Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 5/29/2020

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Stephan Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004678, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich rede als Erster. Ich habe leider keinen Einfluss auf die Rednerreihenfolge. Was gibt es Schöneres, meine Damen und Herren, als eine Rede am Vormittag und an dem Tag halten zu können, an dem der 35. Präsident der Vereinigten Staaten Geburtstag feiern würde, wenn er denn noch lebte, ({0}) und an dem Tag, an dem man selber Geburtstag feiert, und Sie von hier vorne in diesem Plenum begrüßen zu können? ({1}) Herzlich willkommen an diesem Tag! Ich bin einmal gespannt, was das Bundesverfassungsgericht mir an diesem Tag noch schenken wird – oder auch nicht. ({2}) Ich hatte ja gesagt: Wenn ich vor dem Bundesverfassungsgericht heute Erfolg haben sollte, werde ich im Laufe dieses Jahres noch nach Karlsruhe laufen. Neue Schuhe habe ich mir aber noch nicht gekauft. ({3}) Ich weiß ja, wer im Verfassungsgericht über uns urteilt. ({4}) Meine Damen und Herren, was gibt es auch Schöneres, als als gestandener AfDler und Mitglied einer AfD-Fraktion in einer solchen Rede den Altparteien wieder einmal den Spiegel vorzuhalten, den Altparteien im Allgemeinen ({5}) – Herr Grosse-Brömer, hören Sie zu und brüllen Sie nicht rum! – ({6}) und den Grünen im Besonderen, um mal wieder aufzuzeigen, wie demokratie- und grundgesetzfeindlich und heuchlerisch Sie sind, und das genau von diesem Punkt hier vorne zu entlarven? Zunächst zu den Altparteien im Allgemeinen. ({7}) – Hören Sie doch zu! Hey! Ich habe Geburtstag. Ganz ruhig! Hören Sie mir einfach zu. ({8}) Der Vermittlungsausschuss hat Verfassungsrang und ist eine wichtige prominente Institution, geregelt in Artikel 77 Absatz 2 Grundgesetz. ({9}) Deshalb sollte man meinen, dass die Altfraktionen ({10}) mit dieser Institution respektvoll umgehen und ihr auch so entgegenkommen, wie es sein sollte. Aber genau dies passiert nicht. Auch diese Institution haben sich die Altparteien als Abnickverein eingerichtet und zur Beute gemacht. Am 23. April entschied dieser Bundestag über das Geologiedatengesetz, am 15. Mai hat der Bundesrat dagegen den Vermittlungsausschuss angerufen, am 20. Mai wurde der Vermittlungsausschuss mit einer Ladungsfrist von einer Woche eingeladen, zum 27. Mai. Dazwischen lagen der Feiertag Christi Himmelfahrt und der Brückentag. So weit, so gut. ({11}) Am Brückentag passiert nun folgendes Perfides: Abgesprochen von den Altparteien – davon gehe ich aus – trudelt am Brückentag, ({12}) an dem Freitagvormittag, eine E-Mail des Wirtschaftsministeriums an einen willkürlich ausgewählten Personenkreis ein – nicht etwa an die Vermittlungsausschussmitglieder, sondern an irgendwelche anderen –, in der an diesem Freitagvormittag geladen wird zu einem „informellen Treffen“ am kommenden Montag um 9.15 Uhr im Eichensaal des Bundeswirtschaftsministeriums. ({13}) Wie gesagt, nicht die Vermittlungsausschussmitglieder wurden eingeladen, auch nicht etwa durch den Vermittlungsausschuss wurde eingeladen, es wurde vielmehr eingeladen vom Bundeswirtschaftsministerium. ({14}) An diesem Montag konnte die AfD-Fraktion genau wie die Linken natürlich nicht teilnehmen, weil wir offenbar nicht einbezogen waren in diese Ladungstricksereien. ({15}) An diesem Montag wurde dann im Bundeswirtschaftsministerium, das gar nichts mit diesem Verfahren zu tun hat, ein Formulierungsvorschlag ausgeheckt, der dann sehr kurzfristig präsentiert wurde und im Vermittlungsausschuss durchgewinkt werden sollte. Und das geschah dann vorgestern mit überragender Altparteienmehrheit. Also beim ersten Treffen des Vermittlungsausschusses zu einem Gesetz wurde das Verfahren nicht etwa begonnen, sondern es wurde beendet. ({16}) Meine Damen und Herren, so geht man mit dem Vermittlungsausschuss nicht um! Das ist wieder Tricksen, Täuschen und Durchwinken von der übelsten Seite. ({17}) Hauptsache schnell, Hauptsache intransparent, Hauptsache so, wie Sie es wollen. Zu den Grünen: In der Bundestagsdebatte am 23. April noch dick die Backen aufgeblasen, große Töne gespuckt. Dieses Gesetz, das übrigens nichts anderes als ein Atommüllendlagersuchgesetz ist – das müssen Sie Ihrer Klientel mal klarmachen –, ({18}) könne nur abgelehnt werden. Stichpunkte: Von mangelnder Transparenz hat Frau Kotting-Uhl gesprochen, es wäre in fataler Weise vom Konsensweg abgewichen worden, ({19}) böse und dunkle Mächte hätten gewirkt, Wirtschaftslobbyisten hätten dieses Gesetz in die Wege geleitet. ({20}) Die üblichen wirren grünen Verschwörungsfantasien. Und was passierte dann im Vermittlungsausschuss? Gar nichts! Gar nichts passierte im Bundesrat. Die Grünen haben sich ganz kurz zu Wort gemeldet, haben das Gesetz genauso durchgewunken wie die Altparteien ({21}) und haben sich damit zum Büttel der Wirtschaftslobbyisten und zum Büttel derjenigen gemacht, die jetzt ein Atommüllendlager suchen. Ich bin mal gespannt, wie Sie das Ihrer Klientel draußen verkaufen werden. ({22}) Ich sehe schon vor mir, dass da Ihre Vortänzer Habeck und Baerbock wieder in die Bütt geschickt werden, die sich ja wunderbar mit Inkubationszeiten, der Größe von Volkswirtschaften, „Desinfickationsmitteln“, mit „Kobolden“ auskennen, mit „SteuerInnenzahlern“, sage ich mal, auch wuchern. ({23}) Ich glaube, Sie werden es schaffen, Ihre Klientel, die interessanterweise immer kleiner wird, auch davon zu überzeugen. Meine Damen und Herren, die AfD bleibt im Ergebnis dabei, was Leif-Erik Holm am 23. April hier in der Debatte im Bundestag gesagt hat. Für uns ist dieses Gesetz auch in der Form, wie es jetzt durch den Vermittlungsausschuss gepeitscht wurde, nicht ansatzweise zustimmungsfähig. ({24}) Deshalb werden wir bei unserem Nein bleiben und sind gespannt, wie Sie von den Grünen draußen erklären, dass Sie nun zur ersten deutschen Atommüllendlagerpartei mutiert sind. Ich bin gespannt. Vielen Dank. ({25})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Zu einer weiteren Erklärung hat das Wort der Abgeordnete Dr. Matthias Miersch. ({0})

Dr. Matthias Miersch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003809, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Brandner, dass ausgerechnet Sie und die AfD heute hier die Frage von parlamentarischen Abläufen problematisieren, nachdem wir vor wenigen Tagen erfahren haben, dass jemand in Ihrer Fraktion die parlamentarische Demokratie abschaffen will, das ist an Doppelzüngigkeit nicht mehr zu überbieten. ({0}) Und dass Sie infrage stellen, wohin ein atomares Endlager kommen soll, wo Sie es doch sind, die nur auf Atomkraft setzen wollen, ist genauso doppelzüngig. ({1}) Wenn das alles so schlimm ist, was wir hier machen, und so intransparent, dann frage ich mich wirklich, wo Sie in der letzten Woche eigentlich gewesen sind. ({2}) Denn am Freitag haben Sie spätestens davon erfahren, dass wir gemäß dem guten Brauch, den wir haben, diese Dinge auch in einer Arbeitsgruppe vorbereiten. ({3}) Nun weiß ich nicht, wie die AfD Brückentag und Samstag überbrückt. Also dieser Freitag ist ja ein Werktag gewesen. Ich meine schon, dass es zu einer guten Arbeitshaltung gehört, dass Ihre Büros zumindest irgendwie erreichbar sind. ({4}) Das scheint nicht der Fall gewesen zu sein. ({5}) – Nein, Herr Brandner, das müssen Sie jetzt aushalten, weil das, was Sie hier vorgetragen haben, nun wirklich überhaupt nichts mit Realität zu tun hat. ({6}) Sie scheinen am Freitag schlichtweg irgendwo gewesen zu sein, aber nicht hier im Deutschen Bundestag und in Ihren Büros. Das ist Arbeitsverweigerung! ({7}) Aber es war natürlich anders. Sie haben es wahrscheinlich irgendwie mitbekommen. Nun sagen Sie ja, am Montag hätten Sie nicht daran teilnehmen können. ({8}) Das könnten Sie natürlich begründen mit Corona, Risikogruppen etc. Aber vor Corona haben Sie ja auch keine Angst. Insofern: Sie hätten allemal fahren können. ({9}) Darüber hinaus hätte es sogar noch die Möglichkeit gegeben – davon haben nämlich andere Bundesländer Gebrauch gemacht –, sich zuzuschalten. Aber nicht mal dieser Versuch ist unternommen worden. Sie wollten schlichtweg nicht. Sie haben sich verweigert, damit Sie hier irgendeine Geschichte erzählen können. ({10}) Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. ({11}) Es geht ja noch weiter. Wenn das alles so schrecklich gewesen wäre, was wir in der Arbeitsgruppe, Gott sei Dank, mit Bundesländern und den Bundestagsfraktionen erarbeitet haben, ({12}) hätte ich erwartet – das war meine erste Sitzung im Vermittlungsausschuss –, dass Sie fundamentale inhaltliche Kritik anbringen. ({13}) – Also, ich weiß nicht, was bei Ihnen Inhalt ist, Herr Brandner. Ich habe den Eindruck: Wir haben unterschiedliche Vorstellungen von qualitativer Arbeit hier in diesem Parlament. ({14}) Aber das, was da von Ihnen gekommen ist, ist an Substanzlosigkeit nicht mehr zu überbieten gewesen. ({15}) Auch dort wieder nur die Mär hinsichtlich der Verfahrenstechnik. Deswegen sage ich Ihnen, Herr Brandner: alles heiße Luft, mehr nicht. ({16}) Dann stellen Sie sich hierhin und sagen: Dem ist auch inhaltlich nicht zuzustimmen. ({17}) Dazu sage ich Ihnen eines: Ich bin sehr dankbar, dass die Bundesländer, der Bundesrat, die Bundesregierung und der Bundestag in einer der schwierigsten Fragen, die wir vor uns haben, nämlich in der Frage der Suche nach einem atomaren Endlager, eine Grundlage geschaffen haben. Es geht dabei um den schwierigen Spagat, Datenschutz und Transparenz und Interessen von Unternehmen in Einklang zu bringen. Das war die Hauptaufgabe. ({18}) Das ist gelungen, glaube ich. Deswegen Danke an alle, die daran mitgewirkt haben. ({19}) Das, was Sie hier bieten, ist genau das Gegenteil von dem, wie man Zukunft gestaltet. Insofern: Lassen Sie diese taktischen Spielchen! Legen Sie Ihre Argumente sachlich auf den Tisch! Das, was Sie hier machen, ist diesem Parlament nicht würdig. Vielen Dank. ({20})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Ich weise darauf hin, dass nach unserer Geschäftsordnung eine Aussprache über die Empfehlungen des Vermittlungsausschusses nicht zulässig ist. Es gibt lediglich nach § 10 Absatz 2 der Geschäftsordnung des Vermittlungsausschusses die Möglichkeit, Erklärungen abzugeben. Deswegen, Herr Brandner, gibt es auch keine Zwischenfragen; denn wir sind nicht in einer Aussprache. ({0}) Gibt es weitere Wortmeldungen zur Erklärung? – Das ist nicht der Fall.

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der letzten Sitzungswoche hat der Deutsche Bundestag über die Verhältnisse in der deutschen Fleischwirtschaft debattiert. Ich möchte berichten, dass diese Debatte Folgen hat. Wir als Bundesregierung haben inzwischen Beschlüsse gefasst, um in diesem Bereich eines deutlich zu machen: Jeder Mensch, der in Deutschland arbeitet, egal woher er kommt, hat als Arbeitnehmerin und Arbeitnehmer das Recht, vor Risiken geschützt zu werden. ({0}) Dafür setzen wir uns ein, meine Damen und Herren. Das setzen wir auch durch. Das wollte ich dem Bundestag berichten. ({1}) Darum geht es auch im Kern bei den Änderungen im Arbeitnehmer-Entsendegesetz, über die wir heute in erster Lesung beraten. Mit den Änderungen setzen wir nicht nur die revidierte EU-Entsenderichtlinie in nationales Recht um. Wir haben neben der Fleischwirtschaft in sehr, sehr vielen Branchen in Deutschland ausländische Beschäftigte, entsandte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die bei uns arbeiten und zum Wohlstand unseres Landes beitragen. Das ist vor allen Dingen im Baugewerbe der Fall. Das ist aber auch in vielen anderen Bereichen der Fall, zum Beispiel im Hotelgewerbe, wenn es dort wieder losgeht, und auch in der Pflege. In der Fleischwirtschaft – ich komme noch einmal darauf zurück – sind die Verhältnisse ein bisschen anders gelagert; denn viele der Werkvertragsunternehmen in der Branche haben mittlerweile sogar einen Sitz in Deutschland. Das heißt, auch wenn sie ausländische Arbeitskräfte beschäftigen, gilt für sie das deutsche Arbeits- und Sozialrecht. Das sollte eigentlich selbstverständlich sein. Das ist es aber nicht. Deshalb, meine Damen und Herren, geht es nicht nur darum, dass wir Recht schaffen, sondern wir müssen das Recht auch konsequent durchsetzen. Das betrifft den Arbeitsschutz und die Wohnverhältnisse. Wir werden dazu noch mit entsprechender Gesetzgebung auf den Bundestag zukommen. Ich sage: Es ist Zeit, in diesem Bereich aufzuräumen. Das werden wir miteinander tun. ({2}) Aber wir dürfen die Augen nicht davor verschließen, dass wir es auch in anderen Bereichen mit Dumpinglöhnen und mit völlig unzumutbaren Unterkünften für entsandte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu tun haben. Oft sind es entsandte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die besonders unter diesen unwürdigen Verhältnissen zu leiden haben. Deshalb ist es unabdingbar, dass wir jetzt mit diesem Gesetz die Rechte entsandter Beschäftigter in Deutschland stärken, und zwar besonders beim Lohn. Wer entsandt ist, hat durch dieses Gesetz künftig nicht nur einen Anspruch auf den Mindestlohn, sondern auch auf sämtliche Bestandteile der Entlohnung. Das betrifft zum Beispiel auch Gefahrenzulagen. Das ist das Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am selben Ort“. Meine Damen und Herren, das ist richtig und vernünftig. ({3}) Das gilt auch für jene Entgeltregelungen, die in einem bundesweit allgemeinverbindlichen Tarifvertrag festgelegt werden. Auch diese Regelungen müssen künftig auf entsandte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer angewandt werden. Das Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“, meine Damen und Herren, betone ich angesichts der Berichterstattung und der Rede, die ich von der FDP zu erwarten habe. Herr Cronenberg, jetzt müssen Sie zuhören. Ich habe gestern Nacht in der „FAZ“ gelesen, dass Sie das Entsendegesetz als Protektionismus darstellen. Ich sage Ihnen an dieser Stelle mal ganz klar: Wir sind für ein freies, ein freizügiges Europa. Wir sind für den europäischen Binnenmarkt. Wir als Bundesregierung setzen uns für die Freizügigkeit von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ein. Aber wer Freizügigkeit mit Ausbeutung verwechselt, der hat uns zum Gegner. Das ist der Unterschied. Und das sollten Sie sich merken. ({4}) Ich mache es mal an einem praktischen Beispiel fest: Es kann nicht sein, dass ein Bauarbeiter aus Bukarest, der mit seinem Kollegen aus Bautzen zusammen auf Montage auf einer Baustelle in Bochum – um bei den schönen B zu bleiben – arbeitet, etwas anderes verdient als sein Kollege. Das ist nicht in Ordnung. Das schafft Unfrieden. Das ist übrigens auch Wettbewerbsverzerrung. Wir wollen freien Warenverkehr, wir wollen freien Dienstleistungsverkehr, wir wollen Arbeitnehmerfreizügigkeit in Europa, weil wir wissen, dass daran auch unser Wohlstand hängt. Aber wir wollen faire Arbeits- und Lohnbedingungen. „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ – das ist das Prinzip, das Sie sich merken sollten. ({5}) Auch hier gilt: Wenn man Recht schafft, muss man Recht durchsetzen können. Auch das ist die Erfahrung, die wir in diesem Bereich haben. Deshalb stocken wir den Zoll, im Bereich des Bundesministeriums der Finanzen angesiedelt, massiv auf. Besonders wollen wir Langzeitentsandte mit diesem Gesetz schützen. Das sind Beschäftigte, die mehr als 12 bzw. 18 Monate bei uns arbeiten, zum Beispiel im Einsatz auf Großbaustellen. Für sie werden grundsätzlich sämtliche Bestimmungen gelten, die im deutschen Arbeitsrecht oder in allgemeinverbindlichen Tarifverträgen festgelegt sind. Das betrifft auch – ich komme noch mal auf diesen Bereich zu sprechen – das Thema der Unterkünfte. Wir wollen, dass die Qualität der Unterkünfte, die der Arbeitgeber stellt, künftig unter klaren Bedingungen geregelt ist. Auch da gebe ich Ihnen ein Beispiel: Ich habe mich, wie wir alle in diesen Tagen, nicht nur mit Virologinnen und Virologen, die sich in der Öffentlichkeit ja unterhalten, auseinandergesetzt, sondern auch mit vielen Ökonominnen und Ökonomen. Ich hatte eine Schalte mit einer Ökonomin, die Sie kennen, Frau Weder di Mauro, die in Singapur war und mir berichtete, dass man dort das Infektionsgeschehen im Griff hatte, bis man Lockerungen gemacht hat, und über Masseninfektionen in Unterkünften von Bauarbeitern das Virus, die Pandemie zurückkam und einen riesigen volkswirtschaftlichen Schaden und auch gesundheitliche Schäden verursachte. Das zeigt: Corona ist wie ein Brennglas. Wir sehen, was in unserem Land gut ist, was in unserem Sozialstaat gut funktioniert. Wir sehen die Verhältnisse, die nicht in Ordnung sind. Deshalb: Auch ohne Corona wäre das Entsendegesetz notwendig gewesen – nicht nur, weil wir es umsetzen müssen –, aber gerade weil wir Corona haben, zeigt es die Relevanz dessen, was wir bei Unterkünften jetzt zu regeln haben. Es ist gut, dass wir das machen. ({6}) Meine Damen und Herren, Jacques Delors, der große Europäer, hat mal gesagt: Niemand verliebt sich in einen Binnenmarkt. – Richtig ist: Europa ist nicht nur eine Wirtschaftsgemeinschaft. Europa ist eine Wertegemeinschaft. Deutschland wird ab 1. Juli die EU-Ratspräsidentschaft übernehmen. Ich sage für unseren Bereich ganz klar: Wir wollen einen Beitrag leisten für ein faires, für ein sozialeres Europa. Dass wir im Deutschen Bundestag dieses Gesetz in erster Lesung beraten und es hoffentlich vor dem Sommer verabschieden, ist in diesem Sinne ein guter Auftakt für die deutsche EU-Ratspräsidentschaft. Niemand verliebt sich zwar in einen Binnenmarkt. Aber wir wollen und wir werden das starke Europa, das uns Frieden und Wohlstand gebracht hat, stärker im Sinne eines fairen, sozialen Europas für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gestalten. Das ist eine klare Ansage. Ich sage noch mal: Wer Freizügigkeit will, hat mich auf seiner Seite. Wer Ausbeutung verteidigt, hat uns zum Gegner. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Norbert Kleinwächter, AfD. ({0})

Norbert Kleinwächter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004781, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Werter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Werter Herr Minister! Diese Änderung im Arbeitnehmer-Entsendegesetz ist doch nichts als ein Pflästerchen auf einer weit aufklaffenden Wunde. Die EU ist doch schon längst dysfunktional. Die Ideale, die Sie hochhalten, auch gerade Sie wieder, Herr Heil, sind doch oftmals weit weg von der Realität. Ich nehme als Beispiel den gemeinsamen Markt. Es gibt keinen echten gemeinsamen Markt. Es gibt unterschiedlichste Märkte, die zwangsweise miteinander verbunden sind: mit ganz unterschiedlichen Lohngefügen, mit ganz unterschiedlichen Preisgefügen, mit unterschiedlichen arbeitsrechtlichen Regelungen. Daher kommt ja auch der große Unterschied und auch viele der Ungerechtigkeiten, die es in der Europäischen Union gibt. Auch die vier Grundfreiheiten, die oft hochgehalten werden, müssen ganz viele Menschen mit Unfreiheit bezahlen. Nehmen wir die Warenverkehrsfreiheit. Sie dient natürlich auch oft dazu, dass zum Beispiel illegal Drogen transportiert werden oder Diebesgut. Die Kapitalverkehrsfreiheit dient dazu, dass viele reiche Bürger und Unternehmen sagen: Nö, ich zahle keine Steuern in meinem Heimatland, ich suche mir irgendwo eine Steueroase. – Die Personenverkehrsfreiheit führt oftmals zu Lohndruck im unteren Segment des Arbeitsmarkts, weil ganz viele Menschen in ein Land kommen und zu jedweden Löhnen arbeiten. Und die Dienstleistungsfreiheit funktioniert ganz ähnlich: Jeglicher Unternehmer kann Dienstleistungen in der ganzen Europäischen Union anbieten, egal zu welchem Preis. Die EU-Kommission merkt selbst, dass das nicht wirklich funktioniert. Deswegen schreibt sie eine Richtlinie nach der nächsten, jetzt nun eben auch diese Änderung der Entsenderichtlinie. Diese Richtlinien haben alle etwas gemeinsam: Sie sind kompliziert, sie sind bürokratisch, und eigentlich war es besser, als es die Mitgliedstaaten noch selbst geregelt haben. ({0}) Betrachten wir mal diese Entsendung genauer. Wen betrifft sie? Was bedeutet Entsendung? Ein Unternehmer, der im Ausland sitzt, entsendet eine Arbeitskraft, zum Beispiel nach Deutschland. Das betrifft drei große Personengruppen: zum einen die Fachkräfte, zum Beispiel zum Aufbau einer Zweigstelle. Sie sind ganz bestimmt nicht die Zielgruppe dieses Gesetzentwurfs. Es betrifft zum Beispiel den polnischen Dachdecker, der in Brandenburg ein Dach macht. Auch er ist nicht betroffen, weil Montageleistungen dieser Art, wenn sie nur kurz dauern, von dieser Regelung ausgenommen sind. Wen Sie adressieren – das haben Sie nicht wirklich gesagt, Herr Heil –, ist die große Masse an Billiglöhnern, die mittlerweile in millionenfacher Anzahl quer durch die komplette Europäische Union verschoben werden, weil wir mittlerweile europaweit eine Subkultur des Subunternehmertums haben. Sie funktioniert so, dass es ein Unternehmen A gibt, zum Beispiel in Deutschland, das eben keine sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze schaffen will. Deswegen macht es einen Werkvertrag mit Unternehmen B, zum Beispiel aus Bulgarien, das dann seine Arbeitnehmer nach Deutschland entsendet. Diese Leute bekommen in Deutschland miese Löhne. Sie wohnen in miesen Behausungen. Und sie haben vor allem auch keine Sprachkompetenz im Deutschen. Das heißt, wenn sie ungerecht behandelt werden, haben sie oft keinen Zugang zum Rechtssystem hier in Deutschland. Alles, was der EU-Kommission und Ihnen dazu einfällt, ist, dass Sie das Wort „Mindestentgelt“ durch „Entlohnung“ ersetzen und zum Beispiel auf allgemeine tarifvertragliche Bestimmungen abheben. Aber ich stelle mir dann die Frage: Was, wenn es keinen allgemeinen Tarifvertrag gibt? – Und Sie legen fest, dass Unterkünfte endlich mal hygienischen Anforderungen genügen sollten. Ja, erwarten Sie jetzt echt Lob dafür von mir? Ehrlich gesagt, es ist eine Zumutung, was Sie ansonsten in das Gesetz reinschreiben, zum Beispiel die Regel, dass erst nach zwölf Monaten der volle arbeitsrechtliche Schutz gelten soll. Ich bin der Ansicht, dass jemand dann, wenn er mehrere Monate hier in unserem schönen Land lebt und arbeitet, selbstverständlich vollen arbeitsrechtlichen Schutz haben sollte. ({1}) Es geht noch weiter. Die Regelung betrifft auch die Sozialversicherungen und die Partizipation. Die Arbeitnehmer, die entsandt werden, sind zu Hause irgendwie krankenversichert und rentenversichert. Aber wir wissen nicht, nach welchen Regularien. Es wäre nur recht und gerecht, wenn auch die entsandten Arbeitskräfte bei uns sozialversicherungspflichtig beschäftigt wären und in die Rentenversicherung, die Krankenversicherung und die Pflegeversicherung einzahlten und dann auch von den Leistungen profitieren könnten. Das wäre gleicher Lohn für gleiche Arbeit – und nicht das, was hier in Ihrem Gesetz steht. ({2}) Letztendlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, brauchen wir keine symptomatische Therapie wie das hier – das verbessert ein bisschen –, sondern wir müssen uns eigentlich darüber unterhalten, dass die EU für viele Bürger keine EU der Freiheit, sondern eine EU der Ausbeutung ist. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Uwe Schummer, CDU/CSU. ({0})

Uwe Schummer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003631, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrtes Präsidium! Meine Damen! Meine Herren! Ich will nur eines zu der Rede vorher sagen: Es gibt natürlich Probleme und Themen, die wir lösen und bereinigen wollen. Das ist für uns ein Ansporn, Europa besser zu machen. Es gibt auch Themen, die von der rechten Seite, von Herrn Kleinwächter aufgerufen werden, um Europa kaputtzumachen, ({0}) kaputtzureden, um mit der alten Hetze Ihrer Truppe wieder Emotionen zu schüren. ({1}) Europa ist uns ein Herzensanliegen und nicht ein Thema zum Kaputtreden. ({2}) Die EU-Entsenderichtlinie ist ein Beitrag zur Lösung von Problemen. ({3}) – Ja, wer schreit, fühlt sich getroffen, Frau von Storch. – Dieser Beitrag ist auch ein Herzensanliegen der Europäischen Volkspartei, die über Jahre hinweg das Thema vorangetrieben hat. Ich habe mal nachgelesen: Wir haben das erste Entsendegesetz 1995 im Deutschen Bundestag behandelt, und zwar Union, also CDU/CSU, und die FDP gemeinsam. Natürlich hat Bundesarbeitsminister Norbert Blüm, die Jahrhundertgestalt der Sozialpolitik, ({4}) dieses Entsendegesetz eingebracht. Er sagte auch vor dem Hintergrund von massiven Verwerfungen aufgrund von Freizügigkeit durch Bauarbeiter, die auch in Deutschland entsprechend ihre Aufträge erfüllten, von Insolvenzen, von Arbeitslosigkeit bei dieser Einbringungsrede im September 1995: Europa wird nur dann toleriert und akzeptiert werden, wenn sich neben der Freizügigkeit auch der soziale Gedanke durchsetzen wird. Dafür brauchen wir das Entsendegesetz. – Er führte weiter aus: Wer portugiesische Löhne will, der muss dem Bauarbeiter auch portugiesische Preise anbieten. – Er formulierte weiter: Bei unserer Gesetzgebung geht es nicht darum, die Perfektion eines Paragrafen im Auge zu behalten, sondern das sehr konkrete Leben dort, in dem wir mit beiden Beinen stehen. ({5}) Wir wollen das derzeitige Entsendegesetz bis zum 30. Juli aktualisieren und der Wirklichkeit anpassen. Der Grundsatz der Entsenderichtlinie, wie Bundesarbeitsminister Hubertus Heil es formuliert hat, ist auch bei grenzüberschreitender Beschäftigung der gleiche Lohn für die gleiche Arbeit am gleichen Ort. Das heißt Gleichbehandlung mit den heimischen Arbeitnehmern. Das heißt auch fairer Wettbewerb. Solche Unternehmen, die sich anständig verhalten – das sind die meisten –, dürfen nicht Opfer von Wildwest auf dem Arbeitsmarkt oder im Wettbewerb werden. Wir sind nicht die Schutzmacht von Täuschern und Tricksern. Wettbewerb braucht Regeln; das wissen wir in der sozialen Marktwirtschaft. Und die Regeln gelten für alle. Natürlich müssen sie auch eingefordert werden, indem man kontrolliert, ob es sauber läuft. ({6}) Unser Maßstab sind die Tarifverträge mit ihrer regionalen Verbindlichkeit. ({7}) Wir stärken auch mit diesem Entsendegesetz den Vorrang der Tarifautonomie, die eigenes Recht setzt, so wie es in Deutschland üblich ist und wie es auch in der Europäischen Sozialcharta seit 1999 verankert wurde. Wir wissen – auch das wurde mehrfach gesagt –: Recht ohne Kontrolle bleibt oft unwirksam. Deshalb wird es auch wichtig sein, dass der Zoll die Umsetzung umfassend prüfen und bei Nichteinhaltung Bußgelder verhängen kann. Neben den Arbeitsbedingungen, dem Gesundheitsschutz und der Entlohnung müssen auch die Unterkünfte entsandter Arbeitnehmer den deutschen Standards entsprechen. Diese Kontrolle muss zwischen Gesundheitsamt zum einen, dann der Kommune und den Bundesländern hinsichtlich Arbeitsschutz und schließlich dem Zoll für die Entgelte und für die Sozialversicherung koordiniert und auch wie aus einer Hand vernünftig zusammengeführt werden. Wichtig ist für uns auch das Beratungsnetz „Faire Mobilität“. Es ist über mehrere Jahre modellhaft erprobt worden und hat sich bewährt. Es geht nun in die dauerhafte Förderung. Gewerkschafter informieren mobile Arbeitnehmer in verschiedenen Sprachen. Die frühzeitige und gute Beratung ist auch für die Unternehmen die beste Skandalprävention. Wer sich auskennt, wer weiß, welche Rechte und Pflichten es gibt, wird zumindest versuchen, Skandale, wie wir sie in der Fleischwirtschaft erleben, zu verhindern, weil sie imageschädigend für die Unternehmen, aber natürlich auch massiv belastend für die Beschäftigten und Verbraucher sind. Deshalb sind Beratung und Begleitung der mobilen Arbeitnehmer in den Unternehmen und in den Unterkünften wichtige Maßnahmen, die wir weiter verstetigen wollen. ({8}) Die soziale Marktwirtschaft lebt; sie ist in Bewegung. Das Entsendegesetz ist hierauf eine Antwort. Wir wollen das konkrete Leben, nicht die Schönheit eines Paragrafen im Blick behalten – ganz im Sinne von Norbert Blüm. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Carl-Julius Cronenberg, FDP, hat als Nächster das Wort. ({0})

Carl Julius Cronenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004697, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Corona löst, wie viele Krisen, Abschottungsreflexe aus. Was aber zum Schutz der Gesundheit geboten erscheint, ist zur Bewältigung der wirtschaftlichen Folgen sicher falsch. Grenzüberschreitende Solidarität leidet genauso wie Personenfreizügigkeit und Dienstleistungsfreiheit. Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, lieber Hubertus Heil, dürfen wir uns bei der Umsetzung der Entsenderichtlinie weder von der Pandemie noch von aktuellen Skandalen leiten lassen, ({0}) sondern sollten allein der festen Überzeugung folgen, dass gerade jetzt die europäische Antwort auf Corona lauten muss: Binnenmarkt stärken. ({1}) Entsenderichtlinie und Dienstleistungsfreiheit sind zwei Seiten derselben Medaille. So wie die letztere nicht zum Unterlaufen von Lohn- und Sozialstandards missbraucht werden darf – Kollege Schummer ist darauf eingegangen –, darf die Entsenderichtlinie nicht Markt und Wettbewerb ausbremsen. Die reformierte Richtlinie tut das leider an vielen Stellen; wir haben das schon 2018 kritisiert. Aber jetzt sattelt die Bundesregierung bei der Umsetzung noch auf. Stand da nicht etwas von Eins-zu-eins-Umsetzung bei Bürokratieabbau im Koalitionsvertrag? Das können Sie ja noch mal nachschauen. Statt Eins-zu-eins-Umsetzung wieder mal Gold-Plating: Erstens. Die Richtlinie lässt Ausnahmen bei Erstmontagen von bis zu acht Tagen zu; das wird im Gesetzentwurf auf einmal im Jahr acht Tage beschränkt. Das nenne ich noch nicht Ausbeutung. Zweitens. Dienstreisen ohne Dienstleistungsbezug sind von der Richtlinie ausgenommen. Im Gesetzentwurf wird das auf 30 Tage pro Jahr beschränkt. Warum? Sie bauen hier unter dem Deckmäntelchen des Arbeitnehmerschutzes tatsächlich protektionistische Schlagbäume. ({2}) Das ist unnötig und schädlich. ({3}) Fairer Wettbewerb ist Voraussetzung für verbraucherfreundliche Preise und Innovationen und somit für Wohlstand und Wachstum. Deshalb müssen Sozialschutz und Freiheitsschutz immer im Gleichgewicht bleiben. Denken Sie auch an das europäische Projekt. Lieber Axel Schäfer – ich weiß nicht, ob er da ist –, ihr könnt euch doch nicht allen Ernstes wünschen, dass Arbeitnehmer aus Polen, Ungarn, Rumänien jetzt in Deutschland ihren Job verlieren und zu Hause weniger oder gar nichts mehr verdienen. Lokale Löhne sind eben niedriger als Entsendelöhne. ({4}) Das stört die erfreuliche Aufwärtskonvergenz der letzten Jahre empfindlich – gerade in Osteuropa. Deutschland ist größtes Zielland für entsandte Beschäftigte und zweitgrößter Entsender. Deshalb hat unser Umgang mit Entsendung Signalwirkung in ganz Europa. Täuschen Sie sich nicht! So wie wir unsere Nachbarn behandeln, so werden sie auch uns behandeln. ({5}) Es geht nicht nur um osteuropäische Niedriglöhner. Es geht auch um qualifizierte Fachkräfte aus Italien, Frankreich, Deutschland oder woher auch immer. Es geht um unseren Mittelstand und seine Millionen Beschäftigten, die gern und viel in die EU exportieren. Ohne unternehmensnahe Dienstleistungen keine Exporte von Maschinen und Anlagen! Der Maschinenbau und das grenznahe Handwerk stehen doch auch bei Ihnen auf der Matte und beschweren sich zu Recht über Bürokratie und Protektionismus beim Thema Entsendung. Lieber Carsten Linnemann – er ist auch nicht da –, das können Sie sich doch nicht ernsthaft wünschen. Holen Sie die deutschen Fachkräfte und Handwerker aus dem toten Winkel Ihrer Politik! ({6}) Drei Kernanliegen aus dem Antrag der FDP: Erstens. Verzichten Sie auf Gold-Plating, und bleiben Sie strikt bei der Eins-zu-eins-Umsetzung der Entsenderichtlinie! Zweitens. Die A1-Bescheinigung ist ein bürokratisches Ärgernis sondergleichen. Bauen Sie eine einfache App, legen Sie einen KI-Algorithmus darüber, der in alle EU-Sprachen übersetzt, und setzen Sie sich in Brüssel endlich für eine unbürokratische Reform der A1-Bescheinigung mit einheitlicher Auslegung ein! ({7}) Drittens. Machen Sie die Europäische Arbeitsbehörde zur zentralen Anlaufstelle in Sachen Arbeitnehmerentsendung! Liebe Kolleginnen und Kollegen, die deutsche Ratspräsidentschaft steht vor der Tür. Das darf keine reine Coronaveranstaltung werden. Nutzen Sie die Gelegenheit für eine entschlossene Reformpräsidentschaft! Setzen Sie das Entsendethema mit auf die Agenda! Es geht darum, unseren gemeinsamen europäischen Binnenmarkt zu stärken. Europa wird es Ihnen danken. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort der Kollege Pascal Meiser, Die Linke. ({0})

Pascal Meiser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004819, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist gut, dass die unwürdigen Arbeitsbedingungen in den industriellen Schlachtanlagen unseres Landes endlich eine größere Aufmerksamkeit erfahren. Doch das, was ausländischen Beschäftigten dort tagtäglich widerfährt, ist leider nur die Spitze des Eisberges. Ob auf deutschen Baustellen, bei den Paketzustellern oder auch im Schiffbau – seit mehr als 20 Jahren erleben wir gerade bei der grenzübergreifenden Entsendung von Arbeitnehmern systematisches Lohndumping und systematische Ausbeutung. Wir als Linke fordern schon lange, dass damit endlich Schluss gemacht wird. ({0}) Damit da keine Missverständnisse aufkommen: Wir reden nicht über das Recht von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aus anderen europäischen Ländern, hier zu arbeiten und sich zu hiesigen Bedingungen ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Da machen auch wir als Linke keinerlei Abstriche. Wir reden darüber, dass immer mehr Beschäftigte von ausländischen Unternehmen, meist mit Sitz in Osteuropa, in den Heimatländern angeheuert, dann über Monate hinweg für Dumpinglöhne nach Deutschland entsandt werden. Wenn man sich dann noch das extrem niedrige Lohnniveau in Ländern wie Rumänien oder Bulgarien anschaut, liegt es auf der Hand, dass das ohne klare Regeln und Kontrollen fast zwangsläufig zu Problemen führt. Hiesige Lohnstandards geraten ins Rutschen, und Tarifverträge werden umgangen. In die Röhre schauen am Ende auch diejenigen Unternehmen – mit Blick auf die FDP: das sollten Sie sich mal anschauen –, die hierzulande ordentlich nach Tarif bezahlen. Es ist wirklich skandalös, dass dieser Entwicklung so lange tatenlos zugesehen wurde. ({1}) Lange Zeit konnte man zugegebenermaßen mit einer gewissen Berechtigung lamentieren, dass das europäische Recht es nicht erlaube, ein solches Lohndumping umfassend zu unterbinden. Doch mit dieser Ausrede – das muss jedem hier klar sein – ist bei diesem Thema jetzt Schluss. Mit der 2018 beschlossenen Reform der europäischen Entsenderichtlinie liegt es nunmehr in der Verantwortung der Mitgliedstaaten, dafür zu sorgen, dass für die europaweit rund 2,3 Millionen entsandten Beschäftigten endlich gilt: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort. ({2}) Doch, Herr Bundesarbeitsminister, mit dem, was Sie uns heute hier als großen Wurf zu verkaufen versuchen, wird die Bundesregierung ihrer Verantwortung bei Weitem nicht gerecht. Mit der neuen Entsenderichtlinie wurde Ihnen, Herr Heil, eine hervorragende Möglichkeit zur Stabilisierung des Tarifsystems quasi auf dem Silbertablett präsentiert. Was machen Sie? Sie vergeben eine Riesenchance, die Sie vermutlich so schnell nicht wieder bekommen. Bevor Sie jetzt den Kopf schütteln, hören Sie sich lieber das vernichtende Urteil an, das beispielsweise die Gewerkschaft IG Bauen-Agrar-Umwelt über Ihren Gesetzentwurf fällt. Ich zitiere: Wir, die Gewerkschaft der Beschäftigten ..., die von Entsendung und der damit oft einhergehenden Ausbeutung und unfairem Wettbewerb besonders betroffen sind, erwarten ... eine grundlegende Überarbeitung dieses in weiten Teilen missglückten und teilweise sogar im Widerspruch zum Europarecht stehenden Entwurfes ... Die Kolleginnen und Kollegen wissen aus der Praxis auf den Baustellen und andernorts nur zu gut, wovon sie reden. Ich sage Ihnen: Hören Sie auf diese Leute, und handeln Sie entsprechend! ({3}) Gerne können Sie auch noch mal detailliert im Antrag meiner Fraktion Die Linke nachlesen, an welchen Punkten Sie Ihren Gesetzentwurf dringend nachbessern müssen. Ich will hier nur einige wenige nennen: Erstens. Sorgen Sie dafür, dass künftig alle allgemeinverbindlichen Lohntarifverträge ab dem ersten Tag auch für entsandte Beschäftigte gelten! ({4}) Warum Sie hier europarechtswidrig regionale Tarifverträge – Herr Schummer, was Sie gesagt haben, stimmt nicht; regionale allgemeinverbindliche Tarifverträge sind ausgeschlossen in dem Gesetzentwurf – in den ersten bis zu 18 Monaten der Entsendung außen vor lassen wollen, ist und bleibt in keiner Weise nachvollziehbar. ({5}) Dabei wissen Sie, Herr Heil, doch selbst nur zu genau, dass das deutsche Tarifvertragssystem bis heute in vielen Branchen aus regionalen Tarifverträgen besteht und nicht bloß aus bundesweiten. Zweitens. Warum begrenzen Sie im Entwurf die Möglichkeit, Tarifverträge über das Arbeitnehmer-Entsendegesetz auf entsandte Beschäftigte zu erstrecken, auf Tarifverträge mit maximal drei Entgeltstufen? Ich sage Ihnen: Streichen Sie diese völlig überflüssige Beschränkung, so wie es im Übrigen auch der Bundesrat in seiner Stellungnahme fordert. ({6}) Drittens. Warum wollen Sie ohne Not die Möglichkeit eröffnen, dass entsandte Arbeitnehmer auch außerhalb eines gerichtlichen Vergleichs auf Ansprüche aus allgemeinverbindlichen Tarifverträgen verzichten? Sie wissen doch nur zu gut, Herr Heil, mit welchen erpresserischen Methoden diese Leute häufig um ihren Lohn geprellt werden. Schaffen Sie hier nicht gleich wieder Schlupflöcher, nur um dann hinterher beklagen zu müssen, dass das Gesetz keine Wirkung zeigt. ({7}) Viertens. Erhöhen Sie stattdessen die Bußgelder für diejenigen Unternehmen, die sich nicht an die Spielregeln halten, und sorgen Sie somit dafür, dass geltendes Recht künftig auch eingehalten wird. ({8}) Fünftens. Schaffen Sie endlich ein Verbandsklagerecht für Gewerkschaften, damit die Gewerkschaften gerade die Rechte entsandter Beschäftigter effektiver und schneller durchsetzen können, weil die Beschäftigten alleine häufig dazu nicht in der Lage sind. ({9}) Anderenfalls existieren berechtigte Lohnansprüche für viele weiterhin bestenfalls auf dem Papier. Und sechstens. Stoppen Sie auch hier die organisierte Verantwortungslosigkeit. Nehmen Sie für die ordnungsgemäße Zahlung aller Lohnbestandteile – nicht nur des Mindestlohns und der Mindestentgelte – diejenigen mit in Haftung, die von diesem ganzen System am meisten profitieren: die Unternehmen am Ende der Auftragskette, deren Geschäftsmodell maßgeblich darauf beruht, dass andere für sie die Drecksarbeit machen. Nur so kann es tatsächlich gelingen, Lohndumping und Ausbeutung bei der grenzüberschreitenden Arbeitnehmerentsendung konsequent zu unterbinden. Vielen Dank. ({10})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Beate Müller-Gemmeke, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Minister! Kolleginnen und Kollegen! Bei diesem Gesetz geht es darum, die europäische Entsenderichtlinie in nationales Recht umzusetzen. Das klingt technisch und auch abstrakt. Aber die Umsetzung der Richtlinie ist nichts Formales, und es ist auch keine Kleinigkeit; im Gegenteil: Hier geht es darum, dass entsandte Beschäftigte endlich besser geschützt werden und dass sie auch fair entlohnt werden. Deshalb ist das Gesetz für die Menschen, die davon betroffen sind, extrem wichtig. ({0}) Entsandte Beschäftigte kommen aus dem EU-Ausland. Sie arbeiten auf dem Bau, in der Logistik, in der Pflege und in der Landwirtschaft. Es geht auch um die Beschäftigten in der Fleischindustrie, über die wir in der letzten Sitzungswoche heftig debattiert haben. Entsandte Beschäftigte bekommen extrem wenig Lohn, und doch zahlen sie häufig viel für Vermittlung, Unterkunft und Verpflegung. Sie müssen lange und hart arbeiten, und sie leben teilweise in katastrophalen Unterkünften. Nicht alle, aber viele werden ausgebeutet und menschenunwürdig behandelt. Genau hier bringt die europäische Entsenderichtlinie echte Verbesserung. Deshalb ist es wichtig, dass sie endlich richtig umgesetzt wird. ({1}) In der Entsenderichtlinie geht es zum ersten Mal um gleichen Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort. Die Verbesserung ist also, dass europäische Beschäftigte grundsätzlich das Recht auf gleichen Lohn haben und damit fair und auf Augenhöhe behandelt werden. Aber dafür muss die Entsenderichtlinie auch ordentlich umgesetzt werden. Der Unionskollege Schummer hat in der Debatte über die Fleischbranche in der letzten Sitzungswoche zu Recht betont, dass die Entsenderichtlinie eins zu eins und auch ohne Abstriche umgesetzt werden muss. Aber genau das machen Sie nicht. Die Entsenderichtlinie wird nicht eins zu eins umgesetzt. Die Gestaltungsspielräume werden nicht genutzt. So wird eine Chance verpasst. Das ist nicht akzeptabel. ({2}) Drei Aspekte möchte ich kurz ansprechen: Erstens. Die Entsenderichtlinie ermöglicht endlich, dass auch regionale Tarifverträge für entsandte Beschäftigte allgemeinverbindlich erklärt werden können. Das ist gerade für Deutschland wichtig, weil es hier wenige bundesweite und vor allem regionale Tarifverträge gibt. Aber genau das wird nicht umgesetzt. Es bleibt weiterhin bei den bundesweiten Tarifverträgen. Nur bei den sogenannten Langzeitentsendungen gelten regionale Tarifverträge. Aber darunter fallen gerade einmal 12 Prozent. Alle anderen, die 88 Prozent, die nicht so lange entsandt werden, werden davon nicht profitieren. Das ist nichts anderes als eine Nebelkerze. ({3}) Der Gesetzentwurf bleibt also an dieser Stelle hinter der Entsenderichtlinie zurück. Das bestätigt übrigens auch der Wissenschaftliche Dienst. Regionale Tarifverträge müssen wie bundesweite Tarifverträge behandelt werden. Das müssen Sie im Gesetzentwurf noch unbedingt ändern. ({4}) Zweitens. Eigentlich müssten ganze Tarifgitter für allgemeinverbindlich erklärt werden. Im Gesetzentwurf aber gibt es nur Mindestentgelte, und diese können nur bis zu drei Stufen umfassen. Auch diese Einschränkung entspricht nicht der Entsenderichtlinie. Das ist auch in keiner Weise gerecht; denn mit drei Stufen kann eine berufserfahrene entsandte Beschäftigte beispielsweise in der Pflege nicht fair entlohnt werden. Das Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ funktioniert eben nicht mit drei Stufen. Diese Regelung kritisiert auch der Bundesrat. Deshalb sollten Sie diese Drei-Stufen-Regelung unbedingt streichen. ({5}) Drittens. Die Entsenderichtlinie eröffnet auch Gestaltungsspielräume. So könnten beispielsweise mit der Aufnahme von allgemein wirksamen Tarifverträgen die Landestariftreuegesetze gestärkt werden. Im Gesetzentwurf steht dazu gar nichts. Die Entsenderichtlinie ermöglicht auch, dass ein Verbandsklagerecht eingeführt werden kann. Aber auch dazu steht nichts im Gesetzentwurf. Entsandte Beschäftigte, die beispielsweise um ihren Lohn geprellt werden, müssen weiterhin den steinigen Weg der individuellen Klage gehen. Die Gestaltungsspielräume wurden also in keiner Weise genutzt. Da ist noch viel Luft nach oben. Auch hier sollten Sie unbedingt nachbessern. ({6}) Sehr geehrter Herr Minister, sehr geehrter Kollege Schummer, Sie haben bei der Debatte zur Fleischbranche in der letzten Sitzungswoche sinngemäß gesagt, dass es jetzt Zeit ist, Verantwortung zu übernehmen, um Ausbeutung in Deutschland zu verhindern. Ich hoffe, damit ist nicht nur die Fleischbranche gemeint, sondern auch der vorliegende Gesetzentwurf. Diesen Gedanken möchte ich noch etwas stärken, und zwar mit dem Eckpunktepapier, mit dem das BMAS die Umsetzung der Entsenderichtlinie letztes Jahr angekündigt hat. Der Titel ist wortgewaltig – ich zitiere –: „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit – für alle in Europa: Lohndumping verhindern. Ordnung auf dem Arbeitsmarkt sichern. Mobilität fair gestalten.“ Das hört sich großartig an, und das können wir Grüne aus vollem Herzen und ohne Wenn und Aber unterschreiben. Aber um diese Ziele tatsächlich zu erreichen, müssen Sie, Herr Minister, und Sie, die Regierungsfraktionen, den Gesetzentwurf noch einmal heftig überarbeiten. Vielen Dank. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Bernd Rützel, SPD. ({0})

Bernd Rützel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004392, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Am 8. Mai vor 75 Jahren endete der Zweite Weltkrieg. Dieses Haus hier, der Reichstag, lag in Schutt und Asche. Deutschland lag in Schutt und Asche. 1945 lag ganz Europa in Schutt und Asche. Die Naziherrschaft hatte Verheerendes angerichtet. Auch wirtschaftlich lag ganz Europa am Boden. Nur fünf Jahre später, am 9. Mai 1950, war es der französische Außenminister Robert Schuman, der seinen Plan vorstellte. Es war die Grundsteinlegung für die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Es war der Beginn der europäischen Integration überhaupt. Die Nachbarn haben uns die Hand gereicht. Warum erzähle ich das alles? Weil in dieser Gemeinschaft 450 Millionen Menschen im Sinne der Vereinigung der Völker in Freiheit und Frieden leben. Das ist eine großartige Idee, und es gibt Werte, die mit dieser Idee verbunden sind. Eine davon ist die Dienstleistungsfreiheit. Über die reden wir heute. EU-Bürgerinnen und EU-Bürger können in ganz Europa frei arbeiten. Viele aus Deutschland gehen ins EU-Ausland, noch mehr kommen zu uns. Ich frage an dieser Stelle: Ist es möglich, dass wir allein selber hier bei uns unsere Felder bestellen, unsere Pflegeheime besetzen, unsere Baustellen errichten? Ist es möglich, dass wir allein selber in der Fleischbranche arbeiten? Es ist nicht möglich. Wir sehen das, und wir haben das die letzten Wochen gesehen. Wir sind auf Menschen aus anderen EU-Staaten angewiesen, die zu uns kommen und hier arbeiten. ({0}) Die Menschen werden entsandt. Diese Entsenderichtlinie beseitigt seit 1996 Hindernisse in der EU, und sie gilt für Unternehmen, die ihre Beschäftigten entsenden. Und diese Menschen brauchen den Schutz des Staates, in dem sie arbeiten. Es muss gewährleistet sein, dass es Höchstarbeitszeiten und Mindestruhezeiten gibt, dass der Urlaub gewährt und bezahlt wird, dass Sicherheits- und Gesundheitsbestimmungen gelten und auch Schutzmaßnahmen für Schwangere und für Jugendliche. All diese Dinge sind seit über 25 Jahren auf dem Weg. Aber es reicht nicht aus. Vor zwei Jahren wurde diese Entsenderichtlinie überarbeitet. Die alte Fassung war nicht mehr zeitgemäß. Wenn bisher nur Mindestbedingungen garantiert waren, so werden wir jetzt mit der Umsetzung dieser Entsenderichtlinie den Schutz und die Rechte der Beschäftigten deutlich ausweiten. ({1}) Bisher galt zum Beispiel im Bereich der Entlohnung nur ein Mindeststandard. Wir werden das verbessern. Wir werden verschiedene Lohnstufen, Zulagen, Sachleistungen aufnehmen; das sind alles Teile der Entlohnung und müssen hinein. Reise-, Verpflegungs- und Unterbringungskosten dürfen in Zukunft nicht mehr vom Lohn abgezogen werden. Das alles, was ihnen zusteht, müssen die Menschen wissen. Man muss sie darüber aufklären. Und das tut seit zehn Jahren sehr erfolgreich das Projekt „Faire Mobilität“, und diese faire Mobilität werden wir stärken, werden wir ausbauen, werden wir verstetigen. Neben der Aufklärung über Rechte gehört auch dazu, dass man Rechte kontrolliert. Und dafür werden wir beim Zoll über 1 000 neue Stellen errichten, damit die Regeln, die wir aufstellen, auch eingehalten werden können; ({2}) denn die Umsetzung dieser Richtlinie ist ein wichtiger Schritt für ein faires Europa, für ein zukünftiges Europa. Wenn die entsandten Beschäftigten ordentlich bezahlt und behandelt werden, dann nutzt das auch den einheimischen Beschäftigten, die nämlich nicht wie sonst durch Lohndumping verdrängt werden. Es ist ein Gewinn für uns alle. Lasst uns das machen! ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort der Kollege René Springer, AfD. ({0})

René Springer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004900, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn zwei Maurer an der gleichen Mauer mit zwei unterschiedlichen Löhnen arbeiten, der eine für 4 DM, der andere für 23 DM, wird entweder der eine um seinen gerechten Lohn betrogen oder der andere … arbeitslos. Und, Herr Schummer, Sie sagten es schon: Diese wahren Worte stammen aus einer Zeit, als dieses Land noch einen realitätsnahen Arbeitsminister hatte. Das sind die Worte von Norbert Blüm. Er sprach sie 1995 bei der Beratung des ersten Arbeitnehmer-Entsendegesetzes, und er hatte ein klares Ziel: Arbeitnehmer vor Lohn- und Sozialdumping zu schützen. Wir haben es auch heute wieder gehört: Bei dieser Forderung bekommt die FDP hier eine Schnappatmung. Im Titel Ihres Antrags steht es ja auch: „Auslandsentsendungen vereinfachen und Protektionismus bekämpfen“. Für Sie ist also der Schutz vor Lohn- und Sozialdumping Protektionismus, ({0}) und den wollen Sie bekämpfen; aber im Grunde bekämpfen Sie damit Arbeitnehmerrechte. ({1}) Wir als AfD-Fraktion sind gerade nicht gegen diesen Protektionismus, ({2}) sondern wir sind für einen gesunden Sozialprotektionismus; den brauchen wir. Wir wollen, dass Arbeitnehmer in Deutschland für die gleiche Arbeit den gleichen Lohn bekommen, wenn sie am gleichen Ort tätig sind. Das ist selbstverständlich, und im Grunde scheint das ja auch weitestgehend konsensfähig zu sein. Aber schauen wir uns die Realität an. 2008 verdienten ein deutscher und ein rumänischer Arbeitnehmer, die nebeneinander an der Werkbank standen, in etwa gleich viel. Der Unterschied lag bei 21 Euro. Heute verdient der rumänische Arbeitnehmer knapp 1 000 Euro weniger als sein deutscher Kollege, nicht im Jahr, sondern im Monat. In den letzten zehn Jahren stieg die Zahl der EU-Arbeitnehmer im Niedriglohnsektor von 25 auf über 40 Prozent, und das ist das Ergebnis einer ungesteuerten EU-Freizügigkeit. Und dadurch entstehen diese himmelschreienden Ungerechtigkeiten, die sowohl unseren heimischen Arbeitnehmern schaden wie aber auch den Kollegen aus dem EU-Ausland. ({3}) – Wie bitte? „Nationale Sozialisten“? War das jetzt auf mich bezogen oder auf die AfD? ({4}) – Herr Präsident, ich hoffe, Sie haben das zur Kenntnis genommen. – Danke schön. ({5}) – Gut. Dann nehmen Sie das bitte auch zur Kenntnis. Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf der Bundesregierung wird das Problem im Grunde genommen zur Kenntnis genommen, aber man handelt wie immer – – ({6}) – Ach so, gut. Er bestätigt das also noch mal. Danke. ({7}) Ich komme noch mal zum Gesetz. Der Gesetzentwurf nimmt dieses Problem zur Kenntnis, aber er löst dieses Problem nicht, weil im Grunde die EU-Richtlinie, die die Vorlage für diesen Gesetzentwurf ist, so genutzt wird, dass sie eher Brüssel entgegenkommt und nicht unseren nationalen Interessen, was unsere Beschäftigten hier nachhaltig schützen würde. ({8}) – Danke, Norbert. ({9}) Ich möchte an dieser Stelle vielleicht noch auf einen Punkt zu sprechen kommen, weil wir ja in der letzten Zeit häufig über die Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie gesprochen haben, so auch im letzten Jahr – wir erinnern uns an die Weihnachtsdebatte – über die Situation in der Paketbranche. Und dann stehen hier vorne ein Minister und Politiker – Politiker der SPD, Politiker der CDU –, die kritisieren das Ganze. Und man muss einfach mal feststellen, dass die SPD in den letzten 22 Jahren 18 Jahre lang den dafür zuständigen Minister gestellt hat. Da frage ich mich: Wie kann es eigentlich sein, dass man nach 18 Jahren Regierungsverantwortung nicht in der Lage war, die Probleme zu lösen? Da muss man mal feststellen, dass nicht nur die EU strukturelle Defizite hat. Da muss eben auch mal sagen, dass die SPD strukturelle Defizite hat. Sie ist im Grunde nicht in der Lage, Sozialpolitik zu betreiben. ({10}) Damit bedanke ich mich. Wir hören uns. ({11})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Wilfried Oellers, CDU/CSU. ({0})

Wilfried Oellers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004365, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland ist Europameister. Nein, ich rede nicht von Fußball, und ich rede nicht von einer anderen Sportart. Ich rede von der Europameisterschaft bei der Entsendung von Arbeitnehmern aus dem EU-Ausland nach Deutschland. Da reden wir – aktuellere Zahlen gibt es von der Europäischen Kommission nicht – im Jahre 2016 von insgesamt 440 000 Menschen bei einer gesamten Zahl von 2,3 Millionen europaweiten Entsendungen. Und es gibt auch den umgekehrten Fall – und auf den möchte ich gleich ebenfalls noch zu sprechen kommen –, nämlich dass viele Entsendungen von Deutschland hinaus ins EU-Ausland erfolgen. Das betrifft 260 000 Beschäftigte. – Dies einmal vorweg zu den Zahlen. Und jetzt kommen wir zur Umsetzung der europäischen Entsenderichtlinie und der Überarbeitung dieser Entsenderichtlinie in nationales Recht, die unter der Überschrift steht: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort. Was damit – meine Vorredner haben es schon beschrieben – natürlich vermieden werden soll, ist, dass Lohndumping aus dem Ausland heraus nach Deutschland übergreifen kann. Da findet diese Entsenderichtlinie bzw. deren Umsetzung in nationales Recht auch die entsprechenden Antworten. Für all diejenigen, die Europa hier gerade groß beschrieben haben, will ich auch noch mal auf die Historie dieser Entsenderichtlinie hinweisen; denn dazu kamen ja auch einige kritische Stimmen. Auf diese Entsenderichtlinie hat man sich zwar im Ergebnis geeinigt, aber sie hat bei den Verhandlungen auf europäischer Ebene zu so starken Diskussionen geführt, dass wir es nachher sogar mit einer Subsidiaritätsrüge zu tun hatten, und zwar von osteuropäischen gegen westeuropäische Staaten. Die osteuropäischen Staaten sagten: Ihr nehmt uns den Wettbewerbsvorteil. ({0}) Das müssen wir in Einklang bringen. Entsenderichtlinie heißt, dass wir auf der einen Seite das unionsrechtlich geschützte Dienstleistungsfreiheitsrecht haben, auf der anderen Seite natürlich gleichzeitig gleiche Wettbewerbsbedingungen und den Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gewährleisten wollen; all dies muss in Einklang gebracht werden. So werden – ich wiederhole jetzt vielleicht einige Punkte, die meine Vorredner schon gesagt haben – durch die Umsetzung der Arbeitnehmerentsenderichtlinie in nationales Recht bestimmte Standards im Bereich von Lohn insoweit verbessert, dass wir nicht mehr von Mindestlohnsätzen, sondern von Entlohnung sprechen und dass diese nun auch Lohnbestandteile sowie Prämien, Weihnachtsgelder usw. umfasst. Auch geht es um klare Regelungen, was die Anrechnung von Reisekosten, Unterbringungskosten und Verpflegungskosten, was Arbeitszeit, Arbeitsschutz und Urlaub betrifft. Ja, Arbeitsschutz und Arbeitsbedingungen werden auch hier geregelt. Das nationale Recht ist voll anwendbar bzw. sollte eigentlich schon längst anwendbar sein, bis hin zu den Unterkünften, die wir auch geregelt haben und die auch erwähnt sind. Und wenn eine Entsendung dann länger als 12 bzw. mit einer Verlängerungsmöglichkeit 18 Monate dauert, dann gilt das gesamte deutsche Arbeitsrecht mit all seinen Konsequenzen. ({1}) Ich will aber auch auf eines aufmerksam machen. Ich habe eingangs gesagt: Es ist nicht nur die Frage: „Wie kommen Arbeitnehmer hier nach Deutschland rein?“, sondern: „Wie gehen unsere von deutschen Unternehmern entsandten Arbeitnehmer ins Ausland?“. Sehr geehrter Herr Minister, ich möchte Sie bitten, auf folgende Dinge zu achten: Es wird wichtig sein, dass wir transparente, leicht zu findende und gut aufgestellte Informationsplattformen haben, damit eben auch die Unternehmer, die entsenden, klar wissen, über welche Lohnbestandteile wir reden und was einzuhalten ist. Dabei ist auch der Umstand der Übersetzungen zu berücksichtigen. Natürlich ist Deutsch nicht nur eine der EU-Amtssprachen; es ist auch die meistgesprochene Sprache in der Europäischen Union. Darauf müssen auch die Plattformen entsprechend eingerichtet sein, ({2}) damit es nachher nicht zu Verwerfungen bzw. zum Nichteinhalten von Recht kommt, weil man etwas nicht wusste oder weil man sich nicht informieren konnte. Wenn das dann auch noch mit Bußgeldern sanktioniert wird, dann muss vorher auf jeden Fall die entsprechende Informationsmöglichkeit vorhanden sein. Das können wir im Ergebnis nicht national regeln, sondern das muss auf europäischer Ebene geregelt werden. Sehr geehrter Herr Minister, ich bitte Sie, auf jeden Fall darauf zu achten, dass dies geschieht. Herzlichen Dank. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Liebe Kolleginnen und Kollegen, während der Rede des Kollegen Springer hat der Kollege Dürr mit der Formulierung „nationale Sozialisten“ ein Wortspiel gemacht, bei dem ich rate, es nicht zu wiederholen, weil wir da so nahe an der Grenze sind, dass wir es rügen müssen. Ich möchte Sie darum bitten, diese Art von Wortspielen zu unterlassen und die Grenze nicht auszutesten. Jetzt hat als nächster Redner der Kollege Gerald Ullrich, FDP, das Wort. ({0})

Gerald Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004923, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch wenn mir hinten raus vielleicht die Zeit fehlt, gestatten Sie mir eine Eingangsbemerkung. Ich stelle fest, dass in diesem Hause Unternehmerinnen und Unternehmer permanent kritisiert und kriminalisiert werden. ({0}) Meistens geschieht es aus den Reihen der Ränder; aber ich stelle auch fest: Es frisst sich in die Mitte durch. Ich bitte, das doch zu unterlassen und auch den Unternehmern den gebührenden Respekt entgegenzubringen. ({1}) Wenn sich kleine und mittelständische Unternehmen zweimal überlegen, ob Sie einen Auftrag in anderen europäischen Ländern annehmen, nur weil sie bürokratische Hürden und Verpflichtungen fürchten, dann schaden wir nicht nur der wirtschaftlichen Entwicklung, sondern wir führen auch den europäischen Gedanken ad absurdum – und das in einer schweren Krise. Die Freiheit des Personen- und Dienstleistungsverkehrs sind Grundsätze der Europäischen Gemeinschaft und des europäischen Binnenmarktes, und wie immer müssen Eingriffe in solche Freiheiten begründet und abgewogen werden. Die europäische Entsenderichtlinie stellt einen solchen Eingriff dar. Ja, er hat auch seine Notwendigkeit; das möchte ich hier ganz klar betonen. Aber in der aktuellen Umsetzung ist sie eine Belastung für die Betroffenen und behindert die Arbeitnehmerfreizügigkeit nur unnötig. Dies betrifft nicht nur die Umsetzung in deutsches Recht, sondern auch in jenes der anderen EU-Staaten. Es darf meiner Meinung nach nicht dazu kommen, dass eine Entsendung nach Johannesburg, Peking oder New York letztendlich einfacher ist als eine von München nach Wien oder von Aachen nach Maastricht. ({2}) Um das zu verhindern, sind zwei Dinge nötig: Zum einen brauchen wir bürokratische Entlastung beim Erstellen und Mitführen von A1-Bescheinigungen. Auch die Frage, ob es notwendig ist, sie bei jeder einzelnen Reise dabeizuhaben, ist zu klären. Hier muss die Bundesregierung klare einheitliche Ansprechpartner, digitale Möglichkeiten und auch Verfahren schaffen, die spontane Reisen zulassen. Zusätzlich ist die Belastung für europäische Unternehmen, die in Deutschland tätig sind, ständig zu prüfen. Zum anderen benötigen wir aber vereinfachte Verfahren für deutsche Unternehmen, die in anderen EU-Staaten tätig werden wollen und deshalb ihre Arbeitnehmer entsenden. Denn ein mittelständisches Unternehmen kann sich nicht ohne Weiteres in die Bestimmungen zum Beispiel in Portugal einarbeiten. ({3}) Es muss auch erst einmal herausfinden, an wen es sich dort überhaupt zu wenden hat. Deshalb muss auf europäischer Ebene ein Bindeglied geschaffen werden. Die neue Europäische Arbeitsbehörde, die ELA, bietet sich momentan hierfür an. ({4}) Sie kann bei Streitigkeiten vermitteln und letztlich als eine gemeinsame Meldestelle dienen. Hierzu muss sie aber bis zu ihrer vollständigen Arbeitsaufnahme in 2024 mit den entsprechenden Mitteln ausgestattet werden, wofür Sie als Bundesregierung in der kommenden Ratspräsidentschaft die Weichen stellen können. Als Bundesregierung geben Sie sich immer gerne als der Vorreiter der europäischen Idee. Deshalb appelliere ich an Sie, dass Sie bei der Entsenderichtlinie nicht zum Vorreiter der Bürokratie und der Abschottung vom Binnenmarkt werden. Der Vorreiter der europäischen Idee würde eine gemeinschaftliche Lösung anstreben, welche die Freizügigkeit erleichtert. ({5}) Er würde sich dafür einsetzen, einen europäischen Ansprechpartner zur Vermittlung bei Problemen zu schaffen, und er würde Anwendungen entwickeln lassen, die den bürokratischen Aufwand bei den Auslandsentsendungen weiter senkt. ({6}) Sie können sich entscheiden, welcher Vorreiter Sie sein wollen. Danke. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Jana Schimke, CDU/CSU. ({0})

Jana Schimke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004398, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Unser Land hat sich verändert. Dinge, die vor 10, 15 Jahren selbstverständlich waren, als kein Hahn danach gekräht hat, wie es auf unserem Arbeitsmarkt zugeht, wären heute undenkbar. Heute ist es selbstverständlich, dass alle Menschen in Deutschland denselben Arbeitsschutzstandard erhalten, natürlich auch eine gleichwertige Entlohnung, ({0}) und dass die Rahmenbedingungen vergleichbar sind. Es geht also – das muss man an dieser Stelle schon sagen – bei der Reform der europäischen Entsenderichtlinie darum, die verschiedenen Elemente des Spannungsbogens in Einklang zu bringen. Und zwar geht es auf der einen Seite um die Dienstleistungsfreiheit, die wir in Europa haben, darum, gleichzeitig Rechtssicherheit zu schaffen oder zu bewahren, aber auf der anderen Seite auch darum, den Wettbewerb nicht abzuwürgen – es ist an dieser Stelle heute schon mehrfach erklungen – und das Ganze mit dem entsprechenden sozialen Schutz zu versehen. Das ist nicht immer leicht, wie wir merken. Denn es gibt eben nicht nur das Argument des gleichen Lohnes oder der gleichen Behandlung, sondern es gibt noch eine Vielzahl an anderen Argumenten, die, wenn wir über Wirtschaft, Arbeitnehmerfreizügigkeit und Dienstleistungsfreiheit reden, genauso dazugehören und die genauso berücksichtigt werden müssen. Nicht nur die Beschäftigten wollen arbeiten; auch die Unternehmen wollen in die Lage versetzt werden, täglich ihren Job zu machen. Ich will an dieser Stelle mal mit einer Sache aufräumen. Weil das Beispiel Bau heute sehr oft gekommen ist: Meine Damen und Herren, wir haben eine Mindestlohnvereinbarung im Bau; wir haben eine Allgemeinverbindlichkeit im Bau. Was Sie hier beispielhaft immer wieder vortragen, wie es vielleicht früher einmal gewesen ist, das ist heute nicht mehr so. ({1}) Wir haben im Bau einheitliche Standards; das ist gut und richtig. Dazu hat sich der Gesetzgeber bereits vor vielen Jahren entschieden. Ich will aber auf einen Aspekt hinweisen, der, glaube ich, an dieser Stelle sehr wichtig ist und der genannt werden sollte. Wir müssen bei allem Wünschenswerten schon darauf achten, dass wir die Tarifautonomie, die ein hohes Gut in diesem Land ist, nicht gefährden. Wir haben bei der Arbeitnehmerentsendung zwei Maßstäbe. Wir haben auf der einen Seite allgemeinverbindliche Tarifverträge, die bundesweit gelten, und wir haben auf der anderen Seite den Weg der Rechtsverordnung. Wir schaffen jetzt mit der Arbeitnehmerentsenderichtlinie die Regelung, dass jene, die einem Tarifvertrag unterliegen, sozusagen den gesamten Rattenschwanz zu zahlen haben – mit Zulagen, mit Weihnachtsgeld, mit allem, was dazukommt –, ({2}) und jene, die über Rechtsverordnung laufen, eben nur die Mindestlohnstandards einzuhalten haben. Darüber kann man natürlich diskutieren. Aber was will ich damit sagen? Wenn wir den Bogen bei der Tarifautonomie, bei jenen Unternehmen, die tarifgebunden sind, immer mehr spannen und sie dazu verpflichten, immer mehr zu leisten – wozu führt das am Ende? Das führt zur Tarifflucht. Das ist ein Problem, das wir in Deutschland schon sehr, sehr lange haben, vornehmlich in den neuen Bundesländern, nämlich dass viele Unternehmen in Deutschland sich sagen: Das tue ich mir nicht mehr an. Das mache ich nicht. – Das würde ich sehr gerne verhindern, meine Damen und Herren. ({3}) Deswegen ist die ganze Diskussion um die Anwendung regionaler Tarifverträge auch nicht in Ordnung. Denn wozu führt das am Ende? Das führt dazu, dass ein Entleihbetrieb, dass ein entsendender Arbeitgeber sich im Zweifel mit 16 Tarifverträgen in diesem Land auseinandersetzen müsste. Das führt zu einem Systembruch bei der europäischen Entsendung von Arbeitnehmern. Bisher gelten nämlich bundesweite Standards. ({4}) Nur jene Tarifverträge, die eine bundesweite Allgemeinverbindlichkeit haben, gelten im Rahmen der Entsenderichtlinie. ({5}) Und wenn wir das ändern, meine Damen und Herren, dann wird das dazu führen, dass Beschäftigung nicht nur komplizierter wird, sondern auch mehr und mehr Rechtsunsicherheit mit sich bringt. Diese Bürokratie möchte ich unseren Arbeitnehmern und Arbeitgebern ehrlich gesagt nicht aufbürden. ({6}) Seien wir mal ehrlich, liebe Kolleginnen und Kollegen: Worum geht es Ihnen im Grunde? ({7}) Im Grunde geht es Ihnen um die Situation, dass wir, wenn wir im Rahmen der Entsenderichtlinie regionale Tarifverträge anwenden würden, eine Diskriminierung deutscher Arbeitgeber und Arbeitnehmer hätten. Denn deutsche Unternehmen mit deutschen Arbeitnehmern, die aus Hamburg kommen und in München arbeiten, müssten dann auch nach Münchener Tarif bezahlt werden. ({8}) Das ist der Punkt, um den es Ihnen eigentlich geht: das deutsche Tarifrecht zu unterlaufen ({9}) und zu verändern und die Standards in diesem Bereich auf den Kopf zu stellen. Da sage ich Ihnen eines: Tarifautonomie ist nicht nur ein leeres Wort. Es bedeutet ganz viel, nämlich dass Politik sich aus Lohn- und Tarifverhandlungen rauszuhalten hat. Das möchte ich sehr gerne bewahren. Unsere Sozialpartner sollen weiterhin in die Lage versetzt werden, die besten Bedingungen für ihre Beschäftigten auszuhandeln. ({10}) Da haben wir nichts drin verloren. Meinen herzlichen Dank. ({11})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Angelika Glöckner, SPD. ({0})

Angelika Glöckner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Europäische Union mit ihrem eng verflochtenen Binnenmarkt – es wurde mehrfach erwähnt – ist eben nicht nur eine Wirtschaftsunion, sondern sie ist auch Raum der Menschenrechte, Raum der sozialen Grundrechte. Deswegen ist es doch selbstverständlich, dass, wenn Unternehmen in den Mitgliedstaaten ihre Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nach Deutschland entsenden, wir dafür sorgen müssen, dass es einen ausreichenden Arbeitsschutz und eine ordentliche Entlohnung gibt. ({0}) Darum geht es der SPD, und das haben wir mit diesem Gesetzentwurf gezeigt. Ich möchte noch mal im Einzelnen darstellen – es wurde schon vieles gesagt –, worum es eigentlich geht. Ich will das an vier Punkten aufzeigen. Erstens. Bisher erhielten entsandte Beschäftigte den Mindestlohn. Wir wollen das ändern. Dort, wo es Tarifverträge gibt, sollen Tariflöhne gezahlt werden, samt Zuschlägen und Zulagen. Insbesondere im Baugewerbe ist das ganz wichtig. Zweitens. Wir wollen dafür sorgen, dass Arbeitgeber, die entsenden, künftig Unterkunfts-, Verpflegungs- und Reisekosten übernehmen müssen. Das ist wichtig; denn wir wollen, dass Menschen, die bei uns arbeiten, ordentlich verpflegt werden und ordentlich unterkommen. Zuletzt gab es immer wieder Meldungen, die darauf hinweisen, dass es miese Geschäftsmodelle mit Sammelunterkünften gibt. Wozu das führt, haben wir wie durch ein Brennglas jetzt gerade wieder in der Coronakrise erlebt, wo es viele Ansteckungsgefahren und Ansteckungsmomente gab. Das wollen und werden wir nicht länger zulassen. ({1}) Drittens. Arbeitszeit- und Arbeitsschutzregelungen für entsandte Beschäftigte wollen wir vollumfänglich anwenden. Das Bild der Arbeitnehmerin und des Arbeitnehmers, die 16, 18 oder 20 Stunden ohne jegliche Schutzausrüstung arbeiten, wollen wir zukünftig verhindern. ({2}) Schließlich geht es viertens darum, dass wir auch Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmer, die als Beschäftigte zu uns kommen, an diesen Regelungen partizipieren lassen. Zusammenfassend will ich noch mal feststellen: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort, faire Arbeitsbedingungen statt Billigjobs, heimische Arbeitsplätze schützen, statt sie kaputtzumachen – darum geht es in diesem Gesetzentwurf, und dafür werden wir als SPD kämpfen. ({3}) Ich will noch mal sagen, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der FDP: Es geht um Pflegekräfte, die aus Osteuropa zu uns kommen. Es geht um Alten- und Krankenpflegepersonal. Es geht auch um Facharbeiter am Bau oder in der Fleischindustrie. Wenn man Ihren Antrag durchliest, gewinnt man schon den Eindruck: Was Ihnen am liebsten wäre, sind Arbeitsverhältnisse ohne Sozialschutz, ohne Tarifbindung, ohne Arbeitsaufzeichnung und ‑nachweise. ({4}) Und so geht das nun einmal nicht, wenn man Ordnung am Arbeitsmarkt halten will. ({5}) Sie packen das alles unter das Schutzmäntelchen des Bürokratismus und setzen mit Protektionismus noch eins obendrauf. Das geht mit uns nicht. ({6}) Das ist der Europäischen Union nicht würdig, das ist der Beschäftigten nicht würdig, das machen wir nicht mit. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich freue mich auf die weiteren Beratungen. Vielen Dank. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Peter Aumer, CDU/CSU. ({0})

Peter Aumer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004004, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Europa wächst zusammen. Die Notwendigkeit der Umsetzung der Entsenderichtlinie spiegelt genau das wider. Wenn wir dann von der AfD hören, dass Europa dysfunktional sei, ({0}) dann ist das, wie Sie Europa erleben, glaube ich, genau das Gegenteil von der Realität. Meine sehr geehrten Damen und Herren der AfD, sehr geehrter Herr Kleinwächter, Ihr Bild von Europa ist eher kleinkariert, als dass man darin die großen Herausforderungen und Chancen der Europäischen Union sieht. ({1}) Gerade die Coronakrise macht deutlich, wie wichtig Europa in Zukunft ist und wie schwierig es ist, wenn der Markt dysfunktional ist, Frau von Storch; vielleicht verwechseln Sie das. ({2}) Der europäische Markt funktioniert im Moment nicht. Wir bekommen unsere Produkte nicht raus. Das ist der Grund, warum wir einen funktionierenden europäischen Binnenmarkt brauchen, gerade wir als größte Volkswirtschaft in der Europäischen Union, und das ist auch die Herausforderung. Wir haben die Zahlen vorhin gehört: 440 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kommen nach Deutschland, sind hierher entsandt, und wir haben natürlich die Pflicht, die Arbeitsbedingungen so festzulegen, dass sie auch fair und sicher sind. Meine sehr geehrten Damen und Herren, bei der Umsetzung gibt es drei Ziele, die aus meiner Sicht im Vordergrund stehen müssen: zum einen die Förderung der Dienstleistungsfreiheit, zum anderen die Sicherung gleicher und freier Wettbewerbsbedingungen und natürlich – drittens – die Stärkung der Rechte der entsandten Beschäftigten. Genau das hat der Gesetzentwurf der Bundesregierung im Blick. Diese drei Punkte zu erfassen, das ist, glaube ich, die große Herausforderung. Es gibt den einen oder anderen Punkt, über den man dann in den nächsten Wochen noch reden muss; aber wir sind auf einem guten Weg. ({3}) Wenn man sich die Anträge der Opposition anschaut, dann merkt man, wie weit die Meinungen hier im Haus auseinandergehen. Die FDP sagt: Der Gesetzentwurf geht viel zu weit. – Die Linken sagen: Wir müssten noch viel, viel mehr machen. ({4}) – Genau. Daraus schließe ich: Wir liegen richtig, ({5}) weil Maß und Mitte schon immer die Zielrichtung der Union sind. Sehr geehrte Damen und Herren der Linken, ich glaube, in unserem Land ist es wichtig, das Miteinander zu suchen. Selbstverständlich sind Arbeitnehmerrechte und die Rechte der Menschen, die hierherkommen und bei uns arbeiten, überaus wichtig; aber wir müssen natürlich auch die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber im Blick haben. ({6}) – Es gibt kein Recht auf Ausbeutung; da gebe ich Ihnen zu hundert Prozent recht. ({7}) Aber man muss auch die Voraussetzungen im Blick haben, unter denen die Unternehmer arbeiten müssen. In dieser schwierigen Zeit der Coronakrise ist es auch für uns eine Herausforderung, ({8}) die Arbeitgeber nicht mit Bürokratie zu überlasten. Deswegen ist es gut, dass wir auf beide Seiten achtgeben, dass wir Maß und Mitte in unserer Politik im Fokus haben und selbstverständlich schauen, dass wir keine überbordende Bürokratie haben. Das bedeutet aber nicht Protektionismus, lieber Herr Kollege Cronenberg. In Bezug auf ein protektionistisches Europa können Sie auf die andere Seite des Hauses schauen, nicht auf unsere. Uns ist es wichtig, dass wir ein funktionierendes Europa haben: mit einem funktionierenden Arbeitsmarkt, mit einem funktionierenden Binnenmarkt, mit einer funktionierenden Dienstleistungsfreiheit. Dafür gilt es Voraussetzungen zu schaffen. ({9}) Hier gibt die Richtlinie den Weg vor. Aber Sie, liebe Kollegen der FDP, vergessen auch, was eines der Kernprinzipien der Europäischen Union ist – das Subsidiaritätsprinzip. ({10}) – Na ja, wenn Sie einmal Ihren Antrag durchlesen, dann stellen Sie fest, dass es leider so ist. – Das bedeutet, wir müssen unsere Eigenheiten in den Gesetzentwurf mit einbringen und die Richtlinie nicht eins zu eins umsetzen. Das ist, glaube ich, nicht der Auftrag, den wir in der Verantwortung für unsere Menschen haben. In den letzten Wochen war die Fleischindustrie sehr intensiv in der Debatte. Wenn wir den Gesetzentwurf im Lichte der Debatte der letzten Wochen betrachten, dann merken wir, dass gerade hier Voraussetzungen geschaffen werden, damit es zu Verbesserungen kommen wird. Hierbei geht es um das Thema Unterbringung, um das Thema Entlohnung, um das Thema: Verrechnung von Zuschlägen – die zwölf Monate mit gleichen Arbeitsbedingungen sind schon angesprochen worden. Hier machen wir Gutes für die entsandten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in unserem Land. Deswegen ist die Umsetzung dieser Richtlinie wichtig. Sie ist wichtig zur Stärkung des europäischen Binnenmarktes. Sie schafft fairen Wettbewerb und sozialen Ausgleich, die Kernprinzipien unserer sozialen Marktwirtschaft. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({11})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Damit schließe ich die Aussprache.

Dr. Nils Schmid (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004876, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit. ({0}) Die Wirklichkeit in Mali und in der Sahelregion ist unbefriedigend. Die Sicherheitslage hat sich in den letzten Jahren verschlechtert. Was ursprünglich im Wesentlichen auf den Norden des Mali beschränkt schien – Unruhe, terroristische Angriffe –, hat sich inzwischen ausgeweitet auf Zentralmali. Burkina Faso wird zunehmend destabilisiert. In der letzten Zeit haben wir feststellen müssen, dass auch ein vermeintlich so stabiles Land wie Tschad von dschihadistischen Angriffen nicht verschont bleibt. Politisch gibt es kaum Fortschritte beim innermalischen Versöhnungsprozess, auch wenn die Wahlen – unter schwierigen Bedingungen – stattgefunden haben. Und die zugrundeliegenden sozialen und ökonomischen Konflikte in Mali und den Nachbarländern sind vielfach ungelöst. Deshalb ist die Beschreibung dessen, was europäische und andere Streitkräfte in Mali und in der Region machen, als reiner Antiterroreinsatz ungenügend. Es geht um weit mehr. Es geht darum, politische, staatliche Strukturen zu stärken, die nationalen Sicherheitskräfte in die Lage zu versetzen, aus eigener Kraft Sicherheit zu schaffen. Und es geht auch um politische Lösungen für politische Konflikte, um ökonomische Lösungen für ökonomische Konflikte, um soziale Lösungen für soziale Konflikte. ({1}) Deshalb ist dieser Einsatz der Bundeswehr in Mali, der jetzt auf die Region ausgeweitet werden soll, einer, der sich in den vernetzten Ansatz der deutschen Politik voll einbettet. Es geht darum, dort Sicherheit durch Ausbildung und Stärkung der eigenen Streitkräfte der Länder zu schaffen. Und ich muss sagen: Da gibt es einiges zu tun. Die bisherige Bilanz ist unbefriedigend. Es gibt auch Menschenrechtsverstöße, die malischen Sicherheitskräften zugeschrieben werden. Auch die Bilanz von 30 Jahren Militärkooperation Frankreichs mit Mali ist nicht sehr überzeugend. Für uns ist entscheidend, dass diese Ausbildungsmission planvoll und abgestimmt mit den Partnern malische Streitkräfte so ausbildet, dass es zu einer nachhaltigen Verbesserung der Lage kommt. Und es ist für uns genauso entscheidend, neben der Zustimmung zu dieser Ausbildungsmission, dass die Bemühungen zur Lösung der zugrundeliegenden Konflikte fortgesetzt werden. Machen wir uns nichts vor; nicht jeder, der 200 Dollar und ein Motorrad bekommt, ist ein Dschihadist. Wir haben in vielen Regionen dieser Länder Verteilungskonflikte, die nicht nur mit unterschiedlichen Wirtschaftsformen zu tun haben. Sie haben mit ökologischen Konflikten zu tun, und sie haben damit zu tun, dass viele dieser Länder es nicht geschafft haben, eine politische Repräsentation aller Bevölkerungsteile in der zentralen Hauptstadt sicherzustellen. Das gilt für Mali; das gilt für andere Länder auch. Deshalb sind der Aufbau staatlicher Strukturen und eine ausgewogene politische Teilhabe aller besonders wichtig. Darum unterstützen wir zum Beispiel auch die Dialogprozesse der Berghof-Stiftung. Eine Lehre aus dem Afghanistan-Einsatz – der nicht direkt mit Mali vergleichbar ist – ist auch, dass wir alles dafür tun müssen, mit den aufständischen Gruppen ins Gespräch zu kommen, sofern sie nicht völlig ideologisch verblendet sind, und nach und nach Inseln von Sicherheit und Frieden in diesen Ländern zu schaffen. Deshalb begrüßen wir ausdrücklich die Bemühungen zum Dialog in diesen Ländern. Militärische Sicherheit und Entwicklung sind untrennbar miteinander verknüpft. Deshalb reicht es nicht aus, taktisch-militärische Gewinne zu erzielen, indem bestimmte Regionen sozusagen freigekämpft werden, sondern es geht auch darum, strategisch nachhaltige Staatlichkeit in diese Region zu bringen. Auch das ist eine Lehre aus Afghanistan. Deshalb – meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich schließen – wird uns die Sahelregion, wird uns dieser Bundeswehreinsatz noch längere Zeit beschäftigen. Ich rate uns allen, uns über die reine Mandatsbefassung hinaus weiterhin intensiv mit der Stabilität in dieser Region zu befassen. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Gerold Otten, AfD. ({0})

Gerold Otten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004846, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Beim vorliegenden Antrag geht es um Konfliktbewältigung, Friedensförderung und Entwicklungshilfe. Staatliche Akteure Malis sollen befähigt werden, die Versorgung mit grundlegenden Dienstleistungen sicherzustellen – und dies, damit die Regierung von der gesamten Bevölkerung als glaubwürdig und legitim akzeptiert wird. In einem großen Teil des Antrags geht es um den vernetzten Ansatz; wir haben es gerade gehört. Die Ausführungen dazu klingen in der Theorie vielversprechend. Dass die ressortübergreifenden Bemühungen aller Akteure bei der Bewältigung einer Krise ineinandergreifen müssen, ist eine Binsenweisheit und nicht neu. Neu ist nur die schiere Masse an Kriseneinsätzen und die Bereitschaft der Bundesregierung, überall geradezu zwanghaft Verantwortung übernehmen zu wollen. Deutschlands Verantwortung in der Welt wird dabei in der Regel mit sicherheitspolitischen und humanitären Zielen legitimiert. In meinen Augen ist es eine Entgrenzung des Verantwortungsbegriffs. Mit diesen schwammigen Zielen können Sie faktisch alle Mandate moralisch legitimieren. Doch die Auswirkungen auf die konkrete Umsetzung sind fatal. Eine inhaltliche und räumliche Entgrenzung zieht eine zeitliche Entgrenzung zwangsläufig nach sich. Durch die bisherigen Mandate von EUTM Mali sollten die malischen Streitkräfte befähigt werden, für die Sicherheit und Integrität des Landes eigenständig sorgen zu können. Was ist also der bisherige Erfolg der Ausbildungsmission? Eine Unterrichtung von Ende März dieses Jahres nennt 14 000 ausgebildete Soldaten. Der vorliegende Antrag vom 6. Mai spricht aber plötzlich von angeblich 15 000 – trotz Corona. Im Mai vor einem Jahr sollen es schon 13 000 gewesen sein. Das erstaunt, nannte doch das schwedische Verteidigungsministerium vor drei Monaten erst die Zahl von 11 500. Meine Damen und Herren, die Zahlen – so widersprüchlich sie sind – zeigen jedoch, dass vermutlich immerhin mehr als die Hälfte der malischen Armee im Rahmen der Trainingsmission ausgebildet wurde. Aber trotz all dieser Bemühungen greifen die Maßnahmen nach einem nun schon siebenjährigen Einsatz offenbar nicht. So berichtet dann auch ein internes Papier vom März dieses Jahres, dass die militärische Führung Malis nach wie vor den komplexen strategischen Aufgaben nicht gewachsen ist. Gleiches gilt für die taktische Ebene der malischen Streitkräfte. Die ständigen Niederlagen hätten zudem die Kampfmoral zersetzt. Die Trainingsmission selber leide an mangelnder Effektivität. Ergebnisse könnten nicht evaluiert werden, da niemand wisse, was die Soldaten nach ihrer Ausbildung machen, heißt es weiter in diesem Papier. Abseits von öffentlichen Verlautbarungen dürfte dieses Papier die Wahrheit widerspiegeln. Dies war wohl mit ein Grund für die von der EU vorgenommenen Anpassungen mit direkten Auswirkungen auf den vorliegenden Mandatsentwurf. Es wird darin nicht nur eine Erhöhung der Mandatsobergrenze um 100 gefordert, sondern nun auch offiziell eine Erweiterung des Mandatsgebiets auf die Nachbarstaaten Malis, nämlich Burkina Faso, Mauretanien, Niger und den Tschad. Dies ist ein Gebiet von 5 Millionen Quadratkilometern und damit 10 Prozent größer als das der EU. Außerdem sollen Angehörige der Mission ihre Schützlinge künftig auch in den Einsatz begleiten, natürlich nur innerhalb – ich zitiere – „gesicherter Orte“. Wo sollen diese denn sein? In einem von Bandenkämpfen und Terroranschlägen durchzogenen Land ist dieser Punkt doch ebenso abenteuerlich wie absurd. ({0}) Und genau hier ist sie, die von mir aufgezeigte Entgrenzung. Auf die im Antrag erfolgte räumliche und inhaltliche Entgrenzung des Mandats wird nun zwangsläufig auch die zeitliche Entgrenzung folgen; wir haben hier schon gehört, dass wir Geduld haben müssen. Denn glaubt man der Methode des vernetzten Ansatzes, ist jedes Ziel mit etwas Geduld erreichbar. Tatsächlich heißt es, dass es keinen Zeitkorridor gibt, in welchem die Ziele überprüft und erreicht werden müssen. Demzufolge werden Missionen ergebnislos bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag in der Hoffnung fortgeführt, irgendetwas könnte irgendwann schon erreicht werden. ({1}) Der Afghanistan-Einsatz sollte uns allen hier allerdings ein mahnendes Beispiel sein. Wie auch dort wird hier am Ende die Einsicht stehen, dass alle Opfer umsonst waren, weil Mittel und Methode dem Ziel nicht angemessen waren. Ihren Weg werden wir nicht mitgehen. Wir lehnen daher die Verlängerung des Mandats ab. Wir fordern Sie mit unserem Antrag auf, die Mali-Mission zu beenden und die Gründe für das Scheitern aller bisherigen Ausbildungsmissionen zu evaluieren. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollege Dr. Johann Wadephul, CDU/CSU. ({0})

Dr. Johann Wadephul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004182, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Lage im Sahel ist kritisch. Sie ist sogar sehr kritisch. Dort tobt der Kampf gegen internationale und regionale Terrorgruppen. Sie profitieren von einer fragilen Staatlichkeit vor Ort. Die Entwicklung der vergangenen Monate muss einen sehr besorgen. Die Streitkräfte Malis, Nigers und Burkina Fasos werden zunehmend Opfer immer komplexer und schwerer werdender Angriffe. Selbst befestigte Lager werden überrannt, und die Zahl der blutigen Verluste steigt erschreckend. Immer mehr Regionen drohen in die Hände der Terrorgruppen zu fallen. Auch die Zahl der zivilen Opfer der Terroristen nimmt dazu. Dazu kommt noch die organisierte Kriminalität, in Teilen direkt im Bunde mit dem Terror. Sie nutzt die Region als Drogenumschlagsplatz und als Dreh- und Angelpunkt eines gigantischen Menschenhandels. Dazu kommen die Herausforderungen jenseits der Sicherheitspolitik: Der Klimawandel trifft die weitgehend noch bäuerliche Gesellschaft hart. In der Region liegen die Staaten mit den höchsten Geburtenraten. Und als wäre das alles nicht schon herausfordernd genug, schlägt jetzt Covid-19 zu. Das Bild, das sich in der Region bietet, die Herausforderungen, die absehbar sind, lassen jeden Betrachter ernüchtern. Doch abwenden können wir uns jetzt nicht. Denn die Probleme der Sahelzone sind jetzt schon unsere Probleme, um die wir uns kümmern müssen. Deswegen, Herr Kollege Otten, will ich zu Ihrer Aussage, dies sei quasi zwanghaft, schon noch etwas sagen. Es bestehen gegenseitige Abhängigkeiten zwischen dieser Region und Europa. Wir – Deutschland und Europa – müssen uns um den Sahel kümmern. Wer sollte es sonst tun? Die USA und China werden es nicht in dem Maße tun, in dem wir es tun. Denn zum einen sind es wir und nicht sie, die von den Auswirkungen der Probleme in der Region – Migration und Terror – betroffen sind. Zum anderen gewichten insbesondere die Chinesen ein stabiles, friedliches und langfristig wirtschaftliches Florieren Afrikas ganz anders als wir in Europa, Afrikas Nachbarkontinent. Das heißt im Ergebnis: Unsere Sicherheitsinteressen, unsere langfristigen ökonomischen Interessen und – ein Gesichtspunkt, der Ihnen offensichtlich fern ist – unsere humanitäre Verantwortung gebieten es, dass wir im Sahel handeln, ({0}) und dies im Übrigen natürlich nicht nur – der Kollege Schmid hat das ausgeführt – militärisch, sondern in einem sehr umfangreichen vernetzten Ansatz. Unser Engagement hat in den vergangenen Jahren nicht ausgereicht; Herr Kollege Schmid hat das ausgeführt. Natürlich ist Afghanistan auch bei dieser Diskussion der unsichtbare Elefant im Raum. Nach über 18 Jahren des Engagements im Hindukusch sind natürlich manche ernüchtert trotz großer Erfolge für die Humanität, die wir dort erzielt haben. Diese Ernüchterung und diese Skepsis sind wichtig. Denn selbstverständlich müssen wir hinterfragen, was gut lief, was schlecht lief, was wir anders und was wir besser machen können. Aber heute ist der Sahel der drängendste Krisenpunkt. Wir müssen etwas tun, und wir müssen es richtig tun, und zwar in einem breiten Ansatz mit diplomatischen, wirtschaftlichen, entwicklungspolitischen, militärischen Mitteln und in einer breiten Phalanx von Staaten, im Übrigen zuallererst an der Seite Frankreichs. Meine liebe Kolleginnen und Kollegen, denken wir zurück an die Situation, als der malische Staat kurz vorm Zusammenbruch stand. Ich höre hier auch manche Kritik an der militärischen Strategie. Herr Kollege Trittin, wenn ich an die erste Lesung denke, muss ich klar sagen: Frankreichs Strategie ist nicht unsere Strategie. Wir haben eine andere militärische Strategie. Wir glauben, dass wir eine nachhaltigere haben. Aber, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, es ist auch etwas wohlfeil, sich hier hinzusetzen und die französische militärische Strategie zu kritisieren, während es schlicht und ergreifend die Franzosen gewesen sind, die in einer Notsituation den malischen Staat vor dem völligen Kollaps gerettet haben. Das müssen wir anerkennen. ({1}) Dies gilt auch in einer Situation, in der die Franzosen sagen: Wir kommen an die Grenze dessen, was wir dort leisten können. – Ich sage auch: In Zeiten, wo wir über europäische Solidarität reden, wo wir über die Handlungsfähigkeit Europas reden, wo Tschechen sagen: „Wir sind dabei“, wo Esten sagen: „Wir sind dabei und unterstützen die Franzosen“, da muss Deutschland an der Seite Frankreichs stehen und diese Auseinandersetzung gemeinsam mit Frankreich angehen und gemeinsam zu schultern versuchen. ({2}) In der Tat: Wir brauchen dafür einen langen Atem. Natürlich werden Einsätze immer für einen bestimmten Zeitraum vom Deutschen Bundestag auf Antrag der Bundesregierung legitimiert und laufen nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag. Wir haben in diesen Antrag ausdrücklich reingeschrieben, dass wir nach sechs Monaten einen Zwischenbericht der Bundesregierung haben wollen, weil wir natürlich wissen: Wenn wir dieses Problem angehen wollen, dann brauchen wir einen langen Atem. Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, für die Koalition der CDU/CSU und SPD ist wichtig, dass wir zwischendurch auch einen Schulterblick werfen und schauen, was gemeinsam erreicht worden ist. Wir vergrößern nicht einfach unser Engagement und sagen: Hoppla, jetzt kommen wir, und jetzt wird alles gut. – Der Kollege Schmid hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die Franzosen schon sehr lange dort ausbilden und der Erfolg bisher mäßig ist. Nein, wir machen das abgestuft. Wir sind dabei, aber wir schauen uns auch an, was Erfolg bringt und ob es nachhaltig ist. Deswegen ist es wichtig, dass es ein Mandat für ein Jahr ist. Wir werden eine Zwischendiskussion führen. Aber wir sind auch alle aufgefordert, der deutschen Öffentlichkeit, unseren Wählerinnen und Wählern zu erläutern, dass wir für Humanität, für Menschlichkeit vor Ort sorgen und dass wir die europäischen Sicherheitsinteressen im Sahel originär verteidigen. Dazu kann ich uns nur alle aufrufen. ({3}) Wir müssen eine Diskussion über die Ausrüstung der Soldatinnen und Soldaten führen. Dazu gehören Kampfstiefel, Schutzwesten und auch medizinische Versorgung. Hierin besteht immer große Einigkeit. ({4}) – Liebe Frau Kollegin, es tut mir leid; Sie wissen, dass das Thema für die SPD-Fraktion etwas schwieriger ist als für uns. – In einer militärischen Situation, in der man verantwortbar vorgeht, gehören zur Ausrüstung aber auch bewaffnete Drohnen. Das sind Waffen, die von den Soldatinnen und Soldaten in schwierigen Lagen defensiv eingesetzt werden können. Wir müssen die Diskussion über deren Einsatz immer vor dem Hintergrund führen: Was ist der beste Schutz? Der BundeswehrVerband, das Bundesverteidigungsministerium und die CDU/CSU-Fraktion stehen auch hier für die beste Ausrüstung der Soldatinnen und Soldaten. ({5}) Wir müssen bald zu einer entsprechenden Entscheidung kommen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Alexander Müller, FDP. ({0})

Alexander Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004828, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor sieben Jahren entsandten wir zum ersten Mal unsere Bundeswehr zur Ausbildungsmission EUTM nach Mali. Das Ziel vor Ort ist es, die malischen Sicherheitskräfte in die Lage zu versetzen, das Land zu stabilisieren, vor Terror zu schützen und Entwicklungshilfe zu ermöglichen. Nur wenn wir Frieden und Sicherheit und Entwicklungsperspektiven schaffen können, verhindern wir weitere Massenflucht. Doch wie schaffen wir es, dass aus 7 Jahren nicht 17 oder 27 Jahre werden? Der Bericht der Bundesregierung zur Lage – Kollege Wadephul hat auf die Bedeutung der Evaluierung hingewiesen – vom März 2020 spricht von einer sich verschärfenden Sicherheitslage im Einsatzgebiet; die Verteidigungsministerin sprach wörtlich von einer „massiven Verschlechterung“. Und doch erwähnt der Bericht nicht deren Ursachen oder die daraus folgenden Auswirkungen auf unseren Einsatz. Da stellt sich die Frage: Wird unsere Strategie in Mali überhaupt einer Überprüfung unterzogen? Tun wir wirklich alles, um die Erfahrungen vor Ort auszuwerten und daraus zu lernen? Brauchen wir mehr Hochwertausbildung, bessere Ausrüstung oder mehr Schulungen von Spezialkräften? Wir haben echte Experten vor Ort, unsere Ausbilderinnen und Ausbilder, unsere Bundeswehrsoldaten. Sie könnten diese Fragen beantworten, doch der 20-seitige Bericht der Regierung erwähnt mit keinem Wort, ob eine solche Auswertung bisher überhaupt versucht wurde, ob Verbesserungspotenziale systematisch analysiert wurden. Die andere Seite ist: Wer befragt die malischen Soldaten nach ihrer Einschätzung, was nötig wäre um die Sicherheit vor Ort besser in den Griff zu bekommen? Auch hierzu gibt es keine Hinweise im Bericht der Regierung. Dabei sind das die entscheidenden Fragen, die man nach sieben Jahren Mandatszeit in einer längst überfälligen vernünftigen Evaluierung stellen muss. ({0}) Wir müssen viel gründlicher reflektieren und die vielen verschiedenen Mandate und Missionen im Sahel besser koordinieren. ({1}) Der vorliegende Entschließungsantrag meiner Fraktion hebt solche Potenziale hervor und macht unsere Verbesserungsvorschläge deutlich. Ein wichtiger Schritt ist dabei die Integration der Mission Gazelle in dieses Mandat. Das erkennen wir ausdrücklich an. Diese Forderung des ehemaligen Wehrbeauftragten Dr. Bartels hatten wir auch stets unterstützt. ({2}) Die Verteidigungsministerin hat nach ihrem Besuch in Niger und Mali im Sommer 2019 allerdings wesentlich mehr Veränderungen angekündigt, als tatsächlich umgesetzt wurden. Wir hatten bei dem vorliegenden Mandat in diesem Jahr gehofft, dass die Koordinierung mit Frankreich verbessert und die Bereiche Entwicklungshilfe und Diplomatie besser mit den Bereichen Sicherheit und Verteidigung verzahnt und koordiniert würden, aber auch das ist noch nicht erkennbar. ({3}) Trotzdem: Dieses Mandat ist notwendig zur Stabilisierung der Sahelzone. Unsere Soldatinnen und Soldaten leisten einen wichtigen Beitrag für den Frieden und die Sicherheit der Menschen vor Ort und zur Prävention von Fluchtursachen. Dafür sind wir ihnen dankbar. Um sie in diesem Auftrag zu unterstützen, werden wir dem Mandat zustimmen. Vielen Dank. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erhält das Wort die Kollegin Kathrin Vogler, Die Linke. ({0})

Kathrin Vogler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004181, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Was macht die Bundeswehr eigentlich gerade in Mali? ({0}) Na ja, die einen sind in Quarantäne, die anderen sitzen im Büro, und der Rest beschützt das Hauptquartier. So ungefähr könnte man die Rolle der etwa 60 Soldatinnen und Soldaten bei der europäischen Trainingsmission in Zeiten der Pandemie beschreiben. Dennoch legt die Bundesregierung uns heute dieses Mandat nicht einfach nur zur Verlängerung vor, nein, sie will es auch auf 450 Mann aufstocken, auf vier weitere Länder ausweiten und, wie Sie das nennen, einsatznäher gestalten. Die Bundeswehr soll in Mali, Niger, Burkina Faso, Mauretanien und Tschad Militär und Spezialkräfte zur Aufstandsbekämpfung ausbilden. Aber was sind das eigentlich für Soldaten, die da ausgebildet werden? Dafür habe ich drei aktuelle Beispiele. Die UN-Mission MINUSMA beklagte Anfang Mai zahlreiche außergerichtliche Tötungen. Danach haben die malischen und nigrischen Truppen zwischen dem 1. Januar und dem 31. März 135 Menschen hingerichtet. Eine Vertreterin des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte berichtet aktuell, wie Polizei und Sicherheitskräfte exzessive und manchmal tödliche Gewalt eingesetzt haben, um Coronaausgangssperren durchzusetzen. Die Opfer seien meist die Ärmsten und Gefährdetsten in der Gesellschaft. Auch gebe es willkürliche Massenverhaftungen. Am 2. Mai überfielen Soldaten in Burkina Faso das Flüchtlingslager Mentao, um nach mutmaßlichen Attentätern zu suchen. Sie durchsuchten Haus für Haus, schlugen Verdächtige mit Stöcken, Gürteln und Seilen und verletzten mindestens 32 Menschen, zum Teil schwer. Die Direktorin des UNHCR für West- und Zentralafrika bezeichnete dieses Vorgehen als völlig inakzeptabel. ({1}) Wissen Sie, was ich völlig inakzeptabel finde? Dass unsere Bundeswehr von diesem Parlament, das sich auf eine Verfassung beruft, die den Schutz der Menschenwürde zur obersten Leitlinie aller staatlichen Gewalt erklärt, damit beauftragt wird, Streitkräfte auszubilden, die genau diese Menschenwürde mit Füßen treten. ({2}) Ja, es stimmt: Die Menschen in der Sahelzone brauchen unsere Hilfe dringend. Sie brauchen aber nicht diese Militäreinsätze. In den letzten beiden Jahren haben in der Sahelzone noch mehr Menschen gehungert als in allen zehn Jahren davor, und 2020 wird es wohl noch schlimmer werden. Trotzdem sind die Prioritäten der westlichen Staaten klar: Der Aufbau von Armeen hat für sie Vorrang vor der Beseitigung des Hungers und dem Zugang zur Gesundheitsversorgung. ({3}) Mehr als 1,2 Milliarden US-Dollar fließen in die verschiedenen Militäroperationen in Mali, während das humanitäre Notprogramm von UN OCHA mit nur 180 Millionen US-Dollar, also knapp 15 Prozent davon, dramatisch unterfinanziert ist. Allein mit den Kosten des deutschen Beitrags für EUTM Mali könnte man dieses Programm um über 50 Prozent aufstocken. Deswegen sagt Die Linke Nein zu diesem Militäreinsatz. Beenden Sie EUTM Mali, und bilden Sie Krankenschwestern aus statt Soldaten. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Agnieszka Brugger, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Agnes Malczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004106, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist richtig, dass das Engagement der EU die Ausbildungsmission der malischen Streitkräfte begleitet. Wir Grüne haben über Jahre beide Einsätze in Mali, auch die VN-Friedensmission, über die wir gleich noch debattieren werden, immer mitgetragen, weil wir es unterstützen wollen, dass die Vereinten Nationen und die EU sich gemeinsam engagieren – zivil sehr stark ja, aber auch militärisch. Aber wir haben in den letzten Jahren auch immer wieder deutlich gemacht: Es gibt eine Reihe von schwerwiegenden Problemen, und unsere Zustimmung ist kein Automatismus. Wir haben es uns nicht leicht gemacht. Wir haben das neue Mandat für die EU-Mission sehr sorgfältig geprüft und eine Reihe von kritischen Punkten ausgemacht, von denen ich hier zwei ansprechen muss. Der erste ist ein problematischer Widerspruch in der europäischen Position. Frankreich reagiert auf die schlechte Sicherheitslage in Mali mit mehr Militär und weitet seinen Antiterrorkampf nun in einer Koalition der Willigen aus. Sie von der Bundesregierung beteiligen sich nicht mit Personal an dieser Strategie. Wir als Grüne sehen sie sehr kritisch. Deutschland und Frankreich sind zu wichtige Akteure in dieser Region, als dass sie sich ein solch unabgestimmtes Nebeneinander erlauben könnten. ({0}) Die Situation in der Sahelzone ist schwierig genug. Ohne eine gemeinsame europäische Strategie sinkt die Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg der Mission. Wir können an die Bundesregierung nur appellieren: Drücken Sie sich nicht vor der schwierigen Debatte, sondern setzen Sie sich dafür ein, dass es hier einen europäischen Konsens gibt. ({1}) Ein zweiter Punkt ist die immense Ausweitung des Operationsgebiets auf komplett alle Staaten der G 5 in der Sahelzone. ({2}) Diese Staaten sind sehr unterschiedlich. In einer fragilen Demokratie wie in Mali kann die Ausbildung von Sicherheitskräften sicherlich schwierig, aber trotzdem richtig sein. ({3}) Ganz anders sieht es mit der Ausbildung von Militär in einer Autokratie wie dem Tschad aus, der auch zu den G-5-Staaten zählt und dessen Präsident für gravierende Menschenrechtsverletzungen verantwortlich ist. Die Bundesregierung sagt zwar, dass sie die Ausbildung vor allem auf Mali, Niger und Burkina Faso beschränken wird; dann frage ich Sie aber: Warum schreiben Sie das nicht genau so in Ihr Mandat? ({4}) Wir werden Ihnen diesen Blankoscheck, der mit Mandatswahrheit und ‑klarheit nichts zu tun hat, hier nicht ausstellen. Zumindest ein Teil der Koalition scheint auch kein Problem damit zu haben, im Tschad auszubilden. Die Unionsfraktion hat diesen Monat in einem Positionspapier gefordert, das EUTM-Engagement in allen fünf Staaten sehr aktiv auszuweiten. Herr Wadephul, wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann wollen Sie sich in Zukunft auch am Antiterrorkampf beteiligen. Aus unserer Sicht wäre das ein großer Fehler. ({5}) Meine Damen und Herren, die Lage in Mali ist und bleibt sehr besorgniserregend. Die Bundesregierung antwortet darauf mit einem veränderten Mandat. Sie selbst nennen es – Zitat – „ambitionierte Weiterentwicklung“. Wir finden, das gehört – leider – in die Kategorie „Bewegung in die falsche Richtung“. Wir werden Ihrem Mandat deshalb heute zum ersten Mal nicht mehr zustimmen, sondern uns enthalten. Wir stehen aber zur Verantwortung Deutschlands in Mali, und deshalb stimmen wir heute auch nicht mit Nein. Wir haben in den Beratungen sehr konstruktive Kritik am Mandat geübt, auch wenn die Bundesregierung offensichtlich kein Interesse an einer breiten Zustimmung aus der Opposition hat. Ich kann Sie nur auffordern: Sorgen Sie für Mandatsklarheit und ‑wahrheit, schließen Sie die Ausbildung im Tschad aus, und setzen Sie sich für eine gemeinsam getragene europäische Strategie in Mali ein. Vielen Dank. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Eberhard Brecht, der beinahe die Debatte eröffnet hätte. ({0})

Dr. Eberhard Brecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000254, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das hätten wir hingekriegt. – Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Diskussion hat gezeigt, dass selbst bei denen, die heute zustimmen, noch Zweifel bestehen: Da setzen die Europäer in einem riesigen instabilen Land die Hoffnung auf eine Militäreinheit, die von einem Beobachter als komische Theatergruppe charakterisiert wird, die sich allenfalls für glanzvolle Militärparaden eignet und, wie wir ja immer wieder hören, zuweilen auch übergriffig wird. Dabei wissen wir aus Befragungen der Friedrich-Ebert-Stiftung, dass sich die Menschen in Mali endlich einen wirksamen Schutz von den malischen Streitkräften und MINUSMA wünschen. Deswegen war es auch konsequent, zu sagen: Wir müssen die Mission evaluieren und aus der Evaluation dann auch entsprechende Konsequenzen ziehen. – Deswegen ist es richtig, dass die mit viel Geld ausgebildeten malischen Soldaten tatsächlich zum Einsatz kommen; es ist richtig, dass die Ausbildung verstärkt in Einsatznähe erfolgt; es ist richtig, dass das humanitäre Völkerrecht und die Achtung von Menschenrechten weiterhin integrale Bestandteile der Lehrgänge bleiben; und es ist richtig, dass das Mandat auf das Grenzgebiet zu Niger und Burkina Faso ausgeweitet und auch entsprechend personell ausgestattet wird. Nun ist die Frage: Gibt es angesichts unserer verbleibenden Zweifel irgendwelche Alternativen zum derzeitigen Mali-Engagement? Da gibt es den ausschließlich zivilen Lösungsansatz der Fraktion Die Linke, den ich für nicht realitätstüchtig halte, der aber zumindest Empathie für die Menschen in der Sahelregion erkennen lässt. Eine solche Empathie für die Bewohner des Sahel sucht man im Antrag der AfD vergeblich. ({0}) Es gibt keinerlei Antwort auf die Frage nach der Befriedung der Sahelregion; der Beitrag vom Kollegen Otten hat das heute wieder deutlich gemacht. Da gibt es diese schöne, emanzipatorische Forderung nach der Afrikanisierung des Problems. Aber hinter dieser These steht in Wahrheit der weltweit populär gewordene Politikansatz „Country First“. So heißt es im vorletzten Satz des Antrages lakonisch, „dass die Fortsetzung von EUTM Mali nicht im nationalen Interesse Deutschlands liegt“. Schlichter, meine Damen und Herren, geht es nicht. Die intellektuelle Genügsamkeit der AfD-Fraktion in der Mali-Politik zeigt sich auch an dem eifrigen Gebrauch der Copy-and-paste-Tasten. Obwohl die Missionen EUTM Mali und MINUSMA völlig unterschiedlich sind, sind die Anträge fast völlig identisch. – Ich zeige Ihnen das mal; die Übereinstimmungen sind rot gekennzeichnet, alles identisch. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die SPD-Fraktion wird dem Antrag der Bundesregierung zustimmen und Ihrem Antrag, liebe Kollegen von der AfD, natürlich die Zustimmung verweigern. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dr. Reinhard Brandl. Aber zuerst muss das Pult gereinigt werden. ({0}) Jetzt ist es bereit für Sie. – Bitte sehr, Sie haben das Wort. ({1})

Dr. Reinhard Brandl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! „Wir danken Gott für diese Pandemie“, das hat kürzlich Abubakar Shekau, einer der Anführer der islamistischen Terrororganisation Boko Haram zu der Coronakrise gesagt. Es ist klar, warum er das sagt: weil die internationalen Truppen in Mali, aber auch in anderen Staaten Westafrikas ihre Aktivitäten aufgrund der Coronakrise zurückgefahren haben. Die Soldaten bleiben in ihren Lagern. Sie bilden nicht weiter aus, weil sie nicht riskieren wollen, dass sie das Virus aus ihren Heimatländern unabsichtlich in die Einsatzgebiete einschleppen und dort mit verbreiten. Dieses Handeln ist verantwortungsvoll und richtig, aber es hat natürlich sofort zur Folge, dass ein Freiraum entsteht. Man kann in Mali sehr schön beobachten, wie dieser Freiraum von terroristischen Gruppen genutzt wird und die Zahl der Anschläge sofort nach oben geht. Meine Damen und Herren, das zeigt, wie nahe ein Land wie Mali an der Klippe steht. Das zeigt aber auch, dass die internationale Präsenz vor Ort etwas bewirkt. Deswegen ist es wichtig, dass die internationalen Missionen EUTM Mali, MINUSMA und die weiteren Missionen so schnell wie möglich wieder ans Laufen kommen, natürlich unter Einhaltung der Sicherheits- und Hygienevorschriften, wie sie auch bei uns gelten. Aber in Afrika ist das natürlich viel härter und brutaler. Ich habe kürzlich die ersten Bilder unserer Soldatinnen und Soldaten gesehen: mit Mundschutz bei 35, 40 Grad in der Wüste. Das ist eine Riesenanstrengung. Ich möchte an dieser Stelle ganz herzlichen Dank sagen für diesen großartigen Einsatz, den sie für unser Land dort unten leisten. ({0}) Wie sich die Coronakrise weiter auf Afrika auswirken wird, ist im Moment nicht absehbar und konnte auch im Mandat nicht berücksichtigt werden. Was aber im Mandat berücksichtigt ist, ist die Erfahrung der letzten Jahre; seit 2013 haben wir EUTM Mali ja schon in Betrieb. Das oberste Ziel dieses Mandates und der Mandatsveränderung ist, die Qualität der Ausbildung zu steigern und die operative Einsatzfähigkeit der Truppen, der ausgebildeten Streitkräfte zu erhöhen. Es ist ja schon mehrfach angesprochen worden: Die Ausbildung wird einsatznäher, und sie wird räumlich ausgeweitet auf die anderen G-5-Sahelstaaten Niger, Burkina Faso, Mauretanien und Tschad. Das heißt nicht, dass wir dort überall ausbilden wollen; aber wir machen die Mission flexibler und geben ihr bewusst die Möglichkeit, auch die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen den Ländern zu fördern. Das ist richtig; denn die Bedrohung ist grenzüberschreitend. Auch Boko Haram macht nicht an der Grenze halt. Je besser die Länder in Sicherheitsfragen zusammenarbeiten, desto effektiver ist diese Zusammenarbeit. Die Mandatsanpassung wurde vorgezeichnet durch den Europäischen Auswärtigen Dienst, der eine strategische Überprüfung der Mission durchgeführt hat. In diesem Sinne passen wir auch das deutsche Mandat an. Ob die Strategie, die in Brüssel und in Berlin jetzt entwickelt worden ist, am Boden, in Afrika tatsächlich wirkt und zur Geltung kommt, werden wir noch sehen. Deswegen haben wir die Bundesregierung gebeten, uns nach sechs Monaten einen Zwischenbericht zum Mandat vorzulegen, damit wir sehen können, wie sich das Mandat auch angesichts der Coronakrise entwickelt und ob wir nachsteuern müssen. Für heute ist wichtig: Wir senden das Signal, dass wir Mali nicht alleinlassen. Wir wollen dieses Land und seine Sicherheitskräfte in die Lage bringen, selbst für Sicherheit im eigenen Land zu sorgen und sich nicht von einem Abubakar Shekau terrorisieren lassen zu müssen. In diesem Sinne bitte ich um Ihre Zustimmung. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Damit schließe ich die Aussprache.

Gyde Jensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004941, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Verabschiedung des Sicherheitsgesetzes ist, wie die beiden Demokratieaktivisten Joshua Wong und Glacier Kwong in der vergangenen „Welt am Sonntag“ schrieben, der letzte Sargnagel für die Autonomie Hongkongs. Das Prinzip „ein Land, zwei Systeme“ für Hongkong – das gilt nicht mehr. Vier Tage brauchte der Regierungssprecher, fünf Tage brauchte die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, um auf die Ankündigung aus Peking zu reagieren. Dem Außenminister Heiko Maas waren die Vorgänge erst gestern Abend einen kleinen, halbherzigen Tweet wert – und der Kanzlerin bis dato keinen einzigen Kommentar. Frau Bundeskanzlerin, Herr Außenminister, mit Verlaub: Sie haben nicht verstanden, worum es hier eigentlich geht. ({0}) Hongkong ist am Scheideweg, und mit Hongkong steht dieser geopolitische System- und Wertewettbewerb Spitz auf Knopf. Es wird Zeit, dass die Bundesregierung in diesem Wertewettbewerb Position bezieht und endlich anfängt, China rote Linien aufzuzeigen. ({1}) Letzteres hätte die Bundesregierung bereits vergangene Woche Freitag machen können, als Peking ankündigte, dieses Sicherheitsgesetz auf den Weg zu bringen, aber Sie haben sich bewusst entschieden, zu schweigen. Sie haben sich entschieden, das bedeutsame wirtschaftliche Gewicht der Bundesrepublik nicht in die Waagschale zu werfen, um die Freiheitsrechte von 7 Millionen Hongkongern einzufordern und zu verteidigen. Diese Chronik ist eine Chronik des Scheiterns deutscher Außenpolitik. ({2}) Das chinesische Regime hat bestehendes Völkerrecht gebrochen und einmal mehr gezeigt, was es auf die Einhaltung internationaler Verträge gibt, nämlich gar nichts. Nehmen Sie dieses Signal endlich ernst! Aber, meine Damen und Herren, dieses Sicherheitsgesetz ist eben nicht nur ein Vertragsbruch, es ist auch ein Vertrauensbruch. Die Bundesregierung muss jetzt endlich deutlich zu verstehen geben, dass aus den aktuellen Geschehnissen in Hongkong und den Menschenrechtsverletzungen, die unter anderem an den Uiguren stattfinden, ein Misstrauen entstanden ist, das so nachhaltig ist, dass wir hier nicht einfach zu „business as usual“ übergehen können. ({3}) Die Bundesregierung muss klarstellen, dass dieses Misstrauen selbstverständlich einen Einfluss darauf haben wird, wie die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik in Europa zukünftig stattfinden wird, und zwar nicht nur während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft. Was wir als Reaktion auf diesen Vertrauensbruch also brauchen, ist ein „Jetzt oder nie“-Moment. ({4})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Frau Jensen, Augenblick mal. – Ich bitte diejenigen, die im Rückraum des Plenums stehen und dort sehr angeregt Gespräche führen, entweder rauszugehen oder Platz zu nehmen und in jedem Fall, wenn Sie hierbleiben, zuzuhören. Ich glaube, das Thema verdient den nötigen Respekt. ({0})

Gyde Jensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004941, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Präsident.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Bitte sehr.

Gyde Jensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004941, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

So, wir waren bei dem Moment „Jetzt oder nie, bis hierhin und nicht weiter“. Was wir als Reaktion brauchen, ist, dass Deutschland und die EU Präsident Xi ganz klarmachen, dass er auf der Weltbühne keine Narrenfreiheit besitzt. Deutschland muss sich auf EU-Ebene endlich für direkte, personenbezogene Sanktionen gegenüber KP-Funktionären einsetzen, um Menschenrechtsverletzungen zu ahnden. ({0}) Wir brauchen eine Bundeskanzlerin, die sich klar gegen den geplanten EU-China-Gipfel ausspricht; denn es darf nicht sein, dass der Volksrepublik ein weiterer Rahmen für Propaganda geboten wird. ({1}) Die Bundesregierung muss die Initiative der USA für eine Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrates unterstützen und damit zeigen, dass sie hinter den Menschen in Hongkong steht, die ihre Rechte so dringend verteidigen. An all diejenigen Hongkonger, die nun ihrer Heimat den Rücken kehren wollen, weil sie eben keine Freiheit in ihrer Stadt mehr erleben können, muss Deutschland ein Angebot machen, und zwar fordern wir deswegen die Bundesregierung in unserem Antrag auf, mögliche Lockerungen für Aufenthaltsbewilligungen von Hongkongern zu prüfen und zusätzlich ein Willkommensprogramm für qualifizierte Fachkräfte zu schaffen und auf den Weg zu bringen. Frau Bundeskanzlerin, Herr Außenminister, dieses Problem können Sie nicht länger aussitzen. ({2}) Sie müssen sich jetzt entscheiden, auf welcher Seite der Geschichte die Bundesrepublik hier stehen will. Am Mittwoch haben wir im Menschenrechtsausschuss mit fünf Fraktionen – inklusive Union und SPD – eine Erklärung verabschiedet: We stand with Hong Kong! Meine Damen und Herren von der Bundesregierung, es geht hier gerade nicht mehr um Opposition gegen Regierung; es geht darum, ein Zeichen für Freiheit zu setzen. Verurteilen Sie endlich dieses Sicherheitsgesetz mit all seinen Konsequenzen! Herzlichen Dank. ({3})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächster hat das Wort der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Dr. Norbert Röttgen, für die CDU/CSU. ({0})

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Frau Kollegin Jensen, auch wenn ich nicht jeden Satz Ihrer Rede unterschreibe, möchte ich zunächst an Ihre Fraktion gerichtet sagen: Ich finde es verdienstvoll und gut, dass Sie den Antrag gestellt haben und damit diese Debatte initiieren. Diese Debatte muss hier im Haus stattfinden, weil es ein wichtiges Thema ist. ({0}) Für uns wirft das Sicherheitsgesetz, das jetzt im chinesischen Volkskongress verabschiedet worden ist, drei Fragen auf: Erstens die Frage unseres eigenen politischen Selbstverständnisses, zweitens die unseres Verhältnisses und unserer Politik gegenüber China und drittens die Frage, was wir politisch denn jetzt eigentlich tun. Das Sicherheitsgesetz, das in dieser Woche im Volkskongress verabschiedet worden ist, ist eine klare und eindeutige Verletzung der Rechte und der Selbstbestimmung, die Hongkong im britisch-chinesischen Vertrag über die Übergabe der ehemaligen Kronkolonie zugesagt worden sind – hinterlegt bei den Vereinten Nationen –, ein klarer internationaler Vertragsbruch. ({1}) Und dieser Vertragsbruch, der an sich schon zu verurteilen ist, hat natürlich einen politischen Zweck. Er dient dazu, das, was der Inhalt der Selbstbestimmung in Hongkong ist, Freiheit, Demokratie, Selbstbestimmung, zu unterdrücken. Das sind klare Unrechtsakte, die beschlossen worden sind und deren Vollzug durch China gegenüber Hongkong damit angekündigt worden ist. Das muss aus- und angesprochen werden. ({2}) Was heißt das für uns? Es ist eben eine Frage unseres außenpolitischen Selbstverständnisses: Sind diese ganz wenigen Werte und Prinzipien – Demokratie, Rechtsstaat, Freiheit, Menschenrechte – prinzipieller Teil unserer Außenpolitik? Treten wir grundsätzlich dafür ein, oder treten wir nur dann dafür ein, wenn starke Wirtschaftsinteressen nicht betroffen sind? ({3}) Das ist eine grundsätzliche Frage, und ich möchte die Frage eindeutig beantworten: Es ist unser Selbstverständnis – nach unserem Grundgesetz, nach unserer Geschichte; es wird breit geteilt –, dass wir als Deutschland und Teil Europas für diese Grundwerte eintreten, meine Damen und Herren, ({4}) und zwar bedingungslos und unbedingt. ({5}) Und wir tun es als Ausdruck unseres Selbstverständnisses wie auch unseres Selbstinteresses. Denn wenn wir unsere außenpolitische Glaubwürdigkeit beschädigen, dann beschädigen wir gleichzeitig auch unsere außenpolitische Wirksamkeit, meine Damen und Herren, weil man uns immer entgegenhalten kann: In einem Fall wie Russland oder sonst wo, dort ja; aber wo ihr selber betroffen wart, habt ihr euch nicht dafür eingesetzt. – Das beschädigt uns auch in unserer Aktionsfähigkeit in der Außenpolitik. ({6}) Das Zweite. Dieses Thema ist deshalb so interessant, weil es für unsere Politik gegenüber China entscheidend ist. China ist und wird die größte außenpolitische Herausforderung für Deutschland, Europa und den Westen in den nächsten Jahren und darüber hinaus sein. Es wird nach Hongkong weitere Fälle geben: Taiwan, Südchinesisches Meer, „Belt and Road“, Afrika, Handelsbeziehungen, Menschenrechtsfragen – ganz, ganz viele Fragen. Und darum hat die Frage, wie wir uns im Fall Hongkong verhalten, auch etwas damit zu tun, wie wir uns im nächsten Fall verhalten. Es hat etwas damit zu tun, wie China uns wahrnimmt. Es hat Konsequenzen, wenn China für solche Unrechtsakte nur Schweigen in Europa und im Westen erfährt; „Westen“ darf man nicht sagen; die USA machen eine andere Politik, die auch zu kritisieren ist. Darum korrigiere ich mich: Wenn China nur und im Wesentlichen Schweigen erfährt, wenn es solche Unrechtsakte ankündigt und vollzieht, dann wird das auf das weitere chinesische Verhalten Einfluss haben, meine Damen und Herren, und zwar ermunternden Einfluss. Und wir müssen den gegenteiligen Einfluss ausüben: Wir müssen Grenzen setzen, wir müssen klar aussprechen, dass das nicht geht. ({7}) Ich plädiere nicht, um Missverständnissen entgegenzuwirken, für irgendeine Form von Antagonismus oder für einen Handelskrieg oder gar für einen neuen kalten Krieg. Nein, China ist eine Realität. Die frühere EU-Kommission hat es gesagt: China ist alles gleichzeitig: Partner, Wettbewerber und systemischer Rivale. – Also müssen wir uns mit China auseinandersetzen. Wir müssen zu unseren Werten stehen, wir müssen zu unseren Interessen stehen – das dürfen wir –: kein Antagonismus, kein Krieg in welcher Form auch immer, aber auch keinen Kotau. ({8}) Und darum nutze ich die Gelegenheit dieses Podiums, um noch einmal zu sagen, dass der gemeinsame Artikel der europäischen Botschafter in Peking und der chinesischen Botschafter in der EU vor einiger Zeit in der chinesischen staatlichen Propagandazeitung „China Daily“ unter Akzeptanz von Zensur durch den EU-Vertreter in Peking und unter Übernahme sämtlicher chinesischer Narrative, ohne dass unsere kritischen Punkte angesprochen worden wären, ein Tiefpunkt unserer europäischen Außenpolitik war, meine Damen und Herren. ({9}) Solche Selbstdemütigungen müssen wir uns nicht selber zumuten. Das ist falsch und gegen unsere Werte und gegen unsere Interessen. Abschließend: Was ist zu tun? Das ist gar nicht so leicht zu sagen, Frau Kollegin; aber ich habe schon gesagt, was jedenfalls falsch ist: Schweigen ist falsch. ({10}) Wir müssen sprechen. Darum ist es auch falsch, wenn Sie die Forderung erheben, dass jetzt kein Gipfel mehr stattfinden soll. Nein, der Gipfel muss stattfinden, und dann müssen wir für unsere Interessen eintreten. ({11}) Eine Schweigepolitik, auch diplomatisch, macht keinen Sinn, meine Damen und Herren. Wir müssen Allianzen bilden, mit anderen Mächten, mit Europäern, asiatischen Mittelmächten Allianzen bilden, um für gemeinsame Werte, gemeinsame Interessen einzutreten. ({12}) Mit China zu kooperieren, aber uns nicht zu unterwerfen, nicht nachzugeben, unsere Werte und Interessen zu vertreten – das ist in unserem Interesse, und das ist im Interesse der Stabilität und des Friedens in der Welt. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({13})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Der Kollege Diether Dehm erhält die Gelegenheit für eine Kurzintervention.

Dr. Jörg Diether Dehm-Desoi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000365, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Röttgen, ich halte den Hunger für die größte Herausforderung auf der Welt. China hat 400 Millionen Menschen vor dem Hungertod bewahrt, mit nicht immer uns entsprechenden Mitteln. Deswegen, durch die Anstrengungen Chinas, ist die UN-Bilanz der Hungertoten erheblich besser geworden. Ich wollte Sie fragen: Habe ich Sie richtig in Erinnerung, dass Sie bei den Wirtschaftsverhandlungen, bei den Rüstungsexporten an Saudi-Arabien mit derselben Vehemenz wie jetzt aufgetreten sind, als die das terroristische Regime des „Islamischen Staates“ unterstützt haben? Habe ich Sie richtig in Erinnerung, dass Sie gegen Bolsonaro, der Gewerkschafter, Homosexuelle verfolgt, genauso in die Bütt gegangen sind? Und habe ich es richtig in Erinnerung, dass die CDU auch andere Menschenrechtsverletzungen – ich unterscheide hier sehr zwischen dem Engagement des früheren Generalsekretärs der CDU, Heiner Geißler, und Norbert Blüm, die bei Pinochet waren und sich auch in dieser Frage deutlich positioniert haben – teilweise toleriert hat? ({0}) Ich vermisse in Ihrer Darstellung den Antifaschismus und den Humanismus Norbert Blüms und sehe nur ein einseitiges Bashing gegen China und Russland. ({1})

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Dehm, zunächst zum Hunger in der Welt. Sie haben vollkommen recht: Es ist China gelungen – und es ist gewissermaßen ein Kern der chinesischen Politik –, die große Masse der Bevölkerung des Landes aus der schlimmsten Armut herauszuführen, Hunger zu beseitigen. China hat dort viel erreicht. Sie sind noch nicht am Ziel; aber sie haben einiges erreicht. Unsere Politik – ich glaube, nicht nur unserer Fraktion, sondern breiter aufgestellt hier im Haus; ich glaube, auf Sie und Ihre Fraktion trifft es leider nicht zu – macht aus, dass wir diese Realität erkennen. Darum habe ich auch gesagt: China ist auch ein Partner, in dieser Frage wie in anderen Fragen. Aber es gibt eben eine etwas breiter angelegte Realität in China. Sie haben von der Hungerbekämpfung gesprochen. Sie haben, glaube ich, noch nie ein Wort zu den 1 Million muslimischen Uiguren verloren, die in Erziehungslagern eingesperrt sind. ({0}) Ich wünsche Ihnen jedenfalls, dass Sie es getan haben. – Ich habe aus der Linksfraktion noch nie ein Wort zu den Menschenrechtsverletzungen, zu der Annexion, die Russland zu verantworten hat, gehört. ({1}) Noch nie habe ich etwas davon gehört, meine Damen und Herren! ({2}) Sie haben – ich muss es leider sagen; man kann es eigentlich in jeder Sitzung des Auswärtigen Ausschusses erkennen – eine extrem einseitige, ideologische Wahrnehmung der Wirklichkeit. Wir treten weltweit für Demokratie, Freiheit, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit ein. Das habe ich hier gerade bekundet. Darauf können Sie sich verlassen. Wir würden uns über Ihre Unterstützung dabei freuen. Aber es gibt auch ohne Sie für die Haltung, die ich eben artikuliert habe, eine breite Unterstützung in diesem Hause, und das ist sehr wertvoll. ({3})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Wir fahren fort in der Rednerliste. Nächster Redner ist für die Fraktion der AfD der Kollege Jürgen Braun. ({0}) Augenblick noch mal. – Durch die Form der Abstimmung in der Lobby verlagern sich die Gespräche, die sonst draußen geführt werden, zunehmend hier in den Saal. Durch die offene Tür sickert das ins Plenum ein. Ich bitte noch mal darum, dass die Gespräche dort hinten in der Lobby an der Tür und nicht hier im Saal geführt werden, weil das eine permanente Unruhe erzeugt, die diese Debatte nicht gut verträgt. Also gehen Sie bitte raus, wenn Sie Gespräche führen wollen. – Vielen Dank. Herr Braun, Sie haben das Wort. ({1}) – Sie haben die Anordnungen des Präsidenten nicht zu kommentieren. Wenn Sie das noch einmal machen, handeln Sie sich einen Ordnungsruf ein. ({2}) Herr Braun, Sie haben das Wort.

Jürgen Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004680, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Präsident! Liebe Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die souveräne Gleichheit der Nationalstaaten ist eine wesentliche Grundlage des modernen Völkerrechts. Aus der Souveränität der Staaten folgt das Interventionsverbot. Die rein verbale Kritik an Menschenrechtsverletzungen in einem anderen Staat ist keine Verletzung dieses Interventionsverbots. Das ist im heutigen Völkerrecht unbestritten. Daran ändern auch abgenutzte politische Parolen von sogenannter unerlaubter Einmischung in innere Angelegenheiten anderer Staaten nichts. Jeder souveräne Staat muss es hinnehmen, wegen möglicher Menschenrechtsverletzungen von anderen kritisiert zu werden. ({0}) Das gilt auch für China, und zwar erst recht für China, weil Peking im UN-Menschenrechtsrat andere Staaten sehr gerne öffentlich kritisiert. Wer das tut, hat sich selbst auch der öffentlichen Kritik der anderen zu stellen. Die Kritik am politischen Vorgehen des kommunistischen Regimes ist keine Kritik am chinesischen Volk; es ist eine Kritik an der Gewaltherrschaft der kommunistischen Partei. Seit Generationen haben die Chinesen keine Möglichkeit, ihre Regierung frei zu wählen. Das kommunistische Regime schickt sich an, die demokratischen Rechte in Hongkong abzuschaffen. Mehr als anderthalb Millionen Menschen – das sind mehr als ein Viertel der Gesamtbevölkerung Hongkongs – haben den Mut gehabt, gegen das neue Sicherheitsgesetz zu protestieren. Die Ein-China-Politik ist ein Dogma, das auf Macht und letztlich nur auf nackter Gewalt beruht. Wäre die Führung der kommunistischen Partei nicht nur machtpolitisch geschickt, sondern auch staatspolitisch weise, dann würde sie sich an der vorbildlichen Entwicklung Taiwans orientieren. ({1}) Die freiheitliche Politik Taiwans ist nicht nur in der Bekämpfung des Coronavirus vorbildlich gewesen. Die Kanzlerin hat monatelang Flüge aus China unkontrolliert nach Deutschland gelassen, Taiwan dagegen hat sofort wirksame Kontrollen eingeführt und Flüge gestoppt. Daraus hätte die Bundeskanzlerin lernen können. Das wäre entschlossene Realpolitik gewesen. ({2}) Angela Merkel macht vor den chinesischen Kommunisten den Kotau. An der Bürgerrechtsbewegung in Hongkong zeigt sie sich demonstrativ desinteressiert. Kurz gefasst: Die Menschen in Hongkong sind Angela Merkel ähnlich egal wie das deutsche Volk. ({3}) Die Worte „deutsch“ oder „Deutschland“ spricht sie seit dem Herbst vor fünf Jahren kaum noch aus. ({4}) So viel Desinteresse am eigentlichen Souverän, dem deutschen Volk, hat noch kein Bundeskanzler gezeigt. ({5}) Frau Merkel sagte 2016 mit Blick auf Taiwan – Zitat –: „Wir stehen nach wie vor zur Ein-China-Politik und werden jetzt unsere Haltung nicht ändern.“ Die „Welt“ titelte kürzlich: „Eine neue China-Politik? Nicht mit Merkel“. Die Bundeskanzlerin bleibt beim Dogma „Ein China“. Das geht auch zulasten der mutigen Freiheitskämpfer in Hongkong. China hat sich in der chinesisch-britischen gemeinsamen Erklärung zu Hongkong gebunden. ({6}) Die Zusage an die Welt, aber vor allem an die Briten lautet grob: ein Land, zwei Systeme. – Es handelt sich hier um einen völkerrechtlich bindenden Vertrag. Zweifellos herrscht in Hongkong eine Gemengelage: Seit über 20 Jahren ist Hongkong ein Teil Chinas. Gleichzeitig gibt es klare Autonomieregelungen – nicht nur politische Absichtserklärungen, sondern völkerrechtlich verbindliche Regelungen. Für die AfD ist das Völkerrecht die wesentliche Grundlage ihrer Außenpolitik. ({7}) Das gilt selbstverständlich auch für Hongkong. ({8})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Nächster Redner ist für die Bundesregierung der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Niels Annen. ({0})

Niels Annen (Gast)

Politiker ID: 11003732

Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung verfolgt die Entwicklung in Hongkong sehr genau. Mit dem Beschluss des Nationalen Volkskongresses hat die Volksrepublik China angekündigt, ein Sicherheitsgesetz für die chinesische Sonderverwaltungszone Hongkong zu erlassen. Dieses Gesetz – es sind noch nicht alle Details bekannt – ist seit Langem Gegenstand politischer Auseinandersetzung. Hongkongs Grundgesetz sieht vor, dass ein Sicherheitsgesetz beschlossen werden muss, auf dessen Grundlage unter anderem Verrat, Sezession und Aufruhr verfolgt und bestraft werden sollen. Auch politische Aktivitäten von ausländischen politischen Organisationen in Hongkong sollen verboten werden. Bereits 2003 gab es den Versuch, ein solches Gesetz einzuführen. Sie alle, meine Damen und Herren, erinnern sich daran: Es endete in Massendemonstrationen. Das Vorhaben wurde aufgegeben. Bundesminister Maas hat gestern klargemacht – ich zitiere ihn –: Das hohe Maß an Autonomie Hongkongs darf nicht ausgehöhlt werden. Die Bürgerinnen und Bürger Hongkongs genießen Freiheiten und Rechte, die ihnen durch das Basic Law und den Grundsatz „ein Land, zwei Systeme“ gewährt werden. Wir erwarten, dass diese rechtsstaatlichen Prinzipien eingehalten werden. Und bereits am vergangenen Montag gab es eine EU-Demarche im chinesischen Außenministerium, bei der alle 27 EU-Mitgliedstaaten folgende Bedenken deutlich gemacht haben: Erstens. Wir haben ein starkes Interesse an Stabilität und Wohlstand in Hongkong im Rahmen des Prinzips „ein Land, zwei Systeme“. Zweitens. Wir legen großen Wert auf den hohen Grad der Autonomie Hongkongs, der sowohl durch das Basic Law als auch in internationalen Verpflichtungen garantiert wird. Drittens. Wir halten eine demokratische Debatte unter Einbeziehung aller relevanten Kräfte und die Achtung der Rechte und Freiheiten für Hongkong für den besten Weg zur Einführung eines Sicherheitsgesetzes. Meine sehr geehrten Damen und Herren, das geplante Sicherheitsgesetz wird mit einer schwerwiegenden Bedrohung der Stabilität Hongkongs begründet. Peking hofft offenbar, dadurch die Lage in Hongkong zu stabilisieren. Die Bundesregierung sieht diese schwerwiegende Bedrohung nicht. Im Gegenteil: Unsere Einschätzung ist vielmehr, dass nur der Geist von „ein Land, zwei Systeme“ zur Beruhigung der Lage in Hongkong führt. Der chinesische Außenminister Wang Yi hat erklärt, dass der hohe Grad an Autonomie, die Grundrechte und die Freiheiten der Hongkonger Bürgerinnen und Bürger sowie die legitimen Interessen ausländischer Investoren gewahrt bleiben. Diese Erklärung ist zu begrüßen. Europa wird Außenminister Wang Yi beim Wort nehmen. Im Rahmen von „ein Land, zwei Systeme“ sollten wichtige Gesetze zur inneren Ordnung Hongkongs durch die legislative Versammlung Hongkongs verabschiedet werden. Die Durchsetzung des Gesetzes sollte durch Hongkonger Behörden und die Auslegung des Gesetzes durch Hongkonger Gerichte erfolgen und Meinungs- und Versammlungsfreiheit geschützt bleiben. Unser Verständnis ist darüber hinaus, dass die üblichen Kontakte von ausländischen Diplomaten, Parlamentarierinnen und Parlamentariern, zivilgesellschaftlichen Organisationen zu politischen Kräften in Hongkong nicht beeinträchtigt werden sollten. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich erlaube mir die Bemerkung, da hier nun mehrfach angesprochen worden ist, dass sich die Bundesregierung und auch die Bundeskanzlerin nicht geäußert hätten: Gerade weil die Bundeskanzlerin unlängst formuliert hat – ich zitiere sie –, „dass China nicht irgendein Partner und Wettbewerber ist, sondern ein Land, mit dem es tiefgreifende Unterschiede in Fragen der Rechtsstaatlichkeit, Freiheit, Demokratie und der Menschenrechte gibt“, sind die engen und die substanzreichen Beziehungen zwischen Deutschland und China von so großem Wert. Sie wissen, dass wir eine etablierte Beziehung zur Volksrepublik China haben mit regelmäßigen Regierungskonsultationen, an denen übrigens nicht nur die Bundeskanzlerin persönlich und der Außenminister teilnehmen, sondern auch eine Reihe von zentralen Mitgliedern der deutschen Bundesregierung und des chinesischen Kabinetts. Sie wissen, dass es zahlreiche Dialogformate gibt inklusive eines Menschenrechtsdialoges, in dem diese Fragen regelmäßig angesprochen werden. Ich will hier aber auch sehr deutlich sagen: Von einer neuen globalen Konfrontation wird am Ende niemand profitieren. Deshalb – das ist mir sehr wichtig – wollen wir – ich sage das auch im Gegensatz zu einigen anderen Ländern, mit denen wir enge und freundschaftliche Beziehungen unterhalten – den hohen Grad an Autonomie Hongkongs auch zu diesem Zeitpunkt noch nicht vorschnell verloren geben. Wir werden, wenn es denn die Coronabedingungen zulassen sollten, was wir alle sehr hoffen, in den nächsten Wochen und Monaten sehr viele Gelegenheiten haben, mit China in einen Dialog zu treten: im Rahmen des EU-China-Gipfeltreffens, das für Ende Juni anvisiert ist – es wird im Moment daran gearbeitet, das zu realisieren; möglicherweise über eine Videoschalte –, aber auch – das ist hier angesprochen worden – beim geplanten EU-China-Gipfel in Leipzig, von dem wir hoffen, dass wir einen Weg finden, ihn zu realisieren. Wir werden, meine sehr verehrten Damen und Herren, alles daransetzen, eine gute Lösung zu finden, mit der Stabilität, Recht und Freiheit für Hongkong im Einklang mit „ein Land, zwei Systeme“ gewahrt bleiben können. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({0})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion Die Linke der Kollege Stefan Liebich. ({0}) Eine Sekunde, Herr Liebich. – Die Zeit für die namentliche Abstimmung ist abgelaufen. Es geht um die Abstimmung über die Beschlussempfehlung zum Bundeswehreinsatz in Mali. Deshalb frage ich: Gibt es noch ein Mitglied des Hauses, das noch nicht abgestimmt hat? ({1}) – Dann aber schnell. – Bitte sehr, Sie haben das Wort.

Stefan Liebich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004093, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich kann gut verstehen, dass die gestern vom Nationalen Volkskongress in Peking nahezu einstimmig auf den Weg gebrachte Gesetzgebung zum Schutz der nationalen Sicherheit in der chinesischen Sonderverwaltungsregion Hongkong viele Menschen dort, aber nicht nur dort, sondern auch in Taiwan und in aller Welt in Sorge versetzt hat. Sie haben auch allen Grund dazu. Denn die Volksrepublik China von heute ist eine andere als die Volksrepublik China im Jahr 1997, als nämlich das zu Unrecht vom Vereinigten Königreich geraubte und kolonialisierte Hongkong endlich an China zurückgegeben wurde. Ich finde, auch daran müssen wir erinnern: an die kolonialen Verbrechen des Westens, auch Deutschlands. ({0}) China war damals ein anderes Land. Es war natürlich auch damals kein demokratisches Land. Aber dass die Amtszeitbegrenzung des Partei- und Staatschefs aufgehoben werden würde, die aus guten Gründen in der Nach-Mao-Zeit eingeführt wurde, das hätte damals wohl keiner geahnt. Ja, es stimmt, der Wohlstand der Menschen in der Volksrepublik China ist in dieser Zeit gewachsen. Hunderte Millionen Menschen wurden aus der Armut geholt. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die Freiheitsrechte nicht im gleichen Maße Schritt gehalten haben. Herr Röttgen, hier würde ich Sie bitten, gut zuzuhören. Die Zahl der Überwachungskameras ist explodiert. Ein Punktesystem normiert die Menschen in ihrem Alltag. Die muslimische Volksgruppe der Uiguren wird unsäglichen Repressionen ausgesetzt, und sogar ein staatlicher Missbrauch der Corona-App zeichnet sich bereits ab. All dem widersprechen wir als Linke immer wieder klar und deutlich. Deswegen ist Ihre Aussage einfach nicht wahr. ({1}) Das sehen auch die Menschen in Hongkong. Sie wissen, dass das völkerrechtlich verbindliche Prinzip „ein Land, zwei Systeme“ nur für eine Übergangszeit mit einem Ablaufdatum ab dem Jahr 2047 verabredet wurde. Ich hatte als stellvertretender Vorsitzender der Deutsch-Chinesischen Parlamentariergruppe, der ich seit sieben Jahren sein darf, häufig die Gelegenheit, in China und auch in der Sonderverwaltungszone Hongkong Gespräche zu führen. Es ist nicht überraschend, dass die Gespräche dort vor Ort nicht ganz so schwarz-weiß verlaufen, wie es hier manchmal ankommt. Ich kann ja verstehen, dass die jungen Menschen, die heute Mitte 20 sind, die nichts anderes erlebt haben als das Grundgesetz, das Basic Law, besorgt sind, wenn die Spielräume immer enger werden, die Zugriffe Pekings immer härter. Ich erinnere an den schwedisch-chinesischen Buchhändler, der entführt und dann zu zehn Jahren Haft verurteilt wurde. Aber es gibt in Hongkong eben auch – auch daran muss hier erinnert werden – die Business People, die sich sehr gut an die Kolonialzeit erinnern, als sie übrigens auch nicht wählen konnten, wer sie regiert, und denen es damals wie heute vor allen Dingen um Geschäfte geht, übrigens heute vor allem Geschäfte mit den Kapitalisten auf dem chinesischen Festland. Auch das gehört zur Wahrheit. Sie sind nicht die Ersten, die für Freiheitsrechte eintreten. Ich kenne auch Gesprächspartner in China – auch die kann ich verstehen –, die nicht akzeptieren wollen, wenn einige Politiker im Westen, besonders in Washington, so tun, als sei Hongkong nicht Teil von China und als hätten sie dort etwas zu sagen. ({2}) Ich muss auch ehrlich sagen: Ich finde nicht alle Aktionsformen der Demonstrantinnen und Demonstranten akzeptabel. ({3}) Brandsätze, Belagerung von Flughäfen und im öffentlichen Nahverkehr – ich glaube, damit gewinnt man nicht den Rückhalt der Bürgerinnen und Bürger in Hongkong. ({4}) Trotzdem: Die erste Verantwortung für Gewaltlosigkeit haben natürlich jene, die das Gewaltmonopol innehaben, nämlich die Sicherheitskräfte. Es ist keine gute Nachricht, dass in dem hier diskutierten Sicherheitsgesetz beschlossen wird, dass Sicherheitskräfte der Zentralregierung künftig in Hongkong agieren können. Auch generell: Der ganze Gesetzentwurf atmet den Geist von größtmöglicher Distanz zu dem, was einmal beschlossen wurde. Man wolle das hohe Maß an Autonomie künftig buchstabengetreu umsetzen. Also schärfer kann man sich kaum distanzieren. Das ist keine gute Nachricht. Wir diskutieren jetzt hier, ob man darauf als Deutscher Bundestag reagieren soll und, wenn ja, wie. Ich finde, das sollten wir. Man darf erwarten, dass die Bundesregierung auf die Einhaltung völkerrechtlich bindender Verträge drängt. Da sollen wirtschaftliche Interessen Angela Merkel und Heiko Maas nicht verstummen lassen. Ja, das stimmt, das gilt für die Türkei, das gilt für Saudi-Arabien, und das gilt für die Volksrepublik China. ({5}) Wenn man eine Haltung hat, dann sollte man sie zeigen, gerade dann, wenn es schwierig ist. Wogegen ich allerdings wäre, das wären die Verhängung von Sanktionen und die Absage von Gesprächsformaten. Gerade jetzt brauchen wir doch den EU-China-Gipfel in Leipzig. ({6}) In einer Welt, die immer regelloser wird, müssen wir doch über Multilateralismus reden, über die Einhaltung des Völkerrechts und friedliche Koexistenz, offen, kritisch und ehrlich. Eine Absage würde hier nichts besser machen, auch nicht für die Menschen in Hongkong. ({7}) Herr Röttgen, Sie haben über Interessen geredet. Wenn wir über Interessen reden, dann müssen wir auch klar sagen, dass wir uns nicht zum Teil des Wirtschaftskriegs der Vereinigten Staaten gegen die Volksrepublik China machen lassen dürfen. ({8}) Das ist nicht in unserem Interesse, zumal die USA ja selber gesagt haben, dass unter Umständen die Europäische Union die nächste Adresse ist. Das müssen wir doch im Kopf haben. Eines will ich noch sagen: Ich habe manchmal das Gefühl, dass weder in Washington noch in Peking ein großes Interesse am Zusammenhalt der Europäischen Union existiert. Deswegen ist auch eine deutsche Antwort auf den jetzigen Vorschlag der falsche Weg. Unser Weg sollte ein anderer sein. Wir sollten hier keine deutschen Alleingänge betreiben. Die Bundesregierung sollte sich nicht wegducken. Sie sollte reagieren: mit Haltung, mit Augenmaß, geschichtsbewusst und europäisch. ({9})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Ich schließe jetzt die namentliche Abstimmung über die Beschlussempfehlung zum Bundeswehreinsatz EUTM Mali und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Wir fahren fort in der Debatte. Das Wort hat als Nächste die Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Katrin Göring-Eckardt ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler der DDR und noch mehr 1989 wussten wir: Der Westen, die freien Gesellschaften schauen auf uns, und das ist unser Schutz. Solange sie hinsehen, solange darüber berichtet wird, sind wir nicht vergessen. Solange sie für uns eintreten, sind wir der Willkür jedenfalls nicht vollständig ausgeliefert. Ich bin vor sieben Monaten unter anderem in Hongkong gewesen und habe dort Aktivistinnen und Aktivisten, Akteurinnen und Akteure der Demokratiebewegung getroffen. Ihr Mut, für Freiheit und Demokratie einzutreten, hat mich sehr bewegt. Natürlich ist es nicht dasselbe wie die DDR-Diktatur, aber es hat mich auch erinnert. Sie brauchen unsere Unterstützung, unser Hinsehen. Das ist ihr Schutz. Das ist unsere Verantwortung, meine Damen und Herren. ({0}) Gestern hat der chinesische Volkskongress die Ausarbeitung des sogenannten Sicherheitsgesetzes für Hongkong beschlossen; das ist hier hinreichend besprochen worden. Das ist das Ende, das ist wirklich das Ende des Prinzips „ein Land, zwei Systeme“. Es ist eine Katastrophe für die Bürgerinnen und Bürger Hongkongs. Das ist ein eklatanter Völkerrechtsbruch. Daran führt kein Weg vorbei. Diese Einschätzung ist klar; sie ist eindeutig. Das Gesetz schafft die Möglichkeit, chinesische Sicherheitskräfte direkt in Hongkong zu stationieren und gegen Aufruhr und Subversion vorzugehen. Also machen wir uns keine Illusionen: Die chinesische Führung wird diese Begriffe hart gegen die Freiheit auslegen. Es wird heißen, dass sich jemand wie Glacier Kwongoder Joshua Wong für ihre Gastbeiträge in der „Welt“ strafbar machen. Es kann heißen, dass die Studentin, die ich getroffen habe, Joey Sui, die vor dem US-Kongress die Sicht der Demonstrierenden schilderte, ins Gefängnis muss. Es kann ebenso deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, deutsche Firmen treffen, wenn sie sich zukünftig kritisch zu Hongkong äußern. Das alles ist Grund genug, sich einzumischen und klar zu sagen, welche Position wir haben, meine Damen und Herren. ({1}) Man muss sich vor dem Hintergrund des Bruchs des Völkerrechts und des In-Gefahr-Bringens der Menschenrechte fragen: Was sind eigentlich die anderen internationalen Verträge mit China noch wert? Die EU-Kommission hat letztes Jahr die Herausforderung China so beschrieben: Kooperationspartner, Verhandlungspartner, systemischer Rivale; das ist hier schon deutlich geworden. Ich finde, was nicht geht, ist, dass man an sechs Tagen die Woche sagt: „Kooperationspartner“ und „Verhandlungspartner“, und am siebten Tag, weil Sonntag ist, redet man über „systemischer Rivale“. Herr Annen, Sie haben das Zitat der Bundeskanzlerin hier genannt. Aber wenn man sich die Politik der Bundesregierung ansieht, wenn man sich die Laschheit der Äußerungen anschaut, dann nehme ich eben an: Das ist leider nur ein Feigenblatt. Das ist nicht die Änderung der Politik, die jetzt so dringend notwendig wäre, meine Damen und Herren. ({2}) Herr Annen, Sie haben vom Menschenrechtsdialog gesprochen. Vielleicht können Sie uns heute hier sagen, ob und wann er dieses Jahr stattfinden wird. Es wäre nämlich extrem wichtig, dass der Menschenrechtsdialog stattfindet und dass man dort genau diese Dinge besprechen kann. ({3}) Herr Liebich, mein Vorredner, hat vollkommen recht: Es braucht jetzt eine starke Stimme der EU. Es braucht nach dieser Zäsur eine grundsätzliche Neuorientierung unseres Umgangs mit China und eben keine windelweichen Erklärungen mehr. Deswegen, Herr Maas, starten Sie heute beim Treffen der EU-Außenminister endlich einen strategischen Dialog für eine europäische Antwort auf diese chinesische Eskalation. Die Bundeskanzlerin bitte ich herzlich: Stellen Sie sicher, dass über Pekings Vertragsbrüche spätestens – spätestens! – beim Treffen in Leipzig gesprochen wird. Das muss dort auf den Tisch. Wir können nicht so tun, als ob das keine Rolle spielt. Das, was Herr Röttgen hier über unsere Grundsätze und über unsere Verantwortung gesagt hat, spricht für mich eins zu eins dafür, dass man nicht so tun kann, als ob man hier einmal über Verträge und Wirtschaft redet und ein schönes Treffen auf offener Bühne macht, was dann für alle eine wunderbare PR-Aktion ist. Nein, diese harten Sachen müssen angesprochen werden. Sie müssen auf die Tagesordnung; daran führt kein Weg vorbei. ({4}) Deswegen bitte ich auch darum, dass sich die EU-Ratspräsidentschaft – wir – dafür einsetzt, dass sich alle Mitgliedstaaten hinter einen kritischen Dialog gegenüber China vereinen. Das wird aber nur gelingen, wenn wir unsere privilegierte starke Position gegenüber China in den Dienst der gemeinsamen europäischen Sache stellen. Das geht nicht, wenn man weiterhin versucht, statt Außenpolitik Autopolitik zu machen. Unsere Wirtschaft, viele Unternehmerinnen und Unternehmer, die in China aktiv sind, sagen uns heute: Wir brauchen tatsächlich eine andere Politik: für die Ökonomie, aber übrigens auch für die Menschen, für die deutschen Staatsbürger, die in China aktiv sind, für die Familienangehörigen. Diese sagen heute schon: Wir haben keine Lust mehr, dahin zu gehen, weil uns das zu gefährlich wird. – Also, es ist eine Menschenrechtsfrage. Es wird jeden Tag mehr auch eine ökonomische Frage in den deutsch-chinesischen Beziehungen, meine Damen und Herren. ({5}) Deswegen: Wir Europäerinnen und Europäer müssen zusammen mit unseren Partnern in der G 7, in der Allianz der Multilateralisten und in den Vereinten Nationen klare Stoppschilder aufstellen: Stopp zur chinesischen Landnahme im Südchinesischen Meer! Stopp zur Aushebelung der Freiheiten von Hongkong, zur neuen Kriegsrhetorik gegenüber Taiwan; darüber ist heute hier noch nicht gesprochen worden. Stopp zu den massiven Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang und in Tibet! Stopp zur Ignoranz gegenüber WTO-Regeln und übrigens auch zur Diskriminierung europäischer Unternehmen, meine Damen und Herren, und zu den Hackerangriffen in Europa. Wir müssen auch über Huawei reden. Wir können darüber nicht weiter hinwegsehen. Das geht nicht. ({6}) Jetzt habe ich hier viel darüber gehört, worüber man sich alles einig ist. Deswegen, finde ich, wäre es doch für dieses Parlament nach dieser Debatte heute ein guter Schritt, wenn wir das, was die beiden Vorsitzenden der Koalitionsfraktionen deutlich gemacht haben, nämlich wie wichtig das Parlament ist, ernst nehmen und alles daransetzen, hier eine gemeinsame parlamentarische Antwort zu finden. Herr Röttgen, ich bitte Sie sehr, das zu unterstützen. Das wäre ein guter, ein wichtiger Schritt. Wenn Teile der Linksfraktion und die AfD da nicht mitmachen wollen, ist das gar kein Problem. ({7}) Ich glaube, es wäre ein gutes Signal für die Menschen, die ihr Leben riskieren, die ihre Gesundheit riskieren, die in Hongkong auf die Straße gehen. ({8}) Das ist unsere Verantwortung und ihr Schutz, meine Damen und Herren. – Sie können dann weiterpöbeln. Danke schön. ({9})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Michael Brand. ({0})

Michael Brand (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003742, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Hongkong ist nicht irgendeine chinesische Metropole. Hongkong ist das Synonym für die Hoffnung auf Freiheit und Menschenrechte für China. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, in Ihrem Antrag steht vieles Richtige. Aber eines ist völlig klar: Die Antwort kann doch jetzt nicht sein: Weniger Dialog! Vielmehr muss die Antwort sein: Mehr Dialog! Die entscheidenden zwei Worte dabei sind: Dialog auf „Augenhöhe“. ({0}) In Leipzig darf es nicht nur um das Thema Wirtschaft gehen, sondern es muss auch um das Thema Menschenrechte gehen, und das sehr deutlich mit Blick auf Hongkong, Taiwan und die Bürgerinnen und Bürger in China. ({1}) Die kommunistische Diktatur, die China seit Jahrzehnten im brutalen Griff hat, verletzt millionenfach fundamentale Bürgerrechte und garantierte Menschenrechte. Sie interniert aktuell 1 Million unschuldige Uiguren in Lagern, führt seit Jahrzehnten eine gezielte Auslöschungskampagne gegen die tibetische Kultur. Christen sind millionenfach unter Druck. Peking provoziert gerade in dieser Woche militärisch den mächtigen, aber demokratischen Nachbarn Indien. Der Führer – denn so lässt sich Xi Jinping von der Propaganda ja auch selbst nennen – hat entschieden, die Handschuhe auszuziehen und Tabula rasa zu machen. Er will unter offener Verachtung und dem Bruch internationaler Verträge den Status von Hongkong endgültig zerschlagen. Er will den „widerspenstigen“, den demokratischen und freiheitlichen Widerstand dort endgültig wegbrechen. Seit über einem Jahrzehnt gehen in Hongkong Menschen allen Alters, aller Berufe, aller Schichten der Bevölkerung für Freiheit auf die Straße. Zuletzt waren es trotz Repression 2 Millionen Menschen. Es war vor der ganzen Welt ein gewaltiges antikommunistisches Manifest. Selbst die massivste Propaganda der KP hat keine Chance gegen die Idee der Freiheit. In Hongkong, liebe Kolleginnen und Kollegen, geht es doch nicht um die „inneren Angelegenheiten“. Freiheit und Menschenrechte sind universell, die Bedrohung durch China übrigens auch. Hongkong ist dafür weltweites Symbol, so wie einst Berlin das weltweite Symbol gewesen ist. Hongkong hat sich so wie Berlin gegen die Übernahme durch eine kommunistische Diktatur zur Wehr gesetzt. Hongkong setzt sich immer noch tapfer zu Wehr. So wie die freie Welt mit der Verteidigung der Freiheit von Berlin ein weltweites Signal geschickt hat, nämlich: „Wir sind nicht bereit, der Diktatur den Durchmarsch zu erlauben, wir verteidigen die Freiheit, und wir glauben an den Sieg der Freiheit und der Demokratie“, genauso wird heute die veränderte Bedrohung der Freiheit am Beispiel von Hongkong mitentschieden. Die ganze Welt schaut deshalb auf Hongkong, wie sie damals auf Berlin geschaut hat. Die Welt beobachtet gespannt, ob die demokratische Welt noch die Kraft hat, der totalitären Herausforderung erfolgreich Widerstand zu leisten. Wenn wir die chinesische Führung im Unklaren darüber lassen, dass wir wie damals während des Kalten Krieges zur Verteidigung von Freiheit und Menschenrechten bereit sind, dann sind nicht nur Hongkong und Taiwan in Gefahr. Dann ist die existierende internationale Ordnung gefährdet. Es ist, liebe Kolleginnen und Kollegen, eine gefährliche Illusion, zu glauben, dass die KP-Führung ihre Expansion stoppen würde, wenn wir aus Angst vor einem vermeintlich übermächtigen Gegner den Kotau statt der geraden Haltung einüben. ({2}) China ist auch bei Weitem nicht so stabil, wie es wegen seiner Größe und seiner wirtschaftlichen Potenz von außen her erscheint. Wer sich mit dem Land intensiver beschäftigt, der weiß, dass es gewaltige Probleme gibt: von wirtschaftlicher Entwicklung, gewaltiger Verschuldung, Umweltbedrohung, Ernährung der Bevölkerung bis hin zu Überalterung und mehr. Die Führer der KP Chinas wissen das, und sie versuchen deshalb, Fakten zu schaffen, solange der Westen schwach ist. Wir sind nicht entschieden genug; wir sind bislang gegenüber China zu schwach. Es liegt im ureigensten Interesse der Bundesrepublik Deutschland, dass wir, bevor China weiter eskaliert, mit unseren Verbündeten in Asien, in den USA und vor allen Dingen als Europäer – das muss die Antwort auch in Leipzig sein – ganz unmissverständlich ein Zeichen setzen. Bei Hongkong geht es um eine fundamentale Entscheidung über das Gesicht der Welt in den nächsten Jahrzehnten und auch darüber hinaus. Eine historisch einmalige Weltordnung von Menschenrechten, Freiheit, Wohlstand und Frieden ist zu verlieren. Hongkong ist der Platz, an dem diese Frage auch mitentschieden wird. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht um das Gesicht der Welt von morgen. Nicht allein Chinesen haben ein Gesicht zu verlieren, sondern auch wir haben ein Gesicht zu verlieren. Zeigen wir am Beispiel Hongkongs, dass unsere Werte und Überzeugungen nicht bloße Maske sind. ({3})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der AfD der Kollege Dr. Roland Hartwig. ({0})

Dr. Roland Hartwig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004738, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Zuschauer! Ein neues Gesetz für Hongkong erhält momentan in Medien und Politik viel Aufmerksamkeit. Der vorliegende Antrag der FDP fordert uns sogar auf, dieses Gesetz zu verurteilen. Bemühen wir uns doch bitte auch hier, eine sachliche und ausgewogene Perspektive zu finden. Als Großbritannien Hongkong 1997 an China zurückgegeben hat, wurde vereinbart, dass die Region Hongkong innerhalb Chinas für 50 Jahre weitgehende Sonderrechte behält. Das Hongkonger Grundgesetz sieht vor, dass die Regierung Gesetze erlässt, die den notwendigen rechtlichen Rahmen für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung schaffen. Ein entsprechendes Gesetzesvorhaben wurde 2003 durch Straßenproteste verhindert; die Gesetzeslücke bis heute nicht geschlossen. Die Notwendigkeit aber, ebendies zu tun, wurde mit Einsetzen der überwiegend friedlichen, teils aber auch gewalttätigen Demonstrationen in Hongkong Mitte vergangenen Jahres deutlich. Ein Teil der Demonstranten stürmte und verwüstete das Parlament und den Flughafen, legte den U-Bahn-Betrieb und andere Bereiche des öffentlichen Lebens lahm, warf Molotowcocktails und verunglimpfte chinesische Hoheitszeichen. Einige fordern sogar, Hongkong aus dem chinesischen Staatsgebiet herauszulösen. Dies sind keine vermeintlichen Sicherheitsrisiken, wie die FDP in ihrem Antrag formuliert, sondern reale Probleme, auf die ein Staat eine Antwort finden muss. ({0}) Die der Zentralregierung in Peking sieht so aus, dass sie die seit 23 Jahren bestehende Gesetzeslücke nun selbst schließt, um einen Rechtsrahmen zu schaffen, der es erlaubt, die öffentliche Ordnung wiederherzustellen. Darf die Zentralregierung formalrechtlich diese Gesetzeslücke selbst schließen? Hier gehen die Meinungen auseinander. Die chinesische Regierung sagt Ja, die britische sagt Nein. Die Hongkonger Regierungschefin sagt Ja, die Opposition sagt Nein. ({1}) Ein weiterer Aspekt ist die Frage, welche Auswirkungen das neue Gesetz auf die garantierten Sonderrechte in Hongkong insgesamt haben wird. China hat diese bisher respektiert, und das Prinzip „ein Land, zwei Systeme“ ist offensichtlich auch im Artikel 1 des neuen Sicherheitsgesetzes verankert. Beides gibt Anlass zu der Erwartung, dass Peking auch hier zukünftig vertragstreu sein wird. Erlauben Sie mir, zum Abschluss auf eine Beobachtung einzugehen. In der jüngeren Vergangenheit wurden immer wieder humanitäre Argumente bemüht, um Unruhen zu unterstützen, Kriege zu führen und Regierungen zu stürzen. Menschenrechte im Irak, in Syrien und in Libyen waren von Interesse, solange sie als Vorwand dienten, um geopolitische Schachzüge zu rechtfertigen. Damit stellt sich auch hier die Frage: Wird nun vor unseren Augen die Hongkonger Bevölkerung mit großem politischen und medialen Getöse als Instrument im chinesisch-amerikanischen Konflikt in Stellung gebracht? ({2}) Ich hoffe es nicht, mahne daher zur Versachlichung der Diskussion und wünsche den Menschen dort eine friedliche Zukunft. Vielen Dank. ({3})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion der SPD der Kollege Frank Schwabe. ({0})

Frank Schwabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003846, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! In der Tat – dieser Schlenker sei mir gestattet – ist es ein bisschen schizophren, was Sie von der AfD veranstalten. Ich frage mich die ganze Zeit, welche Rede Sie eigentlich online stellen werden; denn Sie haben hier völlig konträre Positionen vertreten. Ist aber nicht so schlimm. ({0}) Wir reden hier über die Frage von Menschenrechten, von Demokratie und von Rechtsstaat. Das sind in der Tat unteilbare Fragen. Ich habe es schon ein paar Mal gesagt und sage es immer wieder: Jeder hat so seine eigenen Reflexe, aber es wäre trotzdem gut, wenn wir denen nicht erliegen würden und nicht Menschenrechtsfragen sozusagen nach der Landkarte oder der Geografie beurteilen, sondern Menschenrechtsfragen dort ansprechen, wo es notwendig ist, und die Verletzung von Menschenrechten gemeinsam dort verurteilen, wo es notwendig ist. Das sage ich einmal so ganz allgemein. ({1}) Was China angeht, ist es leider so, dass es dort eine Reihe von Menschenrechtsverletzungen gibt – viele davon sind angesprochen worden –, die über die Lage in Hongkong hinausgehen, wie die Frage der Uiguren, ({2}) die Kritik an Organentnahmen, die Unterdrückung von Journalistinnen und Journalisten, Menschenrechtsverteidigern usw. Was der richtige Mechanismus dafür ist, dem zu begegnen, darüber müssen wir in der Tat diskutieren. Ich bin durchaus offen dafür, wenn bei solchen Fragen Magnitskij-Gesetze diskutiert werden. Ich bin offen dafür, bei solchen gravierenden Menschenrechtsverletzungen das Völkerstrafrecht zu diskutieren. Ich glaube, Deutschland geht dort mit gutem Beispiel voran. Ich war eigentlich geneigt, der FDP zu danken – ich will es immer noch machen – für die Initiative, diese Debatte hier zu führen; das ist gut. Trotzdem glaube ich, Sie müssen ein bisschen aufpassen, dass Sie sich in Ihrem Elan – ich hätte fast gesagt: in Ihrem jugendlichen Elan – nicht überschlagen und jetzt sozusagen alles durcheinanderwerfen. Dankenswerterweise – ich habe es gerade noch einmal nachgelesen – wird die Forderung, dass der China-EU-Gipfel abgesagt werden soll, im Antrag der FDP gar nicht aufgestellt. Insofern wäre es vielleicht ganz gut, wenn die FDP das hier noch klarstellt. Das macht jedenfalls keinen Sinn; ganz im Gegenteil: Wir müssen darüber diskutieren, was wir von China verlangen, und müssen das dann im Dialog mit ihnen auch entsprechend einbringen. Ich glaube, das ist der richtige Weg. ({3}) Bei aller Kritik und bei aller Auseinandersetzung ist es, glaube ich, doch wichtig, dass heute ein – –

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Jensen?

Frank Schwabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003846, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Gyde Jensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004941, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herzlichen Dank. – Herr Schwabe, das mit dem jugendlichen Leichtsinn nehme ich Ihnen nicht so übel. ({0}) Der Grund, warum in unserem Antrag noch nicht steht, dass der EU-China-Gipfel abgesagt werden soll, war der Hebel, den die Bundesregierung bis dato hatte, als das Sicherheitsgesetz eben noch nicht verabschiedet war bzw. das Standing Committee mit der Verabschiedung beauftragt wurde. Man hätte diesen Hebel nutzen können, dass die Sprache möglicherweise noch heruntergeschraubt wird und drakonische Strafen eben nicht, so wie sie jetzt da drinstehen, aufgesetzt werden. Deswegen ist der Antrag innerhalb dieser zwei Tage aus unserer Perspektive – deswegen haben wir hier gefordert, den EU-China-Gipfel abzusagen – angepasst worden. Ich denke, es ist in einer so aktuellen Debatte durchaus legitim, neue aktuelle Ereignisse dann auch entsprechend neu zu bewerten. ({1}) Gehen Sie nicht mit in der Annahme – wir haben das im Menschenrechtsausschuss schon debattiert –, dass dieser Gipfel, auf dem die chinesische Regierung ihre Propaganda dann auf öffentlicher Weltbühne machen würde, nicht das richtige Dialogforum ist? Es geht explizit nicht darum, dass wir als FDP sagen: Wir sprechen uns gegen Dialog aus. ({2}) Es geht nur darum, dass wir einen solchen Gipfel, diese Öffentlichkeit, die die chinesische Regierung dann missbrauchen würde, nicht für den richtigen Weg als Reaktion auf die derzeitige Situation halten. ({3})

Frank Schwabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003846, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin Jensen, vielen Dank. Ich nehme den spontan aufgekommenen Unterton, was das Jugendliche angeht, auch gerne zurück. ({0}) Es stimmt – da haben Sie recht –, das sollte man nicht machen. Ich meine, es ist ja gut, dass das jetzt noch einmal geklärt wird, weil es im Antrag in der Tat nicht steht. Die Argumentation finde ich zwar ein bisschen, sagen wir einmal, herbeigezogen, aber es ist interessant, das klarzumachen. Wenn ich es richtig verstehe, ist die FDP aber die einzige Fraktion im Deutschen Bundestag, die sagt: Diesen Dialog wollen wir gar nicht führen. Ich sage es noch einmal: Ich bin bei denen, die sagen: Volle Kritik an dem, was China macht, gerade gegenüber Hongkong; aber am Ende sollten wir zusammenkommen. Wir werden ja sehen, wie sich die Chinesen auf diesem Gipfel verhalten. Ich glaube, die Bauchschmerzen auf chinesischer Seite sind am Ende größer, wenn wir die Kritik vorher klar und deutlich formulieren. Das tut der Deutsche Bundestag heute durchaus. Insofern sollte der Gipfel wie geplant stattfinden. ({1}) Ich wollte eigentlich noch einmal die Gemeinsamkeit bemühen und auf das eingehen, was schon angesprochen wurde. Der Menschenrechtsausschuss des Deutschen Bundestages hat sich in der Tat in breiter Einigkeit positioniert. Das kann man hier noch einmal zur Kenntnis geben. Ich darf zitieren aus der Erklärung, die der Menschenrechtsausschuss abgegeben hat: Die Mitglieder des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe stehen an der Seite der Tausenden friedlichen Demonstrierenden, die gegen die Einschränkung ihrer Menschenrechte sowie die Untergrabung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit protestieren. Weiter heißt es: Der Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe des Deutschen Bundestages fordert die chinesische Regierung auf, das international breit kritisierte und widerrechtliche Gesetzesvorhaben sofort fallen zu lassen, den freiheitlichen Status Hongkongs nicht weiter zu gefährden und internationale Verträge einzuhalten. Es ist wichtig, dass das als gemeinsame Botschaft bei aller Kontroverse der Debatte bestehen bleibt. Wie soll also die Welt auf das reagieren, was China im Bereich Hongkong plant? Wir haben gerade die Rolle der USA durchaus kritisch beleuchtet. Es ist leider ein Problem, dass die USA multilaterale Verabredungen kontinuierlich untergraben. Ansonsten wäre es viel glaubwürdiger, wie die USA gerade gegenüber China auftreten. Trotzdem will ich sagen: Da gibt es eine Gemeinsamkeit in der Einschätzung. Wir sollten mit den USA zumindest darüber diskutieren, wie wir dort gemeinsam vorgehen. Ansonsten hat Bundesaußenminister Heiko Maas – Staatsminister Annen hat das unterstrichen – parallel beim EU-Treffen deutlich gemacht, dass es wichtig ist, eine entschlossene und geschlossene Haltung der EU zu haben, und dass wir die Ratspräsidentschaft im Hinblick auf den EU-China-Gipfel, über den hier vielfach diskutiert wurde, nutzen wollen. Deswegen: Boykotte bringen uns nicht weiter, wohl aber eine glasklare Sprache. Die Kritik am Bundesaußenminister ist in hohem Maße unangemessen. Man muss sich nur ein paar Monate zurückbeamen. Damals hat sich Heiko Maas mit Joshua Wong getroffen; das war ein klares Zeichen. Das wurde in China im Übrigen auch so aufgefasst. Das hat zu einer gewissen Eiszeit in den diplomatischen Beziehungen geführt. Insofern kann man Heiko Maas am wenigsten vorwerfen, sich nicht klar positioniert zu haben. ({2}) Ich will noch einmal betonen, dass das, was wir hier diskutieren, in keiner Weise antichinesisch ist. Ganz im Gegenteil: Wir machen das in Freundschaft mit China. Wir sprechen uns für Menschenrechte, für den Rechtsstaat und für das Gelten internationaler Verabredungen aus. Wir diskutieren gerade ganz viel darüber, was Corona eigentlich mit uns macht und welche Systeme auf der Welt erfolgreicher sind, ob vielleicht sogar Diktaturen erfolgreicher mit Coronaherausforderungen umgehen können oder ob es Demokratien sind. Mein Eindruck ist, dass das, was China gerade macht, eigentlich kein Zeichen von Stärke ist, sondern ein Zeichen von Schwäche. China hat Angst, dass es in Hongkong einen Nukleus an Demokratie, Menschenrechten und Freiheit gibt, der sich am Ende auf China auswirken könnte. Es ist wichtig für uns, deutlich zu machen: Die Demokratie, das demokratische System, ist am Ende das erfolgreichere und das richtige System. Abschließend noch einmal: Wir stehen breit, mit überwältigender Mehrheit im Deutschen Bundestag an der Seite derjenigen, die in Hongkong für Freiheit und Demokratie demonstrieren. Vielen Dank. ({3})

Bijan Djir-Sarai (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004029, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine Damen und Herren! Lieber Frank, ich werde hier auch als Vertreter der Jugend meine Rede halten. ({0}) Meine Damen und Herren, während wir uns in Deutschland, Europa und überall auf der ganzen Welt mit den Folgen des Coronavirus beschäftigen, nutzen autokratische Staaten auf der ganzen Welt diese Krise, um die Freiheitsrechte der Menschen schrittweise immer weiter abzubauen. Das chinesische Sicherheitsgesetz für Hongkong ist ein trauriger Beweis dafür und der dramatische Höhepunkt einer Entwicklung, die sich schon lange so abgezeichnet hat. Sie ist gleichzeitig ein Indiz dafür, dass unser Einsatz für Freiheit und Menschenrechte auch in Zeiten einer globalen Krise niemals aufhören darf. ({1}) Denn dieses Gesetz richtet sich nicht nur gegen das Prinzip „ein Land, zwei Systeme“, das die Volksrepublik China den Menschen in Hongkong versprochen hat. Dieses Gesetz richtet sich ganz bewusst gegen die individuellen Rechte und Freiheiten der Menschen, die seit Monaten in Hongkong auf der Straße für mehr Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit kämpfen, meine Damen und Herren. ({2}) Viel zu lange schon schweigt der Westen gegenüber diesen Entwicklungen. Viel zu lange schweigt der Westen zu Menschenrechtsverletzungen in China, und viel zu lange wird Peking ausschließlich wirtschaftspolitisch betrachtet. Meine Damen und Herren, bei jeder Debatte, bei jeder Gelegenheit wird in diesem Haus gesagt, dass unsere Außenpolitik interessengeleitet und werteorientiert sein soll. Die Politik dieser Bundesregierung gegenüber China ist aber weder interessengeleitet noch werteorientiert. Die Politik dieser Bundesregierung gegenüber China ist feige und bestenfalls naiv. ({3}) Anstatt Angst vor möglichen chinesischen Reaktionen zu haben, muss die Bundesregierung endlich den Mut haben, die Politik Pekings zu kritisieren. Und sie darf keine Angst vor möglichen politischen Folgen haben. Es kann nicht sein, dass der deutsche Außenminister und die gesamte Bundesregierung tagelang nicht in der Lage waren, sich zu diesem ungeheuerlichen Vorgang zu äußern. Die chinesische Führung schaut sehr genau nach Europa. Die chinesische Führung schaut sehr genau nach Deutschland. Deutschland muss sich klar positionieren und sich kompromisslos hinter die Demokratiebewegung in Hongkong stellen, meine Damen und Herren. ({4}) Schon längst hätte die Bundesregierung den Druck auf die chinesische Führung erhöhen müssen. Schon längst hätte der Außenminister, hätten wir den chinesischen Botschafter einbestellen müssen. Die Bundesregierung muss endlich aufwachen und signalisieren, dass die Grundlage für Wirtschaftsbeziehungen das Einhalten von Menschenrechten, des Prinzips der Rechtsstaatlichkeit und von internationalem Recht ist. Menschenrechte sind universell und unteilbar. Es ist unsere Aufgabe, uns weltweit für Menschenrechte starkzumachen. Es ist nicht die erste Debatte, die wir über Menschenrechte in diesem Haus führen. Aber die Tatsache, dass die Bundesregierung auch in diesem Fall so lange geschwiegen hat, ist aus meiner Sicht außerordentlich peinlich und beschämend, meine Damen und Herren. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Manfred Grund. ({0})

Manfred Grund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002667, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. – Herr Präsident! – Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Zuschauer vor den Fernsehgeräten! Ich möchte diese Hongkong-Debatte nutzen, um der Frage nachzugehen: Wie geschlossen, wie einig ist die Europäische Union im Umgang mit der Volksrepublik China? Und ich will eine verpasste Chance ansprechen. Zum Ersten. Im Mai 2016 fand in Peking eine Konferenz statt, an der Vertreter europäischer Parteien teilgenommen haben, so aus Bulgarien der frühere Ministerpräsident Stanischew und aus Rumänien mit Victor Ponta ebenfalls ein vormaliger Ministerpräsident. In seinem Redebeitrag sagte Victor Ponta: Während die EU schläft, handelt China, und wir sind gern bei denen, die etwas tun. – Mit dieser Meinung ist Victor Ponta in den Ländern Süd- und Osteuropas nicht allein: Die EU tue zu wenig, sie investiere zu wenig, sie sei zu träge und überbürokratisiert. Deswegen setzt man dort auch weniger auf EU-Aktivitäten, sondern jeder andere, der Investments anbietet, der die Infrastruktur verbessert, ist willkommen, wird vorbehaltlos begrüßt, auch wenn die Geschlossenheit der EU-Staaten dadurch Risse bekommt und Schaden nimmt. Neben Bulgarien und Rumänien haben sich noch andere europäische Staaten zu dem Format „17 plus 1“ zusammengefunden: 17 Staaten aus Ost- und Südeuropa, „plus 1“ ist die Volksrepublik China. Zuletzt ist Griechenland dieser Initiative beigetreten. „Plus 1“ ist also nicht die EU. Auch wenn bei diesem Format nicht alle Bäume in den Himmel wachsen, die Volksrepublik China nicht alle Erwartungen erfüllen kann, so entsteht doch das Bild einer gespaltenen Europäischen Union, die trotz ihrer neuen Konnektivitätsstrategie, trotz einer veränderten EU-China-Strategie bisher keinen gemeinsamen, keinen einheitlichen Standpunkt gefunden hat. Ein einheitlicher Standpunkt, ein gemeinsames Handeln wäre auch in der Zeit von Corona und bei möglichen Vertragsverletzungen wie in Hongkong zwingend und notwendig. Aber auch in der Coronapandemie war die EU weder federführend noch koordinierend, und statt sich auf Brüssel zu verlassen, haben Staaten wie Italien in China um Hilfe nachgesucht und diese von der Volksrepublik auch bekommen. In anderen Politikbereichen sieht es nicht besser aus: Gemeinsame EU-Strategie beim 5G-Ausbau? Fehlanzeige. Gemeinsame Reaktion auf die Seidenstraßeninitiative? Fehlanzeige. Fehlanzeige auch beim Thema Marktzugang/Marktöffnung. Dabei bräuchten aber die EU-Staaten Klarheit und nach Möglichkeit Einigkeit in ihrer Beziehung zur Volksrepublik China. Denn die Volksrepublik – das ist mehrfach angesprochen worden – vertritt ihre wirtschaftlichen und politischen Interessen heute viel konsequenter als noch vor 20 Jahren. Der ökonomische, politische und militärische Aufstieg Chinas ist übergegangen in einen Systemwettbewerb zwischen den USA und der Volksrepublik, übergegangen in einen Wettbewerb um eine neue Weltordnung und um die globale Führungsrolle darin. Beim Aufstieg des einen und beim möglichen Rückzug des anderen droht ein weltweiter Ordnungs- und Sicherheitsverlust, und, meine Damen und Herren, weder die Europäische Union noch wir sollten dabei zum Kollateralschaden werden. Wozu Uneinigkeit führen kann, will ich im Punkt zwei, verpasste Chancen, ansprechen. Es geht mir um das gescheiterte Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA; es geht um TTIP. TTIP war die letzte Chance, unter Führung der wichtigsten, der größten liberalen Marktwirtschaften EU und USA verbindliche technische, menschenrechtliche und regulatorische Standards zu setzen, Standards bei der Digitalisierung, beim Einsatz künstlicher Intelligenz, beim Arbeitsschutz, bei Industrie und Handel, beim Zoll, beim Umweltschutz und bei der Transparenz. Diese Chance ist vertan; TTIP ist gescheitert, gescheitert auch an der Ablehnung in der deutschen Öffentlichkeit und der Uneinigkeit in der Europäischen Union: ({0}) vorbei, vorüber, nie wieder. Nicht wir setzen die Standards, andere gehen in die Lücke, wie etwa die Volksrepublik China. Das ist den Chinesen nicht vorzuwerfen. Der Vorwurf geht an uns; ({1}) denn wenn wir weltpolitisch ernst genommen werden wollen, müssen wir besser werden. Wir müssen auch schneller werden. Zuallererst aber muss sich die EU gegenüber der Volksrepublik China zu einer einheitlichen Positionierung zusammenfinden, um dann gemeinsam mit der Volksrepublik China über Menschenrechte und die Verbindlichkeit internationaler Verträge zu reden. Dazu wäre, meine Damen und Herren, das geplante EU-China-Gipfeltreffen im September in Leipzig eine gute Gelegenheit. Vielen Dank. ({2})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Dr. Volker Ullrich für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich bitte zum Abschluss der Debatte die Diskussion um Hongkong geschichtlich einordnen. Hongkong war immer Zufluchtsort für diejenigen, die von Festlandchina geflohen sind: Monarchisten, Kommunisten, Opfer auch der Kulturrevolution. Die Erzählung Hongkongs war immer auch eine der Freiheit, und das muss Hongkong bleiben, meine Damen und Herren. ({0}) Die chinesisch-britische gemeinsame Erklärung von 1984 sieht eine Sonderverwaltungszone nach dem Motto „ein Land, zwei Systeme“ vor. Es ist die 50-jährige Garantie der Autonomie Hongkongs. Das ist keine unverbindliche Handlungsempfehlung; es ist geltendes Völkerrecht. Und immer dann, wenn Völkerrecht Ordnungsprinzip der internationalen Gemeinschaft sein muss, dann muss Völkerrecht gelten. Wir müssen es einfordern, auch in Bezug auf Hongkong. ({1}) Und ja, es gibt eine rechtliche Pflicht Hongkongs, ein Sicherheitsgesetz auf den Weg zu bringen. Das ist bislang in 23 Jahren an den Protesten der Menschen gescheitert. Aber ein Sicherheitsgesetz muss ein solches sein, wenn Menschenrechte gelten, welches Sicherheit und Freiheit in eine Balance bringt. Alle Befürchtungen sollten gehört werden, dass am Ende die Freiheit stirbt, wenn Meinungsfreiheit, legitimer Protest, Opposition zu einer Straftat erklärt wird. Das darf kein Sicherheitsgesetz der Welt „leisten“. ({2}) Die Proteste sind seit 2003 anhaltend. Die Frage, die wir an uns richten müssen, ist: Haben wir im Westen diese Proteste genügend gehört und auch zur Kenntnis nehmen wollen? Bereits am 1. Juli 2003 haben die Menschen in Hongkong gerufen: Gebt die Macht dem Volk! – Das erinnert mich zufällig auch an das Freiheitsbegehren der Menschen hier in Berlin. Europa lebt heute in Freiheit, weil andere zu anderen Zeitpunkten nicht aufgehört haben, diese Freiheit zu garantieren. Deswegen müssen wir aus unserer Haltung heraus auch solidarisch zu denjenigen stehen, die Freiheit und Demokratie und ihre Menschenrechte einfordern. ({3}) Das darf übrigens auch keine reine Überlegung der Zweckmäßigkeit sein. Wenn wir angesichts wirtschaftlicher Interessen gehemmt sind, uns für die Geltung von Menschenrechten auszusprechen, dann werden wir am Ende die Legitimation verlieren, dass unser Einsatz für Menschenrechte insgesamt gelingt. Eine regelbasierte Ordnung, die die Grundlage für Wirtschaft und Wohlstand, auch für Handel legt, muss die Geltung des Rechts einfordern, und dazu gehören auch die unveräußerlichen Menschenrechte. Das kann nicht von der Tagesform oder der jeweiligen politischen Opportunität abhängig gemacht werden, und das ist der Kern von dem, was Europa ausmacht. Deswegen schauen wir auch nach Hongkong. Wir schauen nach Hongkong, weil es ein bedeutendes Ereignis ist, wenn von den 7 Millionen Einwohnern bis zu 2 Millionen auf die Straße gehen. Dieser Protest muss friedlich sein; das haben wir auch einzufordern. Aber dieser Protest zeigt auch, dass der Drang der Menschen in Hongkong nach Selbstbestimmung, nach Freiheit besteht und dass letztlich dahinter die große Frage steht, welche Haltung und welche Ordnung der Zukunft obsiegen wird, Freiheit und Selbstbestimmung oder autoritäres System. Auch wenn wir gemeinsam eine partnerschaftliche und friedliche Weltordnung anstreben, so muss es dennoch in unserem Interesse sein, dass wir unsere Haltungen zum Ausdruck bringen, gemeinsam mit unseren europäischen Partnern; und das geht nicht, wenn wir uns abschotten, sondern nur, wenn wir selbstbewusst für unsere Werte eintreten. Das kann und soll auch Zweck des europäisch-chinesischen Gipfels werden. Wir haben unsere Werte nicht zu verstecken, sondern wir sind davon überzeugt, dass unsere Werte letztlich besser dazu führen, dass Menschenrechte, dass Freiheit und Demokratie eingesetzt werden können. Deswegen seien wir doch selbstbewusst und sagen, was wir haben, auch im Verhältnis zu China. Das schließt niemanden aus. Aber das bedeutet, dass wir letztlich klar und deutlich machen, dass das Ordnungsprinzip der Welt für uns nur ein solches sein kann, welches in den Menschenrechten, in der Menschenwürde, in der Freiheit und in der Selbstbestimmung liegt. Dafür sollten wir eintreten. Herzlichen Dank. ({4})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.

Christoph Matschie (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001434, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Nach der intensiven Debatte zu Honkong kommen wir zurück in die Sahelregion. Wir haben vorhin schon über das europäische Engagement bei der Ausbildung malischer Sicherheitskräfte gesprochen, und wir sprechen jetzt über die UN-Mission MINUSMA. Diese UN-Mission hat drei zentrale Aufgaben: Die erste Aufgabe ist, den Friedensprozess, der im Vertrag von Algier vereinbart worden ist, abzusichern und die Umsetzung zu unterstützen. Die zweite zentrale Aufgabe ist: MINUSMA soll in Zentralmali dazu beitragen, staatliche Strukturen zu stärken. Die dritte wichtige Aufgabe ist die Unterstützung und Absicherung der humanitären Hilfe und der Entwicklungszusammenarbeit. Werte Kolleginnen und Kollegen, schon in der Debatte zu EUTM Mali ist deutlich geworden: Trotz jahrelangen Engagements hat sich die Situation in Mali nicht deutlich verbessert. Im Gegenteil: Sie ist in einigen Regionen deutlich schlechter geworden. Wir sehen mit großer Sorge die Entwicklung in Burkina Faso, die sich in letzter Zeit rasant verschlechtert hat. Jetzt ist natürlich die Frage: Wie gehen wir mit unserem Engagement dort weiter um? Bedeutet die Verschlechterung der Situation, dass man sagt: Na ja, dann muss man da rausgehen, man hat ja nichts erreicht; Deutschland und die internationale Gemeinschaft sollten sich zurückziehen. – Das ist zum Beispiel die Lösung, die Die Linke immer wieder vorschlägt. Ich glaube, dass das nicht funktionieren kann und dass es am Ende dazu beitragen würde, die Situation noch deutlich weiter zu verschlechtern. ({0}) – Sie können sich dazu gern noch zu Wort melden. Warum? Was würde passieren, wenn sich die internationale Gemeinschaft jetzt zurückziehen würde? Ich mache Ihnen einmal die Größenordnungen klar: Die malische Armee verfügt über etwa 20 000 Frauen und Männer, die die Sicherheit dort garantieren können. MINUSMA allein verfügt über etwa 15 000 Soldatinnen und Soldaten sowie Polizistinnen und Polizisten. Dazu kommt dann natürlich auch noch das französische Engagement. Wenn man sich vorstellt, dass dieses internationale Engagement abgezogen wird, dann weiß man: Hier entsteht eine Sicherheitslücke, die terroristische oder andere bewaffnete Gruppen nutzen würden, um die Situation noch weiter zu destabilisieren; deshalb kann das keine Lösung sein. ({1}) Reicht es aus, MINUSMA zu verlängern? Nein! Es wird nicht ausreichen; denn der Konflikt lässt sich auch nicht militärisch lösen. Deshalb wird es in Zukunft auf Folgendes ankommen: Erstens wird es darauf ankommen, auf die Regierungen in Mali, aber eben auch in Burkina Faso und in Niger noch stärker einzuwirken, die eigene Verantwortung ernster zu nehmen, staatliche Präsenz sicherzustellen, die Regionen, die unterentwickelt sind, stärker zu unterstützen und deutlich zu machen: Der Staat steht zu seinen Bürgerinnen und Bürgern und garantiert ihren Schutz und eine soziale und wirtschaftliche Entwicklung. ({2}) Zum Zweiten wird es wichtig sein, die Ursachen hinter diesen Konflikten stärker in den Blick zu nehmen, die wirtschaftlichen Ursachen, die sozialen Ursachen, die Ursachen, die dazu führen, dass sich junge Leute entscheiden, sich dschihadistischen oder anderen bewaffneten Gruppen anzuschließen. Das wird aber nur möglich sein, wenn ein gewisses Maß an Sicherheit in der Region garantiert ist. Wir haben schon heute den vernetzten Ansatz, nämlich das Zusammendenken von militärischem Engagement und Entwicklungszusammenarbeit. Aber wir werden diesen Ansatz – das ist meine feste Überzeugung – noch einmal größer und konsequenter denken müssen, wenn wir verhindern wollen, dass Burkina Faso zum Failed State wird. Wenn wir verhindern wollen, dass in der Sahelzone die Instabilität wächst, dann müssen wir die nächsten Monate nutzen, um gründlich darüber nachzudenken, wie wir unser Engagement verstärken, nicht nur militärisch, sondern auch zivil, um die Situation zu stabilisieren. Heute bitte ich um Zustimmung für das Mandat MINUSMA. Es wird weiter gebraucht. Ich bedanke mich bei unseren Soldatinnen und Soldaten, die dort eine wichtige Arbeit machen, um eine Zukunft für die Sahelregion zu ermöglichen. Herzlichen Dank. ({3})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion der AfD der Kollege Gerold Otten. ({0})

Gerold Otten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004846, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Vor einem Jahr stand mein Kollege Lucassen hier und sprach von der Unredlichkeit der Bundesregierung, ({0}) von Unredlichkeit, weil der Auftrag, der unseren Soldaten durch das Mandat erteilt wird, der Verschleierung diene, statt Klarheit zu schaffen. In dem vor einem Jahr gestellten Antrag war von der Bekämpfung asymmetrischer Angriffe und der Entwaffnung der Konfliktparteien die Rede. Gleichzeitig hieß es aber, die Teilnahme an der Bekämpfung des Terrorismus sei nicht im Auftrag enthalten. Dieser Widerspruch taucht im vorliegenden Antrag gar nicht mehr auf: kein Wort mehr von der Bekämpfung asymmetrischer Angriffe, nichts von Entwaffnung. Aber was versteht die Bundesregierung eigentlich unter einem robusten Einsatz in Mali? Eine Drohne, deren jährliche Anzahl an Flugstunden erst mal zurückgefahren wird – unbewaffnet? Ein Feldlager, ein Nahbereichsschutzsystem vor Bedrohungen durch Raketen, Artilleriegeschosse, Mörser – unbewaffnet? Die Bundeswehr und ihre Soldaten, die in Mali auftragsgemäß ihren Dienst tun und ihre Pflicht erfüllen, haben diese Bundesregierung nicht verdient, die sie ohne klares Ziel, ohne System und Methode und mit unzureichendem Schutz in einen gefährlichen Einsatz schickt. ({1}) Stattdessen wieder nur eine Ansammlung von abgegriffen Worthülsen im Antragstext; wir haben es auch gerade eben wieder gehört. Dort steht: Die Bundeswehr soll bei der Aussöhnung helfen, bei der Wiederherstellung staatlicher Autorität, beim Schutz der Menschenrechte usw. usw. Für mich ist das völliges Wunschdenken und zeugt wieder einmal von der Unkenntnis der Regierung, was Militär kann und wozu es eigentlich da ist. Streitkräfte können zum Beispiel einen Raum durch adäquaten Kräfteeinsatz freikämpfen und für einen gewissen Zeitraum sichern und halten. Versöhnung zwischen verfeindeten Ethnien zu fördern oder für die Glaubwürdigkeit einer korrupten Führungsklasse zu sorgen, entspricht nicht deren Fähigkeiten und ist auch nicht die Aufgabe von Streitkräften. ({2}) Verschleiert wird aber auch, dass das Leben unserer Soldaten gefährdet wird und dass der Einsatz in Mali Opfer kosten kann, wahrscheinlich eines Tages leider auch wird. Diese Gefährdung ist nur bei klar definierten und für notwendig erachteten Zielen zu rechtfertigen. Vor allem aber müssen die Erfolgsaussichten betrachtet werden, die unter anderem an den bisher erreichten Schritten gemessen werden müssen. Betrachtet man die Lage in Mali, tun sie es eben nicht. Zur Folge von MINUSMA präsentiert man den Dialog auf lokaler Ebene zur Aussöhnung und erste Schritte im UN-Entwaffnungs- und Reorganisationsprogramm – und eine Wahl mit 36 Prozent Wahlbeteiligung, bei der auch noch wenige Tage vor dem ersten Wahlgang der wichtigste Oppositionspolitiker entführt wird. Meine Damen und Herren, die Programmatik der AfD betreffend Auslandseinsätze ist deutlich: nur innerhalb Systemen kollektiver Sicherheit und bei klar erkennbarem deutschen Interesse. Erstes ist bei MINUSMA gegeben, Zweites nicht. Aber ich sehe schon: Allein bei der Erwähnung eines nationalen deutschen Interesses schrillt bei vielen von Ihnen die Alarmglocke. Denn für Sie zählt nur ein vollkommen entgrenzter Verantwortungsbegriff. In Ihrem unumstößlichen Glauben an die eigene moralische Überlegenheit wollen Sie die Welt verbessern, und dies in einer irrationalen Vorstellung von dem, was ein vernetzter Ansatz zu leisten imstande ist. Ich habe es hier heute schon einmal gesagt: Glaubt man an diese Methode, dann ist jedes Ziel mit etwas Geduld erreichbar. Tatsächlich aber heißt es, dass es keinen Zeitkorridor gibt, in welchem die Ziele überprüft und erreicht werden müssen. Schließlich noch sollen Dystopien Unentschlossene einschüchtern: Ohne internationale Militärintervention in Mali käme es zu mehr Gewalt, und die illegale Migration nach Europa würde stark zunehmen. Meine Damen und Herren, Afghanistan ist die Antithese zu dieser Gleichung. ({3}) Die Verteidigungsministerin hat in ihrer Rede an der Universität der Bundeswehr München im November letzten Jahres eine Aussage getätigt, die ich für verheerend halte. Sie sprach von der Idee eines vereinfachten und beschleunigten Verfahrens bei Auslandseinsätzen; denn ihr sei – ich zitiere – „wichtig, dass die Bundeswehr an völkerrechtlich legitimierten internationalen Operationen teilnehmen kann“, ohne „Verzögerungen und Unsicherheiten“. Meine Damen und Herren, damit ist der Parlamentsvorbehalt gemeint. Solche Aussagen setzen die nationale Souveränität auf infame Weise zurück. Nur hier, im Deutschen Bundestag, ist der Ort, wo über den Einsatz deutscher Streitkräfte entschieden werden darf, und das muss auch so bleiben. ({4}) In diesem Sinne bitte ich Sie, gegen eine Verlängerung des Mandats und für den Antrag der AfD zu stimmen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Henning Otte. ({0})

Henning Otte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003821, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir setzen heute, am Freitag, einen politischen Schwerpunkt. Mit der Mission EUTM Mali und mit der Mission MINUSMA beziehen wir uns ganz konkret auf das Einsatzgebiet in Mali, ein Gebiet, das circa dreieinhalbmal größer ist als unser Land, mit klimatischen Herausforderungen für unsere Soldatinnen und Soldaten. Zurzeit herrschen dort 44 Grad, nachts 30 Grad, bei einer Luftfeuchtigkeit von unter 30 Prozent. Das ist eine Herausforderung. Die Coronabedingungen erschweren dies zusätzlich. Aber nicht nur thematisch beziehen wir uns heute auf Mali, sondern auch politisch setzen wir einen Schwerpunkt, um deutlich zu machen: Wir haben in Deutschland, wir haben in Europa ein Interesse daran, Stabilität und Sicherheit in der Sahelzone zu erzeugen und einen Beitrag dazu zu leisten. Wir wollen nicht nur Symptome bekämpfen; wir wollen einen Beitrag dazu leisten, Ursachen zu bekämpfen. Deswegen sagen wir: Sicherheit und Stabilität in der Sahelzone, in Mali sind auch im Interesse Europas und Deutschlands, und deswegen stimmen wir heute zu, meine Damen und Herren. ({0}) Ein Soldat aus meinem Wahlkreis, der im Einsatz war – ein Heimkehrer –, hat mir als Fazit gesagt: Wie wäre wohl die Situation, wenn Deutschland und die anderen sich nicht beteiligen würden? – Deutschland setzt jetzt bis zu 1 100 Frauen und Männer für Patrouillen, für Luftaufklärung, als Sicherungskräfte, im Sanitätsdienst, als Fernmelder ein, um deutlich zu machen: Wir wollen Informationen, und wir wollen ein Lagebild haben, um unseren Beitrag dazu zu leisten. Wir sagen auch deutlich: Dieser Einsatz wird intensiviert, indem wir uns regional an der Ausbildung beteiligen und indem wir auch Frankreich zusagen, mit Lufttransporten und Logistik an der Seite dieses Landes zu stehen. Aber das erfolgt natürlich im Rahmen unserer Verfassung und deswegen auch in gewissem Sinne begrenzt. Ich kann mir aber auch vorstellen, dass wir beispielsweise bei der Luftbetankung mehr tun können. Wir müssen, meine Damen und Herren, auch bei der Vernetzung der Ansätze mehr tun: militärisch, entwicklungspolitisch und diplomatisch. Wir müssen mehr tun, indem wir sagen: Die beteiligten Staaten vor Ort müssen besser miteinander kooperieren. Und wir müssen mehr tun, indem wir sagen: Es muss ein besonderes europäisches Interesse sein, diese Mandate zusammen dort arbeiten zu lassen. Deswegen braucht es auch einen europäischen Impact, um deutlich zu machen: Wir haben ein großes Interesse. – Ich danke Ihnen, Frau Bundesverteidigungsministerin, dass Sie sagen, Sie wollen die Koordinierung im europäischen Ansatz und vor Ort stärker voranbringen. Das ist ein richtiger Weg. ({1}) Was wir machen müssen, meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen – da beziehe ich mich auf das, was der Kollege Wadephul zu EUTM Mali gesagt hat –: Wir müssen die schützen, die uns schützen, und das sind unsere Soldatinnen und Soldaten; ich habe mit dem großen Einsatzgebiet begonnen. Wir müssen auch bereit sein, unseren Soldaten das Gerät zur Verfügung zu stellen, das sie brauchen: Das sind Drohnen. Im Zweifel müssen sie sich auch mit bewaffneten Drohnen erwehren können, meine Damen und Herren. ({2}) Hier müssen wir einen politischen Konsens finden und dürfen nicht die Augen verschließen und den Kopf in den Sand stecken, wie das die AfD macht: mit beschränktem Blick, beschlagener Brille, fast blind und mit nationaler Ausrichtung. Denn die Probleme sind heute global. Ich wiederhole noch einmal das, was der Soldat gesagt hat, der aus dem Einsatz zurückgekommen ist: Zwischen Labbezanga und Ansongo werden den Menschen, die sich an den Wahlen beteiligt haben, die Finger abgeschnitten, die Hände abgehackt. – Wollen Sie als Linke tatenlos dabei zusehen? Wir machen es nicht. Recht darf Unrecht nicht weichen. Wir wollen Stabilität und Sicherheit, und deswegen stimmen wir diesem Mandat auch zu, meine Damen und Herren. ({3})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion der FDP die Kollegin Gyde Jensen. ({0})

Gyde Jensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004941, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Debatte zu den Einsätzen der Bundeswehr in Mali ist wichtig. Mali und die Sahelzone verdienen ganz besonders jetzt unser aller Aufmerksamkeit. Die Sicherheitslage verschärft sich: Die durch die Auswirkungen des Klimawandels verstärkten und immer dramatischer auftretenden Dürren schwächen die ohnehin schon instabilen Staaten in der Sahelzone. Hunger, Terror, Flucht – all das gehört zum Alltag der Menschen dort. Mali ist dabei Dreh- und Angelpunkt in dieser instabilen Region, ein Dominostein, der, wenn er fällt, eine destruktive Kettenreaktion auslösen würde. Das kann natürlich nicht in unserem Interesse sein, und deswegen unterstützen wir Freien Demokraten die Fortsetzung des MINUSMA-Mandats als Ergänzung des deutschen Engagements bei EUTM Mali. ({0}) Im Sahel übernimmt Deutschland bereits jetzt große Verantwortung für Stabilität und Sicherheit. Hier darf die Bundesregierung auf gar keinen Fall nachlassen. Fest steht, dass ohne die Truppen vor Ort eine zivile Hilfe überhaupt nicht möglich wäre. Doch humanitäre Hilfe und friedenssichernde militärische Präsenz dürfen nicht einfach nur koexistieren. Wir brauchen eine strategische Vernetzung der militärischen Friedenssicherung mit Entwicklungshilfe und Diplomatie, um nachhaltige Stabilität erzielen zu können. ({1}) Wo sind denn dieser strategische Ansatz, diese Vernetztheit, dieser Weitblick bei der Bundesregierung? Dazu offenbart das Auswärtige Amt im Übrigen eine seltsame Dissonanz, wenn man bei der Vergabe der Mittel genau hinschaut. Die Bundesregierung betont immer wieder, dass Mali im Fokus des deutschen Afrika-Engagements steht; trotzdem fließt lediglich knapp 1 Prozent der Mittel der deutschen humanitären Hilfe dorthin. Das zeugt von wenig Weitsicht, wie wir finden; denn wir können bereits heute den weiteren Verlauf der humanitären Lage dort verlässlich prognostizieren: Dürren werden weiter zunehmen und drastischer werden, und die Effekte des Covid-19-Lockdowns werden Nahrungsmittelknappheit und Hunger exponentiell steigen lassen. ({2}) Obwohl sich Deutschland im Rahmen des Grand Bargain dazu verpflichtet hat, die flexiblen Mittel für humanitäre Hilfe zu erhöhen, warten Hilfsorganisationen vergeblich auf zweckungebundene Mittel. Obwohl wir wissen, dass dringend mehr Mittel benötigt werden, um präventiv arbeiten zu können, hält das Auswärtige Amt hier die Füße still. Und obwohl wir wissen, dass vorausschauende humanitäre Hilfe sowohl zielführender als auch kosteneffizienter ist, zögert die Bundesregierung hier, Probleme zu antizipieren. Meine Damen und Herren, Deutschland gilt als verlässlicher Partner in vielen Ländern der Sahelzone, insbesondere in Mali. Lassen Sie uns die Verlängerung von MINUSMA dazu nutzen, um diese Reputation auszubauen und eine aktive Führungsrolle auch im internationalen Geberengagement für den Sahel einzunehmen. Lassen Sie uns vernetzte, innovative Ansätze implementieren, die die technologischen Möglichkeiten von moderner humanitärer Hilfe voll ausschöpfen können. Lassen Sie uns auch für das Unabhängigkeitsprinzip der humanitären Hilfsarbeit einstehen und im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft aktiv dafür sorgen, dass Organisationen besseren Zugang in der Region erhalten. Deutschlands Reputation als verlässlicher Partner ist gut; der Ruf eines zielorientierten, innovativen und vorausschauenden Strategen wäre noch besser. Wir stimmen dem Mandat dennoch zu. Herzlichen Dank. ({3})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion Die Linke die Kollegin Christine Buchholz. ({0})

Christine Buchholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004022, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mali ist für die Bundesregierung ein Baustein, um die Bundeswehr international im Dauereinsatz zu halten. 2015 drückte es die damalige Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen folgendermaßen aus: „Unsere Interessen haben keine unverrückbare Grenze, weder geografisch noch qualitativ.“ Solch eine Politik schafft keinen Frieden: nicht in Mali und auch nicht anderswo. ({0}) Die Bundesregierung hat im März einen Bericht zur Lage in Mali vorgelegt. Darin gibt sie zu, keines der offiziellen Ziele erreicht zu haben. Doch die Antwort, warum das so ist, bleibt sie schuldig. Deshalb haben wir jüngst 50 Fragen an die Bundesregierung zum Einsatz in Mali gerichtet. Über die Hälfte der Fragen wurde nicht beantwortet. So können Sie zum Beispiel nichts über die Zahl der Toten in dem Mali-Konflikt sagen. Sie geben keinen Überblick über Gefechte und Vorfälle, in die deutsche Soldaten verwickelt sind. Sie kennen nicht die Identität der ausgebildeten malischen Soldaten. Sie äußern sich nicht dazu, wann, wo und wie Sie die französische Antiterrorkampfoperation Barkhane unterstützen. Daraus können wir nur den Schluss ziehen: Entweder handeln Sie planlos, oder Sie wollen uns für dumm verkaufen. Ich fürchte, es ist beides. ({1}) Schenken Sie endlich reinen Wein ein! Der Einsatz hat doch längst eine Eigendynamik bekommen. Im Verteidigungsausschuss diskutierten erst diese Woche – das ist eben noch einmal von Herrn Otte bestätigt worden – die CDU/CSU und die SPD über den zukünftigen Einsatz deutscher Kampfdrohnen in Mali. Das ist doch Wahnsinn. Hören Sie auf damit! ({2}) In Mali und der Sahelzone wiederholen Sie wirklich alle Fehler des Afghanistan-Einsatzes. Erst täuschen Sie über Ihre geostrategischen und wirtschaftlichen Motive und Interessen hinweg, dann leugnen Sie die Realität vor Ort, und schließlich eskaliert der Militäreinsatz von Jahr zu Jahr immer mehr. ({3}) Staatssekretär Tauber mag zwar den Vergleich mit Afghanistan nicht, aber er räumte kürzlich im Verteidigungsausschuss ein, dass man die Dauer des Mali-Einsatzes durchaus mit Afghanistan vergleichen könnte. Wir sagen: Nein, es darf kein zweites Afghanistan geben. ({4}) Übrigens: Wie in Afghanistan sieht auch die malische Bevölkerung den Einsatz der Bundeswehr und der anderen UN-Soldaten immer kritischer. ({5}) Eine jüngste Umfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung in Mali zeigt: 78 Prozent der malischen Bevölkerung sind unzufrieden mit MINUSMA, davon 60 Prozent sehr unzufrieden. Der Hauptvorwurf: MINUSMA sei nur zum Selbstzweck da. Die Befragten haben recht. Es ist Zeit, die Logik der militärischen Eskalation zu durchbrechen. Holen Sie endlich die Bundeswehr aus Mali und der gesamten Sahelzone zurück! Vielen Dank. ({6})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Omid Nouripour. ({0})

Omid Nouripour (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003881, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute ist der UN Peacekeepers’ Day. Heute ist der Tag, an dem man der Soldatinnen und Soldaten, die in der Erfüllung ihres Auftrags für die Vereinten Nationen ums Leben gekommen sind, gedenkt. Gerade beim MINUSMA-Einsatz, der besonders gefährlich ist, sind bisher 209 Soldatinnen und Soldaten ums Leben gekommen. Ihrer gedenken wir heute und danken ihnen für den Dienst, den sie im Auftrag der Vereinten Nationen für den Weltfrieden geleistet haben. ({0}) Meine Damen und Herren, wir Grünen stimmen dem vorliegenden Antrag der Bundesregierung zu; denn wir wissen, dass es ohne MINUSMA keinen Friedensprozess geben würde; es gäbe keinen Ansatz eines nationalen Dialoges, keine Initiativen für Entwaffnung und Reintegration von Milizen in die Sicherheitskräfte des Landes. Das ist für uns ausreichend Grund – selbstverständlich neben dem Respekt für einen UN-geführten Einsatz –, dass wir diesem Einsatz zustimmen werden. Dennoch gibt es etliche Fragen; es gibt einiges, was zu diskutieren ist, und einiges, was die Bundesregierung mehr tun müsste. Das wollen wir an dieser Stelle natürlich nicht unerwähnt lassen. Die Sicherheitslage wird zunehmend schlechter. Sie ist teilweise hochdramatisch. Das führt dazu, wenn man ehrlich ist, dass auch deutsche Entwicklungsprojekte zum Teil nur auf dem Papier existieren, weil die Sicherheitslage sie unmöglich macht. Wir erleben, dass das Rechtssystem derzeit an ganz vielen Orten nicht funktionsfähig ist. Wir erleben, dass die Präsenz, die Sichtbarkeit des malischen Staates außerhalb großer Ballungszentren, aber vor allem außerhalb der Hauptstadt, an vielen Orten nicht zu sehen ist. Wir erleben, dass das Beschäftigungssystem, der Arbeitsmarkt mehr oder minder an vielen Orten in Mali derzeit kollabieren. Wir erleben, dass die Sicherheitskräfte des Landes an vielen Orten die Menschenrechte mit Füßen treten. Es gibt so viele Berichte über Menschenrechtsverletzungen der Streitkräfte Malis. Und wir erleben, dass der Friedensprozess nicht vorankommt. Das alles – hier wünschen wir uns viel mehr Initiative, viel mehr Druck von der Bundesregierung – ist auch für uns eine Verpflichtung, dort mehr zu tun und die Bundesregierung aufzufordern, dass sie viel mehr Druck auf die handelnden Akteure ausübt, damit der Friedensprozess endlich vorankommt, damit der nationale Prozess des Dialoges tatsächlich vorankommt, damit Entwaffnungsinitiativen auch in der Fläche funktionieren und vor allem damit unsere Kolleginnen und Kollegen in Frankreich – mit denen wir natürlich engstens verbunden sind und auch sein müssen – viel mehr mitteilen, was sie bei Barkhane machen, vor allem dahin gehend, dass sie im Antiterrorkampf keine Parallelmission zu MINUSMA am Laufen haben. Wir haben an vielen Orten, bei vielen Einsätzen erlebt, dass diese Parallelitäten nicht hilfreich sind und teilweise zerstörerisch wirken können. Hier wünsche ich mir viel klarere Ansagen der Bundesregierung. ({1}) Wir stimmen dem Antrag dennoch zu, wollen aber kritisch und laut weiterhin begleiten, dass die Bundesregierung an vielen Stellen einfach schlicht inaktiv ist. ({2})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der SPD der Kollege Fritz Felgentreu. ({0})

Dr. Fritz Felgentreu (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004272, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine Damen und Herren! Ich war ja überrascht, vom Kollegen Otten von der AfD einen fast schon konstruktiven Ansatz zu hören. Er hat nämlich gesagt, die AfD würde prüfen, ob der Einsatz der Bundeswehr im Rahmen eines Systems kollektiver Sicherheit stattfindet und ob er im deutschen Interesse liegt. Das sind Prüfkriterien, die eine Berechtigung haben. Wenn wir uns den MINUSMA-Einsatz ansehen, dann stellen wir natürlich sofort und auf den ersten Blick fest: Ja, das ist ein Einsatz im Rahmen eines Systems kollektiver Sicherheit, nämlich der Vereinten Nationen, und das wollen wir stärken. Wir wollen, dass die Vereinten Nationen besser als in der Vergangenheit in der Lage sind, ordnend und friedenserhaltend weltweit einzugreifen. ({0}) Nun teile ich nicht, lieber Kollege Otten, das erotische Verhältnis der AfD zum Begriff „deutsche Interessen“. Aber dass wir gemeinsam einen Blick darauf haben, dass das, was wir tun, am Ende auch gut ist für unser Land und auch für unsere Verbündeten und für Europa, ist natürlich ein angemessener Ansatz. Auch da fällt die Antwort ganz eindeutig aus: Die Sahelzone ist eine Nachbarregion Europas, getrennt nur durch das Mittelmeer und das Sandmeer der Sahara. Durch diese Meere führen die Wege organisierter Kriminalität: Menschenschmuggel, Waffenschmuggel, Drogenschmuggel, Terror. In diesen Regionen können Gefahren entstehen, die unser Leben hier unmittelbar betreffen. Und der Ansatz der AfD, zu sagen: „Wir ziehen die Zugbrücke hoch und schließen uns in unserer Burg ein“, hat noch nicht mal im 13. Jahrhundert funktioniert. In der globalen Welt des 21. Jahrhunderts funktioniert er auf gar keinen Fall. ({1}) Deswegen ist es richtig, meine Damen und Herren, dass wir uns in dieser Region gemeinsam mit allen anderen engagieren, die dafür ein Verantwortungsgefühl empfinden, dass wir unseren Beitrag leisten und dass wir auf einen Erfolg setzen, der nur mit Geduld zu erreichen ist. Zu glauben, man könnte mit dem Einsatz von vielleicht 1 000 deutschen Soldaten in einer so komplizierten Weltregion Ordnung und Frieden herstellen, wäre ein naiver Ansatz. Aber einen Beitrag zu einer gemeinsamen Anstrengung, insbesondere auch der afrikanischen Nation in der Region, zu leisten, das ist angemessen, und das sollten wir tun. Davor sollten wir nicht zurückschrecken. ({2}) Eine Frage, die aufgeworfen wurde, war: Geben wir den dort eingesetzten Soldaten den angemessenen Schutz mit? Meine Damen und Herren, ich rate uns allen dringend dazu, in dieser Frage auf die Lagebeurteilung der Bundeswehr selbst und auf den militärischen Ratschlag des Generalinspekteurs zu vertrauen und nicht anzufangen, hier in diesem Hause darüber zu verhandeln, was der angemessene Schutz für Soldaten im Einsatz ist – im Interesse der Soldaten selbst. ({3}) Deswegen sage ich heute: Wir gehen davon aus, dass das, was wir den Soldatinnen und Soldaten für ihren Einsatz heute mitgeben, in der gegenwärtigen Lage richtig ist. Wenn sich die Lage ändert, dann müssen wir darüber neu nachdenken. Ich nutze die Gelegenheit, um einen Gruß an unsere Einsatzkräfte in Gao zu richten: Sie leisten einen verdienstvollen Dienst. Sie leisten einen großen Beitrag. Ich danke Ihnen für Ihre treue Pflichterfüllung. Bleiben Sie gesund, und kommen Sie heil nach Hause! Danke schön. ({4})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Markus Koob für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Markus Koob (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004331, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir heute über MINUSMA und wie vorhin schon über EUTM Mali entscheiden, dann entscheiden wir nicht nur über sicherheitspolitische Fragen in Mali, sondern wir entscheiden auch über die zivilen Entwicklungsmöglichkeiten in Mali und in der Sahelregion. Für mich ist klar: Das eine kann es nicht ohne das andere geben. Da muss ich, Frau Buchholz, schon sagen, dass ich über Ihre Rede ein bisschen erstaunt bin. Sie waren ja letztes Jahr auch dort vor Ort, ({0}) und ich gehe davon aus, dass Sie dort die Gelegenheit genutzt haben, mit Vertretern unserer Entwicklungshilfeorganisationen zu reden. ({1}) Ich habe von diesem Gespräch, wenn die Ihnen nicht was anderes erzählt haben als uns, zwei Dinge in Erinnerung: Das eine ist der Satz, dass die Deutschen ein sehr hohes Ansehen genießen, weil man ihnen anmerkt, dass sie keine Interessen verfolgen. Jetzt kann man über die Frage diskutieren, ob das eigentlich positiv ist; das war aber die eine Aussage. Die andere Aussage war, dass ohne die militärische Präsenz vor Ort viele Entwicklungshilfeprojekte eben nicht durchgeführt werden können. Deshalb ist für mich die ganz klare Erkenntnis aus den Gesprächen letztes Jahr vor Ort, dass das eine nicht ohne das andere geht. ({2}) Es gibt nur Entwicklungshilfe und politisches Engagement, wenn auch Soldatinnen und Soldaten in der Region sind. ({3}) Wir haben hier schon viel über die Bedingungen gehört, die die Soldatinnen und Soldaten gerade in Mali erleben. Das war vor Corona schon kompliziert genug. Es ist aber durch Corona noch deutlich schwieriger und komplizierter geworden, die Sicherheitsvorkehrungen einzuhalten. Da komme ich jetzt zu Ihnen, Herr Otten, weil Sie sich ja immer so gerne zum Sprachrohr der Soldaten machen. Ich frage mich manchmal: Haben Sie eigentlich mal mit den Soldatinnen und Soldaten vor Ort gesprochen? Ich glaube, eher nicht. ({4}) – Ja, das weiß ich. Aber das ist doch egal. ({5}) – Ja, das ist toll, dass er gedient hat. Das hindert ihn aber erkennbar nicht daran, Unfug zu erzählen. ({6}) Aus meinen Gesprächen mit den Soldatinnen und Soldaten weiß ich: Sowohl die Soldatinnen und Soldaten bei MINUSMA als auch die in Koulikoro haben alle gesagt, dass sie von der Sinnhaftigkeit ihres Einsatzes extrem überzeugt sind, auch die Bundespolizisten. Jetzt sage ich Ihnen mal was an dieser Stelle: Vier Tage bevor wir in Koulikoro ankamen, hat es dort einen Anschlag auf das Camp gegeben. Und auch dort habe ich die Soldatinnen und Soldaten gefragt: Was sagen Sie eigentlich zur Sinnhaftigkeit dieses Einsatzes? – Mir ringt es Demut ab, dass die Soldaten – es waren mehrere – überzeugend und alle durch die Bank gesagt haben: Wir glauben an die Sinnhaftigkeit dieses Einsatzes. – Das ringt mir Demut ab. Die moralische Überheblichkeit, die Sie uns oder der Bundesregierung vorwerfen, verorte ich deshalb eher bei Ihnen als bei uns. ({7}) Das alles darf freilich nicht dazu führen, dass wir die Augen vor den Problemen verschließen, die hier auch schon angesprochen worden sind. Ja, die Sicherheitslage in Mali ist schlechter geworden, und der politische Prozess ist ins Stocken geraten. Aber die Frage ist: Was ist denn dann die Konsequenz aus dieser Erkenntnis? Ist es denn wirklich die richtige Konsequenz, die richtige Alternative, zu sagen: „Wir ziehen jetzt die Soldaten ab und überlassen Mali wieder sich selbst“? Ich glaube, nicht. Denn das ist entweder das Setzen darauf, dass andere die Verantwortung übernehmen und in unsere Lücke springen, oder das Glauben daran, dass es völlig in Ordnung ist, dieses Land wieder sich selbst zu überlassen. Ich halte beides für falsch. Deshalb halte ich den jetzt gewählten Ansatz zusammen mit dem Mandat EUTM Mali für den richtigen Ansatz, indem wir sagen: Wir dehnen dieses Einsatzgebiet auf die Sahelregion aus, und wir versuchen, die Verantwortung in die Länder der Sahelregion zu bringen. – Ich glaube, dass dieser Ansatz funktionieren kann, und ich wünsche unseren Soldatinnen und Soldaten für diesen Weg von Herzen alles Gute. Unsere Fraktion wird diesem Mandat zustimmen. Vielen Dank. ({8})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Thomas Erndl für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Thomas Erndl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004709, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Soldatinnen und Soldaten! Am Schluss dieser Debatte müssen wir klar benennen: MINUSMA ist derzeit die gefährlichste Friedensmission der Vereinten Nationen. Wenn die Reduzierung der Kräfte in Afghanistan vorankommt, wird MINUSMA auch unser größter Einsatz sein. Bei der Mission leisten derzeit rund 1 000 deutsche Männer und Frauen einen außergewöhnlich harten Job in einem enorm schwierigen und gefährlichen Gebiet. Das wird in den Gesprächen mit den Soldaten deutlich, und davon konnte ich mich vor Ort auch selbst überzeugen. Ich möchte unseren Soldatinnen und Soldaten aufrichtig für diese Leistung und für diesen Einsatz danken. ({0}) Ich bin auch froh darüber, dass die Soldaten, die Aufklärer aus meinem Wahlkreis aus dem letzten Kontingent wieder gut zurückgekommen sind. Dabei denken wir aber natürlich auch an die Kameraden aus Belgien und aus Irland, die in dieser Aufklärungskompanie eingebettet waren und durch zwei Anschläge zu Schaden gekommen sind. Gefahr und Größe dieses Einsatzes erfordern natürlich immer gute Argumente, wenn wir den Einsatz jetzt verlängern, wenn wir den Einsatz jetzt fortführen. Die Debatte hat gezeigt, dass quer über die Fraktionen hinweg gute Argumente vorliegen. Denn der Sahel und Mali sind enorm instabil. Hier zeigen sich wie unter einem Brennglas die zentralen Herausforderungen in vielen Teilen Afrikas: fragile Staatlichkeit, ethnische Konflikte, Terrorismus, Migration, Menschen- und Drogenschmuggel; meine Vorredner haben es teilweise ausgeführt. Da geht es nicht um naive Weltverbesserungsansichten, wie der Kollege der AfD meint, oder letztendlich um Kopf-in-den-Sand-Stecken, wie es von der Seite der Fraktion der Linken dargestellt wurde, sondern das sind entscheidende Punkte für die Sicherheit in Europa! Es eröffnet auch für die Menschen vor Ort Perspektiven, unter anderem durch die Fortführung des Friedensprozesses. Deswegen können wir hier nicht wegschauen. Deswegen müssen wir uns hier engagieren, und das tun wir vielfältig: militärisch, aber auch zivil. Dass wir engagiert sind, ist auch deshalb wichtig, weil die Staaten in der Region diese Herausforderungen nicht alleine bewältigen können. Ich glaube schon, dass wir zum Ende dieser Debatte diesen einen Punkt, den meine Vorredner der Fraktion angesprochen haben, anführen müssen, auch wenn die Soldaten gegenwärtig natürlich angemessen ausgestattet sind. Aber: Mit Blick auf den Einsatz, mit Blick auf die Erfahrungen, mit Blick auf den Einsatz der Heron-Drohne, die unter anderem zur Unterstützung der Aufklärungsoperationen im Einsatz ist, bleibt die Frage: Können wir den Schutz verbessern? Können wir den Schutz maximieren? Ich meine: Ja, das können wir und sollten wir tun. Als Politik haben wir die Verantwortung dafür, dass der maximale Schutz, der zukünftig möglich ist, gewährleistet wird. Das bedeutet konkret, dass wir auch bewaffnete Drohnen anschaffen müssen. Meine Damen und Herren, Stabilität und Sicherheit im Sahel und in Mali sind ein strategisches Interesse Deutschlands. Deswegen müssen wir uns da weiter engagieren, auch militärisch. Ich bitte um Zustimmung zum Mandat und freue mich, dass das über die Regierungskoalition hinaus bei anderen Fraktionen auch Zustimmung findet. Herzlichen Dank. ({1})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Wir kommen jetzt zur Abstimmung.

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Corona hat in diese Welt hunderttausendfachen Tod und noch viel mehr Leid gebracht und bringt es immer noch. Es sieht ganz so aus, dass das Virus auch eine der schwersten Wirtschaftskrisen dieses Jahrhunderts verursachen wird. Es legt schonungslos die blinden Flecken der Art und Weise, wie wir wirtschaften und leben, offen. Wenn man ein Beispiel dafür bringen müsste, dann das des ausbeuterischen Systems der Fleischindustrie, wo durch Corona aufgezeigt wurde, was seit Jahren falsch läuft und was wir ändern müssen. Ich hoffe, die Bundesregierung hat den Mut, mehr als nur Eckpunkte zu verabschieden. Sie muss deutlich machen, dass wir ein Gesetz brauchen, um die entsprechende Maßnahmen umzusetzen. Es ist bitter nötig, dass wir handeln. ({0}) Das eben genannte Beispiel zeigt, dass es nicht nur darum geht, zu versuchen, die Folgen der Coronakrise mit einem Konjunktur- und Investitionsprogramm aufzufangen; nein, wir müssen uns auch um die Ursachen und Folgen der anderen Krisen kümmern, allen voran der Klimakrise. Das ist die Aufgabe unserer Zeit, meine Damen und Herren. ({1}) Ich bin sehr froh, dass sich die Wirtschaftswissenschaft eigentlich einig ist. Es gibt niemanden Ernstzunehmendes aus der Wissenschaft, der jetzt sagen würde: Wir müssen die Maßnahmen gegen die Klimakrise und andere politische Ziele aufgeben, um wieder in fossile Energien und andere vergangene Technologien zu investieren. – Nein, die Botschaft der Wissenschaft ist klar: Wir müssen jetzt in die Zukunft, in Digitalisierung, in erneuerbare Energien, in Elektromobilität und in vieles andere investieren. ({2}) Meine Damen und Herren, wir brauchen einen Zukunftspakt, der die Grundlagen dafür legt, dass wir nicht in die nächste Krise rutschen. Wir müssen aus der Finanzkrise lernen. Damals haben wir nämlich wieder in fossile Technologien investiert. Wir hatten die Abwrackprämie, während China und Südkorea in Batterietechnologie investiert haben, und das Ergebnis kann man heute sehen. Das war ein Fehler. Daraus müssen wir lernen. Das dürfen wir nicht wiederholen. ({3}) Wenn ich mir angucke, was die Bundesregierung jetzt macht: Da wird die Lufthansa gerettet – ohne jede Klimaauflage; Frankreich macht das ganz anders –, da sind ganz offensichtlich Kaufprämien für Verbrenner im Gespräch, und da gibt es die Ansage der Bundeskanzlerin, den europäischen Green Deal nicht in der Weise umzusetzen, dass Deutschland den gleichen Beitrag leistet. ({4}) Meine Damen und Herren, das ist das exakte Gegenteil von dem, was notwendig ist. Das ist nicht das Konjunkturprogramm, das wir brauchen. ({5}) Wir brauchen ein Konjunkturprogramm, mit dem wir in erneuerbare Energien investieren. Wir schlagen vor, dafür in den nächsten zehn Jahren 500 Milliarden Euro vorzusehen. Wir wollen 100 Milliarden Euro als Sofortprogramm zur Konjunkturstützung.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte?

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir müssen investieren in erneuerbare Energien, in Verkehrswende, in die energetische Gebäudesanierung, in den Bau von 1 Million Sozialwohnungen und in eine neue Wohngemeinnützigkeit.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Krischer, kommen Sie bitte zum Schluss.

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir müssen unser Land klimafreundlicher machen, wir müssen es resilienter machen gegen die Folgen der Klimakrise, und wir müssen uns wappnen gegen alle anderen Krisen, die in Zukunft auf uns zukommen. Wir haben diese eine Chance, und die müssen wir nutzen. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank. – Wir werden der Kollegin Dröge keine Minute von der Redezeit abziehen; aber ich bitte wirklich darum, dass die Redezeiten ansonsten eingehalten werden. Ich möchte heute ungerne das Wort entziehen. Wenn jeder eine Minute überzieht, dann sitzen wir um 18 Uhr noch hier, was keiner will – außer wir beide natürlich, Herr Kollege Birkwald. Als nächster Redner hat der Kollege Rüdiger Kruse, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. ({0})

Rüdiger Kruse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004083, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich danke unserem strengen, aber gerechten Präsidenten für das Wort und will mich an seine Maßgaben gerne halten. ({0}) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als uns der Antrag der Grünen und der Antrag der FDP vorgelegt wurde, haben wir uns zunächst gefragt: Welcher AG sollen wir speziell den Grünenantrag zur Beantwortung geben? Denn darin sind nicht nur bildungspolitische Aspekte enthalten, auch Klimaschutz und Gendergerechtigkeit sind Themen. Man könnte natürlich sagen, die Grünen haben die Gelegenheit genutzt, jeder Arbeitsgruppe zu sagen: Schreibt mal auf, was ihr schon immer haben wolltet, und dann bringen wir das ein. Das könnte man machen. Aber fragen wir uns doch: Wie machen wir es selber? Und natürlich: Wenn die Regierung am 2. Juni ihr Programm präsentiert, dann wird das auch eine bunte Mischung sein, weil Corona alle Bereiche betroffen hat. Das gleichmachende auslösende Moment fordert uns auf, für alle Bereiche eine Antwort zu finden. Jetzt ist die spannende Frage: Finden wir eine Antwort, die jeweils nur in einem Bereich gültig ist, oder schaffen wir es, eine übergeordnete Struktur zu schaffen, ein größeres Ziel, auf das wir unser Handeln ausrichten können? Was mich bei den Debatten hier sehr gefreut hat, ist, dass unsere Zielvorstellungen ziemlich ähnlich sind. Wir wollen mit diesem Land, mit Europa einen Beitrag dazu leisten, dass dieses Land, diese Welt nachhaltiger werden. ({1}) Wahrscheinlich hat die Union drei Kollegen ausgesucht, die hier reden sollen, die sich sehr gerne und mit Leidenschaft dem Thema Nachhaltigkeit widmen. Das, was Sie in Ihren Anträgen aufgeschrieben haben, lässt sich in den 17 Nachhaltigkeitszielen abbilden. Wir sind ja nicht die Einzigen, die sich darüber Gedanken machen. Meine Fraktion hat einen Brief von Prälat Jüsten bekommen; dieser Brief ist heute ganz frisch reingekommen. Sie können überlegen, warum wir diesen Brief bekommen haben; ich werde es Ihnen aber auch sagen. Prälat Jüsten schreibt uns unter anderem – ich zitiere –: Bitten möchte ich Sie dabei schon jetzt, sich als Mitglied des Deutschen Bundestages für die Festschreibung eines Treibgasreduktionszieles von mindestens 55, besser noch 60 Prozent einzusetzen. – Ich weiß nicht, ob das ein Hirtenbrief ist. Ich könnte auch sagen: Ich bin Protestant; gilt nicht für mich. – Aber dieser Brief zeigt, dass ein sehr breiter gesellschaftlicher Dialog dazu stattfindet. Der Brief kam als Reaktion auf das Positionspapier der CDU/CSU-Fraktion zum Green Deal. Jetzt kann man sich fragen: Wie sieht eine konservative Antwort auf die Ereignisse, auf die Krise aus? – In dieser Antwort spiegelt sich wieder, was „konservativ“ bedeutet: „Konservativ“ heißt, das Gute zu bewahren. Das schaffen wir, indem wir alles tun, um Strukturen, mit denen wir in diesem Land zufrieden sein konnten, um Strukturen, die in den letzten Jahrzehnten für unseren Wohlstand gesorgt haben, wiederherzustellen; und die Dinge, mit denen wir nicht zufrieden waren, die wir schon vor Corona verbessern wollten, die werden wir verbessern. – Das ist konservativ. Herr Krischer, Sie haben vorhin gesagt – das steht auch in Ihrem Antrag –, dass es neben Corona noch ein anderes Thema gibt: Klima. Damit haben Sie vollkommen recht. Das gilt aber auch für die aufgeregte Debatte des letzten Jahres; da gab es neben dem Klimathema auch noch andere Themen. Wir als Union haben diese Themen immer gesehen; wir waren deswegen eine Zeit lang nicht an der Frontstellung der Debatte, weil wir nicht die Aufgeregtesten waren. ({2}) Das ist auch jetzt so. Auch wenn man aktuell manchmal den Eindruck hat, dass es kein anderes Thema als Corona gibt, gibt es natürlich auch andere Themen. Deswegen ist es wichtig, dass wir jetzt, wo wir auf einen Schlag so ungeheuer viel Mittel in die Hand nehmen, dafür sorgen, dass wir eben auch die Ziele, die wir seit Monaten, zum Teil seit Jahren verfolgen, erreichen. Als Haushaltspolitiker muss ich sagen, dass wir von dem, was Olaf Scholz immer als „Bazooka“ bezeichnet, nicht so viel im Schrank haben. Das bedeutet: Geld kann man nur einmal ausgeben. Wenn EU-weit 750 Milliarden Euro in den Raum gestellt werden und wir mit allen Garantien etc. über 1 Billion Euro in den Raum stellen, dann können wir das nur einmal machen. Das bedeutet, dass wir gefordert sind, diese Mittel treffsicher einzusetzen. Unsere Vorstellung ist – das können Sie an den Äußerungen der Bundeskanzlerin, aller Minister und unserer Fraktion sehen –, dass wir dabei die Nachhaltigkeitskriterien zugrunde legen. ({3}) Ich habe vorhin gesagt, dass es hinsichtlich der Zielvorstellung eine große Gemeinsamkeit gibt. Es ist wichtig, dass man gemeinsame Zielstellungen für ein Land hat. Die Wege, die man einschlagen möchte, sind – das sieht man auch an diesen beiden Anträgen – aber unterschiedlich. Die FDP setzt wesentlich stärker auf Marktregulierung, und die Grünen setzen wesentlich stärker auf klare Direktiven. Das sind zwei unterschiedliche Modelle, die auch unterschiedliche Vorteile haben. Wir sagen als Partei der Mitte – man kann ganz klar sagen, dass wir auch bei diesem Thema in der Mitte liegen –: Wir wollen die bewährte Struktur der sozialen Marktwirtschaft nutzen, um eine nachhaltige Marktwirtschaft zu etablieren. Das ist unser Ziel. Wir wissen zum Beispiel, dass es nicht richtig ist, bei einer Einzelmaßnahme wie einer Unternehmensrettung – Hilfe für die Lufthansa – diesem einzelnen Unternehmen Vorschriften zu machen; denn Aufgabe des Staates ist es, den Wettbewerb insgesamt zu regulieren. Das heißt, wir müssen die umweltpolitischen, klimapolitischen und sozialpolitischen Vorstellungen für den gesamten Bereich vorgeben. ({4}) Die Beispiele, die Sie vorgebracht haben, zeigen: Staatsinterventionismus in anderen Ländern hat in der Vergangenheit nicht dazu geführt, dass Firma und Land hinterher besser dastanden. Das heißt, mit dem Weg, die unternehmerische Freiheit zu stärken und gleichzeitig den ordnungspolitischen Rahmen zu setzen, liegen wir richtig. Diesen Weg wollen wir fortsetzen. Deswegen begrüße ich unsere Debatte hier sehr. Ich sage ganz klar: Wir müssen als Parlament wesentlich stärker Einfluss nehmen, damit in den Etats, die wir hier beschließen – den nächsten werden wir im November dieses Jahres verabschieden; auch sind immer wieder Nachtragshaushalte zu beschließen –, unser gemeinschaftliches Ziel einer Entwicklung in Richtung einer nachhaltigen Gesellschaft festgeschrieben wird. Das ist unsere Aufgabe. ({5}) Die kann uns keiner nehmen, und die dürfen wir uns auch nicht nehmen lassen, auch nicht in Krisenzeiten. Ich bedanke mich bei allen dafür, dass wir hier so konstruktiv darüber nachdenken, mit welcher Konstruktion wir dafür Sorge tragen können, dass wir diese Unmenge an Mitteln, die wir jetzt einsetzen, so einsetzen, dass wir nicht nur die Folgen von Corona beseitigen, sondern auch die Zukunft stärken. Vielen Dank. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Kruse. Wirklich vorbildlich, Sie haben 30 Sekunden eingespart. ({0}) – Sie haben getauscht; ich sehe es deutlich. – Nächster Redner ist für die AfD-Fraktion der Kollege Andreas Bleck. ({1})

Andreas Bleck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004674, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Werter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! In bunten Bildern wenig Klarheit,Viel Irrthum und ein Fünkchen Wahrheit,So wird der beste Trank gebraut,Der alle Welt erquickt und auferbaut. Nach diesem Rezept aus Goethes Faust haben die Grünen wohl ihren Antrag geschrieben. ({0}) Mit Ihrem 500-Milliarden-Euro-Investitionsprogramm möchten Sie eine sozial-ökologische Transformation einleiten. ({1}) Trotz eines 81-Milliarden-Euro-Schuldenlochs und des 750-Milliarden-Euro-lnvestitionsprogramms der Europäischen Union wollen Sie dieses mit neuen Schulden finanzieren. Getreu dem Motto „viel hilft viel“ soll die Gießkanne der vermeintlichen Wohltätigkeit eingesetzt und damit unser letztes Tafelsilber, die Kreditwürdigkeit, verspielt werden. Zudem machen die Grünen keinen Hehl daraus, dass sie bei ihrem Investitionsprogramm Kennzahlen für wirtschaftlichen Erfolg völlig ausblenden. So fordern sie unter anderem, dass es bei den Kriterien und der Messbarkeit „keine Engführung auf quantitatives Wachstum und das BIP geben darf“. Stattdessen gelten Klimaschutz und Geschlechtergerechtigkeit als wichtigste Kriterien. Das heißt: Solange nur die Ideologie stimmt, kommt es auf keinen wirtschaftlichen Erfolg an. ({2}) Der Antrag der Grünen könnte zweifelsohne auch als Blaupause für einen Zehnjahresplan einer sozialistischen Partei dienen. ({3}) Wie aus dem Politbüro heraus wollen Sie dabei von oben anordnen, welche Technologien gefördert und welche verhindert werden. So gilt die Elektromobilität als ideologisch erwünscht und die Verbrennungsmobilität als ideologisch unerwünscht. Diese Haltung kann uns nicht verwundern. Ob Deutschland als größte Volkswirtschaft der Welt, „Kobold“ als Rohstoff in Batterien oder Stromnetze als Speicher: Regelmäßig leisten die Grünen mit ihren Aussagen wirtschafts- und energiepolitische Offenbarungseide. ({4}) Deshalb, werte Kolleginnen und Kollegen, können wir Ihnen weder die Wirtschafts- noch die Energiepolitik anvertrauen. Der Grundpfeiler Ihres Investitionsprogramms ist die Forcierung der Energiewende. Doch es fehlen die technischen Möglichkeiten, um den Strom aus Wind- und Sonnenkraft zu speichern. ({5}) Auch die Wasserstofftechnologie ist wegen ihres geringen Wirkungsgrades keine Alternative. ({6}) So viele Batterien und Windkraftanlagen, wie für den Klimaschutz und die Versorgungssicherheit nötig sind, können Sie selbst unter Inkaufnahme schwerster Menschenrechtsverletzungen sowie massiver Umwelt- und Naturzerstörung nicht bauen. Der Widerstand der Bürger wächst nämlich von Tag zu Tag. Das ist auch der entscheidende Grund dafür, warum Sie die Genehmigungsverfahren für Windkraftanlagen kompromisslos beschleunigen wollen. Kurzum: Mit unserem letzten Tafelsilber kaufen die Grünen ein sinkendes Schiff, manövrieren im Nebel, blockieren sogar das Steuer und werden so irgendwann am schroffen Felsen der Realität zerschellen. ({7}) Wir werden jedoch verhindern, dass unser Land und unsere Bürger auf diesem Seelenverkäufer in Geiselhaft genommen werden. Auch dem Antrag der Liberalen können wir nicht zustimmen. ({8}) Wie Sie bereits wissen, lehnen wir den Emissionshandel als Ablasshandel kategorisch ab. Allerdings stimmen wir Ihnen bei der Technologieneutralität explizit zu. Mit Technologien wie dem Dual-Fluid-Reaktor könnten ganz ohne GAU-Gefahr und Endlagerproblematik radioaktive Reststoffe verwertet werden. Mit der Kernkraft ist man nicht gezwungen, sich zwischen Klimaschutz oder Versorgungssicherheit zu entscheiden. ({9}) Die Kernkraft hat also das Potenzial zu Zukunftstechnologie. Vielen Dank. – Sie haben nicht richtig zugehört. ({10})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Bevor ich den nächsten Redner aufrufe, will ich noch mal daran erinnern, dass die namentliche Abstimmung um 13.30 Uhr, also in etwas mehr als zehn Minuten, ihr Ende finden wird. Die Kolleginnen und Kollegen, die ihre Stimme noch nicht abgegeben haben, sollten das jetzt also tun, und zwar nicht nur die im Saal, sondern auch die an den Fernseh- und Radiogeräten innerhalb des Deutschen Bundestages. Nächster Redner ist für die SPD-Fraktion der Kollege Carsten Träger. ({0})

Carsten Träger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004426, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Coronapandemie stellt uns vor ungeahnte Herausforderungen, und ich finde, wir haben alle gemeinsam in den letzten Tagen und Wochen vieles richtig gemacht. Vieles ist aber auch noch zu tun. Und neben dem Gesundheitsschutz und dem Schutz des Lebens stehen heute ganz klar die wirtschaftliche Erholung und die Bewältigung der Folgen und der Schäden im Fokus der Debatte. Deswegen werden wir das größte Konjunkturpaket aller Zeiten schnüren – wahrscheinlich das größte zu meinen Lebzeiten. Wenn man sich anschaut, was die europäischen Nachbarn tun werden und wie die Pläne der Europäischen Kommission sind, dann stellt man fest: Wir sprechen hier nicht mehr über Millionen, nicht über Milliarden, sondern über weit mehr als 1 Billion. Damit ist klar, dass wir mit dieser geballten Anstrengung Leitplanken dafür setzen, wohin die wirtschaftliche Entwicklung in den nächsten Jahren geht. Mein Appell ist, dafür zu sorgen, dass diese Entwicklung nachhaltig und zukunftssicher verläuft und im besten Sinne der alten Grundsätze der Nachhaltigkeit trägt. Ökonomie, Ökologie und Soziales funktionieren am besten, wenn sie Hand in Hand gehen. ({0}) Alles andere könnten wir unseren Kindern auch nicht erklären. Weil es ja tatsächlich eine Vielfalt von Maßnahmen sein wird, die wir im Blick haben müssen, will ich in der Kürze der Zeit auf drei Bereiche abheben: Der erste ist die Erfolgsgeschichte der erneuerbaren Energien. Die „German Energiewende“ findet international Beachtung und hat viele Nachahmer. Gerade jetzt, in der Krise, werden weit mehr als 50 Prozent unserer Energieversorgung durch die erneuerbaren Energien bestritten, und diesen Weg wollen wir kraftvoll weitergehen. Da ist noch zu tun, aber ich finde, es ist auch schon mal eine gute Zwischenbilanz erlaubt. Das Ziel ist natürlich, dass wir 2050 klimaneutral wirtschaften. ({1}) Insofern freue ich mich sehr, dass wir in der nächsten Sitzungswoche den Solardeckel endgültig abschaffen können ({2}) und auch den Streit um die Abstandsregel für Windräder lösen werden. ({3}) Der Energiesektor geht also mit gutem Tempo voran. Aber es muss weitergehen. Vor allem ist es jetzt auch wichtig, dass andere Sektoren da sozusagen mit ins Boot geholt werden. Auch dafür gibt es schon Ansätze. Ich möchte hier ausdrücklich das Stichwort „Sektorkopplung“ und das Stichwort „Kraft-Wärme-Kopplung“ nennen. Diese Bereiche müssen wir im Blick haben, damit nicht nur im Energiebereich ökologischer und sozialer Fortschritt gelingen. ({4}) Wenn ich, zweitens, beim Thema Fortschritt bin – wir sprechen über den Schutz und die Erholung der Industrie –, dann komme ich an dem Bereich Mobilität natürlich nicht vorbei. Die deutsche Automobilindustrie ist mit Hunderttausenden Arbeitsplätzen unsere Leitindustrie, und deswegen müssen wir sie im Fokus haben. Ich sage ganz deutlich: Ich bin dabei, wenn es darum geht, dass wir die Automobilindustrie unterstützen und diese Arbeitsplätze schützen. Es muss aber natürlich eine Unterstützung sein, die den Wandel und die Zukunft im Blick hat. Das Ganze muss in eine nachhaltige Richtung gehen. Wir sprechen hier über E-Mobilität, über Antriebstechnologien der näheren und der mittleren Zukunft – Stichwort: Wasserstoff –, über Forschungsförderung, über Pilotanlagen und von mir aus gerne auch über die ersten Anwendungen, damit diese Technologie zum Fliegen gebracht werden kann – so ähnlich, wie wir es bei den erneuerbaren Energien auch gemacht haben. Wir müssen hier Unterstützung geben, und da bin ich gerne dabei. Es geht darum, dass wir nachhaltige Hilfe leisten und keine Strohfeuer zünden. ({5}) Wenn wir über Mobilität sprechen, dann muss man an dieser Stelle auch mal sagen: Es geht nicht nur um das Auto, sondern es geht natürlich auch um den öffentlichen Nahverkehr, es geht um den Schienenverkehr, es geht – nicht zu vergessen – um den Radverkehr und um die Lastenfahrräder. Das alles muss mit rein. Und wo findet das statt? Ganz Wesentliches müssen hier die Kommunen leisten, um die Infrastruktur bereitzustellen. Deswegen müssen wir auch ihre Nöte im Blick haben und sie in dieser Krise unterstützen. ({6}) Der letzte Punkt, den ich ansprechen möchte, ist, dass wir nicht immer nur auf das Ende der Produktion schauen dürfen, sondern wir sollten vielmehr auch mal den Anfang der Kette in den Blick nehmen. Es geht um das Thema Ressourcenverbrauch und um die Frage, was wir mit den Rohstoffen machen, die uns dieser Planet zur Verfügung stellt. Ich bin der festen Auffassung, dass wir hier viel, viel besser werden können. Wir müssen mehr Ressourcen einsparen, und wenn wir die Produkte entwickeln, die wir für unseren Wohlstand brauchen und auch haben wollen, dann müssen wir im Blick haben, wie wir sie in Zukunft gut zerlegen, recyceln und intelligent entsorgen können. Das Stichwort lautet „Kreislaufwirtschaft“. Kreislaufwirtschaft ist viel mehr als nur Abfallwirtschaft. Hier könnten wir mit wenig Geld viele Potenziale auslösen und heben. Deutschland ist in diesem Bereich schon Weltmarktführer, und da gibt es auch schon gute Anfänge. Diese Krise bietet die Chance, dass wir diese Technologie exportieren und bei der zukünftigen Entwicklung im Blick haben. ({7}) Da müssen wir gar nicht viel Geld in die Hand nehmen, sondern mit kluger Regulierung könnten wir tatsächlich große Unterstützung leisten. Die Europäer haben das erkannt. Bei der Europäischen Kommission und beim Green Deal steht das Thema Kreislaufwirtschaft ganz oben auf der Agenda, und meine Bitte, mein Appell ist, dass entsprechende Maßnahmen Teil des nationalen Konjunkturpakets werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, erliegen wir nicht der Versuchung, die Klimakrise gegen die Coronakrise auszuspielen, sondern suchen wir einen Weg, der uns aus beiden Krisen herausführt! Wir haben da schon vieles gemeinsam erreicht, und ich glaube, wir sollten diese Krise als Chance bewerten und kraftvolle Maßnahmen ergreifen, damit wir in beiden Bereichen vorankommen. Herzlichen Dank. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Träger. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Lukas Köhler, FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Lukas Köhler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004786, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kruse, Sie haben eben darüber gesprochen, dass wir die Marktregulierung einführen wollen. ({0}) – Das hat an ein paar Stellen ein bisschen wehgetan. – Ich muss sagen: Bei einigen Punkten haben Sie recht. Ich glaube, Märkte brauchen einen Rahmen, damit sie funktionieren. Wir müssen diese Rahmen aber so klug setzen, dass sie nicht behindert werden, und das ist das, was passieren könnte. Herr Bleck, Sie sagten, das Programm der Grünen, das hier vorgelegt wurde, sei ein Flickenteppich. Ich bin froh, dass die Grünen sich Gedanken gemacht haben. Bei Ihrer Fraktion habe ich das bis jetzt noch nicht gesehen. ({1}) Der Punkt ist: Inhaltlich ist es dann wieder was anderes. Das ist ein bisschen das Problem bei der ganzen Debatte um die Coronamaßnahmen, die wir im Moment führen. Wir sehen, dass alle versuchen, alles aus ihrem Köcher – Dinge, die sie eh schon lange gefordert haben – einzusetzen. Sie sagen: Mensch, wir geben jetzt so viel Geld aus. Wir entwickeln keine neuen Ideen, sondern fördern mal das, was wir eh schon immer machen wollten. – Das finde ich schade, obwohl man bei einigen Punkten sicherlich diskutieren kann, ob es sinnvoll ist. Bei vielen, würde ich sagen, ist es das aber eher nicht. Carsten, du hast gerade von den Nachahmern beim EEG gesprochen. Darauf möchte ich jetzt noch ein bisschen eingehen. Es gibt viele Leute, die sich gerade um die erneuerbaren Energien bemühen, und ich glaube, dass in alldem ein Funke Wahrheit liegt, über den wir reden müssen. Der Klimawandel und die Coronakrise sind in den letzten Monaten auf drei unterschiedliche Arten verbunden worden. Ich glaube, zwei davon sind eher irrelevant. Zum Beispiel freuen sich manche angesichts dieser tödlichen Pandemie darüber, dass wir sinkende Emissionen haben. Wer Degrowth, Entschleunigung oder anderen esoterischen Nonsens predigt, der hat vom realen Leben leider wenig verstanden. ({2}) Wer meint, dass Klimaschutz jetzt ein Luxus sei, den wir uns erst mal nicht mehr leisten könnten, der hat nicht begriffen, dass der Klimawandel keine Modeerscheinung für jugendliche Schulschwänzer, sondern ein reales Problem ist, das in Teilen des globalen Südens schon heute – in Zukunft aber noch viel mehr – die Existenz vieler Menschen bedroht. Das ist ein Problem, mit dem wir umgehen müssen. Es gibt mindestens eine Gemeinsamkeit, die Coronakrise und Klimawandel haben: Sie sind eine Riesenherausforderung für die Wirtschaft. Abgesehen von den akuten Rettungen durch Liquiditätshilfen, die Unternehmen dringend brauchen, die sie auch ganz unabhängig von politischen Maßnahmen gebraucht haben, einfach, um überleben zu können, müssen wir darüber nachdenken, wie wir die Wirtschaft in Zukunft wieder in Schwung bringen können.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Köhler, kann ich Sie kurz unterbrechen?

Dr. Lukas Köhler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004786, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Aber natürlich.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Ich muss eine amtliche Maßnahme vornehmen, die mit dem Ende der namentlichen Abstimmung zu tun hat. Ich garantiere Ihnen, dass Ihnen diese Unterbrechung mit einer Minute zusätzlicher Redezeit gutgeschrieben wird.

Dr. Lukas Köhler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004786, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Fantastisch!

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zurück zum Tagesordnungspunkt 26 a. Die Zeit für die namentliche Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu dem Bundeswehreinsatz MINUSMA ist gleich vorbei. Ich frage: Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend oder sichtbar, das seine Stimme noch nicht abgegeben hat? – Das ist erkennbar nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis wird Ihnen später bekannt gegeben. Lieber Herr Kollege Köhler, Sie haben jetzt erneut das Wort zu Ihrer Rede. ({0})

Dr. Lukas Köhler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004786, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Noch mal von vorn? Sie fanden es so gut, dass ich noch mal anfangen soll? Super! Der Klimaschutz hat eine ganz andere Dimension als die Coronakrise, da er ein viel langfristigeres Projekt ist. Wir müssen bis 2050 klimaneutral werden, um das Pariser Abkommen zu erfüllen. Das heißt aber auch, dass wir die Investitionen, die die Wirtschaft heute tätigt, betrachten müssen: Ein Stahlwerk, das gebaut wird, wird in 30 Jahren abgeschrieben sein. Das heißt, die Maßnahmen, die wir uns heute zur Förderung der Wirtschaft überlegen, die wir jetzt umsetzen wollen, müssen in diesen Investitionszyklen gedacht werden. Das zurückzustellen, den Klimawandel auszublenden, die Überlegungen zum Schutz des Klimas zurückzustellen, würde nur dazu führen, dass wir die Kosten versenken, die wir heute aufrufen. Das wäre völliger Nonsens. Wir haben nicht das Geld, um die Investitionen zweimal zu tätigen. Wir müssen also im doppelten Wortsinne nachhaltiges Wirtschaftswachstum erreichen. Und dabei müssen wir den Weg in eine klimaneutrale Zukunft mitbedenken. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich muss zugeben: Für mich als Liberalen sind Konjunkturprogramme, Konjunkturpakete schwierig. Ich bin der Meinung: Der Staat soll sich raushalten, dann macht er die beste Wirtschaftspolitik. Der Staat muss zurückstehen und nicht in irgendeiner Weise die Wirtschaft behindern. Aber diese aktuelle Rezession, die auf uns zukommt, ist keine normale Situation, in der ich als Liberaler sagen würde: Wir gehen nach dem Lehrbuch vor. Vielmehr ist es eine vom Staat hervorgerufene Situation durch Maßnahmen, die nötig waren, um die Gesundheit unserer Bevölkerung zu schützen. Diese Maßnahmen, die wir eingeführt haben und die weltweit eingeführt wurden, führen natürlich zu einer Rezession. Deswegen ist es auch richtig, dass wir uns Gedanken darüber machen, wie wir als Staat der Wirtschaft helfen können, wieder auf die Füße zu kommen. Das muss aber mit fairen Regeln und klaren Spielregeln geschehen. Das können keine Einzelfördermaßnahmen sein. Wenn der Ministerpräsident Kretschmann von Baden-Württemberg Abwrackprämien fordert, dann ist das der falsche Weg. Das ist wieder eine Forderung, dass wir einzelne Industrien retten, dass wir in einzelnen Bereichen vorwärtsgehen. Ich glaube nicht, dass das der richtige Weg ist. Ich glaube, die Rahmenbedingungen müssen so gesetzt sein, dass wir ein wirkliches Fortkommen durch Entlastung schaffen. Das ist der viel klügere Weg. ({0}) Wichtig ist jetzt, Wirtschaftskompetenz und Klimaschutz miteinander zu verbinden. Deswegen bin ich den Jugendbewegungen der letzten Jahre dankbar dafür, dass sie dieses Thema auf die Tagesordnung gesetzt haben. Ich bin allen, auch hier im Haus, dankbar, dass der Klimaschutz so wichtig geworden ist. Er ist ein absolut relevanter Faktor, auch im Hinblick auf Zukunftsinvestitionen. ({1}) – Herr Theurer sieht das ganz genauso. – Das sind nicht meine Ideen, von denen ich da spreche, das sind die Ideen derjenigen, die wirklich etwas von Wirtschaft verstehen, und das sind eben viele der Wirtschaftsbosse: Das ist der Chef von Daimler, der sagt, dass wir den Klimawandel nicht verneinen sollten, obwohl es die Coronakrise gibt. Das ist der Chef von BlackRock, der seinen Unternehmen sagt, dass sie nachhaltig in Klimaschutz investieren müssen. ({2}) Genau das sind die Wege, auf denen wir jetzt gehen müssen. Ich glaube, es ist wichtig, heute darüber nachzudenken, dass man Wirtschaftskompetenz braucht, um den Klimawandel zu bewältigen. Und da, meine Damen und Herren, stehen wir hier im Hohen Haus natürlich an erster Stelle. ({3}) Meine Damen und Herren, wir haben jetzt die Chance, Investitionen vorzuziehen. Ich glaube, dass das gerade für die Energiewende extrem relevant ist. Wir müssen dafür sorgen, dass die Stromnetze endlich ertüchtigt werden; da müssen wir schneller vorangehen. Das Planungssicherstellungsgesetz war nur ein erster Schritt. Wir müssen dafür sorgen, dass das, was wir in Zukunft an Veränderungen am Industriemarkt brauchen, endlich umgesetzt wird. Wir müssen die Bürgerinnen und Bürger entlasten, und wir müssen dafür sorgen, dass es nicht zu unnötigen Belastungen kommt, indem wir Maßnahmen vorsehen, die nicht dem Klimaschutz dienen, aber den Menschen das Geld aus der Tasche ziehen. Deswegen ist es so wichtig, dass wir endlich darüber nachdenken, wie wir mit dem Brennstoffemissionshandelsgesetz umgehen. Das bringt im ersten Jahr gar nichts fürs Klima: Mit 25 Euro – gerade bei den aktuellen Energiepreisen – haben Sie nichts für den Klimaschutz gewonnen; aber Sie haben den Bürgerinnen und Bürgern viel Geld aus der Tasche genommen, Sie haben den Gießereien das Leben erschwert, Sie haben den Textilindustrien, die gerade die Mundschutze nähen, die Wettbewerbsfähigkeit auf dem europäischen Markt genommen. Das kann noch nicht das Ziel sein. Wir wollen Klimaschutz umsetzen; wir wollen doch nicht die Menschen belasten. Frau Ministerin Schulze, Sie hatten gestern noch mal angesprochen, wie gut der Emissionshandel funktioniert. Ich glaube, das sehen wir. ({4}) Wir sehen es am letzten Jahr, wir sehen, welchen positiven Effekt er hat. Wir sehen es aber auch an den Märkten, weil der Emissionshandel konjunkturstärkend funktioniert. Er stärkt die Konjunktur dadurch, dass keine so hohen Energiepreise aufgerufen werden. Das müssen wir mitnehmen; denn das ist der Weg, wie wir Klimaschutz wirklich umgesetzt bekommen. Deswegen wäre die Ausweitung des Emissionshandels einfach ein wichtiges Thema. Ein letzter Punkt. Ich schätze den Staatssekretär Flasbarth aus dem Umweltministerium sehr. Er ist ein extrem kluger Mann. ({5}) – Ich meine den Staatssekretär im Umweltministerium, nicht Frau Staatssekretärin Flachsbarth aus dem Entwicklungsministerium. – Ich fand es erschreckend, dass er Maßnahmen, die hier im Hohen Haus diskutiert werden, als dumm bezeichnet. Gerade die Idee, den Emissionshandel auszuweiten, als dumm zu bezeichnen, finde ich in einer politischen Debatte unangemessen. Das fand ich schade, zumal Sie ja selber gesagt haben, wie gut er funktioniert. Es gibt drei Wege, wie wir mit dem Klimaschutz und der Coronakrise umgehen können: Wir müssen die Bürgerinnen und Bürger, die Unternehmen entlasten, wir müssen Investitionen vorziehen, wir müssen die Wirtschaft stärken und dürfen dabei aber nicht den Klimawandel und die anderen notwendigen Maßnahmen vergessen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. Lukas Köhler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004786, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das ist der richtige Weg in die Zukunft. Wir gehen ihn gemeinsam und freuen uns darauf. Vielen herzlichen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Köhler. – Nächster Redner ist für die Fraktion Die Linke der Kollege Bernd Riexinger. ({0})

Bernd Riexinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004865, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wenn wir Massenentlassungen verhindern, Arbeitsplätze erhalten und Beschäftigung sichern wollen, brauchen wir dringend ein anspruchsvolles Investitionsprogramm. ({0}) Wenn wir die Klimakatastrophe aufhalten und ein neues Wohlstandsmodell schaffen wollen, brauchen wir einen grundsätzlichen Richtungswechsel: ({1}) hin zu sozialer Gerechtigkeit, hin zu einer nachhaltigen, emissionsfreien Wirtschaft. ({2}) Steuersenkungen, die Abschaffung des Solis für die einkommensstärksten 10 Prozent ({3}) oder gar die Senkung des Mindestlohns, wie wir es von einigen Unionsvertretern hören, sind der falsche Weg. ({4}) In einer Zeit, in der die Nachfrage weltweit eingebrochen ist, Löhne zu senken, ist nicht nur unsozial, sondern ökonomisches Harakiri. ({5}) Die Mindestlöhne sind bei uns nicht zu hoch, sondern deutlich zu niedrig. ({6}) Milliarden an Unternehmen geben, die das Klima schädigen, Arbeitsplätze vernichten, Dividenden an die Aktionäre auszahlen oder die Mitbestimmung mit Füßen treten, kommt für uns nicht infrage. ({7}) Deshalb ist das Verhandlungsergebnis bei der Lufthansa ein schlechtes Vorbild. Staatshilfen in Höhe des doppelten Börsenwertes zu gewähren, ohne klare Bedingungen für Beschäftigungssicherung und Klimaschutz zu stellen, ist ja wohl ein schlechter Witz. ({8}) Ein Investitionsprogramm muss deshalb in eine andere Richtung gehen. Der Antrag der Grünen liefert dafür übrigens eine ordentliche Grundlage. ({9}) Dass wir viel mehr Geld in unser Gesundheitswesen und in die Altenpflege stecken müssen, ist in der Coronakrise doch mehr als deutlich geworden. Wir brauchen dringend mehr Personal, bessere Bezahlung und bessere Arbeitsbedingungen. Dem Beifallklatschen müssen endlich Taten folgen. ({10}) Die Beschäftigten haben kein Verständnis mehr, dass nichts passiert. ({11}) Krankenhäuser gehören in öffentliche Hand. Profit, Markt und Wettbewerb haben dort nichts verloren. ({12}) Also Schluss mit den Fallpauschalen! Die Rekommunalisierung von Krankenhäusern ist längst überfällig. In diesem Bereich ist der Antrag der Grünen übrigens ziemlich schwach auf der Brust. Wenn nicht schnell ein Schutzschirm für die Kommunen aufgestellt wird, droht ein Desaster: Ausschreibungen werden zurückgezogen, und die längst fälligen Investitionen in Schulen, Kitas und den Ausbau der Infrastruktur bleiben aus. Es können doch alle live verfolgen, wie groß der Sanierungsstau in den Schulen, der Personalmangel in den Kitas oder in den Bau- und Planungsämtern ist. Da muss dringend Abhilfe geschaffen werden! ({13}) Ein Schlüssel für wirkungsvolleren Klimaschutz ist eine sozial gerechte Verkehrswende. Bereits heute würden viele Menschen umsteigen, ({14}) wenn es zuverlässige und günstige Alternativen gäbe. In den Ausbau des ÖPNV, der Bahn, der Fahrradwege muss dringend investiert werden, ({15}) und die Preise müssen gesenkt werden, perspektivisch muss der ÖPNV kostenfrei werden. ({16}) Wer ernsthaft Finanzhilfen für die Bahn mit Einsparungen beim Personal verbindet, der hat den Schuss nicht gehört. Die Bahn braucht dringend mehr Personal, nicht weniger. Die Zeit ist reif. ({17}) – Sie haben doch gar nichts zu sagen – ehrlich gesagt, das hat man doch jetzt gehört – zu diesen Themen. Das ändert man auch nicht durch Zwischenrufe. Die Zeit ist reif für einen sozial-ökologischen Umbau der Wirtschaft. Wir wollen Automobilkonzerne und Zulieferbetriebe umbauen zu Mobilitätsunternehmen, die einen Beitrag zur Rettung des Klimas leisten. ({18}) Das schützt Arbeitsplätze und Klima. Es greift zu kurz, nur auf die Elektromotorisierung zu setzen. Die Zukunft der Automobilindustrie liegt zwar auch in der CO2-neutralen Produktion von E-Autos, ({19}) aber eben auch verstärkt in der Produktion von Bussen, Straßenbahnen, Zügen und digitalisierter Verkehrssteuerung. ({20}) Es ist deshalb völlig richtig, wenn Sie sagen, dass fossile Verbrenner nicht gefördert werden dürfen. ({21}) Es erscheint mir aber, dass Sie da noch Klärungsbedarf mit Ihrem Ministerpräsidenten in meinem Bundesland Baden-Württemberg haben. ({22}) Der fordert unverdrossen Abwrackprämien für Diesel und Benziner. Das nutzt übrigens auch den Beschäftigten herzlich wenig. Das ist Strohfeuerpolitik und hat mit Nachhaltigkeit nichts zu tun. ({23}) Wir können die Lebensqualität der Mehrheit der Bevölkerung verbessern, durch Investitionen in Krankenhäuser und Altenheime, in Kitas und Schulen, durch mehr bezahlbaren Wohnraum in öffentlichem Eigentum. Wir können auch durch ein gutes Investitionsprogramm das Klima schützen und sinnvolle und sichere Arbeit fördern. ({24}) Die himmelschreiende Ungleichheit bei Löhnen und Arbeitszeiten, die sich in den letzten Jahren entwickelt hat, ({25}) muss dabei auch überwunden werden. ({26}) Eines muss ich noch sagen: Bei der Finanzierung sind Sie von den Grünen wirklich schwach auf der Brust; da hätte ich mehr erwartet. Es müssen doch endlich einmal die Reichen und Vermögenden zur Finanzierung herangezogen werden. ({27}) Wir brauchen eine Vermögensabgabe.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Bernd Riexinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004865, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Wir brauchen den Einstieg in eine Vermögensteuer. Wer dazu nicht den Mut hat, wird kaum den nötigen sozial-ökologischen Wechsel herbeiführen können. Wir haben den Mut dazu. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Bevor ich den nächsten Redner aufrufe, liebe Kolleginnen und Kollegen, gebe ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung „Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der Multidimensionalen Integrierten Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen in Mali (MINUSMA)“, Drucksachen 19/19004 und 19/19585, bekannt: abgegebene Stimmen 636. Mit Ja haben gestimmt 485, mit Nein haben gestimmt 144, Enthaltungen 7. Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 636; davon ja: 485 nein: 144 enthalten: 7 Ja CDU/CSU Dr. Michael von Abercron Stephan Albani Norbert Maria Altenkamp Philipp Amthor Artur Auernhammer Peter Aumer Thomas Bareiß Norbert Barthle Maik Beermann Manfred Behrens (Börde) Veronika Bellmann Dr. André Berghegger Melanie Bernstein Christoph Bernstiel Peter Beyer Marc Biadacz Steffen Bilger Peter Bleser Norbert Brackmann Michael Brand (Fulda) Dr. Reinhard Brandl Silvia Breher Sebastian Brehm Heike Brehmer Ralph Brinkhaus Dr. Carsten Brodesser Gitta Connemann Astrid Damerow Alexander Dobrindt Michael Donth Marie-Luise Dött Hansjörg Durz Thomas Erndl Hermann Färber Uwe Feiler Enak Ferlemann Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) Dr. Maria Flachsbarth Thorsten Frei Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) Michael Frieser Hans-Joachim Fuchtel Ingo Gädechens Dr. Thomas Gebhart Alois Gerig Eberhard Gienger Eckhard Gnodtke Ursula Groden-Kranich Hermann Gröhe Klaus-Dieter Gröhler Astrid Grotelüschen Markus Grübel Manfred Grund Oliver Grundmann Monika Grütters Fritz Güntzler Olav Gutting Christian Haase Jürgen Hardt Matthias Hauer Mark Hauptmann Dr. Matthias Heider Mechthild Heil Thomas Heilmann Frank Heinrich (Chemnitz) Mark Helfrich Rudolf Henke Michael Hennrich Marc Henrichmann Ansgar Heveling Christian Hirte Dr. Heribert Hirte Alexander Hoffmann Karl Holmeier Dr. Hendrik Hoppenstedt Erich Irlstorfer Thomas Jarzombek Ingmar Jung Alois Karl Anja Karliczek Torbjörn Kartes Volker Kauder Dr. Stefan Kaufmann Ronja Kemmer Roderich Kiesewetter Michael Kießling Dr. Georg Kippels Volkmar Klein Axel Knoerig Jens Koeppen Markus Koob Carsten Körber Alexander Krauß Gunther Krichbaum Dr. Günter Krings Rüdiger Kruse Michael Kuffer Dr. Roy Kühne Andreas G. Lämmel Katharina Landgraf Ulrich Lange Jens Lehmann Paul Lehrieder Dr. Andreas Lenz Antje Lezius Andrea Lindholz Dr. Carsten Linnemann Patricia Lips Nikolas Löbel Bernhard Loos Daniela Ludwig Dr. Saskia Ludwig Karin Maag Yvonne Magwas Dr. Thomas de Maizière Gisela Manderla Dr. Astrid Mannes Matern von Marschall Hans-Georg von der Marwitz Andreas Mattfeldt Stephan Mayer (Altötting) Dr. Michael Meister Jan Metzler Dr. h. c. (Univ Kyiv) Hans Michelbach Dr. Mathias Middelberg Dietrich Monstadt Karsten Möring Elisabeth Motschmann Axel Müller Sepp Müller Carsten Müller (Braunschweig) Stefan Müller (Erlangen) Dr. Andreas Nick Petra Nicolaisen Michaela Noll Dr. Georg Nüßlein Wilfried Oellers Florian Oßner Josef Oster Henning Otte Ingrid Pahlmann Sylvia Pantel Martin Patzelt Dr. Joachim Pfeiffer Stephan Pilsinger Dr. Christoph Ploß Eckhard Pols Thomas Rachel Kerstin Radomski Alexander Radwan Dr. Peter Ramsauer Eckhardt Rehberg Lothar Riebsamen Josef Rief Johannes Röring Dr. Norbert Röttgen Stefan Rouenhoff Erwin Rüddel Albert Rupprecht Stefan Sauer Dr. Wolfgang Schäuble Jana Schimke Tankred Schipanski Christian Schmidt (Fürth) Dr. Claudia Schmidtke Patrick Schnieder Nadine Schön Felix Schreiner Dr. Klaus-Peter Schulze Uwe Schummer Armin Schuster (Weil am Rhein) Torsten Schweiger Detlef Seif Johannes Selle Reinhold Sendker Dr. Patrick Sensburg Bernd Siebert Thomas Silberhorn Björn Simon Tino Sorge Jens Spahn Katrin Staffler Frank Steffel Dr. Wolfgang Stefinger Albert Stegemann Andreas Steier Peter Stein (Rostock) Sebastian Steineke Johannes Steiniger Christian Frhr. von Stetten Dieter Stier Gero Storjohann Stephan Stracke Max Straubinger Karin Strenz Dr. Peter Tauber Dr. Hermann-Josef Tebroke Hans-Jürgen Thies Alexander Throm Dr. Dietlind Tiemann Antje Tillmann Markus Uhl Dr. Volker Ullrich Arnold Vaatz Kerstin Vieregge Volkmar Vogel (Kleinsaara) Christoph de Vries Kees de Vries Dr. Johann David Wadephul Marco Wanderwitz Nina Warken Kai Wegner Albert H. Weiler Marcus Weinberg (Hamburg) Dr. Anja Weisgerber Peter Weiß (Emmendingen) Sabine Weiss (Wesel I) Marian Wendt Kai Whittaker Annette Widmann-Mauz Bettina Margarethe Wiesmann Klaus-Peter Willsch Elisabeth Winkelmeier-Becker Oliver Wittke Tobias Zech Emmi Zeulner Dr. Matthias Zimmer SPD Niels Annen Ingrid Arndt-Brauer Bela Bach Heike Baehrens Ulrike Bahr Nezahat Baradari Doris Barnett Dr. Matthias Bartke Sören Bartol Bärbel Bas Lothar Binding (Heidelberg) Dr. Eberhard Brecht Leni Breymaier Dr. Karl-Heinz Brunner Katrin Budde Dr. Lars Castellucci Bernhard Daldrup Dr. Karamba Diaby Esther Dilcher Sabine Dittmar Saskia Esken Yasmin Fahimi Dr. Johannes Fechner Dr. Fritz Felgentreu Dr. Edgar Franke Ulrich Freese Dagmar Freitag Michael Gerdes Martin Gerster Angelika Glöckner Timon Gremmels Michael Groß Uli Grötsch Bettina Hagedorn Rita Hagl-Kehl Metin Hakverdi Dirk Heidenblut Hubertus Heil (Peine) Gabriela Heinrich Marcus Held Wolfgang Hellmich Dr. Barbara Hendricks Gabriele Hiller-Ohm Thomas Hitschler Frank Junge Josip Juratovic Thomas Jurk Oliver Kaczmarek Elisabeth Kaiser Ralf Kapschack Gabriele Katzmarek Arno Klare Lars Klingbeil Dr. Bärbel Kofler Daniela Kolbe Christine Lambrecht Christian Lange (Backnang) Dr. Karl Lauterbach Sylvia Lehmann Helge Lindh Kirsten Lühmann Heiko Maas Isabel Mackensen Caren Marks Dorothee Martin Katja Mast Christoph Matschie Dr. Matthias Miersch Klaus Mindrup Susanne Mittag Falko Mohrs Claudia Moll Siemtje Möller Bettina Müller Detlef Müller (Chemnitz) Michelle Müntefering Dr. Rolf Mützenich Dietmar Nietan Ulli Nissen Thomas Oppermann Josephine Ortleb Mahmut Özdemir (Duisburg) Aydan Özoğuz Markus Paschke Christian Petry Detlev Pilger Sabine Poschmann Florian Post Achim Post (Minden) Florian Pronold Dr. Sascha Raabe Martin Rabanus Mechthild Rawert Andreas Rimkus Sönke Rix Dennis Rohde Dr. Martin Rosemann Dr. Ernst Dieter Rossmann Michael Roth (Heringen) Bernd Rützel Sarah Ryglewski Johann Saathoff Axel Schäfer (Bochum) Dr. Nina Scheer Marianne Schieder Udo Schiefner Dr. Nils Schmid Uwe Schmidt Ulla Schmidt (Aachen) Carsten Schneider (Erfurt) Johannes Schraps Michael Schrodi Ursula Schulte Martin Schulz Swen Schulz (Spandau) Frank Schwabe Stefan Schwartze Andreas Schwarz Rita Schwarzelühr-Sutter Rainer Spiering Svenja Stadler Sonja Amalie Steffen Mathias Stein Kerstin Tack Claudia Tausend Michael Thews Markus Töns Carsten Träger Ute Vogt Marja-Liisa Völlers Dirk Vöpel Dr. Joe Weingarten Bernd Westphal Dirk Wiese Gülistan Yüksel Dagmar Ziegler Stefan Zierke Dr. Jens Zimmermann FDP Grigorios Aggelidis Renata Alt Christine Aschenberg-Dugnus Nicole Bauer Jens Beeck Dr. Jens Brandenburg (Rhein-Neckar) Mario Brandenburg (Südpfalz) Sandra Bubendorfer-Licht Dr. Marco Buschmann Carl-Julius Cronenberg Britta Katharina Dassler Bijan Djir-Sarai Christian Dürr Hartmut Ebbing Dr. Marcus Faber Otto Fricke Thomas Hacker Peter Heidt Markus Herbrand Torsten Herbst Katja Hessel Dr. Gero Clemens Hocker Manuel Höferlin Dr. Christoph Hoffmann Reinhard Houben Ulla Ihnen Olaf In der Beek Gyde Jensen Dr. Christian Jung Karsten Klein Dr. Marcel Klinge Daniela Kluckert Pascal Kober Dr. Lukas Köhler Wolfgang Kubicki Konstantin Kuhle Alexander Kulitz Alexander Graf Lambsdorff Ulrich Lechte Christian Lindner Michael Georg Link (Heilbronn) Oliver Luksic Till Mansmann Dr. Jürgen Martens Christoph Meyer Alexander Müller Frank Müller-Rosentritt Dr. Martin Neumann (Lausitz) Matthias Nölke Hagen Reinhold Bernd Reuther Dr. h. c. Thomas Sattelberger Christian Sauter Frank Schäffler Dr. Wieland Schinnenburg Matthias Seestern-Pauly Frank Sitta Dr. Hermann Otto Solms Bettina Stark-Watzinger Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann Benjamin Strasser Linda Teuteberg Stephan Thomae Manfred Todtenhausen Dr. Florian Toncar Dr. Andrew Ullmann Gerald Ullrich Sandra Weeser Nicole Westig Katharina Willkomm BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Luise Amtsberg Lisa Badum Annalena Baerbock Margarete Bause Dr. Danyal Bayaz Agnieszka Brugger Dr. Anna Christmann Ekin Deligöz Katharina Dröge Harald Ebner Matthias Gastel Kai Gehring Stefan Gelbhaar Britta Haßelmann Dr. Bettina Hoffmann Dr. Anton Hofreiter Ottmar von Holtz Dieter Janecek Dr. Kirsten Kappert-Gonther Uwe Kekeritz Katja Keul Sven-Christian Kindler Oliver Krischer Christian Kühn (Tübingen) Renate Künast Markus Kurth Steffi Lemke Dr. Tobias Lindner Dr. Irene Mihalic Claudia Müller Beate Müller-Gemmeke Dr. Ingrid Nestle Dr. Konstantin von Notz Omid Nouripour Cem Özdemir Filiz Polat Tabea Rößner Claudia Roth (Augsburg) Dr. Manuela Rottmann Manuel Sarrazin Ulle Schauws Stefan Schmidt Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn Margit Stumpp Markus Tressel Jürgen Trittin Dr. Julia Verlinden Daniela Wagner Beate Walter-Rosenheimer Gerhard Zickenheiner Nein SPD Hilde Mattheis René Röspel AfD Dr. Bernd Baumann Marc Bernhard Andreas Bleck Peter Boehringer Stephan Brandner Jürgen Braun Marcus Bühl Matthias Büttner Petr Bystron Tino Chrupalla Joana Cotar Dr. Gottfried Curio Siegbert Droese Thomas Ehrhorn Berengar Elsner von Gronow Dr. Michael Espendiller Dietmar Friedhoff Dr. Anton Friesen Markus Frohnmaier Dr. Götz Frömming Dr. Alexander Gauland Dr. Axel Gehrke Albrecht Glaser Franziska Gminder Wilhelm von Gottberg Kay Gottschalk Armin-Paulus Hampel Mariana Iris Harder-Kühnel Dr. Roland Hartwig Jochen Haug Udo Theodor Hemmelgarn Waldemar Herdt Martin Hess Dr. Heiko Heßenkemper Karsten Hilse Nicole Höchst Martin Hohmann Dr. Bruno Hollnagel Leif-Erik Holm Johannes Huber Fabian Jacobi Dr. Marc Jongen Jens Kestner Stefan Keuter Norbert Kleinwächter Enrico Komning Jörn König Dr. Rainer Kraft Frank Magnitz Jens Maier Dr. Lothar Maier Dr. Birgit Malsack-Winkemann Corinna Miazga Andreas Mrosek Volker Münz Sebastian Münzenmaier Christoph Neumann Jan Ralf Nolte Ulrich Oehme Gerold Otten Frank Pasemann Tobias Matthias Peterka Paul Viktor Podolay Stephan Protschka Martin Reichardt Martin Erwin Renner Roman Johannes Reusch Ulrike Schielke-Ziesing Jörg Schneider Uwe Schulz Thomas Seitz Martin Sichert Detlev Spangenberg René Springer Beatrix von Storch Dr. Alice Weidel Dr. Harald Weyel Wolfgang Wiehle Dr. Heiko Wildberg Dr. Christian Wirth DIE LINKE Doris Achelwilm Gökay Akbulut Simone Barrientos Dr. Dietmar Bartsch Lorenz Gösta Beutin Matthias W. Birkwald Heidrun Bluhm-Förster Michel Brandt Christine Buchholz Dr. Birke Bull-Bischoff Jörg Cezanne Fabio De Masi Dr. Diether Dehm Anke Domscheit-Berg Klaus Ernst Susanne Ferschl Brigitte Freihold Nicole Gohlke Dr. Gregor Gysi Dr. André Hahn Heike Hänsel Matthias Höhn Andrej Hunko Ulla Jelpke Kerstin Kassner Dr. Achim Kessler Katja Kipping Jan Korte Jutta Krellmann Caren Lay Sabine Leidig Ralph Lenkert Stefan Liebich Dr. Gesine Lötzsch Pascal Meiser Niema Movassat Norbert Müller (Potsdam) Zaklin Nastic Dr. Alexander S. Neu Thomas Nord Petra Pau Sören Pellmann Victor Perli Tobias Pflüger Martina Renner Bernd Riexinger Eva-Maria Schreiber Dr. Petra Sitte Helin Evrim Sommer Friedrich Straetmanns Dr. Kirsten Tackmann Jessica Tatti Alexander Ulrich Kathrin Vogler Andreas Wagner Harald Weinberg Katrin Werner BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Canan Bayram Sylvia Kotting-Uhl Corinna Rüffer Fraktionslos Marco Bülow Verena Hartmann Enthalten FDP Reginald Hanke DIE LINKE Michael Leutert BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Erhard Grundl Maria Klein-Schmeink Monika Lazar Friedrich Ostendorff Lisa Paus Abgeordnete, die sich wegen gesetzlichen Mutterschutzes für ihre Abwesenheit entschuldigt haben, sind in der Liste der entschuldigten Abgeordneten (Anlage 1) aufgeführt. Nunmehr rufe ich den nächsten Redner auf; das ist der Kollege Kai Whittaker, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Kai Whittaker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004443, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Werte Kollegen! Lieber Kollege Riexinger, wir wollen nach Corona unsere Wirtschaft modernisieren, nicht den Marxismus einführen; das ist der Unterschied. ({0}) Zunächst einmal möchte ich festhalten, worin sich die allermeisten Fraktionen hier in diesem Haus einig sind, nämlich dass diese Coronakrise eine unglaubliche Chance ist, unsere Wirtschaft zu modernisieren. In dem Ziel sind wir uns ja einig, aber über den Weg dorthin streiten wir. Und da muss ich offen gestehen, dass mich die beiden Anträge von der FDP und von den Grünen entsetzt haben. An die Kollegen der FDP möchte ich sehr klar und deutlich sagen: Sie breiten sich auf drei Seiten in einer epischen Beschreibung der wirtschaftlichen Lage in Deutschland aus. Und da merkt man schon, dass Sie da total überfordert sind. Da legen Sie nette volkswirtschaftliche Abhandlungen vor, wie sich die Wirtschaft eventuell entwickeln könnte, wenn man wüsste, ob sich die volkswirtschaftlichen Prognosen tatsächlich als richtig oder falsch erweisen. Sie faseln etwas von einer Erholung in Form eines V oder eines U oder eines L. ({1}) Das ist ja alles nette Theorie. Als Volkswirt verstehe ich das auch alles. Aber wenn man so zaghaft an die Wiederbelebung der deutschen Wirtschaft herangeht, dann entwickelt sich unsere Wirtschaft in Form eines I: Es geht steil bergab. ({2}) Und so richtig überzeugt sind Sie ja von Ihrer eigenen Meinung auch nicht. In Ihrem Antrag schreiben Sie – immerhin –: Mit Klimaneutralität können wir in Deutschland Geld verdienen. Aber dieser Mut verlässt Sie sofort wieder, weil Sie etwas später schreiben: Ein Konjunkturprogramm darf sich nicht an politischen Wunschvorstellungen ausrichten. – Übersetzt heißt das: Klimaneutralität theoretisch ja, aber praktisch jetzt bitte nicht. ({3}) Da kann ich nur sagen: Donnerwetter! Donnerwetter! Ich hatte eigentlich gedacht, Politik bedeutet, dass man auf Basis von Fakten über politische Positionen ringt. Ich meine, wozu machen wir das Ganze hier eigentlich? Dass Sie sich an Ihren eigenen Forderungen dann nicht orientieren, zeigt sich ja daran, dass Sie sechs Wunschvorstellungen selber formulieren: Forschungsförderung, keine Kaufprämien, mehr Technologieneutralität usw. usf. Kurzum: Ich weiß nicht, wer Ihren FDP-Antrag geschrieben hat, aber Profis waren es nicht. Das ist bei den Grünen – das muss ich zugeben – deutlich anders; auf 19 Seiten schreiben Sie sehr klar, was Sie wollen. Aber offenkundig – und das betrübt mich ein bisschen als Obmann im Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung – haben Sie das Prinzip der Nachhaltigkeit nicht verstanden. ({4}) Sie schreiben – ich zitiere –: Deshalb müssen die notwendigen …programme an … Kriterien für Nachhaltigkeit, Klima- und Umweltschutz und die Geschlechtergerechtigkeit geknüpft werden. ({5}) Wenn man das so liest, hört sich das an, als ob diese Kriterien nebeneinander stehen. ({6}) Das Problem ist nur: Genau das tun sie nicht. Ich erkläre Ihnen das Prinzip, Frau Lemke, wie Nachhaltigkeit geht, gerne noch einmal. ({7}) Nachhaltigkeit ist ein Prinzip. Das bedeutet, wir versuchen, wirtschaftliche, umweltpolitische und soziale Herausforderungen miteinander zu versöhnen. ({8}) Die UN hat dazu 17 Nachhaltigkeitsziele aufgeschrieben: vier wirtschaftliche, vier ökologische, acht soziale und ein übergeordnetes Ziel. Darin enthalten ist zum Beispiel das Ziel des Klimaschutzes, ({9}) darin enthalten ist das Ziel der Geschlechtergerechtigkeit. Aber was Sie machen, ist: Sie ziehen einzelne Ziele heraus, stellen sie absolut über alle anderen. Genau das ist eben nicht nachhaltige Politik. ({10}) Ebenso wenig verstehe ich, was an dem Programm selbst nachhaltig sein soll. Immerhin wollen Sie 600 Milliarden Euro unters Volk bringen, das sind fast zwei Bundeshaushalte; das muss man hier einmal deutlich sagen. Zusätzlich. Und Sie schaffen es noch nicht einmal mit einer Silbe, zu sagen, wie Sie das gegenfinanzieren wollen. ({11}) Bei den ganzen Wünschen, die Sie in Ihren Antrag reingeschrieben haben, bezweifle ich, dass Sie mit den 600 Milliarden Euro überhaupt auskommen. Aber was mich wirklich aufregt und sprachlos macht, ist, was gerade daran für die junge Generation nachhaltig sein soll. Denen so ein Schuldenpaket noch obendrauf aufzubürden, das verstehe wer will. ({12}) Und selbst wenn Sie das Geld hätten und es ausgeben könnten: Sie haben ja in Ihrem Antrag einen so schönen Mechanismus eingebaut, der dazu führen würde, dass das alles verpufft und das Geld überhaupt nicht bei den Unternehmen ankommt. Sie wollen nämlich, dass das Geld nur dann dorthin fließt, wenn sich die Unternehmen an die EU-Taxonomie, also an eine nachhaltige Unternehmensberichterstattung, halten. Das ist an sich ein guter Gedanke. Aber die meisten Unternehmen haben diese Berichterstattung heute noch nicht und werden sie mitten in der Krise sicherlich nicht aufbauen. ({13}) Und deshalb finde ich: Wenn das Haus brennt, dann denkt man nicht darüber nach, wie man das Wohnzimmer neu einrichtet, sondern man löscht erst das Feuer. Das ist die Aufgabe, vor der wir stehen. ({14}) Genau das machen wir auch als Bundesregierung. Wir werden gesunde Unternehmen stützen, damit sie nicht pleitegehen. Damit erhalten wir Arbeitsplätze, verhindern Armut und sichern das Wachstum von morgen. Das ist nachhaltige Politik. Und dort, wo es technisch und administrativ in der Kürze der Zeit möglich ist, werden wir auch den Klimaschutz voranstellen. Wir wollen Innovationen. Wir wollen das Auto neu erfinden. Wir wollen Wasserstoff und grüne Technologien. Hier setzen wir auch Impulse. Und das Ganze machen wir mit Blick auf die Finanzen mit Maß und Mitte. Denn die schwarze Null ist der Inbegriff von nachhaltiger Politik, ({15}) und auch die junge Generation hat ein Anrecht auf diese nachhaltige Politik. Danke schön. ({16})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Whittaker. – Nächster Redner ist für die AfD-Fraktion der Kollege Dr. Rainer Kraft. ({0})

Dr. Rainer Kraft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004792, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kollegen! Geehrte Gäste! Ja, Herr Krischer, Sie zeigen, wie sehr Sie die Materie durchdrungen haben, wenn Sie der Meinung sind, dass es, wenn wir die Art der Stromerzeugung ändern, keine Finanzkrise mehr gibt. ({0}) Damit haben Sie das Thema de facto sehr tief durchdrungen. ({1}) Der Tagesordnungspunkt, über den wir sprechen, trägt die Überschrift „Sozial-ökologische Transformation“. Darunter geht es bei den Grünen nicht. Es ist immer der Kampf ums Ganze. ({2}) Und Transformation meint nichts anderes als den Systemwechsel. Die Kollegen von Ihrer Schwesterpartei am ganz linken Rand ({3}) sind da etwas ehrlicher: Während diese offen von der Errichtung eines Ökosozialismus sprechen, verstecken Sie den noch hinter allerlei Hipstervokabular. ({4}) Was Sie uns als Antrag präsentieren, ist aber nichts anderes als Planwirtschaft nach dem Vorbild der DDR oder wahlweise eines anderen gescheiterten real existierenden Gesellschaftsexperimentes. Gigantische Mengen an Geld sollen in ausgesuchte Industrien gepumpt werden, um dort Betriebe zu errichten, die nie etwas anderes erwirtschaften werden als Defizite. ({5}) Eine Prognose – der Kollege Bleck hat es angesprochen –, dass diese Betriebe sich vielleicht irgendwann einmal selbst tragen können, wird nicht mal gefordert. Mit anderen Worten: Sie wollen Zombies kreieren. ({6}) Neu ist das nicht; denn diese Praxis wird ja seit 20 Jahren im Zuge der sogenannten Energiewende geübt: 20 Jahre Voodoo-Wirtschaft auf Kosten der Steuerzahler und Energieverbraucher. Um Wirtschaftlichkeit ging es Ihnen ja auch noch nie. Wenn es nach Ihnen geht, soll der Staat also eine künstliche Wirtschaft aufbauen und am Leben erhalten, die zwar nicht produktiv, dafür aber angeblich klimaneutral ist, wobei einfach nur jeder Hersteller sein CO2-Päckchen dem Nächsten zuschiebt. Und Sie fangen auch ganz vorne damit an: Der Staat soll bereits Start-ups fördern, damit diese dann nicht wettbewerbsfähige Produkte entwerfen. Diese sollen dann mit staatlichen Mitteln in ineffizienten Betrieben gefertigt werden und dann vom Staat vor der internationalen, besseren und effizienteren Konkurrenz geschützt werden. ({7}) Herzlichen Glückwunsch! Eine komplette planwirtschaftliche Produktionskette, die vollständig an der Realität vorbeigeht und ganz auf den grünen Großstadtlauch ausgerichtet ist, ({8}) aber nicht auf das reale Leben wertschöpfender Bürger! ({9}) Gerade während der Coronamaßnahmen hat sich das Auto als der Champion der Mobilität gezeigt. Und was fordern Sie jetzt? Sie fordern Beschaffungsprogramme für den ÖPNV, damit er weiter leer fahren kann, und Zuschüsse für Elektrofahrräder. ({10}) Und weil gerade so viel davon da ist, wollen Sie den Käufern von Elektroautos das Geld bereits bei der Vorbestellung des Wagens hinterherschmeißen. Sie wollen Flughäfen schließen, den EEG-Irrsinn weitertreiben und, und, und. Ihr gesamter Antrag mieft nach sozialistischen Amtsstuben, und mit Ihrer Politik wird es genauso enden wie immer im Sozialismus: Irgendwann geht Ihnen das Geld anderer Leute aus, und das Land ist dann bankrott. ({11}) Nein, danke – hatten wir schon. ({12}) Und die Kollegen der FDP? Die kämpfen mit ihrer Identitätskrise. Der Antrag liest sich wie: Wer bin ich und, wenn ja, wie viele? ({13}) Die Forderungen nach Senkung der Stromsteuer und EEG-Umlage lassen noch eine Restvernunft erkennen. Aber dann folgt natürlich der zwanghafte Kotau vor der Klimahysterie und das Anhimmeln des Green New Deals.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Kommen Sie zum Schluss, bitte.

Dr. Rainer Kraft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004792, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Und am Ende wirkt das doch alles eher wie ein kleines bisschen weniger schrill grün, Lindner-grün vielleicht. Aber auch das brauchen wir nicht. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Kraft. – Nächster Redner ist der Kollege Timon Gremmels, SPD-Fraktion. ({0})

Timon Gremmels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004732, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Jetzt mussten wir am Freitagnachmittag zwei Redner der AfD ertragen, die hier sieben Minuten unserer Zeit geraubt haben, ({0}) sich sozusagen an allen anderen abgearbeitet haben, aber nicht einen einzigen Vorschlag geliefert haben, wie sie sich vorstellen, wie wir die Konjunktur ankurbeln können – nicht einen Vorschlag! ({1}) Das ist erbärmlich, meine sehr verehrten Damen und Herren. Ich hoffe, das haben sehr viele Menschen draußen an den Bildschirmen gesehen. Wir als SPD sagen: Ja, wir müssen aus dieser größten Krise nach dem Zweiten Weltkrieg rauskommen. ({2}) Wir müssen die Wirtschaft ankurbeln, wir müssen die Wirtschaft unterstützen, und wir müssen hier etwas tun. Wir beschäftigen uns damit heute hier in einer Debatte. ({3}) Wir hatten schon am Mittwoch eine Diskussion darüber in der Aktuellen Stunde gehabt, die wir als Große Koalition beantragt hatten. Heute sind die Grünen und die FDP dran, und zwar unter der Überschrift „Sozial-ökologische Transformation“. Das kommt mir etwas bekannt vor: ({4}) Im Berliner Programm aus den 80er-Jahren und im Wahlprogramm 1990 war vom sozial-ökologischen Umbau die Rede; ihr habt ein bisschen abgekupfert und daraus „Transformation“ gemacht. Es sei euch gestattet. ({5}) Wir wissen also, wie man die Chance nutzt, die Gesellschaft sozial-ökologisch weiterzuentwickeln, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({6}) Und wir haben es auch gemacht. Wir haben es übrigens zusammen gemacht, liebe Grüne, damals in der Regierung Gerhard Schröder/Joschka Fischer. Wir haben gesagt: Wir wollen aus der Atomenergie raus. ({7}) Wir haben auch gesagt, was wir stattdessen wollen. ({8}) Wir haben nämlich damals die Energiewende mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz eingeleitet. Gemeinsam haben wir das gemacht, und es war ein echtes Konjunkturprogramm. Wir haben da gute Arbeitsplätze geschaffen. ({9}) Im Jahre 2013 waren das über 370 000 Arbeitsplätze im Bereich erneuerbarer Energien. Wir haben Bürgerinnen und Bürger mitgenommen, Stadtwerke mitgenommen. Wir haben regionale Wertschöpfung generiert. Wir wissen also, wie man nachhaltig die Energiewende voranbringt, ({10}) die Wirtschaft ankurbelt und die Menschen mitnimmt, meine sehr verehrten Damen und Herren. Daran können wir anknüpfen. ({11}) Und ich bin sehr dankbar, dass Svenja Schulze als unsere Umweltministerin hier gute Vorschläge geliefert hat. Denn es geht jetzt darum, die Klimakrise und die Coronakrise eben nicht gegeneinander auszuspielen und sie auch nicht gleichzusetzen. ({12}) Aber wenn wir die Chance haben, jetzt im dreistelligen Milliardenbereich Investitionen anzukurbeln, dann ist das doch die historisch einmalige Chance, beide Krisen, die existenziell sind, gemeinsam zu bearbeiten. ({13}) Bei mir im Wahlkreis würde man sagen: Wir wären doch mit dem Klammerbeutel gepudert, wenn wir diese beiden elementaren Herausforderungen, diese beiden elementaren Krisen nicht gemeinschaftlich angingen, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({14}) Deswegen gehören diese Dinge untrennbar zusammen, auch wenn wir sie nicht gleichsetzen. Ich bin dankbar, dass es gute Vorschläge aus dem Bundesumweltministerium gibt: Sonderabschreibungen für Investitionen erstens im Bereich der Energieeffizienz, zweitens im Bereich des Wärmesektors, indem wir Anreize für energetische Gebäudemodernisierung auf den Weg bringen. ({15}) Weitere Vorschläge, die ich sehr begrüße: Innovationsfonds für die Start-up-Szene auf den Weg bringen, um den Klimaschutz zu verbessern, die Umstellung von Heizungen auf Erneuerbare weiter fördern, die Förderprogramme, die sehr gut nachgefragt sind, weiter ausbauen, ({16}) die EEG-Umlage weiter absenken, ({17}) endlich die Photovoltaik und die Windkraft weiter stärken und nicht zurücksetzen. Deswegen ist es gut, dass die Große Koalition ({18}) sich jetzt endlich darauf geeinigt hat, ({19}) nicht Windkraft und Photovoltaik gegeneinander auszuspielen, sondern den PV-Deckel aufzuheben und die Windkraft auszubauen. Das zeigt auch, dass diese Große Koalition zwar lange braucht, aber handlungsfähig ist, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({20}) Ja, wir müssen auch den Wasserstoff voranbringen. Wasserstoff soll eine zentrale Bedeutung bekommen. Wir müssen da ambitioniert vorangehen. Deswegen brauchen wir eine Wasserstoffstrategie, um grünen Wasserstoff zu produzieren; da brauchen wir eine Produktion mit einer Leistung von insgesamt 10 Gigawatt. ({21}) Das ist das, was wir jetzt auf den Weg bringen müssen. Das ist nachhaltige ökologische Politik, die der Wirtschaft hilft, der Industrie hilft und die den Beschäftigten hilft, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({22}) Mit Blick auf die Beschäftigten sage ich Ihnen ganz klar: Wir müssen im Automobilland Deutschland auch die Automobilbranche mitberücksichtigen. Und ehrlich gesagt: Wenn ich höre, dass Frau Göring-Eckardt der SPD vorwirft, wir wären Lobbyisten der Autoindustrie, kann ich nur entgegnen: Nein, ({23}) wir sind nicht Lobbyisten der Vorstände von VW, von Mercedes oder von BMW; wir sind die Lobbyisten der 2 Millionen Menschen, die im Bereich der Automobilindustrie arbeiten, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({24}) Deren Anwältin ist die Sozialdemokratie. Darauf sind wir stolz. Wir müssen den Wandel gemeinschaftlich mit den Beschäftigten, gemeinschaftlich mit den Gewerkschaften, gemeinschaftlich mit den Betriebsräten voranbringen, weil wir eine nachhaltige, zukunftsfähige Automobilwirtschaft in Deutschland brauchen, um aus der Krise zu kommen, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({25}) Deswegen machen wir das mit den Beschäftigten, weil auch sie wollen, dass wir in die Zukunft und nicht in die Vergangenheit investieren. Denn sie wissen: Nur wenn wir in die Zukunft investieren, sind ihre Arbeitsplätze auch morgen noch sicher. – Deswegen sind wir stolz darauf, die Anwälte der Beschäftigten in der Automobilwirtschaft zu sein, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({26}) Ich sage Ihnen: All das, was wir jetzt entscheiden, muss zugleich ein Beitrag zu mehr sozialer Gerechtigkeit sein. Wenn wir ein solches Konjunkturprogramm auf den Weg bringen, muss es ökologisch und ökonomisch sinnvoll sein, und es muss ein Beitrag zu mehr sozialer Gerechtigkeit leisten. ({27}) Deswegen sage ich Ihnen, dass wir pauschale Unternehmensteuersenkungen ablehnen. Auch den Vorschlag der Union, jetzt die oberen 10 Prozent um 10 Milliarden Euro zu entlasten, halten wir für falsch. Wir wollen stattdessen Familien stärken, wir wollen Kinder stärken. Da müssen wir investieren. Das ist unsere Zukunft, meine sehr verehrten Damen und Herren. Wir dürfen auch nicht – das sage ich an die Adresse unseres Koalitionspartners, insbesondere an Herrn Pfeiffer und an den Wirtschaftsrat der Union – klimapolitische Zielvorgaben, wie von Ihnen vorgeschlagen, zeitlich strecken oder erst einen Kassensturz machen. – Schmarrn ist das. ({28}) Wir brauchen jetzt in diesem Bereich Investitionen. Wir dürfen im Klimaschutz nicht nachlassen. Wir dürfen die Standards nicht absenken, meine sehr verehrten Damen und Herren. Das müssen wir ganz klar mitnehmen. ({29}) Noch eines, lieber Herr Krischer: Sie haben vorhin das Stichwort „Lufthansa“ genannt. Ja, auch das ist ein wichtiges Unternehmen. Aber es bekommt die Staatshilfe nicht als Freibrief. Auch da gibt es klare Vorgaben, etwa dass 80 Prozent der Flugzeugbestellungen auf energieeffiziente und energiearme Maschinen entfallen müssen. ({30}) Diese klare Verknüpfung haben wir vorgegeben, meine sehr verehrten Damen und Herren. Sie sehen: Wir sind sozial und ökologisch gut aufgestellt. Herr Präsident, lassen Sie mich zum Schluss kommen mit einem Zitat: „Gesamtwirtschaftlich ist nichts vernünftig, was ökologisch unvernünftig ist.“ Mit diesem Zitat aus dem Berliner Programm der SPD wünsche ich Ihnen ein schönes Pfingstfest. Glück auf! Vielen Dank. ({31})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Gremmels. – Ich hindere niemanden daran, zum Schluss zu kommen. ({0}) – Ich hätte damit noch ein bisschen gewartet. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Katharina Dröge, Bündnis 90/Die Grünen. ({1})

Katharina Dröge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004263, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Gremmels, es ist ja schön, wenn Sie über Klimaschutz und Nachhaltigkeit sprechen. Diese Offenheit hat man bei anderen Kollegen, insbesondere der Union und FDP, ja nicht so unbedingt. ({0}) Aber wenn Sie darüber sprechen, dann müssen Sie das auch in Ihrer konkreten Politik machen. Dann müssen Sie das auch bei der Lufthansa machen. Dann können Sie nicht so einen schlechten Deal machen, bei dem Sie sich am Ende von Herrn Spohr die Bedingungen und die Konditionen haben diktieren lassen, also wie viel Geld Sie zahlen, in welcher Form Sie das Geld investieren, wie die Mitbestimmung der Bundesregierung ist, die eben noch nicht vorhanden ist. Sie haben im Bereich des Klimaschutzes auch nur windelweiche Bedingungen ausgehandelt. ({1}) Daran werden Sie gemessen, am konkreten Handeln. Das ist bislang in Sachen Klimaschutz echt miserabel. ({2}) Das Zweite – das richtet sich an Herrn Whittaker und Herrn Kruse –: Sie haben mich in dieser Debatte, ehrlich gesagt, so ein bisschen ratlos zurückgelassen. Sie haben mit Blick auf unseren Antrag irgendwie über Nachhaltigkeit und Begriffsbestimmung philosophiert. Was Ihnen in der Sache zu unserem Antrag dann aber nur eingefallen ist, ist auf der einen Seite, dass es recht viel Geld ist, was wir hier fordern, und auf der anderen Seite, dass Sie erstaunt waren, wie viele Forderungen wir in unserem Antrag gestellt haben. ({3}) Ich kann verstehen, dass so etwas die Union verwirrt. Lange Forderungen sind nicht so Ihre Sache. Ich muss sogar sagen: Dieser Antrag ist auch einer der längsten, den wir in den vergangenen Jahren ins Parlament eingebracht haben. Aber es gibt einen klaren Grund, warum das so ist: Die Krise ist so groß, dass die Antwort auch so groß sein muss. ({4}) Finanziell ist es jetzt notwendig, für die kommende Dekade ein Investitionsprogramm von 500 Milliarden Euro aufzulegen. ({5}) Sie haben über Generationengerechtigkeit gesprochen, Herr Whittaker. Ich glaube, wir sind ja ungefähr gleich alt. Die Frage ist, was für unsere Generation am generationengerechtesten ist. Das ist, wenn man jetzt auf der einen Seite die Wirtschaft so transformiert, dass sie mit Klimaschutz und Klimaneutralität eine wirtschaftliche Zukunft hat und dafür heute das Geld in die Hand nimmt, und wenn man auf der anderen Seite für unsere Kinder und für unsere Enkelkinder eine Gesellschaft hinterlässt, in der ein Leben noch lebenswert ist. Das ist der Moment, über den wir hier entscheiden, wenn wir dieses Konjunktur- und Investitionsprogramm auflegen. Das hat was mit Nachhaltigkeit und das hat was mit Generationengerechtigkeit zu tun. ({6}) Herr Kruse und Herr Whittaker, bei Ihnen habe ich ja wenigstens eine Offenheit für das Thema Klimaschutz wahrgenommen; das finde ich ausdrücklich begrüßenswert. Der Wirtschaftsminister hat es in der Debatte am vergangenen Mittwoch geschafft, eine Rede zur Coronakrise und zur Konjunkturpolitik zu halten, in der das Wort „Klimaschutz“ nicht ein einziges Mal vorkam. Er versteht nicht, dass das jetzt der entscheidende Moment für künftige Generationen ist. Wir werden in den nächsten Jahren nie wieder solche Summen in die Hand nehmen. Wenn wir jetzt nicht die Weichen stellen, ({7}) dann verspielen wir die wirtschaftliche Zukunft unseres Landes. Am besten kann ich Ihnen das an der Stahlindustrie erklären. Ich komme aus Nordrhein-Westfalen. Die Stahlindustrie steht wirtschaftlich gerade am Abgrund. Ich glaube, keiner hier im Raum möchte sich vorstellen, wie eine Stadt wie Duisburg aussieht, wenn dieser große Arbeitgeber nicht mehr existiert. Jetzt sind wir gefordert, dieser Industrie eine langfristige Antwort zu geben. Das Problem lösen wir nicht mit einer kurzfristigen Konjunkturhilfe. Wir müssen jetzt Investitionshilfen für eine klimaneutrale Technologie der Zukunft schaffen. ({8}) Die Stahlindustrie selber verlangt das von der Bundesregierung. Sie sind gefordert, ein Investitionsprogramm aufzulegen mit Investitionshilfen für thyssenkrupp, für ArcelorMittal, für Salzgitter und andere, damit sie eine Stahlproduktion schaffen, die auf der einen Seite klimaneutral ist, –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Katharina Dröge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004263, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

– ein Drittel der industriellen Emissionen in diesem Land einspart ({0}) und auf der anderen Seite die einzige Jobperspektive darstellt, die diese Beschäftigten haben. ({1}) Deswegen einfach ganz klar: Sie können nicht nur kurzfristig handeln.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Katharina Dröge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004263, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sie müssen verstehen: Klimaschutz und wirtschaftliche Hilfen gehören zusammen. Es ist jetzt der beste und der einzige Moment, in dem Sie das noch hinkriegen können. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Dröge. Mein Hinweis vorhin, ich würde Ihnen keine Minute abziehen, hieß nicht, dass ich Ihnen eine obendrauf gebe. ({0}) - 34 Sekunden, aber das ist egal. Wir wollen uns da nicht streiten. – Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Peter Stein, CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Peter Stein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004416, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland muss als Wirtschafts- und Technologienation die weltweiten Maßstäbe bei Innovation und Nachhaltigkeit setzen. Wir müssen daher die enormen nationalen und europäischen Staatshilfen an Kriterien wie Innovation, Nachhaltigkeit und auch an soziale Standards knüpfen. Die CDU/CSU-Fraktion steht uneingeschränkt zu den globalen Klimaschutzzielen. Wir sehen uns der Nachhaltigkeit verpflichtet, und wir werden ein Rollback nicht zulassen. Wir haben sehr viele Maßnahmen, mit denen wir unsere Wirtschaft wieder fit und wettbewerbsfähig machen. Damit muss der Wirtschaft schnell aus dieser Rezession geholfen werden. Ich teile aber die Einschätzung der Kommissionspräsidentin von der Leyen, wenn sie den Wiederaufbau in Europa als Generationenaufgabe bezeichnet. Deutschland braucht ein stabiles und gesundes Europa. ({0}) Weil wir sehr viel Geld in die Hand nehmen müssen, müssen die Hilfen passgenau und maßvoll bleiben. Sie können daher niemals allumfassend sein. Unsere föderale Struktur über Bund, Länder und Gemeinden erweist sich dabei in Krisenzeiten erneut als sehr effektiv und widerstandsfähig. Die aktiven Maßnahmen zeigen das: Es gibt Soforthilfen, Zuschüsse, Kredite, Kurzarbeitergeld, Stundung bei Exportkrediten, aber auch von Mieten oder Gebühren. Es werden noch manche folgen, so das gestern beschlossene Corona-Steuerhilfegesetz. Es hilft vielen Unternehmen, insbesondere aus der Gastronomie. Das schafft Liquidität. Eltern tragen eine Doppelbelastung aus Homeoffice und Kinderbetreuung und bekommen einen erweiterten Entschädigungsanspruch. Die Bedeutung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Gesellschaft und Wirtschaft ist noch bewusster geworden. Kinderbetreuung ist dabei eine Kernaufgabe der Länder und Kommunen. Ich danke der Bundesregierung sehr, dass wir hier als Bund zur Verbesserung der Situation haben beitragen können. Um es mit der Kanzlerin zu sagen: „Dieses Virus ist eine Zumutung für die Demokratie“ und auch für alle, die Einschränkungen und Belastungen hinnehmen mussten und noch müssen. Gutes Regierungshandeln in Bund, Ländern und Gemeinden hat zu einer hohen Disziplin in der Bevölkerung geführt. Ich möchte mich hier bei allen Menschen im Land für diesen gemeinsamen Zwischenerfolg der Pandemiebewältigung und für das Vertrauen in uns bedanken. Wir sind eine solidarische Nation. ({1}) Die Menschen im Land vertrauen uns auch dahin gehend, dass wir mit Blick in die Zukunft ohne dauerhafte Wohlstandsverluste eine sozial ausgewogene, klimaneutrale Wirtschaft entwickeln – die allbekannte Zieltrias. Die neue Wahrnehmung ist dabei, dass eben nichts selbstverständlich und von Dauer ist, sondern immer wieder neu stabilisiert und weiterentwickelt werden muss. Mit aller Bescheidenheit: In diesem Kontext haben die Unionsparteien seit jeher höchste Zustimmungswerte. Wir können auf eine sehr erfolgreiche Politik der vergangenen Jahrzehnte zurückblicken. Wer sich in unserem Land mit klarem, unverstelltem Blick umschaut, der wird sehen: Es gibt so unglaublich viele wegweisende Innovationen und erfolgreiche Unternehmen, die uns in vielen Bereichen zum globalen Spitzenreiter gemacht haben: in der Mobilität, in der Robotik, in der Werkstoffforschung, in der Schiffs- und Meerestechnik, in der Umwelt- und Verfahrenstechnik, im Gesundheitswesen und vielen weiteren Feldern. Deutschland ist da stark mit seiner Wissenschaft, seinem Mittelstand und seiner Forschung. Und hier kommt vielleicht eine große Überraschung für alle im linken Lager: Das hat ganz ohne Planwirtschaft und Verbote funktioniert. Leider sprießt dieses Unkraut wieder wild an einigen Stellen im Antrag der Grünen. Unseren Erfolg haben allein die Unternehmerinnen und Unternehmer geschafft, weil sie täglich Spitzenleistungen im Umfeld einer freien und sozialen Marktwirtschaft erbringen können und soziale Verantwortung für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter tragen. Ja, die Unternehmerinnen und Unternehmer sind hier die allerersten Lobbyisten für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Sie können das leisten, weil wir, die Union als langjährige Regierungspartei, genau diesen richtigen Rahmen dafür gesetzt und stets verteidigt haben. Das ist im Übrigen auch die beste Sozialpolitik, und das galt für eine lange erfolgreiche Zeit auch für die Wirtschaftspolitik der SPD, von Karl Schiller über Wolfgang Clement bis zu Sigmar Gabriel. Es ist immer gut, wenn man zu seinen Erfolgen steht. Der Antrag der Grünen ist – er ist schon ein paarmal so bezeichnet worden – ein Puzzle aus guten Ideen und Ideologien. ({2}) Ihr Problem ist dabei nur, dass die meisten der guten Ideen bereits umgesetzt oder in Arbeit sind. Ich nenne als Beispiele den Aufbau der Testkapazitäten, die Öffnung der europäischen Grenzen, das Thema Sprunginnovationen oder auch die Aufhebung des Solardeckels. Man gewinnt den Eindruck, dass Sie ein altes Programm recycelt haben. Insofern – das kann ich Ihnen zugestehen – sind Sie durchaus nachhaltig vorgegangen. ({3}) Sie regieren in den Bundesländern Hessen und Baden-Württemberg und stellen sich dort durchaus der Realität. Leider hat sich die wirtschaftspolitische Verantwortung hier im Bund noch immer nicht zur Kernkompetenz ihrer Politik entwickelt. ({4}) Nun fordern Sie ein Konjunkturprogramm in Höhe von 100 Milliarden Euro und zusätzlich einen Fonds in Höhe von 500 Milliarden Euro. Sie wollen jedem Bürger Einkaufsgutscheine zukommen lassen. Faktisch ist das nichts anderes als Helikoptergeld – ein Strohfeuer. Zugegebenermaßen gilt das auch für die Abwrackprämie für Autos nach altem Muster. Bei anderen Aspekten sehe ich aber durchaus Gemeinsamkeiten. Ich freue mich auf die zukünftige starke Unterstützung der Grünen vor Ort, wenn wir neue Schnellbahntrassen durch die Landschaft schlagen und dafür die Planverfahren beschleunigen müssen oder wenn wir die Stromnetze ausbauen. ({5}) Bei Ihrer Forderung nach umweltfreundlichen Neubauten von Schiffen bin ich als Rostocker Abgeordneter im Interesse aller Werftstandorte vollkommen bei Ihnen. ({6}) Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, einseitige Abhängigkeit in der Welt müssen wir reduzieren. Wir müssen neue Märkte erschließen, beispielsweise durch erweiterte Partnerschaften mit Afrika. Wir müssen Lieferketten neu denken, eine nachhaltige Logistik aufbauen, von den Weltmärkten über unsere Seehäfen bis hin zum Verbraucher. Wir müssen unsere Häfen zu Energiehäfen weiterentwickeln, vor allem, wenn wir klimafreundlichen Wasserstoff aus Nordafrika oder Australien importieren wollen. Die Nationale Wasserstoffstrategie muss ein wichtiger Baustein des Konjunkturprogramms und der Transformation der Wirtschaft sein. Wir fördern neue Mobilitätskonzepte sowie Kraftstoff- und Antriebstechnik – und das vollkommen technologieoffen. Wir haben bereits im aktuellen Haushalt die Mittel für den Nahverkehr um 6 Milliarden Euro erhöht. Auch da sind Sie mit Ihrem Antrag hintendran. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Wirtschaft und Gesellschaft befinden sich in einer Symbiose. Das macht unsere soziale Marktwirtschaft aus. Deshalb erlaube ich mir abschließend die Feststellung: Die Bevölkerung traut es der letzten verbliebenen Volkspartei – gebildet aus CDU und CSU – zu, die drei wesentlichen Säulen unserer Gesellschaft ausgewogen zusammenzuführen: Wirtschaft, Sozialstaat und Umwelt. Die Grünen haben zumindest ihre größte Baustelle hin zu einer verantwortlichen Regierungsbeteiligung erkannt, und in einigen Medien wurden deshalb Ihre Forderungen nach einem Konjunkturprogramm auch als Beleg für Ihre zukünftige Regierungswilligkeit gesehen. ({7}) Über die Regierungsfähigkeit wird man vielleicht noch mal zu reden haben – jedoch nicht hier und heute. Wir lehnen Ihren Antrag ab. Ich wünsche allen schöne Pfingsten. Danke, dass Sie mir zugehört haben. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Stein. – Damit schließe ich die Aussprache.

Olaf Scholz (Minister:in)

Politiker ID: 11003231

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sind gegenwärtig dabei, auf unterschiedlichsten Ebenen dafür zu sorgen, dass wir mit der großen Herausforderung zurechtkommen, die sich aus der Covid-19-Pandemie ergibt. Und eins ist ganz klar: Das ist etwas, was wir nicht nur mit all den Maßnahmen bewerkstelligen können, die wir auf nationaler Ebene ergreifen. Wir müssen alles dafür tun, dass das auch global und natürlich auch im europäischen Rahmen gut funktioniert. Wer glaubt, dass eine solche Herausforderung bewältigt werden kann, indem er sich auf sich selber beschränkt, hat nicht verstanden, was für eine Bedrohung das Virus für uns alle ist. Es bedroht uns als Menschen; niemand kann gewissermaßen für sich sagen, er sei davon unberührt. Es bedroht uns aber auch als diejenigen, die insgesamt auf diesem Planeten leben. Deshalb ist Solidarität und miteinander gemeinsam Handeln das Gebot der Stunde. ({0}) Das gilt natürlich ganz besonders, wenn wir die Europäische Union betrachten mit all den Herausforderungen, die dort überall zu beobachten sind. Man muss nur in den Fernseher schauen, um zu sehen, welche dramatischen Auswirkungen die Virusinfektionen in manchen Ländern Europas gehabt haben. Ich glaube, wer die Bilder sieht und die Berichte liest, wer ein bisschen mit den Betroffenen gesprochen hat, der hat ein Gefühl dafür, dass wir niemanden alleinlassen dürfen und deshalb etwas machen müssen, was immer auch vor Ort hilft. Das haben wir diskutiert in Europa, bei den europäischen Finanzministern und den europäischen Staats- und Regierungschefs, und haben Lösungen entwickelt. Eine ist zum Beispiel, dass wir ein großes Paket von über 500 Milliarden Euro geschnürt haben, um auf die konkrete Situation reagieren zu können: mit den Möglichkeiten der Europäischen Investitionsbank, die kleine und mittelständische Unternehmen unterstützen kann, mit den Möglichkeiten der Europäischen Union, die etwas tun will und tun wird für diejenigen, die zum Beispiel Kurzarbeit benötigen, und natürlich mit den Instrumenten des Europäischen Stabilitätsmechanismus, die wir neu wirksam gemacht haben. Alle diese Beschlüsse sind mittlerweile auf dem Weg. Wir haben es hinbekommen, Verständigung zu erreichen für alle diese drei Pakete. Das, was wir heute diskutieren, ist das, was sich um Kurzarbeit dreht. Ich finde, es ist schon etwas Besonderes, über ein solches Thema diskutieren zu können, wenn man bedenkt, dass die Kurzarbeit eine Erfahrung der Sozialpartnerschaft aus Deutschland ist. Wir haben das als Allererste gemacht. ({1}) Wir haben das seit Jahrzehnten miteinander entwickelt, und es hat uns in der letzten Krise 2008/2009 sehr geholfen. Viele sagen: Das ist genau das Richtige gewesen. Dass Deutschland durch die letzte Krise 2008/2009 so gut gekommen ist, hat ganz wesentlich an dem automatischen Stabilisator Kurzarbeit gelegen, der dazu geführt hat, dass nicht plötzlich Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihren Arbeitsplatz verloren haben. International wird es gelobt: vom Internationalen Währungsfonds, von der OECD, auch von der Europäischen Union schon immer in der Vergangenheit. Deshalb finde ich, es ist eine gute Botschaft, zu sagen: Alle wollen das jetzt auch machen. – Die noch bessere ist: Wir wollen ihnen dabei helfen, das in ihren Ländern auch zu können. ({2}) Ich bin auch sicher, dass die Möglichkeit genutzt werden wird. Es ist ja auch darüber diskutiert worden, ob das jetzt alles beschlossen wird und dann keiner davon Gebrauch macht. Da sollte sich keiner Sorgen machen. Sobald wir mit den ganzen Gesetzgebungsverfahren in den verschiedenen Parlamenten durch sind, wird es auch etwas werden. Deshalb ist es für mich auch ein Grund, einen Ausblick zu wagen auf das, was wir noch vorhaben, wenn wir über die Zukunft Europas reden. ({3}) Wir wollen ja dafür Sorge tragen, dass das richtig funktioniert. Es geht nicht nur darum, wie wir durch die Phase des Lockdowns und der großen Herausforderung, die damit verbunden ist, gehen, sondern wir wollen unbedingt auch erreichen, dass wir den Wiederaufbau unserer Europäischen Union wieder hinbekommen und dass Arbeitsplätze und Beschäftigung überall in Europa funktionieren. Und darum brauchen wir einen europäischen Wiederaufbaufonds. ({4}) Europa funktioniert, wie es sich für eine demokratische Gemeinschaft gehört, indem man von unterschiedlichen Positionen aus diskutiert, indem es gelingt, Mehrheiten zu bekommen im Europäischen Parlament, aber auch bei den 27 Mitgliedstaaten ein Einvernehmen herzustellen über das, was jetzt dringend erforderlich ist. Das gelingt natürlich dann am besten, wenn es keine ideologischen Kontroversen gibt, die gar geografisch aufgeteilt sind in Nord und Süd, Ost und West. Das heißt, das gelingt dann, wenn wir aus einer gemeinsamen europäischen Idee heraus politische Perspektiven entwickeln. Und das ist gelungen mit dem Vorschlag, den Deutschland und Frankreich gemeinsam gemacht haben für einen solchen Wiederaufbaufonds. Es ist gelungen, weil die Debatte sich seitdem nur noch in einer konstruktiven Richtung bewegt. Man merkt richtig: Alle in Europa wollen jetzt daran mitwirken, dass wir eine Lösung zustande bekommen, und zwar schnell und nicht irgendwann, sondern jetzt, wo es in der Krise benötigt wird. ({5}) Die Kommissionspräsidentin und die Kommission haben einen Vorschlag gemacht. Er ist nicht eins zu eins das, was wir selber vorgeschlagen haben. Aber er wäre nicht denkbar gewesen ohne diese politische Initiative. Dass sich alle auch sicher sind, dass am Ende eine Verständigung nach langen Verhandlungen zustande kommen wird, ist schon ein sehr gutes Zeichen. Aus meiner Sicht sollte das auch bald der Fall sein; denn wir sind nicht nur in Deutschland am Ende des Lockdowns, sondern wir sind es auch in vielen anderen Ländern, manchmal noch zeitversetzt. Dann braucht man eine Situation, in der der Wiederaufbau und die Konjunkturprogramme greifen müssen. Es wäre ganz wirkungslos, wenn wir in Deutschland Anfang Juni über ein Konjunkturprogramm diskutierten und nicht sicher wären, dass auch anderswo in Europa das Gleiche passierte, als gemeinschaftliche Anstrengung ohnehin; denn unsere Volkswirtschaft ist darauf angewiesen, nicht nur wegen der Zulieferer und Absatzmärkte, sondern auch, weil wir längst eine europäische Volkswirtschaft haben, die zusammenwirkt. Deshalb mein Wunsch: Lassen Sie uns alle gemeinsam dieses Werk auch noch zustande bringen und zeigen, dass wir in der Lage sind, das Richtige zu tun, hierzulande, aber auch als Europäerinnen und Europäer. Schönen Dank. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Minister. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulrike Schielke-Ziesing, AfD-Fraktion. ({0})

Ulrike Schielke-Ziesing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004873, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Bürger! So ganz kann Ursula von der Leyen noch nicht von ihrem alten Amt als Verteidigungsministerin lassen. Das von ihr vorgeschlagene Programm SURE soll nach ihren Worten als zweite Verteidigungslinie dienen. Ich halte nicht viel von militärischen Begrifflichkeiten, ganz besonders nicht, wenn es um die EU und um soziale Fragen geht. ({0}) Durch SURE sollen Darlehen von bis zu 100 Milliarden Euro an die Mitgliedstaaten ausgereicht werden. Aus Solidarität und zur Absicherung des Risikos der EU sollen alle Mitgliedstaaten jeweils Gegengarantien mit einer Gesamtsumme von mindestens 25 Prozent der Mittel freiwillig eingehen. Damit beschreiten wir den Weg in eine Schuldenunion. ({1}) Ihnen, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, geht es im Grunde genommen darum, einen supranationalen Staat EU zu schaffen, in dem die nationalen Parlamente oder Gerichte gar keine Rolle mehr spielen sollen, wie wir neulich am Urteil des Bundesverfassungsgerichts und vor allem an der Reaktion aus Brüssel darauf gut beobachten konnten. Aber mehr EU schadet Europa. ({2}) Wie sollen die Mittel bei den unterschiedlichen Sozialsystemen in Europa denn gerecht verteilt werden? Am Ende finanzieren dann deutsche Steuerzahler das spanische bedingungslose Grundeinkommen. Gebetsmühlenartig wiederholen Sie zwar immer nur dasselbe Mantra: Deutschland kann es nur gut gehen, wenn es Europa gut geht. – Aber das stimmt nicht. Deutschland kann es auf Dauer nicht gut gehen, wenn unsere Steuerzahler permanent Europa retten. Das ist das Ergebnis Ihrer Europapolitik. ({3}) Warum können die europäischen Nachbarländer keine Haushaltsdisziplin – ähnlich wie in Deutschland – halten? Wie erklären Sie unseren Bürgern, dass wir stets diszipliniert gespart und verzichtet haben, während vor allem südliche EU-Länder es nicht getan haben und wir nun ebendiese retten müssen? SURE soll zwar ein Kreditprogramm sein, abgesichert über Garantien der EU-Staaten. Aber wenn diese Kredite nicht zurückgezahlt werden können, wäre eine Umschuldung möglich. Und wer garantiert, dass die Schulden dann nicht einfach erlassen werden? Wir haben in Deutschland gerade erst einen Nachtragshaushalt in Höhe von 156 Milliarden Euro beschlossen. Ein weiterer wird folgen, um unsere heimischen Arbeitnehmer zu retten; denn die Rücklagen der Bundesagentur für Arbeit werden nicht mehr lange reichen. In unserem gesamten Sozialversicherungssystem brechen die Beiträge weg. Spätestens im nächsten Jahr ist dort ein massiver Zuschuss aus dem Bundeshaushalt notwendig. Steuerschätzer gehen in diesem Jahr von geringeren Steuereinnahmen von rund 40 Milliarden Euro auf Bundesebene aus. Im nächsten Jahr wird es nicht viel besser aussehen. Es wäre also wichtig, sich zunächst auf unsere Arbeitnehmer zu konzentrieren, auf unsere Wirtschaft, auf unseren Haushalt, bevor ganz Europa gerettet wird. ({4}) Wann machen Sie als Volksvertreter – ich betone es noch einmal: als vom deutschen Volk gewählte Politiker – denn endlich einen Schlussstrich und hören auf, unsere hart arbeitenden Menschen in Deutschland bis zum letzten Tropfen Steuergeld auszupressen? Deutschland ist bei Abgaben und Steuern globaler Spitzenreiter. ({5}) Bis heute haben wir diverse europäische Hilfsmechanismen, die von Deutschland zum großen Teil finanziert werden. Deutschland scheint mir der Rettungsschwimmer der EU zu sein. Egal wer aus welchen Gründen auch immer in Seenot gerät, deutsche Steuerzahler springen dafür ein und retten alle. Aber was passiert, wenn der Rettungsschwimmer selbst ertrinkt? Genau das könnte bei diesem Vorhaben passieren. Wir retten Länder, deren Bürger vermögender sind als wir. Hilfe zur Selbsthilfe wäre an dieser Stelle viel effektiver. Als Europa der Vaterländer müssen wir unseren Nachbarn helfen. Aber wir sollten nicht die komplette Arbeit für sie verrichten. Die aktuelle Misere ist politisch mitverursacht, und dafür müssen die Regierungen der Mitgliedstaaten geradestehen und nicht die deutschen Steuerzahler. Vielen Dank. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. André Berghegger, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. André Berghegger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004252, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! In diesen Zeiten debattieren wir über viele Hilfsmaßnahmen rund um die Coronapandemie, national wie international. Aktuell, hier und heute, besprechen wir die Koalitionsinitiative zum SURE-Gewährleistungsgesetz. Zur Einordnung: SURE ist die dritte Säule von europäischen Hilfsmaßnahmen im Rahmen der Bekämpfung der Coronapandemie, neben der Aktivierung des ESM für hilfsbedürftige Staaten und neben der Stärkung der Europäischen Investitionsbank zur Unterstützung von kleinen und mittleren Unternehmen. Es ist wichtig: Wir als Deutschland, wir als Staat helfen da, wo wir können. Aber es gehört auch dazu, zu sagen: Wir werden nicht alles auffangen können, was durch diese Pandemie ausgelöst worden ist. Kredite, Garantien und Zuschüsse werden irgendwann zurückgeführt werden müssen. Das ist Teil solider Haushaltspolitik, und dafür werden wir uns einsetzen; denn es ist gerade die solide Haushaltspolitik, die es uns überhaupt erst ermöglicht hat, solche Hilfspakete, über die wir nun diskutieren, umzusetzen. Daran sollten wir weiter arbeiten. ({0}) Das sage ich insbesondere vor dem Hintergrund der anstehenden Verhandlungen über die Konjunkturpakete sowohl in Deutschland als auch auf der europäischen Ebene. Aber worum geht es bei SURE? SURE setzt den Schwerpunkt auf die Verringerung der Arbeitslosigkeit und die Verringerung von Einkommensverlusten bei kleinen Selbstständigen. Die Blaupause ist in etwa – das haben wir vorhin vom Minister gehört – die Kurzarbeiterregelung, die wir hier seit etlichen Jahren in Deutschland praktizieren; das ist eine Anregung gewesen. Sie hat sich in der Finanz- und Wirtschaftskrise deutlich bewährt. Die Europäische Kommission wird in die Lage versetzt, 100 Milliarden Euro an Mitgliedstaaten als Kredite auszureichen. Hierzu sind 25 Milliarden Euro als Garantien der Mitgliedstaaten erforderlich. Von den 25 Milliarden Euro wiederum trägt Deutschland ungefähr 6,4 Milliarden Euro als Garantie. Durch diese Konstruktion wird es etlichen Mitgliedstaaten ermöglicht, von den günstigen Konditionen auf der europäischen Ebene zu profitieren. Ich finde, in der Summe ist das ein überschaubares und damit vertretbares Risiko, und das aus folgenden Gründen: Erstens. Die Haftung für die Gewährleistung ist begrenzt. Es gibt keine gesamtschuldnerische Haftung. Das ist eine Grundbedingung für uns, um überhaupt zuzustimmen. Zweitens. Die Hilfen für die Mitgliedstaaten sind als Kredite organisiert. Das heißt, sie müssen zurückgezahlt werden. Drittens. Die Maßnahmen sind zeitlich befristet, bis Ende 2022, es sei denn, die Auswirkungen dauern noch an. Dann kann die Geltungsdauer des Pakets um ein halbes Jahr verlängert werden. Viertens. Vor allen Dingen sind die Anleihen der Kommission, die ausgegeben werden, so konstruiert, dass maximal 10 Milliarden Euro pro Jahr fällig werden. Das ist im Rahmen eines europäischen Haushaltes eine darstellbare Größe. Fünftens. Etwas salopp oder ungenau formuliert ist in den Verordnungen erwähnt, dass die Kommission vor Inanspruchnahme der Garantien der Mitgliedstaaten finanzielle Spielräume prüfen soll. Das ist im Einzelnen technisch ausformuliert. Wichtig wäre mir, Herr Minister, das ernsthaft zu prüfen und darauf hinzuwirken. Dafür bitte und appelliere ich; denn Projekte in der Europäischen Union scheitern derzeit nicht am Vorhandensein von Geld. In dieser Situation weise ich gerne auf die zwar politisch gebundenen, aber nicht abfließenden Mittel in der Größenordnung von gut 280 Milliarden Euro auf der europäischen Ebene hin, die sogenannten Reste-à-liquider-Mittel, die RAL-Mittel. All das veranlasst mich zu der Annahme, dass das alles finanziell darstellbar sein muss. Im Ergebnis: SURE ist ein weiteres Zeichen großer deutscher Solidarität. Wir lassen unsere Nachbarn nicht im Stich, ganz im Gegenteil, und wir lassen uns auch nichts anderes einreden. Aber, meine Damen und Herren, SURE ist kein Einstieg in eine wie auch immer konstruierte europäische Arbeitslosen- oder Arbeitslosenrückversicherung. Darauf sollten wir immer achten und Wert legen, und deswegen bitte ich Sie um Zustimmung zu diesem Gesetz. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner wird sein der Kollege Johannes Vogel, FDP-Fraktion. ({0})

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zitieren: Jetzt ist jedem klar, dass die europäische Solidarität nicht existiert. Es war ein schönes Märchen! Dies behauptete der serbische Präsident Aleksandar Vucic im März. Im April bestellte die französische Regierung den chinesischen Botschafter ein, nachdem dieser behauptet hatte, unser Nachbarland hätte Menschen in Altersheimen in der Krise alleingelassen. Und ausgerechnet der russische Außenminister behauptet, die europäischen Regierungen würden das Leben der Bürgerinnen und Bürger in der Pandemie nicht schützen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten nicht naiv sein. In dieser Krise hören die neuen Systemwettbewerbe, in denen wir uns befinden, nicht auf. Ein Ziel davon ist, die Europäische Union als zerstritten und schwach darzustellen. Und hier haben wir alle die Verantwortung, für Europa einzustehen; denn gerade in Krisenzeiten braucht es keine Abschottung, keinen Protektionismus und keine geschlossenen Grenzen, sondern das Gegenteil, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Und dabei geht es um verschiedene Dimensionen. Da geht es darum, dass europaweit Patienten grenzübergreifend behandelt werden. Es geht darum, dass wir die Grenzen in Europa endlich wieder öffnen und diesen uneuropäischen Zustand beenden, und es geht auch darum, dass wir uns der Wirtschafts- und Arbeitsmarktkrise gemeinsam sinnvoll entgegenstellen. ({1}) Worum es nicht geht, ist, das als Blankoscheck für irgendeine Art von wirtschaftlicher Unterstützung, egal zu welchen Konditionen, zu begreifen. Gerade weil – – Ich will den Applaus meiner eigenen Fraktion nicht unterdrücken. (Beifall bei der FDP – Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Ich glaube, der ist ihnen im Hals stecken geblieben! Gerade weil Europa in Krisen immer gewachsen ist, müssen wir doch um das Wie ringen, liebe Kolleginnen und Kollegen, damit wir die Stabilität Europas fördern und nicht unterminieren und damit ein besseres Europa nicht auf Sand gebaut ist. ({2}) Aber das Kurzarbeitergeld ist in der Tat ein Beispiel für europäische Sozialpolitik, wie sie sein sollte: kein vergemeinschafteter Einheitsbrei, sondern Vielfalt der Ideen. Und wenn sich etwas so sehr bewährt hat wie das Kurzarbeitergeld in Deutschland und in vielen anderen Ländern, dann ist es richtig, wenn dies in der Krise von anderen Ländern übernommen wird. Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es in dieser Krise auch richtig, wenn über SURE zweckgebunden und ohne gesamtschuldnerische Haftung solche Länder in die Lage versetzt werden, Kurzarbeitergeld oder ähnliche Programme einzurichten, die diese noch nicht haben. Ich will aber genauso klar sagen: Wir erwarten von der Bundesregierung dann auch, dass gegenüber den anderen europäischen Regierungen klargemacht wird, dass nach der Krise entsprechende Versicherungssysteme aus eigenen Versicherungsgeldern aufgebaut werden müssen, damit wir so etwas wie SURE in der nächsten Krise nicht mehr brauchen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Wenn Sie das sicherstellen, dann wird Europa arbeitsmarkt- und sozialpolitisch mit dieser Maßnahme gestärkt aus der Krise hervorgehen, und dann haben Sie die Unterstützung der Liberalen nicht nur im Europäischen Parlament, sondern auch hier im Deutschen Bundestag. Vielen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Vogel. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch, Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Milliarden Menschen auf der ganzen Welt leiden unter den wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise. Und unser Land – ich glaube, davon sind die meisten in diesem Raum überzeugt – hat in dieser Zeit eine besondere Verantwortung, nicht nur für die Menschen hier, sondern auch für die Menschen in Europa und für die Menschen, über die bisher keine großen Rettungsschirme aufgespannt wurden. Ich denke aber auch – hoffentlich nicht nur ich – an die Flüchtlinge, die in Griechenland unter unmenschlichen Bedingungen leben. Auch ihnen müssen wir helfen, meine Damen und Herren. ({0}) Die Arbeitslosigkeit bedroht die Existenz vieler Menschen weltweit, und darum werden wir als Linke alle Schritte unterstützen, die dieser Gefahr der Arbeitslosigkeit entgegentreten. Die Hans-Böckler-Stiftung hat Regelungen zur Kurzarbeit in 16 europäischen Ländern untersucht. Die Spanne reichte damals von 60 Prozent in Deutschland bis zu Ländern, in denen die Beschäftigten trotz Kurzarbeit den vollen Lohn erhalten. Wir, Die Linke, hatten gleich zu Beginn der Krise ein Kurzarbeitergeld von 90 Prozent gefordert, und alle Erfahrungen in der Krise zeigen uns: Diese Forderung war richtig. Wir fordern weiter für Deutschland ein Kurzarbeitergeld von 90 Prozent, meine Damen und Herren. ({1}) Diese Regelung ist besonders für Beschäftigte kleiner und mittlerer Unternehmen wichtig; denn große Konzerne könnten es sich leisten, das Kurzarbeitergeld auch auf 100 Prozent anzuheben. Für viele Mittelständler ist das finanziell nicht möglich, und wir wollen soziale Gerechtigkeit in unserem Land. ({2}) Die Initiative der EU-Kommission findet also grundsätzlich unsere Unterstützung, und wir werden das ja im Ausschuss noch im Detail beraten. Aber ich sage Ihnen auch: Es wäre gut, wenn solche Regelungen nicht nur während der Coronakrise gelten würden. Die EU muss die Krise nutzen, um endlich europäische Sozialstandards grundsätzlich für alle Mitglieder der Europäischen Union durchzusetzen. ({3}) Denn was erleben wir auch hier an Diskussionen? Gerade gestern haben wir auch darüber gesprochen. Einflussreiche Kräfte in der Union versuchen, das Rad der Geschichte wieder zurückzudrehen. – Der Mindestlohn war Ihnen schon immer ein Dorn im Auge, und jetzt versuchen Sie, die Krise zu missbrauchen, um soziale Standards abzubauen. Wir sagen Ihnen ganz deutlich: Das ist zutiefst unchristlich. ({4}) Und schon jetzt leben Menschen, die nur einen Mindestlohn für ihre Arbeit bekommen, trotz Kurzarbeitergeld unter dem Existenzminimum. Deshalb fordern wir nicht nur eine Erhöhung des Kurzarbeitergeldes, sondern wir fordern auch die Erhöhung des Mindestlohnes auf 12 Euro die Stunde. Das ist unsere Forderung. ({5}) Eine Antwort allerdings bleibt der Gesetzentwurf schuldig: Wer soll für die 100 Milliarden Euro aufkommen? Wir, Die Linke, wollen den Kampf gegen Corona mit dem Kampf für mehr soziale Gerechtigkeit verbinden, und darum fordern wir eine Vermögensabgabe für das reichste Prozent der Bevölkerung. Es ist Zeit, Europa endlich gerechter machen. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Lötzsch. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003888, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nur gemeinsam sind wir stark! Deswegen ist es jetzt in dieser Krise wichtig und richtig, dass wir in der Europäischen Union gemeinsam vorangehen und die Krise gemeinsam bewältigen. Das gilt für die Konjunktur- und Wirtschaftspolitik – deswegen ist es richtig und notwendig, dass es einen europäischen Wiederaufbaufonds gibt –, und das gilt eben auch für die Arbeitsmarktpolitik. Deswegen ist es gut, dass es jetzt einen Vorschlag auf europäischer Ebene gibt, wie die gemeinsame Arbeitsmarktpolitik gestärkt werden kann. ({0}) Und in der Tat ist es so: Gerade die Kurzarbeit ist für Deutschland ein Erfolgsrezept. Schon seit fast 100 Jahren gibt es die Kurzarbeit bei uns. In vielen anderen Ländern gibt es mittlerweile vergleichbare Systeme, teilweise erst als Schlussfolgerung der Finanzkrise aufgebaut. Und es ist gut, dass es jetzt ein Kreditprogramm gibt, mit dem das noch stärker unterstützt werden kann, weil die Länder von der Krise unterschiedlich stark betroffen sein werden. Deswegen ist es gut, dass wir solidarisch handeln, mit allen Staaten in der Europäischen Union solidarisch sind. ({1}) Deswegen hat die EU-Kommission schon im April den Vorschlag vorgelegt. Am 19. Mai ist das vom Rat beschlossen worden, und jetzt geht es darum, das auf Länderebene umzusetzen. Das ist der Gesetzentwurf, den wir heute in erster Lesung beraten und in der nächsten Sitzungswoche dann wahrscheinlich beschließen. Dann können Länder bei der Europäischen Kommission Kredite beantragen. Das muss dann vom Europäischen Rat noch genehmigt werden. Das ist für die jetzige Situation durchaus in Ordnung, aber man sieht an dem, was ich beschreibe, schon: Das ist weit entfernt von einem automatischen Stabilisator, der aber eigentlich notwendig ist und an dem wir in der Europäischen Union unbedingt weiter arbeiten müssen. ({2}) Wir brauchen automatische Stabilisatoren auch in der Europäischen Union, um solche unterschiedlichen asymmetrischen Schocks, wie es technisch heißt, abfedern zu können, wenn Krisen in den einzelnen Ländern unterschiedlich wirken. Die Europäische Kommission arbeitet schon lange an einem Konzept einer europäischen Arbeitslosenrückversicherung. Und es ist, glaube ich, jetzt wichtig – darauf legen wir besonderen Wert –, Druck zu machen, dass bald ein Konzept der Europäischen Kommission dazu vorgelegt wird. Wir haben ja bald den Beginn der EU-Ratspräsidentschaft der Bundesrepublik. Herr Minister, Sie selber haben schon mal einen Vorschlag zur Arbeitslosenrückversicherung vorgelegt; gerade kam aus der Unionsfraktion dazu eine andere Äußerung. Ich würde mich sehr freuen und wir würden das sehr unterstützen, wenn die Bundesregierung bei der Europäischen Kommission Druck machen würde, dass bald ein Vorschlag für eine europäische Rückversicherung für die Arbeitslosenversicherung vorgelegt wird. Denn das brauchen wir tatsächlich, um wirkliche automatische Stabilisatoren hinzukriegen, um ökonomische Krisen abzufedern. ({3}) Wenn das eine Schlussfolgerung aus dieser Krise ist, dass wir mehr gemeinsame europäische Lösungen in der Wirtschaftspolitik, in der Arbeitsmarktpolitik brauchen, dann könnte in dieser Krise vielleicht auch eine Chance liegen. Vielen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Unser bayerischer Kollege Alois Karl kann sich schon mal auf den Weg machen; denn er ist der nächste Redner. Als Nächster hat das Wort der Kollege Alois Karl, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Alois Karl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003784, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bedanke mich für die Freundlichkeit. – Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Coronapandemie hat uns schlimm in den Griff genommen – persönlich, gesellschaftlich und natürlich auch wirtschaftlich. In Deutschland werden wir möglicherweise einen Absturz des Bruttoinlandsproduktes um mehr als 6 Prozent erleben. Wir erinnern uns an die Zeit 2008/2009. Die Finanzmarktkrise damals hat weltweit einen Rückgang der Bruttosozialprodukte um minus 0,1 Prozent mit sich gebracht. Heuer rechnen wir in der Zeit der Coronapandemie mit einem Rückgang von minus 3 Prozent, das heißt, um das 30-Fache werden wir mehr darunter zu leiden haben als damals – in der Tat eine unvorstellbare Dimension. Wir haben damals – die älteren Kollegen erinnern sich – an einem einzigen Tag Rettungsschirme in Höhe von 880 Milliarden Euro in diesem Deutschen Bundestag auf den Weg gebracht. Das war ein großes Risiko; aber es war richtig, und es hat uns in der Situation durchaus geholfen. Heute werden wir ähnlich verfahren müssen in einer Situation, die noch deutlich schlimmer ist als damals. Meine Damen und Herren, als Haushälter sind wir gewohnt, mit großen Zahlen umzugehen; aber die heute aufgerufenen machen einen doch ein bisschen schwindelig: 156 Milliarden Euro Nachtragshaushalt, 500 Milliarden Euro für die Initiative von Frau Merkel und Herrn Macron – ({0}) Frau von der Leyen möchte das um 50 Prozent auf 750 Milliarden Euro steigern –, die Ankaufprogramme der Europäischen Zentralbank ebenfalls mit 750 Milliarden Euro, und so geht das weiter. Heute geht es um etwa 100 Milliarden Euro für SURE zur Stabilisierung und Verbesserung der Kurzarbeitergeldregelung als Teil des europäischen Sozialpakts. Wir sagen Ja zu dieser Initiative und zu diesem Gesetz, weil wir wissen, dass wir damit ein gutes Zeichen für etwa 170 Millionen Arbeitnehmer in Europa setzen. Damit bedeuten wir ihnen auch, dass uns ihr Schicksal nicht egal ist. ({1}) Meine Damen und Herren, dies ist auch ein Ausdruck unseres Bekenntnisses zum Sozialstaatsgebot. Dies ist für uns nicht bloß ein Lippenbekenntnis, sondern es geht weit über Sonntagsreden hinaus. Für uns als CDU und CSU ist das unsere Philosophie, es ist Gegenstand unserer Politik, es ist unsere grundlegende Einstellung. Das muss auch dann gelten, wenn das Geld kostet – und dazu bekennen wir uns. Wir haben in den letzten Wochen unsere Kurzarbeitergeldregelungen in Deutschland deutlich verbessert und werden dies auf europäischer Ebene über das Programm SURE, über das wir heute reden, erweitern. Es ist nicht auf Dauer angelegt, lediglich auf die Krisenzeit begrenzt. Das ist kein Zuschuss; das sind lediglich Kredite. Wir übernehmen keine Haftung für die Schulden anderer; wir gehen in keine gesamtschuldnerische Bürgschaft hinein. Darum ist das Risiko – es ist ein Risiko – überschaubar. Die Europäische Union sammelt 100 Milliarden Euro ein, die Staaten verbürgen sich mit 25 Prozent, 25 Milliarden Euro also, und die starken Schultern tragen mehr als die schwachen. Deutschland übernimmt Garantien – keine Einzahlungen, sondern Garantien – in Höhe von rund 6,4 Milliarden Euro.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Alois Karl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003784, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir können, wenn dieses Programm funktioniert – und ich glaube fest daran –, zu den Gewinnern gehören. Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich wünsche Ihnen im Vorfeld zu Pfingsten viel Heiligen Geist, den Sie dadurch zum Ausdruck bringen können, dass Sie diesem Gesetz jetzt gleich zustimmen. Herzlichen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Karl, herzlichen Dank. – Ich wollte nur darauf hinweisen: Der Heilige Geist wird erst Pfingsten ausgeschüttet, nicht vorher. ({0}) Also, jedenfalls ist es die Legende, dass das so sei. Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Marc Biadacz, CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Marc Biadacz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004673, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den letzten Wochen und Monaten haben wir es geschafft, das Coronavirus in Deutschland erfolgreich einzudämmen unter der Prämisse, unsere Gesundheit zu schützen. Eindrücklich ist uns noch mal ins Bewusstsein gekommen, wie wichtig es ist, gesund zu sein und auch gesund zu bleiben. Voraussetzung dafür ist mitunter ein starkes Immunsystem. Es hält unseren Körper gesund und stabil, liebe Kolleginnen und Kollegen. Die Pandemie gefährdet aber nicht nur unsere Gesundheit, sondern auch unsere wirtschaftliche Stabilität und unsere Arbeitsplätze. Als Arbeitsmarktpolitiker meiner Fraktion ist mir der Fokus auf Wirtschaft und Arbeitsplätze besonders auch in dieser Debatte wichtig. Prognosen zeigen, dass wir im Jahr 2020 ein Wirtschaftsminus von 6,3 Prozent haben werden. Das wird unseren und auch den europäischen Arbeitsmarkt nicht unberührt lassen. Die aktuelle Pandemie zeigt uns damit, dass wir nicht nur ein gutes Immunsystem für unseren Körper, sondern auch für unseren Arbeitsmarkt brauchen. Was macht aber eigentlich ein gutes Immunsystem für den Arbeitsmarkt aus, liebe Kolleginnen und Kollegen? Das sind Instrumente, die dafür sorgen, den Arbeitsmarkt zu stabilisieren und dadurch Arbeitsplätze zu sichern. Ein erfolgreiches Instrument in Deutschland ist die Kurzarbeit. Dass Kurzarbeit ein Erfolgsmodell ist, haben wir in der Banken- und Wirtschaftskrise 2009 gesehen; der Bundesfinanzminister ist darauf eingegangen. Kurzarbeit, meine Damen und Herren, baut Brücken zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Auch das Ausland hat die Vorteile von Kurzarbeit erkannt. Kurzarbeit ist ein Exportschlager: In Frankreich, Italien, Spanien, ja selbst in den wirtschaftsliberalen USA wurden ähnliche Programme eingeführt. Das deutsche Wort „Kurzarbeit“ ist mittlerweile ein fester Bestandteil der internationalen volkswirtschaftlichen Debatte. Liebe Kolleginnen und Kollegen, unser Immunsystem funktioniert allerdings nur dann vernünftig, wenn es im gesamten Körper wirkt. Ähnlich funktioniert es auch mit dem Immunsystem unseres Arbeitsmarktes. Wir können unseren Arbeitsmarkt in Deutschland nicht singulär betrachten. Wir sind ein Teil eines gemeinsamen europäischen Binnenmarktes und einer gemeinsamen Währungsunion. Wenn in Italien Massenarbeitslosigkeit herrscht, gefährdet das auch unseren Arbeitsmarkt. Wenn in Frankreich nicht investiert wird, schwächt das auch unsere Unternehmen in Deutschland. Wenn in Spanien die Wirtschaft in den Keller stürzt, belastet das auch unsere Wirtschaft hier bei uns. Langfristig wird sich der deutsche Arbeitsmarkt aber nur erholen, wenn sich die Wirtschaft in der ganzen EU stabilisiert. Deshalb brauchen wir Recovery-Programme, gerade in unserem eigenen Interesse und für unsere Arbeitsplätze. Deutschland ist stark, wenn es in ganz Europa gute Jobs für junge Menschen gibt. Deutschland ist stark, wenn in der gesamten EU Wohlstand und Stabilität herrschen. Deutschland ist stark, wenn ganz Europa stark ist. Deshalb ist SURE das richtige Programm, das wir heute diskutieren. Es unterstützt schwer getroffene Mitgliedstaaten mit günstigen Krediten für den Aufbau von Kurzarbeit. Damit kann jedes Land das Immunsystem des eigenen Arbeitsmarktes stärken und somit den gesamten europäischen Arbeitsmarkt. ({0}) Klar ist aber auch: Diese Kredite müssen auch zurückgezahlt werden, und sie müssen zeitnah zurückgezahlt werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, SURE sichert viele Arbeitsplätze in Europa und damit den Wohlstand von uns allen. Lassen Sie uns heute ein ganz klares Signal in die Europäische Union senden: Wir stehen zusammen für ein gesundes, für ein starkes Europa, damit die guten Arbeitsplätze von morgen hier bei uns in Europa sind. Deshalb bitte ich Sie um Zustimmung. Danke schön. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Damit schließe ich die Aussprache.

Mariana Iris Harder-Kühnel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004736, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wenn man durch die Straßen einer beliebigen deutschen Großstadt geht, dann erkennt man das eigene Land und seine Kultur oft kaum wieder. Wir vertreten die Interessen anderer und vernachlässigen dabei unsere eigenen. Wir forcieren die multikulturelle Gesellschaft und geben unser eigenes Land und unsere eigene Kultur kampflos auf, ({0}) zugunsten von Parallelgesellschaften, die unsere bestehende Ordnung täglich neu herausfordern. Das, meine Damen und Herren, ist die Definition des politischen Wahnsinns. ({1}) Was bleibt, sind Verwirrung und Orientierungslosigkeit. ({2}) Die Leute erkennen unser Land und unsere Kultur nicht wieder, weil es immer weniger unser Land ist. Diese Schwäche wird von einem politischen Islam ausgenutzt, der immer aggressiver auftritt. Er tut dies deshalb, weil Sie es zulassen, weil Sie die von ihm ausgehenden Gefahren permanent bagatellisieren. Symptomatisch für diese Politik ist die Aussage der früheren Integrationsbeauftragten Frau Özoğuz, dass das Zusammenleben täglich neu ausverhandelt werden müsse. ({3}) Die Folgen dieser Politik sind mehr und mehr Gewalt gegen Frauen, Ehrenmorde, Zwangsheiraten. ({4}) Ist das die drastische Veränderung unseres Landes, auf die sich Frau Göring-Eckardt so gefreut hat? Wir können uns darüber ganz und gar nicht freuen. Ein weiteres Symptom Ihrer Politik zeigt sich eben nun in den Kindergärten und in den Schulen. Da sieht man immer mehr kleine Mädchen, die dazu gezwungen werden, Kopftücher zu tragen. Freiwillig tun das sicherlich die allerwenigsten von ihnen. Warum sollten sie auch? Das Kinderkopftuch gleicht einer Zwangsjacke. Es wird zu einer zweiten, unbequemen Haut, die die Mädchen ihrer Freiheit und ihrer Kindheit beraubt. Freies Rennen, Spielen, Schwimmen etc. ist kaum möglich. Die Kinder leben ständig in der Angst, dass das Kopftuch verrutschten könnte und sie bestraft werden. ({5}) Es ist für die kleinen Mädchen nichts anderes als eine andauernde körperliche und psychische Disziplinierung in einem prägenden Alter. ({6}) Immer häufiger werden muslimische Mädchen, die sich weigern, ein Kopftuch zu tragen, gemobbt, beleidigt und massiv unter Druck gesetzt. Das Kinderkopftuch ist ein Symbol des politischen Kindesmissbrauchs. ({7}) Es bereitet unterdrückte Mädchen auf ihre spätere Rolle als unterdrückte Frauen vor. Und kommen Sie mir jetzt bitte nicht mit der Religionsfreiheit; denn es gibt im Islam kein religiöses Gebot, das Mädchen vor der Pubertät dazu anhält, ein Kopftuch zu tragen. Islamische Theologen bestätigen das. Bis vor wenigen Jahrzehnten war das Kinderkopftuch selbst in islamischen Ländern völlig unüblich. Das Tragen des Kinderkopftuchs ist nichts anderes als eine Machtdemonstration des Islamismus und hat in unserem Land nichts verloren. ({8}) Kleine Mädchen, die zum Tragen des Kopftuchs gezwungen werden, werden als Botschafter einer Ideologie missbraucht. Das ist politischer Kindesmissbrauch und zementiert das, was es eigentlich zu überwinden gilt: ({9}) Parallelgesellschaften, gesellschaftliche Desintegration junger Mädchen, die Unterdrückung von Frauen. – So etwas darf es in Deutschland nicht geben. ({10}) Öffentliche Kindertagesstätten und Schulen haben einen verfassungsrechtlichen Erziehungs- und Bildungsauftrag. Sie sollen die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zu selbstbestimmten Persönlichkeiten fördern und sie sozial in ein Gemeinwesen integrieren, ({11}) das auf die Gleichberechtigung aller Menschen angelegt ist. Das Kinderkopftuch verunmöglicht vielen Mädchen eine solche Entwicklung. Deshalb muss es an öffentlichen Kindertagesstätten und Schulen verboten werden. ({12}) Ein solches Verbot wäre auch verfassungsgemäß. Dies bestätigen Rechtsgutachten, die zum Beispiel von Terre des Femmes und der Arbeitsgemeinschaft der Immigrantenverbände in Auftrag gegeben worden sind. Die Franzosen und die Österreicher haben längst gehandelt. ({13}) Dort hat man Kopftuchverbote an öffentlichen Schulen eingeführt, ({14}) in Frankreich übrigens mit den Stimmen der Sozialisten. ({15}) Machen wir es Österreich und Frankreich nach! Schützen wir kleine muslimische Mädchen vor dem Kopftuchzwang ({16}) und Deutschland vor weiteren Parallelgesellschaften; denn es ist immer noch unser Land. ({17}) Aus den unterdrückten Kindern von heute dürfen keine unterdrückten Frauen von morgen werden. Vielen Dank. ({18})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Nina Warken, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Nina Warken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004437, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist ja nichts Neues, dass die AfD versucht, mit dem Thema Kopftuch Aufmerksamkeit zu bekommen. Jetzt muss also die etwas publikumswirksamere Variante „Kinderkopftuch in Kitas und Schulen“ auf diese Bühne gezerrt werden. Aber auch das ist kein neues Thema; meine Fraktion hat sich damit bereits ausführlich beschäftigt. Aber dazu später mehr. ({0}) Eines, meine Damen und Herren, ist tatsächlich neu: Zum ersten Mal lese ich in einem Antrag der AfD die Worte „Dialog“ und „konstruktive Mitarbeit“. Aber warum? Leider nicht aus Überzeugung, sondern ganz einfach aus der Not geboren: Die Gesetzgebungskompetenz für den Schul- und Kultusbereich liegt nämlich bei den Ländern. Und da würde sich ein Antrag auf Beschlüsse der Bundesregierung nicht besonders elegant lesen. Also soll man mangels Gesetzgebungskompetenz des Bundes nun mit den Ländern über ein Verbot diskutieren. Das tun wir hier doch gleich mal. Es gibt verschiedene Gutachten – das wurde bereits erwähnt –, die geprüft haben, ob ein Kopftuchverbot bei Mädchen unter 14 Jahren mit unserem Grundgesetz vereinbar ist. Die muss ich im Detail hier nicht ausbreiten. Nur so viel: Während die einen Verfassungsrechtler zu dem Schluss kommen, ein Verbot sei rechtlich möglich, gibt es genauso diejenigen, die das in Zweifel ziehen. Kurzum: Die verfassungsrechtlichen Bedenken lassen sich nicht wegwischen, auch wenn einige Verfassungsrechtler grünes Licht geben. Sie bewerten den Schutz des Kindes und sein Recht auf eine freiheitliche Entwicklung höher als die Religionsfreiheit und das elterliche Erziehungsrecht. Es bleibt aber unstreitig ein Spannungsverhältnis zwischen den einzelnen Grundrechten bestehen. Kurzum: Das Thema eignet sich nicht für Schnellschüsse und ist auch nicht dafür geeignet, Ängste zu schüren oder parteipolitisch Profit daraus zu schlagen. Um eines ganz klarzustellen: Auch ich lehne das Tragen von Kopftüchern bei Mädchen im Kita- und Grundschulalter entschieden ab. ({1}) Ein Verbot kann aber nur die Ultima Ratio sein, und das ist auch die Position meiner Partei. Wir müssen zunächst alle anderen Maßnahmen ausschöpfen, die der elterlichen Aufklärung und Überzeugung dienen. Lassen Sie mich auch noch ein paar Gedanken zur gesellschaftlichen Dimension eines möglichen Verbots ausführen. Wo kleine Mädchen von ihren Eltern dazu angehalten werden, Kopftücher zu tragen, ist es nicht gut um die Integration bestellt. Von einer selbstbestimmten Entscheidung für oder gegen ein Kopftuch kann in diesem Alter nicht die Rede sein. Zu Recht werden von den Befürwortern eines Verbots auch die weitreichenden Konsequenzen eines Kopftuchs bei Kindern ins Feld geführt. Dabei geht es nicht nur um die Selbstwahrnehmung der Mädchen, sondern eben auch um ganz praktische Probleme, etwa beim Schwimm- und Sportunterricht, oder es kommt zu Ausgrenzung und Diskriminierung der Kinder. Aber Integration kann man nicht einfach verordnen, man kann sie jedoch erwarten. Sie geschieht aber nicht von oben, sondern sie passiert an der Basis. Natürlich müssen Bildungseinrichtungen und Schulbehörden darin bestärkt werden, das Gespräch mit den Eltern zu suchen. Dazu braucht es professionelle Strukturen und die Zusammenarbeit von allen Beteiligten. Bei einem Verbot bestünde die Gefahr, dass genau dieser Gesprächsfaden abgeschnitten wird. Es droht die Gefahr von Protestverhalten oder einer gänzlichen Ablehnung unserer Gesellschaftsordnung. Und diese innere Ablehnung verhindert die Integration eines Kindes mindestens genauso wie die äußerliche Abgrenzung. Es geht nämlich darum, Mädchen und Frauen den Rücken zu stärken und ihnen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Es geht nicht darum, auf ihrem Rücken Symbolpolitik zu betreiben. Deshalb müssen wir mehr darüber wissen: Wie viele Mädchen in Deutschland tragen überhaupt ein Kopftuch in öffentlichen Schulen? Ab welchem Alter tragen sie es? Aufgrund welcher Hintergründe und mit welchen Auswirkungen auf den Schulfrieden und die persönliche Entfaltung tragen sie es? Und natürlich müssen wir auch wissen: Wie soll eine Sanktion aussehen, wenn alles andere nicht hilft? Wie genau soll die Rechtsdurchsetzung erfolgen?

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Nina Warken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004437, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es gibt eine Menge Fragen. Bei dieser hochsensiblen Thematik brauchen wir eine unaufgeregte und sachliche Debatte, die der Realität in unserem Land entspricht. Ihr Antrag lässt eine solche Debatte nicht erwarten. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner ist der Kollege Benjamin Strasser, FDP-Fraktion. ({0})

Benjamin Strasser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt für alles Parlamentspremieren. Heute hat die AfD zum ersten Mal eine Kleine Anfrage in Form eines Antrages in den Deutschen Bundestag eingebracht. Ihr Antrag stellt von der Überschrift bis zum Ende nur Fragen und gibt keine Antworten. Anders als Frau Harder-Kühnel behauptet hat, steht in Ihrem Antrag nichts von einem Kopftuchverbot, vielmehr ist von einer Studie zu einem Kopftuchverbot die Rede. Das zeigt uns allen: Ein Kopftuchverbot ist schnell gefordert, aber umso schwerer umzusetzen. ({0}) Das liegt daran, dass das Kopftuch ein ambivalentes Symbol ist. Es ist auf der einen Seite, so die Rechtsprechung unseres Verfassungsgerichts, ein religiöses Symbol, und es ist auf der anderen Seite natürlich ein Instrument, mit dem Frauen ihre sexuellen Reize vor Männern verdecken. Ein gleichwertiges Instrument gibt es für Männer im Islam nicht. Wegen dieser Ambivalenz ist es berechtigt, Fragen zu stellen. Natürlich kann man die Frage stellen, ob bei Kindern überhaupt sexuelle Reize, eine entsprechende Ausstrahlung, bestehen. Natürlich kann man fragen, ob ein bestimmtes Rollenbild von einer Überordnung des Mannes vermittelt wird. Natürlich kann man die Frage stellen, ob Kinder in der Schule ausgegrenzt werden. Man muss aber den Blick weiten. Man muss immer über die Frage des elterlichen Erziehungsrechts und die Frage der Religionsfreiheit diskutieren. Liebe Kollegin Warken, Sie haben die Studien angesprochen. Für mich persönlich ist die Frage, ob ein Verbot verfassungsrechtlich möglich ist oder nicht, gar nicht die zentrale Frage. Für mich ist die zentrale Frage: Welche Folgewirkungen hat ein solches Verbot? Die Studie von Terre des Femmes, die Frau Harder-Kühnel zitiert hat, kommt zu dem Ergebnis: Wenn wir ein solches Verbot wollen, dann muss es aufgrund von Artikel 3 Absatz 3 des Grundgesetzes für alle religiösen Bekleidungsvorschriften in den Schulen gelten. Das heißt: keine Kippa für Jungen, kein Halskreuz für Jungen und Mädchen. Die entscheidende Frage ist: Wollen wir das? Ich beantworte diese Frage für mich mit Nein. Ich möchte das nicht. ({1}) Die zentrale Herausforderung ist: Wie stärken wir das Selbstbestimmungsrecht von jungen Frauen und Mädchen? Dazu ist es wichtig, zu wissen, was entscheidend dafür war, dass das Kopftuch getragen wird. Das ist nicht der Ehemann, das ist nicht der Bruder, das ist nicht der Vater, sondern 40 Prozent der Kopftuchträgerinnen sagen: Die entscheidende Rolle hat die Mutter gespielt. Deswegen müssen wir in die Schulen gehen. Wir brauchen in den Schulen Aufklärung. Wir müssen den Dialog mit Musliminnen und Muslimen führen. Und wir als Staat müssen auch den Dialog innerhalb der muslimischen Gemeinschaft begleiten. Das ist unsere Aufgabe. Deswegen werden meine Kollegin Nicole Bauer, unsere frauenpolitische Sprecherin, und ich genau diesen Dialog in den kommenden Wochen mit Muslimenverbänden und anderen Verbänden führen. Dieser Antrag der AfD ist dazu ein denkbar ungeeigneter Anlass. Deswegen lehnen wir ihn auch ab. Vielen herzlichen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Lars Castellucci für die SPD-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Lars Castellucci (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004257, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ganz Deutschland spricht davon, wie wir es schaffen, dass die Kinder wieder in die Schule kommen, die AfD spricht darüber, was sie auf dem Kopf tragen. Wenn man noch einen Beweis braucht, wie irrelevant Sie hier sind, dann ist er hiermit angetreten. ({0}) Zum ersten Mal lese ich von Ihnen etwas zum Thema Integration. Entschuldigung: Veräppeln können wir uns selber. ({1}) Ihr einziges Dasein, Ihre Reden, Ihre hässlichen Reden hier im Deutschen Bundestag, Ihre Verhaltensweisen sind ein einziger Akt der Desintegration. Es geht Ihnen nicht um Integration. Und Sie sollten die Kinder auch nicht für diese Argumentation missbrauchen. ({2}) Vorletzte Wochen haben Sie hier einen Antrag zum Thema Religionsfreiheit eingebracht. Da ging es nur um die Religionsfreiheit von Christinnen und Christen. Ich finde, Religionsfreiheit für Christinnen und Christen eine wunderbare Sache, aber wenn man sie nur für Christinnen und Christen will, dann hat man Religionsfreiheit gerade nicht verstanden. Ich stelle fest: Es geht Ihnen nicht um Religionsfreiheit, sondern Sie missbrauchen die Religionsfreiheit hier wieder, um gegen Muslime vorzugehen. Sie haben jetzt das Kopftuch zum Thema gemacht. Herr Strasser hat zu Recht darauf hingewiesen, dass es dabei verschiedene Sichtweisen geben kann. Man kann eben nicht von außen feststellen, was jemand als zu seiner Religion zugehörig begreift; das ist nicht möglich. Was Religion ist und bleibt, ist das, was Menschen daraus machen; im Guten wie im Schlechten. Sie zitieren hier Wissenschaftler damit, dass das Kopftuch nicht zum Koran gehört. Offen gestanden: Meine Überzeugung ist das auch. Die gleichen Wissenschaftler sagen aber auch, dass es sich beim Islam um eine friedfertige Religion handelt. ({3}) Ein solches Zitat von diesen Wissenschaftlern habe ich von Ihnen noch nicht gehört. Das heißt, Sie missbrauchen auch hier die Wissenschaft, Sie zitieren sie nur, Sie nehmen sie als Stichwortgeber für Ihre Argumentation. Es geht Ihnen nicht um Wissenschaft. Es geht Ihnen nur um Ihre Spalterei. ({4}) Dann kommen Sie zum Thema Frauen. Sie zitieren ein Gutachten der Organisation Terre des Femmes. Terre des Femmes ist eine höchst respektierliche Organisation. Ich gehe davon aus, dass sie sich schwer dagegen verwahren würde, von Ihnen hier zitiert zu werden; denn wie es bei Ihnen um Frauenrechte steht, kann man an einer Hand abzählen: Man muss nur schauen, wie viele Frauen sich in Ihrer Fraktion befinden. Ich stelle also auch fest: Es geht Ihnen nicht um die Frauen, es geht Ihnen um den Muslimhass, den Sie hier immer wieder vortragen. Und letzter Punkt: Kinderkopftuch – ich zitiere einmal Ihre Fraktionsvorsitzende, Frau Weidel: Über ein Verbot auch in vielen anderen Bereichen des öffentlichen Lebens, also beispielsweise an weiterführenden Schulen, Universitäten oder auch Behörden muss nachgedacht werden. Es geht Ihnen also nicht um die Kinder, sondern es geht Ihnen um den Hass gegen Muslime. Es geht Ihnen nicht um Religionsfreiheit, es geht Ihnen nicht um Integration, es geht Ihnen nicht um Wissenschaft, es geht Ihnen nicht um Frauen, es geht Ihnen einfach nur darum, dass Sie Ihr Lebenselixier hier immer wieder zur Schau tragen. ({5}) Ich kann nur sagen: Da hilft vielleicht höchstens noch der Heilige Geist. Am Sonntag hat er wieder eine Chance, auf Sie herabzusteigen. Ich wünsche Ihnen frohe Pfingsten. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Gökay Akbulut für die Fraktion Die Linke. ({0})

Gökay Akbulut (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004653, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die AfD hat die schlechtesten Umfragewerte seit Längerem. Deshalb versucht sie noch einmal, in die Trickkiste des antimuslimischen Rassismus zu greifen. In Deutschland trägt nur ein Bruchteil der Mädchen unter 14 Jahren ein Kopftuch. Statt Verboten sind Zugänge und Dialog zu diesen Familien und Communitys notwendig. ({0}) Viele Mädchen tragen ab Beginn der Pubertät das Kopftuch unter anderem aus dem Wunsch nach religiöser Identität und Zugehörigkeit. Das Institut für Menschenrechte sowie der Grundschulverband lehnen ein Kopftuchverbot ab. Beide sprechen in ihren Stellungnahmen davon, dass muslimische Mädchen bei einem Kopftuchverbot in einen für sie nicht lösbaren Konflikt geraten und die grund- und menschenrechtlich garantierte Religionsfreiheit von Kindern und Jugendlichen durch ein solches Verbot verletzt wird. In NRW wurde zuletzt eine Verbotsüberlegung zurückgezogen. Es ist fraglich, ob ein Verbot als Eingriff in die Religionsfreiheit und in Elternrechte vor dem Bundesverfassungsgericht Bestand haben würde. Die AfD setzt sich jedoch in ihrem Antrag, wie bei vielen anderen Themen, über geltendes Recht und die Meinung von Expertinnen und Experten hinweg. Sie interessiert sich nicht für das Wohl dieser Mädchen oder die freie Entfaltung von Frauen. Schauen Sie doch einmal in Ihre eigenen Reihen. Sie sind doch die frauenfeindlichste Partei Deutschlands. ({1}) Sie wollen doch Frauen wieder am Herd sehen. Sie sind doch für die Unterdrückung von Frauen in unserer Gesellschaft. ({2}) Sobald das Wort „Kopftuch“ aufkommt, denken viele, sie müssten die verschleierte Frau entschleiern und befreien. Frauen mit Kopftuch werden automatisch als Opfer betrachtet – was für eine koloniale Geste. „Die brauchen eure Freiheit nicht!“, schrieb Reyhan Sahin, auch bekannt als Rapperin Lady Bitch Ray, in ihrer Kolumne. Sie hat recht. Manche muslimische Mädchen fühlen sich ohne Kopftuch freier und emanzipierter, andere wiederum, wenn sie es tragen. Frauen mit Kopftüchern arbeiten in allen systemrelevanten Berufen in unserer Gesellschaft und leisten im Gegensatz zur AfD einen wichtigen Beitrag. ({3}) Sie werden aber bei der Suche nach Ausbildungs- und Arbeitsplätzen diskriminiert. Sie werden tagtäglich angegriffen und rassistisch beleidigt. Die Anzahl von antimuslimischen Straftaten hat in den vergangenen Jahren enorm zugenommen. Die größte Gefahr in unserer Gesellschaft geht nicht von Kopftuch tragenden Frauen oder Muslimen aus, sondern von weißen Männern und Rassisten, die von Solingen, Hanau bis Minneapolis Hass, Hetze und Tod verbreiten. ({4}) Abschließend möchte ich klar und deutlich betonen: Wir sind gegen jeden Zwang. Wir sind gegen jede Form der patriarchalen und feudalen Unterdrückung von Frauen und Mädchen. Der Zwang, ein Kopftuch zu tragen, ist ebenso abzulehnen wie der Zwang, es abzusetzen. Als Linke kämpfen wir für echte Partizipation und Gleichberechtigung für alle Frauen und Mädchen, ob mit oder ohne Kopftuch. Wir unterstützen vor allem alle feministischen Kämpfe der muslimischen Frauenbewegungen. Vielen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Filiz Polat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Filiz Polat (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004857, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Debatten über das Kopftuch müssen mit aller gebotenen Sachlichkeit geführt werden. Wir tragen hier eine große Verantwortung. Die Rechten nutzen die alten Feindbilder und Vorurteile gegenüber Muslimen, um tief verwurzelte Ängste und Rassismen in der Bevölkerung für ihre Zwecke zu nutzen, und das konnten wir leider heute wieder eindrücklich erleben, meine Damen und Herren. Das Kopftuch für Mädchen lehnen wir ab. ({0}) Aber genauso wie die große Zahl der Muslime in Deutschland und im Übrigen auch die Dachverbände sagen wir: Ein Verbot ist nicht der richtige Weg und auf Bundesebene definitiv so oder so gesetzlich nicht umsetzbar. ({1}) Der Staat hat die Aufgabe, eine sehr genaue Abwägung und einen Ausgleich möglicher Grundrechtskollisionen vorzunehmen. Nach der geltenden Rechtsprechung ist anzuerkennen, dass allein die Grundrechtsträgerin entscheiden kann, ob es sich um ein für sie verbindliches Glaubensgebot handelt. Der Staat hat nicht zu beurteilen, welche Bekleidungsvorschriften aus religiöser Überzeugung befolgt werden. ({2}) Im Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes von 2017 zu Schule und Religionsfreiheit, das ich wirklich empfehle, wird hierzu treffend ergänzt – ich zitiere –: Dem Staat ist es verwehrt, die Glaubensüberzeugungen der Bürger zu bewerten oder als „richtig“ oder „falsch“ zu beurteilen. Das gilt insbesondere dann, wenn dazu unterschiedliche Ansichten innerhalb einer Religionsgemeinschaft vertreten werden. Meine Damen und Herren, die Herausforderung beim Thema „Kopftuch bei minderjährigen Mädchen“ ist jedoch, dass die Eltern für ihre Kinder diese Entscheidung treffen. Es ist nun einmal so, dass Kinder unter 14 Jahren bis zu ihrer Religionsmündigkeit – das wissen Sie – von ihren Eltern vertreten werden. Nichtsdestotrotz ist klar: Wenn Zwang ausgeübt wird, muss der Staat in die elterliche Fürsorge eingreifen können und das Kindeswohl in den Mittelpunkt stellen, und darüber sind wir uns wohl einig, meine Damen und Herren. ({3}) Dafür haben wir die entsprechende gesetzliche Rahmengesetzgebung. Wir sehen keinen Änderungsbedarf auf Bundesebene. Denn ein pauschales Verbot und vor allem dessen Durchsetzung durch den Staat hätten unverhältnismäßige Folgen insbesondere für die Kinder. Es ist nicht im Interesse der Kinder, zur Durchsetzung dieses Verbots möglicherweise vorübergehend von Bildungseinrichtungen ausgeschlossen zu werden. Wir haben hierfür schon Beispiele aus der Vergangenheit in Bezug auf das Nikab-Verbot in einigen Bundesländern gesehen. Dieser Konsequenzen müssen Sie sich bewusst sein, bevor Sie ein pauschales Verbot fordern. Auf religiöse Gebote, meine Damen und Herren, mit weltlichen Verboten zu reagieren, führt zu Ausgrenzung und Isolation statt zu Inklusion. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Marcus Weinberg für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Marcus Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003861, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Ich möchte das unterstreichen, was Nina Warken für unsere Fraktion gesagt hat: Weil dies ein höchst emotionales und ein höchst persönliches Thema ist, brauchen wir Sachlichkeit und Unaufgeregtheit. Ich fand den Begriff der Ambivalenz von Herrn Strasser bei diesem Thema passend. Ist es religiös? Ist es politisch? Wer bewertet was? Das Ganze hat verschiedene Dimensionen. Es gibt nämlich nicht nur eine religiöse und eine verfassungsrechtliche Dimension. Es gibt eine soziale Dimension, eine pädagogische Dimension, eine Dimension des Verhältnisses der Kinder zu ihren Eltern und auch eine Dimension der Aufgabe des Staates. Diese Ambivalenz, dieser Antagonismus sieht folgendermaßen aus: der Staat auf der einen Seite, die Privatsphäre auf der anderen Seite, die Frage, was wir zulassen und was nicht, der Staat nicht als böser, übergriffiger Leviathan, der uns unsere Religiosität nehmen soll, sondern als der Staat, der unsere Religiosität als Teil der Freiheit dieser Gesellschaft schützen soll. Deswegen gibt es zwei Dinge, die wir nicht tun dürfen: Das sind Anmaßung und Pauschalierung. Zur Anmaßung. Ich möchte nicht, dass man meine Religion bewertet. Ich möchte nicht, dass mir Leute erklären, was für mich religiös ist und was nicht. Das ist mir überlassen als Christ, und so haben auch Anhänger anderer monotheistischer Religionen den Anspruch, dass sie geschützt werden in ihrer Religiosität. Das Zweite sind Pauschalierungen. Das Kopftuch kann – – Aber ist es immer so? Ich will zitieren aus Ihrem Antrag: Das Kopftuch ist ein politisches Symbol und auf das Engste mit dem Islamismus verbunden, der seinerseits mit der verfassungsmäßigen Ordnung unseres Landes unvereinbar ist. – Da steht nichts von „kann“; da steht etwas von „ist“. ({0}) Auf Deutsch gesagt: Diejenige, die ein Kopftuch trägt, steht nicht zu dieser Verfassung. ({1}) Das ist anmaßend und pauschalierend. Das ist nicht unsere politische Kultur des Umgangs mit diesem wichtigen Thema. Insoweit der Hinweis auf die verfassungsrechtliche Situation: Das Grundgesetz sieht keinen Gesetzesvorbehalt vor. Das heißt, die Religionsfreiheit, und zwar sowohl die innere Religionsfreiheit als auch die Religionsausübung, ist besonders geschützt, und zwar aus guten Gründen unserer Geschichte und unserer verfassungsrechtlichen Herleitung. Das heißt: Grundrechte Dritter oder andere Rechtsgüter von Verfassungsrang müssten verletzt werden. Und dann gilt – das wurde gesagt – das Neutralitätsgebot. Das Kopftuch ist ein Symbol einer besonderen Religion, einer bestimmten Religion. Ja, ich komme gleich noch zu den Missbräuchen, und ich komme gleich auch dazu, dass dieses Missbräuchliche tatsächlich stärker zugenommen hat. Aber es darf nicht sein, dass wir einzelne Bekleidungsvorschriften von Religionen als nicht zulässig erklären. Wenn doch, dann muss es so sein – das war das französische Beispiel –, dass wir grundsätzlich in der Neutralität des Staates religiöse und weltanschauliche Neutralität weiterhin gewähren müssen. Andere religiöse Zeichen stünden dann auch zur Disposition. Ein letzter Punkt aus dem Verfassungsrecht ist das Elternrecht. Sie sind ja immer sehr stark für das Elternrecht, Artikel 6 des Grundgesetzes: Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern. – Ja, und auch hier muss der Staat sehr sorgsam sein, wenn er eingreift und dies beeinflusst. Als Fazit kann man sagen: Ja, das Kopftuch kann tatsächlich Zwang bedeuten, und das ist nicht zulässig, weil es das Kindeswohl gefährdet. Der Staat kann aber übrigens bereits eingreifen. Schulen können eingreifen und Schulbezirke auch, und sie können das Tragen des Kopftuchs auch verbieten. Es kann aber auch Ausdruck sein von Gläubigkeit und von Entscheidungsfreiheit. Reden wir mit den Betroffenen! Setzen wir uns ein für Toleranz und Religionsfreiheit in Kitas und in Schulen! Denn deren originäre Aufgabe ist es, Kinder zu toleranten, verantwortungsbewussten und selbstständigen Menschen zu erziehen, die Respekt haben vor den anderen und auch vor der Religion der anderen. Das ist unsere Aufgabe, und deswegen führen wir diese Diskussion sachlich in einer emanzipatorisch weltoffenen Gesellschaft, aber nicht mit Verboten, –

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Weinberg!

Marcus Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003861, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

– sondern mit Überzeugungen eines Staates, der genau dieses auslebt: die Religionsfreiheit und den Schutz der Freiheit des Einzelnen. Das kann auch bedeuten, dass man ein Kopftuch trägt. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Helge Lindh für die SPD-Fraktion. ({0})

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dankenswerterweise hat die Rednerin der AfD bestätigt, was ich vorher schon wusste: Die AfD spricht genau dann über Antisemitismus, wenn damit Stimmung gegen Muslime gemacht werden kann. Sie spricht genau in dem Moment von Kindern, wenn sich das für antimuslimischen Rassismus nutzen lässt. Wenn sie von Frauenrechen spricht, dann geht es nicht etwa um die patriarchalen Strukturen innerhalb der AfD, sondern es geht darum, Stimmung gegen den Islam zu machen. Quod erat demonstrandum, Sie haben es wieder vorgeführt. ({0}) Die größte Unanständigkeit von Ihnen ist, den Begriff des Kindesmissbrauchs zu verwenden. Wo sind denn Ihre Anträge angesichts der Tatsache, dass es tagtäglich in diesem Land, völlig unabhängig vom Islam und völlig unabhängig von Kopftüchern, zu Kindesmissbrauch kommt? – Nichts lese ich, nichts, gar nichts! Sie sprechen von politischem Kindesmissbrauch. Ich verwahre mich entschieden dagegen. Das ist eine Verharmlosung des tagtäglichen Kindesmissbrauchs in diesem Lande. Das ist inakzeptabel und unappetitlich. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Lindh, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Bayram?

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das ist eine Kollegin, die der Erkenntnis immer weiterhilft, deshalb selbstverständlich. ({0})

Canan Bayram (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004665, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Frau Präsidentin, vielen Dank auch, Herr Kollege, dass Sie die Zwischenfrage zugelassen haben. – Nun hat die Vertreterin der AfD vorgetragen, dass es ihr Ziel sei, die Gleichstellung, die Gleichberechtigung von Frauen zu befördern – insoweit würde ich sagen: es geht ihr um die Frauenrechte –, und die würden geschmälert, wenn man als Kind schon das sogenannte Kinderkopftuch trägt. Während sie das vortrug, habe ich mich gefragt: Ja, was ist denn bei den Frauen in der AfD falsch gelaufen, dass die Gleichberechtigung – für uns ja sichtbar – in einer Art und Weise erfolgt ist, dass sie noch nicht einmal die Frauen repräsentieren können, geschweige denn die Frauenrechte in ihrer eigenen Fraktion, der AfD im Deutschen Bundestag, vertreten können? ({0})

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das ist eine komplexe Frage, aber eine einfache Antwort ist möglich. Die AfD darf übrigens auch jederzeit Fragen stellen. Das haben Sie früher gerne gemacht, aber weil meine Antworten zu gut waren, haben Sie mittlerweile davon abgesehen. ({0}) Zu Ihrer Frage. Ich stecke Gott sei Dank nicht in den Köpfen von AfD-Frauen und -Männern – das wäre auch schlimm und traumatisch –, aber ich habe eine Mutmaßung: Es war in den Ausführungen von Integration die Rede. Das ist problematisch; denn viele Frauen, die in diesem Lande Kopftuch tragen, sind hier geboren und aufgewachsen, sind Deutsche. ({1}) Was ist da zu integrieren? – Eine Randbemerkung: Wir sollten auch darüber nachdenken, ob wir überhaupt den Begriff „Integration“ verwenden. Im Zusammenhang mit der AfD aber macht er Sinn; denn diese Partei ist der Beleg dafür, dass es so etwas wie Integrationsunfähigkeit in die deutsche Gesellschaft und Integrationsresilienz gibt. ({2}) Das lässt sich auch gut begründen. Integration setzt voraus – wenn man aus der Fremde kommt oder woher auch immer –, dass man sich seiner selbst bewusst ist, dass man so etwas wie eine eigene Identität hat, auch damit man das Andere annehmen kann. Da Sie sich aber offensichtlich, wie Ihre manische Besessenheit vom Kopftuch und vom Islam beweist, Ihrer Identität unsicher sind, selber nicht wissen, was Sie sind, nicht wissen, was Deutsch ist und deshalb wahrscheinlich immer zweifeln und Feindbilder suchen, kommen Sie auf solche Ablenkungsmanöver, und das endet dann in solchen Anträgen, solchen Fragestellungen und solchen Wortbeiträgen. Ich hoffe, ich habe Ihre Frage einigermaßen umfassend beantwortet. ({3}) Abgesehen davon glaube ich: Wir müssen in der ganzen Debatte noch weitergehen und auf einige Punkte hinweisen. Es ist kein Geheimnis – das wurde deutlich zum Ausdruck gebracht –, dass es auch innerhalb von Parteien und Fraktionen zum Thema Kopftuch bzw. Kinderkopftuch sehr unterschiedliche Meinungen gibt. Das ist gut und gar kein Problem. Ich denke aber, wir sollten uns die Muster, in denen wir diese Debatte führen, genauer ansehen. Ein Argument, das verwandt wird – in der extremsten Form von der AfD, aber auch insgesamt –, ist, dass das Kopftuch ein Symbol für Ausgrenzung und Unterdrückung ist. Machen wir aber, wenn wir so sprechen, die Frauen, die Kopftuch tragen, nicht erst recht zu Opfern von Unterdrückung? Wir stigmatisieren die angeblich Stigmatisierten, und dann wollen wir, dass sie kein Kopftuch tragen, damit die von uns hervorgerufene Ausgrenzung wieder ausgegrenzt wird. Das ist aus meiner Sicht nicht wirklich schlüssig. ({4}) Ich nenne, neben diesem paradoxen Zusammenhang, ein Beispiel aus der Lebenswirklichkeit. Eine meiner Mitarbeiterinnen trägt Kopftuch. Sie hat im Übrigen mit Beginn des Gymnasiums das Kopftuch zu tragen begonnen. Das war eine eigenständige Entscheidung, wie sie sagt, und ich zweifle daran nicht. Diese Frau ist Akademikerin, macht Karriere, ist selbstbewusst und selbstständig. Wie kommt einer solchen muslimischen Frau wohl eine solche Dauerdebatte über Kopftücher vor? Hat jemand sie einmal gefragt? Sitzen hier Mädchen oder Frauen mit Kopftuch, die wir fragen? – Nein. Wir urteilen und richten über sie. Hat einer von Ihnen gefragt, was sie empfindet, was sie denkt, welche Motive sie hat? Der Begriff „Zwang“ steht immer im Raum, aber vielleicht ist es Selbstbewusstsein, vielleicht Stolz oder Religion oder auch der Ausdruck, sich von den Eltern zu emanzipieren? All das gibt es. Die Realität ist nuancenreich und differenziert. Sie selber empfindet es als zutiefst entwürdigend und übergriffig, dass über sie geurteilt und gesagt wird: Du bist Opfer des Zwangs, und du merkst nicht einmal, dass du Opfer des Zwangs bist. Du kannst nicht mal selbst denken. – Gerade so entwerten wir Menschen muslimischen Glaubens; so machen wir muslimische Frauen zu Opfern. ({5}) Sie sind aber nicht Opfer des Kopftuches; vielmehr sind sie Opfer solcher dämlichen Anträge und solcher dämlichen Kopftuchdebatten. ({6}) Wenn wir das nicht begreifen, dann tun wir das Gegenteil von dem, was wir eigentlich wollen, und stigmatisieren all diejenigen, denen wir Teilhabe und Berechtigung verschaffen wollen. Ein Letztes.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie setzen jetzt aber den Punkt, ja?

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Diese Mitarbeiterin von mir hat ihr eigenes Leben, ist selbstbewusst und hat im Gegensatz zu Ihnen etwas auf den Weg gebracht. Nehmen Sie sich an ihr ein Beispiel. Sprechen Sie mal mit ihr. Sie wäre bereit, mit Ihnen zu sprechen; Sie hingegen tun solches nie. Das sollte uns allen zu denken geben. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Christoph de Vries das Wort. ({0})

Christoph Vries (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004926, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Verlauf der Diskussion macht mich nicht ganz glücklich, weil er, finde ich, am Kern der eigentlichen Frage vorbeigeht. Stattdessen haben wir hier viele altbekannte Showkämpfe erlebt, auch zuletzt. Am Ende des Tages muss es uns um die Frage gehen: Wie kann man jungen muslimischen Mädchen ein freies, gleichberechtigtes und auch selbstbestimmtes Aufwachsen in Deutschland ermöglichen? Es muss uns darum gehen, den Gleichheitsgrundsatz zwischen Mann und Frau auch dann nicht aus dem Blick zu verlieren, wenn er im Konflikt mit anderen Grundrechten steht, die wir in Deutschland haben. Der Respekt vor der Freiheit des religiösen Bekenntnisses, der angesprochen wurde und den ich auch teile, und der Respekt vor dem elterlichen Erziehungsrecht entbindet weder die Politik noch uns als Verantwortliche von der Verantwortung, das staatliche Wächteramt, den Schutz von Kindern und das Kindeswohl ernst zu nehmen. Ich finde, dieser Aspekt ist in der Diskussion bisher deutlich zu kurz gekommen. Ja, Religionsfreiheit ist ein zentrales Grundrecht, aber es darf eben nicht als Feigenblatt herhalten für eine systematische Benachteiligung junger muslimischer Mädchen in Deutschland. ({0}) An die linke Seite dieses Hauses gerichtet möchte ich sagen: Wer einerseits paritätische Wahllisten fordert, wer Quoten in Aufsichtsräten fordert, wer sich mit großem Herzen um gendergerechte Sprache bemüht, dem muss es doch erst recht am Herzen liegen, wenn es um religiös-motivierte oder kulturell-motivierte systematische Geschlechterdiskriminierung von jungen Frauen in Deutschland geht. Insofern bin ich an der Stelle etwas enttäuscht von Ihnen. Ich finde, hier geht es um Glaubwürdigkeit. ({1}) Es ist angesprochen worden: Namhafte Frauenrechtsorganisationen wie Terre des Femmes, Frauenrechtlerinnen wie Alice Schwarzer und Migrantenverbände befürworten das Kopftuchverbot in Bildungseinrichtungen. Außerdem kritisieren sie die Beschränkungen der Freiheit muslimischer Mädchen und stellen fatale Auswirkungen auf die frühkindliche Entwicklung fest. Die Integrationsstaatsministerin, Frau Widmann-Mauz, hat zu Recht gesagt: Dass kleine Mädchen Kopftuch tragen, das ist absurd. Man muss sich vor Augen führen, woher das Kopftuch religionsgeschichtlich kommt. Es ist sozusagen ein Selbstschutz der Männer vor ihrer eigenen Sexualität; das muss man so sagen. Und dass wir Probleme in Deutschland haben, das ist doch unbestritten. In meinem Wahlkreis sind von den unter 18-Jährigen inzwischen 70 Prozent mit Migrationshintergrund. Wir haben viele muslimische Mädchen. Während wir noch in den 90ern zum Teil die Situation hatten, dass Mädchen mit Kopftuch gehänselt wurden, ist das heute umgekehrt: Es geraten immer mehr Mädchen unter Druck, die dieses Kopftuch nicht tragen. Denen wird gesagt: Du Ungläubige; du ziehst die Blicke der Männer auf dich; du Schlampe! – Woche für Woche kommen Lehrerinnen zu uns und berichten das. ({2}) Das sollten Sie endlich mal ernst nehmen, gerade wenn es Ihnen um Frauenrechte in Deutschland geht; ganz im Ernst. ({3}) Es gibt eine Eingriffsrechtfertigung durch den staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag im Schulwesen. Auch Religionsfreiheit findet ihre Grenzen in der Integrationsaufgabe der öffentlichen Schulen. Letztendlich geht es um die Frage, inwieweit religionsunmündige Kinder in ihrer Freiheit beschränkt werden dürfen, um ihnen auf diese Weise eine ungestörte Entwicklung hin zu einer autonom handelnden Persönlichkeit zu ermöglichen. Professor Schwarz hat das in seinem Gutachten hinreichend gesagt: Es geht um „Freiheitsgewährung durch Freiheitsbeschränkung“. Ich persönlich bin der Meinung, dass ein Kopftuch bei so kleinen Mädchen, bei Mädchen in diesem Alter nicht zu befürworten ist. Ich erlebe in der Klasse meiner eigenen Tochter – da gehen Mädchen nach der vierten Klasse aufs Gymnasium und tragen dann ein Kopftuch –, dass das Kopftuch nicht nur sexualisierend wirkt, sondern auch ausgrenzend. Deswegen sage ich Ihnen: Auch persönlich befürworte ich ein Kopftuchverbot, beschränkt auf Bildungseinrichtungen, für Mädchen, die nicht religionsmündig sind, für Mädchen unter 14 Jahren. ({4}) Lassen Sie mich am Ende noch zur AfD kommen: Sie haben viele kluge Menschen zitiert, Professor Schirrmacher, Professor Khorchide, Herrn Meidinger vom Lehrerverband; aber deren Klugheit hat nicht im Mindesten Eingang in Ihren Antrag gefunden. Was Sie uns hier vorlegen, ist parlamentarisches Stückwerk. Sie wägen die Grundrechtsgüter nicht ab, es gibt keinen Gesetzentwurf, es gibt vage Prüfaufträge an die Bundesregierung. Ehrlich gesagt, wer es ernst meint mit so einem Thema, der kann uns hier im Hause nicht so einen Antragspfusch vorlegen, meine Damen und Herren. ({5}) Wir werden Ihrem Antrag noch aus einem anderen Grund nicht folgen, auch wenn im Kern einiges richtig ist. Ich muss an dieser Stelle einige Vertreter Ihrer Partei zitieren. Geht es Ihnen – das ist schon angesprochen worden – eigentlich um Gleichberechtigung?

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege de Vries, das müssen Sie im weiteren Verlauf der Debatte tun und jetzt zum Schluss kommen.

Christoph Vries (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004926, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dann komme ich zum Schluss und verweise auf Alice Weidel, auf Björn Höcke. Ihre Partei ist dezidiert islamfeindlich. Ihnen geht es nicht um Gleichberechtigung und nicht um junge Mädchen. Deswegen hat Ihr Antrag auch bei uns keine Chance. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache.

Mark Hauptmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004293, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine geschätzten Kolleginnen und Kollegen! Soziale Innovationen sind ein wesentliches Thema, das wir jetzt, in der zweiten Phase der Coronapandemie, besprechen sollten. Warum? Wir sind bisher gut durch diese Pandemie gekommen – das bestätigen internationale Studien –; aber jetzt geht es darum, wie wir mit einem wirtschaftlichen Impuls auch das gesellschaftliche Miteinander im sozialen Bereich des Unternehmertums fördern und vor allem auch seitens des Bundes unterstützen können. Schon vor der Coronapandemie hatten wir eine Fülle von Herausforderungen: in der Digitalisierung, beim demografischen Wandel, in der Umwelt- oder Klimapolitik. Die Krise hat diese Herausforderungen nicht geschmälert, sondern wie ein Katalysator noch einmal verstärkt. Daher unterstützen die unionsgeführte Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen hier im Parlament in einer unglaublich ambitionierten und starken Art und Weise Start-ups und das Unternehmertum in der Breite unserer Gesellschaft, weil wir glauben, dass dieses Ökosystem ganz entscheidend dazu beiträgt, dass wir auch morgen und in Zukunft starke, innovative Unternehmer in diesem Land haben, die uns krisenfest machen und für Wachstum und Beschäftigung sorgen. Wir haben mit dem Programm für Soforthilfen und Kurzarbeit gezeigt, dass wir Start-ups und Unternehmer unterstützen. Wir haben ein 2-Milliarden-Paket für Start-ups auf den Weg gebracht; durch die Förderung von Venture-Capital-Fonds werden Mittel an die Start-ups verteilt. Und wir wollen ein ambitioniertes 10-Milliarden-Programm, einen Zukunftsfonds, auflegen, der in den nächsten Jahren dieses Ökosystem weiter fördert. Aber wir sehen – das bringt mich zum Antrag des heutigen Tages –, dass nicht alle Start-ups skalierbare Geschäftsmodelle haben, bei denen der Gewinn im Vordergrund steht, sondern bei denen steht der gesellschaftliche Nutzen im Vordergrund. Von daher glauben wir, dass es auch zur Förderung dieses Unternehmertums eine Hilfestellung braucht; denn sie haben in der Vergangenheit Großes geleistet. Denken Sie an soziale Gründungen der Vergangenheit wie beispielsweise die Renten- oder Krankenversicherung, die Genossenschaftsmodelle, das Crowdfunding oder die Entwicklung von Wikipedia. Die Innovationen in all diesen Bereichen – Gesundheit, Verkehr, Soziales, Bildung – haben eines gemeinsam: Sie stellen die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes in den Mittelpunkt und nicht die skalierbare Geschäftsoptimierung im Hinblick auf Gewinne. Wir fördern seitens der Bundesregierung bereits vor allem über zwei Haushalte diese sozialen Unternehmer – das haben wir auch in unsere Haushaltsberatungen für das Jahr 2020 aufgenommen –: Einerseits fördern wir mit 7,5 Millionen Euro aus dem Haushalt des Bundeswirtschaftsministeriums nichttechnische und soziale Innovationen, und andererseits fördern wir mit 6 Millionen Euro aus dem Bildungs- und Forschungsministerium Innovationen, bei denen es um die Zukunft der Arbeit oder das „MobilitätsZukunftsLabor 2050“ geht; mein Kollege Stefan Kaufmann wird explizit auf diese Punkte noch einmal zu sprechen kommen. Was wir jetzt einfordern, ist, daraus einen ganzheitlichen Ansatz zu machen, das zu verknüpfen und zu schauen: Wie kann man dieses Konzept ressortübergreifend umsetzen? Ich bin der Kollegin Poschmann von der SPD ausdrücklich dankbar dafür, dass es uns zusammen mit dem Kollegen Lenz und der Kollegin Grotelüschen gelungen ist, einen Antrag zu formulieren, der genau das in den Mittelpunkt stellt, nämlich die Intensivierung der bestehenden Förderung, die Auflegung von Programmen zu Forschung und Entwicklung von sozialer Innovation. Wir wollen aber auch eine einheitliche Definition erarbeiten: Was bedeutet das? Wo grenzt sich eine soziale Innovation von anderen Innovationen ab? Von daher glaube ich, dass wir mit diesem Antrag, aber vor allem auch mit der Arbeit innerhalb der Bundesregierung bereits wichtige Impulse gegeben haben. Wir wollen, dass Deutschland ein erfolgreicher Wirtschaftsstandort im 21. Jahrhundert ist und bleibt, und wir wollen, dass wir jede Form von Innovation in Deutschland unterstützen, einerseits das starke Start-up-Ökosystem in unserem Land, aber eben auch die Geschäftsmodelle, die die Gesellschaft und das Miteinander in unserem Land in den Fokus stellen. Deren Wert hat sich, glaube ich, in dieser Coronapandemie noch einmal ganz besonders herausgestellt. Von daher bitte ich Sie um die Unterstützung dieses Antrags. Herzlichen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Enrico Komning für die AfD-Fraktion. ({0})

Enrico Komning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004787, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Dass wir gerade heute über das Sozialunternehmertum sprechen, mag angesichts der monströsen ökonomischen Probleme, die wir durch den Lockdown haben, überraschen, aber gerade Sozialunternehmer können ein Puzzleteil sein, das nicht nur ökonomisch, sondern auch gesellschaftlich zur Heilung – der Kollege Hauptmann sprach gerade von „gesellschaftlichem Nutzen“ – beitragen kann. Die Förderung des Sozialunternehmertums ist also gut. Wir müssen aber aufpassen, dass die zur Förderung herangezogenen Steuergelder nicht jedem links-grünen Hirngespinst hinterhergeworfen werden. ({0}) Gerade im Bereich des Kampfbegriffs „Ökologie“ ist vieles Glaubenssache, und ein vermeintlicher gesamtgesellschaftlicher Nutzen tritt nur äußerlich und nur mit entsprechenden Propagandaanstrengungen hervor. Wenn es also um die Förderfähigkeit des Sozialunternehmertums geht, dann müssen die Anforderungen an den sozialen Aspekt tatsächlich konkret gefasst werden. Das wichtigste Kriterium ist: Es muss sich um ein Unternehmen handeln, das heißt, der ökonomische Aspekt muss den gemeinwohlorientierten Unternehmenszweck zumindest flankieren. Allein die Gemeinnützigkeit kann nicht der Auslöser für eine Förderung sein. Hierfür gibt es andere Instrumente. Wir unterstützen die Forderung nach einer klaren institutionellen Zuständigkeit für die Förderkulisse. Die Bundesregierung tut in diesem Bereich allerdings viel zu wenig – und das trotz aller Absichtserklärungen der letzten Jahre, nicht zuletzt im Koalitionsvertrag. Sozialunternehmen könnten mit ihren unbürokratischeren, effektiveren und auch transparenteren Strukturen gesamtgesellschaftliche Aufgaben übernehmen, die heute Wohlfahrtsverbände zu einem großen Teil besetzen. Diese Wohlfahrtsverbände – nahezu vollständig aus der Sozialversicherung finanziert – dienen inzwischen als Pool für Versorgungsposten politischer Parteien und bilden – lassen Sie uns nur nach Mecklenburg-Vorpommern schauen – mutmaßlich korrupte Strukturen aus. ({1}) Viele Millionen Euro Sozialversicherungsbeiträge könnten hier gespart werden. Dazu müssten Sozialunternehmen aber am öffentlichen Vergabeprozess teilnehmen können. Hierzu bedarf es Anpassungen im Vergaberecht, wenn hier nicht sowieso eine Totalreform angezeigt ist. Ein Hinweis. Auch wenn das Sozialunternehmertum heute eher ein städtisches Image hat, sollten Sozialunternehmern auch die ländlichen Räume nahegebracht werden. Auch und gerade hier sind durch den verschärften demografischen Wandel nämlich viele Betätigungsfelder vorstellbar. Meine Damen und Herren, das Sozialunternehmertum ist keine Erfindung des 21. Jahrhunderts. Schließlich war es Friedrich Wilhelm Raiffeisen, der den genossenschaftlichen Raiffeisenbanken den Namen gegeben hat. Sozialunternehmen sind ein Paradebeispiel für selbstverantwortliches bürgerlich-soziales Engagement. Ein Ausbau des Sozialunternehmertums kann den aufgeblähten Sozialstaat substanziell entlasten. Die Förderung des Sozialunternehmertums steht damit in einer guten Tradition bürgerlich-konservativer Sozialpolitik. ({2}) Ich darf zum Schluss meiner Rede Friedrich Wilhelm Raiffeisen zitieren, ({3}) der sagte: „Was dem Einzelnen nicht möglich ist, das vermögen viele.“ Ich wünsche Ihnen ein frohes Pfingstfest. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Sabine Poschmann das Wort. ({0})

Sabine Poschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004377, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie wollen wir unser Leben zukünftig gestalten? Das diskutieren wir gerade jetzt, in der Coronazeit; denn wir wollen aus dieser Zeit auch lernen. Da macht es Sinn, alte Muster auch im Bereich Wirtschaft zu überdenken. Der Mensch und nicht der Gewinn sollte in den Vordergrund rücken. Die Umwelt und nicht der Wegwerfkonsum ist wesentlich. Das hat jetzt nichts mit Sozialismus oder linken Hirngespinsten zu tun, sondern mit Verantwortung. Das mag der AfD abgehen, aber Unternehmer in diesem Land tragen sehr wohl Verantwortung – vor allen Dingen Sozialunternehmer. ({0}) Diese wollen soziale Probleme mit innovativen Ideen lösen. Dabei ist die soziale Rendite ihr Erfolg – nicht der finanzielle Gewinn. Natürlich können sie mit ihrer Geschäftsidee durchaus Gewinne machen, aber die meisten werden sie reinvestieren. Sie liegen also in der Mitte zwischen wohltätig ausgerichteten Organisationen und kommerziellen Unternehmen. Zudem legen sie großen Wert auf Mitarbeiterbeteiligung. Es gibt über tausend solcher Unternehmen in Deutschland, zum Beispiel den Supermarkt ohne Einwegverpackungen oder die Suchmaschine, die Bäume pflanzt – bereits über 66 Millionen. Der Smartphone-basierte Ersthelferalarm hat schon viele Leben gerettet, und blinde Frauen ertasten selbst kleinste Tumore. Das sind tolle Unternehmen, und das Potenzial in Deutschland ist gewaltig. Es ist nun an uns, dieses viel mehr zu heben, als das bisher der Fall war. ({1}) Wir brauchen dafür Strukturen wie im Bereich der Technologieförderung. Dabei fehlt es nicht an Studien. Die haben wir: vom BMWi, vom Institut für Mittelstandsforschung, von der Sozialforschungsstelle aus meiner Heimatstadt Dortmund, von der KfW, und, und, und. Im Bereich „soziale Innovation“ sind wir auch in den letzten Jahren einen Riesenschritt nach vorne gegangen. Jetzt brauchen wir diesen Rahmen auch für die Umsetzung. Deshalb fordern wir in unserem Antrag eine einheitliche, ressortübergreifende Definition, damit wir nicht immer wieder von vorne anfangen zu diskutieren, worum es sich jetzt handelt. Es braucht ein koordiniertes Vorgehen und ein Konzept der Bundesregierung. Sozialunternehmer brauchen Öffentlichkeit und Netzwerke und müssen auch von den Förderprogrammen profitieren. Da reicht es nicht aus, wenn wir, wie in den letzten Jahren, auf Förderprogramme für technische Innovationen den Zusatz „und nichttechnische“ schreiben. Das ist so, als wenn Sie bei einem Herrenausstatter ein Schild mit der Aufschrift „auch für Damen“ anbringen. Da sollte dann auch das entsprechende Angebot drin sein. Ansonsten ist es zwar nett gemeint, es erzielt aber leider keine Wirkung. Ich hätte noch viel mehr Vorschläge, um etwas mehr Schwung in die Sache zu bringen. Zwei möchte ich dem Ministerium noch mit auf den Weg geben: Erstens. Prüfen Sie doch mal, ob unsere Gesellschaftsformen, die wir im Angebot haben, für diese Unternehmen nicht optimiert werden können. Zweitens. Über die Verwendung von namenlosen Konten, die zurzeit bei den Banken verharren, sollte noch einmal nachgedacht werden. ({2}) Die könnten wir doch gerade jetzt, da wir die Konjunktur ankurbeln wollen, prima nutzen – zum Teil auch für diese Start-ups mit innovativen sozialen Ideen. Lassen Sie uns gemeinsam den Sozialunternehmen mehr Schub geben; denn sie lösen die Probleme, die sonst zwangsläufig zu unseren werden. Herzlichen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Thomas Sattelberger das Wort. ({0})

Dr. h. c. Thomas Sattelberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004869, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Social Start-ups gehören zu den Gekniffenen – erst recht in Coronazeiten. Es ist überfällig, die Schutzschirme auf Social Entrepreneurs auszuweiten. Aber schon zuvor hat die Politik sie vernachlässigt. 9 Prozent aller Start-ups – darunter 1 700 Hidden Champions – verbinden Spitzengeschäftserfolg und Soziales. Sie sind hochgradig wetterwendig. Die Firma AfB stützt die Kreislaufwirtschaft für gebrauchte IT-Geräte und beschäftigt trotz Krise weiterhin 410 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – die Hälfte davon mit Beeinträchtigungen. Serlo Education hat unzähligen Lehrern, Eltern und Schülern während der Schulschließungen genau das gerettet, was anderen aufs Grundeis ging. All dies zeigt: Soziale und technologische Innovation lässt sich nicht trennen. Deshalb vier Punkte aus unserem Antrag: Erstens. „Soziale Innovation“ vagabundiert in vielen Kabinettressorts. Wir brauchen einen klaren Fixstern auf Bundesebene. Zweitens. Sozialunternehmen kommen bei öffentlichen Vergabeprozessen zu selten zum Zug, Anreize, Zielwerte, Transparenz bei der Verfahrensbeteiligung sind überfällig. Drittens. Deutsche Finanzierungsoptionen passen nicht für Sozialunternehmen. In Großbritannien speist man den Impact-Fonds Big Society Capital aus verwaisten Konten: 2 Milliarden Pfund. In Deutschland liegen für Soziales Wagniskapital bis zu 9 Milliarden Euro Potenzial brach. Liebe Frau Poschmann, darüber braucht man nicht nachzudenken. Die FDP hat den Antrag schon längst gestellt. ({0}) Viertens. Reformen im Gesellschaftsrecht sind nötig für Betriebe, die gemeinnützig und unternehmerisch zugleich sind. Die gGmbH zum Beispiel ist nicht der Weisheit letzter Schluss. Diese Punkte fehlen natürlich vollkommen im Koalitionsantrag. Statt Substanz „Wishful Thinking“, wolkige Prüfaufträge, Definitionssuchen, Machbarkeitsstudien. Ein Text, so schwerfällig und müde wie die Fraktionen, aus denen er stammt. ({1}) Aber er weist immerhin in die richtige Richtung, deshalb Enthaltung. Liebe Grüne und Linke, mit Sprungbereitschaft über den eigenen Schatten wäre gemeinsam mehr drin gewesen. ({2}) Schade! Social Entrepreneurs haben die üppige Unterstützung dieses Hauses verdient. Wir Freien Demokraten jedenfalls stehen mit breiter Brust an ihrer Seite. Und meine Brust, werte Frau Präsidentin, ist besonders breit. Recht herzlichen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Petra Sitte für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Meine Damen und Herren! Zunächst will ich denjenigen, die sich hier gerade so stolz auf die Brust klopfen, sagen, dass Die Linke bereits 2012 einen Antrag zu sozialen Innovationen eingebracht hat – der Zeit also voraus, Herr Sattelberger. ({0}) 2014 legte das Forschungsministerium ein eigenes Forschungsprojekt zu sozialen Innovationen auf. Fazit damals: Es müsse noch viel getan werden, um tradierte Strukturen der Verwaltung und der öffentlichen Finanzierung aufzubrechen. Auch das von der Bundesregierung selbst eingesetzte Beratungsgremium „Hightech-Forum“ forderte erst vor Kurzem ein breiteres Innovationsverständnis; also: Nicht nur technische bzw. technologische Entwicklungen können innovativ sein – so wie es die Kollegen auch schon gesagt haben. Auch andere gesellschaftliche Bereiche wie Arbeit, Kultur, Bildung, Gesundheit, das Zusammenleben in städtischen oder eben auch in ländlichen Regionen verändern sich durch soziale Innovation massiv: einerseits zwar mit zähen Impulsen aus staatlichen Strukturen und Verwaltungsstrukturen heraus, andererseits, und zwar viel dynamischer, verändern das Menschen selbst, ob im Ehrenamt oder in neuen Geschäftsmodellen. Alltagswissen, Bedarfe, Bedürfnisse grundieren gewissermaßen genau diese sozialen Dienstleistungen. Und vor diesem Hintergrund hat sich erfreulicherweise in den letzten Jahren eine sehr lebendige soziale Unternehmerschaft herausgebildet, die unserer Unterstützung bedarf und auch bekommen soll. Nicht alles, meine Damen und Herren, muss der Staat machen. Aber nicht alles richtet der Markt. Dazwischen bewegen sich also die kooperativen Geschäftsmodelle mit gemeinwohlorientierter Ausrichtung. Da winkt nicht das große Geld, wie die Kollegin schon gesagt hat. Viele Social Entrepreneurs arbeiten im Non-Profit-Bereich. Gesellschaftliche Wirkungen zu erzielen, ist ihnen viel wichtiger als Rendite, und das können Sie nachlesen im letzten Monitor der Sozialunternehmen von 2019. Meine Damen und Herren, gerade die letzten Monate haben uns gezeigt, was in dieser Gesellschaft wirklich zählt, was wirklich gebraucht wird. Und genau da zeigt sich auch, wie wichtig soziale Innovationen sind. Und die vielen Milliarden, die Sie jetzt gegen die Folgen der Coronapandemie auflegen, sollten daher einer nachhaltigen, sozial-ökologischen Veränderung dieser Gesellschaft dienen. Sie gehen aber in Ihrem Antrag – das muss ich ausdrücklich kritisieren – von lediglich 13,5 Millionen Euro aus. Damit bleibt der Antrag – so erfreulich er grundsätzlich ist; auch wenn in der Hälfte der Punkte Prüfaufträge verteilt werden – am Ende doch wirkungslos. Und das finden wir nicht akzeptabel. ({1}) Die Linke unterstützt die kooperativen Ansätze und die neuen Beteiligungsprozesse ausdrücklich. Jene, die schon in diesem Sinne handeln, eben Social Entrepreneurs, werden gebraucht in dieser Gesellschaft. Wir fordern daher in unserem Antrag einen Fonds für soziale, gemeinnützige und gemeinwohlorientierte Innovationen. Dieser könnte dann zugleich helfen – was der Kollege am Anfang gesagt hat –, dass es auch nach der Coronakrise noch Social Entrepreneurs gibt. Wir jedenfalls wollen sie nicht verlieren. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dieter Janecek für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dieter Janecek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004312, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Ich glaube, viele Sozialunternehmerinnen und Sozialunternehmer – Social Entrepreneurs, Social Start-ups – freuen sich, dass heute diese Debatte stattfindet. Sie freuen sich allerdings auch deswegen, weil es so lange gedauert hat, bis die Bundesregierung endlich mal was vorgelegt hat. Herr Sattelberger und ich zum Beispiel wurden ja letztes Jahr schon initiativ, aber auch die Linken haben Anträge vorgelegt. Dieses Thema beschäftigt uns seit vielen Jahren. Endlich bekommt es die Wertschätzung, die es verdient. ({0}) In einer Zeit von Kaufprämien für die Automobilindustrie, von Rettungspaketen ohne Klimaschutzauflagen für die Lufthansa ist die Debatte über das Thema „soziale Innovationen“ fast anachronistisch zu dem, was die Regierung momentan in vielen Bereichen tut. Trotzdem freue ich mich, dass viele Abgeordnete, auch der Koalition – ich nenne namentlich Herrn Lenz und Frau Poschmann –, mit denen wir in den letzten Jahren auf vielen Podien gesessen haben, jetzt mitgeholfen haben, etwas auf den Weg zu bringen. Es ist, glaube ich, auch anerkennenswert, dass wir hier einen Konsens haben. Der Konsens steht im Vordergrund; aber wenn wir jetzt über den Neustart der Wirtschaft in Deutschland reden, wäre es schon auch gut, dass wir dann soziale Innovationen auch nach vorne stellen, dass das nicht nur ein Mauerblümchendasein fristet in den nächsten Jahren. ({1}) Und natürlich geht es nicht nur um den Profit. Viele soziale Unternehmungen sind wirtschaftlich sinnvoll und können profitorientiert arbeiten, aber viele sind einfach auch gut für die Gesellschaft vor Ort. Ich nenne Ihnen mal zwei Beispiele aus meinem Wahlkreis in München: Zum einen das Unternehmen Social-Bee. Dieses Unternehmen beschäftigt geflüchtete Menschen, nimmt sie in eine Arbeitsgesellschaft auf und vermittelt sie dann über Weiterbildung, Qualifizierung an andere Unternehmen, sorgt dafür, dass Menschen, die geflüchtet sind und es zuerst schwer haben, in den Arbeitsmarkt zu kommen, auf dem Arbeitsmarkt ankommen. So was ist sehr sinnvoll und hilft uns am Ende auch, Kosten zu sparen. Vor allem aber ist es menschlich anständig, und darum geht es eben auch in der Wirtschaft. ({2}) Ich möchte nicht nur über die großen Geschäftsmodelle reden, ich möchte auch mal über die kleinen Sachen reden. Was mir sehr gut gefällt bei mir zu Hause ist die Bäckerei „Kuchentratsch“; du kennst sie vielleicht, Thomas. ({3}) Das ist eine kleine Unternehmung, wo Seniorinnen und Senioren in ihrer Arbeitsgeschwindigkeit Kuchen backen und unter die Leute bringen und so auch unter Leute kommen. Das ist jetzt vielleicht in Coronazeiten in den letzten Wochen ein bisschen schwieriger gewesen als sonst; aber wir hoffen ja auf bessere Zeiten in dieser Phase. Also, auch so was gehört gefördert; das ist auch ein geschäftliches Modell, das Anerkennung verdient. Auch dafür setzen wir uns ein. ({4}) In unseren Anträgen haben wir ja zum einen bemängelt, dass bei der Förderkulisse momentan nur sehr wenig drin ist für die Social Entrepreneurs; nach eigenen Angaben sind gerade mal 3 Prozent überhaupt förderfähig. Das muss dringend geändert werden. Es kann nicht sein, dass wir nur Lufthansa und die Automobilindustrie retten. Wir müssen auch diesen kleinen Unternehmen jetzt in der Krise eine Chance geben; denn denen geht gerade ganz viel verloren. ({5}) Und wir brauchen auch eine Zuständigkeit dafür in den Ministerien, das heißt, wir brauchen jemanden, eine Person, die sagt: Ich fühle mich für solche Themen zuständig. – Es reichen nicht nur Prüfaufträge; wir brauchen bei diesem Thema auch Verantwortlichkeiten. Also, gehen Sie ran! Die 13,5 Millionen Euro werden natürlich nicht reichen, um einen solchen Bereich, wo es um Hunderttausende Menschen geht, die arbeiten wollen, die schaffen wollen, die ehrenamtlich, aber auch geschäftlich tätig sein wollen, zu fördern. Also, lassen Sie uns den Blick auf die Ökonomie ändern! Mit Social Entrepreneurs nach vorne! Vielen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun Dr. Stefan Kaufmann das Wort. ({0})

Dr. Stefan Kaufmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004065, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Große gesellschaftliche Herausforderungen erfordern nachhaltige und kreative Lösungen. Der Klimawandel, die Urbanisierung oder die Digitalisierung sind komplexe Phänomene, die man durch technologische Innovationen allein nicht bewältigen kann. Diesem Gedanken folgend, fördern wir nicht nur soziales Unternehmertum und Start-ups, wie der Kollege Hauptmann ja hier ausgeführt hat. Die Bundesregierung hat bereits 2018 die Hightech-Strategie 2025 erarbeitet und damit ein umfassendes Innovationskonzept entwickelt, das eben technologische und soziale Innovationen gleichermaßen in den Blick nimmt und die Gesellschaft als zentralen Akteur einbezieht. Mit diesem Innovationsbegriff der Hightech-Strategie hat die Bundesregierung sichergestellt, dass soziale Innovationen als Querschnittsthema in verschiedenen Politikressorts behandelt werden. Wir fangen also, liebe Opposition, nicht erst heute mit diesem Thema an. ({0}) Im Arbeitsbereich des Bundesministeriums für Bildung und Forschung hat dies zu einer stärkeren Einbindung von sozialen Innovationen auch in die Fachprogramme und Querschnittsmaßnahmen des Hauses geführt. Ich darf an dieser Stelle an die Fördermaßnahme „Validierung des technologischen und gesellschaftlichen Innovationspotenzials wissenschaftlicher Forschung“ erinnern, an die Zukunftscluster-Initiative oder auch an die Bund-Länder-Initiative „Innovative Hochschule“. Nicht zuletzt haben wir bei der Entwicklung des Konzepts der Agentur zur Förderung von Sprunginnovationen dafür gesorgt, dass soziale Innovationen auch eine wichtige Rolle bei der Auswahl der dort geförderten Projekte spielen. Gründungsdirektor Rafael Laguna hat mehrfach öffentlich versichert, dass er dieses Anliegen auch unterstützt, ganz im Sinne von Gründungskommission und Aufsichtsrat. All diese Maßnahmen, meine Damen und Herren, ergänzt durch die Instrumente zur Förderung von sozialen Innovationen im Bundeswirtschaftsministerium und auch im Bundesfamilienministerium, beweisen, dass die Bundesregierung das riesige Potenzial von sozialen Innovationen früh erkannt hat. Nun gilt es, dieses Potenzial zu entfalten und auszuschöpfen. Dem dient nun der heute vorgelegte Antrag. Ich möchte mich in meiner Rede noch auf drei Vorschläge aus dem vorgelegten Maßnahmenkatalog konzentrieren. Erstens. Wir fordern die Bundesregierung auf, die Förderung von sozialen Innovationen im Rahmen der Hightech-Strategie voranzutreiben. Zudem soll – das wurde angesprochen – eine Definition für Sozialunternehmen erarbeitet und auch ein ressortübergreifendes Konzept für die Förderung von sozialen Innovationen und eben Sozialunternehmen entwickelt werden. Hierfür sind die Impulse aus dem Hightech-Forum zu berücksichtigen, das sich ja mit diesen Fragen auch regelmäßig befasst. Mit diesem koordinierenden Ansatz wollen wir die Entwicklung und auch den Wirkungsgrad sozialer Innovationen erhöhen, den beteiligten Akteuren Planungssicherheit und Orientierung geben und natürlich auch Synergien heben. Zweitens. Zusätzlich zur Zukunftscluster-Initiative, die ich angesprochen habe und die einen wichtigen Schritt in Richtung offener Innovations- und Ideenwettbewerbe gemacht hat, wollen wir, dass auch neue Ideenwettbewerbe gestartet werden, die soziale Innovationen gezielt, ergebnisoffen und ressortübergreifend adressieren. Schließlich wollen wir, drittens, dass die Bundesregierung ein Programm zur Erforschung und Entwicklung sozialer Innovationen aufsetzt. In diesem Zusammenhang sollen dann auch Indikatoren und Methoden zur Bewertung von sozialen Innovationen entwickelt werden, die dem Charakter dieser Innovationen gerecht werden. Hierfür hat das BMBF bereits eine Ausschreibung im Rahmen der Fördermaßnahme „Gesellschaft der Ideen“ angekündigt, ganz in unserem Sinne. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bedeutung sozialer Innovationen zeigt sich gerade in Krisenzeiten wie der gegenwärtigen Coronapandemie besonders deutlich. Unser Alltag, unser Miteinander ändern sich von heute auf morgen. Wir brauchen neue Ansätze, um die täglichen Herausforderungen zu meistern. Dabei liefern soziale Innovationen oft die besten und kreativsten Lösungen. Ich bin davon überzeugt, dass es in unserer Gesellschaft ein großes Potenzial an guten Ideen gibt. Diese wollen wir heben, diese wollen wir fördern. In diesem Sinne darf ich Sie alle um Zustimmung für den Antrag der Koalition bitten. Herzlichen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Markus Paschke das Wort. ({0})

Markus Paschke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004371, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Soziale Innovationen – das hat Kollege Dr. Kaufmann eben schon gesagt – sind nicht nur Sozialunternehmer. Eine der großen sozialen Innovationen war die Einführung der Krankenversicherung 1883. Wir haben heute noch Industrieländer bzw. Länder, die sich als solche bezeichnen, die so etwas nicht haben. Aber nicht nur diese großen Projekte sind soziale Innovationen, sondern viele kleine gesellschaftliche Entwicklungen. Ich will einige Beispiele hierfür nennen: Das sind zum Beispiel die Tafeln, die ehrenamtlichen Vermittlungen in vielen Landkreisen, aber auch ein geändertes Kommunikationsverhalten: erst per SMS, dann über die sozialen Netzwerke, Videochat und was weiß ich nicht alles. Im Vordergrund von sozialen Innovationen stehen also nicht die technische Entwicklung, sondern innovative Ideen, die das Zusammenleben in unserer Gesellschaft verändern. Der Klimawandel, die Digitalisierung und der demografische Wandel stehen für zukünftige gesellschaftliche Herausforderungen. Wie schaffen wir es, dass unsere Kinder auch in Zukunft in einer intakten Umwelt leben? Wie können wir Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei der Abgrenzung zwischen Arbeit und Erholung unterstützen? Wie können wir das Leben im ländlichen Raum verbessern? Und welche Veränderungen entstehen durch die Folgen der aktuellen Pandemie? Das ist nur eine kleine Auswahl an Fragen, aber sie zeigt vor allem eines: Innovationen sind nicht nur eine Frage von technischen und wirtschaftlichen Entwicklungen, soziale Innovationen sind unabdingbarer Bestandteil von gesellschaftlicher Entwicklung. ({0}) Wir begrüßen, dass das Bundesministerium für Bildung und Forschung ein erweitertes Innovationsverständnis hat und die sozialen Innovationen in viele Fachprogramme und Querschnittsmaßnahmen einbindet. Der Kollege Kaufmann hat eben viele Beispiele dafür auch schon genannt. Die immer komplexer werdenden gesellschaftlichen Herausforderungen erfordern eine Innovationspolitik, die soziale und technologische Innovationen miteinander verbindet und in ein Gleichgewicht bringt. Selten haben neue Technologien nur Vorteile. Unser Ziel muss es sein, Vorteile zu nutzen und Nachteile weitestgehend zu verhindern. Ich will hier nur die sozialen Netzwerke und ihre Filterblasen nennen. Aus einer aufgeklärten und wissenden Gesellschaft kommen die Impulse sozialer Innovationen. Unsere Aufgabe ist es, diese Akteure zusammenzubringen, Finanzierungshemmnisse abzubauen und soziale Innovationen zu fördern. Gerade die Coronakrise hat viele innovative Ideen hervorgebracht. Es wäre doch ein gutes Vorhaben der Bundesregierung, das Gute zu verstetigen und mit einem kommunalen Innovationsfonds zu stärken. Danke schön. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Andreas Lenz für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Andreas Lenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004339, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich möchte mich am Ende der Debatte bei allen bedanken, die das Thema „soziales Unternehmertum/Social Entrepreneurship“, aber auch soziale Innovationen voranbringen wollen. Die Unterstützung ist breit, wie man an der Debatte bemerkt hat. Von der AfD hatten wir bei der letzten Debatte noch breite Ablehnung gehört. Selbst von dort kommt nun zaghafte Zustimmung. Ich bin mir trotzdem nicht sicher, ob Sie lernfähig sind – aufgrund der Erfahrungen bei anderen Themen schließe ich das eher aus. Ich möchte an dieser Stelle noch betonen, dass wir es waren, die das Thema in den Koalitionsvertrag mit aufgenommen haben. In den Jamaika-Papieren fand sich zu diesem Thema überhaupt nichts, da war, Herr Sattelberger, die Brust damals anscheinend noch etwas schmäler. Es muss schon klargestellt werden, dass wir es waren. Wir verabschieden heute den Antrag und bringen das Thema weiter voran. Wir brauchen diese gesellschaftlichen Potenziale, wir brauchen Unternehmertum, wir brauchen Ideen, wir brauchen Kreativität, um gesellschaftliche Herausforderungen anzugehen und sie eben auch nachhaltig zu lösen. Man sah beispielsweise beim Hackathon der Bundesregierung, wie Tausende Personen dazu beitrugen, im Zusammenhang mit der Coronakrise nach Lösungen zu suchen und diese auch zu finden. Herzlichen Dank an dieser Stelle auch dafür an die Sozialunternehmer! Ein anderes Beispiel ist die Plattform nebenan.de. Hier kann unkomplizierte Nachbarschaftshilfe organisiert werden. Heute ist ja der Tag der guten Nachbarschaft, deswegen dieses Beispiel. Oder die Diagnoseplattform washabich.de. Hier helfen Medizinstudenten Bürgern dabei, Arztdiagnosen zu verstehen. Das ist auch ein Beispiel für eine soziale Innovation. Oder auch der ganze Bereich der digitalen Bildung. Hier nenne ich das Stichwort „Homeschooling“, das gerade in der jetzigen Zeit an Bedeutung gewinnt. Das sind alles großartige Beispiele. Vielen Dank hierfür. Wir müssen natürlich den Bereich des Sozialunternehmertums weiter bekannt machen; das ist keine Frage. Da ist die Politik gefragt. Da ist aber natürlich auch die Branche gefragt. Wir müssen weiter an Definitionen arbeiten. Die Abgrenzungen sind manchmal gar nicht so einfach; wir haben es gehört. Jeder sollte aber schon wissen, dass es neben technischen Innovationen natürlich auch soziale Innovationen gibt. Jetzt heißt es oft – auch während dieser Debatte –: Jedem wird jetzt in der Coronakrise geholfen, aber Sozialunternehmern nicht. – Da habe ich eine gute Nachricht: Das ist nicht der Fall. Die Hilfen werden entsprechend ausgeweitet. Mit dem KfW-Globaldarlehen soll zukünftig auch Sozialunternehmen und gemeinnützigen Gesellschaften geholfen werden. Es wird vom Bund eine Haftungsfreistellung in Höhe von 80 Prozent geben; die Länder können dann 20 Prozent noch entsprechend drauflegen. Das Programm wird ein Volumen von 1 Milliarde Euro haben. Das ist also der zweite Baustein neben dem Start-up-Rettungsschirm mit einem Volumen von 2 Milliarden Euro. Es ist insgesamt ein Beitrag dazu, der Szene, dem Unternehmertum, den Start-ups zu helfen. Wir unterstützen also auch Sozialunternehmen, auch Start-ups. Heute ist ein guter Tag für alle Sozialunternehmen. Es ist ein guter Antrag. Ich bitte um Zustimmung und bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache.

Hans Jürgen Thies (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004915, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute ist ein guter Tag für den gesundheitlichen Verbraucherschutz in Deutschland. Mit dem Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Tabakerzeugnisgesetzes wollen wir weitere Beschränkungen der Werbung für Tabakerzeugnisse und elektronische Zigaretten herbeiführen. Konkret geht es in dem Entwurf um ein Verbot der Außenwerbung auch für Tabakerhitzer und für elektronische Zigaretten, natürlich jeweils mit Übergangsfristen. Darüber hinaus sollen die Kinowerbung und die kostenlose Verteilung von Tabakerzeugnissen weiter beschränkt werden. Das Gesetz sieht zudem vor, nikotinfreie elektronische Zigaretten und Nachfüllbehälter den nikotinhaltigen gleichzusetzen. Der Gesetzentwurf hat eine lange Vorgeschichte. Gerade meine Fraktion hat sich bekanntlich viele Jahre mit einer Ausweitung der Werbebeschränkungen für Tabakerzeugnisse sehr schwergetan. Immerhin gab es beachtliche verfassungsrechtliche Bedenken, ob eine Ausweitung der Werbeverbote nicht zu stark in die Berufsfreiheit der Tabak- und Werbeindustrie eingreift. Schließlich war, ist und bleibt Tabak ein legales Produkt, und grundsätzlich muss ein legales Produkt natürlich auch legal beworben werden dürfen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, aber ganz so einfach ist es dann doch nicht. Tabak ist anders zu bewerten. Er unterscheidet sich grundlegend von anderen Lebens- und Genussmitteln. Kein anderes Produkt hat so verheerende gesundheitliche Auswirkungen. ({0}) Lassen Sie mich aus dem Begründungsteil des Gesetzentwurfes zitieren: Tabakprodukte … enthalten hunderte von … giftigen Substanzen, die eine hochgradig karzinogene Wirkung haben. Allein 90 Prozent aller Lungenkrebserkrankungen von Männern und 60 Prozent von Frauen sind auf das Rauchen zurückzuführen. Hinzu kommt die starke Suchtwirkung des Nikotins … Kurzum: Rauchen ist eindeutig eine Gefahr für die menschliche Gesundheit. 120 000 Menschen sterben aufgrund der Qualmerei jährlich allein in Deutschland. Diese Zahlen dürfen wir in der Diskussion nicht ignorieren. ({1}) Ein effizientes Mittel, um den Gesundheits- und Jugendschutz zu verbessern, ist die Beschränkung der Tabakwerbung. Es ist erwiesen, dass Tabakwerbung das Rauchen bei Jugendlichen fördert. Ja, Werbung wirkt. Genau aus diesem Grund wurde in der WHO-Tabakrahmenkonvention vereinbart, dass alle Vertragsstaaten ein umfassendes Verbot aller Formen von Werbung und Sponsoring erlassen. Mit der Novelle des Tabakerzeugnisgesetzes setzen wir nunmehr dieses WHO-Abkommen um, und zwar eins zu eins. Dies ist auch allerhöchste Zeit; denn mit Ausnahme Deutschlands haben inzwischen alle anderen EU-Mitgliedstaaten ein vollständiges Verbot der Tabakaußenwerbung erlassen. Wir, die Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und SPD, haben die Novellierung auch genutzt, um weitere Aspekte des gesundheitlichen Verbraucherschutzes zu verbessern. So wird das Gesetz unter anderem dafür sorgen, dass nikotinhaltige und nikotinfreie elektronische Zigaretten und Nachfüllbehälter künftig regulatorisch gleichgesetzt werden. Spätestens seit Herbst 2019, als in den USA immer mehr Krankheits- und sogar Todesfälle bekannt wurden, die auf das Rauchen von E-Zigaretten zurückzuführen sind, war klar, dass wir hier gesetzgeberisch handeln müssen. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf haben die Koalitionsfraktionen ihre Handlungsfähigkeit in einer wirklich wichtigen Frage des gesundheitlichen Verbraucherschutzes unter Beweis gestellt. Dies ist gerade in Zeiten von Corona eine gute Botschaft. ({2}) Abschließend möchte ich mich bei unserem Koalitionspartner für die Geduld bedanken, die er aufgebracht hat, bis auch wir in der Union bei der Tabakwerbung zu besseren Erkenntnissen und Einsichten gelangt sind. ({3}) Dass diese besseren Einsichten inzwischen eine breite Mehrheit auch in unserer Fraktion gefunden haben, dafür möchte ich mich ausdrücklich bei meiner Kollegin Gitta Connemann – da hinten ist sie – herzlich bedanken, ({4}) die sich unermüdlich dafür eingesetzt hat, dass wir diesen Gesetzentwurf einbringen. Heute ist ein guter Tag für den gesundheitlichen Verbraucherschutz in Deutschland. Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Wilhelm von Gottberg für die AfD-Fraktion. ({0})

Wilhelm Gottberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004730, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Tabakerzeugnisgesetzes hat im Wesentlichen zum Inhalt: erstens die Regulierung nikotinfreier elektrischer Zigaretten und Nachfüllbehälter, zweitens die weitere Einschränkung der Werbung für Tabakerzeugnisse. Zu Punkt eins. Die gesundheitlichen Risiken der nikotinfreien Rauchwaren ergeben sich aus der Einatmung eines Aerosols, das unabhängig vom Nikotin gesundheitsschädliche Substanzen enthalte. Zu dieser Einschätzung kommen das Bundesinstitut für Risikobewertung und das Deutsche Krebsforschungszentrum. Die Koalition hat sich diese Einschätzung nunmehr zu eigen gemacht und ist der Auffassung, dass dieses zweite Änderungsgesetz erforderlich ist, um die Konsumenten vor Gesundheitsschäden zu bewahren. Man kann diese Auffassung teilen oder ablehnen. Zu Punkt zwei. Es gibt jetzt schon ein massives Verbot der Werbung für Tabakwaren in der Presse, im Rundfunk und im Fernsehen. Soweit das jetzt noch zulässig ist, soll nun jedwede Außenwerbung ebenfalls ab 1. Januar 2022 verboten werden. Für elektronische Zigaretten gilt das Werbeverbot erst ab 1. Januar 2024. Warum das? Wenn das Einatmen bestimmter Aerosole gesundheitsschädlich sein kann, warum soll dann noch vier Jahre mit dem Werbeverbot zugewartet werden? Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben die hier in Rede stehende Thematik schon vor knapp zwei Jahren diskutiert. Damals lag uns ein Gesetzentwurf der Grünen vor, der genau das forderte, was die Koalition jetzt im zweiten Änderungsgesetz beschließen will. Damals hatte die Koalition das abgelehnt. Auch wir, die AfD, hatten das aus guten Gründen abgelehnt. Das gilt auch heute noch. Wir glauben nicht, dass ein rigoroses Werbeverbot junge Menschen vom Rauchen abhält. Geraucht wird auf Schulhöfen, in den Familien, im Kollegenkreis, bei kleinen und großen Feierlichkeiten wie bei Erntefesten und Schützenfesten. Das Rauchen lässt sich dort nicht unterbinden. Junge Menschen lernen durch Vorbilder und Nachahmung. Das unterbinden Sie nicht mit Werbeverboten. Das Rauchen ist für viele Menschen ein Stück Lebensqualität. Das war schon so vor 300 Jahren im Tabakskollegium des preußischen Königs Friedrich Wilhelm I., und das ist es heute noch. Ich erinnere, wie beispielsweise die ehemaligen Bundeskanzler Erhard, Brandt und Helmut Schmidt ihr Raucherbedürfnis öffentlich zelebriert haben. Gleiches gilt für Dutzende Mitglieder des Bundestages und der Landtage. Wir lehnen das Gesetz auch deshalb ab, weil die nur noch ganz minimale Möglichkeit der Außenwerbung für Rauchwaren zulasten der Kommunen geht. Sie sind in der Regel Eigentümer der Werbeflächen. Das Verbot ist ein Eingriff in die Autonomie der Kommune. Die finanzielle Not der Kommunen ist unstrittig. Wir wollen nicht, dass eine kleine Einnahmequelle der Kommunen versandet. ({0}) Zur sozialen Marktwirtschaft gehört auch die Werbewirtschaft. Zum christlichen Menschenbild, das die AfD uneingeschränkt bejaht ({1}) und das die Union häufig wie eine Monstranz vor sich herträgt, gehört die Einsicht, dass die Menschen mündig und vernunftbegabt sind. Das verträgt sich nicht mit allerlei Verboten und Geboten für die persönliche Lebensführung des Einzelnen. Deshalb muss gelten: So viel Freiheit wie möglich und so viel Verbote wie nötig! Das Abweichen von dieser Regel hat langfristig den diktatorischen Obrigkeitsstaat zur Folge, vor dem schon George Orwell in seinem Skript „1984“ vor 70 Jahren gewarnt hat. Danke. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Rainer Spiering für die SPD-Fraktion. ({0})

Rainer Spiering (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004410, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Ich würde dem Gesetz noch einen anderen Namen geben wollen: Gesetz zum Schutz von Jugendlichen, Kindern und Verbrauchern gegen Produkte, die gesundheitsschädigend sind. – Das macht die Sache vielleicht einfacher. ({0}) Bevor ich aber auf die Tabakaußenwerbung zu sprechen komme, möchte ich Sie noch ein bisschen mitnehmen. Wir haben uns mit der ganzen Frage sehr intensiv auseinandergesetzt. Eine Zigarette ist schon, chemisch gesehen, ein spannend Ding. Wir verbrennen im Hochtemperaturbereich ein Produkt, von dem wir nicht alles genau kennen. Die Wissenschaft sagt: Es sind in der Zigarette 5 300 Substanzen enthalten, davon nachweislich 90 krebserregend. Dazu kommt dann Nikotin als starkes Nervengift. Wer sich ein bisschen mit Chemie auseinandergesetzt hat, kennt das Boudouard-Gleichgewicht. Trotz des Boudouard-Gleichgewichts wissen wir selbst bis heute nicht genau, was im Hochofen im molekularen Bereich passiert. Genau so einen Prozess gönnen wir uns bei der Zigarette, und dann bewerben wir das auch noch. Ich finde das spektakulär. Ich finde es auch spektakulär, dass es dieses Land hinbekommen hat, als einziger Staat der Europäischen Union die EU-Richtlinie zur Tabakaußenwerbung zu ignorieren. Damit machen wir heute Schluss. ({1}) So ein Produkt gehört nicht für Kinder und Jugendliche beworben. Ich bin froh, dass das Hohe Haus heute zu dieser Entscheidung kommt. ({2}) Nun ist der Weg dahin lang gewesen; der Kollege Thies hat das schon charmant beschrieben. Ich möchte mich an dieser Stelle bei den beiden stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Matthias Miersch und Gitta Connemann sehr bedanken. Gitta, zu dir noch eine besondere Bemerkung: Ich finde, du hast in den letzten sechs Jahren tapfer gestritten. Aber es ist dir über viele Jahre nicht gelungen, die marktradikalen Kräfte der Union zu bändigen. Dass es dann heute mithilfe anderer geklappt hat, finde ich toll. ({3}) Wenn man den heutigen Tag Revue passieren lässt – der ehemalige Bundesminister Schmidt hat mich eben darauf angesprochen –, dann ist das auch ein Lehrstück, wie in Deutschland Lobbyismus funktioniert. Dazu lassen Sie mich etwas sagen: Ein relativ kleiner Industriezweig mit einer unglaublichen Ertragskraft bekommt es im Gegensatz zu anderen karikativen Einrichtungen mit allen Mitteln hin, ein Land sechs Jahre lang unter Druck zu setzen. Wir alle, die mit denen zu tun gehabt haben, wissen, welche Mittel die Tabaklobby einsetzt und mit welchen Mitteln sie Kommunen pressiert hat, zum Beispiel mit Werbeverträgen. Ich glaube, das sollte uns ein Lehrstück sein, wie wir mit Lobbyismus grundsätzlich umgehen müssen. Diese Form des Lobbyismus der Tabakindustrie gehört abgelehnt. ({4}) Ich will grundsätzlich sagen – das ist mir wichtig –: Ich finde Lobbyismus wichtig. Ich möchte mit den Gewerkschaften reden können. Ich möchte mit den Kirchen reden können. Ich möchte mit dem Bauernverband reden können. Aber ich möchte es nicht unter dem Eindruck machen, dass ich pressiert werde und zum Beispiel mit Arbeitsplatzverlusten gedroht wird. Ich könnte das alles noch ertragen, wenn es nicht um ein Produkt ginge, das uns gesundheitlich massiv schädigt. Der Kollege Thies hat eben darauf hingewiesen, wie viele Menschen in jedem Jahr in diesem Land infolge des Rauchens versterben und wie hoch die Kosten für das Gesundheitssystem sind. Wir leisten es uns, durch eine kleine Industrie die Gesundheit einer ganzen Nation aufs Spiel zu setzen. Das werden wir heute beenden. ({5}) Es muss doch gelten: Allgemeinwohl, in diesem Fall Gesundheit, geht vor Interessenlagen weniger industriell Mächtiger. Auch wenn es sechs Jahre gedauert hat, auch wenn die marktradikalen Kräfte in der CDU gegengehalten haben ({6}) – das müsst ihr schon ertragen können –, zeigt sich doch, wenn wir heute dieses Signal setzen, dass die gesellschaftliche Leistung am Ende des Tages überwiegt. Ich finde, darüber können wir uns angesichts der Entscheidung heute sehr freuen. Was ist in Zukunft zu tun? Wir reden heute über die Tabakaußenwerbung, aber es geht auch um die Inhalte. Wir haben mit der Union vereinbart, etwas Wichtigeres zu tun, nämlich uns den Inhalts- und Zusatzstoffen zuzuwenden. Wir werden gemeinsam einen Entschließungsantrag einbringen, mit dem wir die wissenschaftlichen Einrichtungen des Bundes auffordern, die Inhaltsstoffe sowohl im Tabakbereich als auch im wenig erforschten Bereich der Verdampfer genau, konsequent und andauernd unter die Lupe zu nehmen. Das können und werden wir als Entschließungsantrag formulieren; aber die Aufgabe hat dann die Regierung zu erfüllen. Wir haben beschlossen, den Entschließungsantrag gemeinsam durch den Bundestag zu bringen. An dieser Stelle kann ich nur Kästner zitieren: An ihren Taten sollt ihr sie erkennen! ({7}) Dann wird man Sie, Frau Ministerin, daran messen müssen, ob Sie in der Lage sind, diesen Auftrag des Parlamentes umzusetzen. Ich würde mich sehr freuen, wenn wir im Dienste der Gesundheit der Menschen in diesem Land und vor allen Dingen der Jugendlichen und Kinder dazu kämen, diesen Entschließungsantrag einzubringen und dann durch die Ministerin umsetzen zu lassen. ({8}) Ich möchte zum Ende kommen. ({9}) – Was seid ihr Spielverderber! ({10}) Dem Kollegen Thies sage ich noch einmal Dank für die Erklärung. Für uns fängt die Arbeit an dem Entschließungsantrag jetzt an. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass in Zukunft die Gefahr durch Zigaretten deutlich geringer wird. Herzlichen Dank fürs Zuhören. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Gero Hocker für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Gero Clemens Hocker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004754, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Zigarettengeruch in der Kleidung hat mich als Jugendlichen, wenn ich des Nachts aus der Diskothek oder dem Restaurant zurückgekommen bin, immer sehr gestört. Heute mag vielleicht viele der Geruch einer E-Zigarette oder eines Verdampfers besonders stören. Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, zu einer offenen und zu einer freiheitlichen Gesellschaft gehört es eben auch, den Menschen, die daran Freude empfinden, diese Freude auch tatsächlich zuzugestehen. Das ist gerade das Wesen von Toleranz. Ich habe bei den Rednern vor mir den Eindruck gewonnen, dass dem einen oder anderen noch mal ins Stammbuch geschrieben werden muss, was es heißt, sich tolerant zu verhalten. ({0}) Obwohl sie sich damit selber Risiken aussetzen, trinken Menschen in diesem Land Alkohol, fahren oder fliegen in den Urlaub oder setzen sich, wie ich zum Beispiel, am Wochenende gerne auf ein Motorrad und fahren durch die Lande, und zwar aus einem einzigen Grund: weil es diesen Menschen Freude bereitet, weil sie Spaß daran haben ({1}) und weil sie auch gerne hinnehmen, dass sie statistisch auf Lebenszeit verzichten, aber weil sie am Ende ihres Lebens zurückblickend sagen wollen: ({2}) Ich habe dieses Leben gerne gelebt. – Und wenn dazugehört, eine konventionelle Zigarette zu verkonsumieren, wenn dazugehört, eine E-Zigarette zu rauchen oder zum Verdampfer zu greifen, dann ist das, verdammt noch mal, auch ihr gutes Recht, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({3}) Geradezu absurd wird es, wenn Ihre Werbeverbote dazu führen, dass Verbraucher unschädlichere Alternativen zur konventionellen Zigarette gar nicht erst zur Kenntnis nehmen können. Weshalb die nikotinfreie E-Zigarette, die weder Tabak noch Nikotin enthält, rechtlich mit der nikotinhaltigen E-Zigarette gleichgestellt wird, ist mir unklar. Das ist undifferenziert, unverständlich und unsinnig, verehrte Kolleginnen und Kollegen. ({4}) Denn für Tabakerzeugnisse gilt schon jetzt: Keine Werbung im Fernsehen! Keine Werbung im Kino! Keine Werbung mit der expliziten Zielgruppe: Jugendliche und junge Menschen! Keine Werbung mit Jugendlichen oder jungen Models! Alles richtig, alles gut. Aber solange ein Produkt legal ist, muss es in diesem Land doch auch möglich sein, darüber zu informieren. ({5}) Ich sage Ihnen schon jetzt: Wenn Sie das so auf den Weg bringen, wie Sie es beabsichtigen, dann wird dieses Gesetz vor keinem Gericht in Deutschland Bestand haben, verehrte Kolleginnen und Kollegen. ({6}) Was einem Freude bereitet, meine sehr verehrten Damen und Herren, das kann nicht die Politik entscheiden, das kann nicht die Bundesregierung entscheiden, das können nicht die Mehrheitsfraktionen entscheiden, das kann noch nicht mal die Opposition entscheiden. Meine Damen und Herren, das kann nur jeder Mensch für sich selber definieren. Deswegen: Lassen wir den Menschen die Freiheit und die Freude über Dinge, die uns vielleicht selber keine Freude bereiten! Denn erst das macht eine freiheitliche Gesellschaft tatsächlich auch tolerant. Ich sage Ihnen eins: Jeder nach seiner Fasson. Das muss auch im Jahre 2020 gelten. Vielen Dank. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Die Linke hat nun Niema Movassat das Wort. ({0})

Niema Movassat (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004114, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sie hörten den verlängerten Arm der Tabaklobby im Deutschen Bundestag. ({0}) Die FDP hat 2017 15 000 Euro an Spenden von der Tabaklobby bekommen. Sie sind ganz schön billig zu haben, muss ich sagen. ({1}) Wissen Sie, das Thema ist viel zu ernst für solche Reden. 120 000 Menschen sterben hierzulande jedes Jahr an den Folgen des Tabakrauchens. 97 Milliarden Euro an gesamtwirtschaftlichen Kosten verursacht das Rauchen. Und dennoch ist es bis heute nicht verboten, für Tabakprodukte zu werben. Seit Jahren fordern wir Linke ein Tabakwerbeverbot. Jahrelang – das muss man sagen – haben CDU und CSU treu auch im Dienste der Tabaklobby ein umfassendes Werbeverbot verhindert, obwohl sich Deutschland in der Tabakrahmenkonvention seit 2005 zu einem solchen Verbot verpflichtet hat. Man muss sagen: Es ist ein Skandal, dass Lobbyinteressen vor das Völkerrecht gestellt wurden. ({2}) Heute unternimmt die Koalition einen ersten Schritt zu einem umfassenden Werbeverbot. Aber es ist nur ein erster Schritt; denn es bleiben noch einige Lücken. Erstens wollen Sie zwar Außen- und Kinowerbung stark einschränken, aber an Außenflächen des Fachhandels soll Tabakwerbung weiter erlaubt sein. Auch die Werbung am Verkaufsort, etwa Monitorwerbung in Tankstellen, soll nicht verboten werden. Da springen Sie eindeutig zu kurz. ({3}) Zweitens erfassen Sie aber – das ist der wichtigste Punkt – den bedeutendsten Teil der Tabakwerbung fast gar nicht in Ihrem Gesetzentwurf, nämlich Sponsoring und Promotion. 60 Prozent der Werbegelder der Tabakindustrie fließen in Sponsoring und Promotion. Sie wollen weiter zulassen, dass Tabakkonzerne Festivals und Parteitage sponsern. Kein Wunder, profitieren ja sowohl CDU, CSU als auch SPD als auch FDP von Parteitagssponsoring der Tabakindustrie. ({4}) Hier werden Eigeninteressen vor Gesundheitsinteressen gesetzt. Das ist keine gute Politik. ({5}) Sie wollen die Ausgabe von Gratisproben innerhalb des Fachhandels und auf Events der Tabakkonzerne weiter erlauben. Sie wollen Werbung mit Konzernnamen auf Sonnenschirmen und Aschenbechern weiter zulassen. Hier muss im Gesetzgebungsverfahren nachgearbeitet werden, damit es ein wirksames Werbeverbot wird. ({6}) Die Tabaklobby und ihre bezahlten Gutachter schwadronieren, dass Werbeverbote ihre Grundrechte verletzten und dass ihre Werbung gar nicht darauf abziele, neue Konsumenten zu gewinnen. Die Tabakindustrie wäre ein Unikat in der Wirtschaft, wenn sie nicht beabsichtigen würde, neue Konsumenten zu gewinnen. ({7}) Natürlich will diese Industrie Nichtraucher zu Rauchern machen und vor allem Jugendliche gewinnen. Deshalb brauchen wir das Werbeverbot. Dann zu dem Argument, das immer wieder kommt, für ein legales Produkt dürfe auch geworben werden: Es ist zwar richtig, dass es ein legales Produkt ist. Aber es ist ein Produkt, das weltweit zum Tod von 7 Millionen Menschen führt. Es gibt kein Recht auf Werbung für gesundheitsschädliche Produkte. ({8}) Ich finde übrigens, das gilt auch für Alkoholwerbung. Ich fordere die Koalition auf, die Lücken in ihrem Gesetzentwurf zu schließen. Sorgen wir für ein umfassendes Tabakwerbeverbot in Deutschland! Deutschland darf nicht länger das Lobbyparadies für die Tabakindustrie sein. Danke schön. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Kirsten Kappert-Gonther für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Kirsten Kappert-Gonther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004773, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Tabakwerbung schadet. Sie trifft immer auch Kinder und Jugendliche. Tabakwerbung konterkariert jede Prävention. ({0}) Das haben bereits alle anderen EU-Länder begriffen und die Tabakwerbung inzwischen verboten. Nur Deutschland hinkt bis heute hinterher. Gut, dass es jetzt zum Greifen nah ist, dass sich das endlich ändert. ({1}) Drei Kreuze können wir aber erst machen, wenn das Gesetz wirklich abgestimmt ist. Wir erinnern uns: In der letzten Legislaturperiode blieb ein Kabinettsentwurf ohne Parlamentsbeschluss in der Schublade liegen. Der Einfluss der Tabaklobby war offensichtlich zu groß. Gesundheit darf aber nicht hinter Lobbyinteressen zurückstehen. Gesundheit geht vor. ({2}) Auch den Gesetzentwurf der Grünen für ein Tabakwerbeverbot haben Sie im letzten Jahr noch abgelehnt, nur einen Tag übrigens nachdem sich die Kanzlerin hier in der Regierungsbefragung für ein Tabakwerbeverbot ausgesprochen hatte. Nun dauerte es ein weiteres halbes Jahr, bevor sich die Union endlich zu einem Fraktionsbeschluss durchringen konnte, und noch einmal genauso lange, bis wir heute endlich über diesen Gesetzentwurf debattieren. Aber besser spät als nie! Leider versäumen Sie es aber, neue Marketingstrategien in den Blick zu nehmen. Dazu gehört auch das Sponsoring von Festivals; die Linken haben zu Recht darauf hingewiesen und dazu einen Antrag eingebracht. Die Industrie wirbt überdies zunehmend für Tabakerhitzer und E-Zigaretten. Auch E-Zigaretten sind schädlich. Werbung für diese Dampfprodukte brauchen wir ebenso wenig wie die für die klassische Zigarette. ({3}) Auch diese Werbung trifft Kinder und Jugendliche. Schauen Sie sich das einmal bei Instagram an. Die Liquids werden teils mit rechtswidrigen Gesundheitsversprechen beworben. Es ist also grundfalsch, die Werbung hierfür noch bis 2024 zuzulassen. ({4}) Warum denn auch? Wenn Sie erkannt haben, dass ein generelles Tabakwerbeverbot sinnvoll ist: Warum dann eine Übergangsfrist von weiteren drei Jahren? Warum stellen Sie wieder Lobbyinteressen vor Gesundheitsschutz? Ein wirksames Tabakwerbeverbot muss konsequent sein. ({5}) In Ihrem Gesetzentwurf steht, die Werbeeinnahmen für die Kommunen würden dann einfach wegbrechen. Das ist wirklich Unsinn. Fragen Sie einmal die Kommunen, die als Pioniere schon jetzt auf Tabakwerbung und sexistische Werbung verzichten. Es geht gut ohne. ({6}) Ich freue mich sehr auf die Beratungen in den Ausschüssen und hoffe, dass wir dann noch deutliche Verbesserungen erreichen, damit, was lange währt, endlich gut wird. Vielen Dank. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Bettina Wiesmann für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Bettina Margarethe Wiesmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004934, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es mag ja eine Weile gedauert haben, aber es wird jetzt gut; denn kurz vor dem Weltnichtrauchertag am 31. Mai können wir tatsächlich endlich einen weiteren, einen wichtigen Schritt zur Umsetzung der von Deutschland vor mehr als 16 Jahren unterzeichneten Konvention zur Eindämmung des Tabakgebrauchs machen. Dann liegt Deutschland hoffentlich nicht mehr auf dem letzten Platz der Europäischen Tabakkontrollskala der Krebsgesellschaften. Dass dieses Vorhaben notwendig ist, dürfte eigentlich von niemandem bestritten werden; denn – das wurde schon gesagt – Rauchen gefährdet die Gesundheit, und zwar die eigene und auch die von anderen. Es ist uns in den letzten Monaten mehr als bewusst geworden, welch hohes Gut die Gesundheit ist und wie leicht sie gefährdet werden kann, selbst durch unsichtbare Keime. Wir wissen jetzt auch, dass Coronaviren vor allem durch Aerosole im Raum verteilt werden. Das ist der Grund für die jüngsten Ausbrüche in Frankfurt und Friesland. Genauso schweben auch Rauchpartikel durch die Luft und schädigen jeden, der sich in der Umgebung, im selben Raum, befindet. Die Folge davon – das ist noch nicht gesagt worden –: Noch immer sterben jährlich in Deutschland 3 000 Menschen allein am Passivrauchen. ({0}) Rauchen ist selten so gefährlich wie Corona – kein Missverständnis –, aber es hat Langfristwirkungen. Außerdem: Inhaltsstoffe und Genussrituale tragen zum großen Suchtpotenzial bei. Jeder Raucher weiß, wie schwer es ist, aufzuhören, und wer es geschafft hat, hat sich selbst gestärkt. Die Koalition hat nun dank der beschriebenen Fortschritte einen Gesetzentwurf entwickelt, der weitere Lücken im Umgang mit Tabak und auch mit nikotinfreien Rauchprodukten schließen will. Das Gesetz beachtet durch mehrstufige Vorgaben auch den Wunsch der Wirtschaft – das ist richtig –, sich den Änderungen anpassen zu können. Ich sage aber auch ganz deutlich: Tabakersatzstoffe zum Verdampfen und Inhalieren haben nach bisherigen Erkenntnissen vielleicht weniger Giftstoffe als Tabak. Aber sie sind ebenfalls gesundheitsschädlich und dürfen nicht ausgenommen werden. ({1}) Mir liegt das Wohl der Kinder und Jugendlichen besonders am Herzen. Deshalb ist es mir und den Familienpolitikern sehr wichtig, nicht nur die Abgabe, sondern auch die Werbung für diese Produkte einzuschränken. Kinder und Jugendliche – das will ich hier noch einmal betonen – müssen sich selbst darstellen. Sie müssen Rollen ausprobieren. Sie müssen auch Grenzen überschreiten. Dieser natürliche Drang ist es, der von der Werbung und den Produktentwicklern aufgegriffen wird. Wir wollen verhindern, dass Jugendliche an den Gebrauch dieser Substanzen so gewöhnt werden, dass sie ihre Sucht nicht einfach stoppen können. Wenn sie älter sind, ist das etwas anderes. Wenn vor einem Film ab zwölf Jahren, der um 18.30 Uhr beginnt, Werbung mit coolen Typen für das Rauchen läuft – weil es schon nach 18.00 Uhr ist –, dann ist das widersinnig und muss beendet werden. ({2}) Wenn in jedem zweiten Dorf die riesigen Werbeplakate mit eben denselben Motiven zu sehen sind, dann bleibt auch in der Psyche des Jugendlichen etwas hängen; denn – auch das wurde schon gesagt – Werbung wirkt. Sie kostet ja auch viel. Es gäbe sie nicht, würde sie nicht wirken. Das ist keine Einbildung. Werbepsychologen, die ich durchaus respektiere in dem, was sie tun, machen einen guten Job, aber leider für ein schlechtes Produkt. ({3}) Deshalb muss das im Hinblick auf den Schutz von Kindern und Jugendlichen beendet werden. ({4}) Ich persönlich und alle meine Kollegen von der Unionsfraktion unterstützen den vorliegenden Gesetzentwurf voll und ganz. Wir sind zuversichtlich, dass das Familienministerium die Änderung des Jugendschutzgesetzes – das ist ein Bestandteil im Kontext der komplizierten Reform des Jugendmedienschutzes, an dem gearbeitet wird – nach Abschluss des parlamentarischen Verfahrens zügig umsetzen wird. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Rudolf Henke für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Rudolf Henke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Hocker, der vorliegende Gesetzentwurf beschränkt die Freiheit, zu rauchen, in keiner Weise, sondern er stärkt die freie Willensbildung bei der Entscheidung für oder gegen das Rauchen. ({0}) Denn im Moment haben wir ein krasses Missverhältnis zwischen Prävention und Werbung. ({1}) Wenn wir in den Bundeshaushalt gucken, dann sehen wir da round about zweieinhalb Millionen Euro im Jahr für die Rauchprävention zur Verfügung stehen. Allein die Kosten für Außenwerbung und Kinowerbung der Tabakindustrie belaufen sich auf rund 100 Millionen Euro, 40-mal so viel, wie wir im Bundeshaushalt für die Präventionsleistungen bereitstellen. Das ist ein krasses Missverhältnis. ({2}) Deswegen hätte ich, lieber Herr Kollege Hocker, vom Vertreter einer liberalen Partei erwartet, dass Sie die Freiheitlichkeit unseres Entwurfs begrüßen, weil es doch kein Freiheitsrecht ist, sich einem suchterzeugenden Produkt zu beugen. ({3}) Jetzt kommen wir zu der Frage: Wie ist das mit den Jugendlichen? Da erreichen wir durch die Werbebeschränkungen, dadurch, dass wir die Werbung aus dem öffentlichen Raum entfernen, dass Jugendliche nicht mehr in den Einflussbereich dieser Werbung hineinkommen. Das ist wichtig, weil das wirkt ({4}) und weil die Psychologie der Werbung darauf aus ist, einem das Gefühl von Wohlbehagen und Freiheit zu vermitteln. Ich kann mich erinnern an meine Vorstellung als kleines Kind von der großen weiten Welt. ({5}) Oder: Warum denn gleich in die Luft gehen? Und dann gab es ja auch diesen Wilden Westen. ({6}) Das alles löst Verführung aus. Ich glaube, dass die Assoziation eines hochschädlichen Produktes gerade mit Jugendlichkeit, gerade mit unberührter Natur, gerade mit Zusammengehörigkeitsgefühl ganz kalkuliert auch auf die Identitätskonflikte Jugendlicher abzielt. Deswegen finde ich: Was wir hier leisten, ist ein Schritt zugunsten von Freiheitlichkeit. ({7}) Es ist auch ein Schritt zugunsten des Marktes – wenn ich das mal sagen darf –; denn hinter diesen Produkten steckt ja eine Schädigung der Wirtschaft. Ja, da sind 100 Millionen Euro jetzt für die Werbewirtschaft weg. Aber wir haben eine Belastung der Wirtschaft in einer tausendfachen Größenordnung. Wir haben 100 Milliarden Euro pro Jahr als volkswirtschaftliche Kosten des Tabakkonsums. Im Vergleich zu den 100 Millionen Euro, die wir vielleicht im Bereich der Außenwerbung einbüßen, bedeutet es für die Wirtschaft und auch für die Produktivität und Gesundheit der Menschen, die in Zukunft durch dieses Produkt nicht mehr verführt werden, einen großen Gewinn. ({8}) Deswegen sage ich Danke; ich freue mich. Ich sage Danke Christian Schmidt und Hermann Gröhe, die mit dem Bundeskabinett 2016 schon einmal einen sehr ähnlichen Entwurf vorbereitet und ihn im Kabinett verabschiedet hatten. Ich sage Danke Marlene Mortler und Daniela Ludwig, beide Drogenbeauftragte der Bundesregierung, die mit daran gearbeitet haben, das herbeizuführen. Ich sage Danke Ralph Brinkhaus, der in unserer Fraktion den Meinungsbildungsprozess vorangetrieben und die Abstimmung ermöglicht hat. Und ich sage Danke Angela Merkel, die mit ihrer eben schon zitierten Antwort auf eine klug gestellte Frage dafür gesorgt hat, –

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Henke.

Rudolf Henke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

– dass wir mehr Raum dafür gekriegt haben, diese Entscheidung so vorzubereiten, wie sie jetzt kommen wird. – Schöne Grüße an Lothar Binding. ({0}) Rede Ende. ({1}) Stimmen Sie dem Entwurf dann später zu. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich bitte, bei zukünftigen Redebeiträgen geplante Danksagungen, Grußübermittlungen und anderes schon einmal mit einzupreisen. ({0}) Ich schließe die Aussprache.

Dr. Birke Bull-Bischoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004688, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Damen und Herren! Die zu erwartende wirtschaftliche Krise wird ganz sicher auch die berufliche Ausbildung in schwieriges Fahrwasser bringen. Deshalb brauchen wir schnelles und beherztes Handeln und eben nicht die Maxime der Bundesbildungsministerin, gewissermaßen: „Kommt Zeit, kommt Rat“, so wie in der Aprilsitzung des Bildungsausschusses oder noch am 6. Mai in ihrer Pressemitteilung. Nein, Auszubildende wie auch ausbildende Unternehmen müssen jetzt geschützt und müssen jetzt unterstützt werden. ({0}) Der künftige Mechatroniker beispielsweise, dessen Unternehmen in schwierige wirtschaftliche Probleme kommt, was wir alle mit all unseren Mitteln verhindern wollen, genau der muss jetzt die Chance haben, gegebenenfalls seine Ausbildung in einer Verbundausbildung fortzusetzen. Das heißt, mehrere Unternehmen sichern gemeinsam die Qualität der Ausbildung dort, wo es einzelnen Unternehmen nicht mehr möglich ist. Der Zugang muss erleichtert werden, und auch die Finanzierung muss unterstützt werden. ({1}) Für die künftige Konditorin beispielsweise, deren Geschäft insolvent wird, muss die Fortsetzung ihrer Ausbildung gegebenenfalls in einem anderen Unternehmen möglich gemacht werden, zum Beispiel durch die Zahlung von Ausbildungsboni an aufnehmende Unternehmen. Dasselbe gilt für die künftige Ergotherapeutin. Ich habe dazu beispielsweise gerade vorgestern eine Mail aus Leipzig von einer jungen Frau bekommen, die in Coronazeiten keinen Praktikumsplatz findet. Sie braucht Krisenszenarien. Da müssen Krisenszenarien entwickelt werden, damit ihre Prüfung und ihr Abschluss dadurch nicht gefährdet werden. Meine Damen und Herren, was wir nicht brauchen, ist der Versuch, den sechswöchigen Anspruch auf Weiterzahlung der Ausbildungsvergütung für Azubis zu kippen. Das geht gar nicht, meine Damen und Herren. ({2}) Die Krise können wir nicht auf dem Rücken der Azubis austragen. Womit müssen wir rechnen? Erstens. Wir müssen mit einem weiteren Rückgang der Zahl der ausbildenden Unternehmen rechnen. Deren Anteil liegt schon seit mehreren Jahren unter 20 Prozent. Unser Vorschlag liegt auf dem Tisch, auch das schon seit Langem: die solidarische Umlagefinanzierung. ({3}) Wir müssen endlich die kleinen und mittelständischen Unternehmen unterstützen, die ausbilden oder ausbilden möchten. Dazu gibt es schon heute viele gute praxistaugliche Beispiele. ({4}) Zweitens. Wir müssen damit rechnen, dass die Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge im Herbst unter die 500 000er-Marke fällt. Das sollte uns besonders umtreiben: Vor allem junge Menschen mit Hauptschulabschluss oder ohne Schulabschluss sind dabei besonders gefährdet. Also müssen wir vorübergehend – ich betone: vorübergehend – die außerbetriebliche Ausbildung weiter öffnen; und wir brauchen einen Zukunftsfonds, der in der Not vielfältige Möglichkeiten und Alternativen schafft, um dem zu erwartenden Mangel an Ausbildungsplätzen zu begegnen. ({5}) Die Allianz für Aus- und Weiterbildung hat sich vorgestern zumindest verbal zu einigen Schritten in die richtige Richtung bekannt. Leider sind ordentlich viele Allgemeinplätze und Nebulöses dabei. Vor allem aber, sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen: Das Bildungsministerium muss jetzt in die Puschen kommen. Es darf nicht sein wie gestern im Ausschuss, als nahezu allen Fraktionen so richtig klar geworden ist: Sofortprogramme aus dem Hause Bildungsministerium verdienen nahezu jeden Namen, nur keinen, der mit „sofort“ beginnt. ({6}) Das muss sich ändern, meine Damen und Herren, und zwar schnell, im Sinne unserer Auszubildenden. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Stephan Albani für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Stephan Albani (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004241, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir verhandeln heute zwei Anträge der Linken und der FDP zur Unterstützung der Ausbildung in der Coronakrise. Das ist ein wichtiges Thema; das ist überhaupt keine Frage. Aber, Frau Bull-Bischoff, aus der Situation der Akutheit sind wir ein bisschen raus. Das heißt, nachdem wir vor sechs, acht, zehn Wochen in einer Situation waren, in der es darum ging, Akutmaßnahmen zu ergreifen – so wie, wenn man in der Notaufnahme eines Krankenhauses ist, akute Maßnahmen ergriffen werden –, sind wir jetzt schon eher in dem Bereich, in dem ein bisschen Nachdenken sinnvoll ist. Es ist ein wichtiges Thema. Deswegen möchte ich einen Gedanken vorwegstellen: Das Bekenntnis zur Ausbildung ist ein Bekenntnis zur Zukunft. Die Schaffung des Fachkräftenachwuchses ist ein Bekenntnis zu ebendieser Zukunft, und der Glaube von Unternehmern im Mittelstand an die Zukunft des eigenen Unternehmens ist die Grundlage für Ausbildung. Insofern muss man sich an der Stelle ehrlich machen und realistisch sein: Über die Hilfe für die Ausbildung werden Unternehmen nicht stabilisiert werden. Erst wenn sich ein Unternehmen an dieser Stelle stabilisiert und sich letzten Endes der Zukunft zuwendet, dann werden wir auch in Zukunft in adäquater Weise Ausbildung haben. ({0}) Insofern helfen hier keine Maßnahmen mit der Gießkanne; denn das führt zu wenig nachhaltigen und im schlimmsten Fall zu aus Verzweiflung heraus entstandenen Mitnahmeeffekten. Auf diese Art und Weise erreichen wir für die Auszubildenden am Ende des Tages nichts. Auf Stabilisierung angelegte Wirtschafts- und Finanzpolitik ist am Ende die beste Politik für Ausbildung; das muss man klar sagen. ({1}) Hier haben wir vieles getan; Weiteres ist in Vorbereitung. Dies konnten wir uns leisten, weil 10 bis 15 Jahre gut gewirtschaftet wurde. Wir haben 50 Milliarden Euro Soforthilfe, 600 Milliarden Euro beim Wirtschaftsstabilisierungsfonds und die KfW-Coronahilfen, die die Unternehmen an der Stelle stabilisieren. Eine gezielte Unterstützung für Ausbildung ist jetzt richtig; aber wir müssen genau gucken, wie das stattfinden soll. Das bewegt sich durchaus in einem Spannungsfeld. Ich will zwei Beispiele aus meinem Wahlkreis nennen: Ein Gastronom kommt auf mich zu und sagt: Stephan, ich habe Angst um mein Überleben, und ich weiß nicht, ob es verantwortungsvoll ist, für den Herbst dieses Jahres Ausbildung anzubieten. – Da werden ihm Hilfen in dem Bereich nichts bringen, weil er nicht weiß, ob er mit seinem ganzen Unternehmen überhaupt überleben wird. Auf der anderen Seite gibt es ein Unternehmen aus der Kfz-Branche, bei dem der Unternehmer die Filialleiter gefragt hat: „Was machen wir denn mit der Übernahme der Auszubildenden in diesem Jahr, und welche Stellen schreiben wir aus?“, und seine Filialleiter gesagt haben: Moment mal, wir übernehmen genau wie geplant, und wir bilden auch genauso aus wie geplant. – Der Fachkräftemangel ist weiterhin vorhanden, und die Nachholeffekte werden kommen. Das heißt, an diesen beiden Beispielen müssen sich unsere Hilfen zielgenau, branchenspezifisch und passgenau orientieren; das ist wichtig. Insofern begrüße ich die Einigung der Allianz für Aus- und Weiterbildung, die im Zusammenspiel der dort vorhandenen Kräfte aus Sozialpartnern, Wirtschaft und Politik genau dieses erarbeitet. Dazu einige Beispiele: Berufsschulen öffnen – digitales Lernen verbessern. Hier haben wir in dieser Legislatur vieles auf den Weg gebracht, zum Beispiel den DigitalPakt. ({2}) Ich freue mich, dass heute einer Berufsschule in meinem Wahlkreis eine signifikante Summe an Förderung zugewachsen ist, um genau dieses zu verbessern. ({3}) Abschlussprüfungen sicherstellen: Hier sind die Kammern auf einem guten Weg, dies zu regeln. Sie melden uns auch zurück, dass sie es im Griff haben. Es ist wichtig, dass Politik genau schaut, wo sie denn eingreift. Finanzielle Hilfen zum Beispiel für die Übernahme von Azubis von insolvenzbedrohten Unternehmen sind eine Maßnahme, die wir an dieser Stelle für sinnvoll erachten. Frau Kollegin Magwas wird nachher noch auf einige weitere eingehen. Ich möchte meine Ausführungen noch mit einem anderen Gedankengang beenden. Vor einer guten Therapie steht eine gute Diagnostik. Wenn man sich anguckt, wie sich die Zahlen momentan entwickeln, sehen wir, dass die Zahl der Ausbildungsplätze, die jetzt gemeldet werden – das Handwerk meldet sie erst in diesen Tagen-, zurückgeht. Aber auch die Interessentenzahlen nehmen ab, weil viele der Jugendlichen, die Veränderung im Markt antizipierend, sich dahin gehend orientieren, dass sie, wenn sie zum Beispiel ein Abitur haben, gar nicht erst an eine duale Ausbildung denken, weil auch Berufsorientierung und Informationsveranstaltungen coronabedingt nicht stattfinden. ({4}) Insofern wären an dieser Stelle – das haben wir schon 2008 erlebt – Hilfen für Ausbildung mit finanziellen Anreizen nicht sinnvoll; es wäre vielmehr sinnvoll, die Kammern dabei zu unterstützen, digitale Informations- und Recruiting-Maßnahmen durchzuführen. Das ist zielgenaue Hilfe für das, was wir erreichen wollen, nämlich mehr individuale Ausbildung zu bekommen. Noch mal für Sie, Frau Bull-Bischoff, Prozentrechnung. ({5}) Der letzte Vorschlag war: Bei Beibehaltung von 100 Prozent der Ausbildungsvergütung in den ersten sechs Wochen ging es darum, die Arbeitgeber mit einer Kürzung auf 60 Prozent zu entlasten unter der Maßgabe, dass die 40 Prozent weiterhin aufgestockt werden. ({6}) Der Sicherheitsstandard wäre also beibehalten worden, und die Möglichkeit, diese Ausbildungsplätze zu erhalten, wäre gegeben gewesen. ({7}) Ich komme zum Schluss. In der derzeitigen Situation lernen wir jeden Tag viel; wir hören einander zu. Es gibt drei Wege des Lernens. Der erste ist Nachdenken; das ist der edelste. Der zweite ist Nachmachen; das ist der einfachste. Und der dritte ist Erfahrung; das ist der bitterste. Nachmachen können wir hier wenig, weil Corona einzigartig ist. Wir setzen nicht auf Erfahrung – das ist der bitterste Weg –, sondern wir denken mehr nach. Das werden wir tun, und dann werden wir auch Maßnahmen auf den Weg bringen. Danke schön. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Abgeordnete Nicole Höchst für die AfD-Fraktion. ({0})

Nicole Höchst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004753, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Liebe Bürger! In den beiden vorliegenden Anträgen der Links- und der FDP-Fraktion zur Unterstützung von Auszubildenden schwingen leider auch wieder Ideen aus der Mottenkiste mit, die man nun angesichts der Krise versucht durchzudrücken. So wagt die Linksfraktion – in ihrem unumstößlichen Weltverständnis, dass man alle Probleme durch Umverteilen von Geld lösen kann – wieder den Vorstoß zur sogenannten solidarischen Umlagefinanzierung. Sie werfen hierbei pauschal allen Betrieben, die nicht selbst ausbilden, vor, unsolidarisch zu sein. Das ist eine Ungeheuerlichkeit. Was ist das denn für eine Form von gelebter Solidarität in der Coronamaßnahmenkrise, die ein Betriebesterben in Kauf nimmt und perspektivisch wohl mehr Arbeitsplätze vernichten würde, als dass sie Auszubildenden hilft? ({0}) Für alle abhängig Beschäftigten sowie die Auszubildenden sind Sie damit genauso unwählbar wie für Unternehmer. Die FDP-Fraktion will hingegen die Coronamaßnahmenkrise nutzen, um die Bildungsdigitalisierung voranzutreiben. ({1}) Das kennen wir ja schon: Egal wie das Problem beschaffen ist – Digitalisierung ist für Sie die Antwort. ({2}) Sicherlich bietet die Digitalisierung die Möglichkeit, Elemente des klassischen Schulunterrichts wertvoll zu ergänzen. Zweifellos boten und bieten digitale Lösungen bei den Herausforderungen an unser Bildungssystem derzeit die Grundlage, den schulischen Teil der beruflichen Ausbildung überhaupt am Laufen zu halten. Mit dem, wie Sie es in Ihrem Antrag aber ausdrücken, Hinterfragen „eingefahrener Routinen“ gehen Sie jedoch deutlich weiter, als es geboten ist. Ziel muss es sein, unser altbewährtes und weltweit geachtetes System der dualen Ausbildung zu stärken und mit Augenmaß zu ergänzen und nicht mal eben durch ein neues zu ersetzen. ({3}) Was wir eigentlich benötigen, fordert die AfD-Fraktion schon seit April. In Anbetracht der sich verdichtenden Indizien, dass es sich bei Corona um einen gigantischen Fehlalarm handeln könnte, ({4}) fordern wir nicht nur eine „klare und transparent kommunizierte Öffnungsstrategie“ wie der FDP-Antrag. Wir wollen uns gar nicht erst im Ausnahmezustand bequem einrichten, wie Ihre vorliegenden Anträge das aber tun wollen, und zwar in schädlichen, widersprüchlichen und falschen Coronamaßnahmenpaketen, die unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft zerstören. ({5}) Die Maßgabe muss stattdessen lauten, den Ausnahmezustand bei aller gebotenen Vorsicht schnellstmöglich zu verlassen, ({6}) um die zerstörerische Coronamaßnahmenkrisenkaskade in Deutschland zu stoppen. Verehrte Bundesregierung, liebe Kollegen, beenden wir endlich diese Coronamärchenstunde, und schaffen wir eine nachhaltige Motivation für junge Menschen, eine Ausbildung zu beginnen und sie auch abzuschließen. Versetzen Sie sich doch mal in die Lage dieser jungen Menschen! Die werden doch nicht einmal die Generation persönlich kennenlernen, die den heute von Ihnen verursachten Schuldenberg noch wird abstottern müssen. ({7}) Solche Anreize wie Zukunftsangst, Arbeiten bis 67 plus, welthöchste Steuern und Abgaben zahlen, neue Weltordnung, totale staatliche Kontrolle und den Rest der Welt grundsätzlich den eigenen Bedürfnissen überordnen zu müssen – das sind mit Sicherheit nicht die geeigneten Maßnahmen, um junge Leute motiviert in Ausbildung oder Studium zu schicken. Einigkeit und Recht und Freiheit, Sicherheit und selbsterwirtschafteter Wohlstand hingegen schon. Schöne Pfingsten. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Während das Pult gesäubert wird – wofür ich Danke sage –, kündige ich hier mal an, dass ich mir vorab das Protokoll dieser Debatte besorge und den Inhalt eines Zwischenrufes aus den Reihen der Linken prüfen werde. Ich behalte mir hier entsprechende Maßnahmen vor. Das Wort hat die Kollegin Yasmin Fahimi aus der SPD-Fraktion. ({0})

Yasmin Fahimi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004713, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer an den Bildschirmen! Berufsbildung für die Jugend in Deutschland – das ist ungefähr so, wie süße Katzenbilder zu posten. Das finden immer alle ganz toll, und das wird auch von allen geteilt. ({0}) Ich freue mich auch wahnsinnig darüber. Aber ich glaube, es lohnt sich, genauer zu schauen, was sich dahinter verbirgt, damit man nicht am Ende die fetten Katzen im Sack kauft, um mal in einem FDP-Bild zu bleiben. Deswegen will ich auf die einzelnen Sachen eingehen. Immerhin: Die Linke hat mittels Abschrift der DGB-Forderungen nun einen Antrag gestellt. Das ist zumindest einen Fleißpunkt wert, auch wenn man das Original hätte selber lesen können. ({1}) In der Tat: Die Lage auf dem Ausbildungsmarkt ist ernst. Bereits die ersten Zahlen von Bundes- und Länderagenturen, IHKs und ZDH zeigen den Rückgang von abgeschlossenen Ausbildungsverträgen, und zwar insbesondere in den Bereichen, wo normalerweise viele junge Leute mit Hauptschulabschluss unterkommen. Das ist – richtigerweise – ein Problem bei gleichzeitigem Rückgang der Bewerberzahlen, die nur deswegen nennenswert sind, weil durch die Unterrichtsunterbrechungen eben auch Informations- und Vermittlungsveranstaltungen weggefallen sind. Umso deutlicher wird, dass wir richtig ranklotzen müssen, damit aus der Coronakrise keine Fachkräftekrise wird. ({2}) Dazu reichen keine Wohlfühlanträge und auch keine Was-ich-schon-immer-fordern-wollte-Anträge wie von der FDP. Deswegen, liebe Kollegen, muss man sich das schon genauer anschauen. Sie fordern Öffnungsstrategien für bestimmte Branchen. Was soll denn das genau heißen? Bleiben Sie doch einfach bei dem Begriff, den man sowieso mit Ihnen verbindet, nämlich Deregulierung, und zwar am besten bei den Arbeitsbedingungen, weil das ja so erfolgreich war, wie wir gerade in der Fleischindustrie erleben. ({3}) Also, wunderbar: Alter Wein in neuen Schläuchen. Das werden wir natürlich ablehnen. ({4}) Und dann soll es zur Überbrückung eine Ausweitung der Einstiegsqualifizierung geben. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Schulabgängern, die jetzt normalerweise in die reguläre Ausbildung gehen sollten, sagt die FDP: Freunde, wisst ihr was: Ihr könntet zwar normalerweise Ausbildung machen, aber ihr macht jetzt erst mal eine Einstiegsqualifizierung. – Das heißt mit anderen Worten: Warteschleife! Das ist das Angebot der FDP an die Jugend. ({5}) Kommen wir mal zu dem, was wirklich relevant ist. Wir als SPD-Fraktion begrüßen, dass jetzt in der Tat die Allianz für Aus- und Weiterbildung aktiv geworden ist. Wir wünschen uns jetzt allerdings, dass wir zusammen mit unserem Koalitionspartner dort schnell zu ein bisschen mehr Klarheit und Verbindlichkeit kommen und an einem Strang zu ziehen, wenn wir über das Konjunkturprogramm reden. In diesem Zusammenhang will ich, werter Kollege Stephan Albani, noch zumindest auf eines eingehen: Mich verwundert es schon ein bisschen, dass wir in diesem Ausbildungsnotstand, auf den wir zulaufen, von der Bundesministerin Karliczek nur den Vorschlag hören, die Schutzklausel für Auszubildende im Berufsbildungsgesetz zu öffnen. Das schafft keinen einzigen Ausbildungsplatz! ({6}) Natürlich ist es richtig, dass wir Unternehmen und Ausbildungsbetriebe unterstützen müssen, auch finanziell. Das tun wir aber schon mit Milliardenbeiträgen, und das müssen wir auch weiterhin tun. Nur, gleichzeitig für Auszubildende die Schutzbedingungen auszuhebeln, ({7}) ist doch ein falsches Signal. Deswegen noch mal an alle Fans der Deregulierung: Schutzregelungen für Arbeitnehmerinnen und Auszubildende sind keine Belastung für die Wirtschaft, sondern eine Voraussetzung für gutes und erfolgreiches Miteinander. ({8}) Die Maßnahmen, die wir jetzt im Ausbildungsbereich schaffen, müssen sich daran messen lassen, ob Ausbildung tatsächlich stattfindet, und nicht daran, ob wir Warteschleifen oder Abwarte- und Stillhalteabkommen in der Kurzarbeit schaffen. Es geht darum, Ausbildungsbemühungen zu honorieren. Ich glaube, da sind wir uns auch einig. ({9}) Deswegen schlägt die SPD eine Paketlösung in drei Schritten vor. Erstens. Wir wollen bereits betroffenen Betrieben schnell unter die Arme greifen, zum Beispiel durch eine Übernahmeprämie, die in der Allianz ja schon thematisiert worden ist, wenn Betriebe sich gegenseitig helfen. Wir wollen Betriebe, die in hohem Maße von Kurzarbeit betroffen sind, bei der Organisation von außerbetrieblichen Lehrunterrichtungen unterstützen, oder sie können von mir aus auch gerne einen Zuschuss zur Ausbildungsvergütung bekommen. Zweitens. Wir brauchen vor allem einen Zukunftsfonds für zusätzliche betriebliche oder außerbetriebliche Ausbildungsplätze, das heißt einen Ausbildungsbonus für zusätzliche Ausbildungsplätze in Verbund- und Auftragsausbildung oder in Betrieben, die sich jetzt zusätzlich anstrengen. In den Regionen, in denen wir eine schlechte Angebot- und Nachfragerelation haben, brauchen wir zumindest temporär auch Sonderprogramme für außerbetriebliche Ausbildungsstätten. Das ist unsere Meinung. ({10}) Der dritte Schritt ist, Sicherheit und Perspektive für Auszubildende zu ermöglichen, gerade mit Blick auf den Abschluss ihrer Ausbildung. Wir müssen die Ausbildungsvertragslaufzeit verbindlich mit dem Abschluss ihrer Prüfung gleichschalten. Das muss geklärt werden, um ihnen Sicherheit zu geben. ({11}) Da, wo Ausbildung tatsächlich länger als die sechs Wochen gemäß der Schutzregelung des Berufsbildungsgesetzes auszufallen droht und in Schwierigkeiten gerät, wollen wir auch eine Anschlussfinanzierung und Aufstockung der Ausbildungsvergütung. Diese konkreten Maßnahmen müssen wir jetzt im Konjunkturprogramm und in der Allianz verhandeln. Wir müssen raus aus dem Beobachtungsstatus und auf die Überholspur kommen, um die Ausbildungsplätze 2020 zu sichern. In diesem Sinne wünsche ich uns konstruktive und zielführende Beratungen. Zum Schluss will ich anmerken: Wir alle können übrigens auch ganz praktisch was tun. Die SPD-Bundestagsfraktion wird wieder Auszubildende einstellen, und wir werden im September auch zwei Auszubildende übernehmen. Das ist, glaube ich, ein Vorbild für alle anderen Akteure in diesem Haus, womit man auch ganz praktisch zeigen kann: Wir tun was für die Ausbildung. Frohe Pfingsten! ({12})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun Dr. Jens Brandenburg das Wort. ({0})

Dr. Jens Brandenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Coronakrise trifft die berufliche Bildung hart. Ausbildende Betriebe kämpfen in vielen Branchen ums Überleben. Ausbildungsplätze fallen weg, und Berufsschulen mussten kurzfristig auf digitale Lehre umstellen, nachdem die Politik das jahrelang verschlafen hat. Prüfungen wurden verschoben und Ausbildungsmessen abgesagt. Und die Bildungsministerin? Sie ist abgetaucht und hat das Thema allein Hubertus Heil überlassen; beide sind heute nicht mal hier. Groß angekündigt hat Herr Heil dann eine Übernahmeprämie für Auszubildende aus insolventen Betrieben. Das ist ja ganz nett, löst das Problem aber nicht. Bis Ende September haben insolvente Betriebe Zeit, ihre Insolvenz anzumelden; die Ausbildung ist damit noch nicht beendet. Aber schon im Dezember dieses Jahres soll diese Übernahmeprämie auslaufen – und das, obwohl viele Pleiten erst später erwartet werden, und zwar dann, wenn Rücklagen aufgebraucht sind und erste Hilfsgelder ebenso. Für das Ausbildungsverhältnis ist ja eigentlich gar nicht die rechtliche Insolvenz entscheidend, sondern die tatsächliche Ausbildungsfähigkeit eines Unternehmens. Die kann gesichert sein, wenn insolvente Betriebe übernommen werden, und sie ist gefährdet, wenn solvente Unternehmen ihren Betrieb über Monate hinweg einstellen müssen. Sorgen Sie lieber dafür, dass die Wirtschaft mit klaren Öffnungsperspektiven und Entlastungen wieder Fuß fassen kann, und stärken Sie die berufliche Bildung insgesamt! ({0}) – Die können Sie gerne in mehreren anderen Anträgen und anderen Debatten nachlesen; so viel Redezeit habe ich leider nicht. Oder stellen Sie eine Zwischenfrage. Die Allianz für Aus- und Weiterbildung hat einige Ziele beschlossen, denen wir uns ausdrücklich anschließen. Der Wiedereinstieg in die Berufsorientierung an den Schulen, auch in digitaler Form, ist überfällig. Ausgefallene Prüfungen sind zeitnah nachzuholen. Auch in Krisenzeiten steht die Ausbildung im Betrieb, liebe Linke – nicht außerbetrieblich, sondern im Betrieb –, an erster Stelle. Der große Wurf ist aber leider nicht gelungen. Zur Kurzarbeit konnten Sie auch nach Monaten keine Lösung finden, obwohl unser Vorschlag längst auf dem Tisch liegt. Anstatt die Digitalisierung der Berufsschulen mit IT-Kräften an den Schulen, mit Investitionen in die Lehreraus- und ‑weiterbildung voranzutreiben, stellen Sie lediglich ein paar Millionen Euro für digitale Endgeräte zur Verfügung. Diese Mittel hätten längst fließen können, wenn Sie aus dem DigitalPakt Schule keinen bürokratischen Bremsklotz gemacht hätten. ({1}) Die internationalen Austauschprogramme der beruflichen Bildung haben Sie ganz vergessen. Hier hätte sich Frau Karliczek mal persönlich einsetzen können. So wird das jedenfalls nichts. Beeindruckend ist die große Kreativität, mit der viele Betriebe und auch Auszubildende, Kammern und Berufsschulen jetzt pragmatische Lösungen finden. Lassen Sie uns diese Krise nutzen, danach nicht in alte Muster zurückzufallen, wie es die AfD gefordert hat, sondern die berufliche Bildung mit großen Innovationen voranzutreiben: neue Ausbildungsformate mit flexiblen Bausteinen und Bildungswegen, digitale Berufsschulen, die auf die moderne Arbeitswelt vorbereiten und übrigens auch im ländlichen Raum Ausbildungsplätze sichern, neue Ausbildungsberufe, die die Innovationskraft unseres Landes wieder an die Weltspitze bringen. Fehlende Ausbildungsplätze sind der Fachkräftemangel von morgen. Nutzen wir diese Krise für einen offensiven Innovationsschub in der beruflichen Bildung! Die Freien Demokraten hätten Sie dabei an Ihrer Seite. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Beate Walter-Rosenheimer das Wort. ({0})

Beate Walter-Rosenheimer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004221, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Liebe Zuhörer und Zuhörerinnen! Last, but not least beschäftigen wir uns an diesem Freitagnachmittag, fast schon ‑abend, mit dem Thema „Ausbildung in der Coronakrise“ frei nach dem Motto „Kommt Zeit, kommt Rat“. Einmal mehr nämlich standen Auszubildende auch in diesen Tagen der Coronakrise nicht im Fokus, und es wurde viel zu wenig Aufmerksamkeit auf ihre Bedürfnisse gelegt. Insgesamt sind die Themen Bildung und Ausbildung sehr vernachlässigt worden, was ich für einen riesigen Fehler halte. ({0}) Während die Debatte zumindest noch Abiturienten und Abiturientinnen und Studierende in den Blick nahm, mussten die Auszubildenden mal wieder im Verborgenen blühen, obwohl auch bei ihnen extrem viel Unsicherheit über ihre Ausbildung, die Prüfungen, die Weiterbeschäftigung aufkam, als unser Land in den Lockdown ging. Viele konnten in ihren Ausbildungsbetrieben nicht weiterarbeiten, Information fehlte. Auch mir fehlt Information; denn auf meine Frage an die Bundesregierung, wie viele Auszubildende von Kurzarbeit in der Krise betroffen seien, musste ich hören, dass die BA in der Kurzarbeiterstatistik Azubis gar nicht aufführt. Es gibt gar keine Zahlen dazu. Das ist ebenso unglaublich wie falsch, und das muss sich ändern. ({1}) Nun haben wir dank der Anträge von den Linken und der FDP heute die Gelegenheit, über Ausbildung in der Krise zu debattieren. Ich kann in beiden Anträgen gute Aspekte finden. Wir können aber nicht bei allem mitgehen. Jetzt ist die Zeit – drei Minuten – natürlich zu kurz, um zu diskutieren. Ich freue mich aber auf die Debatte im Ausschuss. Das werden wir in jedem Fall machen. Die Frage ist jetzt: Was brauchen Auszubildende in diesen Tagen? Nach all der Verunsicherung, den Einschränkungen, der Ungewissheit brauchen sie jetzt endlich Klarheit und die Möglichkeit, ihre Ausbildung fortzuführen, zum Beispiel durch Verbundausbildung, die auch den Betrieben helfen kann, ({2}) durch mehr und bessere Digitalisierung. Es hat sich ja gezeigt, dass die theoretische Ausbildung auch online gut geht. Darauf kann man jetzt aufbauen. Hier hat die Krise sogar ein bisschen was Gutes bewirkt und unser Land etwas aus dem digitalen Dornröschenschlaf geführt. ({3}) Das macht Mut, weiterzugehen. Deshalb muss das neue DigitalPakt-Sofortausstattungsprogramm auch dringend der beruflichen Bildung zugutekommen. ({4}) Um gute Ausbildung krisenfest zu machen, braucht es natürlich mehr: den Abbau von Warteschleifen, die Verhinderung von Ausbildungsabbrüchen und eine angemessene Vergütung statt eine geradezu unglaubliche Diskussion über den Abbau von Jugendarbeitsschutzrechten oder die Absenkung des Mindestlohns. ({5}) Es braucht eine echte Ausbildungsgarantie, wie wir Grünen sie vorgelegt haben, um die berufliche Bildung krisenfest zu machen und auch den Fachkräftebedarf zu sichern. Begreifen wir also die Krise als Chance, liebe Kolleginnen und Kollegen, um der dualen Ausbildung wieder mehr Aufwind zu verleihen. Den braucht sie dringend, um sie sicher und krisenfest zu gestalten. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Yvonne Magwas für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Yvonne Magwas (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004346, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zweifelsohne sind wir inmitten gewaltiger Herausforderungen. Wir sind uns darin einig, bestehende Ausbildungsverträge erhalten und neue Ausbildungsplätze ermöglichen zu wollen. Aber wir müssen auch darüber nachdenken, weshalb es zu Problemen auf dem Ausbildungsmarkt infolge der Coronapandemie kommt. Hier ist die Antwort ziemlich eindeutig. Es sind die ökonomischen Unsicherheiten. Das beste Mittel, um diesen Unsicherheiten zu begegnen, ist eine wachstumsorientierte Politik. Gelingt uns eine schnelle Reaktivierung der Wirtschaft, so müssen wir auch nicht um den Rückgang von Ausbildungsplätzen bangen. Die vorliegenden Anträge der Opposition, von der FDP und der Linken, sind dazu aber nicht geeignet. Es sind veraltete Ideen, es ist Aktionismus, es fehlt der durchdachte Plan. Als Union wollen wir stattdessen mit präzisem Drehen an den richtigen Stellschrauben helfen. Es soll eben nicht nur der Staat handeln. Gerade jetzt ist die enge und erfolgreiche Zusammenarbeit aller Beteiligten, insbesondere der Sozialpartner, der Verbände und der Kammern, gefragt. ({0}) Zu begrüßen sind deshalb auch die Zusammenkunft und die Stabilisierungsmaßnahmen der Allianz für Aus- und Weiterbildung, die in dieser Woche gute Beschlüsse auf den Weg gebracht haben. Sie zeigen und sie denken in Richtung Zukunft. Als Unionsfraktion haben wir selbstverständlich die Thematik um die Ausbildungssituation fest im Blick. Mein Kollege Stephan Albani hat hier schon einige wesentliche Punkte genannt. Ich möchte noch einige ergänzen. Die Aktivierungsmaßnahmen für den Ausbildungsmarkt dürfen nicht nur für sich alleine stehen. Vielmehr müssen sie als Teil eines Gesamtpakets für Wirtschaftswachstum gesehen werden. Primär geht es um die Ausbildung im Betrieb. Die duale Ausbildung, meine Damen und Herren, ist ein Markenkern unseres Landes. Und dieses System muss auch zukünftig Kompetenzen vermitteln, die zu den wirtschaftlichen Belangen passen. Wir müssen alles für den Erhalt von Ausbildungsplätzen tun. Deshalb, liebe Kollegin Fahimi, ist aus unserer Sicht auch das Kurzarbeitergeld für Auszubildende wichtig. Die derzeitig geltende Regelung ist sehr unflexibel und in der Krise ein Hemmschuh für Unternehmen. ({1}) Jetzt gilt es, diejenigen zu entlasten, die Verantwortung für den Fachkräftenachwuchs übernehmen. Wir wollen, dass Unternehmen auch für ihre Auszubildenden ab dem ersten Tag Kurzarbeitergeld erhalten und dies natürlich auch von den Betrieben jeweils ergänzt wird. 40 plus 60 ergibt 100, liebe Frau Kollegin Fahimi. ({2}) Wir laden Sie alle dazu ein, dass wir hierzu noch einmal reden. Es gilt in der Krise aber auch, weitere Ausbildungsplätze zu schaffen und diese Schaffung zu begünstigen und zu unterstützen. Es bedarf eines zusätzlichen Anreizes, damit weitere Perspektiven für junge Menschen entstehen. Hier können wir uns auch gut einen Bonus für Ausbildungsbetriebe vorstellen, wenn sie in der Krise zusätzliche Ausbildungsplätze schaffen. Außerdem müssen wir uns – das haben wir heute noch gar nicht gehört – natürlich auch um die Jugendlichen kümmern, die schon vor der Krise schwierige Vermittlungsperspektiven hatten. Sie dürfen in der Krise nicht zurückgelassen werden. Und zum Glück können wir hier auf gute bestehende Förderinstrumentarien wie die Assistierte Ausbildung und ausbildungsbegleitende Hilfen zurückgreifen. Diese Instrumente gilt es gerade in der Krise zu stärken. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, die berufliche Bildung wird auch mit den neuen Bedingungen zurechtkommen. Ich bin mir sicher: Sie wird wieder ihre hohe Leistungs- und Anpassungsfähigkeit unter Beweis stellen. Deutschlands Markenkern ist die duale Ausbildung. Das soll sie auch in Zukunft sein. Herzlichen Dank und frohe Pfingsten! ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache.