. Aber die Union steht nach wie vor für diese Wahlfreiheit.
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Ich weiß, dass viele Frauen wie auch meine zwei Schwestern sagen: Ich habe zwei Kinder. Ich sehe es nicht ein, es so zu machen wie du und dabei umzufallen. Ich möchte mehr Zeit mit meinen Kindern verbringen. So wichtig ist mir mein Beruf nicht. – Und auch das muss erlaubt sein.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Dr. Silke Launert. – Damit schließe ich die Aussprache.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Reisen ist wieder möglich, wenn auch eingeschränkt, sowohl in Bezug auf Hygienekonzepte als auch in Bezug auf die Länder, die aufgesucht werden können. Aber es ist gut, dass Reisen wieder möglich ist. Es ist gut für uns Verbraucherinnen und Verbraucher; denn wenn wir ehrlich sind: Wir alle haben uns auch danach gesehnt, den einen oder anderen Urlaub wieder anzutreten.
Dass diese Möglichkeit jetzt wieder besteht, ist aber mindestens genauso gut für eine Branche, die in der Pandemie sehr, sehr gelitten hat, weil diese Reisen nicht mehr möglich waren, nämlich die Reisewirtschaft. Das ist ein gutes Signal; denn jetzt kommt wieder Geld in die Kasse, jetzt wird wieder Urlaub gebucht. Davon profitieren mehr als 2 000 Reiseveranstalterinnen und Reiseveranstalter.
Es ist gut, dass wir dafür gesorgt haben, dass im Konjunkturpaket jetzt auch besondere Leistungen für die schwer belastete Reisebranche zur Verfügung stehen. Es geht darum, die Arbeitsplätze in diesem Bereich im Blick zu haben und die Unternehmen zu stärken, damit diese Arbeitsplätze nicht verloren gehen. Deswegen ist es gut, dass neben Soforthilfen und Krediten im Konjunkturpaket entsprechende Möglichkeiten auch für kleine und mittlere Unternehmen berücksichtigt sind.
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Das löst aber ein Problem nicht, nämlich dass dann, wenn Anzahlungen für Reisen geleistet wurden, die nicht angetreten werden konnten, diese Anzahlungen nach der Pauschalreiserichtlinie und nach unserem Recht zurückgezahlt werden müssen, wenn Verbraucherinnen und Verbraucher darauf bestehen. Bei einer Pauschalreise müssen sie zurückgezahlt werden. Das stellt viele Unternehmen vor eine ganz große Herausforderung.
Deswegen haben wir uns des Problems angenommen und einen Vorschlag ausgearbeitet, der auf der einen Seite die Interessen der Verbraucher, die ihr Geld zurückverlangen können und dies vielleicht auch tun wollen, weil sie es brauchen, und auf der anderen Seite die Interessen der Reisebranche berücksichtigt, damit eben nicht zu viele Unternehmen durch die Auszahlung von geleisteten Anzahlungen in Schwierigkeiten kommen.
Wir schlagen freiwillige Reisegutscheine vor, damit eben nicht diese Möglichkeit, sich das Geld, das man angezahlt hat, sofort auszahlen zu lassen, genutzt werden muss, sondern ein Gutschein in Anspruch genommen werden kann, ein Gutschein auf freiwilliger Basis: Ich selbst entscheide als Verbraucherin oder Verbraucher, ob ich diesen in Anspruch nehme.
Aber ich bekomme auch eine Sicherheit, dass dieser Reisegutschein eben nicht nur ein Stück Papier ist und dass ich, wenn ein Unternehmen in die Insolvenz gerät, nicht diejenige oder derjenige bin, die oder der das Risiko trägt. Nein, wir sorgen dafür – das ist in diesem Gesetz angelegt –, dass dann, wenn ein Reiseunternehmen tatsächlich in die Insolvenz gehen und die Insolvenzversicherung nicht ausreichen sollte, eine staatliche Sicherung da ist. Das heißt: Jeder Verbraucher, der einen solchen Gutschein bei einer Pauschalreise in Anspruch nimmt, kann sich sicher sein: Das ist abgesichert. Da kann ich mir sicher sein: Mein Geld bekomme ich auf jeden Fall.
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Deswegen stehe ich hier und werbe dafür, dass diese Gutscheine auch in Anspruch genommen werden – da, wo Verbraucherinnen und Verbraucher sich das leisten können. Es geht darum, eine Branche, die zum Teil sehr hoch spezialisiert ist, jetzt in dieser schwierigen Situation zu unterstützen, damit wir alle, wenn es wieder uneingeschränkt möglich ist, zu reisen, diese Angebote von hochqualifizierten Fachkräften, von hochqualifizierten Unternehmerinnen und Unternehmern in Anspruch nehmen können. Der Vorschlag, den ich hier heute einbringe, soll dazu beitragen, dass das auch in Zukunft so möglich ist.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Christine Lambrecht. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Dr. Lothar Maier.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist manchmal schon verblüffend und natürlich auch erfreulich, wie unter dem Druck der Verhältnisse manche Lernprozesse ablaufen – hier in diesem Hohen Hause, aber offensichtlich auch in der deutschen Bundesregierung. Es ist keine drei Wochen her, da habe ich genau an dieser Stelle gesagt: Im Reisevertragsrecht und auch im Veranstaltungssektor ist unter den Bedingungen von Covid-19 die Gutscheinlösung akzeptabel. Sie ist in vielen Fällen sogar wünschenswert – unter der Voraussetzung, dass sie bestimmte Bedingungen erfüllt.
Zu diesen Bedingungen gehörte in erster Linie: Sie darf nicht verpflichtend sein; es darf kein Zwang sein, der die Entgegennahme des Gutscheins bewirkt, sondern eine Freiwilligkeit. Zum anderen: Der Staat muss dafür sorgen, dass der Verbraucher, der Kunde entschädigt wird im Fall einer Insolvenz und im Fall, dass die bisherigen Absicherungen in ihrer Höhe das nicht leisten können.
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Das habe ich vor drei Wochen gesagt, und schon liegt der Entwurf auf den Tisch, wie bestellt. Besser kann es eigentlich gar nicht gehen. Wobei ich mir natürlich schon bewusst bin, dass es nicht ausschließlich meine Rede war, die das bewirkt hat,
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sondern – ich gebe ja gerne zu: es kann auch noch ein bisschen was anderes gewesen sein – der Umstand, dass Verbraucher massenhaft die ihnen angebotenen Gutscheine nicht haben wollten, sondern auf der sofortigen Erstattung des Reisepreises bestanden haben. Nun ist die Gutscheinpflicht vom Tisch. Deswegen ist zum Glück auch nicht zu befürchten, dass es zu einem Vertragsverletzungsverfahren vonseiten der EU-Kommission kommen könnte, das ja, soviel ich weiß, gegen bestimmte andere Mitgliedstaaten tatsächlich läuft, die einen solchen Gutscheinzwang haben einführen wollen.
Der Gesetzentwurf entspricht weitgehend unseren Vorstellungen, er entspricht auch den Vorstellungen der Verbraucherverbände, weil eben kein Zwang dahintersteht und auch keine Härtefallregelung, wie sie bei früheren Entwürfen vorgesehen war. Die Wirksamkeit bleibt abzuwarten. Sie hängt wahrscheinlich auch davon ab, ob die Reiseveranstalter bereit sind, den Gutschein noch durch eine bestimmte Zusatzleistung anzureichern, die für den Verbraucher einen Anreiz bietet, diese Lösung zu wählen und nicht auf der Erstattung zu bestehen. Positiv ist für uns auch, dass für den Fall, dass die Gültigkeit des Gutscheins ausgelaufen ist – das wird ja in der Mehrzahl der Fälle der 31. Dezember 2021 sein –, der Verbraucher nicht einen langen Schriftwechsel beginnen muss, um die Erstattung zu erreichen, sondern dass das automatisch erfolgt.
Der Gesetzentwurf lässt noch ein paar Wünsche offen. Wir hätten uns etwa gewünscht, dass auch die Frage der Übertragbarkeit des Gutscheins auf andere Personen darin geregelt worden wäre, angesprochen worden wäre. Ist nicht geschehen. Es würde uns freuen, wenn das nachgeholt werden würde. Mir persönlich kommt auch das vorgesehene Prozedere für die Inanspruchnahme der staatlichen Unterstützung im Falle einer Insolvenz des Reiseveranstalters etwas kompliziert vor für den Durchschnittsverbraucher.
Alles in allem ist der Gesetzentwurf aus unserer Sicht akzeptabel, und wir werden ihm aus diesen Gründen auch zustimmen.
Ich danke Ihnen.
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Danke schön, Dr. Maier. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Sebastian Steineke.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, wir sind uns alle einig – die Ministerin hat darauf hingewiesen –, dass die Reiseveranstalter und Reisebüros zu den mit am schwersten betroffenen Branchen in dieser Coronapandemie gehören, und das nicht nur bei der Frage des Neugeschäfts, das ja langsam, aber wirklich nur langsam wieder anläuft. Die Frage der Einnahmeausfälle spielt dabei eine ganz wesentliche Rolle, solange Reisewarnungen noch in weiten Teilen Bestand haben. Es geht auch um die Frage der Rückerstattung und um die Frage der Provision für nicht erbrachte Reiseleistungen. Das bedeutet gerade für viele kleine Reiseveranstalter und kleine Reisebüros eine existenzielle Bedrohung. Das ist uns bewusst. Und deswegen ist es wichtig, dass wir heute anfangen, auch im rechtlichen Bereich gegen diese Bedrohung vorzugehen.
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Die Frage des Wie wird nun schon seit vielen Wochen – das ist auch angesprochen worden – diskutiert. Uns hat es viel zu lange gedauert; das kann ich so deutlich sagen. Wir haben als Rechtspolitiker relativ früh gesagt, dass eine Lösung mit Zwangsgutscheinen nicht infrage kommt. Allein aus europarechtlichen Gründen wird das nicht möglich sein, und es wäre auch ein tiefer Eingriff ins Vertrags- und Zivilrecht gewesen, der mit uns nicht zu machen gewesen wäre; auch das will ich deutlich sagen.
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Vertragliche Pflichten müssen eingehalten werden. Das gilt auch für die Reiseunternehmen.
Uns ist natürlich bewusst, dass die Coronapandemie eine ganz besondere Situation ist, die so noch nie da gewesen ist, allerdings eben nicht nur für die Wirtschaft, sondern auch für die Verbraucherinnen und Verbraucher, von denen – das wissen wir doch, seit wir die Zahlen gehört haben – nicht wenige aufgrund der Coronafolgen selber existenzielle Probleme haben und auf die Rückzahlung der finanziellen Mittel angewiesen sind. Es ist deswegen auch kein Geheimnis, dass wir über andere Lösungen nachgedacht haben. Das Thema Reisesicherungsfonds stand für uns ganz oben. Das ist aus vielerlei Gründen nicht umsetzbar gewesen. Das wäre für uns ein Königsweg gewesen, um hier eine bessere Lösung für alle hinzubekommen.
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Wir sind aber trotzdem froh, dass wir heute mit der freiwilligen Gutscheinlösung eine akzeptable Version der Lösung für die Probleme bekommen haben, mit der Unternehmen und Verbraucher leben können und die für keine Seite wirtschaftliche Nachteile bringt. Das kann am Ende des Tages sogar auch ein Win-win für beide Seiten sein.
Uns war wichtig, dass das Ganze immer freiwillig bleibt. Uns ist klar, dass das nur ein Baustein ist von wesentlich mehr Möglichkeiten und anderen Dingen, die noch beschlossen werden. Kollege Lehrieder wird gleich noch auf die weiteren Dinge, die wir beschlossen haben oder die noch kommen werden, hinweisen.
Aber entscheiden sich die Verbraucherinnen und Verbraucher nunmehr für die Annahme des Gutscheins, sichert das dem Reiseunternehmen – wir hoffen in erklecklicher Anzahl – auch eine gewisse Liquidität bis zum 31. Dezember 2021; es kann aber auch eine kürzere Laufzeit vereinbart werden. Wichtig ist uns gewesen, dass sich der Gutschein tatsächlich zwingend in einen Zahlungsanspruch nach Ablauf umwandelt, sodass der Verbraucher sein Geld problemlos zurückerhält, wenn er den Gutschein eben nicht einlösen kann oder will.
Der Entwurf sieht also die Möglichkeit vor, dass die Reisenden statt der sofortigen Rückerstattung den Reisegutschein erhalten, der gegen eine etwaige Insolvenz abgesichert wird. Das stellen wir klar mit dem Gesetzentwurf. Der Gutschein wird eben auch noch spitz abgesichert durch den Bund. Dann ist eben die Frage, ob er am Ende bei dem Reiseveranstalter eingelöst wird oder ob tatsächlich dann die Zahlungspflicht wieder zum Tragen kommt.
Ich denke, das ist ein fairer Interessenausgleich, mit dem beide Seiten leben können. Die Reiseveranstalter erhalten die Möglichkeit, mit den vereinnahmten Vorauszahlungen zu wirtschaften und den Fortbestand des Unternehmens sicherzustellen. Aber noch mal: Das ist nur ein kleiner Baustein von vielen. Dem Reisenden entstehen auch keine Nachteile, da die Absicherung gewährleistet, dass die Zahlung eben auch nach dem 31. Dezember 2021 sicher ist. Ich denke, das können wir gut vertreten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, entscheidend ist, dass wir heute endlich anfangen, etwas in diesem Bereich zu tun. Wir möchten nicht mehr erleben, dass viele Verbraucherinnen und Verbraucher ihr Geld nicht zurückbekommen, weil Unternehmen weiterhin auf ihre wirtschaftliche Lage verweisen, die unbestreitbar schwierig ist, und trotz Anspruch die Zahlung verweigern.
Wir haben das gleiche Problem in der Luftfahrtbranche. Wir haben heute im Ausschuss darüber gesprochen. Auf Antrag der Koalitionsfraktionen war ja der Bericht der Bundesregierung zu diesem Thema heute bei uns auf der Tagesordnung. Alleine dort sind laut Zahlen des Reiseverbandes 4 Milliarden Euro an die Verbraucherinnen und Verbraucher auszuschütten, die bisher nicht ausgezahlt worden sind. Die Praxis der Airlines, diese Erstattung, sagen wir mal vorsichtig, zurückzuhalten, bewusst zu verzögern oder auf Gutscheine zu verweisen, ist aus unserer Sicht nicht hinnehmbar.
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Ich sage daher für uns als Fraktion ganz klar: Wenn es hier keine Änderung in diesen Fragen gibt, werden wir darüber sprechen müssen, ob wir die zivilrechtliche Durchsetzungsmöglichkeit für die Verbraucherinnen und Verbraucher verbessern. Wir haben als CDU/CSU da auch schon Vorschläge gemacht, was das Thema Vorauszahlung angeht. Damit diese Praxis eben im sonstigen Bereich keine Schule macht, müssen wir dafür sorgen, dass wir sowohl den Unternehmen als auch den Kunden helfen. Das vorliegende Gesetz ist aus unserer Sicht ein guter Ansatz.
Am Ende kurz zusammengefasst: Freiwillige Gutscheinlösung ist ein Angebot an Verbraucher und Unternehmen, nicht mehr; es ist keine Pflicht. Eine Rettung der Branche, die notwendig ist, kann zu Teilen über dieses Angebot erfolgen, aber nicht ausschließlich. Einige Hinweise haben wir schon bekommen. Es gibt schon mahnende Hinweise von einigen Verbänden, ob das alles so richtig ist. Das müssen wir uns noch angucken und genau überprüfen. Aber der Entwurf geht in die richtige Richtung, und wir sollten ihn schnellstmöglich beschließen, um der Branche und den Verbrauchern zu helfen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Sebastian Steineke. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Dr. Marcel Klinge.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Nachdem ich heute drei Stunden demonstrieren war und es ziemlich laut wurde, hatte ich mir eigentlich vorgenommen, mein Gemüt in dieser Debatte ein bisschen zurückzunehmen.
Sehr geehrte Frau Ministerin, Sie stellen sich hierhin und sagen, dass das Reisen wieder richtig gut anläuft und dass wieder Buchungen getätigt werden. Ich sage Ihnen: Das hat nichts, aber auch gar nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Sprechen Sie einmal mit den Touristikern draußen im Land. So etwas sagt Ihnen keiner.
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Ich habe heute von einer Cheforganisatorin der Demonstration diese rote Karte bekommen,
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die ich eigentlich Außenminister Heiko Maas geben sollte. Ich finde, diese rote Karte sagt sehr viel darüber aus, was die Touristiker in Deutschland über die Politik der Großen Koalition denken.
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Nun zurück zum Thema. Die deutsche Reisewirtschaft, meine Damen und Herren, steht kurz vor dem Zusammenbruch. Seit Wochen gehen Menschen, die in mittelständischen Reisebüros, bei Reiseveranstaltern, bei Busunternehmern arbeiten, auf die Straße, und zwar deutschlandweit. Viele von ihnen demonstrieren das erste Mal in ihrem Leben, weil sie sich von der Großen Koalition im Stich gelassen fühlen.
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Diese Bundesregierung hört der Branche nicht zu! Diese Bundesregierung nimmt ihre Anliegen nicht ernst! Und vor allem: Diese Bundesregierung handelt nicht!
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Dabei tickt die Insolvenzuhr von Tag zu Tag schneller. Ihr monatelanges Hin und Her bei den Gutscheinen – Sie haben sich in Brüssel eine blutige politische Nase nach der anderen eingefangen – hat das Vertrauen in dieses Instrument massiv beschädigt. Für jeden, der sich damit auskennt, ist das Thema abgeschlossen. Damit werden wir keinen Erfolg haben, wir brauchen daher andere Maßnahmen, die helfen.
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Als Allererstes müssen wir – das ist meine tiefe Überzeugung – das immense Liquiditätsproblem in der Branche angehen. Die FDP will dazu einen milliardenschweren Rettungskreditfonds einrichten, der das System einerseits stabilisiert und der andererseits – das sage ich als Sprecher für Tourismus – Vertrauen schafft und eine Perspektive gibt. Das ist, glaube ich, ganz, ganz wichtig.
Die Anbieter von Reiseleistungen kämpfen aktuell ums Überleben. Seit März gibt es kein Neugeschäft, Frau Ministerin, dafür Stornos und Rückzahlungen von Kundengeldern am laufenden Band. Das hält kein mittelständischer Betrieb durch, egal wie gut er in der Vergangenheit gewirtschaftet hat.
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Deswegen brauchen wir einen Kreditfonds mit langer Laufzeit und einem vernünftigen Zins, wie wir ihn heute vorschlagen, der unsere Betriebe durch diese schwierige Phase führt. Der Anstoß, der Kern unseres Antrages kommt übrigens direkt aus der Branche; denn wir reden mit ihnen. Es geht in dieser Krise nur miteinander und nicht gegeneinander. Diese Lektion muss die Große Koalition endlich einmal lernen.
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Wir brauchen zweitens neben dem Fonds vor der Sommerpause endlich Klarheit und Verlässlichkeit für die Urlauberinnen und Urlauber, aber auch für unsere Touristiker. Deswegen fordere ich Bundesaußenminister Heiko Maas auf, die pauschalen Reisewarnungen für 160 Nicht-EU-Staaten – das sind Länder wie die Türkei, Ägypten, Tunesien, die zu den Topreisezielen der Deutschen zählen – durch differenzierte Hinweise zu ersetzen.
Meine sehr verehrten Damen, meine Herren, die Zukunft der inhabergeführten Reisebetriebe in unserem Land mit über hunderttausend Arbeits- und Ausbildungsplätzen entscheidet sich in diesen Tagen. Deswegen appelliere ich eindringlich an die Große Koalition: Handeln Sie endlich, und setzen Sie den vorgeschlagenen Kreditfonds endlich um!
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Dr. Marcel Klinge. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Kerstin Kassner.
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Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, gerade am heutigen Tag, als vor dem Bundestag eine gewaltige Demonstration der Tourismusbranche stattfand, reden wir hier – viel zu spät – über das Pauschalreiserecht. Die vorgeschlagene Lösung ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein und löst nicht die Sorgen und Probleme der Tourismusbranche – und das aus zwei Gründen.
Erstens hätte man nach dem Debakel um die Pauschalreiserichtlinie wissen müssen, dass grundsätzlich etwas geändert werden muss. Ich erinnere nur an die Pleite von Thomas Cook. Wie viele Reisebüros sind schon durch diese Situation gebeutelt und auf viel Geld hängen geblieben, was sie nicht erstattet bekommen?
Das Zweite, das mit der Pauschalreiserichtlinie zusammenhängt, ist: Lange hat man versucht, die Zwangsgutscheinlösung zu verfolgen. „Das geht nicht“, hat uns die Europäische Union ganz klar gesagt. Deshalb jetzt der richtige Ansatz – Freiwilligkeit, staatlich abgesichert –, sodass die Reisebüros nicht auch noch auf diesem Geld hängen bleiben.
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Aber – das haben uns die Vertreter der Reisebüros heute gesagt – das nutzt ihnen jetzt nichts mehr. Es könnte vielleicht sein, dass hier und da ein langjähriger Kunde des Reisebüros bereit ist, aus Kulanz, aus Freundschaft zum Reisebüroinhaber auf seine Rückzahlung zu verzichten. Viele können sich das aber nicht leisten, weil die Sorgen und Nöte, die die Menschen jetzt haben, so groß sind, dass sie auf die Rückzahlung ihrer eingezahlten Beträge bestehen müssen. Es ist also ein kleiner Schritt in die richtige Richtung, aber keine Lösung.
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Was eine Lösung sein könnte, haben uns die Touristiker heute eindrucksvoll ins Stammbuch geschrieben. Ich habe keine Rote Karte bekommen. Ich habe stattdessen eine To-do-Liste bekommen.
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Dort steht, welche Veränderungen im Konjunkturpaket vorgenommen werden müssen, damit man der Reisebranche hilft. Dort steht, dass die Lohnkosten als Fixkosten mit angerechnet werden müssen. Schauen wir doch einmal in ein Reisebüro. Was ist dort das Wichtige? Die Menschen, die beraten, die jetzt im Homeoffice sitzen, nur teilweise ihr Geld bekommen und trotzdem die Kunden beraten und ihnen Hilfe und Unterstützung geben. Deshalb ganz wichtig: Sie müssen entsprechende Unterstützung bekommen.
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Eine dritte wichtige Sache sind die Provisionen. Ich habe es schon beim letzten Mal gesagt. Die Unternehmen brauchen nicht nur die Provisionen, die schon zurückgefordert worden sind, sondern auch die, die sie schon erarbeitet haben, aber erst bekommen, wenn die Reise, die dann vielleicht doch nicht stattfindet, vollzogen ist. Deshalb müssen wir uns darum kümmern, dass diese Provisionen abgesichert werden.
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Damit das nicht vergessen wird: Herr Bareiß, ich hätte mich gefreut, wenn Sie oder ein anderes Mitglied unserer Regierung heute bei den Demonstrierenden gewesen wären, damit Sie diese Forderung aufnehmen. Ich gebe Ihnen diese Liste einmal mit.
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Vielleicht können Sie die Punkte noch in die Debatte einfließen lassen, damit nicht wir es machen müssen, sondern es von der Regierung kommt.
Viel Erfolg dabei.
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Vielen Dank, Frau Kassner. – Nächste Rednerin für Bündnis 90/Die Grünen: Tabea Rößner.
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Ich bin gespannt, was Sie mitgebracht haben.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben selten Grund, die Bundesregierung zu loben. Heute will ich das tun, weil Sie eine Lernkurve hingelegt haben. Die ist zwar eher flach als steil, und Sie brauchten etwas Nachhilfeunterricht, aber Sie setzen den Vorschlag der Grünen um und führen eine freiwillige Gutscheinlösung in der Reisebranche ein. Das ist gut.
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Zur Erinnerung: Anfang April hatte das Coronakabinett Zwangsgutscheine für Pauschalreisen, Flugtickets und Freizeitveranstaltungen beschlossen. Im Veranstaltungsbereich haben Sie diese auf dem Rücken der Verbraucherinnen und Verbraucher durchgedrückt. Bei Pauschalreisen und Flügen hat Sie aber die EU-Kommission zurückgepfiffen. Es stimmt also nicht so ganz, wenn Sie, Frau Bundesjustizministerin, sagen, Sie hätten eine Lösung gefunden. – Sei es drum. Die Frage aber ist: Hilft diese Lösung?
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Der Gesetzentwurf ist nicht verkehrt, kommt aber viel zu spät. Heute gab es wieder eine große Demo der Reiseunternehmen, weil sie sich von der Bundesregierung durch Zögern und Zaudern an den Abgrund ihrer Existenz befördert sehen. Schon vor Wochen hätten Reiseunternehmen ihre Kunden mit attraktiven Gutscheinangeboten besänftigen können. Sie haben aber erst einmal Wut und Verunsicherung hervorgerufen. Heute haben wir im Rechtsausschuss darüber gesprochen, wie viele Menschen seit Monaten auf die Rückerstattung warten. Manche bekamen nicht einmal eine Antwort von ihrer Fluggesellschaft. Das ist ein unhaltbarer Zustand.
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Fraglich ist auch, ob die Regelung wirklich die Liquidität der Unternehmen erhält. Das Geld bleibt ja nicht bei den Reisebüros. Im Gegenteil: Die haben einen zusätzlichen Aufwand mit der Abwicklung der Gutscheine. Und das kleine Reisebüro vor Ort, das seine Kundinnen und Kunden kennt, kann diese nicht einfach hinhalten. Das würde die vertrauensvolle Kundenbeziehung dauerhaft zerstören. Das ist für die Branche nicht gut.
Den Branchenriesen ist der einzelne Kunde dagegen ziemlich egal. Vielleicht sollten Sie Ihre Prioritätensetzung noch einmal überdenken. Während Sie große Unternehmen von TUI bis Lufthansa mit milliardenschweren Hilfspaketen unterstützen, lassen Sie die kleinen Reiseunternehmen und die Verbraucherinnen und Verbraucher im Stich.
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Das Konjunkturpaket kommt sicher auch der Reisebranche zugute. Für viele aber ist das nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Wir Grüne fordern deshalb einen Rettungsfonds für die Tourismuswirtschaft, und der ist auch umfassender als das, was die FDP will. Nur damit können auch kleine Reiseveranstalter und Reisebüros den Rückerstattungsansprüchen nachkommen und das Geld an die Kundinnen und Kunden auszahlen und vor drohender Insolvenz bewahrt werden.
Gerade für die vielen ländlichen Regionen ist Tourismus ein wichtiger Wirtschaftszweig. Dafür müssen die Strukturen erhalten bleiben. Insgesamt braucht es nachhaltigere Lösungen. Es ist zum Beispiel lange überfällig, die Insolvenzregelungen im Pauschalreiserecht anzupassen. Wir sollten auch das Geschäftsmodell im Flugverkehr, bei dem Kunden weit im Voraus das komplette Ticket bezahlen und damit einen Kredit geben müssen, was sich ja jetzt in der Krise als Brandbeschleuniger erweist, hinterfragen.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
All das gehen Sie trotz des dringenden Handlungsbedarfs bedauerlicherweise nicht an. Denn eines ist klar: Die freiwillige Gutscheinlösung allein wird den Tourismus nicht retten.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Tabea Rößner. – Die nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Gülistan Yüksel.
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Bevor Sie weggehen, Frau Präsidentin: Ich habe keine Rote Karte und auch nichts anderes mitgebracht. Die Rote Karte ging sicher nur an Herrn Klinge.
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– Ich war heute Mittag da. Ich habe auch mit Vertretern der Busunternehmen gesprochen. Wenn du auf meine Facebook-Seite guckst, siehst du da auch die Bilder. Wir waren dort und haben mit denen gesprochen.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Mit einem gewaltigen Konjunkturpaket stärkt der Bund Menschen und Wirtschaft in der aktuellen Coronakrise. Hiervon wird auch die Reisebranche profitieren. Angesichts des riesigen Umfangs des Rettungspaketes könnte man leicht auf die Idee kommen, dass das Gesetz zur Abmilderung der Folgen der Covid-19-Pandemie im Pauschalreisevertragsrecht nebensächlich sei. Dies ist es aber keineswegs. Denn mit dem Gesetz schützen wir die vielen Reiseveranstalter in Deutschland, die meist als kleine oder mittlere Unternehmen Pauschalreisen anbieten.
Aktuell sehen sich diese Veranstalter vor dem Hintergrund massenhafter Reisestornierungen und damit verbundener Rückzahlungspflichten ernsten Liquiditätsengpässen ausgesetzt. Mit einem staatlich abgesicherten freiwilligen Gutschein schaffen wir eine dringend nötige Hilfe. Statt der sofortigen Rückerstattung können die Veranstalter den Kunden einen Gutschein anbieten. Die Kunden sind damit auf der sicheren Seite, weil der Gutschein durch den Staat zu 100 Prozent gegen Insolvenzen abgesichert sein wird; unsere Ministerin ist eben noch einmal detailliert darauf eingegangen.
Sehr geehrte Damen und Herren, jeder freiwillig angenommene Gutschein hilft ganz konkret auch dem Reiseveranstalter. Gerade kleinere Veranstalter, die jenseits des Massentourismus nachhaltiges Reisen ermöglichen, haben diese Solidarität verdient. Politischen Drucks bedarf es jedoch mit Blick auf Fluggesellschaften, die ihre Reiserückzahlungen verschleppen und damit nicht nur ein Ärgernis für Individualreisende sind, sondern auch die äußerst schwierige Situation vieler Veranstalter mitverantworten.
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Zudem erwarte ich vom zuständigen Wirtschaftsminister, Herrn Altmaier, und seinem Tourismusbeauftragten, Herrn Bareiß, die Liquiditätsengpässe der Branche genau im Auge zu behalten und notfalls nachzuregulieren.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wichtiger Teil der touristischen Infrastruktur sind auch die vielen Reisebüros, die die Reisen der Veranstalter vermitteln. Sie müssen die wegen Corona stornierten Reisen rückabwickeln, sehen dafür aber keine Provisionen. Auch ihnen kann die Annahme des Gutscheins helfen, weil sie dann die Provision behalten können. Zusätzlich ist das Überbrückungshilfeprogramm auf sie zugeschnitten. Verlorene Provisionen gehören nun nämlich zu den förderfähigen fixen Kosten. Auch eine Pauschale für Personalkosten wird gezahlt. Insgesamt können Unternehmen in Deutschland so bis zu 150 000 Euro Hilfen für drei Monate erhalten.
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Diese Hilfen sind für die Unternehmen und die vielen Beschäftigten der Branche sehr wichtig. Damit sichern wir Arbeits- und Ausbildungsplätze.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Coronakrise wird unser Leben und das Reiseverhalten verändern. Erste Reisen sind mit Einschränkungen nun wieder möglich, seit Montag auch ins europäische Ausland. Lassen Sie uns mit dieser wiedergewonnenen Reisefreiheit gemeinsam verantwortlich umgehen.
Herzlichen Dank, und bleiben Sie gesund!
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Vielen Dank, Gülistan Yüksel. – Die letzte Rede in dieser Debatte – wie so oft die letzte Rede – –
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– Ja, das stimmt. Herr Lehrieder redet oft als Letzter. – Ich darf ja jetzt nicht sagen: „als Höhepunkt dieser Debatte“,
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aber letzter Redner in dieser Debatte: Paul Lehrieder.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sie hätten es fast geschafft, mich als Höhepunkt der Debatte anzukündigen. Die Chance haben Sie verpasst.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute über die sogenannte freiwillige Gutscheinlösung. Und ja – die Vorredner haben bereits darauf hingewiesen –: Wir haben uns im Vorfeld auch andere Wege vorstellen können, zum Beispiel einen auch von den Juristen nicht sonderlich geliebten verpflichtenden Gutschein, der uns von Brüssel nicht genehmigt wurde. Wir haben über einen Fonds nachgedacht, der auch rechtliche Probleme mit sich gebracht hätte. Und jetzt sind wir beim freiwilligen Gutschein. Man muss ehrlicherweise sagen: Der freiwillige Gutschein kann auch nur eine Teillösung für das Problem der Reisebranche sein.
Ich habe mir vorgenommen, heute nichts zum Kollegen Klinge zu sagen, aber ich komme nicht drum herum. Er stellt sich hier hin und erzählt mit Tränen in den Augen, die Buchungszahlen seien immer noch am Boden. Dazu gibt es auch andere Meldungen: Die Buchungszahlen steigen Woche für Woche. – Der Bericht meiner heutigen Tageszeitung ist maßgebend. Das ist die Realität. Lieber Kollege Klinge, Sie dürfen hier an dem Podium alles sagen. Aber ich darf dies auch richtigstellen. Also von daher: Bitte schwindeln Sie die Leute nicht an! Sie sind ein netter Kerl. Wie schon gesagt: Von Ihnen erwarte ich die Wahrheit und Ehrlichkeit, und das wird auch in Zukunft hoffentlich wieder kommen.
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Meine Damen und Herren, die Eckpunkte der freiwilligen Gutscheinlösung wurden von Frau Ministerin Lambrecht ja bereits ausgeführt. Aber noch mal – ich habe bereits darauf hingewiesen –: Es wird nur einen Teil der Probleme lösen. Das wird deutlich, wenn man mit Vertretern der Branche spricht. Auch wir tun das.
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Auch ich war heute bei den Vertretern der Reisebüros. Auch ich war heute bei den Reisebussen, nicht nur der Kollege Klinge. Ich durfte sogar vor dem Kollegen Klinge reden, weil die CDU größer ist als die FDP und hoffentlich auch lange bleibt.
Dass wir mit der freiwilligen Gutscheinlösung nur einen Teil der Probleme beheben, ist richtig. Aber das setzt eben auch voraus, dass die Kunden der Reisebüros ein Stück weit mit diesem Gutschein auch leben können. Die Reisebüros sagen: Es hängt von der wirtschaftlichen Situation unserer Kunden ab. Von den wohlhabenderen Reisebürokunden werden vielleicht so 30 bis 35 Prozent einen Gutschein akzeptieren. Aber von denjenigen, die wirklich mit jedem Cent rechnen müssen, von den ärmeren Reisekunden, die das ganze Jahr auf ihren Urlaub sparen, können sich nur 5 bis 8 Prozent mit diesem Gutschein anfreunden.
Das heißt, Frau Ministerin: Die großen Probleme, die Liquiditätsprobleme der Reisebranche werden wir damit nicht lösen. Wir müssen auch andere Maßnahmen angehen. Wir gehen die Provisionsproblematik bei den Reisebüros an. Auch das ist in dem Altmaier-Fonds dabei.
Jetzt frage ich Sie – ich habe eine Atempause genutzt –: Erlauben Sie, Herr Lehrieder, eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung der Kollegin Kassner?
Ja, wenn es hilft, gern, Frau Kollegin Kassner.
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Ja, schauen wir mal.
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Vielen Dank, Herr Lehrieder, dass Sie die Frage zulassen. Ich wollte nur fragen, welche Buchungszahlen wieder zunehmen. Ich glaube nämlich, dass es ein ganz großer Unterschied ist, ob die Buchungszahlen in den Hotels wieder zunehmen oder ob die Buchungen in den Reisebüros zunehmen. Denn gerade das Elend dort haben wir heute beklagt. Da waren Leute dabei, die haben geweint, weil sie in Not sind und ihnen das Wasser bis zum Hals steht. Das müssen wir bitte unterscheiden und sauber auseinanderhalten.
Ja, ich merke es auch auf Rügen: Die Buchungen nehmen gewaltig wieder zu. Aber es sind noch über 160 Länder, in die noch keine Reise möglich ist. Und das ist für die Reisebüros ein ganz, ganz großes Problem.
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Herr Lehrieder.
Frau Vizepräsidentin, ich weiß, Sie reisen auch gern. Mit Ihrer geschätzten Erlaubnis würde ich zwei, drei Sätze aus dem Artikel zitieren – Frau Kollegin Kassner, ich kann Ihnen den Artikel gerne morgen zumailen; das hilft dann auch der Wissensmehrung der Linkspartei –:.
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Derzeit ist dem Unternehmen zufolge vor allem Urlaub im eigenen Land
– das heißt, es werden komplette Urlaube gebucht –
und auch im Nachbarland Österreich stark gefragt. „Für die Nah-Ziele sollen sich Urlauber schnell entscheiden, denn bei einigen Angeboten könnten die Betten in den Sommerferien knapp werden“, sagte Burmester.
Auch für Urlaubsgebiete im Ausland wie Griechenland, die Türkei, die Balearen, die Kanaren und sogar Tunesien oder der Indische Ozean steigt jetzt die Nachfrage wieder. Das heißt: Wir Deutschen sind Reiseweltmeister, und wir werden das auch in Zukunft hoffentlich wieder werden. Wir müssen der Branche jetzt aus einem Lockdown, aus einem Stopp, wieder die Möglichkeit geben, zu beschleunigen, Frau Kollegin Kassner. Und da sind wir dran. Wie schon gesagt: Sie können auch gerne nach Rügen an die Ostsee fahren. Auch da gibt es gute Fischbrötchen; das weiß ich. Es gibt tolle Gegenden, und die Krise bietet auch eine Chance. – Sie können übrigens stehen bleiben; ich bin noch beim Beantworten.
Nein, nein.
Die Krise bietet also auch eine Chance, nämlich auch die Schönheiten Deutschlands und der nahegelegenen Länder ein Stück weit kennenzulernen.
Ich freue mich, dass auch die Grünen das unterstützen. Wir haben weniger Kerosinverbrauch und weniger Umweltverschmutzung, wenn wir hier in der Region Urlaub machen und regionale Produkte kaufen.
Und ja, wir haben heute auch ein Problem lösen können, lieber Kollege Klinge. Ich bedauere es, dass die Vorredner noch nicht darauf eingegangen sind. Heute Mittag war der Bundesverkehrsminister Andi Scheuer am Brandenburger Tor und hat der Reisebusbranche mitteilen können, dass 170 Millionen Euro quasi für die Stillstandszeiten als Vorhaltekosten für die Busse erstattet werden, weil wir natürlich nicht nur Reisebüros brauchen, sondern auch Busse, die die Menschen von A nach B bringen.
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– Stellen Sie bitte eine Frage, sonst geht das auf meine Redezeit.
Ich bedanke mich, wie schon gesagt, bei der Bundesregierung, allen voran natürlich eben ein Stück weit auch bei unserem Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier und bei unserem Tourismusbeauftragten. Lieber Thomas Bareiß, wir haben dich die letzten Wochen ziemlich genervt. Das tut uns leid, aber ich glaube, das Ergebnis, das wir jetzt gemeinsam für die Reisebranche auf den Weg gebracht haben, gibt uns recht.
Wir haben noch das Problem, wie wir es schaffen, die Rückzahlung von den Reiseveranstaltern hinzubekommen – vielleicht über einen KfW-Kredit. Die FDP sagt, es müsse ein Fonds sein. Wie man das Ding nennt, ist wurscht; Hauptsache wir bekommen hier ein Stück weit Liquidität auch für diese Branche hin.
Daneben wird es so sein – das hat auch die Kollegin Kassner, in dem Fall ausnahmsweise sogar mal zutreffend, angesprochen –, dass natürlich nicht nur die gezahlten Provisionen, sondern auch die im Juli oder August noch anstehenden Provisionen für Fernziele bei den Reisebüros verbleiben sollten und zu den Fixkosten gerechnet werden. Ich hätte mir von Ihnen ein Lob dafür gewünscht, dass wir die Provision bei den Fixkosten schon drin haben. Das hat vor drei Wochen auch nicht jeder für möglich gehalten.
Wir sind auf einem guten Weg. Die Reisebranche kann froh sein, dass die Große Koalition hier regiert
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und dass wir mit unseren Ministern – mit dem Verkehrsminister Andi Scheuer, mit dem Wirtschaftsminister Peter Altmaier – die Richtung vorgeben. Vielleicht gibt es ja auch die Möglichkeit, dass die eine oder andere Partei, die vielleicht auch mal wieder regieren will, hier auch mal mitregieren kann.
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In dem Sinne wünsche ich Ihnen alles Gute. Wir haben heute die erste Lesung, wie schon gesagt, und werden das in der nächsten Sitzungswoche natürlich auf den Weg bringen, damit die Branche durchschnaufen kann und auch einen schönen Sommer hat.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein ausgewogener Schutz vor den Folgen von Pfändungen ist ein zentraler Bestandteil unseres Sozialstaats; denn auch Menschen mit Schulden haben einen Anspruch auf Selbstbestimmung und auf soziale Teilhabe. Das Pfändungsschutzkonto, das P-Konto, löst diesen Anspruch ein. Es schützt Kontoguthaben in einem angemessenen Maß vor dem Zugriff von Gläubigern, und es macht so Ernst mit dem solidarischen Pfändungsschutz.
Zehn Jahre nach der Einführung des P-Kontos ist es Zeit, das Institut an aktuelle gesellschaftliche Bedürfnisse anzupassen. Mit unserem Gesetzentwurf gehen wir dieses Vorhaben nun an. Wir wollen den Schutz vor den Folgen von Pfändungen maßvoll ausweiten, und wir wollen wichtige Fragen klarer regeln.
Was planen wir konkret? Fünf Punkte will ich nennen:
Erstens. Wir stellen sicher, dass auch Guthaben auf Gemeinschaftskonten vor Pfändungen geschützt werden können. Einen solchen Schutz gibt es bislang nicht. Für Menschen, die zusammenleben und gemeinsam wirtschaften, ist diese Neuerung ein wichtiger Schritt.
Zweitens. Wir schaffen mehr Möglichkeiten, um Guthaben anzusparen. Pfändungsfreies Guthaben soll in Zukunft nicht nur einen Monat angespart werden können, wie bislang, sondern drei Monate. Das ist ein ganz großer Gewinn an Selbstbestimmung, gerade wenn es um größere Anschaffungen geht. Denken Sie etwa an den Kauf von Haushaltsgeräten.
Drittens. Wir verbieten die Aufrechnung und Verrechnung bei Zahlungskonten mit negativem Saldo. Damit stellen wir sicher, dass den Bürgerinnen und Bürgern in jedem Fall das Existenzminimum zur Verfügung steht, wenn sie ein Zahlungskonto in ein P-Konto umwandeln.
Viertens. Wir wollen sicherstellen, dass individuelle Erhöhungen des pfändungsfreien Grundbetrags den Berechtigten auch wirklich zugutekommen. Deshalb erleichtern wir den Zugang zu den entsprechenden Bescheinigungen. Ganz wichtig ist das etwa für den Pfändungsschutz von Kindergeld. Es kann doch nicht sein, dass Berechtigte den Pfändungsschutz verlieren, weil sie die richtige Bescheinigung nicht rechtzeitig erhalten.
Fünftens. Wir verkürzen den Anpassungszeitraum für die Pfändungsfreigrenzen für Arbeitseinkommen. Aus zwei Jahren wird ein Jahr. Damit stellen wir sicher, dass Pfändungsfreigrenzen rasch an die wirtschaftliche Entwicklung angepasst werden können. Das hilft vor allem Menschen mit kleinem Einkommen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit unserem Gesetzentwurf bringen wir das P-Konto also auf die Höhe der Zeit, ohne die Interessen der Gläubigerinnen und Gläubiger aus dem Blick zu verlieren. Deshalb bitte ich um Ihre Unterstützung für den Gesetzentwurf der Bundesregierung.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Christian Lange. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Fabian Jacobi.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Gesetzes zur Fortentwicklung des Rechts des Pfändungsschutzkontos, das uns die Bundesregierung hier vorlegt, hat erhebliche praktische Auswirkungen für die mit der Zwangsvollstreckung befassten oder von ihr betroffenen Personenkreise, also für Vollstreckungsschuldner, Gläubiger, Gerichte, Banken, Schuldnerberatungen und auch Insolvenzverwalter.
Einigkeit dürfte darüber bestehen, dass die bisherigen Regelungen zum Pfändungsschutzkonto teilweise lückenhaft, teilweise unklar sind und dadurch etliche Anwendungsprobleme auslösen, sodass eine gründliche Überarbeitung angezeigt ist. Insofern ist die Vorlage dieses Gesetzentwurfs durch die Bundesregierung im Grundsatz zu begrüßen.
Über die Qualität des Entwurfs wird es dann schon eher unterschiedliche Auffassungen geben. Er hat einen Vorlauf durch mehrere Inkarnationen hinter sich. Nach dem Diskussionsentwurf von 2018 und dem Referentenentwurf vom vergangenen Jahr hat er nunmehr die vorliegende Form dieses Regierungsentwurfs angenommen.
Die betroffenen Verkehrskreise haben die Gelegenheit zur Stellungnahme zu den früheren Entwurfsfassungen wahrgenommen und Hinweise auf Mängel gegeben. Einige dieser Hinweise sind in der nun vorliegenden Fassung auch berücksichtigt, etwa durch die ersatzlose Streichung des noch im Referentenentwurf enthaltenen, eher irrwitzigen § 850m ZPO-E zur Übertragung bestehender Pfändungen auf ein neues Konto des Schuldners. Gleichwohl darf bezweifelt werden, dass die jetzige Entwurfsfassung bereits der Weisheit letzter Schluss ist. Die zahlreichen Detailprobleme der neuen Regelungen können an dieser Stelle nicht erschöpfend dargestellt werden. Deshalb muss es hier und heute bei Beispielen bleiben.
So ist vorgesehen, im Kontext des Pfändungsschutzkontos eine eigene Regelung zur Pfändung eines Gemeinschaftskontos zu schaffen. Die fehlt bisher. Die Schließung dieser Lücke ist zu begrüßen. Der Entwurf sieht vor, dass das Guthaben auf dem gepfändeten Gemeinschaftskonto den mehreren Kontoinhabern zu gleichen Teilen zugeordnet wird. Der Referentenentwurf enthielt noch die Möglichkeit, dass das Vollstreckungsgericht auf Antrag auch eine andere Aufteilung vornimmt. Dazu hatte der Bund Deutscher Rechtspfleger angemerkt, die vorgesehene Zuständigkeit des Vollstreckungsgerichts sei abzulehnen, weil die Beurteilung der materiellen Berechtigung an dem Kontoguthaben vor das Prozessgericht gehöre. Das ist richtig.
Anstatt aber die vom Rechtspflegerbund vorgeschlagene Alternativlösung aufzugreifen, ist die Möglichkeit einer abweichenden gerichtlichen Regelung im Regierungsentwurf einfach ersatzlos gestrichen worden. Die dadurch generell anzuwendende Aufteilung nach Kopfteilen kann aber – je nach den zugrundeliegenden Verhältnissen – tatsächlich zu grob unbilligen Ergebnissen führen, weil nicht berücksichtigt wird, wem das Guthaben im Verhältnis der Kontoinhaber untereinander zusteht. Das eröffnet durchaus auch Möglichkeiten des kreativen Missbrauchs. – Über die Fassung der Vorschrift zum Gemeinschaftskonto ist also auf jeden Fall noch einmal nachzudenken.
Ein weiteres Beispiel betrifft das in der Praxis der Insolvenzverwaltung immer wieder relevante Problem der fortbestehenden Verstrickung eines Kontos aufgrund einer bei Insolvenzeröffnung bereits bestehenden Pfändung – ein eher technisches Problem, bei dem verschiedene Lösungen denkbar sind. In den einschlägigen Stellungnahmen wurde auch angemahnt, hierzu dann mal eine Regelung zu schaffen. Unverständlicherweise ist das in dem vorliegenden Gesetzentwurf wieder nicht geschehen, sodass auch an dieser Stelle noch Nachbesserungsbedarf besteht.
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Das waren, wie gesagt, nur zwei Beispiele aus den vielen Details dieses Gesetzentwurfs. Man wird sehen, inwieweit die Mehrheitsfraktionen zu Nachbesserungen noch bereit sein werden.
Wollte man den Blick von den technischen Aspekten des Vollstreckungsrechts ins Grundsätzliche lenken, könnte man die Frage aufwerfen, ob die Schaffung einer Rechtsordnung, die das Machen von und das Leben mit Schulden immer leichter und angenehmer gestaltet, auf die Dauer wirklich erstrebenswert ist. Moral Hazard gibt es auf vielen Ebenen, nicht nur in den Vorstandsetagen. Auch der Massenkonsum auf Pump stellt keine erstrebenswerte Kultur dar. Aber mit solchen Erwägungen wird hier wohl kaum jemand die Behandlung eines solchen Gesetzentwurfs belasten wollen.
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Vielen Dank.
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Danke, Fabian Jacobi. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Dr. Volker Ullrich.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Jacobi, es verwundert mich sehr, dass Sie in Bezug auf Überschuldung ausgerechnet das Thema „Moral Hazard“ ansprechen und damit dem Hohen Hause zumindest mittelbar kundtun, dass Menschen, die überschuldet sind, selbst schuld seien. Das ist nicht unser Menschenbild. Ich will Ihnen ausdrücklich widersprechen.
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Die Gründe für Schicksalsschläge sind vielfältig: Krankheit, Verlust des Arbeitsplatzes, Tod des Ehepartners, vielleicht auch eine persönliche Überforderung.
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Jedenfalls gibt es vielerlei Gründe. Insofern stimmt die Erzählung nicht, dass die Menschen selber schuld seien. Der Sozialstaat, so wie wir ihn verstehen, reicht den Menschen die Hand, als Hilfe zur Selbsthilfe. Aber die Handreichungen, die die Menschen bekommen, müssen es ihnen ermöglichen, aus eigener Kraft aus der Überschuldung herauszukommen.
Es hat sich vor 2010, vor der Einführung des P-Kontos, gezeigt, dass die Menschen, die überschuldet waren, Schwierigkeiten hatten, überhaupt ein Konto zu bekommen. Ohne Konto waren dann alltägliche Besorgungen des Lebens, von der Mietzahlung bis zur Zahlung der Rechnungen für Gas, Elektrizität oder Wasser, gar nicht möglich. Das P-Konto hat dazu geführt, dass Menschen den Weg aus der Überschuldung heraus finden konnten, dass sie sich quasi selber befreien konnten. Ich glaube, das zeigt, dass dieses P-Konto ein ganz wichtiges auch sozialpolitisches Instrument war und ist.
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Wir wollen und werden das P-Konto fortentwickeln. Es hat sich gezeigt, dass noch Raum für Verbesserungen ist. Wichtig ist mir vor allen Dingen, dass durch die neuen Regelungen zum einen das steuerfreie Existenzminimum eins zu eins und zeitnah an die Realität angepasst wird, damit hier keine langen Verzögerungen entstehen. Wichtig ist mir auch, dass Menschen, die ein P-Konto haben, zum anderen auch ein Stück weit mehr ansparen können, auch wenn es sich dabei nur um kleine Summen handelt. Es ist wichtig, dass die Menschen durch das Sparen auf kleine Projekte ein Stück weit Würde zurückbekommen und durch die Verlängerung der Frist für die Übertragung des nicht verbrauchten pfändungsfreien Guthabens auf drei Monate die Möglichkeit haben, für sich selber etwas zu schaffen. Wir werden der Bedeutung des P-Kontos auch Rechnung tragen, indem in die Zivilprozessordnung ein eigener Abschnitt zum P-Konto eingeführt wird. Das ist wichtig, damit das P-Konto im Zusammenhang mit dem Thema der Vollstreckung einen ganz wichtigen Platz im Rahmen der Zivilprozessordnung bekommt.
Wir haben – ja! – nicht nur über rechtspolitische Fragen zu sprechen. Vielmehr dürfen wir uns nicht damit zufriedengeben, dass in unserem Land 2 Millionen P-Konten existieren. Das sind 2 Millionen Schicksale. Wir wollen alles dafür tun, dass durch eine gute Arbeits- und Sozialpolitik die Anzahl reduziert wird. Wir werden das nicht von heute auf morgen schaffen. Wichtig ist aber, dass wir mit dem P-Konto auf der einen Seite den Menschen ein Stück weit Handlungsfähigkeit zurückgeben und auf der anderen Seite auch all diejenigen unterstützen, die diesen Menschen helfen: Das sind die Schuldnerberatungen von staatlichen, aber auch von karitativen und kirchlichen Organisationen. Das darf man bei dieser Gelegenheit erwähnen.
Es ist aus dem Sozialstaatsprinzip heraus eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, den Menschen zu helfen, die Hilfe brauchen. Mit den neuen Regelungen zum P-Konto werden wir hier gemeinsam für ein kleines Stückchen Verbesserung sorgen. Lassen Sie uns das im Bundestag ordnungsgemäß diskutieren.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Dr. Ullrich. Das war heute Ihre letzte Rede, glaube ich.
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– Heute. – Nächste Rednerin: für die FDP-Fraktion Katrin Helling-Plahr.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die FDP-Fraktion hat das Gesetz zur Reform des Kontopfändungsschutzes im Jahr 2009 aus der Opposition heraus mitgetragen. Seinerzeit ist es gelungen, die unterschiedlichen Interessen von Schuldnern, Gläubigern und Kreditinstituten in ein recht ausgewogenes Verhältnis zu bringen. Das Pfändungsschutzkonto ermöglicht Betroffenen, während einer Kontopfändung Zugriff auf den unpfändbaren Teil ihrer Einkünfte zu behalten und so weiterhin am Wirtschaftsleben teilzunehmen, und es ist – ich denke, da sind wir uns im Großen und Ganzen einig – ein Erfolg.
Im Jahr 2013 hat die damalige Bundesjustizministerin, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, dann eine unabhängige Evaluation des Gesetzes ausgeschrieben. Auch was gut ist, kann man schließlich besser machen. Der Schlussbericht liegt nun seit 2016 vor. Auch das Institut für Finanzdienstleistungen e. V., iff, sieht das Gesetz grundsätzlich positiv, aber Nachbesserungsbedarf im Detail.
Seitdem sind nunmehr über vier Jahre vergangen, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der Großen Koalition. Vier Jahre, in denen nichts passiert ist, um die Situation Betroffener zu verbessern. Der geplante verbesserte Schuldnerschutz wird nun für viele zu spät kommen. Die Weiterentwicklung des Kontopfändungsschutzrechts ist also mehr als überfällig. Es ist, wie nicht nur das iff nun schreibt, davon auszugehen, dass gerade die Coronakrise zu einer wachsenden Überschuldung in der Bevölkerung führt.
Es ist richtig, den Anpassungszeitraum für die Pfändungsfreigrenzen von Arbeitseinkommen von zwei Jahren auf ein Jahr zu verkürzen und hierdurch eine raschere Anpassung an die wirtschaftlichen Entwicklungen zu ermöglichen. Auch die Verlängerung der Möglichkeit der Übertragung von nicht verbrauchtem pfändungsfreiem Guthaben von einem Monat auf drei Monate, um Betroffenen zu ermöglichen, auch für Ersatz, etwa für die neue Waschmaschine, anzusparen, ist richtig.
Über den einen oder anderen weiteren Punkt müssen wir noch mal im Detail reden. Wir werden in den Beratungen im Ausschuss weiterhin ein wachsames Auge darauf haben, dass einerseits das verfassungsrechtlich garantierte Existenzminimum geschützt wird, andererseits aber auch die legitimen Rechte der Gläubiger durchsetzbar bleiben und die Kreditinstitute, auf die ja umfangreiche Berechnungs- und Prüfungsaufgaben verlagert worden sind, nicht unverhältnismäßig mit Bürokratie und Kosten belastet werden.
In diesem Sinne freue ich mich auf die Beratungen im Ausschuss.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Der zur Beratung vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung befasst sich mit Änderungen im Recht des Pfändungsschutzkontos. Zur eindeutigen Klarstellung: Wir als Linke unterstützen alle Bemühungen für den Personenkreis, der von Pfändungen betroffen ist.
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Daher unterstützen wir auch den vorliegenden Gesetzentwurf.
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Ein Pfändungsschutzkonto ermöglicht den Betroffenen eine gewisse Restverfügungsmöglichkeit über ihr Einkommen. Menschen in existenzieller Notlage brauchen das Pfändungsschutzkonto, um notwendige Dinge wie Essen, Kinderschuhe und Monatskarten, aber auch die Zahlung von Miete und Nebenkosten leisten zu können. Der Gesetzentwurf greift viele Empfehlungen aus der Praxis, aus dem Auswertungsbericht von 2016 sowie Vorschläge der Verbraucher- und Schuldnerverbände auf. Das ist positiv zu bewerten.
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Erlauben Sie mir dennoch einige Anmerkungen zum weiteren Verbesserungsbedarf, den wir als Linke für die Betroffenen gerne in dem Gesetz sehen würden.
Als verbesserungswürdig sehen wir die Erhöhung der Pfändungsfreigrenzen an. Hier entscheidet sich, wie viel jemand auf seinem Konto zur Verfügung hat. Beziehen Partner von Betroffenen Sozialleistungen, kann eine Lücke zwischen Pfändungsschutz und Sozialleistung entstehen, insbesondere wenn die Sozialleistung in der Höhe schwankt. So müssen in sogenannten Patchworkpartnerschaften die Schuldner für ihre Partner und deren Kinder einstehen, dürfen dies aber zwangsvollstreckungsrechtlich nicht zu ihren Gunsten geltend machen. Das führt dazu, dass bei einer Pfändung der Familie existenzsichernde Mittel entzogen werden können; eine Fallkonstellation, die mich schon als Richter am Sozialgericht geärgert hat, da dadurch gerade die Kinder Nachteile erleiden. Das Widersinnige ist, dass dann wiederum die Sozialleistungsträger mit staatlichen Mitteln einspringen müssen – verwaltungstechnisch ein unnötiger Aufwand und für Menschen in solchen Lebenssituationen eine große Belastung.
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Wir Linken sind uns einig, dass das Gesetz hier dringend nachgebessert werden muss.
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In aller Kürze etwas zum Antrag der Grünen zum Basiskonto. Dass es ein Basiskonto gibt, haben wir der EU-Linken zu verdanken. Endlich sollen alle Menschen in Deutschland ein Recht auf ein eigenes Bankkonto haben. Das gilt auch für Asylbewerber und wohnungslose Menschen. Die Linke hat in Kommunalparlamenten, in Landtagen, im Bundestag und im Europäischen Parlament dafür gestritten. 2011 hat es der linke Europaabgeordnete Jürgen Klute geschafft, die EU- Kommission von der Notwendigkeit eines Basiskontos zu überzeugen. Hier zeigt sich: Konsequenter Einsatz der Linken zahlt sich irgendwann aus.
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Ein Bankkonto ist ein unverzichtbarer Lebensbestandteil. Miete, Stromkosten – alles läuft über das Bankkonto. Ohne Bankkonto ist eine Teilnahme am gesellschaftlichen Leben nicht möglich. Darum fordert Die Linke anders als die Grünen ein kostenloses Bankkonto. Wir sehen die Banken in der Pflicht, ein kostenfreies Konto anzubieten, und dafür werden wir weiter kämpfen. Das ist unser linkes Verständnis von einer angemessenen Teilhabe aller Menschen am gesellschaftlichen Leben in unserem Land.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Friedrich Straetmanns. – Nächster Redner: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Stefan Schmidt.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Ja, das Pfändungsschutzkonto ist ein Erfolg. Seit ziemlich genau zehn Jahren sichert es verschuldeten Menschen ein Leben in Würde. Trotzdem gibt es weiterhin noch einige Baustellen. Daher ist es gut, dass uns jetzt nach langem Warten endlich ein Reformvorschlag vorliegt.
In einigen wichtigen Punkten geht der Gesetzentwurf in die richtige Richtung. Wenn Gemeinschaftskonten bei einer Pfändung künftig getrennt werden können, haben es Familien leichter, ihren Lebensunterhalt zu sichern. Wenn Schuldnerinnen und Schuldner von ihrem geschützten Guthaben künftig ein bisschen ansparen können, dann können sie notwendige Rücklagen bilden und stärker auf eigenen Beinen stehen. Es ist auch wichtig, richtig und gut, dass der Pfändungsschutz künftig auch für Konten garantiert ist, die sich zum Zeitpunkt der Pfändung im Minus befanden.
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Diese Verbesserungen stärken die Selbstständigkeit und die gesellschaftliche Teilhabe – richtig so!
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Neben diesen positiven Punkten gibt es aber leider immer noch eine Reihe von offenen Baustellen. Stellen Sie sich folgende Situation vor: Jemand ist vor der Pfändung für seinen Partner oder seine Partnerin und deren Kinder aus einer früheren Beziehung unterhaltspflichtig. Nach der Pfändung wird aber so getan, als gäbe es diese Verpflichtung nicht mehr. Dem Schuldner wird nur sein persönliches pfändungsfreies Existenzminimum zugebilligt und kein einziger Euro mehr für die Familie. Es ist doch widersinnig, dem Schuldner etwas wegzunehmen, was anschließend der Staat über die sozialen Sicherungssysteme wieder ausgleichen muss. Das ist nicht nur ein Widerspruch zwischen Sozialrecht und Zwangsvollstreckungsrecht, das geht auch völlig an der Lebensrealität der Menschen vorbei. Da müssen wir dringend nachbessern.
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Wenn wir das P-Konto reformieren, sollten wir auch das B-Konto, das Basiskonto, nicht vergessen. Das ist ein wichtiger Schutzmechanismus für Menschen ohne großen Geldbeutel. Das Basiskonto wurde vor vier Jahren eingeführt. Seitdem hat jeder theoretisch einen Anspruch auf ein Girokonto; praktisch wird der Anspruch aber häufig durch viel zu hohe Kontoführungsgebühren unterlaufen. Grund dafür ist eine schwammige Formulierung im Gesetz. Da heißt es, die Entgelte müssen „angemessen“ sein. Aber was heißt denn „angemessen“?
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Wir finden: 200 Euro oder gar 300 Euro im Jahr sind definitiv zu viel. Das haben auch Gerichte bestätigt.
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Hier ist der Gesetzgeber gefordert. Ein Basiskonto darf niemals teurer sein als die anderen Girokonten der Bank. So ist unser Vorschlag. Nur so sichern wir finanziell benachteiligten Gruppen auch wirklich einen fairen Zugang zu einem Konto. Dafür bitte ich Sie, unseren vorliegenden Antrag zu unterstützen. Ich hoffe, dass wir in den Beratungen zu einem vernünftigen und guten Ergebnis kommen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Stefan Schmidt. – Die nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Esther Dilcher.
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Schönen guten Abend, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Parlamentarische Staatssekretär Lange hat kurz und knackig in fünf Punkten ausgeführt, was wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ändern werden.
Wenn man sich überlegt, wie unsere Gesellschaft aussieht, ist es schon ein bisschen verwunderlich, dass wir erst seit zehn Jahren – darauf wurde mehrfach hingewiesen – das Pfändungsschutzkonto haben. Wir haben damit dafür gesorgt, dass Kunden Anspruch haben, ihr Girokonto in ein P‑Konto umwandeln zu können. Früher gab es im Falle einer Pfändung eines normalen Girokontos das Problem, dass man vom bargeldlosen Zahlungsverkehr fast ausgeschlossen war. Wenn die Sozialleistungen auf das Girokonto überwiesen werden und diese gepfändet werden, dann ist der Betroffene mittellos. Wenn einem das auch noch am Wochenende passiert, dann ist die Not schon sehr groß. Wir sagen: Das ist ein unhaltbarer Zustand in unserem Sozialstaat. Deshalb war die Einführung des P-Kontos dringend erforderlich.
Bei der Einführung des Basiskontos im Jahr 2016 – ein Kollege hat es angesprochen – haben wir dafür gesorgt, dass jedermann einen Anspruch auf ein Basiskonto hat. Das muss man sich einmal überlegen: Das war im Jahr 2016, also relativ spät – wir denken immer, wir sind so fortschrittlich –, aber besser spät als nie. Sicherlich können wir auch noch an Veränderungen arbeiten.
Die Lohntüte ist out; alles dreht sich um das Girokonto. Dort gehen Löhne und Gehälter ein, dort werden Überweisungen getätigt. Wird nun das Guthaben auf einem P-Konto gepfändet, dann kann der Schuldner bis zur Höhe des monatlichen Pfändungsfreibetrages trotzdem weiter frei über sein Konto verfügen. Das hat auch dazu geführt, dass wir die Vollstreckungsgerichte entlastet haben und der Schuldner oder die Schuldnerin nicht erst bis zu zwei Wochen auf eine Entscheidung des Gerichts warten muss. Vielmehr kann er oder sie von Anfang an frei über den Mindestbetrag verfügen.
Ich will noch weitere bestehende Probleme beleuchten, zum Beispiel hinsichtlich der Gebühren für die P-Konten. Dazu musste der Bundesgerichtshof erst entscheiden, dass die Banken für P-Konten keine zusätzlichen Gebühren nehmen dürfen; vielmehr ist Bereitstellung von P-Konten ihre gesetzliche Pflicht.
Nichts ist so beständig wie der Wandel. – Dieses zweitausend Jahre alte Zitat greift auch heute noch. Wir reagieren mit dem vorliegenden Gesetzentwurf auf diesen Wandel; jetzt kennen wir die Ergebnisse der Evaluation. Die Kollegin von der FDP, Frau Helling-Plahr, hat kritisiert, dass wir lange gebraucht haben; aber jetzt setzen wir das um. Darüber können wir froh sein.
Ich hoffe, dass dieser Gesetzentwurf, den wir heute Abend in erster Lesung beraten, auf großes Einvernehmen stößt.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Dilcher. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Hans-Jürgen Thies.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich möchte Folgendes vorwegschicken: Der Kollege der Linkspartei hat gesagt
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– der Linken, auch gut, wie Sie es gerne hätten –, die Linke sei für alles, was den Pfändungsschutz stärkt und Pfändungsschuldner stärker schützt. Das kann man so pauschal nicht sagen. Ich muss Ihnen gestehen: In meiner Funktion als Rechtsanwalt war ich oft damit beauftragt, Forderungen beizutreiben, also mit dem Forderungseinzug beauftragt. Zu Recht ist gerade die Pfändung in Konten hinein ein durchaus wirksames Instrument der Zwangsvollstreckung. Wir brauchen dieses Instrument. Also, man muss sehr genau hinschauen, wo man pfändet und wo man den Schuldnerschutz stärken muss.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Pfändungsschutzkonto ist eine sehr wichtige sozial- und rechtspolitische Errungenschaft. Die im Jahre 2016 von der Bundesregierung in Auftrag gegebene Evaluierung hat ergeben, dass sich das Pfändungsschutzkonto grundsätzlich bewährt hat. Es verschafft gerade sozial schwachen Menschen
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einen Vollstreckungsschutz zur Sicherung des Existenzminimums und schützt sie vor Kahlpfändungen. Außerdem wird durch das P-Konto gewährleistet, dass der Kontoinhaber seine laufenden Unterhaltsverpflichtungen im Rahmen seiner Leistungsfähigkeit erfüllen kann. Nur durch das P-Konto wird vielen Menschen in prekären wirtschaftlichen Verhältnissen eine menschenwürdige Teilhabe am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben ermöglicht.
Deshalb begrüßt es meine Fraktion ausdrücklich, dass mit dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung das Pfändungsschutzkonto weiterentwickelt werden soll. Dies soll unter anderem erreicht werden – das ist hier schon vom Herrn Staatssekretär ausgeführt worden – durch eine Neustrukturierung der Kontopfändungsschutzvorschriften in der Zivilprozessordnung; sie sollen dort ein eigenes Kapitel bekommen. Es sollen neue Vorschriften zur Pfändung von Gemeinschaftskonten entstehen. Es soll eine Erweiterung der Möglichkeit des Ansparens von nicht verbrauchtem Guthaben geben, also von Mitteln, die für Anschaffungen jenseits des täglichen Lebensbedarfs eingesetzt werden können. Der Zugang zu Nachweisen, die für die Erhöhung des Grundfreibetrages erforderlich sind, soll erleichtert werden. Die Verkürzung des Anpassungszeitraums für die Pfändungsfreigrenzen ist bereits erwähnt worden. Durch den Pfändungs- und Vollstreckungsschutz sollen Sachen, die zur Religionsausübung oder zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben erforderlich sind oder dienen, vor Vollstreckung geschützt werden.
Insgesamt wird mit dem Gesetzentwurf der bei der Evaluierung festgestellte Nachsteuerungsbedarf umgesetzt. Der Kontopfändungsschutz wird zudem transparenter gestaltet. Deshalb sind die geplanten Gesetzesmaßnahmen eine gute Regelung, gerade für Menschen in schwierigen finanziellen Verhältnissen. Dies ist zudem eine wichtige Botschaft an die Menschen in unserem Land, die wegen der Folgen der Coronakrise um ihre wirtschaftliche Existenz bangen. Ich bitte Sie daher um Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf der Bundesregierung.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Hans-Jürgen Thies. – Der letzte Redner in dieser Debatte und der letzte Redner für den heutigen Sitzungstag ist Matthias Hauer für die CDU/CSU-Fraktion. – Herr Hauer, bitte.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der heutigen Debatte geht es um den Schutz vor Kontopfändungen, um Kontozugang für jedermann und um transparente Bankgebühren.
Vor knapp zehn Jahren haben wir das Pfändungsschutzkonto eingeführt. Dieses Girokonto sorgt dafür, dass verschuldeten Menschen das Existenzminimum auch wirklich zur Verfügung steht. Sie werden in dieser Höhe vor Kontopfändungen geschützt. Der monatlich pfändungsfreie Betrag bleibt ihnen erhalten. Sie können damit trotz Zwangsvollstreckung ihren Lebensunterhalt bestreiten und selbstbestimmt am Wirtschaftsleben teilnehmen. Das sogenannte P-Konto ist damit ein wichtiger Bestandteil unseres Sozialstaates, und es hat sich bewährt.
Mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf gehen wir einige Problemstellungen an, die im Rahmen der Evaluierung des P-Kontos festgestellt wurden. Beispielsweise werden die Pfändungsfreigrenzen künftig jährlich angepasst, Ansparmöglichkeiten für Verbraucherinnen und Verbraucher werden verbessert, und der Pfändungsschutz wird auch auf Gemeinschaftskonten erstreckt. Für meine Fraktion haben schon die Kollegen Dr. Ullrich und Thies dazu im Detail ausgeführt. Ich möchte mich daher auf die beiden Punkte aus dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen konzentrieren.
Zuerst zum Thema Basiskonto: Wir haben 2016 den Rechtsanspruch auf ein Bankkonto für jedermann eingeführt, das sogenannte Basiskonto. Auch diese Entscheidung hat sich bewährt. Wir als Union wollen, dass Basiskonten für Verbraucherinnen und Verbraucher bezahlbar bleiben. Deshalb haben wir uns damals gemeinsam mit den Sozialdemokraten dazu entschieden, im Gesetz festzuschreiben, dass die Gebühren angemessen sein müssen. Dabei ist insbesondere auf die marktüblichen Entgelte abzustellen und das Nutzerverhalten zu berücksichtigen. Diese Regeln wollen wir nicht aufweichen. Die Mehrzahl der Institute bewegt sich mit ihren Gebühren für die Basiskonten in einem angemessenen Rahmen. Sofern Kontogebühren unangemessen sind, haben Gerichte in den vergangenen Jahren mehrfach zugunsten von Verbraucherinnen und Verbrauchern entschieden. Auf Grundlage der gesetzlichen Regelung wurden unangemessen hohe Gebühren also abgesenkt. Das halten wir für den richtigen Weg.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage?
Sehr gerne.
Aber schnell; es gibt nämlich einen wichtigen Grund.
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Selbstverständlich, Frau Präsidentin, ich habe natürlich auch einen wichtigen Grund. – Meine Frage bezieht sich auf einen Beschluss der CSU, also Ihrer Schwesterpartei, die Anfang dieses Jahres auf ihrer Klausurtagung gefordert hat, das Basiskonto kostenfrei zu machen. Ich zitiere: Wir wollen „gemeinsam mit den Banken ein Basiskonto für kleine und mittlere Einkommen entwickeln, wobei grundlegende Funktionen wie die Abwicklung von Gehalt und Miete möglichst kostenfrei zur Verfügung stehen sollten“. Wie stehen Sie zu der Position? Habe ich Sie richtig verstanden, dass da schon ein Keil zwischen die beiden Unionsparteien getrieben wurde? Sehen Sie da nicht auch Handlungsbedarf? Sie haben sicherlich auch die vielen Berichte gelesen. Die Stiftung Warentest hat schon mehrfach Basiskonten geprüft und dabei festgestellt, dass „angemessen“ häufig so interpretiert wird, dass Kontoführungsgebühren von mehr als 200 Euro pro Jahr als „angemessen“ gelten. Das ist für Menschen mit kleinem Geldbeutel sicherlich keine „angemessene“ Kontoführungsgebühr.
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Herr Hauer, bitte.
Herr Kollege, so friedlich wie es im Moment zwischen der CDU und der CSU ist, war es ja lange nicht.
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Insofern wird es auch Ihnen nicht gelingen, einen Keil zwischen meine Kolleginnen und Kollegen und mich zu treiben.
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Wenn Sie sich den Beschluss genauer ansehen, wenn Sie sich vor allem auch Ihren Antrag ansehen und das, was die Kollegen von der Linken gerade vorgetragen haben, dann werden Sie feststellen, dass Gebühren immer vom Nutzerverhalten und vom Kontomodell abhängig sind. Deshalb ist es nicht so leicht, zu sagen: Wir setzen jetzt einen bestimmten Betrag fest, den ein Konto maximal kosten darf. Das hängt immer von verschiedenen Faktoren ab, zum Beispiel von der Anzahl der Kontobewegungen: Wird Onlinebanking genutzt? Wie oft geht man zum Schalter? Wie oft geht man zum Automaten? Am Ende steht ein Preis für ein konkretes Nutzerverhalten. Auch bei der von Ihnen angesprochenen Untersuchung der Stiftung Warentest wurde das Nutzerverhalten zugrunde gelegt. Dabei kam heraus, dass manch einer mit anderen Kontomodellen deutlich günstiger gefahren wäre.
Im Übrigen ist es so – ich hatte das gerade schon erwähnt –, dass auf Grundlage der aktuellen Gesetzeslage dagegen geklagt wurde und Gerichte im Einzelfall entschieden haben, dass die Gebühren zu hoch sind. Was schließen wir daraus? Dass die Gesetzeslage funktioniert.
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Natürlich gibt es immer Menschen, die sich nicht an Gesetze halten. Es mag sogar Banken geben, die sich nicht an Gesetze halten.
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Aber in einem Rechtsstaat funktioniert es dann so: Man geht den Rechtsweg, man geht vor Gericht. Das hat in mehreren Fällen auch funktioniert, dass festgestellt wurde: „Die Gebühren sind zu hoch“ und sie dann abgesenkt wurden. Auf der aktuellen Gesetzesgrundlage funktioniert das. Insofern, denke ich, dürfte das für die Beantwortung reichen, und wir bleiben damit hier noch im Zeitplan.
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Als weitere Instanz bleibt im Übrigen auch noch die BaFin. Sie kann einschreiten, wenn Institute nicht angemessene Gebühren verlangen. Die Anzahl der Beschwerden bei der BaFin ist übrigens minimal. Eine gesetzliche Änderung ist da nicht sinnvoll.
Beim zweiten Punkt des Grünenantrags, Vergleichswebsites, sind wir schon ein bisschen näher beieinander. Wir als Gesetzgeber haben im Zahlungskontengesetz gemeinsam deutlich gemacht, dass wir für Verbraucherinnen und Verbraucher mehr Transparenz bei Kontogebühren wollen. Dazu sollte es die Möglichkeit geben, entgeltfreie, objektive und unabhängige Vergleichswebsites, die dann auch noch zertifiziert werden, zu nutzen.
Obwohl die rechtlichen Rahmenbedingungen vorliegen, ist hier noch immer keine zertifizierte Website auf dem Markt. Und hier sage ich deutlich auch an die Adresse des Bundesfinanzministeriums: Die zeitliche Verzögerung ist immens. Tragen Sie dazu bei, dass Kostentransparenz möglich wird. Hier ist mehr Initiative aus dem BMF erforderlich.
Abschließend stelle ich fest: Die Grünen wollen diese Aufgabe an die BaFin übertragen. Das ist ja momentan in Mode, alles auf die BaFin zu übertragen. – Keine Sorge, das andere Thema mache ich jetzt heute nicht auf.
Nein, Sie machen jetzt gar nichts mehr auf. Sie machen jetzt Schluss.
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Ich mache Schluss. – Aber es ist die falsche Institution zum Betrieb einer Vergleichswebsite. Wir wollen eine starke und wachsame Finanzaufsicht, die sich auf die Kernaufgaben konzentrieren kann.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit und – sage ich als letzter Redner des Plenartages – einen schönen Abend uns allen miteinander!
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