Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.
Frau Wehrbeauftragte, Sie haben den in der Verfassung vorgesehenen Eid geleistet. Ich danke Ihnen. Ich gratuliere Ihnen. Ich wünsche Ihnen im Namen des ganzen Bundestages für Ihr Amt für die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr alles Gute, viel Erfolg und Gottes Segen.
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Herzlichen Dank.
Es gibt keinen Handschlag in Coronazeiten. – Sie dürfen gratulieren, aber bitte unter Wahrung des Abstandsgebots.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute über einen Antrag über die globale Gesundheit debattieren zu dürfen, könnte an Aktualität nicht treffender sein. Aber bevor ich in die Inhalte einsteige, erlauben Sie mir einige wenige persönliche Bemerkungen. Seit etwa sechseinhalb Jahren beschäftige ich mich mit diesem Thema. Wenn ich diesen Prozess in ein Bild fassen sollte, dann in das, dass vor etwa sechs Jahren ein kleiner Setzling eingepflanzt worden ist, um den sich sehr viele bemüht haben, ihn gehegt und gepflegt haben, und jetzt, nach sechseinhalb Jahren, steht ein kleines Bäumchen mit einigen kleinen Früchten vor uns. Aber dieser Baum ist noch nicht stabil, er ist auch noch nicht nachhaltig, noch nicht dauerhaft gesichert, und die Früchte, die wir ernten, reichen auch noch nicht für alle Menschen aus, um ihr Wohlbefinden tatsächlich zu sichern. Deshalb müssen wir uns alle um dieses Bäumchen kümmern, also um die Thematik der globalen Gesundheit, und müssen gemeinschaftlich dafür eintreten.
Gesundheit als solche ist in der Wahrnehmung der Bevölkerung häufig ein rein nationales Thema. Es geht um den Hausarzt um die Ecke, das Krankenhaus, die Apotheke, die ärztliche Versorgung, den Facharzt und wie er zu erreichen ist. Nur in den seltensten Fällen nimmt man tatsächlich eine Blickrichtung ein, die über die Grenzen hinausreicht. Allerdings hat sich die Lebenswirklichkeit in der Zwischenzeit gewandelt. Im EU-Vertrag unter Artikel 168 ist noch die Privilegierung der nationalen Gesundheitssysteme vermerkt, aber die Internationalität der Menschen, der gesamten Weltbevölkerung ist eine der grundlegenden Ursachen dafür, dass sich Krankheiten und daraus resultierende Herausforderungen und insbesondere Krisen überhaupt nicht mehr an Landesgrenzen, noch nicht einmal an die Grenzen von Kontinenten halten, sondern über diese hinweggehen. Es muss für uns alle ein Auftrag sein, diese Herausforderungen zu erfassen, sie gemeinsam zu definieren und dann an Konzepten zu arbeiten, um diese Herausforderungen meistern zu können.
An der Spitze sehen wir als gemeinsame Institution, die sich dieser Aufgabe widmet, die Weltgesundheitsorganisation, die in diesen Tagen in aller Munde ist und die durchaus von dem einen oder anderen prominenten oder jedenfalls als prominent empfundenen Staatsoberhaupt mit Kritik belegt wird. Die Weltgesundheitsorganisation arbeitet seit 1949 an einer internationalen Gesundheitsverfassung. Sie arbeitet daran, dass Standards für alle Menschen auf dieser Welt erreichbar sind, dass die Versorgung gesichert ist und die medizinische Qualität immer auf dem neuesten Stand gehalten wird.
Dies alles setzt aber voraus, dass die politischen Kräfte, die Wissenschaft und die Forschung gemeinsam an diesem Ziel arbeiten und über alle Grenzen hinweg einen Erfahrungsaustausch vornehmen. Dieser ist keineswegs eine Selbstverständlichkeit, wie wir gerade in der Coronakrise erfahren durften, ist aber die Grundlage dafür, die notwendigen Erkenntnisse zu sammeln und die medizinischen Fortschritte in Form von Impfstoffen oder Arzneimitteln tatsächlich erreichen zu können.
Nichtsdestotrotz: Die lokalen Gesundheitssysteme sind das Fundament, sind die Basis für eine gute Versorgung. Sie müssen leistungsfähig sein, sie müssen resilient sein, sie müssen vor allen Dingen auch für jeden Menschen erreichbar sein. Das ist ein Baustein, an dem wir uns Tag für Tag abarbeiten müssen, hier in den Industrieländern, aber natürlich insbesondere auch in den Entwicklungs- und Schwellenländern, weil dort die Schwäche der Gesundheitssysteme die größte Ursache für den Ausbruch von Pandemien ist.
Die Bekämpfung von Pandemien ist nicht nur ein Kampf gegen Krankheiten und persönliches Leid, sondern sie ist vor allen Dingen auch ein Kampf gegen internationale Krisen, die destabilisieren, die Staaten in fragile Verhältnisse stürzen können, die lokale Auseinandersetzungen provozieren und die vor allen Dingen zu einem wirtschaftlichen Niedergang führen können. Selbst hier in der industriellen Welt ist es offensichtlich so, dass eine Immunität keineswegs eine Selbstverständlichkeit ist, sondern wir Tag für Tag, insbesondere in Zusammenarbeit mit unseren Institutionen – an prominenter Stelle das Robert-Koch-Institut –, dafür kämpfen müssen.
Ich kann deshalb alle hier im Hause, aber auch draußen in der Bundesrepublik und in Europa nur auffordern, sich an diesem Kampf, an diesen Bemühungen zu beteiligen, die WHO sowohl finanziell als auch natürlich moralisch zu stützen. Sie ist die zentrale Einrichtung, die sich mit der Koordination beschäftigen muss.
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Eines dürfen wir zum guten Schluss nicht vergessen: Ein wesentlicher Punkt, den die Wissenschaft immer wieder betont, ist die Nähe von Mensch und Tier, Tier und Mensch. Der One-Health-Ansatz, der besagt, dass die Übertragung und die Verursachung von wesentlichen Krankheiten wie auch Corona durch die Nähe von Mensch und Tier begünstigt werden und dass die Begegnungen in bislang abgelegenen Regionen dieser Welt zu neuen gesundheitlichen Bedrohungen führen, muss ganz besonders in den Fokus genommen werden. Wir müssen Forschung und Wissenschaft ausstatten, damit sie sich dieser Aufgabe widmen können.
Ich darf Sie alle bitten, sich an dieser Initiative, an diesem Kampf zu beteiligen – für uns alle, für die Menschen auf diesem Planeten.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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Nächster Redner ist der Kollege Ulrich Oehme, AfD.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Zuschauer! Natürlich gehören Gesundheit und Gesundheitsvorsorge zu den Grundbedürfnissen der Menschen. Ich glaube jedoch nicht, dass diejenigen der Millionen der Ärmsten dieser Welt, die ihren Lebensunterhalt durch Tagelöhnerei für ihre Familien erarbeiten und jetzt dieser Arbeit nicht nachgehen können, interessiert, ob sie eine gute Gesundheitsvorsorge haben; denn sie sind schlicht und ergreifend am Verhungern.
Was bitte, liebe CDU/CSU, soll das für ein Antrag sein: „Engagement für die Globale Gesundheit ausbauen – Deutschlands Verantwortung in allen Politikfeldern wahrnehmen“? Das, was Sie hier aufgeführt haben, ist alles und nichts. Bei uns würde man sagen: Wischiwaschi.
Dieser Antrag läuft darauf hinaus, an alle möglichen Institutionen und Staaten deutsches Steuergeld nach dem Gießkannenprinzip auszuschütten, ohne eine Kenntnis darüber zu bekommen, ob das Geld sinnvoll verwendet wurde oder nicht.
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Da meine Redezeit begrenzt ist, möchte ich nur exemplarisch für alle anderen Organisationen die WHO herausgreifen.
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Die deutsche Öffentlichkeit hat schon immer die globale Bedrohung durch Krankheitserreger erkannt. Um dieser Bedrohung entgegenzuwirken, wurde unter anderem die WHO ins Leben gerufen. Mit dem Auftreten des Coronavirus SARS-CoV-2 ist die Inkompetenz der WHO
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und mit ihr die Inkompetenz vieler nationalstaatlicher Gesundheitsbehörden, zum Beispiel der in Deutschland, ans Licht gekommen.
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Wir können nur froh sein, dass SARS-CoV-2 nicht so tödlich ist wie die Pest im Mittelalter. Als Ende des Jahres 2019, Anfang 2020 dieses Virus in China in Erscheinung getreten ist und China viele Millionen Menschen in Quarantäne geschickt hat und sogar einen großen Teil der Industriebetriebe in dieser Region stillgelegt hat, spätestens da hätte die WHO handeln müssen und China in Quarantäne schicken müssen, damit sich das Virus nicht in der ganzen Welt ausbreitet.
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Da die WHO viel zu spät gehandelt hat, hätten die nationalen Regierungen ein Einreiseverbot in ihre Länder für Menschen aus dem Epidemiegebiet verhängen müssen. Das ist ebenfalls zu spät geschehen. Anhand dieser Epidemie hat die WHO wieder einmal gezeigt, dass sie das Geld nicht wert ist, das sie bisher bekommen hat.
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Deshalb finde ich den Zahlungsstopp des amerikanischen Präsidenten gerechtfertigt. Solange die WHO nicht imstande ist, eine klar strukturierte, von politischen und privatwirtschaftlichen Interessen unabhängige Strategie zu erstellen und durchzusetzen,
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ist es besser, wenn die Nationalstaaten das in Eigenregie tun, wie zum Beispiel Taiwan, Vietnam und andere es in dieser Krise erfolgreich getan haben.
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Die AfD hat zu Beginn dieses Jahres ein konsequentes Verbot der Einreise von Menschen aus Risikogebieten gefordert.
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Da haben Sie noch Ihre Witze darüber gemacht. Ich hoffe, Ihnen ist jetzt das Lachen im Halse stecken geblieben.
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Sie alle haben sich mitschuldig gemacht an den Opfern und der sozialen Katastrophe, die jetzt folgen wird.
Jedoch sind nicht nur staatliche Akteure an der Unfähigkeit und Lähmung der WHO beteiligt. Vor allem der seit den 90er-Jahren stetig steigende Einfluss von privaten Akteuren wie Rotary Club und Bill & Melinda Gates Foundation ist mehr als gefährlich.
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Es kann nicht sein, dass nicht gewählte private Akteure einen so großen Einfluss auf die Gestaltung globaler Gesundheitspolitik und die Verwendung von staatlichen Geldern haben. In der WHO muss ausgesiebt und bereinigt werden.
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Wir fordern für die WHO: zurück zu den ursprünglichen Aufgaben, also internationale Koordination durch Bereitstellung fachlicher unabhängiger Expertise sowie Entwicklung und Überwachung von Normen und Standards.
Ihren Antrag werden wir ablehnen.
Vielen Dank.
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Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Heike Baehrens, SPD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein Leben in Gesundheit und Wohlergehen für alle Menschen – das dritte Ziel der Nachhaltigkeitsagenda der Vereinten Nationen , SDG 3, beschreibt, was globale Gesundheit meint. Jede und jeder Einzelne von uns weiß, wie wichtig es ist, gesund zu sein.
Mit unserem Antrag und der heutigen Debatte unterstreichen wir den unbedingten Willen, dieses Ziel konsequent zu verfolgen und in allen Politikfeldern dafür einzutreten.
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Drei Beispiele will ich nennen. Wenn wir für ILO-Kernarbeitsnormen eintreten, dann geht es nicht nur um gerechte Entlohnung, sondern es geht auch darum, dass Arbeit nicht krankmachen darf, nicht in unseren Großraumbüros, aber eben auch nicht in westafrikanischen Rohstoffminen oder asiatischen Textilfabriken. Wenn wir Zugang zu sauberem Wasser und Sanitärversorgung fordern, dann geht es auch um gesundes Aufwachsen von Kindern. Wenn wir ehrgeizige Klimaziele erreichen, dann sichern wir die Lebensgrundlagen auf diesem Planeten für unser aller Kinder und Kindeskinder.
({1})
Nicht reine Kapitalinteressen dürfen dominieren. Das, was Gesundheit fördert, gehört in den Vordergrund. Denn globale Gesundheitspolitik ist keine Wohltätigkeitsveranstaltung. Zahlreiche wissenschaftliche Studien belegen, dass sich Investitionen in Gesundheit vielfach auszahlen. Wo Menschen öffentlich abgesichert und sozialversichert sind, werden sie nicht von den Behandlungskosten überfordert und in Armut gedrängt. Wo alle Bevölkerungsgruppen direkten Zugang zu allen notwendigen Gesundheitsdienstleistungen haben, ist das der wirksamste Impuls für gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung.
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Darum ist es so wichtig, dass sich die von uns mitgetragene Bundesregierung für gesundheitsförderliche Lebensbedingungen weltweit einsetzt. Wir erwarten, dass die Strategie zur globalen Gesundheitspolitik zeitnah aktualisiert wird, Herr Minister, und über die Legislaturperiode hinaus Leitlinien für ein effektives ressortübergreifendes Regierungshandeln auf der Basis der Menschenrechte entwickelt werden.
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Internationale Partner, aber auch zivilgesellschaftliche Initiativen erhoffen sich eine Führungsrolle Deutschlands in der globalen Gesundheitspolitik. Diese Gestaltungsaufgabe sollten wir verantwortungsvoll annehmen, gerade auch weil andere Staaten sich aktuell aus der Verantwortung zurückziehen. Gerade jetzt zeigt sich, wie wichtig der Erhalt unseres multilateralen Systems ist. Die Weltgesundheitsorganisation ist zu einem weiteren Schauplatz geworden, auf dem Großmächte ihre geopolitischen Rivalitäten austragen. Umso deutlicher müssen wir sagen: Nationale Reflexe, sei es der angedrohte Boykott der USA, seien es innereuropäische Exportkontrollen oder Zensur in China, führen in die Sackgasse.
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Ich danke unserem Außenminister Heiko Maas sehr für seine Initiative zu einer Allianz für Multilateralismus. Wir müssen politisch alles tun, um die Weltgesundheitsorganisation in ihrer Führungsfunktion zu stärken. Sie ist die leitende und koordinierende Instanz beim Krisenmanagement. Wie alle internationalen Organisationen kann sie nur so stark sein, wie ihre Mitgliedstaaten dies zulassen und wollen. Wir wollen eine starke WHO. Wir wollen eine gut finanzierte WHO.
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Die Weltgesundheitsversammlung hat in der letzten Woche eine Resolution verabschiedet, die wir sehr begrüßen. Dieser gemeinsame Aufruf der Weltgemeinschaft für einen gerechten Zugang zu Arzneimitteln und Impfstoffen muss ein Wendepunkt sein. Der Covid-19-Impfstoff, egal wann er kommt, muss zum globalen, öffentlichen Gut werden. Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, dass er allen Menschen zur Verfügung steht,
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die ihn brauchen und die sich impfen lassen wollen.
Wie unter einem Brennglas sehen wir in der aktuellen Pandemie, wie in dieser Einen Welt alles mit allem zusammenhängt. Wir begreifen, dass wir das Virus und auch die Globalisierung nur zähmen können, wenn wir über alle Grenzen hinweg füreinander einstehen. Ihnen auf der rechten Seite fehlt offensichtlich die Einsicht in diese Zusammenhänge.
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Ihnen fehlt aber noch mehr: Ihnen fehlt die Ehrfurcht vor dem Leben der anderen.
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Albert Schweitzer hat schon 1954 auf den Punkt gebracht, was notwendig ist, um Frieden und Sicherheit in diese Welt zu bringen. Er hat es mit wenigen Worten gesagt: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“ Mit diesem Aufruf zur Ehrfurcht vor dem Leben hat er an die Menschheit appelliert und hat gesagt: Das ist die Grundlage für Sicherheit und Frieden.
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Herr Präsident, ich komme zum Schluss. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns auf dieser Spur unterwegs sein, indem wir Gesundheitssysteme weltweit stärken und in allen Politikfeldern für Gesundheit und Wohlergehen für alle einstehen. Setzen Sie sich mit uns gemeinsam für eine ehrgeizige und verantwortungsvolle globale Gesundheitsstrategie ein! Lassen Sie uns auch nach Corona dafür sorgen, dass Gesundheit konkret im Zentrum unserer Politik steht.
Vielen Dank.
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Jetzt hat der Kollege Dr. Andrew Ullmann, FDP, das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Es bedarf eines Paradigmenwechsels in der globalen Gesundheit. Wer an globale Gesundheit denkt, muss begreifen, dass Gesundheit aktiv gefördert werden muss, anstatt nur reaktiv Krankheiten zu behandeln. Es muss dem Einzelnen die Möglichkeit gegeben werden, seine Gesundheitskompetenz zu stärken, damit er selbstbestimmt gesund leben kann. So sollte Gesundheitspolitik global ausgerichtet sein.
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Meine Damen und Herren, Gesundheit ist das kostbarste Gut der Welt. Bei guter Gesundheit wird alles möglich. Gute Gesundheit ist die Grundlage für den Einzelnen, um sein Potenzial auszuschöpfen, damit Familien gedeihen können, damit Gemeinschaften gedeihen können, damit auch die Wirtschaft gedeihen kann und Nationen gedeihen können. Kurz gesagt: Gesundheit ist die Grundlage für eine nachhaltige Entwicklung zur Beendigung der Armut und zur Förderung friedlicher und integrativer Gesellschaften.
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Die SDGs, also die Nachhaltigkeitsentwicklungsziele der Vereinten Nationen, repräsentieren eine ehrgeizige Vision der gesunden, sicheren und gerechten Welt, die wir alle haben wollen. Aber die Realität ist, dass wir bislang nicht auf dem richtigen Weg sind. Gerade im Hinblick auf Covid-19 zeigt sich, dass auch ein noch so reiches Land eine Pandemie nicht im Alleingang bewältigen kann. Jede Regierung muss sich bewusst sein: Ihre Bevölkerung ist erst dann vor Covid-19 geschützt, wenn diese Infektion auf der ganzen Welt besiegt ist. So, meine Damen und Herren, ist die Gemeinschaft in diesem Fall keine Wahl, sondern der einzig gangbare Weg.
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An dieser Stelle muss ich auch ganz klar sagen: Die AfD hat es nicht begriffen. Herr Oehme hat gerade einige Sachen durcheinandergeschmissen. Ich glaube, es lohnt sich durchaus, dass Sie diesbezüglich auch mal unseren Antrag durchlesen, um zu verstehen, was globale Gesundheit bedeutet und wie alles – das hat Frau Baehrens auch gesagt – miteinander verzahnt ist. Wer die beste Prävention gegen Seuchen will, muss starke und widerstandsfähige Gesundheitssysteme global fordern und fördern. Wir brauchen umfassende Investitionen in Gesundheitssysteme in allen Ländern. Höhere Renditen bekommen wir nirgendwo.
Meine Damen und Herren, holen wir doch die Weltgesundheit gemeinsam aus dem Krankenhaus, indem wir in der globalen Gesundheit neue Wege gehen. In unserem Antrag haben wir dazu einiges geschrieben. Wir brauchen einen gesundheitsfördernden, präventiven und sektorenübergreifenden Ansatz in der globalen Gesundheit, damit Menschen weltweit ein gesundes und selbstbestimmtes Leben führen können.
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In diesem Zusammenhang spielen auch Digitalsysteme eine zunehmend bedeutende Rolle. Sie befähigen die Menschen dazu, die Kontrolle über ihre Gesundheit aktiv in die Hand zu nehmen, und unterstützen die Transformation von einer reaktiven Therapie hin zu einer proaktiven Prävention von Krankheiten.
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Wir müssen auch neue Wege in der Finanzierung finden. Globale Fonds wie zur Bekämpfung von HIV/Aids, Tuberkulose und Malaria sollten wir zum Fonds für Gesundheit machen. Das ist ein richtiger Weg, um globale Gesundheit auch zu leben. Dazu gehört, meine Damen und Herren, ganz klar ein Bekenntnis zur Weltgesundheitsorganisation.
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Herr Oehme, wenn Sie über die WHO schimpfen und sagen: „Die machen alles falsch“, dann schauen Sie doch einfach mal in Wikipedia nach, was die WHO für ein Mandat hat. Dann verstehen Sie die Situation vielleicht viel besser.
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– Glauben tun wir sonntags. – Die Investition, meine Damen und Herren, lohnt sich; denn Gesundheit ist nicht nur ein Gebot der Menschlichkeit, sondern wesentliche Voraussetzung für Sicherheit, Stabilität, Wohlstand und Entwicklung in unserer gemeinsamen Welt. Wir brauchen einen Systemwandel und Mut, zu gestalten. Seien wir bereit, neu zu denken! Es bleibt dabei: Die Gesundheit jedes Einzelnen ist relevant für die Gesundheit aller anderen. Deshalb bitte ich Sie, unserem Antrag zuzustimmen.
Herzlichen Dank.
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Jetzt hat das Wort die Kollegin Eva Schreiber, Die Linke.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer! Die Coronapandemie muss ein Weckruf für alle Staaten sein: für eine Stärkung der Weltgesundheitsorganisation, die im Rahmen der UN für die öffentliche Gesundheit zuständig ist. Dieser Weckruf scheint von den meisten gehört worden zu sein.
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Die 194 WHO-Mitglieder setzten letzte Woche beim jährlichen Treffen auf gemeinsames, internationales Handeln und stärkten die WHO damit als Koordinationsstelle für globale Gesundheit.
Die Regierungen wollen aber auch die Vorwürfe gegenüber der Organisation im Zusammenhang mit Corona aufarbeiten und – ganz wichtig – für ein nachhaltiges Finanzierungssystem sorgen. Das begrüßen wir.
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Nun müssen aber den warmen Worten auch Taten und vor allem eine konkrete Finanzierung folgen. Deutschland sollte die Beiträge zur WHO entscheidend erhöhen und endlich die empfohlenen 0,1 Prozent des Bruttonationaleinkommens für weltweite gesundheitspolitische Zusammenarbeit aufbringen. Wir schlagen hierzu in unserem Antrag die Umverteilung von Geldern aus dem Verteidigungshaushalt vor.
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Für Aufrüstung und Krieg werden dieses Jahr rund 45 Milliarden Euro ausgegeben. Für globale Gesundheit steht nur ein Bruchteil dessen zur Verfügung. Das ist ein Skandal! Das können Sie doch niemandem mehr erklären, dass für den Tod mehr Geld zur Verfügung steht als für Leben und Gesundheit!
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Seit 1993 sind die staatlichen frei verwendbaren Pflichtbeiträge an die WHO stetig gesunken. Das hat die WHO finanziell ausgetrocknet. Pflichtbeiträge machen nur etwa 20 Prozent des Budgets aus, Gelder von Bill Gates, dem zweitreichsten Mann der Welt, und anderen privaten Spendern dagegen satte 80 Prozent. Um hier Kritik zu üben, brauchen wir keine Verteufelung von Bill Gates, wie Verschwörungstheoretiker sie auf aktuell stattfindenden Hygienedemos betreiben. Man kann Gates auch ohne das für vieles kritisieren. In Bezug auf die WHO heißt das: Gates ist mit knapp 10 Prozent der zweitgrößte Geber weltweit. Seine Gelder sind zweckgebunden. Er bestimmt, wofür sie ausgegeben werden. Dadurch hat er als Privatmann großen Einfluss auf die globale Gesundheitspolitik. Und das ist undemokratisch. Die Staaten müssen in der WHO wieder die Entscheidungen treffen, nicht einzelne Milliardäre.
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Die Gates-Stiftung legt großen Wert auf Impfprogramme. Sie sind auch richtig und wichtig und helfen. Die internationale Gemeinschaft forscht mit aller Macht an einem Impfstoff gegen Covid-19. Zentral ist hier die Frage des Zugangs zu möglichen Impfstoffen. Wir brauchen schon jetzt genaue Regeln zur Verteilung. Einen Wettbewerb um den Zugang darf es nicht geben. Wir schlagen vor, unter anderem auf das Patentrecht zu verzichten, damit alle Staaten leicht und günstig an den benötigten Impfstoff gelangen.
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Aber Impfen reicht nicht. Was ist, wenn die Basisgrundversorgung für Milliarden von Menschen fehlt und Menschen bei einem Schlaganfall oder Herzinfarkt nicht rechtzeitig ins weit entfernte Krankenhaus kommen? Was ist mit den Millionen von Tuberkulosekranken, die keinen Zugang zu verträglichen Medikamenten haben, was mit den Kranken, die an vernachlässigten Krankheiten leiden, für die es oft noch gar keine Medikamente gibt, weil zu wenig geforscht wird? Während der Coronapandemie drohen Malaria und Tuberkulose noch mehr Tote als sonst zu verursachen, und auch Masern werden zum Problem. Das kann doch so nicht weitergehen. Auf den Punkt gebracht: Alle Länder brauchen funktionierende öffentliche Gesundheitssysteme.
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Ein positives Beispiel – und das nicht nur für mich, sondern auch für die WHO – ist Kuba. In jedem noch so abgelegenen Dorf findet man einen Arzt und eine Gemeindeschwester. Polikliniken mit Fachärzten, Zahnärzten und Notaufnahmen sind schnell zu erreichen. Auch ein Krankenhaus ist für jeden in der Nähe. Im Gegensatz zu den meisten Entwicklungsländern hat Kuba Infektionskrankheiten wie Malaria erfolgreich besiegt. Die Lebenserwartung dort ist höher als in den USA, und Kuba exportiert Gesundheit, nicht Waffen. Wo Deutschland noch zögerte, hat Kuba jüngst Ärzte ins schwer von Covid-19 betroffene Italien entsandt, und das ist vorbildlich.
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Leider wird der Zugang zu Gesundheit in vielen Ländern anders geregelt. Ob in Indien, Ghana oder Südafrika – in vielen Ländern hat sich ein Krankenhausmarkt mit privat-öffentlichen Partnerschaften, PPP, entwickelt, bei dem reiche Investoren aus aller Welt Krankenhäuser aufkaufen, kaputtsparen und dann mit hoher Rendite weiterverkaufen. Die Bundesregierung lenkt öffentliche Steuergelder in diese PPP. Das ist doch ein Unding! Dabei bedienen diese Gesundheitseinrichtungen die zahlungskräftige Ober- und Mittelschicht; Ärmere bleiben außen vor und haben kaum oder gar keinen Zugang zu medizinischen Leistungen. Die Folge ist ein Anstieg der Ungleichheit. Wir halten diese Fokussierung auf PPP für einen gravierenden Fehler. Gesundheit muss für jeden zugänglich sein und gehört in öffentliche Hand.
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Liebe Koalition, in Ihrem Antrag erwähnen Sie diese gravierenden Fehler der letzten Jahre nicht und fordern stattdessen ein Weiter-so. Auch die FDP und die Grünen üben in ihren Anträgen nicht wirklich Kritik an den Versäumnissen der letzten Jahre. Außer uns geht niemand auf das Problem der Profitorientierung im Gesundheitswesen im globalen Maßstab ein. Diese Subventionierung von privaten Akteuren durch deutsche Steuergelder lehnen wir ab.
Und dass der Markt schon alles regelt: Da hat uns Corona ja gerade bewiesen, dass das eben nicht der Fall ist, und das Spotlight auf die Bereiche gerichtet, die nicht oder nur oberflächlich funktionieren. Die Regeln sollen nicht vom Markt aufgestellt werden, sondern von der Politik.
Danke schön.
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Nächster Redner ist der Kollege Ottmar von Holtz, Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegin Schreiber, wir kritisieren sehr wohl sehr deutlich die Versäumnisse der letzten Jahre. Das Nachhaltigkeitsziel 3 der Agenda 2030 lautet nämlich: „Ein gesundes Leben für alle Menschen jeden Alters gewährleisten und ihr Wohlergehen fördern“. Dazu gehört, die Mütter- und Säuglingssterblichkeitsraten zu senken, neben Aids, Malaria und Tuberkulose auch vernachlässigte Krankheiten zu bekämpfen, die Prävention und Behandlung im Bereich der psychischen Gesundheit zu fördern und vieles, vieles mehr.
Die Basis aber zu allem ist, wie ich finde, das Unterziel der allgemeinen Gesundheitsversorgung: die Absicherung gegen finanzielle Risiken und den Zugang zu grundlegenden Gesundheitsdiensten zu sichern
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und darüber hinaus den Zugang zu wirksamen, hochwertigen und bezahlbaren Arzneimitteln und Impfstoffen zu bieten. Das Nachhaltigkeitsziel 3 – auch bekannt als SDG 3 – ist mehr als Pandemiebekämpfung. Es geht vor allem um die Grundversorgung mit Gesundheit. Es geht um eine Regelversorgung für alle Menschen in allen Ländern. Hierüber müssen wir uns unterhalten, wenn wir über globale Gesundheit sprechen.
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Es ist verständlich, wenn angesichts der Covid-19-Pandemie momentan die Eindämmung der Pandemie im Vordergrund steht. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir dürfen dabei bitte nicht vergessen, worum es bei der Gesundheits-EZ geht. Es geht darum, eine Abwärtsspirale zu unterbrechen oder umzukehren. Armut, schlechte Wohnbedingungen, schlechte Lebensbedingungen, mangelnde Bildung und unzureichender Zugang zu einer grundlegenden Gesundheitsversorgung führen zu noch mehr Armut. Die Entwicklungspolitik der Geberländer weist diesbezüglich mittlerweile leider gravierende Defizite auf. Wir verlassen uns immer mehr auf die Finanzierung und die Aktivitäten der internationalen Fonds, und wir haben uns selbst nach und nach aus der Unterstützung beim Aufbau und bei der Stabilisierung des öffentlichen Gesundheitswesens in den Partnerländern zurückgezogen.
Es gibt viel Geld, das in den Gesundheitsbereich der Entwicklungsländer geht, aber niemand koordiniert das. Was passiert eigentlich in der Zeit nach Bill Gates? Was ist, wenn der neue Stiftungsrat andere Schwerpunkte setzt? Wer will denen denn vorschreiben, was sie zu tun und nicht zu tun haben? Niemand! Und das ist der Kern des Problems. Wenn sich demokratisch legitimierte Staaten aus der Verantwortung nehmen, weil sie sagen: „Ja, da sind genug Leute, die sich um die Gesundheit kümmern; da ist genug Geld im System“, dann vergeben wir uns eine Chance.
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Wir werden gebraucht als diejenigen, die das Ganze im Blick haben, die bewusst die Zivilgesellschaft miteinbeziehen, die gezielt mit Partnerländern am Aufbau von Gesundheitsstrukturen, Verwaltungen, sozialen Sicherungssystemen und Infrastrukturen arbeiten, die mit staatlichen Entscheidern auf Augenhöhe zusammenarbeiten, damit die Länder auf der Empfängerseite auch in die Pflicht genommen werden können, die gezielt Forschung finanzieren, um endlich den armutsbedingten und vernachlässigten Krankheiten aktiv etwas entgegenzusetzen,
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und die sich – und das gewinnt immer mehr an Bedeutung – der Tatsache stellen, dass so vieles miteinander zusammenhängt: die Art und Weise, wie wir Tiere halten, dass wir den Tieren ihren Lebensraum rauben und Menschen und Tiere immer näher zueinanderrücken, schlechtes oder schlimmstenfalls gar kein Essen, dreckige Luft, kein Zugang zu sauberem Wasser, stinkende Kloaken, weil es an Sanitäranlagen und Abwassersystemen fehlt, keine Bildung, keine Aufklärung, keine Prävention. Das alles zahlt ein auf die Gesundheit der Menschen. Es geht eben nicht nur um die Bekämpfung von Krankheitserregern.
Immer wenn ich mir diesen Kreislauf vor Augen führe, komme ich zwangsläufig auf die Rolle der Weltgesundheitsorganisation. Sie ist der Dreh- und Angelpunkt in unserem demokratisch legitimierten System. Sie ist die multilaterale Organisation, die die Koordinierungsaufgabe übernehmen muss. Es gibt nur ein Problem: Sie ist schon jetzt für die Aufgaben, die wir als Staatengemeinschaft ihr zugedacht haben, massiv unterfinanziert. Das, was Amerika macht – die Beiträge der USA aus der WHO abzuziehen –, ist absolut fahrlässig. Das ist das genaue Gegenteil von dem, was wir jetzt brauchen.
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Jetzt müssen wir die WHO stärken. Internationale Politik ist doch keine Spielwiese. Meine Güte! Es geht um Millionen Menschenleben. Es geht darum, Millionen von Menschen ein würdiges Leben zu ermöglichen. Diesen Anspruch haben wir doch alle an uns selbst, auch Herr Trump.
Also: Ich habe nichts gegen die Arbeit der Bill & Melinda-Gates Stiftung. Ich habe nichts gegen die Arbeit der globalen Impfallianz GAVI, nichts gegen den Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria; ganz im Gegenteil: Sie alle leisten einen enormen und wichtigen Beitrag zur Bekämpfung von Krankheiten.
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Aber das alleine reicht eben nicht aus, um in den Ländern des globalen Südens Strukturen aufzubauen: Verwaltung, Fachkräfte, Infrastruktur, ein System der sozialen Sicherung, Kühlketten, Apotheken, bezahlbarer Zugang zu medizinischer Grundversorgung für alle.
Die Koalitionsfraktionen haben vieles von dem, was ich hier vortrage, in ihrem Antrag stehen. Was ich aber überhaupt nicht verstehe, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist, weshalb Sie – genauso wie schon beim Wasser-Antrag in der letzten Sitzungswoche – offensichtlich vermehrt auf Sofortabstimmungen bestehen. Ich finde, das ist eine despektierliche Haltung gegenüber der Arbeit und der Aufgabe der Ausschüsse.
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Euren Antrag lehnen wir nicht ab, aber wir hätten ihn gern besser gemacht.
Zum FDP-Antrag. Es gibt einige tatsächlich positive und innovative Ansätze, jawohl.
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Aber viele Dinge sprechen Sie nicht an. An einigen Stellen liegen wir sogar auseinander. Kein Wort zur öffentlichen Gesundheitsversorgung, kein Wort zur Stärkung der WHO! Stattdessen wollen Sie Parallelstrukturen schaffen.
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Und Ihren Antrag werden wir deswegen ablehnen.
Vielen Dank.
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Jetzt hat das Wort der Kollege Hermann Gröhe, CDU/CSU.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Maßstab unseres politischen Handelns ist die Nachhaltigkeitsagenda, die Agenda 2030, der Vereinten Nationen. Das gilt für die Politik insgesamt – das haben wir auch bewusst in unseren Koalitionsvertrag geschrieben –, das gilt aber in besonderer Weise auch für die Entwicklungspolitik, für die Politik im Bereich der wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Es ist schon darauf hingewiesen worden, an welch zentraler Stelle in den 17 Nachhaltigkeitszielen – in Ziel 3 – Gesundheit und Wohlergehen für alle Menschen zum Ziel einer nachhaltigen Entwicklung erklärt werden. Ich möchte es so zusammenfassen: Entwicklung braucht Gesundheit. Das wissen wir schon vom Leben des einzelnen Menschen. Schwere gesundheitliche Beeinträchtigungen können die Chancen der körperlichen und geistigen Entwicklung, die Chancen auf Bildung und Ausbildung, auf Arbeit und auf ein selbstbestimmtes Leben nachhaltig beeinträchtigen. Das gilt vor allen Dingen – und das ist die Not in so vielen armen Ländern der Welt –, wenn schwere gesundheitliche Beeinträchtigungen in frühen Lebensjahren Menschen im Hinblick auf ihre Entwicklungschancen zurückwerfen.
Mich hat es sehr bewegt, als ich vor einigen Monaten in Äthiopien ein Krankenhaus besucht habe, in dem – mithilfe der Christoffel-Blindenmission – eine Früherkennung von Hörbeeinträchtigungen und eine rechtzeitige Behandlung darauf zielen, Menschen ein Leben zu ersparen, in dem die Hörbeeinträchtigung zu Bildungsunfähigkeit und dies zum Nichtfinden eines Platzes in der Arbeitswelt führt, und zu sehen, welcher Segen diese konkrete Hilfe für die Menschen, bei denen eine Krankheit rechtzeitig erkannt und wirkungsvoll behandelt werden kann, bedeutet.
Aber der Grundsatz „Entwicklung braucht Gesundheit“ gilt nicht nur für das einzelne Leben. Er gilt auch für Staaten und Volkswirtschaften. Wir haben in Westafrika nach der Ebolakrise und in so vielen anderen Gesundheitskrisen gesehen, wie die soziale, wie die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes dramatisch zurückgeworfen werden kann, weil die Lasten einer Krankheitsentwicklung, die keinem Gesundheitswesen begegnet ist, so schwerwiegend sind. Deswegen ist es gut, jetzt konkret den Ländern zu helfen, die in besonderer Weise unter der Pandemie leiden. Wenn zu Recht darauf hingewiesen wird, dass es dramatische Schäden durch die Gefährdung von Impfprogrammen, durch andere Krankheiten wie Malaria und durch die dramatische Zunahme von Hunger auch infolge der Maßnahmen rund um die Pandemie gibt, dann will ich ausdrücklich sagen: Das sind schreckliche Folgen der Pandemie. Sie dürfen aber nicht missbraucht werden, um die Gefährdung durch die Pandemie zu leugnen. Das ist geradezu absurd, was wir hier in Teilen erleben.
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Es ist richtig, dass das BMZ schnell gehandelt hat und 1 Milliarde Euro zugunsten der Pandemiebekämpfung umgeschichtet hat, aber auch andere Schäden in den Mittelpunkt der nächsten Anstrengungen rückt. Deswegen unterstützen wir nachdrücklich das Ansinnen des BMZ, zusätzlich 3 Milliarden Euro für die Pandemiebekämpfung zur Verfügung zu stellen und die umfassenden Folgen dieses Geschehens zu lindern. Das ist ein richtiger Schritt. In dieser Situation mit Stimmungsmache gegen Entwicklungshilfe zu operieren, ist schäbig.
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Wer bei einer Pandemie auf nationale Abschottung setzt, hat vor allen Dingen das Wesen einer Pandemie nicht verstanden. Das gilt in diesem Haus und anderswo.
Lassen Sie mich deutlich etwas zur WHO sagen. Es ist gut ein Jahr her, dass wir in diesem Haus den Generaldirektor der WHO, Dr. Tedros, im Fraktionssaal der CDU/CSU bei einem Kongress zur globalen Gesundheit begrüßen durften. Wir bekennen uns ausdrücklich zur Arbeit der WHO. Jens Spahn hat dafür gesorgt, dass kurzfristig deutlich mehr Gelder auch für aktuelle Herausforderungen zur Verfügung gestellt werden. Dies ist ebenso wichtig wie die zusätzlichen Mittel aus dem Forschungsressort für die Impfstoffsuche. Das zeigt: Ressortübergreifend treibt diese Bundesregierung eine richtige Antwort auf die Krise voran, meine Damen, meine Herren.
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Wer immer die WHO kritisiert, muss vor allen Dingen eines wissen: Dann muss unser gemeinsames Ziel eine stärkere, eine bessere, ja auch eine besser finanzierte WHO sein.
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Meine Damen und Herren, lassen Sie mich angesichts der in der Tat verstörenden Position gegen Multilateralismus auch in der amerikanischen Administration sagen: Wir sehen gleichzeitig beim Globalen Fonds und in der WHO sowie in vielen anderen Bereichen großartige amerikanische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, mit denen uns die Überzeugung eint, dass eine globale Herausforderung eine globale Antwort verlangt. Dies eint auch die allermeisten in diesem Haus, und das ist ein starkes Stück Gemeinsamkeit für eine Führungsrolle unseres Landes in der globalen Gesundheitspolitik.
Herzlichen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Paul Podolay, AfD.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die globale Gesundheit und somit auch die Weltgesundheitsorganisation sind nicht erst seit der Covid-19-Pandemie in der Krise. Ein großes Problem sind die Finanzierung, viel zu geringe Pflichtbeiträge der Staaten an die WHO und somit zusammenhängende Interessenkonflikte. Im Jahresbudget der WHO von etwa 2,2 Milliarden US-Dollar machen 80 Prozent größere Spenden von Unternehmen aus, insbesondere aus der Pharmabranche. Dadurch ist die WHO seit 2001 in die Arme der Industrie getrieben worden, wodurch die Neutralität der WHO gefährdet ist.
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Die Staatengemeinschaft soll die privaten Interessen in der WHO zurückdrängen, die WHO anständig finanzieren und auch demokratisieren. Solche Forderungen finden wir im Antrag der Koalitionsfraktionen leider nicht. Die Koalitionsfraktionen gehen auf die Kritikpunkte aus vielen Mitgliedstaaten gar nicht ein. Wir sehen keine Bereitschaft der Bundesregierung, die WHO-Strukturen wirklich zu reformieren. Auch die sogenannte Opposition in diesem Haus, die Grünen, die Linken und die FDP, macht mit. Was hat die Thematik „reproduktive und sexuelle Gesundheit“ im Antrag der Grünen mit der aktuellen Krise zu tun?
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Sie alle sind weit entfernt von den realen Problemen unserer Bürger.
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Meine Damen und Herren, die WHO wird von der Pharmaindustrie exzessiv beeinflusst, die sehr geschickt ist bei der Manipulation von Gesundheitsausgaben
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zugunsten eigener finanzieller Interessen. Unter die privaten Geldgeber fällt auch die Globale Allianz für Impfstoffe, GAVI, die durch die Gates Foundation finanziert wird.
In den vergangenen Jahren hat China seinen Einfluss auf die WHO systematisch ausgebaut. Der Einfluss der kommunistischen Führung auf die WHO zeigt sich etwa an der Wahl des China-freundlichen Generaldirektors. Wochenlang spielte der WHO-Chef die Gefahren des Coronavirus herunter. Wie konnte ein Ex-Kader einer kommunistischen Partei in Äthiopien zum Wächter über die Gesundheit von über 7 Milliarden Menschen aufsteigen? Unerhört!
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– Schreien Sie nicht!
Eine wichtige Grundlage soll die Erkenntnis sein, dass Gesundheit im Wesentlichen von sozialen Faktoren bestimmt wird:
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von der Ernährung, der Bildung und dem Zugang zum sauberen Wasser. Sie spielen für das Wohlbefinden eine viel größere Rolle als kurative Angebote, also Krankenhäuser, Medikamente, Impfungen. Das ist der eigentliche Skandal: eine Refeudalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse.
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Es ist Zeit, die WHO zu stärken, nicht nur mit Geld, sondern auch mit Einfluss. Die Bundeskanzlerin sagte während der Jahrestagung des Weltwirtschaftsforums 2020 in Davos der globalen Impfallianz GAVI, die an der dritten Stelle der Finanziers der WHO steht, weitere 600 Millionen Euro zu. Es reicht!
Herr Kollege Podolay.
Wir lehnen den Antrag der Koalitionenfraktionen sowie die Anträge der übrigen Fraktionen ab.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Dr. Karamba Diaby, SPD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Dr. N’Dilta beginnt seinen Dienst bereits um 6 Uhr morgens, macht dann seine Visite, und im Anschluss gibt es drei bis vier Operationen. Dr. N’Dilta ist leitender Arzt in einem Krankenhaus, das im Umkreis von 72 Kilometern und in einem Einzugsgebiet von 100 000 Menschen das einzige ist. Das Krankenhaus liegt in einem kleinen Ort namens Koyom in der Republik Tschad. Weltweit zählt der Tschad zu den Ländern mit der geringsten Ärztedichte. Auf 20 000 Patientinnen und Patienten kommt eine Ärztin bzw. ein Arzt. Zum Vergleich: In Deutschland ist das Verhältnis 238 : 1. Neben all den Gesundheitsproblemen in normalen Zeiten kommt nun das Coronavirus dazu.
Sehr geehrte Damen und Herren, reiche Länder haben gut ausgebaute Gesundheitssysteme, moderne Labore, Forschungsinstitute sowie gut ausgebildetes Personal. In vielen anderen Ländern ist es sogar in normalen Zeiten schwierig, die Gesundheit der Bevölkerung sicherzustellen. Machen wir uns nichts vor: Das Coronavirus ist zwar für alle gefährlich, doch trifft es die Menschen am stärksten, die auch schon vorher unter prekären Bedingungen und schlechten hygienischen Verhältnissen gelebt haben. Die Frage ist: Was können wir also tun? Ich konzentriere mich auf zwei Punkte.
Erster Punkt. Das Engagement der Bundesregierung im Bereich der Wissenschafts- und Forschungsförderung muss ausgebaut werden, um einen gerechten Zugang zu Medikamenten und Impfstoffen zu ermöglichen. Dabei müssen wir die vorhandene Expertise in der Gesundheitsforschung sowie bei der Translation nutzen. Wir wollen im Rahmen der EU-Präsidentschaft und zusammen mit internationalen Partnern gemeinsam einen gerechten Zugang zu Medikamenten und Impfstoffen für alle und vor allem für benachteiligte Bevölkerungsgruppen ermöglichen und Produktionskapazitäten im globalen Süden aufbauen.
Zu meinem zweiten Punkt. Die WHO wurde mehrfach erwähnt. Sie ist mehr denn je eine wichtige Organisation für die weltweite Gesundheitsförderung. Deshalb freue ich mich, dass wir weltweit darauf hinwirken wollen, dass die Pflichtbeiträge erhöht werden.
Meine Damen und Herren, ich persönlich verbinde viel mit der WHO. Als ich ein Kind war, gab es Impfaktionen gegen Pocken, und die ganze Region profitierte davon. Ich bin dankbar dafür, dass die WHO die Pocken in der ganzen Welt erfolgreich bekämpft hat.
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Meine Damen und Herren, Gesundheit ist ein Menschenrecht – das wurde von meiner Kollegin Heike Baehrens auch schon gesagt –, und die Gesundheit aller Menschen weltweit muss vor dem Gewinnstreben Einzelner stehen. Dr. N’Dilta sagte einmal: Wenn man sieht, wie sehr die Epidemie Europa trotz aller seiner Möglichkeiten erschüttert hat, mache ich mir schon große Sorgen. – Ich hoffe, dass ich ihm bald sagen kann: Machen Sie sich weniger Sorgen. Europa hat verstanden, und Solidarität ist keine weitere Option für uns, sondern der einzige Weg in einer globalisierten Welt.
Danke schön.
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Sobald das Mikrofon gerichtet ist, erhält das Wort der Kollege Jens Beeck, FDP.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Das Schöne an der heutigen Debatte ist: Es eint jedenfalls die 90 Prozent des Hauses, die sich ernsthaft an dieser Debatte beteiligen, der Wunsch nach einer Ertüchtigung der Weltgesundheitsorganisation. Es gilt, sie stärker zu machen in den Belangen der globalen Gesundheit, und dem dienen unterschiedliche Anträge von allen Fraktionen, die sich daran beteiligen.
Da gibt es Kleinigkeiten, wo wir nicht einer Meinung sind, Frau Kollegin Schreiber. Wir wollen jetzt gar nicht das öffentliche Gesundheitssystem in Haiti oder Nicaragua mit unserem vergleichen; aber auch im Vergleich zu dem in Großbritannien, glaube ich, sind wir gut aufgestellt. Von daher haben wir in Kleinigkeiten unterschiedliche Akzente. Aber wir sind uns einig, dass wir uns als Deutsche am Multilateralismus und an der Stärkung dieser Organisation beteiligen wollen.
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Und deswegen, Herr Kollege Gröhe, bin ich total glücklich, dass Sie gerade gesagt haben, was heute Nacht noch passiert sein muss; denn Sie sprachen von deutlichen Mittelaufstockungen für die WHO durch uns. Gestern habe ich sie noch nicht finden können, bin aber froh, dass Sie gerade angekündigt haben, dass der Bundesgesundheitsminister Spahn das in Kürze nachholen wird und uns das dann auch mitteilt. Da sind wir einer Meinung.
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Nur ist das wie so vieles in dem Antrag von CDU/CSU und SPD, der ja überhaupt bemerkenswert ist: Es sind acht Seiten, fünf Seiten davon mit dem Inhalt: Wir begrüßen, wie toll wir schon waren. – Nicht alles davon wussten alle anderen vorher auch schon; das will ich ganz offen sagen. Und dann kommen zwei, drei Seiten, wo Sie zu Recht sagen, was wir eigentlich noch machen müssen, also beispielsweise in der Entwicklungszusammenarbeit – das haben Sie ausdrücklich als eigene Forderung hineingeschrieben – für die Grundertüchtigung der Gesundheitssysteme in unseren Partnerländern Sorge zu tragen.
Und ohne das der WHO vorzuwerfen, wissen alle, sagen alle Experten, ist noch in der vorletzten Sitzung von externen Experten bei uns im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit mitgeteilt worden: Das ist gerade die Stärke der WHO nicht. Die WHO ist stark in anderen Bereichen, auch in konkreter Krankheitsbekämpfung. Aber die grundsätzliche breite Ausgestaltung eines vernünftigen Gesundheitssystems als Basisversorgung in Ländern zu implementieren, ist ihre Stärke nicht, sondern das findet derzeit im Wesentlichen über bilaterale Entwicklungszusammenarbeit statt.
Dann reden Sie darüber, dass Sie das stärken wollen, und zeitgleich sagt „BMZ 2030“: Wir nehmen das bei mindestens 25 Ländern zurück. – Sehen wir uns einmal an, welche das eigentlich betrifft. In Nicaragua – ist vorhin angesprochen worden – ist der Großteil der Hygieneinfrastruktur – Abwasser, Frischwasser, auch Energie –, übrigens genauso wie in Haiti, durch deutsche bilaterale Entwicklungszusammenarbeit entstanden. „BMZ 2030“ streicht diese Länder komplett heraus.
Ich freue mich, Herr Kollege Annen, wenn ich Sie sehe. Als im Mai 2019 für Mittelamerika/Karibik von Ihnen und dem Bundesaußenminister Maas ein neuer Impuls gesetzt wurde, hat mich das als Mitglied der Parlamentariergruppe sehr gefreut. Aber wenn zeitgleich oder wenige Wochen und Monate später, Herr Barthle, der Bundesminister Müller alle diese Länder aus der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit herausnimmt, dann hat das mit Kohärenz nichts zu tun; es hat nichts damit zu tun, dass wir uns darauf kaprizieren, deutlich die Gesundheitssysteme, die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit zu stärken, solange die WHO das noch nicht kann.
Deswegen: Herzlichen Dank für Ihren schönen Antrag; aber wir würden uns darüber freuen, wenn Sie auch etwas mehr tun als nur ankündigen würden.
Vielen Dank, Herr Präsident.
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Nächster Redner ist der Kollege Rudolf Henke, CDU/CSU.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Um diesen Punkt, lieber Kollege Beeck, aufzugreifen: Deutschland hat als eines der ersten Länder einen Beitrag zu dem Corona Emergency Fund geleistet und hat bei insgesamt 670 Millionen Euro Finanzierung mit den aus Deutschland stammenden 50 Millionen Euro den höchsten nationalen Beitrag geleistet. Das hat der Bundesgesundheitsminister entschieden und Geld vom Haushaltsausschuss dafür eingeworben, gleich nach der Vorstellung des Plans der WHO. Deswegen wäre es vielleicht gut, dass Sie, bevor Sie Herrn Gröhe widersprechen, der mit Recht Herrn Spahn gelobt hat, mit Ihren eigenen Haushältern darüber reden.
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Aber das nur zu der Frage, wie die Koalition handelt und wie das bewertet wird.
Manchmal hat man das Gefühl: Wir tun so viel Ordentliches und Vorzeigbares, dass wir manchmal wirklich einen Stau dabei haben, das alles zu vermitteln und herüberzubringen.
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Deswegen ist man froh, dass eine solche Diskussion auch dafür eine Möglichkeit gibt. Also: Herzlichen Dank, Jens Spahn, und herzlichen Dank, Hermann Gröhe, dass du es hier gesagt hast.
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„Globale Gesundheit beginnt bei uns“, so lautet das Motto einer Wanderausstellung von action medeor, dem größten Medikamentenhilfswerk Europas. Wenn ich die Arbeit in unserem Unterausschuss Globale Gesundheit in seinen nun zwei Jahren und die heutige Debatte betrachte, dann muss ich sagen: Es könnte kein besseres Motto geben.
Aktuell haben wir mit der Coronapandemie ein Beispiel, auf das wir natürlich alle gerne verzichtet hätten. Gleichwohl belegt diese globale Pandemie, sie macht wie in einem Brennglas deutlich, wie richtig und wichtig der Weg war, den die Bundesregierung nicht erst nach dem Ebolafieberausbruch ab 2014 in Westafrika international forciert hat. Wir erleben, dass das, was wir damals vermisst haben und was damals richtig war und was seitdem auf den Weg gebracht wurde, heute wieder richtig ist.
Die Bedeutung, die globale Gesundheitspolitik erfährt, das Gewicht, das ihr die Staaten beimessen, hat auch viel mit deutschem Handeln in staatlichen Entscheidungen zu tun, wenn ich etwa an das Konzept der Bundesregierung „Globale Gesundheitspolitik gestalten – gemeinsam handeln – Verantwortung wahrnehmen“ aus dem Juli 2013 denke, wenn ich etwa an das außerhalb der Politik entwickelte Deutsche Netzwerk gegen vernachlässigte Tropenkrankheiten aus dem Jahr 2014 denke und wenn ich vor allen Dingen an die deutsche Präsidentschaft beim G-7-Treffen 2015 und ebenso im Kreis der G 20 in 2017 denke. Ich glaube, auch das ist ein Beispiel, bei dem wir gezeigt haben, dass wir das Thema „globale Gesundheit“ bei uns sehr ernst nehmen.
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Ich will ein Beispiel für globale Gesundheit bei uns nennen: den Einsatz von Antibiotika. In der deutschen Human- und Veterinärmedizin sehen wir gute Fortschritte im verantwortungsvolleren und zurückhaltenderen Einsatz. Aber unsere Verantwortung zur globalen Vermeidung von Resistenzen bleibt zugleich enorm. In der letzten Sitzungswoche haben wir hier Forderungen zur Wasser- und Sanitärversorgung beschlossen, und das Abwassermanagement, etwa in Entwicklungsländern, zeigt die 360-Grad-Bedeutung des Ansatzes von „Health in All Policies“.
Oder ein zweites Beispiel: Im September 2019 berichteten die Medien: Erstmals ist in Deutschland eine Infektion mit dem West-Nil-Virus beim Menschen festgestellt worden. Schon 2018 wurden erstmals Infektionen bei Vögeln und Pferden nachgewiesen. – Also: Klimaveränderungen werden die Ausbreitung tropischer Infektionskrankheiten verändern und verlagern; sie werden auch unser Gesundheitssystem vor neue Anforderungen stellen. Sowohl das West-Nil- als auch das Coronavirus verdeutlichen in unterschiedlicher Dimension, dass eine enge Zusammenarbeit von Human- und Veterinärmedizin nötig sein wird.
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Ich glaube nicht, dass die WHO die einzige Organisation ist, die Bedeutung hat; es ist vielfach gesagt worden. Aber ich rate auch davon ab, dort den Eindruck zu erwecken, als wäre das nun eine Konkurrenz. Da die WHO die Organisation der Staaten ist, muss sie natürlich eine koordinierende Rolle wahrnehmen. Sie ist aber in ihrem legitimatorischen Unterbau natürlich auch von der unterschiedlichen Systematik von 194 unterschiedlichen Staaten geprägt, und das sind nicht alles Staaten, die so organisiert sind wie Deutschland, die so viel Wert auf Teilung von Macht legen.
Gerade deswegen ist es, glaube ich, wichtig, dass auch andere Ansätze wie GAVI, wie der Globale Fonds, wie die Bill & Melinda Gates Stiftung und wie andere Stiftungen ihren Beitrag beisteuern. Darüber sollten wir uns nicht erhaben zeigen und daran herummosern, sondern wir sollten dafür dankbar sein und gleichzeitig die Konsequenz ziehen, dass es richtig ist, die WHO zu stärken.
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Abschließend, liebe Kolleginnen und Kollegen, möchte ich aus einer Rede der Bundeskanzlerin zitieren, die sie am 8. Mai 2019 auf dem Kongress unserer Fraktion „Globale Gesundheit stärken – UN-Nachhaltigkeitsziel umsetzen“ gehalten hat. Da formuliert sie:
Abschließend möchte ich sagen, dass ein gesundes Leben für jeden Menschen auf der Welt möglich sein sollte. Auch in ärmeren Ländern muss der Zugang zu einer funktionierenden Gesundheitsversorgung gelingen. Mit der Agenda 2030 sind wir eine starke Verpflichtung eingegangen. Uns verpflichtet aber nicht nur das Schriftstück, sondern vor allem das Gebot der Menschlichkeit. Mit vereinten Kräften können wir sehr viel bewegen.
Zitat Ende – Rede Ende.
Ich danke Ihnen.
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Jetzt hat das Wort die Kollegin Claudia Moll, SPD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Viren und Krankheiten machen an Grenzen nicht halt – klingt eigentlich logisch, aber anscheinend nicht für jeden.
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Deutschland hat nicht erst seit Covid-19 eine Vorreiterrolle in der globalen Gesundheitspolitik eingenommen, und daher stehen die Gesundheitsthemen auf der Agenda für unsere EU-Ratspräsidentschaft in diesem Jahr weit oben.
So richtig die Maßnahmen der EU auch sind: Wir müssen die Anstrengungen aller Akteure bündeln, um die geeinte Kraft der Nationalstaaten wie auch der EU-Institutionen nutzen zu können.
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Das enorme Potenzial, das in der Europäischen Union liegt, wollen wir ausschöpfen, indem wir einen Global-Health-Koordinator schaffen, bei dem die verschiedenen Bereiche globaler Gesundheit zusammenlaufen.
Gleichzeitig braucht es nicht nur eine nationale Gesamtstrategie, sondern eine aktualisierte Ratsschlussfolgerung der EU. Sie muss den Health-in-All-Policies-Ansatz entschlossen verfolgen und das Menschenrecht auf Gesundheit weltweit durchsetzen.
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Dazu braucht es nicht nur die Aktualisierung, sondern darauf aufbauend auch einen Aktionsplan mit Überprüfungsmechanismen. Wir bringen die Akteure zusammen, geben ihnen eine koordinierte Kopfstelle und einen Leitplan. So machen wir mit der EU globale Gesundheit erst möglich.
Wir übernehmen in diesem Jahr nicht nur die EU-Ratspräsidentschaft, sondern befinden uns auch mitten im Jahr der Pflegekräfte und Hebammen. Dieses so wichtige Jahr darf sowohl national als auch international nicht in Vergessenheit geraten, wo doch momentan das medizinische Personal weltweit Übermenschliches leistet. Eine qualitativ hochwertige Ausbildung und gute Arbeitsbedingungen sind der Schlüssel, um universelle Gesundheitsversorgung zu ermöglichen.
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Weltweit sind circa 70 Prozent der Gesundheitsfachkräfte Frauen. Sie müssen in unseren Fokus rücken; denn Frauen tragen das Gesundheitssystem weltweit.
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Deshalb verdienen sie es auch, geschützt zu werden. Wir machen uns auf allen Ebenen dafür stark, dass Frauen selbstbestimmt über Familienplanung entscheiden können. Wir setzen uns dafür ein, dass jede Schwangere medizinische Versorgung erhält und ihr Kind in Sicherheit gebären kann. Wir treiben voran, dass auch in Krisenzeiten der Zugang zum Gesundheitssystem sichergestellt ist. Insbesondere Dienstleistungen wie Krebsvorsorge, Zugang zu Verhütungsmitteln oder Hilfe bei sexueller Gewalt dürfen dabei nicht untergehen.
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Dazu sind wir seit Jahren einer der größten Geber, um Initiativen in diesem Bereich zu unterstützen. Wir bringen ressortübergreifende Gesundheitspolitik in der bi- und multilateralen sowie der Entwicklungszusammenarbeit voran und setzen Frauen- und Müttergesundheit als Thema. Wir wollen globale Gesundheitsdiplomatie verankern und neue Partner dafür gewinnen.
Mit diesem Antrag bauen wir auf den bisherigen Fortschritten auf, stärken die Zusammenarbeit, vernetzen uns noch enger mit unseren Partnern, setzen das Thema prominenter auf die Agenda und stellen die globale Gesundheitspolitik breiter auf. Ich bin für den Bundestag angetreten, um mich für die Menschen im Gesundheitswesen starkzumachen. Dieser Antrag legt den Grundstein, um die vielen Akteure und die Mittel so zu organisieren und zu bündeln, dass wir zielgerichtet Menschen weltweit ein Leben in Gesundheit ermöglichen.
Danke schön.
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Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Stephan Pilsinger, CDU/CSU.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Welt befindet sich in einer der schwersten gesundheitlichen Krisen unserer Zeit. Ich begrüße es daher sehr, dass wir heute über das Engagement Deutschlands für die globale Gesundheit sprechen. Weil wir in dieser Krise in Deutschland bisher richtig gehandelt haben, konnten wir eine Überlastung unseres Gesundheitssystems durch das Coronavirus verhindern, und weil wir in dieser Krise richtig gehandelt haben, haben wir freie Kapazitäten, die wir aktuell nicht benötigen. Deshalb können wir jetzt anderen Nationen helfen.
Ich bin sehr dankbar, mit diesem Antrag ein Zeichen zu setzen, das Zeichen, dass uns das Schicksal der Menschen in anderen Ländern nicht egal ist. Wir als Christdemokraten und Christsoziale sind der festen Überzeugung, dass jedes Leben unabhängig von Ethnie, Geschlecht oder Religion gleich viel wert ist. Deshalb wollen wir dabei mithelfen, so viele menschliche Leben wie irgend möglich zu retten;
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denn Gesundheit ist ein Menschenrecht.
Werte wie Solidarität, Zusammenhalt und Hilfsbereitschaft rücken in diesen Zeiten wieder mehr in den Vordergrund. Wichtig ist für mich hierbei besonders die europäische Solidarität. Gerade in dieser Zeit zeigt sich der wahre Wert der Europäischen Union. Wir machen als CDU/CSU deutlich: Die Europäische Union ist kein Kostenfaktor oder reiner wirtschaftlicher Absatzmarkt für unsere Produkte; Europa ist eine Schicksalsgemeinschaft. Wir wollen uns dafür einsetzen, dass auch die anstehende EU-Ratspräsidentschaft dafür genutzt wird, zielführende Initiativen anzustoßen, um mit Nachdruck an einer aktualisierten Strategie zur globalen Gesundheitspolitik zu arbeiten.
International war die Coronakrise bisher oft geprägt von nationalen Egoismen, geprägt vom verständlichen Kampf für die eigene Bevölkerung um beschränkte Ressourcen wie Masken, Medikamente oder Beatmungsgeräte. Oft blieben die schwächsten Länder bei diesem Wettbewerb auf der Strecke. Vielfach fehlt es deshalb dort an stationären Behandlungskapazitäten für schwerst erkrankte Patienten.
Die Weltgesundheitsorganisation warnt, dass die Subsahara-Region zum nächsten Epizentrum der Coronapandemie werden könnte. 300 000 Tote, 30 Millionen Hungernde – so die nüchtern klingende Schätzung. Mich haben diese Zahlen erschreckt, vor allem, weil man davon in den Medien wenig wahrnimmt.
Wenn wir eines aus der Migrationskrise von 2015 gelernt haben sollten, dann das: Nichtstun ist keine Option. Katastrophen in anderen, vermeintlich weit entfernten Ländern haben plötzlich eine ganz reale Auswirkung auf uns. Deshalb bin ich der festen Überzeugung, dass wir jetzt die Probleme der Menschen vor Ort lösen müssen, damit diese Probleme nicht zu uns kommen.
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Unser Ziel muss es sein, auf weltweite Gesundheitsrisiken ganzheitlich vorbereitet zu sein und mithilfe eines effizienten, globalen Gesundheitskrisenmanagements zielführend reagieren zu können.
Auch durch Innovation kann Deutschland einen entscheidenden Beitrag zur weltweiten Gesundheit leisten. Wir haben in Deutschland großartige Forscherinnen und Forscher. Für uns gilt auch in der Coronakrise ganz klar: Wenn ein Impfstoff in Deutschland erfunden wird, sagen wir nicht „Deutschland first“, sondern dann werden wir diesen Coronaimpfstoff der ganzen Welt zur Verfügung stellen.
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Meine Damen und Herren, ein Sprichwort besagt: Wer schnell hilft, hilft doppelt. Deshalb erfüllt es mich mit Stolz und Dankbarkeit, dass deutsche Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegekräfte schnell und unkompliziert französischen Coronapatienten geholfen haben, als das dortige Gesundheitssystem zu kollabieren drohte. Ich danke allen, die dieses greifbare Zeichen der deutsch-französischen Freundschaft möglich gemacht haben.
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Jetzt ist es Zeit, erneut ein solches Zeichen der Humanität, Solidarität und auch Freundschaft auszusenden. Ich glaube, dass globale Krisen eine Chance sind, Brücken zu bauen, Brücken zu bauen über außenpolitische Differenzen und gegenseitige Vorurteile hinweg. Deshalb unterstütze ich Ministerpräsident Kretschmer mit seiner Forderung, dass wir auch Russland unsere Hilfe anbieten sollten. Über 370 000 Menschen in Russland wurden bis heute positiv auf das Coronavirus getestet. Fast 4 000 Menschen sind bereits daran verstorben, und jeden Tag kommen Tausende neue Fälle hinzu. Helfen wir Russland, wie wir Frankreich geholfen haben: schnell, unbürokratisch und effizient.
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Heute können wir ein Signal senden: Lassen Sie uns die Werte Solidarität, Zusammenhalt und Hilfsbereitschaft aktiv leben und damit unseren Beitrag zur Bewältigung weltweiter gesundheitlicher Krisen leisten!
Vielen Dank.
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Damit schließe ich die Aussprache.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Vor drei Wochen sprachen wir hier über das Urteil des Verfassungsgerichts zu EZB-Tätigkeiten. Damals hatte die EZB über ihr völlig neues Pandemie-Anleihekaufprogramm PEPP etwa 100 Milliarden Euro ausgegeben und dabei weit überproportional riskante Anleihen des EU-ropäischen Südens gekauft. Heute, nur 15 Handelstage später, sind es bereits knapp 200 Milliarden Euro. Alleine während unserer einstündigen Debatte heute hier gibt die EZB über PEPP eine halbe Milliarde Euro aus.
Das laufende Programm von über 750 Milliarden Euro wird im Herbst ausinvestiert sein, eventuell auch früher; denn die EZB hat bereits für den Juni eine Beschleunigung und auch eine Ausweitung in den Billionenbereich angekündigt. Die sicheren Abschreibungen darauf sind neue deutsche Schulden und Steuern von morgen.
Räumen wir mit einigen Mythen auf: Das Urteil sagt doch nichts über monetäre Staatsfinanzierung. – Doch, genau das tut es; gleich in Leitsatz 7 und auf vielen Seiten danach werden vom Gericht sieben Kriterien für monetäre Staatsfinanzierung dekliniert. PEPP erfüllt mindestens drei davon – mindestens! –, wie am Montag auch die Sachverständigenanhörung zeigte. Ein Sachverständiger, wohlgemerkt ein von links bestellter, sprach es völlig eindeutig aus: Natürlich ist PEPP monetäre Staatsfinanzierung. – Das war ein Zitat. Und damit ist es rechtswidrig.
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Auch das bundestagseigene EU-Referat stellt fest, PEPP beachte nicht die Kriterien des BVerfG für die Grenzen der monetären Staatsfinanzierung.
Weitere Mythen; alles hier schon gehört – Zitat –: „Nationale Institutionen dürfen nicht in das Primat der EU-ropäischen eingreifen“ oder: „Das Urteil ist nicht auf PEPP anwendbar“ oder: „Die EZB ist unabhängig und darf nach Artikel 130 AEUV keine Weisungen entgegennehmen“. All das ist widerlegbar. EU-Recht steht nicht grundsätzlich über nationalem Recht. Einen Vorrang kann es nicht geben, wenn EU-Organe die ihnen von den Mitgliedstaaten des Staatenbunds EU zugewiesenen Kompetenzen überschreiten. Genau diese Überschreitung ist im PSPP-Urteil festgestellt, und das gilt für PEPP erst recht.
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Unser Grundsatz-Referat PE 2 stellt zutreffend fest, die Befassungspflicht des Bundestags beschränke sich nicht auf PSPP, sondern umfasse sämtliche geldpolitischen Entscheidungen im ESZB. Die Unabhängigkeit der Zentralbank besteht selbstverständlich ebenfalls nur im Rahmen der Kompetenzen, die die EU-Verträge der EZB zuweisen, und bei PEPP sind diese eindeutig überschritten; wir wissen das inzwischen ganz klar.
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Unser Antrag ist bewusst an die Bundesbank gerichtet. Das ist ungewöhnlich, ja, aber das ist unsere deutsche Anteilseignerin der EZB. Artikel 130 AEUV – um das ganz sicher gleich kommende Argument vorwegzunehmen – verbietet nur der Regierung, direkt auf die Zentralbank einzuwirken. Der Bundestag dagegen darf das sehr wohl. Zudem beantragen wir hier ja keine explizite Weisung durch den Bundestag, sondern wir fordern die Bundesbank auf. Dieses Recht hat der Bundestag in jedem Fall. Gemäß Urteil müssen wir sogar tätig werden.
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Und wir müssen das – Zitat aus dem Urteil – zur „Wiederherstellung vertragskonformer Zustände“. Es ist ein Muss, es ist eine klare Aufforderung.
PEPP läuft bereits auf Hochtouren. In nur acht Wochen wurden darüber Anleihen über 200 Milliarden Euro gekauft. 5 Milliarden Euro an jedem Handelstag! Wenn wir nun wiederum Jahre warten, bis schließlich das sichere Urteil des BVerfG zur Verfassungswidrigkeit von PEPP kommen wird, dann wird Deutschland ein hoher Billionenschaden entstanden sein. Selbstredend ist damit das Haushaltsrecht des Bundestags gemäß Artikel 110 des Grundgesetzes und damit unsere Souveränität berührt. Wir haben nicht nur die gerichtliche Vorgabe, dies zu verhindern, sondern vor allem die ökonomische und haushaltsgesetzliche Pflicht.
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Nach den allerneuesten Pressemitteilungen und ‑meldungen plant die EZB inzwischen bereits eine Umsetzung ihrer Anleiheprogramme
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ohne die Bundesbank. Frau Lagarde erkennt offenbar endlich die deutsche Rechtslage. Sie, liebe Kollegen, sollten sie nun auch erkennen.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Eckhardt Rehberg, CDU/CSU.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen! In welchem Rechtsrahmen bewegen wir uns überhaupt bei diesem Antrag? Weil ganz offenkundig weder der Kollege Peter Boehringer noch der Rest der AfD lesen kann, zitiere ich einmal den Artikel 88 des Grundgesetzes:
Der Bund errichtet eine Währungs- und Notenbank als Bundesbank. Ihre Aufgaben und Befugnisse können im Rahmen der Europäischen Union der Europäischen Zentralbank übertragen werden,
– jetzt hören Sie gut zu! –
die unabhängig ist und dem vorrangigen Ziel der Sicherung der Preisstabilität verpflichtet.
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Ich könnte mir das jetzt relativ einfach machen und sagen: Der Antrag fordert zum Verfassungsbruch auf, und darum ist er abzulehnen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, solange ich im Deutschen Bundestag bin – seit 2005 –, kann ich mich nicht zurückerinnern, dass sich eine Fraktion im Deutschen Bundestag erdreistet hat,
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die Deutsche Bundesbank zu irgendwas aufzufordern. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie diesen Antrag wirklich ernst meinen und sich ernsthaft auf dem Boden des Grundgesetzes bewegen, dann kann ich Ihnen nur raten: Ziehen Sie den Antrag zurück, damit wir gar nicht mehr darüber debattieren brauchen!
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Es gibt kein Weisungsrecht – von niemandem übrigens – gegenüber der Bundesbank,
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weder von der Bundesregierung noch vom Deutschen Bundestag noch von sonst wem.
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Ein Blick in die Geschichte zeigt: Es war eine große Errungenschaft von Helmut Kohl und Theo Waigel, dass die Unabhängigkeit, die Struktur der Deutschen Bundesbank in den 90er-Jahren auf die Europäische Zentralbank übertragen worden ist. Und wenn Sie sich einmal die Geschichte Deutschlands oder auch die Geschichte Europas ansehen und feststellen, wie schädlich politische Einflussnahme in der Geldpolitik ist, dann darf ich zurückerinnern an die 20er-Jahre im Deutschen Reich und die 70er-, 80er-Jahre in Italien.
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Deswegen ist die Konstruktion „Bundesbank unabhängig und EZB unabhängig“ eine richtige und gute Konstruktion für Deutschland und für Europa.
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Herr Kollege Boehringer, ich wusste gar nicht, dass Sie Mitglied des Bundesverfassungsgerichts sind.
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Das ist mir völlig neu. Ihre Interpretation des Urteils von Karlsruhe ist mit der Sichtweise aller anderen Fraktionen im Deutschen Bundestag nicht vereinbar. Karlsruhe hat festgestellt, dass es eben keine monetäre Staatsfinanzierung ist. Karlsruhe hat lediglich festgestellt, dass wir aufgrund unseres Integrationsauftrages darauf hinwirken sollen, dass die Verhältnismäßigkeit durch die EZB deutlicher dargelegt wird – nicht mehr, aber auch nicht weniger.
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Ich glaube – und das werden wir auch tun; es gibt heute gerade wieder ein Gespräch beim Bundestagspräsidenten mit Vertretern aller Fraktionen –, dass wir uns dieser Aufgabe stellen werden und stellen wollen.
Die EZB gibt sehr viele Informationen an das Europäische Parlament. Ich glaube, transparenter kann man kaum agieren. Eine Möglichkeit wäre zum Beispiel, dafür zu sorgen – und das ist unsere Aufgabe; das wäre sie vielleicht schon in der Vergangenheit gewesen –, dass die Informationen an das EP zum Deutschen Bundestag durchgeleitet werden, damit wir sie uns zu eigen machen können. Es ist unser Anliegen, uns hier im Rahmen des Selbstbefassungsrechts oder wo auch immer strukturiert mit diesen Informationen und Unterlagen zu befassen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum AfD-Antrag zurück. Was würde denn passieren, wenn im Rahmen des PEPP ab sofort keine weiteren Anleihen aufzukaufen und die bereits erworbenen Titel schrittweise zu veräußern wären? Kollege Boehringer hat eines verschwiegen: Die Deutsche Bundesbank kauft nur deutsche Anleihen; das muss man sich überlegen. Alle anderen kaufen weiter Anleihen auf, nur die Deutsche Bundesbank kauft die sichersten Anleihen, die es auf dieser Welt gibt, nicht weiter auf. Was hätte das für Auswirkungen auf die Finanzpolitik – Zinshöhe –, was hätte das für Auswirkungen auf die Wirtschaftspolitik usw. usf.?
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– Stopp mal! Ich lasse mir von Ihnen nicht das Wort im Munde umdrehen.
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Ich habe darauf hingewiesen, was es für Auswirkungen auf die Zinshöhe hätte, wenn Ihr Antrag zur Wirkung kommen würde, was Gott verhüten möge, wenn die Bundesbank also nicht mehr deutsche Anleihen aufkaufen würde. Darum geht es, nicht darum, dass ich die Zinshöhe bestimmen wollte; das ist der absolute Blödsinn.
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Hören Sie auf – das ist Stil der AfD –, ständig hier Leuten das Wort im Mund umzudrehen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, zurück zum Eingang. Sie von der AfD sollten sich, da Sie ja so grundgesetzkonform und ‑affin sein wollen, bevor Sie so einen Antrag hier im Deutschen Bundestag stellen, wirklich gut überlegen, was sie – erstens – schreiben, wen Sie – zweitens – ansprechen und welche Wirkmechanismen – drittens – Sie damit erzeugen. Ich habe ganz einfach das Gefühl – und ich muss sagen, das enttäuscht mich auch ein bisschen, da so viele Juristen und Volkswirte in Ihrer Fraktion sind –, dass Ihnen nichts Klügeres eingefallen ist, um dieses Thema auf die Tagesordnung zu setzen.
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Glauben Sie mir: Wenn ich in der Opposition wäre, hätte ich da einen klügeren Antrag gestellt, jedenfalls nicht einen, der so massiv angreifbar ist. Allein die Aufforderung an den Deutschen Bundestag – das reicht schon – zum Verfassungsbruch, zum Bruch des Artikels 88 Grundgesetz, ist neben dem sonstigen unsinnigen und blödsinnigen Inhalt des Antrags schlichtweg abzulehnen.
Danke schön.
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Nächster Redner ist der Kollege Dr. Florian Toncar, FDP.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die AfD-Fraktion beantragt heute, das Anleihekaufprogramm PEPP der Europäischen Zentralbank zu stoppen. Ich glaube, man muss hier noch mal klar sagen, dass das ein gesondertes Programm der EZB ist, eine Reaktion auf die Coronakrise, ein Baustein, den die Notenbank zur Stabilisierung einer außerordentlich schwierigen, in dieser Form noch nie dagewesenen wirtschaftlichen Lage beitragen kann.
Die AfD-Fraktion beruft sich auf das Bundesverfassungsgericht und sein aktuelles Urteil zu einem ganz anderen Programm der Europäischen Zentralbank, nämlich dem seit 2015 laufenden Programm PSPP. Sie tun das, Kollege Boehringer, obwohl der seinerzeitige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Herr Voßkuhle, bei der Verkündung selbigen Urteils ausdrücklich betont hat – nicht nur gesagt, sondern hervorgehoben und betont –, dass das Urteil des Bundesverfassungsgerichts für PSPP und nicht für PEPP und die Antwort der EZB auf die Coronakrise gilt.
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Das ist Ihnen auch nicht entgangen; denn Sie haben sich mit dem Vorgang ja beschäftigt. Das heißt: Das, was Sie hier machen, ist, wider besseres Wissen zu versuchen, das Bundesverfassungsgericht zum Kronzeugen einer Agenda zu machen, die in Wahrheit, wenn man Ihr Parteiprogramm liest, auf die Zerstörung unserer gemeinsamen Währung zielt.
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Und dass von einer Fraktion, von einer Partei, bei der der Verfassungsschutz zu Recht und aus guten Gründen vor der Tür steht, versucht wird, die Hüter unserer Verfassung jetzt für eine ressentimentgetriebene Agenda zu instrumentalisieren, werden wir hier nicht zulassen und nicht akzeptieren.
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Es gibt entscheidende Unterschiede zwischen beiden Programmen. Das eine Programm läuft seit fünf Jahren und ist damit natürlich mit der Gefahr verbunden, in die Nähe monetärer Staatsfinanzierung zu geraten, weil es so lange dauert. Das andere Programm ist aber eine Reaktion auf eine beispiellose, schockartige Krise, wie es nahezu jede Notenbank der Welt und übrigens auch die Bundesbank alleine machen würden, wenn sie in der jetzigen Lage Entscheidungen zu treffen hätten. Das über einen Kamm zu scheren, ist unseriös, finanzpolitisch und juristisch jedenfalls nicht zu halten.
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Aus diesem Grunde ist durchschaubar, was Sie mit diesem Antrag bezwecken, und er wird hier keine Chance haben.
Ich will die Gelegenheit nutzen, einige Bemerkungen zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu machen, weil ich sehr wohl – und anders als andere hier – dieses Urteil, das sich auf ein anderes Programm bezieht, für richtig und auch für verdienstvoll halte und vor Fehlinterpretationen warnen möchte:
Erstens. Ich glaube, dass wir uns in Europa – nicht nur in Deutschland – besser verständigen müssen über die Frage: Was meinen wir mit der Unabhängigkeit von Notenbanken?
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Mein Verständnis ist, dass eine Notenbank unabhängig sein muss in ihrem Mandat, bei dem, was sie innerhalb ihres geldpolitischen Mandates tut. Aber eine doppelte Unabhängigkeit, die umfasst, dass die Notenbank in der ersten Stufe frei von Kontrolle bestimmen darf, was überhaupt Geldpolitik ist, um hinterher, in der zweiten Stufe, im Rahmen des selbstdefinierten Mandats frei und unkontrolliert zu handeln, ist für mich zu viel, jedenfalls in einem Umfeld eines demokratischen Rechtsstaats. Genau auf dieses Problem hat das Bundesverfassungsgericht auch völlig zu Recht hingewiesen.
({5})
Zweitens. Das Verfassungsgericht hat deutlich gemacht – man erkennt, dass sich das durch das Urteil zieht, wenn man es vorbehaltlos liest –: Am allerbesten wäre es, wenn die Einhaltung der Grenzen des Mandats der EZB durch den Europäischen Gerichtshof und gerade nicht durch nationale Gerichte kontrolliert würde. Das Bundesverfassungsgericht möchte diese Rolle gar nicht, sagt aber natürlich: Bevor überhaupt niemand kontrolliert, ob ein Mandat von der Grenze her richtig abgestimmt ist, machen wir es. Aber besser wäre es, wenn der EuGH es machen würde. – Genau das ist auch der richtige Weg: Der EuGH soll das machen. Er muss diese Rolle dann allerdings meines Erachtens auch annehmen.
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Vor diesem Hintergrund muss man das Verfassungsgericht nicht nur vor Vereinnahmungsversuchen von rechts außen in Schutz nehmen, sondern auch vor falschen Unterstellungen, dass da eine antieuropäische Agenda verfolgt wird.
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Die Agenda des Verfassungsgerichts ist Demokratie und Rechtsstaat. Dahinter sollten wir uns stellen.
Ich würde mir, Herr Minister Scholz, auch wünschen, dass die Bundesregierung nicht so verschämt, sondern offener und – auch im europäischen Umfeld – aufgeschlossener mit den Chancen dieses Urteils umgeht. Das Verfassungsgericht hat hier mehr Unterstützung aus der deutschen Politik verdient, als es zum Teil erfahren hat.
Herzlichen Dank.
({8})
Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Sonja Steffen, SPD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Maßnahmen rund um das Coronavirus haben die Wirtschaft im Euro-Raum erheblich beeinträchtigt. Das gefährdet die Preisstabilität; das wissen wir alle. Die Europäische Zentralbank möchte dieser Gefahr nun mit ihrem Pandemie-Notfallkaufprogramm, mit dem sogenannten PEPP, über das wir heute schon viel geredet haben, entgegenwirken. Genau das ist deren Aufgabe. Das Programm wurde im März beschlossen und ist vor zwei Tagen gestartet.
Was aber will die AfD mit Ihrem Antrag? Sie will – ich zitiere Ihren Antrag noch einmal –, dass der Bundestag die Bundesbank auffordert, „im Rahmen des PEPP ab sofort keine weiteren Anleihen aufzukaufen und die bereits erworbenen Titel schrittweise zu veräußern“. Dabei beruft sich die AfD auf das EZB-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Mai 2020. Hierzu möchte ich drei Bemerkungen machen.
Erstens. Die AfD hätte gerne ihre gute alte Zeit zurück. Das wissen wir. Sie träumen von D-Mark-Zeiten, notfalls auch von einem Nord-Euro und alles möglichst in nationaler Hand. Nur: Auch in der guten alten Zeit – darauf hat der Kollege Rehberg schon hingewiesen – hatten weder die Bundesregierung noch der Bundestag der Bundesbank irgendetwas zu sagen. Das war immer schon so. Die Bundesbank war immer unabhängig. Sie ist es heute noch als integraler Bestandteil des europäischen Systems der Zentralbanken. So wollte Deutschland das. So steht es im Artikel 88 Grundgesetz, den Herr Rehberg schon zitiert hat, so steht es im Bundesbankgesetz, und so steht es in den europäischen Verträgen. Wir stellen also fest – noch einmal, auch für Sie von der AfD-Fraktion –: Die Bundesbank ist unabhängig. Weisungen durch den Bundestag sind verfassungsrechtlich unzulässig. Der Antrag fordert etwas verfassungsrechtlich Unmögliches.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Boehringer?
Nein, ich nehme die Anfrage nicht an, Herr Boehringer.
Zweitens. Bei dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts geht es nicht darum, dass die EZB jetzt ihre Arbeit einstellen muss. Das Bundesverfassungsgericht verlangt in der Entscheidung lediglich, dass bei allen währungspolitischen Maßnahmen der EZB die wirtschaftspolitischen Auswirkungen im Euro-Raum abgewogen und berücksichtigt werden. Das Bundesverfassungsgericht verlangt eine transparente Verhältnismäßigkeitsprüfung. Es verlangt, dass diese Abwägung offengelegt wird. In der Sachverständigenanhörung im Europaausschuss am Montag ist Folgendes noch einmal klar geworden: Die Verhältnismäßigkeitsprüfung gibt es bereits. Davon können wir sicher ausgehen. Die EZB agiert nicht ins Blaue hinein. Sie analysiert im Vorgriff die wirtschaftspolitischen Auswirkungen ihrer Maßnahmen sehr genau.
({0})
Wir müssen im Bundestag allerdings darauf hinwirken, dass diese Prüfungen transparenter als bisher werden. Wir müssen aber nicht der EZB in den Arm fallen, sodass sie ihre Aufgaben nicht mehr erfüllen kann.
Drittens. Die AfD-Fraktion meint, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts habe allgemeingültige Kriterien für jedes Ankaufprogramm der EZB festgelegt. So ist es aber nicht. Darauf hat der Kollege Toncar hingewiesen. In seinem Eingangsstatement zur Urteilsverkündung hat der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Herr Voßkuhle, darauf ganz ausdrücklich hingewiesen. Das hat er mit Bedacht getan, weil er sich damals schon der Bedeutung bewusst war. Vielleicht hat er kommen sehen, dass Sie daraus irgendetwas drehen. Er hat in seinem Eingangsstatement gesagt, dass aktuelle finanzielle Hilfsmaßnahmen im Zusammenhang mit der gegenwärtigen Coronakrise eben nicht Gegenstand der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Anfang Mai waren.
Auch aus den Leitsätzen des Urteils ergibt sich das übrigens ganz klar: Für jedes Programm der EZB muss eine eigenständig wertende Gesamtbetrachtung angestellt werden. Denn je nach Anlass der Maßnahme sind die Kriterien eines Programms festzulegen und völlig unterschiedlich. Sie können die sieben Kriterien des Urteils des Bundesverfassungsgerichts nicht eins zu eins auf PEPP übertragen. Das geht nicht. So hat es das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich nicht gemeint.
({1})
Es gibt keine standardmäßigen Kriterienkataloge, die nun für alle EZB-Programme gelten sollen. Kurz und gut: Wir im Bundestag müssen uns nun darauf konzentrieren, zunächst das EZB-Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den bisherigen Ankaufprogrammen umzusetzen; möglichst besonnen, möglichst deeskalierend, vor allem aber unter Anerkennung der Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank und der Unabhängigkeit der Bundesbank.
Ich danke Ihnen.
({2})
Zu einer Zwischenbemerkung erteile ich das Wort dem Kollegen Peter Boehringer.
Danke für die Möglichkeit zur Intervention, Herr Präsident. – Irgendwie habe ich das Gefühl, dass alle drei Vorredner bei meiner Rede nicht zugehört haben; denn es waren Mythen, die hier von allen drei Rednern rezitiert wurden – es tut mir leid, Frau Steffen, dass ich es jetzt hier bei Ihnen machen muss –, und es wurden die üblichen Strohmannargumente gebracht, um Dinge zu widerlegen, die ich gar nicht gesagt habe.
Also: Wir dürfen die Bundesbank auffordern, der Bundestag hat dieses Recht, Artikel 130 AEUV – er ist doch europäisches Verfassungsrecht –, Ihr großes Europa, erlaubt das. Lesen Sie diesen Artikel 130 genau. Der Bundestag darf es. Die Regierung dürfte es unter Umständen nicht, das ist ein Unterschied. An dieser Stelle muss man schon sauber sein.
Es ist schade, dass Herr Rehberg an dieser Stelle nicht zuhört. Auch wenn er seit 2005 so etwas nie gehört hat, heißt das nicht, dass es nicht zulässig wäre. Wir haben das natürlich auch bei der zuständigen Parlamentsstelle vorher prüfen lassen.
({0})
Zu dem Punkt, das Urteil sei nicht auf PEPP anwendbar. Es ist anwendbar – auch wenn es jetzt zweimal gesagt wurde –, aber nicht im Bereich der Verhältnismäßigkeitsprüfung, hier vielleicht eines Tages auch, wenn in einem PEPP-Urteil, das es tatsächlich noch nicht gibt, eine Verhältnismäßigkeitsprüfung zu PEPP verlangt wird. Aber in dem Bereich der monetären Staatsfinanzierung ist es anwendbar. Diese Leitsätze – sieben Stück –, die jetzt hier sauber ausdekliniert wurden, sind ja bereits im OMT-Urteil von 2016 angeklungen. Das ist stehende, lange geltende Rechtsprechung hier. Also, man kann nicht sagen: Das fällt vom Himmel. – Das ist inzwischen schon seit fünf, sechs Jahren anwendbar, diesmal nur dankenswerterweise in diesem Urteil noch einmal sehr sauber ausdekliniert: keine Obergrenze, Mindeststandards von Anleihen und noch zwei, drei andere Dinge, die ganz klar nicht eingehalten werden durch PEPP. Diese Transferleistung müssen wir doch auch von den Altparteien verlangen dürfen.
Es ist sicher, wie dieses Urteil ausfallen wird.
({1})
Das Tragische ist: Wenn dieses Urteil kommen wird – und es wird kommen –, dann wird vermutlich ein Billionenschaden für dieses Haus entstanden sein.
Vielen Dank.
({2})
Frau Kollegin Steffen, Sie können antworten.
Eigentlich ist es schade, dass wir Ihnen durch die Kurzintervention Ihre Redezeit noch einmal verlängert haben. Ich glaube, wir werden Ihnen das auch nicht mehr beibringen können, es ist sozusagen vergebene Liebesmüh. Aber Sie können doch nicht verweigern, dass in Artikel 88 des Grundgesetzes steht, dass die Bundesbank unabhängig ist
({0})
und Weisungen nicht unterworfen ist. Ich verstehe nicht, wie Sie dann auf die Idee kommen, den Antrag genau so zu stellen, wie er ist.
({1})
Sie können doch nicht ernsthaft denken, dass ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts auf ein anderes Programm, über das Sie jetzt reden, eins zu eins übertragbar wäre. Das ist Quatsch; denn es war eine Entscheidung, die ein anderes Programm betraf. Deshalb ist es einfach nicht möglich. Sie wollen das gerne tun, weil es quasi in Ihre Strategie passt. Aber so funktioniert das nicht mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Schauen Sie sich das noch einmal genau an. Hören Sie sich das Eingangsstatement von Herrn Voßkuhle noch einmal an, vielleicht hilft es ja irgendwie.
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Die nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch, Die Linke.
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Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bei allem Respekt vor dem Bundesverfassungsgericht – der erste Debattenbeitrag und der jetzige kurze Wortwechsel haben noch einmal gezeigt: Das Urteil spielt den Gegnern eines sozialen Europas in die Hände. Die Position der Linken ist ganz klar: Wir wollen ein solidarisches und ein soziales Europa, meine Damen und Herren.
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Ich finde, wir sollten hier weniger über das Urteil des Bundesverfassungsgerichts diskutieren als vielmehr über die Politik der Bundesregierung; denn das ist unsere Aufgabe hier im Bundestag.
({1})
Die Spaltung der Europäischen Union geht vor allem auf das Konto der Bundesregierung. Sie hat in der Finanzkrise 2008 ohne Rücksicht auf Verluste eine Kürzungspolitik durchgesetzt, die nicht nur Griechenland an den Rand des wirtschaftlichen Ruins getrieben hat. So etwas darf sich in der jetzigen Krise nicht wiederholen.
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Die Coronakrise wird von der Mehrheit der Bevölkerung als existenzielle Bedrohung gesehen. Sie kann aber auch die Chance, wenn wir es richtig machen, für eine gerechtere, ökologische und friedlichere Welt werden. Und das wäre der richtige Weg.
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Eine marktradikale Minderheit versucht, die Coronakrise zu nutzen, um sich auf Kosten der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler zu bereichern. Ich will für uns in einem Satz zusammenfassen: Die Mehrheit fürchtet um ihre Existenz, und eine Minderheit fürchtet um Boni und Dividenden. Die Linke steht klar an der Seite der Mehrheit.
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Wir Linke werden nicht akzeptieren, dass die Bundesregierung wieder, wie in der Finanzkrise, mit Steuermitteln Aktionäre rettet. Es ist doch absurd, dass die Bundesregierung für die Lufthansa 9 Milliarden Euro zur Verfügung stellt, ohne klare Forderungen zur Sicherung von Arbeitsplätzen zu stellen und ohne ökologische Standards zu fordern. Das können wir nicht akzeptieren, meine Damen und Herren.
({5})
Wir müssen uns alle entscheiden, ob wir zu der Gruppe „Jeder ist sich selbst der Nächste“ oder ob wir zu der Gruppe „Solidarisch geht es besser“ gehören wollen. Einige Fraktionen hier im Haus haben sich für die erste Gruppe entschieden. Wir Linke sagen klar, dass unsere Position lautet: Solidarisch geht es besser.
({6})
– Auch international; selbstverständlich.
Wir hatten ja – das ist von Vorrednern schon erwähnt worden – am Montag eine Anhörung im Europaausschuss des Bundestages, und da sprach auch Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Er hat das fehlende ökonomische Verständnis kritisiert, das in dem Urteil zum Ausdruck gekommen ist. Mit Genehmigung des Präsidenten darf ich das kurz zitieren:
Denn eine Zentralbank kann ihr Mandat der Preisstabilität nur dann nachhaltig erfüllen, wenn Beschäftigung hoch, Wachstum solide und das Finanzsystem stabil sind. Mit anderen Worten, eine Zentralbank wird nie ihr Mandat erfüllen können, wenn Zombieunternehmen florieren, Sparer enteignet werden und das Bankensystem kollabiert.
Wir Linke sagen: Da hat Herr Fratzscher wirklich recht, meine Damen und Herren.
({7})
Aber ich habe auch den Eindruck: Die Bundesregierung scheint über das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes gar nicht so böse zu sein; denn das Bundesverfassungsgericht hat schließlich der Europäischen Zentralbank den Schwarzen Peter zugeschoben.
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Das lenkt davon ab, dass die Bundesregierung nie ernsthaft den Versuch unternommen hat, eine gemeinsame Sozial-, Wirtschafts- und Finanzpolitik in der EU durchzusetzen. Genau das wäre der richtige Weg. Ich nenne zum Beispiel die Finanztransaktionsteuer, für die sich die Kanzlerin und ihre jeweiligen Finanzminister nach der Finanzkrise ausgesprochen haben. Das ist jetzt zwölf Jahre her, und nichts ist passiert.
Das EZB-Urteil lenkt auch ab vom Totalversagen der Bundesregierung in vielen Felder der Europapolitik. Denn die Anleihekäufe, über die hier nur diskutiert wurde, waren erst nötig, weil die Regierungen der EU-Staaten dramatisch versagt haben. Aber: Vielleicht könnte sich dieses Urteil auch als ein Glücksfall erweisen. Denn vielleicht ist jetzt der Druck endlich groß genug, für eine soziale Wirtschafts- und Finanzpolitik zu streiten. Meine Damen und Herren, wir Linke schlagen eine Vermögensabgabe nach Artikel 106 des Grundgesetzes zur Finanzierung der Coronakosten vor. Ich denke, das ist etwas, was Sie alle guten Gewissens unterstützen sollten.
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Am 1. Juli beginnt – das wissen wir alle; wir werden noch viel darüber diskutieren – die deutsche EU-Ratspräsidentschaft. Ich denke, die Bundesregierung sollte diese Präsidentschaft nutzen, um endlich für mehr Steuergerechtigkeit in der EU zu sorgen. Denn da ist wirklich genug zu tun. In Deutschland werden Schätzungen zufolge jährlich etwa 100 Milliarden Euro gewaschen, die aus Steuerhinterziehung, dem Handel mit Drogen und Waffen sowie dem Menschenhandel stammen. Davon fließen rund 20 Milliarden Euro in den deutschen Immobilienmarkt. Da ist für die Bundesregierung viel zu tun.
Oder: Der mit Abstand größte Finanzmarkt der Welt ist der Devisenhandel. Dort werden etwa 6 Billionen Dollar umgesetzt – pro Tag. Rund 30 Prozent sind Euro-Geschäfte. Warum hat die Bundesregierung in dieser Frage noch nichts unternommen?
Oder ein letzter Vorschlag: Die Münchner Sicherheitskonferenz – gewiss keine Vorfeldorganisation der Linken –
({10})
beziffert das globale Geldwäschevolumen auf bis zu 4,2 Billionen Dollar. Ein Teil davon finanziert den globalen Terrorismus. Auch hier ist das genug, um tätig zu werden.
Meine Damen und Herren, wir Linke sind für ein soziales und solidarisches Europa. Eine soziale Spaltung, wie es von der rechten Seite gewünscht wird, lehnen wir ab. Wir kämpfen für ein soziales, solidarisches und friedliches Europa.
Vielen Dank.
({11})
Zur Geschäftsordnung erteile ich das Wort der Kollegin Britta Haßelmann.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um 9.05 Uhr war hier ein Minister anwesend. Um 10.50 Uhr ist gar kein Minister auf der Regierungsbank anwesend. Unabhängig davon, welche Fraktion hier Anträge stellt, ist es dem Parlament gegenüber eine absolute Missachtung, dass das so läuft.
({0})
Wir haben wiederholt im Ältestenrat thematisiert, dass wir die Erwartung haben, dass in den Kernzeitdebatten, die am Donnerstagvormittag und am Freitagvormittag laufen, die Regierung nicht nur durch Staatssekretärinnen und Staatssekretäre – bei aller Wertschätzung Ihnen gegenüber – vertreten ist, sondern die Ministerinnen und Minister hier Präsenz zeigen. Und zum wiederholten Mal ist das nicht der Fall. Ich erwarte, dass jetzt mindestens ein Minister oder eine Ministerin dieser Debatte folgt.
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– Wir müssen es wahrscheinlich nicht als große Wertschätzung ansehen, dass jetzt gerade einer reinkommt. Ich finde es unmöglich gegenüber dem Parlament.
({2})
Frau Kollegin Haßelmann, Sie haben keinen Antrag gestellt, sondern eine Erwartung ausgedrückt, und – oh Wunder – Ihre Erwartung ist unmittelbar erfüllt worden.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Lisa Paus, Bündnis 90/Die Grünen.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minister Scholz! Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Europäischen Zentralbank ist inzwischen 22 Tage alt, und die öffentliche Debatte zeigt: Das Urteil ist objektiv schwer umzusetzen, und das aus politischen und rechtlichen Gründen. Das zeigte auch die am Montag stattgefundene Anhörung zum Urteil hier im Deutschen Bundestag. Die Einschätzungen der Verfassungsjuristen reichten von: „Die europäische Rechtsgemeinschaft steht auf dem Spiel“ – so Professor Mayer –, „Das Urteil kann eine große Krise in der Europäischen Union auslösen“ – so Professor Classen – über: „Das Bundesverfassungsgericht hat seine Kompetenzen eklatant überzogen“ – so Professor Wegener – bis hin zu: „Das Urteil schafft wegen der Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank eine heikle politische und rechtliche Situation für den Bundestag und stellt eine weitgehende Instrumentalisierung von Verfassungsorganen dar“, so Professor Walter von der LMU München.
Wir Grünen nehmen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts natürlich sehr ernst, und wir setzen uns dafür ein, dass der Bundestag seiner Verantwortung aus dem Urteilsspruch nachkommt. Aber wir müssen auch die Gefahren, die in dem Urteil enthalten sind, berücksichtigen, und zwar im Hinblick auf die Unabhängigkeit von Europäischem Gerichtshof und der Europäischen Zentralbank, im Hinblick auf die Einheit der europäischen Rechtsgemeinschaft und auch im Hinblick auf die Zukunft des Euros und der Wirtschafts- und Währungsunion. Das heißt für uns ganz klar: Unsere und die Aufgabe des Deutschen Bundestages muss es sein, in dieser Situation, in diesem Ultra-vires-Konflikt deeskalierend zwischen nationaler Ebene und europäischer Ebene zu wirken.
({0})
Die AfD macht mit ihrem Antrag heute das Gegenteil. Diesen entgleisten Versuch von Ihnen, das Urteil für Ihre Zwecke in Geiselhaft zu nehmen, hat das Bundesverfassungsgericht wirklich nicht verdient, meine Damen und Herren.
({1})
Um nur das Allerfalscheste an Falschdarstellungen aus Ihrem Antrag herauszugreifen: Gleich in Punkt 2 machen Sie in Bezug auf die Forderung des Bundesverfassungsgerichts nach einer Verhältnismäßigkeitsprüfung – ein Ins-Verhältnis-Setzen von geldpolitischen Maßnahmen einerseits und ihren Wirkungen auf die Wirtschafts- und Fiskalpolitik andererseits –
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die Aussage, künftig dürfe es Anleihekaufprogramme der Bundesbank nur mit gesetzlicher Zustimmung des Deutschen Bundestags geben. Das ist das Ende der Unabhängigkeit der Zentralbank in einem Handstreich.
({3})
Davon steht nichts, aber auch gar nichts im Urteil. Das widerspricht fundamental dem Grundgesetz und dem EU-Vertrag und zeigt erneut, wes Geistes Kind Sie sind.
({4})
Sie wollen kein Urteil umsetzen. Sie wollen einfach nur den Euro zerstören, und dabei werden wir nie mitmachen.
Da der Artikel 130 AEUV erwähnt worden ist, hier noch mal kurz die Erläuterung, damit hier nicht weiter Fake News verbreitet werden. Der Artikel lautet:
Bei der Wahrnehmung der ihnen durch die Verträge und die Satzung des ESZB und der EZB übertragenen Befugnisse, Aufgaben und Pflichten darf weder die Europäische Zentralbank noch eine nationale Zentralbank noch ein Mitglied ihrer Beschlussorgane Weisungen von Organen, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union, Regierungen der Mitgliedstaaten oder anderen Stellen einholen oder entgegennehmen.
Das ist sehr klar und deutlich. Hören Sie also endlich auf, in diesem Hause Fake News zu verbreiten, meine Damen und Herren!
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Frau Kollegin Paus, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein.
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Ich glaube, das haben wir jetzt deutlich klargestellt.
Dennoch hat mich und andere Ökonomen sehr überrascht, dass gerade das deutsche Bundesverfassungsgericht überhaupt die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank mit der geforderten Verhältnismäßigkeitsprüfung beschränkt; denn es war Deutschland, das die Unabhängigkeit und das alleinige Ziel der Preisstabilität zu zentralen Bedingungen für die Einführung des Euro gemacht hat. Bis zum 5. Mai wurde das alleinige Ziel Preisstabilität durchweg so interpretiert, dass die Geldpolitik nicht auf wirtschaftspolitische Konsequenzen achten sollte. Das ist wissenschaftlich auch sehr gut begründet. Dem liegt die wirtschaftswissenschaftliche Lehrmeinung zugrunde, dass einerseits zwar Wechselwirkungen zwischen Geld-, Fiskal- und Wirtschaftspolitik unvermeidbar sind, dass aber andererseits die Orientierung der Geldpolitik allein an der Preisstabilität mittelfristig automatisch zu den besten wirtschaftspolitischen Ergebnissen führt.
Das Urteil bestreitet ja auch nicht die ordnungsgemäße Sicherung der Preisstabilität, sondern es kreist im Kern um die negativen Wirkungen der derzeitigen Niedrigzinspolitik für deutsche Sparer. Unbestritten ist: Niedrige Zinsen sind schlecht für Sparer. Völlig strittig ist aber, ob die Europäische Zentralbank wirklich dafür verantwortlich ist.
({1})
Der Journalist Gerald Braunberger von der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ brachte es auf den Punkt: Für die Deutschen kommt der Zins vom Amt bzw. von der Bundesbank, für alle anderen aber entsteht der Zins durch Angebot und Nachfrage, und darum bleibt er niedrig. – Es ist inzwischen herrschende wirtschaftswissenschaftliche Meinung, dass nicht die EZB, sondern vor allem ökonomische Gründe für die niedrigen Zinsen verantwortlich sind. Es stellt sich jedoch die Frage, wie die EZB dann gegen ihr Mandat verstoßen haben kann.
Der Rückgang der Zinssätze findet seit den 80er-Jahren kontinuierlich statt, auch international. Negativzinsen sind auch kein Euro-only-Phänomen. Die Gründe dafür sind eigentlich ganz einfach: Wenn die Leute älter werden und mehr sparen, wenn die öffentlichen Haushalte und selbst die Unternehmen sparen und die Schere zwischen Arm und Reich wächst, dann wächst das Angebot an Ersparnissen. Wenn auf der anderen Seite Unternehmen nicht investieren bzw. Investitionen in Digitalisierung weniger kapitalintensiv sind als früher, dann sinkt die Kreditnachfrage. Und siehe da: Es fällt der Zins.
({2})
– Lesen Sie das Papier von Herrn Rocholl – er war am Montag bei der Sachverständigenanhörung –, dann können Sie noch was lernen! – Deshalb kann es auch kein Grundrecht auf Zinsen geben, wie es der ehemalige Verfassungsrichter Paul Kirchhof behauptete.
Es gibt auch kein Grundrecht auf unbegrenzte Redezeit. Sie müssen zum Schluss kommen.
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Mache ich. – Es gibt nicht eine wirtschaftswissenschaftliche Theorie, die das stützt. Wir sollten in diesem Geiste noch mal neu über das Urteil nachdenken und die Umsetzung entsprechend durchführen.
Herzlichen Dank.
({0})
Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Florian Hahn.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als das EZB-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vor gut drei Wochen verkündet wurde, war von „Ohrfeigen“ und von einer „Klatsche“ die Rede. Aber ist die Entscheidung die ganze Aufregung wert? Worum geht es eigentlich?
Das höchste nationale Gericht eines EU-Mitgliedstaates, das Bundesverfassungsgericht, hat, verkürzt gesagt, von einer unabhängigen europäischen Behörde, der EZB, verlangt, dass sie die Verhältnismäßigkeit ihres Handelns überprüft und darlegt. Zudem sieht das Bundesverfassungsgericht den EuGH in der Pflicht, dies europarechtlich zu überprüfen. Das Bundesverfassungsgericht hat hierfür sehr viel Kritik einstecken müssen; sogar von einem Fehlurteil wird geredet.
Aber wo genau liegt eigentlich das Problem? Ich sehe es nicht; denn es ist gängige Praxis, dass Behörden die Gründe für ihr Handeln offenlegen müssen. Das gilt auch für unabhängige Einrichtungen. Genauso ist es üblich, dass dieses Handeln von Gerichten überprüft wird. Beides sind Ausflüsse des Rechtsstaats- und Demokratieprinzips. Diese beiden schützenswerten Prinzipien hält das Bundesverfassungsgericht durch sein Urteil hoch, und dafür verdient das Gericht keine Schelte, sondern Lob.
({0})
Die Kritik am Urteil entzündet sich an mehreren Stellen. Auf einige möchte ich eingehen.
Erstens wird kritisiert, dass das Bundesverfassungsgericht nur bei einer offensichtlichen Kompetenzüberschreitung hätte einschreiten dürfen und dass der vorliegende Fall dafür zu komplex sei. Dass der EuGH in seiner Prüfung die tatsächlichen Auswirkungen des Anleiheprogramms PSPP auf die Wirtschaftspolitik außer Acht gelassen hat, war aber offensichtlich. Die hohen Hürden, die sich das Bundesverfassungsgericht für die sogenannte Ultra-vires-Kontrolle selbst auferlegt hat, waren also durchaus erfüllt.
Deswegen überzeugt mich auch ein zweiter Aspekt der Kritiker nicht, nämlich dass das Bundesverfassungsgericht aufgrund seiner Bedenken den Fall nochmals dem EuGH hätte vorlegen müssen; denn es war offensichtlich, dass der EuGH diese Verhältnismäßigkeitskontrolle nicht vornehmen wollte. Daran hätte aller Wahrscheinlichkeit nach auch eine zweite Vorlage nichts geändert.
Drittens wird vorgebracht, dass das Urteil eine Steilvorlage für Autokraten in Osteuropa sei, die sich künftig unter Berufung auf das deutsche Verfassungsgericht dem europäischen Recht entziehen werden. Diesen Vorwurf finde ich besonders schwierig und auch nicht redlich; denn die Gefahr des Missbrauchs lässt das Urteil nicht automatisch falsch werden. Das Bundesverfassungsgericht hat unmissverständlich klargestellt, dass es sich bei dem Urteil um einen absoluten Ausnahmefall handelt. Zudem geht es nicht darum, der EZB ein bestimmtes Ergebnis der Verhältnismäßigkeitsprüfung abzuverlangen. Es geht lediglich darum, die Ergebnisse der Prüfung der EZB – und ich bin davon überzeugt, dass die stattgefunden hat – besser zu verstehen und nachvollziehen zu können. Diesen Wunsch teile ich ausdrücklich.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, selbstverständlich müssen auch Fragen zu dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts möglich und Kritik daran erlaubt sein. Das gehört zum Diskurs in einem freiheitlichen Rechtsstaat. Dabei sollten wir aber Maß und Mitte halten, um den guten Ruf dieses Verfassungsorgans nicht zu beschädigen. Ich fordere deshalb mehr Respekt vor dem Bundesverfassungsgericht und seiner Entscheidung, die für uns alle im Bundestag verbindlich ist.
({2})
Jetzt zurück zu den falschen Freunden des Bundesverfassungsgerichts, und zwar zu denen, die hier ganz rechts im Bundestag sitzen. Teile Ihrer Partei will der Verfassungsschutz beobachten lassen, und Sie spielen sich mit Ihrem Antrag als Hüter des Grundgesetzes auf. Ihr Antrag ist rein spekulativ. Das Urteil sagt nämlich nichts über aktuelle coronabedingte Hilfsmaßnahmen der EZB aus. Es kann also auch nicht, wie Sie das gerne hätten, als Beleg dafür herangezogen werden, dass die neuen PEPP-Anleihekäufe beendet werden müssten; das haben meine Vorredner schon sehr umfänglich ausgeführt.
Die AfD will mit ihrem Antrag von der grottenschlechten Vorstellung ihrer eigenen Chaostruppe und von dem massiven Krieg, der zwischen gemäßigten und rechtsradikalen Flügelkräften entbrannt ist, ablenken.
({3})
Da kommt Ihr alter Feind Europa als Sündenbock gerade recht.
Schauen wir doch mal genau hin, was bei Ihnen im Moment los ist. Der Flügelfrontmann Höcke
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will nach Sozialistenmanier die Marktwirtschaft und der Kollege Komning aus Mecklenburg-Vorpommern nach Autokratenmanier die parlamentarische Demokratie abschaffen.
({5})
Die AfD-Landtagsfraktion in Bayern zerlegt sich gerade selbst. Die bayerische Fraktionsvorsitzende Ebner-Steiner bleibt, obwohl sie in ihrer Fraktion keine Mehrheit mehr hat.
({6})
– Sie wollen das nicht hören. Es ist mir schon klar, dass Sie der Wahrheit nicht ins Gesicht sehen wollen, aber Sie müssen es sich anhören.
({7})
Obwohl sie keine Mehrheit hat, bleibt die Flügelfrau Ebner-Steiner Fraktionsvorsitzende. Der rechtsextreme Kalbitz, der sich gerne bei der Heimattreuen Deutschen Jugend herumgetrieben hat, wird aus der Partei rausgeschmissen, bleibt aber Fraktionsvorsitzender der AfD in Brandenburg.
({8})
Es ist doch ganz offensichtlich: Die AfD wird die braunen Geister, die sie rief, nicht mehr los.
({9})
Das mussten schon Lucke und Petry einsehen. Deshalb kann ich nur vielen in der AfD und Ihren Wählern zurufen: Tun Sie es ihnen nach! Verlassen Sie wie Petry und Lucke die AfD, und lassen Sie die Nazis in dieser Partei alleine!
({10})
In Bayern scheint das schon gut zu funktionieren; denn dort hat sich die Zustimmung für die AfD laut BayernTrend-Umfrage von gestern halbiert. Sie liegt nur noch bei 5 Prozent. Die Richtung stimmt hier.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Dr. Bruno Hollnagel für die AfD.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es wird doch wohl keiner in diesem Raum bezweifeln, dass mit PEPP weder die Obergrenzen noch die Kapitalschlüssel eingehalten werden. Das geht auch aus den Reden hervor, die wir gehört haben, und aus der Zielrichtung, die angestrebt wird.
Die Aussagen von Frau Steffen und Frau Paus nehme ich zum Anlass, die EZB-Politik mal etwas genauer zu untersuchen.
({0})
Die EZB behauptet, die Inflation auf 2 Prozent steigern zu wollen, was sie angeblich mit tiefen Leitzinsen und massiven Anleihekäufen bewirken will. Das kann aber nicht funktionieren. Warum? Durch massive Anleihekäufe werden die Zinsen gesenkt, durch niedrige Zinsen werden die Kapitalkosten gesenkt und Investitionen werden attraktiver. Durch das Mehr an Investitionen wird mehr produziert, das Angebot steigt, und damit sinkt der Preis. So ist das Gesetz.
({1})
Die Anleihekäufe der EZB drücken also die Inflation, statt sie zu erhöhen.
({2})
Das weiß natürlich auch die EZB. Daher geht es ihr offenbar überhaupt gar nicht um steigende Inflationsraten, sondern um die Finanzierung von Staaten.
Wie funktioniert das? Niemand kauft Anleihen, wenn er keinen vernünftigen Ertrag bekommt; es sei denn, es steht jemand hinter ihm, der ihm die Anleihen jederzeit wieder abkauft. Und dieser Jemand ist die EZB. Ohne sie würden viele Erstkäufer gar keine Staatsanleihen kaufen. Nur weil die EZB durch ihre riesigen Anleihekäufe quasi eine Abnahmegarantie bietet, greifen viele Erstkäufer zu diesem Instrument. Die EZB betreibt also eine indirekte Staatsfinanzierung.
({3})
Das Perfide an der ganzen Sache ist, dass die EZB Negativzinsen ansetzt und damit die Banken geradezu zwingt, Kredite zu vergeben und Anleihen zu kaufen, die sie unter normalen Umständen niemals kaufen würden.
({4})
Das Bundesverfassungsgericht moniert die Auswirkungen der Anleihekäufe. Welche Auswirkungen genau sind zu befürchten? Die aggressiven Anleihekäufe der EZB senken die Zinsen und die Renditen. Wegen des großen Volumens diktiert die EZB praktisch die Zinshöhe. Dieses Zinsdiktat hat umfangreiche Auswirkungen: Es senkt die Zinsen und Risikoprämien, es führt zu Kapitalfehllenkungen, es gefährdet die Kaufkraft von Sparvermögen, es hat negative Auswirkungen auf die Altersversorgung, es belastet Versicherungen, es fördert die Zombifizierung der Wirtschaft und erhöht damit das Konkursrisiko in Krisenzeiten, es fördert die Blasenbildung, es raubt den Banken ihre Ertragsgrundlagen, es verbilligt die Refinanzierung von Firmen und Staaten und verleitet damit zur Überschuldung.
Das Ergebnis: Die Auswirkungen der Anleihekäufe sprengen den Rahmen der währungspolitischen Kompetenz der EZB. Deswegen müssen die Anleihekäufe eingestellt werden.
Danke schön.
({5})
Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der SPD der Kollege Metin Hakverdi.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Staatsanleihekaufprogramm der EZB kann man durchaus als historisch bezeichnen. Wir werden gezwungen, uns zu entscheiden. Es zwingt uns, uns zu bekennen, wie wir die Weichen für Europa politisch stellen wollen. Sich wegducken, darauf hoffen und vertrauen, dass die europäischen Institutionen die Kohlen schon aus dem Feuer holen werden, reicht nicht mehr. Anstelle der Schelte kann man sich heute auch bei der Europäischen Zentralbank bedanken.
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Danke! Danke dafür, dass sie in der Finanzkrise gehandelt hat, als die Mitgliedstaaten der EU zögerten. Danke dafür, dass sie Verantwortung übernommen hat.
Deshalb ist es wichtig und richtig, die Unabhängigkeit dieser Institution in diesen Tagen zu verteidigen. Deshalb werden wir einen klugen Weg finden müssen, dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts gerecht zu werden, ohne die Glaubwürdigkeit der EZB zu unterminieren.
Bevor man weitere Konsequenzen aus dem Urteil zieht, so wie das heute die AfD tut, lohnt eine vertiefte Befassung mit dem Urteil. Das Bundesverfassungsgericht hat das Anleihekaufprogramm der EZB nicht für verfassungswidrig erklärt. Das Staatsanleihekaufprogramm ist nicht als monetäre Staatsfinanzierung eingestuft worden. Das Bundesverfassungsgericht hat ausdrücklich erklärt, dass Staatsanleiheankäufe der EZB mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Damit ist der intensiv in der deutschen Öffentlichkeit geführte Streit höchstrichterlich entschieden worden. Und damit ist allen Gegnern des Euro und der EZB die argumentative Grundlage entzogen worden.
({1})
Wachen Sie auf bei der AfD! Die Zeiten, in denen Sie das Bundesverfassungsgericht für Ihren Nationalismus vereinnahmen konnten, sind vorbei. Der vermeintliche Erfolg Ihres geschassten ehemaligen Vorsitzenden ist bloß ein Pyrrhussieg. In Wahrheit haben Sie verloren. Das ist die Konsequenz aus diesem Urteil.
Dass man an anderer Stelle über dieses Urteil wird streiten müssen, vor allem, weil es massiv in das Kompetenzgefüge der Europäischen Union eingreift und damit die Europäische Union destabilisieren könnte, ist ein anderes Thema.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Coronakrise zwingt uns dazu, der Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts ins Auge zu sehen. Die Krise verlangt nach gemeinsamen Antworten und nach europäischer Solidarität. Das 21. Jahrhundert verlangt nach einer neuen Europapolitik. Die Welt um uns herum hat sich verändert, nicht nur wegen dieser Krise. China hat sich verändert, die USA haben sich verändert, aber auch Russland, Indien und Brasilien. Die bereits bekannten Herausforderungen des Klimawandels und der Migration kommen hinzu. Wir können nicht bei altem Denken, bei alten Strategien und Konzepten stehen bleiben. Wir müssen auf der Höhe der Zeit Strategien für die Herausforderungen dieses Jahrhunderts entwickeln. Mit alten Rezepten werden wir weder unser Land noch die Europäische Union in eine prosperierende Zukunft führen.
Es stimmt, dass wir im 21. Jahrhundert gemeinsam als Europäische Union bestehen können. Es stimmt, dass wir als Europäerinnen und Europäer unsere Kräfte bündeln müssen, wenn wir unser Schicksal selbst bestimmen wollen. Wir müssen gemeinsam für ein souveränes Europa kämpfen. Erst die Souveränität Europas gewährleistet die Souveränität unseres Landes.
Die Coronakrise ist beispiellos in der Geschichte der Europäischen Union. Was wir jetzt brauchen, sind Durchbrüche auf europäischer Ebene. Diese sind nun in greifbarer Nähe. Die deutsch-französische Initiative zur wirtschaftlichen Erholung Europas nach der Coronakrise und der Vorschlag der EU-Kommission von gestern könnten wegweisend sein. Nur mit gemeinsamen Ausgaben können wir dafür sorgen, dass alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union heil aus dieser Krise herausfinden. Das bedeutet, dass die Staaten, die die Coronakrise nicht so schwer getroffen hat, den Staaten helfen, die es aus eigener Kraft nicht schaffen werden.
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Es ist eine Jahrhundertkrise, und wir werden Italien und Spanien auch finanziell beistehen müssen. Ich danke Olaf Scholz für diese Initiative. Realismus und Vision zusammenzubringen und dabei die europäischen Partner mitzunehmen, das verdient unseren höchsten Respekt.
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Ich danke auch der Kanzlerin Angela Merkel; denn nur sie konnte die Fiskalkonservativen in den Reihen der CDU/CSU davon überzeugen, ihren Widerstand aufzugeben.
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Das kann aber nur ein erster Schritt zu einer zukünftigen EU sein. Bei diesem ersten Schritt dürfen wir es nicht belassen und auf die nächste Krise warten. Wir müssen jetzt weiterdenken und weiter Richtung Fiskalunion handeln. Wer über gemeinsame europäische Ausgaben spricht, sollte sich auch Gedanken über echte eigene Einnahmen machen;
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auch hier hat der Finanzminister recht. Diese könnten sich aus einer Finanztransaktionsteuer
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oder aus dem europaweiten Emissionshandel für Luft- und Seeverkehr speisen.
Europäische Solidarität bedeutet auch, dass es in Europa gerecht zugeht. So müssen wir verhindern, dass Menschen in den einzelnen Mitgliedstaaten gegeneinander ausgespielt werden. Damit es in Europa gerecht zugeht, brauchen wir einheitliche Standards in der Steuerpolitik und eine Mindestbesteuerung für Unternehmen. Damit diese Reformen gelingen können, brauchen wir auch in steuerpolitischen Fragen endlich Mehrheitsentscheidungen.
Kolleginnen und Kollegen, es ist die richtige Zeit, die richtigen Entscheidungen zu treffen.
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Wir können gemeinsam die Weichen für ein souveränes Europa stellen, oder wir können mit Nationalismus und Egoismus unser Land in die geopolitische Bedeutungslosigkeit manövrieren. Der Fiskalkonservatismus in Deutschland muss sich entscheiden: Europäisiert er sich, damit wir die großen globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gemeinsam in Europa bewältigen können, oder geht er zu einem Fiskalnationalismus à la AfD über? Entscheiden Sie sich! Für die SPD steht die Entscheidung bereits fest: Wir entscheiden uns für Europa.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Otto Fricke für die Fraktion der FDP.
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Geschätzter Herr Vizepräsident! Meine Damen und Herren! Kollege Hakverdi, kann ich all diese blumigen Erläuterungen zum Tagesordnungspunkt „Anleihekäufe der Europäischen Zentralbank“ so verstehen, dass die SPD davon ausgeht, dass wir dann, wenn all diese guten Dinge kommen, keine Anleihekäufe der Europäischen Zentralbank mehr brauchen, oder gehen auch Sie davon aus, dass das eine mit dem anderen gar nichts zu tun hat?
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Denn wenn das der Fall ist – und darum geht es – und eine unabhängige Zentralbank diesen Weg geht
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– mir scheint, wir müssen auch wirklich genau erkennen, worum es den Grünen an dieser Stelle geht –, dann wollen wir die Gründe verstehen. Dem Kollegen Hahn kann ich da nur recht geben. Unabhängigkeit bedeutet, dass man im Rahmen dessen, was einem zusteht, entscheiden kann.
In diesem Zusammenhang will ich auf die Parallele zu den Richtern hinweisen: Die Richter sind unabhängig. Übrigens, kleine Anmerkung nebenbei: Die Unabhängigkeit der Richter beim Bundesverfassungsgericht hat gerade bei vielen in der Debatte überhaupt keine Rolle gespielt. Dabei hat dies doch genauso viel mit der Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank zu tun.
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Bei einem Zivilrichter – ich weiß, das ist weit ausgeholt – würden wir doch auch sagen: Er kann kein Urteil schreiben, in dem er eine strafrechtliche Verurteilung ausspricht. – Deswegen ist es notwendig, dass man sich in einem Rechtsstaat, in dem Gewaltenteilung gilt – und das gilt auch für Europa –, gegenseitig kontrolliert und feststellt, wo die Grenzen sind.
Wie aber können wir bei Gewaltenteilung einander kontrollieren? Wie können wir als Parlament eine Regierung – die ausnahmsweise in der Kernzeit mal hier mit einem Minister vertreten ist – kontrollieren? Wie können wir Entscheidungen kontrollieren, wenn das Parlament Gesetze macht? Es ist immer jemand da, der die Gedanken und Entscheidungen nachvollziehen kann, um dann in einem guten Maße auch Kritik zu üben.
Und hier will ich etwas klarmachen, was mir in den letzten Tagen zu wenig klargemacht worden ist. Wir haben bei der Frage, was die EZB entschieden hat, in diesem Hause, glaube ich, in weiten Teilen das Gefühl: Sie wird das schon vernünftig durchdacht haben. – Aber eine Verhältnismäßigkeitsprüfung, die für viele außerhalb Deutschlands und für viele – Herr Vorsitzender, das kann ich sagen –, die kein Jurastudium haben, aber auch für manche mit Jurastudium ein Buch mit sieben Siegeln ist, ist der Inbegriff der Darstellung der Abwägung der unterschiedlichen Interessen. Und Frau Paus, es sind mehr als die zwei, die Sie genannt haben, die eine Verhältnismäßigkeitsprüfung berücksichtigen muss.
Diese Darstellung – das will ich ausdrücklich sagen –, die wollen wir als Parlament, und ich hoffe, Herr Finanzminister, dass auch Sie diese Entscheidung im Detail nachvollziehen können wollen, damit wir dann entsprechend reagieren können. Denn was ist der Sinn einer Entscheidung, der Sinn einer Abwägung? Das ist eine Rechtsfriedensfunktion.
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Das gilt für ein Urteil genauso wie für die Gesetze und für die Entscheidungen von Zentralbanken und Regierungen. Man muss erkennen: Da haben sich kluge Frauen und Männer Gedanken gemacht, die dafür sorgen, dass unser Staat, unser Land, aber eben auch unser wunderbarer Kontinent Europa funktioniert.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Als Nächster hat das Wort der fraktionslose Abgeordnete Uwe Kamann.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Das Bundesverfassungsgericht rügt, dass wir Abgeordneten nicht aufbegehrt haben, als die EZB und der EuGH ihre Kompetenzen überschritten haben, dass wir nicht aufbegehrt haben, als sie das europäische Recht missachtet haben, das dieser Deutsche Bundestag gemeinsam mit allen Parlamenten der EU als verbindliche Rechtsgrundlage der Europäischen Union geschaffen hat. Die Richter haben uns daran erinnert, dass die Staatsanleihekäufe der EZB gravierende Konsequenzen haben können: steigende Immobilienpreise, steigende Mieten, steigende Vermögenspreise, sinkende Zinsen und damit eine Aushöhlung der privaten Altersvorsorge, Anreize zu unsolider Haushaltspolitik in den EU-Mitgliedstaaten. Das, meine Damen und Herren, sind alles reale Gefahren für unser Gemeinwesen.
Die EZB hätte diese Gefahren abschätzen müssen. Sie hätte sich und uns davon überzeugen müssen, dass ihre Politik nicht mehr Schaden als Nutzen bringt. Nach fünf Jahren massiver Staatsanleihekäufe muss man sagen: Eine minimal höhere Inflationsrate ist ein fragwürdiger Nutzen. Unser Versäumnis ist, dass wir nicht selbst auf dieser Abschätzung bestanden haben. Dazu waren wir verpflichtet, und dazu sind wir auch künftig verpflichtet.
Im Übrigen ist es in unser aller Interesse, dass Organe der Europäischen Union sich nicht kompetenzwidrig verhalten. Wir befürworten die Europäische Union so, wie wir sie geschaffen haben, als einen Staatenverbund, der das Recht respektiert, der stets auf einer tadellosen Rechtsgrundlage handelt. Nur eine solche Europäische Union ist im Interesse unserer Bürger. Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung darf nicht infrage gestellt werden. Wir können nicht zulassen, dass sich die Institutionen der EU ohne unsere Zustimmung Gestaltungsmöglichkeiten schaffen, die von Rechts wegen in die Zuständigkeit des Deutschen Bundestages oder der Länderparlamente fallen. Denn wir sind unseren Bürgern rechenschaftspflichtig für die Aufgaben, die sie uns übertragen haben.
Das Bundesverfassungsgericht verdient unser Lob und unseren Schutz. Mit seinem Urteil hat es die Rechte des Deutschen Bundestags betont und damit gestärkt. Dafür sollten wir auch dankbar sein, übrigens auch gegenüber den Hauptbeschwerdeführern Bernd Lucke, Hans-Olaf Henkel und Peter Gauweiler, die dieses Urteil für uns alle erkämpft haben. Die Bedeutung dieses Urteils reicht weit über die Geldpolitik der EZB hinaus. Es verlangt, dass alles staatliche Handeln, auch auf Ebene der Europäischen Union, demokratischer Kontrolle unterliegen muss. Das kann durch das EU-Parlament erfolgen oder durch den EuGH oder durch den Bundestag. Aber wir Abgeordneten des Deutschen Bundestages haben die Letztverantwortung dafür, dass dies immer und verlässlich geschieht.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Christian Haase für die Fraktion der CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich zum Abschluss dieser Debatte noch mal einige wichtige Erkenntnisse betonen – in der Didaktik hilft das ja bekanntlich –: Das Bundesverfassungsgericht hat bestätigt, dass das Anleihekaufprogramm PSPP keine monetäre Staatsfinanzierung ist. Es liegt somit auch kein Verstoß gegen das Budgetrecht des Deutschen Bundestages vor.
Die Antragsteller von der AfD lassen aber natürlich die Gelegenheit nicht aus, die EU und ihre Institutionen wieder einmal grundsätzlich infrage zu stellen. Aber das wird niemanden hier überraschen, ist das doch vielleicht das Einzige, worauf man sich in dieser zerstrittenen AfD noch einigen kann.
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Im Antrag wird Folgendes behauptet: Dass die Karlsruher Richter in ihrem Urteil keinen offensichtlichen Verstoß gegen das Verbot der monetären Staatsfinanzierung feststellen, bedeute nicht, dass der Tatbestand nicht erfüllt sei. Doch, liebe Kolleginnen und Kollegen von der AfD: Genau das bedeutet das Urteil. Sie müssen Urteile unabhängiger Gerichte schon akzeptieren.
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Meine Damen und Herren, wir sollten uns vielmehr mit der Frage beschäftigen: Was bedeutet dieses Urteil nun konkret für den Deutschen Bundestag? Die Verfassungsrichter sehen im EZB-Programm möglicherweise den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt und haben eine dreimonatige Frist gesetzt, darauf zu reagieren. Diesen Auftrag aus Karlsruhe nehmen wir sehr ernst, auch wenn wir beachten müssen, dass die EZB – wie die Deutsche Bundesbank – unabhängig ist. Eckhardt Rehberg hat deshalb zu Recht auf die Verfassungswidrigkeit Ihres Antrages hingewiesen.
Die AfD-Fraktion nutzt das Karlsruher Urteil unter Umgehung der Verfassung munter für ihre eigenen Ziele. So fordern die Antragsteller, das aktuelle EZB-Programm PEPP sofort zu beenden. Dieses zeitlich begrenzte Notfallprogramm gegen die Coronapandemie war aber ausdrücklich nicht Gegenstand des Karlsruher Urteils. Auch die Kriterien, die das Bundesverfassungsgericht für die Anleihekäufe im Rahmen von PSPP aufgestellt hat, sind nicht automatisch übertragbar. Und Herr Boehringer, wie Sie aus diesem Programm einen Billionenschaden für die Deutsche Bundesbank herbeireden können, wenn deutsche Staatsanleihen gekauft werden, ist mir vollkommen schleierhaft.
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Aber spielen wir das Szenario einmal weiter durch: PEPP wird eingestellt. Die Zinsaufschläge für südeuropäische Staatsanleihen steigen deutlich. Wir bekommen eine zweite Euro-Schuldenkrise. In letzter Konsequenz bricht die Gemeinschaftswährung auseinander. Das klingt verdächtig nach einem Wunschtraum der AfD.
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Aus diesem Traum muss ich Sie leider unsanft aufwecken, werte Kollegen. Natürlich wird die EZB weiterhin die wirtschaftspolitischen Maßnahmen in der Coronakrise unterstützen; denn das ist die Aufgabe der Zentralbank. So steht es auch in Artikel 127 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union.
Das währungspolitische Hauptziel der EZB ist bekanntlich die Preisstabilität mit einer Inflationsrate von knapp unter 2 Prozent. Soweit das Ziel der Preisstabilität aber nicht beeinträchtigt wird, unterstützt die EZB die allgemeine Wirtschaftspolitik in der EU. Dieses Nebenziel der Geldpolitik ist besonders wichtig, wenn es darum geht, eine Rezession zu vermeiden oder zumindest abzufedern.
Das Notkaufprogramm ist ohne Frage ein außergewöhnliches Instrument. Aber die Coronapandemie ist auch eine außergewöhnliche Krise; um es einmal vorsichtig auszudrücken. Eine Volkswirtschaft herunterzufahren, um einen Virus zu bekämpfen, so was hat es noch nicht gegeben. Daher gibt es auch keine Blaupause, wie wir am besten durch diese schwierige Zeit kommen.
Auf nationaler Ebene haben wir zahlreiche Maßnahmen eingeführt, um die Wirtschaft zu unterstützen. Dazu waren wir in der Lage, weil wir seit der Weltfinanzkrise sehr gut gewirtschaftet haben. Auch darauf darf man noch mal hinweisen.
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Italien und Spanien sind allerdings nicht in dieser vergleichbar komfortablen Lage. Ja, zum Teil haben sie Reformen und Haushaltskonsolidierung versäumt. Aber man darf nicht vergessen, dass diese Länder unverschuldet deutlich härter von Corona betroffen sind als wir. Deshalb braucht es jetzt die vielbeschworene europäische Solidarität. Die Unionsfraktion begrüßt daher die Initiative der Bundeskanzlerin und des französischen Präsidenten für ein Wiederaufbauprogramm. Wir schauen auch mit Interesse auf die Pläne, die Ursula von der Leyen gestern vorgestellt hat. Denn ohne eine starke EU ist Deutschland schwach.
Ja, dieser Spruch klingt etwas abgedroschen; aber das macht ihn nicht weniger wahr. Deutschland allein wird im globalen Wettbewerb mit den USA oder China nicht bestehen können. Wir sind auf starke europäische Partnerländer innerhalb der Europäischen Union angewiesen. Gerade als Exportnation haben wir Interesse an nachhaltigem Wachstum und funktionierenden Lieferketten in ganz Europa. Wir werden daher natürlich darauf achten, dass die neuen Programme auf Zukunftstechnologien ausgerichtet sind und nicht auf allgemeine Budgethilfen. Genauso werden wir darauf achten, dass das Haushaltsrecht des Deutschen Bundestages gewahrt bleibt und Deutschland einen entsprechenden Anteil an den Wiederaufbauprogrammen erhält. Wenn wir die Zuschüsse verwenden, um die EU durch die Krise zu bringen und zukunftsfest zu machen, ist es auch vertretbar, besondere Finanzierungsinstrumente zu nutzen. Da ist Flexibilität gefordert.
Aber freuen Sie auf der linken Seite des Plenums sich nicht zu früh. Bei einer anderen Frage werden wir standhaft bleiben: Euro-Bonds und eine gesamtschuldnerische Haftung wird es mit uns nicht geben. Punkt!
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Wir sind überzeugt: Ohne Kongruenz zwischen Aufgabe, Kompetenz und Verantwortung kann eine Wirtschafts- und Währungsunion nicht erfolgreich sein. Die EU ist kein Zentralstaat. Das Budgetrecht verbleibt bei den Mitgliedstaaten.
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Das heißt nicht, dass wir keine weiter gehende Integration wollen. Im Gegenteil: Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft wird für diese Diskussion ein guter Ausgangspunkt sein.
Was wir jetzt europäisch auf den Weg bringen, ist ein Marshallplan für Europa. Dessen Grundidee ist die Erkenntnis, dass man sich selbst hilft, wenn man anderen hilft, und dass man sich sogar schaden würde, wenn man nicht das große Ganze im Blick hat.
Ich hoffe, dieses Aha-Erlebnis tritt auch noch bei den Antragstellern ein.
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Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir besprechen bzw. verabschieden heute das sogenannte Corona-Steuerhilfegesetz. Es bringt viele Verbesserungen, die ganz schnell wirken sollen für die, die jetzt Hilfe brauchen. Ich zähle diese Verbesserungen mal auf.
Ich fange mit den Zuschüssen des Arbeitgebers zum Kurzarbeitergeld an. Diese sind jetzt bis 80 Prozent steuerfrei aufstockbar. Wir hoffen, dass viele Arbeitgeber davon Gebrauch machen.
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Des Weiteren sind die Zuschüsse – dies wurde schon häufig angekündigt – von 1 500 Euro für die systemrelevanten Berufe, die vom 1. März bis zum 31. Dezember dieses Jahres gezahlt wurden oder noch werden, jetzt gesetzlich steuerfrei geregelt. Dies war vorher untergesetzlich geregelt. Da haben einige Arbeitgeber Bedenken gehabt, dass sie in Rechtsstreitigkeiten verwickelt werden könnten. Das ist jetzt geregelt. Ich hoffe, auch das wird an die Arbeitnehmer zügig ausgezahlt.
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Wir werden das Kurzarbeitergeld verlängern für die, die es dringend brauchen, weil Schulen und Kitas teilweise immer noch geschlossen sind. Wir verlängern auf 10 bzw. 20 Wochen bei Alleinerziehenden. Wir entschädigen den Verdienstausfall für die Betreuung von Behinderten oder auf Betreuung angewiesenen Menschen, die zum Beispiel von Werkstattschließungen betroffen sind. Auch das, finde ich, ist eine sehr wichtige Maßnahme.
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Wir verlängern für die Kommunen die Übergangsregelungen hinsichtlich der Umsatzsteuer, Stichwort „§ 2b“; Kommunalpolitiker wissen, was wir meinen. Wir haben hier Europarecht umzusetzen, haben aber Übergangsregelungen getroffen und werden diese noch mal verlängern, weil die Kommunen jetzt mit Corona beschäftigt sind und sich nicht mit steuerlicher Gestaltung beschäftigen können.
Dann hatten wir einen Punkt zu regeln, der schon einmal besprochen worden war und jetzt wieder reingeschoben wurde. Es geht um 7 Prozent statt 19 Prozent Umsatzsteuer auf Restaurant- und Verpflegungsdienstleistungen.
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Wir haben dies vom 1. Juli 2020 bis zum 30. Juni 2021 befristet.
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Ich habe in der Anhörung die Vertreterin des DEHOGA gefragt, ob das wirklich die richtige Maßnahme für diesen Bereich ist.
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Die Dame von der DEHOGA meinte, es wäre vor allem psychologisch wichtig, dass man das jetzt so macht, und es wäre ein Zeichen von Wertschätzung. Es kostet im Maximum 2,73 Milliarden Euro für dieses Jahr. Es betrifft 70 000 Betriebe. Es kommt nicht – wie sonst bei einer Mehrwertsteuersenkung – beim Konsumenten an, sondern es soll natürlich dem Anbieter mehr Möglichkeiten und mehr Luft bieten. Es führt nicht zu einer Angebotsverbesserung; aber es führt bei Betrieben, die jetzt sehr betroffen sind, vielleicht zu Mehreinnahmen, wenn sie denn bewirten können.
Ich glaube, das ist nicht das beste Maßnahmenpaket, das wir für diesen Bereich gestrickt haben; aber es war so gewünscht. Wir machen es deswegen, zumindest befristet. Aber ich glaube, dass wir in dem Konjunkturpaket, das wir in den nächsten Wochen stricken werden, den Gastronomiebereich unbedingt noch bedenken müssen. Denn zum Beispiel die Kneipen sind bisher überhaupt nicht positiv betroffen. Deswegen werden wir im Konjunkturpaket da noch was machen müssen – wie für andere Branchen auch.
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Wer die Hoffnung hatte, dass wir mit diesem Steuerpaket alle irgendwie bedienen können, den muss ich enttäuschen. Wir haben erst mal das Notwendigste gemacht.
Was bei uns in der Anhörung auch noch aufgelaufen ist – die Grünen haben es auch im Antrag angesprochen –, das ist die Ablaufhemmung bei Steuerstraftaten. Hier müssen wir schauen, dass wir nicht Verjährungsfristen ermöglichen, die wir so vorher gar nicht im Blick hatten. Das werden wir in einem der nächsten Gesetzgebungsverfahren aber auch noch berücksichtigen.
Ich denke, wir haben ein gutes Paket vorgelegt. Es gibt bestimmt Möglichkeiten, wie man es noch hätte besser machen können. Man kann es auch noch nachbessern. Vor allen Dingen kann man im kommenden Konjunkturpaket noch Dinge ergänzen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der AfD der Kollege Sebastian Münzenmaier.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Tourismusbranche liegt am Boden. Tausende von Menschen sind in ihrer Existenz bedroht. Die Gastronomie verbucht Umsatzeinbußen in Milliardenhöhe und durfte über Wochen überhaupt nicht öffnen. Die Lockerungen der Bundesregierung kamen – das haben wir mehrfach gesagt – zu spät und zu zaghaft. Aber auch jetzt, nachdem die Restaurants, die Cafés und die Gaststätten endlich wieder öffnen dürfen, zeigt sich, dass unter den vorgegebenen Auflagen ein erfolgreiches Wirtschaften nahezu unmöglich ist.
In einer aktuellen Studie des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbands geben vier von fünf befragten Betrieben an, dass unter den derzeitigen Auflagen kein wirtschaftliches Handeln möglich ist. Knapp 80 Prozent aller Betriebe haben einen Umsatz unter 50 Prozent des Vorjahreswertes, wohlgemerkt: nach der Öffnung, meine Damen und Herren.
Um Ihnen allen das noch mal zu verdeutlichen – die Kollegin von der SPD hat eben über die Zahlen gesprochen –: Wir sprechen über 220 000 gastronomische Betriebe in Deutschland mit über 2,4 Millionen Beschäftigten. Diese Menschen brauchen jetzt unsere Hilfe, meine Damen und Herren.
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Deshalb begrüßen wir als AfD-Fraktion ausdrücklich, dass der Mehrwertsteuersatz auf Speisen endlich auf 7 Prozent abgesenkt wird.
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Dieses Chaos um unterschiedliche Mehrwertsteuersätze ist und bleibt doch sowieso völliger Humbug. Wenn Sie sich hier in Berlin irgendwo eine Currywurst gönnen und sie diese auf die Hand mitnehmen, um sie um die Ecke auf einer Parkbank zu essen, muss der Gastronom 7 Prozent Mehrwertsteuer abführen. Wenn aber der Gastronom am Imbiss noch irgendwo einen Stehtisch anbietet, dann muss er plötzlich 19 Prozent Mehrwertsteuer abführen.
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Das ist ein absoluter Irrsinn. Der Mehrwertsteuersatz sollte sowieso vereinfacht werden.
Aber jetzt kommt die Bundesregierung in der Coronakrise und reagiert endlich – wieder mal zu spät und zu zaghaft; aber immerhin wollen Sie jetzt den Mehrwertsteuersatz auf Speisen auf 7 Prozent senken. Ich würde Ihnen gerne gratulieren, Herr Scholz. Aber wieso befristen Sie die Maßnahme denn dann auf ein Jahr? Sie wollen angeblich der Gastronomie unter die Arme greifen und reduzieren dann den Satz befristet auf ein Jahr, während Ihnen gleichzeitig die komplette Gastronomie erklärt, dass sie aufgrund der von Ihnen verhängten Maßnahmen unter wahnsinnigen Umsatzeinbußen und Verlusten leidet.
Frau Arndt-Brauer, Sie haben in Ihrer Rede viel gesagt. Ich fand einen Satz besonders bemerkenswert: Das ist nicht die beste Maßnahme, die wir treffen konnten. – Ich gebe Ihnen vollkommen recht. Das ist leider wahr.
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Deswegen haben Sie heute noch mal eine Chance. Wenn Ihnen das Gastgewerbe wirklich am Herzen liegt und wenn all die Versprechungen und Beteuerungen nicht bloß leere Worte sind, dann nutzen Sie diese Chance, und stimmen Sie unserem heute vorliegenden Antrag zu.
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Wir fordern im vorliegenden Antrag die dauerhafte Vereinheitlichung und Senkung der Mehrwertsteuer auf Speisen auf 7 Prozent. Beenden wir das Bürokratiechaos, und unterstützen wir endlich gemeinsam das deutsche Gaststättengewerbe.
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Bevor Sie mir jetzt mit dem Argument der Kosten kommen: Wir reden hier nach aktuellen Schätzungen über 1,5 Milliarden Euro weniger Steuereinnahmen – 1,5 Milliarden Euro! Das ist viel Geld. Aber vor wenigen Tagen hat ja unsere Bundeskanzlerin gemeinsam mit ihrem Busenfreund Macron ein Paket von 500 Milliarden Euro angestoßen. Ihre Parteikollegin Frau von der Leyen, liebe CDU, machte aus dieser Summe so ganz nebenbei mal um die 750 Milliarden Euro,
(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das ist doch nicht vergleichbar, oder?
die sie da sehen möchte. Dafür haftet wie immer hauptsächlich der deutsche Steuerzahler.
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Wir als AfD-Fraktion haben in dieser Frage eine andere Herangehensweise. Bevor wir die ganze EU retten, fangen wir lieber mal mit der heimischen Gastronomie an, meine Damen und Herren.
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Wissen Sie, die Gastronomie ist ein bedeutender Wirtschaftsfaktor. Aber sie ist noch viel mehr als das: Insbesondere im ländlichen Raum ist die Dorfgaststätte prägender Ort für das Gemeinschaftsleben.
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Wenn Sie jetzt nicht handeln, werden wir ein Betriebssterben erleben, wie wir es noch nie hatten. Wir werden Tausende von Existenzen vernichten, und die Gastronomiekultur, die unser Lebensgefühl und viele Ortsbilder über Jahrhunderte hinweg prägte, wird der Vergangenheit angehören.
Deshalb kann ich nur an Sie appellieren: Springen Sie über Ihren Schatten, und entscheiden Sie heute mal nicht nach parteipolitischen Maßgaben, sondern stimmen Sie unserem Antrag zu.
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Geben Sie der Gastronomie eine Chance und den Wirten eine Zukunft. Sie werden es Ihnen danken.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Fritz Güntzler.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörer! Wir haben heute infolge der Coronapandemie ein weiteres Steuergesetz zu beschließen, nämlich das Corona-Steuerhilfegesetz. Man könnte auch sagen: Soforthilfegesetz, weil – Kollegin Arndt-Brauer hat ja schon darauf hingewiesen – weitere Maßnahmen folgen müssen; darauf werde ich auch noch eingehen. Aber es ging jetzt im ersten Schritt darum, zu überlegen, wie wir die Liquidität der Unternehmen sichern.
Es gab schon verschiedene Maßnahmen der Finanzverwaltung. Es gab Stundungserleichterungen, zinslose Stundungen; die Herabsetzung von Vorauszahlungen wurde erleichtert. Also, es ist eine ganze Menge getan worden. Aber es ist weiterhin was zu tun, damit wir das Wesentliche schaffen, nämlich Liquidität bei den Unternehmen zu sichern.
Wir haben auch bestimmte Branchen im Blick; die Gastronomie ist ja jetzt schon mehrfach angesprochen worden. Frau Kollegin Arndt-Brauer sprach davon, dass dies nicht eine der besten Maßnahmen sei, die wir treffen würden. Ich zitiere dann lieber den Bundesfinanzminister, der in seiner Einbringungsrede gesagt hat, das sei eine ganz wichtige Verbesserung für diesen Bereich. – Also: Da, wo Herr Scholz recht hat, hat er recht.
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Von daher ist das eine gute Maßnahme. Es sind in der Kalkulation 12 Prozentpunkte weniger bei gleichen Preisen zu zahlen, die dem Gastronomen in Zukunft zur Verfügung stehen, wenn er denn wieder Umsatz machen kann. Es geht ja wieder los. Wir haben diese Maßnahme jetzt für die Dauer eines Jahres beschlossen, und wir werden die Diskussion weiter verfolgen.
Aber, Herr Münzenmaier, eins geht nicht: Sie haben hier die Auflagen, die wir oder auch die Länder gemacht haben, kritisiert. Diese Auflagen sind ja kein Selbstzweck. Sie dienen dem Schutz der Menschen. Wenn man sich an die Auflagen eben nicht hält, dann passiert – das wissen wir; das haben wir in Leer in Ostfriesland gesehen – Ungewolltes. Von daher ist es fahrlässig, wenn Sie hier heute dazu auffordern, diese Auflagen zu reduzieren.
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Wir werden in diesem Bereich weitermachen. Natürlich ist die Ermahnung richtig, dass man sich vielleicht mal grundsätzlich mit der Umsatzsteuer beschäftigen sollte, weil bei der Unterscheidung zwischen ermäßigtem Steuersatz und Regelsteuersatz nicht alles – Beispiele sind ja hier auch vorgetragen worden – erklärbar ist. Es sind ja schon mehrere politische Anläufe gemacht worden. Aber vielleicht könnten wir dieses Thema nach der Coronakrise ja noch mal aufgreifen und hier zu einer Vereinheitlichung kommen.
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Wir haben in diesem Gesetz auch einiges geregelt, was für die Kommunen wichtig ist – sie haben im Rahmen der Coronapandemie ja auch einiges zu leisten –: etwa dass sie in dieser Zeit ihr Umsatzsteuersystem nicht umstellen müssen. In dem Gesetz gibt es ja auch eine Maßnahme zur Übergangsregelung zu § 2b UStG. Die Frist der Übergangsregelung – Veränderung für die Besteuerung der juristischen Körperschaften des öffentlichen Rechts – verlängern wir jetzt für zwei Jahre, also bis zum 31. Dezember 2022. Wir hoffen, dass das Bundesfinanzministerium bis dahin dann auch die offenen Fragen klären konnte, die dazu geführt haben, dass wir dieses tun mussten.
Wir haben weiterhin dafür gesorgt – Frau Kollegin Arndt-Brauer hat darauf schon hingewiesen –, dass die Zuwendung, die ein Arbeitgeber seinen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Höhe von 1 500 Euro in diesem Jahr gewähren kann, gesetzlich geregelt wird.
Wir alle haben die Maßnahme, die Bundesfinanzminister Scholz ausgerufen und durch ein BMF-Schreiben geregelt hat, unterstützt. Wir hatten aber in der Anhörung und anderweitig vernehmen müssen, dass es hier doch gewaltige Rechtsunsicherheiten gibt. Von daher haben wir hier gehandelt. Der Gesetzgeber hat mal wieder – so kann man sagen – Handlungsfähigkeit bewiesen. Vielleicht ist das ja auch ein Hinweis an die Regierung, den Gesetzgeber öfter wieder einzubinden. Wir sind bereit und können schnell Beschlüsse fassen.
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Das sind einige Punkte. Wie gesagt, dieses Corona-Steuerhilfegesetz ist ein Anfang. Wir werden weitere Punkte umsetzen müssen, etwa ein Wachstumspaket. Es wird nicht nur darum gehen, die Liquidität zu retten, sondern auch darum, die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft aufrechtzuerhalten. Von daher werden wir unser Unternehmensteuerrecht modernisieren müssen. Wir werden über die maximale Belastung von einbehaltenen Gewinnen reden müssen. Wir werden Strukturdebatten führen müssen. Aber ein entscheidender Punkt, der die Liquidität betrifft, ist, dass wir was bei der Verlustverrechnung machen müssen.
Wir hatten eine sehr beeindruckende Sachverständigenanhörung. Ich habe in den letzten sieben Jahren, die ich dem Deutschen Bundestag angehören darf, viele Sachverständigenanhörungen miterlebt. Aber ich glaube, es gab noch keine, bei der sich die Sachverständigen unisono einig waren, dass wir die Verlustverrechnung verbessern müssen.
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Was heißt „Verlustverrechnung“? Verlustverrechnung ist eine Auswirkung der sogenannten Abschnittsbesteuerung. Wir nehmen in Deutschland als Wirtschaftsjahr ja immer das Kalenderjahr. Man guckt sich genau an: Welcher Gewinn, welcher Verlust ist entstanden? Es ist sinnvoll, im Rahmen einer Gewinnglättung im Ausfluss des wirtschaftlichen Leistungsfähigkeitsprinzips eben gute und schlechte Jahre miteinander zu verrechnen. Das nennt man „Verlustverrechnung“. Das sind so ungefähr 30 Prozent, die im Falle eines Verlusts bei einer Kapitalgesellschaft einen latenten Steueranspruch darstellen. Man kann diesen in der Zukunft natürlich mit Gewinnen verrechnen – dann muss man als Unternehmer eine längere Zeit warten, bis man das Geld wiederbekommt –, oder man kann ihn sogar mit entstandenen Gewinnen verrechnen. Das ist dann der Verlustrücktrag.
Diesen haben wir, was verfassungsgemäß ist – das ist mehrfach entschieden worden –, bei Kapitalgesellschaften sehr begrenzt, nämlich auf ein Jahr und auf 1 Million Euro . Ich glaube, der Zeitpunkt, den wir jetzt haben, ist gut dafür geeignet, um darüber nachzudenken, diesen Betrag – ich würde mal sagen – wesentlich zu erhöhen – er war früher mal bei 10 Millionen D-Mark; das wären dann 5 Millionen Euro –, aber vielleicht gibt es auch was dazwischen. Wir sollten, weil die Gewinnsituation bei Unternehmen 2018/2019 ja unterschiedlich war, auch darüber nachdenken, vielleicht sogar zu einem Zeitraum von zwei Jahren zurückzukehren. Das würde den Unternehmen tatsächlich helfen.
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Ich glaube, damit würden wir auch dem Nettoprinzip noch mehr Geltung verschaffen.
Wir sollten aber gleichzeitig auch darüber nachdenken, ob wir, wenn der Verlust für den Verlustrücktrag zu groß ist, die Mindestbesteuerung für die Folgezeit aufheben; denn sie dürfen nicht alle Verluste in den Folgejahren vollständig verrechnen. Auch das ist ein Punkt, den wir in diesem anstehenden Gesetzgebungsvorhaben aufgreifen sollten. Ich habe beim Koalitionspartner auch eine gewisse Bereitschaft vernommen, darüber zu diskutieren.
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Von daher sollten wir gemeinsam Lösungen finden. Das gilt auch für andere Themen. Beispielsweise könnten wir den Grenzwert der Istbesteuerung bei der Umsatzsteuer von 600 000 auf 800 000 Euro erhöhen.
Es gibt also noch viele Dinge, die wir angehen können. Wir sollten sie zügig angehen. Heute machen wir mit diesem Gesetz einen ersten Schritt. Weitere müssen dringend erfolgen. Wir haben unsere Vorschläge dazu gemacht. Wir warten auf die Vorschläge des Bundesfinanzministers, und dann werden wir hier zügig gute Gesetze für die deutsche Wirtschaft beschließen können.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Für die FDP ergreift das Wort der Kollege Till Mansmann.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben hier im Deutschen Bundestag in gemeinsamer Verantwortung schnell und entschlossen eine Menge Maßnahmen auf den Weg gebracht – viele wichtige Aufgaben in einer außergewöhnlich schwierigen Zeit. Auch heute liegt wieder so ein Gesetzentwurf auf dem Tisch. Es geht im Wesentlichen um eine zeitlich begrenzte Mehrwertsteuersenkung.
Auch wir Freien Demokraten sehen, dass das ein relativ unbürokratischer und schnell umzusetzender Weg ist, um den von den Maßnahmen gegen die Pandemie mit am stärksten getroffenen Unternehmen rasch unter die Arme zu greifen. Diese befristete Steuersenkung gibt den entlasteten Unternehmen in der Tat in den nächsten Monaten mehr Handlungsspielraum. Deswegen werden wir dieses Gesetz auch mittragen.
Aber gerade an dieser Stelle gibt es auch einige Kritik, die man hier auch deutlich benennen muss. Auch wir sehen das Umsatzsteuerrecht zwar als geeignetes Instrument an – andere Maßnahmen hätten auch irgendwelche Nebenwirkungen –, wir müssen aber die Frage stellen: Warum soll der Umsatzsteuersatz ausschließlich für die Abgabe von Speisen und nicht auch von Getränken abgesenkt werden? Gerade die Kneipen, die Bars, die Biergärten, die während des Lockdowns keinen Lieferservice anbieten konnten, waren doch besonders hart getroffen.
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Warum werden nicht noch ganz andere Unternehmen, die völlig andere Dienstleistungen oder Waren verkaufen und auch von Zwangsmaßnahmen des Staates betroffen waren, berücksichtigt?
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In der Tat wollen wir denen, die jetzt ausgewählt sind, die Hilfe nicht verweigern, weil doch sehr, sehr viele erfasst sind, die es ganz besonders hart getroffen hat.
Mit in diesem Gesetz steht nun auch die Verlängerung der Übergangsfristen für die umsatzsteuerliche Umstellung von Kommunen und ihren Betrieben im Rahmen der Umstellung auf Doppik an. Das wird von der Öffentlichkeit nur wenig wahrgenommen, und es sieht nach einem Randgeschehen aus. Auch das tragen wir mit. Wir müssen aber auch an dieser Stelle fragen: Warum gestehen Sie von der Großen Koalition den Kommunen großzügigere Umstellungsfristen zu, weil sie gerade mit Corona so beschäftigt sind, aber nicht den Unternehmen und den Arbeitnehmern?
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Wir haben Ihnen eine Reihe von Anträgen zu Ihrem Gesetzentwurf vorgelegt, die sich genau damit befassen. Auch die Unternehmen sollten sich jetzt nicht mit der komplexen Umstellung beschäftigen müssen, wie zum Beispiel mit der Pflicht, Registrierkassen mit einer zertifizierten technischen Sicherheitseinrichtung bis zum 30. September 2020 auszurüsten,
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oder mit der Geltendmachung von Abzugsbeiträgen für Anschaffung oder Herstellung von durch § 7g EStG geförderten Wirtschaftsgütern oder mit der Fristwahrung zur Übertragung stiller Reserven.
Auch die Arbeitnehmer, die ins Homeoffice geschickt worden sind, können nichts dafür und haben genau das gemacht, was alle wollten: Sie sind zu Hause geblieben und haben von dort aus ihre Arbeit weitergemacht. Aber wenn sie dort kein eigenes Arbeitszimmer haben, sondern nur ein Durchgangszimmer oder irgendeine Ecke und wenn sie ihren eigenen PC verwenden und damit die gemeinsamen Anstrengungen unterstützen, dann wird das steuerlich nicht berücksichtigt. Das müssen wir doch, ebenfalls befristet bis zum 31. Dezember 2020, ändern.
Dabei entstehen immer wieder auch zusätzliche Kosten, die in der bisherigen Gesetzgebung natürlich nicht vorgesehen waren. Aber auch das müssen wir machen: zum Beispiel die Befreiung von Einzelnachweisen von 20 auf 50 Euro befristet erhöhen.
Nun ist nicht aller Tage Abend – leider, muss man sagen. Wir wünschen uns ja alle, dass die Coronadämmerung endlich kommt und einem Freiheitsfrühling weicht. Wir werden in den nächsten Wochen noch weitere Gesetzentwürfe bekommen; das haben Sie ja angekündigt. Auch daran werden wir konstruktiv mitarbeiten – Herr Kollege Güntzler, natürlich auch bei der Verlustverrechnung. Wir stimmen Ihrem Gesetz also nun zu und hoffen, dass Sie unsere Vorschläge dabei noch mal eingehend prüfen.
Vielen herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner für die Fraktion Die Linke ist der Kollege Stefan Liebich.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Neulich, als alles dicht war, habe ich im Radio einen Klassiker des deutschsprachigen Schlagers gehört: „Dort in der Kneipe in unserer Straße, da fragt dich keiner, was du hast oder bist“. Die Älteren erinnern sich: Peter Alexander, 1976.
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Das war insofern ein bisschen traurig, weil alle Kneipen zu waren. Sie haben es erlebt: Sie alle haben wahrscheinlich auch ein Lieblingslokal, in das Sie nicht gehen konnten. Sie haben wahrscheinlich auch verzweifelte E-Mails von den Inhaberinnen oder Inhabern bekommen mit Spendenaufrufen oder der Bitte, sich das Essen von dort liefern zu lassen. Und das haben wir auch alle gemacht.
Aber wir sind hier nicht als Einzelpersonen, sondern als Gesetzgeber gefragt, weil viele Lokalinhaberinnen und Lokalinhaber vor dem Ruin stehen. Sie schlagen uns jedoch hier heute eine Lösung vor, die keine ist.
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Statt der kleinen Eckkneipe zu helfen, werfen Sie hier einen alten Hut in den Ring: die Umsatzsteuerermäßigung von 19 auf 7 Prozent. Diese Ermäßigung wollten die Hotel- und Gaststättenverbände ja schon immer – unabhängig von Corona; das hat damit gar nichts zu tun.
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Sie ist und bleibt die falsche Maßnahme, und sie hilft übrigens auch nicht.
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Was wir wirklich brauchen, sind direkte Zuschüsse für die Kneipen, die in Not sind.
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Was die AfD einfach nicht verstanden hat, ist: Den Kneipen wird damit überhaupt nicht geholfen. Explizit sind diejenigen ausgenommen, die nur Getränke verkaufen. Kneipen, Bars und Klubs bekommen gar keine Entlastung, sondern bestenfalls die großen Sternerestaurants. Was soll das dann?
Frau Arndt-Brauer, Sie haben es ja selber angesprochen. Sie glauben doch selber nicht, dass Sie das in einem Jahr wieder zurücknehmen werden.
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Herr Güntzler hat es eben auch schon angedeutet. Ich glaube nicht, dass das passieren wird – mitten im Bundestagswahlkampf. Da bin ich mal sehr gespannt. Diesen Weg werden wir nicht mitgehen.
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Es gibt eine Sache, die sehr gut ist und die wir unterstützen. Dass die verrückte Idee, dass Kommunen, Religionsgemeinschaften, Innungen, Kammern und andere juristische Personen sich ausgerechnet jetzt mit einer unfassbaren Bürokratie befassen müssen, nämlich dass sie künftig Umsatzsteuern wie Privatunternehmen zahlen sollen, erst einmal verschoben wird, ist gut. Die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister haben im Moment wirklich anderes zu tun.
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Aber das ist nur ein erster Schritt. Deswegen rufe ich hier noch etwas auf, was leider nicht in diesem Gesetzentwurf steht, nämlich die generelle Entlastung der Kommunen. Endlich hat Olaf Scholz mal einen sinnvollen Vorschlag gemacht,
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nämlich die Städte und Gemeinden in unserem Land mit einem Schutzschirm vor dem finanziellen Kollaps zu schützen. Das ist gut. Das fordern wir schon lange.
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Und was machen jetzt CDU, CSU, FDP und AfD? Sie blockieren. Was sagen eigentlich Ihre Bürgermeisterinnen und Bürgermeister dazu? Sie von der FDP haben zwar zahlenmäßig nicht so viele, aber ein paar Bürgermeister haben Sie ja auch. Was sagen die eigentlich dazu? Sie alle brauchen jetzt dringend Unterstützung. Sie brauchen Hilfe und haben keine Zeit für Koalitionsspielchen. Einigen Sie sich bitte schnell, und das möglichst noch vor der Sommerpause!
Danke schön.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Danyal Bayaz.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vorneweg an den Kollegen von der AfD kurz ein Satz: Man hat das Gefühl gehabt: Die AfD ist die letzte Bastion, die sich für die Interessen der Gastronomen in Deutschland einsetzt.
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Wenn ich mich recht entsinne, gibt es viele verantwortungsbewusste Gastronomen, die Ihrer Partei Veranstaltungen untersagen und Hausverbot erteilen. Also, tun Sie nicht so, als seien Sie die letzte Bastion. Ich glaube, die Gastronomen in Deutschland brauchen gerade vieles; aber das Letzte, was sie brauchen, ist Support von der AfD.
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Zur Sache. Sie von der Koalition sagen: Das ist ein gutes Gesetz. – Wir sagen: Immerhin, das ist kein schlechtes Gesetz, aber es bleibt hinter dem zurück, was notwendig ist und was möglich gewesen wäre. Dazu drei Punkte:
Erstens – wir haben es heute schon ein paar Mal gehört –: die steuerliche Nutzung von Verlusten. An der Stelle wäre es wirklich wichtig gewesen, eine Verbesserung, eine wirksame Maßnahme für schnelle Liquidität für Unternehmen auf den Weg zu bringen. Sie haben sich jetzt für die Senkung der Umsatzsteuer für eine spezifische Branche entschieden; das ist okay. Was wir aber brauchen, sind branchenübergreifende Lösungen. Deswegen haben wir als Fraktion einen Antrag eingebracht, in dem wir vorschlagen, wie Verlustrückträge breiter steuerlich nutzbar gemacht werden können. In der Anhörung am Montag haben uns viele Fachleute darin bestärkt, dass genau das der richtige Weg wäre. Ich gebe zu: Für unsere Steuerverwaltung ist das Thema nicht trivial. Aber ich höre heraus: Im Grunde teilen Sie diese Auffassung. Deswegen hätte ich mir an der Stelle mehr Mut von Ihnen gewünscht, meine Damen und Herren.
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Zweitens. Sie ignorieren in dem Gesetz die Verjährung von Steuerstraftaten und Betrugsprävention. Die Verjährung von Steuerstraftaten droht ja, weil Finanzämter durch diese Pandemie eingeschränkt sind, und die Betrugsprävention leidet, weil der Informationsaustausch zwischen der Finanzverwaltung auf der einen Seite und den Stellen, die Coronahilfen auszahlen, andererseits nicht geregelt ist. Auch da bleibt dieses Gesetz leider hinter dem zurück, was notwendig gewesen wäre, meine Damen und Herren.
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Und drittens. Es geht nicht nur um die Frage, wie wir dieses Jahr, wie wir 2020 retten. Es geht doch auch um die Frage, was wir heute tun müssen, um uns für 2030 gut aufzustellen. Deswegen reicht es natürlich bei Weitem nicht, nur an die Mehrwertsteuer in der Gastronomie zu gehen. Wir müssen auch darauf achten, dass wir kurzfristige Maßnahmen ergreifen, die uns einen Weg in eine bessere Zukunft ebnen. Und da gibt es gerade im Steuerrecht so viel Potenzial. Ich denke an bessere Abschreibungen für digitale Wirtschaftsgüter. Ich denke daran, dass wir endlich mal die Zertifizierungsstelle für die steuerliche Forschungsförderung an den Start bringen. Ich denke an bessere Anreize für die Wärmedämmung, damit auch das Handwerk profitiert. Und ich denke daran, dass wir Investitionen in nachhaltige Technologien steuerlich besser fördern könnten. Ich warte bis heute, dass die Bundesregierung mal einen Vorschlag für ihre Wasserstoffstrategie auf den Weg bringt. Da wäre insgesamt so viel mehr möglich gewesen, meine Damen und Herren!
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Uns alle hier im Haus treibt doch die Sorge um, dass wir möglicherweise von der einen Krise in die nächste stolpern. Um genau das zu vermeiden, geht es darum, die Marktwirtschaft sozialer, digitaler und ökologischer zu machen. Nur so schaffen wir eine Wirtschaft, die wettbewerbsfähig bleibt, wenn sie auch anpassungsfähig an veränderte Bedingungen ist; das merken wir ja in dieser Coronakrise quasi wie unter einem Brennglas. Deswegen bitte ich Sie, dass Sie mit dem Konjunkturprogramm, von dem heute schon ein paarmal die Rede war, diese Themen angehen. Lassen Sie uns gerne gemeinsam daran arbeiten, dass wir aus dieser Krise stärker herauskommen, als wir hineingegangen sind.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der SPD der Kollege Lothar Binding.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Der Titel des Gesetzes lautet ja „Gesetz zur Umsetzung steuerlicher Hilfsmaßnahmen zur Bewältigung der Corona-Krise“. Eigentlich weiß man nicht genau, was damit gemeint ist. Warum? Weil es sich eigentlich um ein Fragment handelt, um ein Fragment, das man einmal einbetten muss in das, was schon geschehen ist: Familienhilfen, Kurzarbeit, Zuschüsse, Darlehen, Nachtragshaushalt in Höhe von 156 Milliarden Euro, die EU-Programme. Da geschah schon sehr viel. Und dann muss man es einbetten in das, was noch kommt; denn wir haben letztendlich einen Pfad zur sozialökologischen Transformation zu begehen. Dieser Pfad ist ziemlich lang. Jetzt kann man sich vorstellen, dass es nicht gelingen dürfte, in ein Gesetz alles, was noch kommt, hineinzupacken, weil die Zukunft länger ist als der Horizont, in dem wir Gesetze machen.
Insofern ist es klug, wenn man es in einen Gesamtzusammenhang einbettet. Fritz Güntzler hat eine Reihe von Dingen genannt. Dass wir über die Verlustverrechnung nachdenken, ist klar. Wir wollen nicht ganz so weit zurückgehen, wie die Grünen das vorschlagen, weil das sehr bürokratisch wäre. Aber die Idee ist gut, mehr und länger zurückzugehen. Verrechnungen sind prima. Dass wir über Möglichkeiten der degressiven Abschreibung nachdenken, um kurzfristig zu helfen, ist auch sehr gut.
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Übrigens, Olaf Scholz hat damit schon begonnen – untergesetzlich – und gesagt: Die Verluste aus 2020 können mit den Steuervorauszahlungen aus 2019 verrechnet werden. – Vielleicht ist die Dimension noch nicht diejenige, die man sich wünscht.
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– Hans, das ist verständlich. – Ein bisschen schneller, ein bisschen mehr ist immer schön. Aber es ist ein erster wichtiger Schritt, der die Weiche gestellt hat. Damit können wir weiterarbeiten. Wir denken außerdem über eine Fristverlängerung im Zusammenhang mit § 7g EStG nach, um Investitionen zu erleichtern.
Wir brauchen vielleicht auch eine Nachfragestimulierung. Das ist aber kompliziert; denn Nachfrage zu stimulieren, ist schwierig. Ich kann zum Beispiel Arbeitnehmern mehr Geld geben, um die Nachfrage zu stimulieren,
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oder ich kann jemandem Geld geben, um sein altes Autos durch ein neues zu ersetzen. Jeder merkt schon: Das ist ein weites Feld. Das ist auch ein bisschen vermint.
Wenn wir den Unternehmen jetzt so helfen, wie wir das machen, und Abermilliardenrisiken auf die Schultern des Staates laden, dann erwarte ich von der Industrie, dass die Steuergestaltungen ein Ende haben,
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dass der Betrug ein Ende hat, dass es keine Schwarzarbeit mehr gibt, dass prekäre Beschäftigung eingedämmt wird
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und dass auch der Kassenbetrug aufhört.
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Ich erwarte vom DEHOGA, nachdem wir so geholfen haben, dass die Leerlaufzeit genutzt wird, um alle Gaststätten mit Kassen auszustatten und sich darauf vorzubereiten, dass dann alles, wenn der Hochlauf im September beginnt, endlich fair zugeht.
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Die dafür notwendigen 300 Euro haben die Betroffenen; das ist überhaupt kein Problem. In Erwartung der großen Steuernachlässe können die Unternehmen das jetzt schon antizipieren, also vorwegnehmen, können die entsprechenden Investitionen tätigen. Ich verlange Fairness von den Unternehmen. Diese verlangen Fairness vom Staat. Wir sind bereit, das zu machen. Ich verlange das Gleiche von allen Unternehmen und auch von den Gaststätten.
Unser Präsident Thomas Oppermann hat in der Fraktionssitzung gesagt: Wir sollten aufpassen, dass sich die Gaststätten nicht minder wertgeschätzt fühlen, weil diese eine ganz wichtige gesellschaftliche, kulturelle und soziale Funktion haben. Das ist so. Er hat recht.
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Deshalb machen wir Dinge, von denen wir erwarten können, dass sie auf der anderen Seite entsprechend quittiert werden. Wenn wir jetzt helfen und anschließend betrogen werden, ist das unfair. Das wollen wir nicht. Das muss man auch so sehen.
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Ansonsten ist klar: Dieses Gesetz korrespondiert ganz wesentlich mit der Kurzarbeit. Die Kurzarbeitsregeln sind richtig gut. Das Kurzarbeitergeld von 60 Prozent wurde angehoben. Leider haben wir das nicht in einem Schritt auf 80 Prozent geschafft. Das ist nun auf verschiedene Monate verteilt. Aber insgesamt ist das sehr klug. Dass wir jetzt die Kurzarbeitsgelder steuerfrei stellen und damit auch sozusagen die sozialrechtlichen Regelungen der Beitragsfreiheit nachbilden, ist auch sehr gut. Ich meine, das muss erst einmal ein Finanzminister mitmachen; denn er übernimmt damit eine gigantische Verantwortung für die Zukunft. Das bedeutet ja etwas für den Haushalt. Sich zu überlegen, wie man das später wieder reguliert, ist eine große Aufgabe. Wer sich dazu bereit erklärt, der hat unser höchstes Lob verdient.
In diesem Sinne sage ich noch mal schönen Dank für die riesige Vorarbeit der Exekutive.
Herr Binding, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Aggelidis am Schluss Ihrer Rede?
Nein, das würde ich nicht erlauben. Ich glaube, das ist nicht so sehr sinnvoll. – Wir sollten auf dem Boden der Tatsachen bleiben und die Zukunft in den Blick nehmen. Deshalb setze ich mich jetzt wieder hin.
Schönen Dank.
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Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Dr. Hans Michelbach.
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Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Wir befinden uns ohne Zweifel in der schwersten Wirtschaftskrise seit Bestehen unserer Bundesrepublik. Unser vorrangiges Ziel muss es deshalb sein, die Wiederbelebung der Wirtschaft in Deutschland und in Europa voranzutreiben. Wir haben bisher kurzfristig gehandelt, um die Pandemie zurückzudrängen und vor allem auch die Folgen für Bürger und Unternehmen abzufedern. Das unterstreicht auch das Corona-Steuerhilfegesetz, das hier und heute beschlossen wird. Die Maßnahmen sind ausgewogen. Wir unterstützen die schwer gebeutelte Gastronomie. Wir sichern die Steuerfreiheit der Sonderzahlungen für Arbeitnehmer. Wir unterstützen jene, die Kinder und Behinderte zu Hause betreuen, weil Schule und Betreuungseinrichtungen geschlossen sind.
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Ja, meine Damen und Herren, ab jetzt müssen wir aber alles daransetzen, dass unsere Wirtschaft insgesamt auf den Wachstumspfad zurückkehren kann. Wir brauchen dazu eine klare ordnungspolitische Konzeption. Nur dann kann unsere Wirtschaft wieder aus eigener Kraft wachsen; und darum geht es. Es geht nicht um Staatswirtschaft, sondern um Marktwirtschaft, meine Damen und Herren.
({1})
Ein Überbietungswettbewerb um Staatshilfen mit zweifelhaften Lenkungswirkungen oder Schuldenübernahmen nach dem Motto „Wer schüttet das größte Füllhorn aus?“ führen gewiss nicht zum Ziel, meine Damen und Herren. Er erweckt falsche Erwartungen, die nur enttäuscht werden können.
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Die Grünen wollen gerade Staatshilfen mit Geschlechterquote. Also, ich habe schon viel Unsinn gehört, aber das ist einfach der Gipfel des Unsinns: Staatshilfen mit Geschlechterquote.
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Meine Damen und Herren, nötig sind vielmehr Liquidität für Unternehmen und Bürger, ein Belastungsmoratorium und vor allem auch nachhaltige Strukturverbesserungen. Nötig ist also Ordnungspolitik statt Strohfeuer. Vorrangig ist dabei für uns eine Verbesserung der Verlustverrechnung. Die Unternehmen können nach jetzigem Stand ihre durch Corona bedingten Verluste erst mit der Steuererklärung 2020 im nächsten Jahr geltend machen. Meine Damen und Herren, das ist zu spät für Insolvenzen in diesem Jahr.
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Je früher die Unternehmen ihre Verluste mit den Gewinnen von 2018/2019 verrechnen können, desto schneller wachsen sie wieder und zahlen auch wieder neue Steuern; und das ist der Weg, der in einer Marktwirtschaft richtig ist.
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Herr Michelbach, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Aggelidis von der FDP?
Bitte schön.
Vielen Dank, Herr Dr. Michelbach. – Ich hätte die Frage gerne auch dem Kollegen Binding gestellt, aber da hat ihn offenbar der Mut verlassen.
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Ich möchte sehr gerne auf einen Part hinweisen, der offensichtlich hier in der Debatte eher ein Randthema ist. Aber als familienpolitischer Sprecher muss ich das doch erwähnen, weil Sie gerade auch die Familien angesprochen haben. Sind Sie nicht auch der Meinung, dass es gerade hinsichtlich der Unterstützung von Familien – Sie haben die Situation angesprochen, dass Kinder eben zu Hause betreut werden müssen, weil Kindergärten und Schulen geschlossen sind oder zumindest keinen Normalbetrieb haben – jetzt eine gute Chance gewesen wäre, klarzustellen, dass Eltern Arbeit im Homeoffice und Kinderbetreuung eben nicht locker parallel machen können, weil Homeoffice, auch wenn es ermöglicht wurde, nicht quasi als Kinderbetreuungsersatz angesehen werden kann, sondern es sozusagen ein parallel zu händelndes Thema ist? Und haben Sie vor, das als Koalitionsfraktion oder auch als Regierung endlich zu ändern, wobei Sie natürlich nicht für die Regierung antworten können?
Danke.
Herr Kollege, ich habe verstanden, dass Sie mehr Unterstützung, mehr Quersubventionen für Familien wünschen. Im Konjunkturpaket setzen wir uns mit diesen Fragen natürlich auseinander. Aber die wesentliche Frage ist ja immer die Abwägung: Wie effizient ist eine solche Staatshilfe, bzw. ist es nicht effizienter, die Menschen generell steuerlich zu entlasten, weil sie das Geld ja nur einmal ausgeben können und die Finanzmittel ja nicht gerade vom Himmel fallen? Deswegen ist das ein Abwägungsprozess. In jedem Fall müssen wir den Bürgerinnen und Bürgern mehr Hilfen, mehr Liquidität, mehr Freiraum zugestehen. Darum geht es letzten Endes.
({0})
Meine Damen und Herren, die Unternehmen und die Bürger brauchen Liquidität, und dies nicht nächstes Jahr. Dem Staat entstehen dadurch natürlich keine Einnahmeausfälle, wenn man die Verlustverrechnung durchführt. Er verzichtet nur früher auf Geld, das er ohnehin, Herr Bundesfinanzminister, später zurückzahlen müsste. Es ist mehr oder minder ein Austausch in den Jahren.
Wir brauchen aber auch mehr Liquidität – und da schließe ich an die Frage an – durch eine Steuerreform und damit Entlastung bei Bürgern und Unternehmen; denn die Bürger, meine Damen und Herren, wissen selbst einfach am besten, wie sie ihr Geld ausgeben wollen.
({1})
Freiheit für unsere Steuerzahler ist der marktwirtschaftlich beste Weg, ist besser, als wenn letzten Endes der Staat bestimmt, für was Geld zur Verfügung gestellt wird.
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Das alles müssen wir in einem Belastungsmoratorium mit Maßnahmen ergänzen, die den Staat kein Geld kosten – auch das gibt es –, die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen aber erleichtern: Verzicht auf die einseitige Belastung des Erwerbs deutscher Aktien zur Altersvorsorge durch eine Finanztransaktionsteuer zum Beispiel, keine zusätzliche Kostenbelastung für Finanzanlagenvermittler durch die Übertragung der Aufsicht auf die BaFin, Verschiebung der Einführung einer Kassenpflicht. Meine Damen und Herren, da muss ich sagen: Es ist doch völlig irre, dass man auf der einen Seite den Gastronomen etwas gibt, sie es aber gleich an den Kassenhersteller weitergeben sollen. Das ist doch nicht passend, meine Damen und Herren.
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Wir brauchen natürlich aber auch die Entschlackung der Planungs- und Genehmigungsrechte zur Beschleunigung von Investitionsvorhaben, was allemal besser ist, wenn der Staat langfristig auf Investitionen setzt, da diese natürlich immer lange Vorlaufzeiten haben.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. – Wenn wir den Mut und die Stärke aufbringen, kann die gegenwärtige Krise auch zu einer Chance werden, und diese Chance sollten wir für das Gemeinwohl nutzen.
Herzlichen Dank.
({4})
Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Deshalb schließe ich die Aussprache.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Zuschauer! Der Sozialstaat beweist sich nicht nur in guten Zeiten. Wenn es knackt und knirscht, wird deutlich, ob der Sozialstaat funktioniert. In der Krise wird deutlich, ob die Demokratie funktioniert oder nicht, ob sich die Menschen auf den Staat verlassen können, ob er ihnen hilft, wenn sie Hilfe brauchen. Wir haben in den vergangenen Wochen Entscheidungen getroffen, die zeigen: Die Menschen können sich auf den Sozialstaat verlassen; und das ist gut so.
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Der Sozialstaat funktioniert – nicht fehlerlos. Wie auch? Aber er zeigt in dieser einzigartigen Krise, wozu er fähig ist.
In diesen Zeiten wird aber auch klar, wer es wirklich ernst meint mit der Solidarität, wer auf Zusammenhalt setzt und nicht auf Spaltung. Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht auch hier in diesem Hohen Haus Paketboten, Pflegekräfte und die Kassiererinnen im Einzelhandel für ihren Einsatz in der Coronakrise sehr gelobt werden, und das völlig zu Recht. Nur: Lob alleine reicht nicht.
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Wertschätzung hat auch etwas mit konkretem Handeln zu tun. Deshalb finde ich es nicht nur verlogen, sondern ein verheerendes Signal, wenn ernsthaft darüber nachgedacht wird, den Mindestlohn abzusenken. Das geht gar nicht.
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Das ist ein Schlag ins Gesicht vieler Tausend Frauen und Männer, die jeden Tag versuchen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, und das in oft extrem anstrengenden Jobs und bei niedrigen Löhnen.
Niedrige Löhne bedeuten in der Regel auch niedrige Renten. Wer jetzt einer Senkung des Mindestlohns das Wort redet, der nimmt rasant wachsende Altersarmut in Kauf. Das kommt für uns überhaupt nicht infrage.
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Ganz im Gegenteil: Wir wollen, dass der Mindestlohn so rasch wie möglich erhöht wird auf 12 Euro.
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Das würde das Problem der Altersarmut nicht lösen, aber verringern.
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Ein funktionierender Arbeitsmarkt, gute Tarifverträge und ordentliche Löhne sind der Schlüssel für eine ausreichende Altersversorgung.
Man könnte auch darüber nachdenken – ich sage das mal ganz offen –, dass Arbeitgeber, die nur den Mindestlohn zahlen, den Rentenbeitrag auf einen Mindestbeitrag für eine armutsfeste Rente aufstocken müssten. Das würde zielgenau jene Arbeitgeber sozusagen in Haftung nehmen, die unzureichende Löhne zahlen, und das würde die Solidargemeinschaft entlasten.
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Nun gibt es ja auch hier einige – das werden wir gleich auch hören –, die sagen: Altersarmut ist ja gar kein Problem. 3 Prozent der über 65-Jährigen sind in der Grundsicherung. Worüber redet ihr? Warum die Aufregung?
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Zum einen, weil die Zahl seit Jahren steigt, zum anderen, weil ein großer Teil derjenigen, die Anspruch auf Grundsicherung haben, diese nicht in Anspruch nehmen – aus Scham, aus Unwissenheit und aus der Befürchtung, dass ihre Kinder vom Sozialamt zur Kasse gebeten werden.
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Und – der Zwischenruf war richtig – die Grundsicherung deckt lediglich das Existenzminimum ab. Armut beginnt in diesem Land ganz woanders.
Aber es geht nicht nur darum, Altersarmut zu vermeiden; es geht vor allem darum, sicherzustellen, dass Frauen und Männer, die lange gearbeitet haben, eine ordentliche Rente bekommen.
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Dazu gibt es in diesem Haus unterschiedliche Ideen. Einig sind wir uns da mit den Grünen und Linken, dass die gesetzliche Rente das Fundament für eine gute Altersversorgung bleiben muss.
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Einig sind wir uns auch – bei allen Unterschieden im Detail –, dass es eine gesetzliche Rentenversicherung geben soll, in die alle einzahlen,
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zum Beispiel auch Selbstständige, Abgeordnete und auch Beamte.
In ihrem Antrag schlägt Die Linke unter anderem vor, das Rentenniveau bei der gesetzlichen Rente deutlich zu erhöhen. Bei aller persönlichen Sympathie für diese Forderung
({12})
– wart’s mal ab –: Das Rentenniveau ist ein Indikator, der oft missverstanden wird und allein relativ wenig aussagt. Das Rentenniveau ist ja nicht, wie viele meinen, der Prozentsatz des letzten Einkommens, sondern das Verhältnis von Durchschnittseinkommen zur Standardrente, also eine statistische Größe, und die hat unter Umständen kuriose Auswirkungen. Wir werden nämlich im nächsten Jahr erleben, dass das Rentenniveau steigt, weil die Löhne wahrscheinlich nicht so stark steigen wie die Renten in diesem Jahr. Das führt dazu, dass das Rentenniveau steigt, ohne dass sich an der materiellen Situation der Rentnerinnen und Rentner irgendetwas geändert hat. Das zeigt: Das Niveau ist ein Hinweis, aber allein wenig aussagekräftig.
Trotzdem ist es nicht in Ordnung, dass man auch als Durchschnittsverdiener immer länger arbeiten muss, um einen Rentenanspruch zu erwerben, der oberhalb der Grundsicherung liegt. Deshalb war es richtig, den Sinkflug des Niveaus zu stoppen und für die nächsten Jahre zu garantieren, dass das Niveau nicht unter 48 Prozent sinkt. Das hat die SPD durchgesetzt.
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Wie kriegt man es hin, dass Menschen im Alter eine Rente bekommen, die einigermaßen reicht, die anerkennt, wenn eine Frau oder ein Mann lange gearbeitet, Kinder erzogen und Angehörige gepflegt haben? Die Linke schlägt unter anderem eine Mindestrente vor
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– nicht zu früh klatschen –,
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die unabhängig von Beitragszahlungen an die Rentenversicherung bei 1 050 Euro liegen soll.
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Das lehnen zum Beispiel der Sozialverband VdK und der DGB ab.
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Ein armutsfestes Existenzminimum ohne Vorleistung, das sei Sache der Grundsicherung und nicht der Rente, schreibt der DBG in seiner Stellungnahme. Da ist was dran.
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Die Grünen fordern eine Garantierente, die nach 30 Versicherungsjahren auf den Gegenwert von 30 Entgeltpunkten aufgestockt wird. Darüber kann man sich unterhalten, auch wenn es da aus unserer Sicht noch eine Reihe von Details zu klären gibt. Vielleicht haben wir in den nächsten Jahren ja mal Gelegenheit, einen gemeinsamen Vorschlag zu entwickeln.
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Die aktuelle Mehrheit in diesem Haus hat sich für das Modell der Grundrente entschieden, die jetzt auf dem Tisch liegt. Sie ist komplizierter geworden, als es aus unserer Sicht sein müsste; aber es ist ein großer Schritt in die richtige Richtung. Mit ihr werden langes Arbeiten, Kindererziehung und Pflege von Angehörigen anerkannt. Wer 33 Jahre Grundrentenzeiten nachweisen kann, wird eine höhere Rente bekommen. Klar: Man kann über Details immer streiten. Aber es ist nach zwei vergeblichen Versuchen in den vergangenen Wahlperioden jetzt zum ersten Mal so weit, dass ein entscheidungsreifer Vorschlag hier im Parlament liegt.
Die Menschen warten darauf, dass jetzt Ernst gemacht wird – gerade die, die jeden Tag mit ihrem Einsatz unter schwierigsten Bedingungen den Laden am Laufen halten: die Paketboten, die Kassiererinnen im Einzelhandel und die Pflegekräfte.
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Sie haben völlig zu Recht kein Verständnis für taktische Verzögerung und für das Argument, für die Grundrente sei gerade kein Geld da. Die Grundrente ist kein Luxus. Im Gegenteil: Sie steht für Gerechtigkeit und Solidarität. Der Sozialstaat beweist sich nicht nur in Schönwetterzeiten. Gerade jetzt zeigt sich, wer es ernst meint mit der Solidarität in der Gesellschaft und wer auf Zusammenhalt und nicht auf Spaltung setzt.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin in der Debatte ist für die Fraktion der AfD die Kollegin Ulrike Schielke-Ziesing.
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Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Bürger! Der Antrag der Linken zur solidarischen Mindestrente enthält gleich zwei Lösungsvorschläge. Auf der einen Seite soll mit unterschiedlichsten Maßnahmen die gesetzliche Rente gestärkt und damit die durchschnittliche Rente erhöht werden. Auf der anderen Seite ist dann aber eh alles egal, und die große Lösung heißt: Einheitsrente für alle.
({0})
Die gesetzliche Rente ist in den letzten 20 Jahren geschwächt worden. Ein zentrales Symptom ist das sinkende Sicherungsniveau der Rente.
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Dieser Diagnose der Linken in ihrem Antrag ist weitgehend zuzustimmen. Der Behandlungsvorschlag der Linken sieht jedoch neben einer Anhebung des Rentenniveaus auf 53 Prozent die sogenannte solidarische Mindestrente vor. Der Wirkstoff dabei besteht in einer monatlichen Mindestrente in Höhe von 1 050 Euro netto. Diese Alterssicherung soll jedermann beziehen können. Voraussetzung für diese Jedermannsrente ist lediglich die Vollendung des 65. Lebensjahres und der dauerhafte Aufenthalt in Deutschland.
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Eine eigene Rente unterhalb der 1 050 Euro soll gegebenenfalls auf diese Mindestrente aufgestockt werden.
Ob Beiträge in die Rentenversicherung eingezahlt wurden oder nicht, ob und wie lange im Inland Steuern gezahlt wurden, ob Kinder großgezogen wurden oder ob sich in sonstiger Art und Weise positiv in die Gesellschaft eingebracht wurde – all das spielt für den Zugang zu der Mindestrente der Linken keine Rolle. Diese Rente ist einfach für alle da, für alle, die in Deutschland dauerhaft leben. Wir haben damit eine Art bedingungsloses Grundeinkommen, das an anstrengungslose Voraussetzungen anknüpft.
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Das Rentenkonzept der Linken ist nicht zu Ende gedacht und weit entfernt von jeder Rentengerechtigkeit und vor allen Dingen von der Realität.
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Die Mindestrente der Linken bietet keine Rentengerechtigkeit, weil sie den Rentner, der mit eigenen Beiträgen eine Rente von mehr als 1 050 Euro erarbeitet hat, allenfalls von einer geringen Aufwertung profitieren lässt und zugleich dem Lebenskünstler, der vielleicht sein ganzes Leben nicht einen Euro eingezahlt hat, eine Rente von 1 050 Euro sichert.
Diese solidarische Mindestrente macht die gesetzliche Rente kaputt. Für den optimalen Rentenbezug kommt es nicht mehr auf eigene Beitragsleistung über lange Zeit an, sondern lediglich darauf, zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein. 45 Beitragsjahre in Vollzeit lohnen kaum, wenn man nicht mindestens durchschnittlich verdient. Warum dann also noch arbeiten gehen? Auf keinen Fall sollte man auch zu viel verdienen; denn nach den Linken werden hohe Renten künftig degressiv abgeflacht, also mit einem Rentendeckel versehen.
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Wer zu viel Rente hat, der wird solidarisch gedeckelt.
Die weitere Idee der Linken, die Beitragsbemessungsgrenze aufzuheben in Kombination mit dem neuen Rentendeckel, ist auch sehr kreativ – sehr kreativ, wenn man eine neue Steuer einführen will. Das Ganze hat nichts mehr mit einer Rentenversicherung im Sinne einer Versicherung zu tun, sondern ist dann nur eine neue Steuer für Gutverdiener.
Das Rentenkonzept der Linken ist ungerecht und zeigt schwerste Nebenwirkungen bei den Rentnern und der Rentenversicherung. Diese Medizin mit Nebenwirkung wollen und brauchen die Bürger nicht.
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Auch die Garantierente der Grünen bereichert die Rentendiskussion. Sie enthält jedoch neue Ungerechtigkeiten. So fordern die Grünen eine Art Rentensplitting bei Ehegatten, und dies während der laufenden Ehe. Die Grünen wenden sich also einerseits gegen das steuerliche Ehegattensplitting,
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fordern aber andererseits ein Rentensplitting. Das muss man nicht unbedingt verstehen.
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Ein zwangsweises Rentensplitting trägt schweren Unfrieden in die Familien hinein, kratzt an der Eigentumsgarantie und schafft ein neues Bürokratiemonster. Eine solche Zwangsbeglückung braucht keiner und wird durch uns abgelehnt.
Vielen Dank.
({9})
Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Peter Weiß.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger! Die umlagefinanzierte, beitragsfinanzierte gesetzliche Rente
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ist und bleibt die wichtigste Säule der deutschen Altersversorgung. Und gerade in Krisenzeiten wie diesen zeigt sich: Die gesetzliche Rente ist krisenfest, und das ist eine gute Nachricht.
({1})
Das Zweite, was ich anmerken möchte – das Thema Mindestlohn ist angesprochen worden –, ist: Wir als Parlament haben ein Mindestlohngesetz beschlossen, was richtig ist, weil anständige Löhne zu einer sozialen Marktwirtschaft gehören. Im Zuge dessen haben wir mit den Tarifpartnern, die in Deutschland für die Lohnfindung zuständig sind, nämlich Gewerkschaften und Arbeitgeber, eine Mindestlohnkommission geschaffen, die diesen Mindestlohn festlegt. Deswegen möchte ich für die Unionsfraktion erklären: Wir wollen keine Absenkung des Mindestlohns, sondern wir wollen Respekt und Anerkennung für die hervorragende Arbeit der Mindestlohnkommission, deren Ergebnisse auch eins zu eins umzusetzen sind.
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Unser Rentensystem ist lohn- und beitragsbezogen. Das heißt, jeder erwirbt sich mit den Einzahlungen in die Rentenversicherung einen Anspruch. Natürlich erwartet derjenige, der mehr eingezahlt hat als ein anderer, derjenige, der ganztags gearbeitet hat im Vergleich zu jemandem, der halbtags gearbeitet hat, derjenige, der sich angestrengt hat, eines Tages auch eine entsprechende Gegenleistung aus der Rentenversicherung.
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Die Anträge, die hier vorliegen, haben den großen Fehler, dass beide letztendlich Vorschläge enthalten, für einen großen Teil der Rentnerinnen und Rentner in Deutschland eine Einheitsrente zu schaffen,
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ohne Rücksichtnahme auf das, was man geleistet hat. Ich muss Ihnen ganz klar sagen: Das lehnen wir nicht nur ab; das halten wir auch für falsch. Das halten wir für einen Anschlag auf die Grundfesten der Deutschen Rentenversicherung.
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Warum soll sich ein junger Mensch in der Ausbildung anstrengen,
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warum soll er sich im Beruf anstrengen, sich fortbilden, vielleicht den Meister oder die Technikerausbildung machen,
({7})
wenn ihm gesagt wird: „Aber am Schluss, wenn du in den Ruhestand gehst, ist alles wurst; du wirst gleichgestellt mit anderen, die zum Teil gar nichts in das System eingezahlt haben“? Das geht schlichtweg nicht.
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Wer eine solche Botschaft aussendet wie die beiden Anträge, die heute vorliegen, der demotiviert junge Menschen,
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der demotiviert diejenigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die sich in der Tat gerade auch in diesen Krisenzeiten anstrengen. Die strengen sich an, um den Lebensunterhalt für sich und ihre Familien zu sichern, aber auch dafür, dass sie eines Tages eine anständige Rente erhalten. Das wollen wir im Kern erhalten.
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Auf der anderen Seite ist auch richtig, dass es viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gibt, die in einer Situation sind, in der sie sich mit ihrem Gehalt und aufgrund ihrer Lebensbiografie leider keine ausreichende Rente für das Alter erarbeiten können.
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Deswegen sollen die Vorschläge, die mit dem Grundrentengesetz jetzt vorliegen – orientiert an dem individuellen Rentenanspruch, den man sich erworben hat –, einen Freibetrag in der Grundsicherung ermöglichen bzw. ermöglichen, dass diese zu niedrigen Rentenansprüche eine Aufwertung erfahren, und zwar immer eine individuelle Aufwertung – also keine einheitliche Aufwertung für alle – von Rentenansprüchen, damit man von dieser Rente auch leben kann. Das ist das richtige Rezept.
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Der zweite systematische Fehler: Diese Einheitsrentenvorschläge,
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die letztendlich nichts anderes sind als eine Umbenennung von Sozialhilfe,
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führen dazu, dass dieses System immer mehr steuerfinanziert ist. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sagt: Die beitragsfinanzierte Rente ist eigentumsgeschützt. Das hat einen großen Wert für alle Rentnerinnen und Rentner und für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
({15})
Sie haben sich etwas erworben, auf was sie einen echten, unverbrüchlichen Anspruch haben, und das möchte ich auch für die Zukunft erhalten.
Es darf nicht sein, dass eines Tages der Finanzminister und nicht mehr der Arbeits- und Sozialminister für die Rente zuständig ist.
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Und es darf nicht sein, dass eines Tages im Bundestag je nach Haushaltslage über Höhe oder Tiefe von Rentenansprüchen entschieden wird. Nein, wir wollen daran festhalten, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einen selbsterworbenen, unverbrüchlichen Anspruch auf die Leistungen der Rentenversicherung haben, und wir wollen keine staatsfinanzierte Einheitsrente. Das führt ins Verderben.
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Nun haben ja viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu Recht etwas gemacht, das auch wichtig ist, nämlich sich einen zusätzlichen Anspruch auf Rente erworben. Gerade für die Geringverdiener ist das ein Problem, weil sie kaum Möglichkeiten dazu haben. Deswegen haben wir schon beim Betriebsrentenstärkungsgesetz gesagt: Wir schaffen einen rein arbeitgeberfinanzierten Zuschuss zur betrieblichen Altersvorsorge, den wir steuerlich unterstützen, damit sich auch ein Geringverdiener – ohne einen eigenen Euro anrühren zu müssen – eine Zusatzrente aufbauen kann. – Ich bin froh, dass wir, wenn wir das Gesetz zur Grundrente hier beraten und beschließen, diese Förderung verdoppeln.
Ja, wir wollen auch Geringverdienern ermöglichen, dass sie eine Zusatzrente haben, damit sie am Lebensabend bei der Rente auf zwei Säulen bauen können: auf die gesetzliche Rente als wichtigste Säule, aber auch auf eine Zusatzrente in Form der Betriebsrente, die ihnen das ermöglicht, was sich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wünschen, nämlich ein auskömmliches Einkommen im Alter.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Es folgt als nächster Redner für die Fraktion der FDP der Kollege Johannes Vogel.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der weit über die Frage Altersarmut hinausgehende Antrag der Linken wird gleich von meinem großartigen Kollegen Matthias Nölke in seiner Jungfernrede ausreichend gewürdigt werden.
({0})
Deshalb will ich mich auf das Thema Altersarmut konzentrieren und hier mehr über den Elefanten im Raum reden, nämlich über das sogenannte Grundrentenmodell der Großen Koalition.
Peter Weiß hat es wahrscheinlich bewusst nur gestreift; Ralf Kapschack ist intensiver darauf eingegangen. Wir hatten diese Woche ja eine Anhörung zu Ihrem Vorschlag. Ich finde, die muss man in dieser Woche auch im Plenum ein Stück weit würdigen. Seit über einem Jahr verrennt sich die Koalition in der Sackgasse eines schlechten Modells für eine eigentlich sehr wichtige Frage. Und leider muss man sagen: Genau diesen Eindruck hat die Anhörung voll unterstrichen.
({1})
Bevor wir einen Blick darauf werfen, was da so gesagt wurde, will ich kurz zitieren, was der Bundesarbeitsminister in seinem allerersten Interview auf die allererste Frage in der „Bild am Sonntag“ zur Zielsetzung der Grundrente der Koalition geantwortet hat. Ich zitiere:
Sehr viele Menschen, die ihr Leben lang gearbeitet haben, landen … in der Grundsicherung. … Jemand, der Jahrzehnte lang hart gearbeitet hat, hat das Recht, deutlich mehr zu bekommen als jemand, der nicht gearbeitet hat.
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Das ist völlig richtig, lieber Hubertus Heil.
Jetzt hören wir uns mal an, was die Sachverständigen zu diesem Thema mit Blick auf Ihr Grundrentenmodell gesagt haben. Ich zitiere Professor Werding, Rentenexperte der Uni Bochum: Das ist im vorliegenden Gesetzentwurf als Ziel im Grunde gar nicht mehr enthalten. – Ich zitiere Alexander Gunkel, den alternierenden Verwaltungsratsvorsitzenden der Rentenversicherung selbst: Das ist keine zielgenaue Maßnahme gegen Altersarmut, die hier hergestellt wird. – Ich zitiere Georg Cremer, den ehemaligen Generalsekretär der Caritas, liebe Union: Was mich stört, ist einfach, dass beim jetzigen Modell die Armen leer ausgehen. Für all diejenigen, die keine 33 oder 35 Grundrentenjahre haben, bleibt es bei der Komplettanrechnung der Rente bei der Grundsicherung im Alter.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD, das ist doch kein geeignetes Modell gegen Altersarmut.
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In Zahlen sieht das wie folgt aus: Drei Viertel der Menschen, die trotz Ansprüchen in der Rentenversicherung auf Grundsicherung angewiesen sind, gehen bei Ihrem Modell der Grundrente komplett leer aus, weil sie nicht ausreichend Versicherungsjahre haben. Drei Viertel, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition!
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Auf der anderen Seite sind über 90 Prozent der Empfänger Ihrer Grundrente gar nicht auf Grundsicherung im Alter angewiesen. Dieses Grundrentenmodell hilft kaum gegen Altersarmut. Das muss Ihnen doch endlich zu denken geben, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und von der Union.
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Gleichzeitig haben Sie zur Gegenfinanzierung bisher nichts außer einem weißen Blatt Papier. Sie schaffen zahlreiche neue Ungerechtigkeiten, und Sie ignorieren die eindringlichen Hilferufe der Deutschen Rentenversicherung. Die haben uns in der Anhörung am Montag noch mal gesagt, dass die Verwaltungskosten bei dieser Grundrente dauerhaft, selbst nach der extrem teuren Einführung, 13 Prozent der Ausgaben für die Grundrente betragen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, um diese 13 Prozent mal einzuordnen: Vertreter der Linken und auch Vertreter der Koalition kritisieren regelmäßig private Rentenversicherungsanbieter für ihre hohen Verwaltungskosten, zum Beispiel bei der Riester-Rente. Laut Verbraucherzentrale haben wir dort effektive Verwaltungskosten von 1,5 bis 1,6 Prozent. – Zu Recht führen Sie dann immer an: Die deutsche Rentenversicherung ist besser; die hat Verwaltungskosten bei allen sonstigen Rentenleistungen von 1,2 Prozent. – Und jetzt wollen Sie allen Ernstes eine neue Rentenleistung mit 13 Prozent Verwaltungskosten einführen? Das Zehnfache?
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Das kann doch nicht überzeugen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition.
Was wir stattdessen brauchen, ist ein Modell, das sicherstellt, dass jede und jeder, die oder der gearbeitet und eingezahlt hat, mehr hat als die Grundsicherung und mehr als diejenigen, die das nicht getan haben. Wir haben Ihnen ein solches Modell vorgelegt: die liberale Basisrente.
({8})
Die ist fair, zielgenau und finanzierbar und wäre der bessere Weg.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion Die Linke der Kollege Matthias Birkwald.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Riester-Rente, Rürup-Rente, Sockelrente, Zuschussrente, solidarische Lebensleistungsrente, Solidarrente, Nahles-Rente, Flexirente, Plus-Rente, Respektrente, Basisrente, Garantierente und aktuell die sogenannte Grundrente – Chaos pur.
({0})
Und nun will Die Linke eine solidarische Mindestrente einführen, und die ist dringend nötig.
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Denn nach den Kriterien der Europäischen Union liegt die offizielle Armutsschwelle in Deutschland für Alleinlebende bei 1 136 Euro. Demnach sind 18,2 Prozent aller Menschen ab 65 Jahren arm. Fast jeder Fünfte! Das sind 1,3 Millionen Männer und 1,7 Millionen Frauen, also 3 Millionen Menschen. Altersarmut gibt es schon heute, und darum brauchen wir eine echte Mindestrente, die ihren Namen verdient.
({2})
Wir Linken wollen keine Grundrente, sondern eine einkommens- und vermögensgeprüfte solidarische Mindestrente, die mit vielen Bausteinen sicherstellt, dass niemand im Alter von weniger als aktuell 1 050 Euro netto leben muss, im Einzelfall in teuren Städten ergänzt um ein reformiertes Wohngeld.
({3})
Wir wollen kein bedingungsloses Grundeinkommen für Ältere. Wir fordern für Menschen ab 65 Jahren, deren Alterseinkommen aus gesetzlicher Rente, Betriebsrente und privater Vorsorge unter 1 050 Euro liegt, einen Zuschlag, der die Einkommenslücke bis dahin füllt. Und warum? Ganz einfach: Artikel 1 unseres Grundgesetzes lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“,
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und das muss auch für alle Menschen nach ihrem 65. Geburtstag und für Menschen mit Erwerbsminderungen gelten.
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Meine Damen und Herren, wir müssen künftige Altersarmut verhindern, und heutige Altersarmut bekämpfen. Die meisten der 38 OECD-Staaten haben das verstanden. Nur in Australien, Finnland, den USA und Deutschland gibt es keine Mindestrente für ältere Menschen, und das darf nicht so bleiben.
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Am vergangenen Montag gab es eine Sachverständigenanhörung zur sogenannten Grundrente der Bundesregierung. Ergebnis: Mehr als die Hälfte der drei Millionen Armen jenseits der 65 Jahre werden von der sogenannten Grundrente der Bundesregierung keinen Cent sehen. Und dafür sind Sie verantwortlich, werte Kollegen Linnemann, von Stetten und andere vom Wirtschaftsflügel der CDU/CSU.
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Gegen Altersarmut wird die sogenannte Grundrente wegen Ihrer Verschlechterung des Gesetzentwurfs nicht wirklich helfen, und das ist schlecht.
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Wir brauchen aber gute Ideen. Und da lohnt ein Blick nach Österreich. Dort heißt die Mindestrente Ausgleichszulage. Alleinstehende Rentnerinnen und Rentner ab 15 Beitragsjahren erhalten dort die Ausgleichszulage, bis sie monatlich auf eine Rente von 917,35 Euro kommen. Und diese Ausgleichszulage wird 14-mal im Jahr gezahlt. Das heißt, in Österreich hat man also monatlich mindestens eine Rente von 1 070,24 Euro, und das ist gut so.
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Übrigens: Wer keine 15 Versicherungsjahre schafft, erhält die 917,35 Euro 12‑mal im Jahr als bedarfsorientierte Mindestsicherung. Und das sind immer noch gut 100 Euro mehr als die durchschnittliche Grundsicherung im Alter in Deutschland. – Ja, es ist nicht alles gut, was aus Österreich zu uns kommt;
({10})
aber in der Rentenpolitik können wir viel von den Österreichern lernen.
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Meine Damen und Herren, zunächst müssen wir Altersarmut verhindern. Dazu braucht es gute Löhne. Deshalb fordert Die Linke – erstens –, die Tarifbindung und die gewerkschaftliche Verhandlungsmacht zu stärken.
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Tarifverträge müssen deutlich leichter für allgemeinverbindlich erklärt werden können.
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Das Ziel ist klar: Schluss mit der Tarifflucht, Schluss mit dem Lohndumping, und Schluss mit dem Missbrauch von Werkverträgen, und das nicht nur in den Schlachtbetrieben.
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Zweitens müssen die Renten innerhalb von vier Jahren um zusätzliche 10 Prozent steigen. Dann wären wir wieder bei einem lebensstandardsichernden Rentenniveau von 53 Prozent, und das ist finanzierbar. Die Chefin und ihren durchschnittlich verdienenden Angestellten würde das monatlich jeweils nur gut 33 Euro mehr an Rentenbeitrag kosten, bei 3379 Euro Bruttogehalt im Monat. Es geht!
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Meine Damen und Herren, wir brauchen aber auch wirksame Maßnahmen gegen die Altersarmut für Menschen ab 55 Jahren und für die heutigen Rentnerinnen und Rentner. Viele von ihnen haben Jahrzehnte ohne gesetzlichen Mindestlohn arbeiten müssen. Ich denke da beispielsweise an Friseure, Kassiererinnen, Paketzusteller, Pflegerinnen, Reinigungskräfte, Bäckereifachverkäuferinnen oder Kellner. Sie haben jetzt im Alter fast keine Chance mehr, noch aus der Sozialhilfe je herauszukommen. Darum sollte – drittens – die Rente nach Mindestentgeltpunkten, Herr Weiß, für Beschäftigte mit niedrigem Einkommen reformiert fortgeführt werden. Noch heute erhalten 3,6 Millionen Menschen, überwiegend Frauen, diesen guten Rentenzuschlag für ihre Arbeit zu niedrigen Löhnen vor dem Jahr 1992. Allerdings: Statt 35 Beitragsjahren sollten 25 Jahre als Voraussetzung genügen; denn dann hätten mehr Frauen im Westen bessere Chancen auf einen Rentenzuschlag.
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Und der Zuschlag sollte für Verdienste bis zu 80 Prozent des Durchschnittslohns gelten. Das ist wichtig. – Insgesamt wäre das besser als die sogenannte Grundrente.
Viertens. Damit wir unverschuldete Lücken im Lebenslauf wenigstens bei der Rente schließen, müssen endlich wieder Rentenversicherungsbeiträge für Arbeitslose und Erwerbslose in Hartz IV gezahlt werden, und zwar auf Basis des halben Durchschnittsverdienstes.
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Fünftens wollen wir alle Menschen mit Erwerbseinkommen in die gesetzliche Rentenversicherung einbeziehen, auch Selbstständige und Beamtinnen und Beamte. Und wir Bundestagsabgeordneten sollten als Erste vorangehen.
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Und wenn all diese und viele andere Maßnahmen nicht für eine Rente oberhalb der Armutsgrenze genügen sollten, dann wollen wir – sechstens – mit der einkommens- und vermögensgeprüften solidarischen Mindestrente armen Seniorinnen und Senioren einen Zuschlag aus Steuermitteln zahlen, damit niemand im Alter von weniger als 1 050 Euro und gegebenenfalls Wohngeld leben muss.
Zum Schluss. Unser Ziel ist, dass so wenige Menschen wie möglich die solidarische Mindestrente benötigen werden. Und unser Ziel ist, dass der Zuschlag so gering wie möglich ausfallen möge, weil die gesetzliche Rente deutlich über 1050 Euro liegt.
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Wir rechnen mit Kosten in Höhe von maximal 11 Milliarden Euro.
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Ein Leben in Würde im Alter muss uns das wert sein.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Markus Kurth.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich vor knapp zwei Wochen von dieser Stelle über das Thema „grüne Garantierente, Mindestrente, Grundrente“ gesprochen habe, hatte ich ja angekündigt, dass ich noch am Nachmittag des nämlichen Tages meiner Friseurin, bei der ich dann nach über zwei Monaten endlich mal wieder einen Termin haben konnte,
({0})
erklären würde, wie die verschiedenen Rentenkonzepte aussehen.
({1})
Und ich kann Ihnen jetzt berichten, welches auf Platz eins gelandet ist und wie diese Modelle verstanden wurden.
Es wird Sie wenig überraschen: Die grüne Garantierente – transparent, einfach, klar – hat auf Platz eins das Ziel erreicht.
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Sie ist nämlich klar nachvollziehbar: 30 Versicherungsjahre führen zu 30 Entgeltpunkten, also rund 1 000 Euro. Der Erhöhungsmechanismus folgt dem ganz normalen Erhöhungsmechanismus der gesetzlichen Rentenversicherung, und gegebenenfalls in Ergänzung mit Wohngeld wird damit flächendeckend ein Einkommen oberhalb der Grundsicherung erreicht. Damit ist die Garantierente eine echte Rente,
({3})
was man von der Mindestrente der Linken nicht behaupten kann – sie ist eine verbesserte Sozialhilfe – und auch nicht von der Grundrente der Bundesregierung, weil bei ihr dennoch regelmäßig Personen in die Grundsicherung fallen. Darum müssen Sie ja auch einen Freibetrag einführen.
Mitnichten, Herr Weiß, ist es so, dass die Garantierente eine Einheitsrente darstellt,
({4})
wie Sie hier auf der verzweifelten Suche nach Kritikpunkten behauptet haben. Wer mehr als 30 Entgeltpunkte hat, erhält natürlich, wie bisher, gestaffelt nach dem Äquivalenzprinzip sein Einkommen. Insofern geht dies auch ins Leere.
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Bei dem Versuch, meiner Friseurin die Grundrente der Bundesregierung zu erklären, bin ich dann leider gescheitert, was nicht an den intellektuellen Fähigkeiten meiner Friseurin liegt.
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Wer gestern im Ausschuss für Arbeit und Soziales erlebt hat, wie die Parlamentarische Staatssekretärin Anette Kramme mehrere Minuten einen hochverdichteten juristischen Text vortragen musste, um Funktionsweise und Anspruchsvoraussetzungen der Grundrente zu erklären, kann sich leicht vorstellen, dass dieses Vorhaben scheitern musste. Es führte bei meiner Friseurin zu einer derartigen Einbuße an Konzentration, dass ich um meinen im Entstehen begriffenen Haarschnitt fürchten musste und dann abgebrochen habe.
({7})
Was das Rentenkonzept der Linken anbelangt, habe ich zunächst mal beschrieben – so wie Sie das ja in Ihrem Antrag auch tun –, dass es mit über 2 Prozent Beitragssatzanstieg in der gesetzlichen Rentenversicherung verbunden ist, 11 Milliarden Euro Kosten für die Mindestrente, 7 Milliarden Euro für eine Erhöhung des Bundeszuschusses. Als ich dann darauf einging, welche Folgen dies hinsichtlich der Steuern und Abgaben auf ihre Bezüge hätte, wollte meine Friseurin von den Einzelheiten nichts mehr wissen.
({8})
Worüber sie allerdings empört war: dass bei der Grundrente der Bundesregierung Zeiten der Arbeitslosigkeit nicht zu den Anspruchszeiten dazugehören. Zeiten der Arbeitslosigkeit sind heutzutage leider, weil immer wieder Umbrüche da sind – nicht erst seit Coronazeiten –, Bestandteil einer Erwerbsbiografie. Deswegen, finde ich, müssen sie auch als Anspruchszeiten für eine Mindest- oder Grundrente bzw. Garantierente gezählt werden.
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Ich möchte – meine Zeit ist leider knapp – noch auf eine Konsequenz aus der Anhörung am Montag eingehen. Was auch immer aus Ihren Beratungen erwächst – ich sage Ihnen: Verzichten Sie wenigstens auf die Anrechnung der Kapitaleinkünfte. Denn das, was da herausgekommen ist, ist ja widersinnig. Die Rentenversicherung sagt, sie müsse dann mit dem Kontenabrufverfahren, das erfunden wurde, um Terrorismus und Geldwäsche zu bekämpfen, auf Konten von Kleinstsparern zugreifen, um dann Einkommen aus Kapital in Höhe von vielleicht nur ein paar Euro zu ermitteln. Das Kontenabrufverfahren, das ist ja gewissermaßen die Elefantenbüchse zur Verfolgung von Schwerstkriminalität und Islamisten. Und die Deutsche Rentenversicherung geht dann mit dieser Elefantenbüchse auf Mäusejagd.
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Das ist doch wahnwitzig.
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Wenn wenigstens bei dieser Mäusejagd ein paar Mäuse rauskämen! Aber tatsächlich ist es ja so, dass das Ganze mehr kostet, als es einbringt: 80 Millionen Euro Kosten, 20 Millionen Euro Erträge. Ich muss Ihnen sagen: Sie haben im parlamentarischen Verfahren noch eine ganze Menge Arbeit vor sich.
Was auch nicht wirklich funktioniert, ist die automatisierte Auszahlung. Diese bringt mit sich, dass der Bedarf im Moment des Entstehens nicht gedeckt wird. Es dauert zwei Jahre, bis man beim Übergang vom Erwerbsleben in die Grundrente diese Grundrente überhaupt bekommt. In der Zwischenzeit sind wahrscheinlich viele Leute in der Grundsicherung im Alter und werden erst einmal Erspartes aufbrauchen müssen. Ich appelliere sehr an uns alle – das sollte unser gemeinsames Interesse sein –, dass wir nicht Erwartungen wecken, die ein Gesetz nachher gar nicht erfüllen kann, und damit Enttäuschung und Vertrauensverlust gegenüber der gesetzlichen Rentenversicherung produzieren.
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Das Einfachste, um dem vorzubeugen, wäre unser heute zur Abstimmung stehendes Rentenkonzept einer grünen Garantierente.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Lieber Herr Kurth, vielleicht sollten Sie öfter einmal zum Friseur gehen, bevor Sie hier im Bundestag reden. Das scheint Ihre Rhetorik sehr zu beflügeln.
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Nächste Rednerin für die Fraktion der SPD ist die Kollegin Daniela Kolbe.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! In Bezug auf die Anträge der Linken und der Grünen – dieser ist erst etwas später dazugekommen – will ich mit dem Gemeinsamen anfangen. Für uns Sozialdemokraten kommen schon einige Punkte zusammen.
Ja, wir wollen die gesetzliche Rente stärken; denn für die allermeisten Menschen ist sie der Kern der Altersversorgung. Hier können wir gemeinsam ein Häkchen dranmachen. Wir stellen auch gemeinschaftlich fest, dass sie selbst für langjährig Versicherte in manchen Fällen nicht armutsfest ist: für Menschen mit sehr niedrigen Einkommen, die es in den letzten Jahrzehnten gab, für Menschen mit harten Brüchen in ihren Erwerbsbiografien, weil sie zum Beispiel Kinder erzogen oder Pflegebedürftige gepflegt haben. Wir sind uns zudem einig: Wer eine armutsfeste gesetzliche Rente haben will, muss natürlich bei den Löhnen anfangen und zum Beispiel den von der SPD eingeführten Mindestlohn auf 12 Euro anheben.
({0})
Das ist der richtige Weg. Angesichts von Hirngespinsten, den Mindestlohn einzufrieren oder sogar abzusenken, können wir nur den Kopf schütteln, richtig?
Zum Antrag der Linken muss ich sagen: In Ihrem Antrag wird nicht auf die Tarifverträge eingegangen, auch wenn sie in Ihrer Rede erwähnt wurden. Hier könnten Sie Ihren Antrag noch einmal nacharbeiten; denn Mindestlohn bleibt ein nicht sehr guter Lohn. Für uns als SPD ist klar: Ein guter Lohn ist ein Tariflohn. Wir wollen, dass es in Deutschland mehr Tariflöhne gibt.
({1})
In einem entscheidenden Punkt sind wir aber mit den Linken dezidiert nicht einig. Das ist leider auch der Kern Ihres Antrages. Gemeint ist die sogenannte solidarische Mindestrente. Die bedeutet, dass de facto jeder die Mindestrente in Höhe von 1 050 Euro bekommt, egal wie viel er oder sie gearbeitet hat. Das entspricht nicht unserem Ansatz von Leistungsgerechtigkeit.
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Um eine Rente in dieser Höhe selbst zu erarbeiten, muss nach dem Ansatz der Rente nach Mindestentgeltpunkten jemand mit sehr niedrigem Einkommen mehr als 41 Jahre lang arbeiten. Das heißt, dass eine Reinigungskraft, die 41 Jahre lang malocht hat, in der Rente jemandem gleichgestellt ist, der nie gearbeitet hat oder mit jemandem, der nach dem jetzigem System nie eingezahlt hat, weil er selbstständig war.
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Das würden sehr viele Menschen als schreiend ungerecht empfinden.
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Mittlerweile haben fast alle Fraktionen ihr eigenes Konzept einer Mindest-, Basis-, Garantie-, Respekt- oder Grundrente vorgelegt. Einige sind mehr, andere sind weniger oder gar nicht geeignet, um Armut zu vermeiden oder den Menschen Respekt entgegenzubringen. Das Grundrentenkonzept der SPD ist – Überraschung – aus unserer Sicht das mit Abstand beste Konzept,
({5})
eine richtige Mischung aus Armutsvermeidung und einem im Zentrum stehenden Respekt vor der Lebensleistung. Für uns ist ganz entscheidend: Wir wollen, dass das Vertrauen in die Sozialversicherungsrente wieder steigt. Dafür ist entscheidend: Wenn jemand jahrzehntelang hart verdientes Geld in diese Versicherung einzahlt, muss es sich für ihn nach einem langen Erwerbsleben auch auszahlen, dann muss mehr rausspringen als Grundsicherung. Von unserem Konzept jedenfalls werden 1,3 Millionen fleißige Menschen profitieren.
Die Grundrente hat allen anderen Konzepten noch etwas ganz Entscheidendes voraus: Sie steht nämlich kurz vor der Umsetzung.
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Es ist kein Geheimnis, dass wir um die Umsetzung der Grundrente schon lange gerungen haben und immer noch ringen. In der letzten Sitzungswoche haben wir endlich die erste Lesung zur Grundrente gehabt. Alles andere als eine zweite und dritte Lesung vor der Sommerpause wäre der blanke Hohn, gerade in der jetzigen Situation.
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In dieser Zeit ist sehr viel von Respekt die Rede. Ich konnte mich in den letzten Monaten darauf verlassen, dass ich in den Supermarkt gehen kann, dass ich in die Apotheke gehen kann, dass ich in die Arztpraxis gehen kann, dass meine Großeltern gepflegt werden, dass Lkw-Fahrerinnen und Lkw-Fahrer – sicherlich in der Mehrzahl Fahrer – Waren an die Supermärkte liefern, dass mir der Postbote meine Lieferung an die Haustür bringt und das Essen an die Haustür kommt, wenn ich im Homeoffice arbeite. Und ich kann mich darauf verlassen, dass hier im Bundestag die Räume saubergemacht werden. Wir alle müssen doch festhalten, dass diese Menschen einen erheblichen Beitrag dazu leisten, dass unser Zusammenleben funktioniert. Es ist zynisch, dass gerade diese Menschen, denen wir hier alle miteinander Standing Ovations gespendet haben, nach einem Leben voller Arbeit und der Zahlung von Rentenbeiträgen dann bei der Rente oft nur in Grundsicherungsnähe landen. Es wäre zynisch, diesen Menschen, die unseren Laden am Laufen halten, jetzt die lange Nase zu zeigen und zu sagen: Ja, ist jetzt gerade irgendwie schwierig. Ist ja schwer, deswegen können wir leider die Grundrente doch nicht machen. – Und deswegen, liebe Union, sage ich: Gebt euch einen Ruck! Lasst uns das jetzt durchziehen und vor der Sommerpause beschließen!
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Lasst diese fleißigen Leute nicht im Regen stehen.
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Es geht um 1,3 Millionen Menschen in diesem Land. Sorgen wir gemeinsam dafür, dass die Grundrente am 1. Januar 2021 Wirklichkeit wird!
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Kolbe. – Für die AfD-Fraktion hat als Nächster das Wort der Kollege Norbert Kleinwächter. Bitte schön.
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Werter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ja, wir haben ein veritables Problem im Rentenversicherungssystem. Das Rentenniveau sinkt ständig, die Rentenauszahlungen kommen den explodierenden Preisen gar nicht mehr hinterher. Und daraus entsteht natürlich ein Armutsrisiko im Alter.
Aber ich werde nicht müde zu betonen – ich weiß, ich wiederhole mich, aber ich mache es aus Überzeugung –: Diese Effekte, die wir sehen, sind letztendlich die Effekte der jahrzehntelangen Fehlpolitik von CDU, CSU und SPD. Das ist nicht nur die Lohnpolitik, Frau Kolbe, die da schiefgelaufen ist. Sie haben die Rentensystematik immer wieder für Wahlkampfgeschenke missbraucht. Sie haben die Rentenkassen regelmäßig geplündert für andere Zwecke. Und vor allem haben Sie die Axt an den Grundpfeiler des Rentensystems angelegt, nämlich an unsere Kinder und Familien, durch Ihre falsche Familienpolitik. Wenn ich mir ansehe, wie in Ihrem Lockdown gerade die Familien die Leidtragen sind, dann muss ich sagen: Das ist nicht nur eine Katastrophe für das Rentensystem, sondern das ist eine Schande für unser Land.
({0})
Und als ob das nicht reichen würde, verschwendet Merkel zusammen mit Macron auch noch über 100 Milliarden Euro mal eben an EU-Pleitestaaten. Ich sage Ihnen: Von dem Geld könnte man systematisch, dauerhaft und sehr effektiv viele Bürger vor Armut bewahren. Aber nicht so, wie das die Linken und die Grünen gerade in ihren sozialistischen Konzepten vorschlagen.
Ihre sozialistischen Mindestrentenkonzepte sind ungefähr so, als wenn ich versuche, meinen Durst mit Cola zu stillen: Ja, die schmeckt erst einmal lecker, aber die gesundheitlich negativen Konsequenzen stellen sich schon eine Stunde später ein. – Was wollen Sie? Die Grünen: Sie wollen ab einer gewissen Anzahl an Beitragsjahren eine durchschnittliche Rentenauszahlung, die höher wäre als die im Moment gezahlten durchschnittlichen Renten.
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Und die Linken? Die sind ganz heiß drauf – Herr Birkwald, Sie sind ganz heiß drauf –: Sie wollen eine sozialistische Mindestrente in Höhe von 1 050 Euro für alle ab 65, die in Deutschland sind. – Bürger aller Länder, begebt euch nach Deutschland und genießt die sozialistische Mindestrente, bezahlt vom deutschen Steuerzahler! Ich muss Ihnen sagen: Da sind wirklich 28 Stück Würfelzucker in einem Liter.
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Aber: Die ganze Sache ist nur lecker, solange Sie nicht auf die Zutatenliste gucken. Denn das bedeutet natürlich Milliardenausgaben, Abermilliardenausgaben. Und das bedeutet: Man erhöht entweder die Beiträge und die Steuern massiv, was bedeutet, dass diejenigen, die hart arbeiten,
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viel, viel weniger von ihrem Einkommen haben und viel, viel mehr an der Kasse bezahlen. Oder aber Sie lösen es über Schulden. Dann erwarten Sie, dass unsere Kinder, Enkel und Urenkel mal eben das zurückbezahlen, was jetzt letztendlich ausgegeben worden ist. Oder Sie machen es, liebe Unionskollegen, à la EZB: Sie drucken einfach mal das Geld. Dann wird zwar das Geld mehr, aber dummerweise die Waren nicht, und damit explodieren die Preise. Das ist eine klassische Milchmädchenrechnung. Da ist der Zuckerschock garantiert.
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Werte Kolleginnen und Kollegen, das Problem der Altersarmut und die Defizite in unserem Rentensystem sind wirklich zu große Probleme, als dass man sie hier mit solchen knallroten Marketing-Gags kommentieren sollte wie die Linken und Grünen im Moment.
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Ganz ehrlich: Bevor Sie sich auf solche gefährlichen Mixturen einlassen, bleiben Sie lieber beim schnöden Wasser.
Herzlichen Dank.
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Wir kommen zur nächsten Rednerin. Für die Fraktion der CDU/CSU hat das Wort die Kollegin Antje Lezius.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Mitglieder der Fraktion Die Linke, in der vergangenen Sitzungswoche erfolgte die erste Lesung eines vielversprechenden Gesetzentwurfs zur Einführung einer Grundrente. 13 Tage später kommen Sie mit einem weniger vielversprechenden Antrag
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für eine sogenannte solidarische Mindestrente.
Dabei ging es mir bei der Lektüre Ihres Antrags wie bereits des Öfteren, wenn Ihre Fraktion eine Idee zu Papier bringt. Ich dachte: Eigentlich ganz sympathisch.
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Nur schaltete sich dann direkt wieder die Vernunft ein
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und ließ mich genauer hinsehen: Garantierte Mindestrente, ohne vorher dafür zu arbeiten? Das klingt doch zu schön, um wahr zu sein. Und das ist auch zu schön, um wahr zu sein.
Aber nun wieder im Ernst: Es gibt fraktionsübergreifend Einigkeit, dass in einigen Bereichen die Renten zu niedrig sind. CDU/CSU und SPD setzen auf die Einführung einer Grundrente. Auch die FDP hat ein Rentenkonzept vorgelegt.
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Jetzt packen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, wieder Ihre Idee einer Mindestrente aus, und die Grünen haben ihre Garantierente als Zusatzpunkt noch hinterhergeschoben. Dabei ist Ihr Entwurf einer Mindestrente aus einer ganzen Reihe von Gründen abzulehnen.
Ziehen wir einmal einen Vergleich mit dem Grundrentenrezept von CDU/CSU und SPD: Das Grundrentenrezept sieht vor, dass, wer mindestens 33 Jahre gearbeitet, Kinder erzogen oder Angehörige gepflegt, aber nur unterdurchschnittliche Verdienste erzielt hat, künftig von einer höheren Rente profitieren soll.
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Wir haben es eben schon gehört: Das betrifft circa 1,3 Millionen Rentnerinnen und Rentner, darunter viele Frauen und Menschen in Ostdeutschland. Die Höhe der Grundrente kann rund 400 Euro betragen und damit zu einer deutlichen Verbesserung der Gesamtrente führen. Das ist gut und gerecht. Es entspricht unserer Überzeugung, dass sich Arbeit lohnen muss, dass Einsatz und Engagement wichtig sind und dass dies von der Gesellschaft nicht nur durch Worte, sondern auch praktisch wertgeschätzt werden muss.
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In Ihrem Antrag ist von Leistungsgerechtigkeit, von Passgenauigkeit und von Finanzierbarkeit hingegen wenig zu finden. Nach Ihrem Antrag sollen der gesetzliche Mindestlohn umgehend auf 12 Euro erhöht, das Rentenniveau auf mindestens 53 Prozent angehoben, Rentenversicherungsbeiträge auch für Arbeitslose gezahlt, Riester abgeschafft und weitere Gruppen in die Rentenkassen einbezogen werden. Dass der Lohn nicht frei vom Staat diktiert werden kann, dass der Einbeziehung neuer Personengruppen in die Rentenversicherung auch höhere Ausgaben gegenüberstehen, dass die Abschaffung der Riester-Rente zu einer Risikokonzentration auf die gesetzliche Rente führt, dass die demografische Entwicklung ein Mehrsäulenmodell umso wichtiger macht – all das wird ausgeblendet.
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Darüber hinaus sieht Ihr Antrag noch eine Mindestrente von 1 050 Euro netto vor. Die einzigen Bedingungen: ein Alter von 65 Jahren und Wohnsitz in Deutschland. Im Unterschied dazu schafft die geforderte Mindestzahl an Beitragsjahren beim Grundrentenkonzept einen Anreiz, eine Beschäftigung aufzunehmen und in die Rentenversicherung einzuzahlen. Die Grundrente zielt darauf ab, diejenigen besserzustellen, die trotz eines Erwerbslebens voller Beschäftigung und Beitragszahlung nur über eine geringe Rente verfügen. Die Mindestrente hingegen nivelliert das System von Leistung und Nichtleistung.
Auch der Antrag der Grünen ist weniger zielführend als die Grundrente. Herr Kurth, bei meinem nächsten Friseurbesuch werde ich ihr das mal erklären.
({7})
– Nein, meiner Friseurin! Wir haben unterschiedliche Friseure. Man sieht es.
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Ihr Antrag hebelt das System der Beitragsäquivalenz bis zu einer Beitragsleistung von 30 Entgeltpunkten vollständig aus und begünstigt Teilzeitbeschäftigung gegenüber Vollzeitbeschäftigung damit massiv. Auf der Finanzierungsseite dürfte die sogenannte Garantierente ein Vielfaches der Kosten der Grundrente verursachen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Grundrente von CDU/CSU und SPD ist, auch wenn im parlamentarischen Verfahren noch Verbesserungen und Klarstellungen erfolgen müssen, das gerechtere, zielgenauere und finanzierbarere Konzept.
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– Dazu kommen wir noch. – Darum lehnen wir die Anträge der Linken und von Bündnis 90/Die Grünen ab.
Vielen Dank.
({10})
Vielen Dank, Frau Kollegin Lezius.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben einen neuen Kollegen im Deutschen Bundestag. Für Stefan Ruppert ist der Kollege Matthias Nölke nachgerückt. Er hält heute seine erste Rede. Zu diesem Zweck sind ganz viele Abgeordnete der FDP ins Plenum gekommen. Einige sitzen auf den Plätzen der CDU/CSU. Otto Fricke hat ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es sich nicht um ein politisches Statement handelt, sondern ausschließlich dem Abstandsgebot geschuldet ist.
({0})
Lieber Kollege Matthias Nölke, Sie haben das Wort. Bitte schön.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir müssen den Menschen helfen, die aktuell den Wohlstand unseres Landes erwirtschaften:
({0})
den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, den Unternehmerinnen und Unternehmern. Sie als Linke denken jedoch wieder nur an linke Umverteilung. Draußen stirbt der Mittelstand, und Sie treten noch nach, indem Sie die Belastungen weiter erhöhen wollen.
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Ihre Forderungen sind existenzbedrohend, sie gehen auf Kosten der Jugend, und vor allem aber gibt es einen besseren Weg.
Erstens sind Ihre Pläne existenzbedrohend. Denn sie gefährden kurzfristig die Rettung von Unternehmen, die aktuell unverschuldet Angst um ihre Existenz und die daran hängenden Arbeitsplätze haben. Ein Sprung im Mindestlohn um fast 30 Prozent und steigende Sozialversicherungsbeiträge sind in der momentanen Situation unverantwortlich.
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Die Menschen haben Angst vor Insolvenzen. Unternehmer opfern ihre private Altersvorsorge und ihr Erspartes, um Löhne zu zahlen. Wir dürfen die Belastungsschraube nicht weiter anziehen, meine Damen und Herren.
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Doch Ihr Antrag trifft auch die Arbeitnehmerseite. Fast 500 Euro jährlich wollen Sie beispielsweise einer langjährigen Pflegekraft im Krankenhaus zusätzlich wegnehmen. Ist das die soziale Arbeitnehmer- und Familienpolitik der Linkspartei in Coronazeiten, meine Damen und Herren?
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Zweitens gehen Ihre Forderungen auf Kosten der Jugend. Denn eben diese Beitragsanstiege und die von Ihnen zusätzlich verplanten Steuermilliarden belasten die kommenden Generationen noch stärker, als dies heute ohnehin bereits absehbar ist.
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Ein Leben für Steuer und Sozialversicherung kann und darf nicht die Perspektive sein, die wir unserer Jugend wünschen, meine Damen und Herren.
Drittens gibt es einen viel besseren Weg. Eine Rente, die die Lebensleistung der Menschen würdigt, muss natürlich auch auf soliden finanziellen Beinen stehen. Wir Freie Demokraten fordern ein Rentenkonzept, das Altersarmut verhindert, ohne Arbeitsplätze zu gefährden.
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Wir fordern daher eine Basisrente, die fair und generationengerecht ist – eine finanzierbare und solide Alterssicherung aus einem Guss. Wer arbeitet und vorgesorgt hat, muss im Alter mehr haben als derjenige, der das nicht getan hat, und er muss selbstverständlich auch mehr haben als die Grundsicherung.
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Ja, Altersarmut ist ein Problem. Es ist aber ein Problem, das sich nicht durch eine linke Umverteilungsmaschinerie lösen lässt. Wir wollen ein Rentenkonzept, das Altersarmut bekämpft und generationengerecht ist. Unser Konzept haben wir bereits online zur Verfügung gestellt. Sie können es dort gerne nachlesen.
Meine Damen und Herren, wir müssen den Menschen helfen, die den Wohlstand unseres Landes erwirtschaften. Sie als Linke denken jedoch nur an linke Umverteilung. Draußen stirbt der Mittelstand, und sie treten noch nach. Wir lehnen Ihren Antrag deshalb mit aller Entschiedenheit ab.
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Der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion ist der Kollege Albert Weiler.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren vor den Bildschirmen und auf der Tribüne! Was bleibt von dieser Debatte hängen? Die FDP rückt näher an die CDU/CSU,
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Herr Kurth redet vom Friseur, bei der AfD wird an die Kinder die Axt angelegt, und die Linke als Nachfolgepartei der SED setzt jetzt auf Menschenwürde, vergisst aber die Straftaten in Hohenschönhausen, Bautzen und sonstigen Stasiknästen; ich bitte hier um mehr Demut.
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Jeder, der sich einmal mit dem Thema Rente auseinandersetzen durfte oder musste, wird mir zustimmen, dass die Regelungen dazu relativ komplex und nicht immer leicht zu durchschauen sind. Das hat natürlich seine Ursachen. Das liegt im Wesentlichen darin begründet, dass wir permanent bestrebt sind, mit der Gesetzgebung größtmögliche Gerechtigkeit zu gewähren. Gerechtigkeit lässt sich aber nicht mit einfachen Mitteln erreichen, sondern braucht Kompromisse und muss auch Sonderfälle berücksichtigen.
In diesem Sinne macht es sich die Linke mit ihrem Antrag aus meiner Sicht etwas zu leicht. Sie versuchen, das Problem stark zu vereinfachen. Eine drastische Erhöhung des Mindestlohns, wie von Ihnen vorgeschlagen, ginge – das wurde auch schon von vielen hier erwähnt – zulasten der ohnehin stark gebeutelten Wirtschaft und würde Arbeitsplätze kosten. Es gibt eine Mindestlohnkommission, der Sie aber nicht vertrauen. Das heißt, Sie vertrauen auch den Gewerkschaften nicht. Darüber sollten Sie noch einmal nachdenken.
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Die pauschale Anhebung des Rentenniveaus auf 53 Prozent in Kombination mit einer Mindestrente für alle ist nicht finanzierbar ohne eine exorbitante Steigerung der Beiträge; auch das wurde schon mehrmals betont.
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– Nein, es sind mehr. Wenn wir uns an 2025 orientieren, sind wir schon bei 5 Prozent. – Diejenigen, die arbeiten, wollen Sie also noch mehr beuteln.
Wir haben in den letzten zehn Jahren für Beitragssenkungen gesorgt und die Versicherten entlastet. Auch das wollen Sie konterkarieren. Statt weiterer Belastungen für Utopien sollten Sie hier gemach vorgehen.
Wir haben in den letzten zehn Jahren ebenfalls dafür gesorgt, dass der Durchschnittslohn um circa 25 Prozent gestiegen ist. Ihr Vorschlag zur Fortführung der Rente nach Mindestentgeltpunkten ist letztendlich der Versuch, auf der Welle der von der Regierung vorgeschlagenen Grundrente mitzureiten – das ist erst mal gut –;
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jedoch mit Ihrem völlig aus der Luft gegriffenen Niveau wird es dann wieder schlecht. Es wird auch nicht besser, wenn Sie dazwischenreden, Herr Birkwald; auch wenn Sie das natürlich tun können.
Ein Beispiel: Sie fordern nach 25 Beitragsjahren und einem Verdienst zwischen 20 und 80 Prozent des Durchschnittsverdienstes einen kräftigen Zuschlag auf die Rente; das hört sich erst mal gut an. Im Regierungsentwurf findet man ein ähnliches Konstrukt, aber mit deutlich mehr Augenmaß gestaltet: Es braucht 33 Beitragsjahre sowie ein Einkommen zwischen 30 und 80 Prozent des Durchschnittsentgeltes.
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Bei der Festlegung dieser Zahlen geht es eben nicht nur um die Finanzierung des Vorhabens; es geht auch darum, besonders Menschen mit langjährigen Erwerbsbiografien Respekt zu zollen. Sie haben das verdient.
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Menschen, die lange Jahre hart gearbeitet haben, sollten sich nicht vor Altersarmut fürchten müssen. Das unterschreibe ich so, aber wir müssen das Ganze differenziert betrachten. Wir wollen eben nicht den dauerhaft ergänzenden Verdienst, den klassischen Minijobber, übermäßig fördern; daher die untere Schwelle von 30 Prozent.
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Außerdem soll kein Rentner um seinen Zuverdienst fürchten müssen. Hierfür werden entsprechende Freibeträge eingerichtet, die dann unschädlich für die Höhe des Rentenzuschusses aus der Grundrente sind.
Lassen Sie mich noch kurz auf die Ost-West-Differenz eingehen. Mit unserem Modell der Grundrente werden deutlich mehr Menschen im Osten Deutschlands Anspruch auf Grundrente haben. Das liegt im Wesentlichen daran, dass sie stark individuelle Erwerbsbiografien haben. Insgesamt waren die Einkommen im Osten Deutschlands häufig unter dem Durchschnitt, aber die Menschen haben meist längere Beitragsphasen und erreichen somit häufiger den Wert von mindestens 33 oder sogar 35 Beitragsjahren. Insbesondere profitieren Frauen davon, weil sie im Osten damals nach der Geburt von Kindern einen schnelleren Wiedereinstieg in den Beruf gefunden haben.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende?
Ja, ich werde mich kurzhalten.
Bitte.
Als Beispiel möchte ich die vielzitierte Friseurin aus Sachsen nennen, die 38 Jahre beitragspflichtig beschäftigt war und im Schnitt 40 Prozent des Durchschnittsentgeltes verdient hat.
Herr Kollege!
Ihr geben wir das Doppelte an Rente; ich verkürze das mal.
Der Antrag der Linken ist auf den ersten Blick ein Geschenkpaket, aber wenn wir das Paket aufmachen, stellen wir fest: Es ist nur heiße Luft, die schnell entweicht. Deshalb werden wir den Antrag nicht unterstützen und bitten um Ablehnung.
Danke schön.
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Der letzte Redner ist der Kollege Max Straubinger für die CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Am Ende dieser Debatte gilt, Grundsätzliches festzuhalten: Die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland können sich auf die Altersversorgung verlassen, insbesondere auf die gesetzliche Rentenversicherung. Gleichzeitig sind wir über die vergangenen Jahre und Jahrzehnte gut gefahren mit dem Dreiklang aus gesetzlicher Rente, betrieblicher Altersversorgung und privater Altersvorsorge. Das sind die Bestandteile einer lebensstandardsichernden Altersversorgung in Deutschland.
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Das manifestiert sich auch darin, dass nur 3 Prozent der Altersrentner auf Unterstützung durch die Grundsicherung angewiesen sind,
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bei den Rentnern mit Erwerbsminderung sind es 10 bis 12 Prozent.
Das hat die Große Koalition dazu veranlasst, die Planken entsprechend neu zu setzen: Wir sorgen auf der einen Seite dafür, dass das Rentenniveau nicht absinkt – es liegt derzeit bei 48 Prozent –, auf der anderen Seite sorgen wir dafür, dass die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler nicht über Gebühr belastet werden. Deswegen halten wir den Beitragssatz weiterhin unter 20 Prozent. Davon haben beide Seiten etwas: die Rentner und die Beitragszahler, die vor Überforderung geschützt sind. Aber so etwas blenden die Linken völlig aus.
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Es gilt, den Dreiklang aus gesetzlicher Rente, betrieblicher Altersversorgung und privater Vorsorge weiterhin zu unterstützen – dafür steht die Große Koalition –, aber das kommt bei den Anträgen der Linken und der Grünen nicht zum Ausdruck; das möchte ich festhalten. Wir tun gut daran, weiterhin an dem bewährten System festzuhalten, dass Rente persönliches Eigentum des Beitragszahlers bedeutet. Das würde durch die Systeme, die heute von Linken bzw. Grünen vorgeschlagen worden sind, total verwischt.
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– Natürlich, Herr Strengmann-Kuhn; denn Sie alle nehmen zur Grundlage, dass unabhängig von der Beitragszahlung des Einzelnen die gleiche Rente rauskommt.
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Die Linken wollen 1 050 Euro, Sie von den Grünen 990 oder 980 Euro bei 30 Rentenpunkten, und zwar unabhängig von der Beitragszahlung, unabhängig davon, ob der Mindestbeitrag eingezahlt worden ist, ob nicht eingezahlt worden ist oder ob ganz hohe Beiträge eingezahlt worden sind. Das ist das Verwerfliche, weil dadurch das Beitragsäquivalenzprinzip aufgehoben würde. Somit müsste sich derjenige, der hohe Beiträge zahlt, fragen: Warum zahle ich überhaupt hohe Beiträge?
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Warum soll er zahlen? Um für sich selbst eine Rentenanwartschaft zu erwerben, oder soll er sich für andere im Sinne einer Solidargemeinschaft einbringen? Das hat mit beitragsbezogener, mit leistungsbezogener Rente überhaupt nichts zu tun. Deshalb werden wir Ihre Anträge hier natürlich ablehnen.
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Jetzt muss ich doch noch auf ein paar Dinge eingehen, die die Redner heute angesprochen haben. Lieber Herr Kollege Kapschack, Sie haben davon geträumt, wieder mit den Grünen Rentenpolitik zu machen. Ich möchte nur daran erinnern, dass durch die Rentenreformen unter Rot-Grün die Anwartschaft auf die Rente um 10 Prozent abgesenkt wurde.
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Ob das eine großartige Zukunftsvision ist, das müssen die Bürgerinnen und Bürger entscheiden.
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Die Kollegen von der FDP, Johannes Vogel und der junge Kollege, haben immerzu davon geredet, was sie für ein großartiges Konzept haben. Sie haben nur ein Schlagwort gehabt: Basisrente. Das andere könne man im Internet nachlesen, haben Sie gesagt. In Wirklichkeit fordern Sie einen Grundfreibetrag in der Grundsicherung, um damit eine höhere Leistung zu haben. Ob das eine zielorientierte Rente ist, das frage ich mich dann doch.
Liebe Frau Kollegin Kolbe, Sie haben ausdrücklich dafür geworben, in zweiter und dritter Lesung „unser“ Rentenpaket zu verabschieden, das eine Besserstellung für geringfügig Einzahlende bedeuten würde. Das muss man so sagen. Denn das ist keine Grundrente; das möchte ich ausdrücklich feststellen. Was mich daran persönlich stört, ist – das sage ich auch ganz offen –, dass die Halbtagsbeschäftigten dadurch wesentlich bessergestellt werden als die Vollzeitbeschäftigten. Aber sei’s drum! Das ist der Kompromiss.
Ich sage es aber ganz offen: Die SPD muss da noch liefern. Es sind Planken gesetzt worden. Die Finanztransaktionsteuer muss eingeführt werden; das sehe ich noch nicht. Der Bundesminister muss liefern und sagen, wie er die 400 Millionen Euro, die er aus dem Haushalt beisteuern will, gegenfinanzieren will. Das gehört dazu.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Vogel von der FDP?
Gerne. Das verlängert meine Redezeit.
Das, lieber Straubinger Max, ist es mir wert. Du weißt so gut wie ich, dass unsere Basisrente ein umfangreiches Konzept und nicht nur ein Schlagwort ist. Das werden wir hier zur dritten Lesung auch einbringen, wenn es denn bezüglich der Grundrente zur dritten Lesung kommt.
Deine Aussage entstammt ja offensichtlich der Haltung, dass das, was die Koalition macht, besser sei. Deshalb lautet meine ganz einfache Frage an dich, lieber Max, an Sie, sehr verehrter Herr Kollege: Wenn die Grundrente so hier zur dritten Lesung ins Plenum käme, wie sie in der Anhörung am Montag von den Experten, positiv gesprochen, gewürdigt wurde, würdest du zustimmen?
Herr Kollege Straubinger, es wäre schön, wenn Sie in die Antwort gleich den Schlusssatz integrieren würden.
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Ja, das schaffe ich schon einigermaßen, Herr Präsident. – Es ist bezeichnend, dass Johannes Vogel jetzt wiederum nicht versucht hat, das Basismodell der FDP zu erklären.
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Wir müssen das ja noch beraten. Wir sind ja mitten in der Beratung. Vom Verlauf der Beratung werden wir die Entscheidung im Bundestag mit abhängig machen.
Ich werde das aber garantiert nicht so machen wie der Kollege Kurth. Ich werde nicht versuchen, das alles der Friseurin zu erklären. Ich würde mich über etwas anderes unterhalten. Es wäre besser gewesen, wenn sich der Kollege Kurth eine Dauerwelle hätte machen lassen
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– das wollte ich noch zum Schluss sagen –, weil dann die Zeit vielleicht ausgereicht hätte, um das zu erklären.
In diesem Sinne: Ich glaube, die Rentnerinnen und Rentner, die Beitragszahlerinnen und die Beitragszahler fahren gut mit der Absicherung bei der gesetzlichen Rentenversicherung, bei der betrieblichen Altersversorgung und bei der privaten Vorsorge, wenn sie der Union vertrauen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Max Straubinger. – Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Warum haben die Freien Demokraten zu diesem Thema eine Aktuelle Stunde beantragt? Die Bundeskanzlerin hat kurz vor Beginn der deutschen Ratspräsidentschaft gemeinsam mit dem französischen Staatspräsidenten eine ziemlich aufwendige Pressekonferenz veranstaltet, in der die beiden ein großes europäisches Krisenreaktionspaket angekündigt haben. Höhe: 500 Milliarden Euro. Auf der Einnahmeseite für dieses Paket steht eine Schuldenaufnahme durch die Europäische Kommission, auf der Ausgabenseite stehen Zuschüsse für die Mitgliedstaaten.
Das hat große Diskussionen ausgelöst: in der Politik, in der Presse, bei unseren europäischen Partnern. Noch am selben Tag abends legten die sogenannten sparsamen Vier – die Niederlande, Österreich, Dänemark und Schweden – ganz bescheiden, ohne viel Pomp und Circumstance, ein Non-Paper vor, in dem sie deutlich machten, dass sie mit diesem Vorschlag, jedenfalls in dieser Form, nicht einverstanden sind. Ich finde, es ist richtig, dass der Deutsche Bundestag dieses Thema hier debattiert; denn wir sind der Haushaltsgesetzgeber, und ein solches Paket schafft auch bei anteiliger Haftung neue Haushaltsrisiken für die Bundesrepublik. Zudem ist es eine Neuerung der Finanzverfassung der Europäischen Union, die weiter geht als alles, was wir bisher in diesem Zusammenhang diskutiert haben. Ich werde darauf später zurückkommen.
Richtig überrascht waren wir dann allerdings, meine Damen und Herren, als kurz darauf Ursula von der Leyen, die Kommissionspräsidentin, ein Krisenreaktionspaket vorstellte, allerdings nicht im Umfang von 500 Milliarden Euro, sondern von 750 Milliarden Euro. Da stellt sich natürlich sofort die Frage: Wer hat da nicht richtig gerechnet? Haben Frau Merkel und Herr Macron nicht richtig gerechnet? Oder hat sich Frau von der Leyen verrechnet? Oder haben die alle gar nicht gerechnet, sondern irgendwelche Zahlen gegriffen?
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Die sparsamen Vier haben – das ist interessant – gesagt: Wir müssen erst einmal den Bedarf für die Krisenreaktion ermitteln, bevor wir hier mit Zahlen operieren, müssen also die Frage beantworten, was eigentlich wirklich gebraucht wird.
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Positiv an dieser ganzen Debatte ist mehreres; das will ich hier deutlich sagen. Positiv ist: Es gibt ein Gefühl in Europa, dass man sich in und nach dieser Coronakrise helfen muss. Das finde ich gut. Ich finde es auch gut, dass unsere Bundesregierung wenigstens einmal mit den Franzosen zusammen macht und sie nicht im Regen stehen lässt, wenn sie mal eine Idee haben.
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Und eines ist auch klar: Aus unserer Sicht, aus Sicht der Freien Demokraten, wird Europa aus dieser Coronakrise herauswachsen müssen. Das heißt, wir müssen uns Instrumente geben, mit denen wir Produktivität, Innovation, Wettbewerbsfähigkeit steigern.
Wir müssen uns die vorgeschlagenen Instrumente deshalb einmal genauer anschauen. Hier sind sie; ich habe eine Aufstellung mitgebracht. Die Instrumente, die jetzt festgelegt worden sind, sind sechs an der Zahl im Umfang von 750 Milliarden Euro. Von einigen Instrumenten sagen wir als Freie Demokraten sofort: Die sind gut. Das sind gute Instrumente. Dazu zählt beispielsweise ein Gesundheitsprogramm in Höhe von 9,5 Milliarden Euro. Auch die Unterstützung unserer Nachbarländer in dieser Krise, die viel schwächere Gesundheitssysteme haben, ist richtig. Wirklich wichtig ist, die Stärkung des EU-Investprogramms, mit dem privates Kapital für Investitionen mobilisiert wird, um anschließend wieder Wirtschaftswachstum zu generieren. Aber wie soll denn die Europäische Kommission beispielsweise entscheiden – das ist das vierte Instrument –, welche Unternehmen gesund sind, um ihnen dann direkte Unterstützung zukommen zu lassen? Das wird in meinen Augen ein politischer Prozess. Dieses Instrument allein hat einen Umfang von über 30 Milliarden Euro.
Ein Instrument nach dem Gießkannenprinzip ist leider auch dabei, und zwar im Umfang von 560 Milliarden Euro in Form von Zuschüssen, aber vor allem in Form von selbstdesignten Maßnahmen der Mitgliedstaaten. Diese 560 Milliarden Euro sollen ausgekehrt werden nach Plänen der Mitgliedstaaten selber.
Und dann gibt es ein Element, meine Damen und Herren, bei dem ich mich frage, ob uns die Europäische Kommission das wirklich verkaufen will und was das soll. Wussten Sie, dass in diesem Krisenreaktionsmechanismus 15 Milliarden Euro für die Landwirtschaft vorgesehen sind? Das ist um mehr als die Hälfte mehr, als für die Stärkung unserer Gesundheitssysteme nach dieser Krise vorgesehen ist. Mit anderen Worten: Wir haben als Freie Demokraten eine ganze Reihe von Fragen an dieses Instrument, an diesen Instrumentenkasten. Wir wollen hier eines auch sagen: Das Ganze wird, wenn überhaupt, dann nur mittelfristig funktionieren. Denn wenn alle diese Gelder durch den EU-Haushalt laufen sollen – der erst noch verabschiedet werden muss: einmal die mittelfristige Finanzplanung, aber auch der Haushalt für das Jahr 2021 –, dann ist das kein schneller Krisenreaktionsmechanismus, sondern dann ist das ein mittelfristiges Programm.
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Deswegen sagen wir: Es wäre besser, von diesem Geld einiges zu nehmen und die Europäische Investitionsbank das machen zu lassen; denn die macht Due Diligence, die prüft wirklich, wo Wachstum herkommen kann, und die macht dann Kreditvergabe, die zukunftsgerichtet ist.
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Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, abschließend – –
Herr Graf Lambsdorff, die Zeit ist abgelaufen.
Ja, Herr Präsident. Lassen Sie mich eines noch sagen: Das Ganze ist so neu, dass, wenn Deutschland sich daran beteiligen will, eines klar sein muss: Das muss der Deutsche Bundestag mit einer Zweidrittelmehrheit verabschieden.
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Denn das hier geht weiter als alles, was wir in der Vergangenheit hatten.
Herzlichen Dank.
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Der Kollege Andreas Jung hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die deutsch-französische Initiative von Angela Merkel und Emmanuel Macron hat uns schon jetzt in Europa vorangebracht. Sie hat uns schon jetzt vorangebracht, weil sie die Dynamik ermöglicht hat, jetzt einen gemeinsamen Weg zu gehen. Darum geht es.
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Es geht darum, eine gemeinsame europäische Antwort auf diese Krise geben zu können. Wenn jeder sich nur mit Gleichgesinnten bestärkt, mit denen er sowieso schon einer Meinung ist – die im Norden gemeinsam, die im Süden gemeinsam und die im Osten wieder anders –, dann ist das Ergebnis Stillstand, Handlungsunfähigkeit, dann lachen sich unsere Wettbewerber in den USA, in China, in Russland ins Fäustchen. Uns geht es darum, Europa zu stärken, und das wird jetzt möglich.
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Uns ist wichtig, dass es ein Programm ist, mit dem eben nicht alte Schulden umverteilt werden, bei dem es eben nicht Budgethilfen geben soll, bei dem es nicht um Renten oder Pensionen geht, sondern bei dem es um nachhaltiges Wachstum in ganz Europa geht,
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bei dem es um Zukunftstechnologien geht, mit dem investiert werden soll in Klimaschutz und den Green Deal, mit dem investiert werden soll in Digitalisierung und Innovation.
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Es ist eine Investition in die Zukunft Europas,
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und genau so werden wir dieses Programm begleiten und als Union unterstützen.
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In diesem Programm, in diesem Vorschlag kommt die europäische Solidarität zum Ausdruck. Diese Solidarität brauchen wir in der Krise, weil es uns nicht egal sein kann, weil es uns nicht kaltlassen kann, wenn unsere Partner und Freunde in dieser Krise unverschuldet hart getroffen werden. Aber es ist auch in unserem gemeinsamen, in unserem ureigenen Interesse: Wir brauchen ein starkes Deutschland in einem starken Europa. Man kann das gar nicht auseinanderdenken, man kann es nur zusammendenken. Deshalb kommen europäische Solidarität und eigenes Interesse zusammen. Deshalb wollen wir es machen. Deshalb ist Solidarität richtig.
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Es ist aber genauso richtig, dass wir auf der Basis unserer Grundsätze handeln, dass das Ganze eine Grundlage in den europäischen Verträgen hat, an den europäischen Haushalt angedockt wird und – ja, Herr Kollege Graf Lambsdorff – dass selbstverständlich der Deutsche Bundestag die Entscheidung aufgrund der Regeln, die wir hier haben, trifft. Und diese Verantwortung werden wir wahrnehmen. Wir als Fraktion, wir als Deutscher Bundestag, wir können darüber bestimmen, wie dieser Plan gestaltet wird, und das werden wir gemeinsam debattieren und dann tun.
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Bei alledem ist uns auch wichtig – Herr Kollege Graf Lambsdorff, das haben Sie auch angesprochen –: Das ist kein Weg in die Schuldenunion.
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– Sie berufen sich auf Sebastian Kurz. Lesen Sie nach, hören Sie nach, was er heute in einem Interview gesagt hat! Er sagt: Das ist nicht der Weg in die Schuldenunion.
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Es geht hier um befristete Programme. Das sind keine Euro-Bonds. Das sind keine Coronabonds. Es ist kein freischwebender Fonds. Das Programm ist befristet und hat eine Beitragsobergrenze, für die wir Deutsche entsprechend unserer Wirtschaftsleistung einstehen.
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Es ist eben keine gesamtschuldnerische Haftung für alles, was anfällt, sondern ein Beitrag, der unserer Wirtschaftskraft entspricht, so wie es jetzt schon beim europäischen Haushalt ist. Das ist uns wichtig, und genau so werden wir diese Diskussion weiterbegleiten und weiterverfolgen und uns entsprechend einbringen – auf Basis unserer Grundsätze.
Ja, richtig ist: Wir machen mit diesem Programm, mit dieser Initiative, mit der gemeinsamen deutsch-französischen Erklärung einen Schritt und signalisieren Bereitschaft, jetzt auch mit Zuschüssen zu unterstützen. Ich zitiere dazu unseren Bundestagspräsidenten, den ehemaligen Finanzminister Wolfgang Schäuble, der jetzt gesagt hat: Für Länder, die schon ein hohes Schuldenaufkommen haben, ist das Angebot ausschließlich von Krediten Steine statt Brot.
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Deshalb befürwortet auch er den Weg, jetzt mit Zuschüssen zu unterstützen. Ich halte das für richtig. Es ist Ausdruck von Solidarität, und es ist im Übrigen das übliche Verfahren des europäischen Haushalts, wo Zuschüsse, Programme mit klarer Zweckbindung und ‑bestimmung unter klaren Voraussetzungen der übliche Weg sind und keine Ausnahme.
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Ich habe gerade, wie Sie verfolgen konnten, Wolfgang Schäuble zitiert, unseren früheren Finanzminister, und ausgeführt, dass ich seine Haltung ausdrücklich unterstütze. Ich finde, jetzt geht es darum, dass wir gemeinsam in Europa vorankommen. Europäische Solidarität und unsere Grundsätze, beides muss zusammenkommen – beides kommt zusammen bei dieser deutsch-französischen Initiative.
Jetzt haben wir den Vorschlag von Ursula von der Leyen. Sie weiß: Auch in Brüssel gilt das Struck’sche Gesetz. Deshalb werden wir diese Debatte führen. Aber wir werden sie führen im europäischen Geiste, mit dem Willen, eine gemeinsame europäische Antwort zu geben, weil wir diese brauchen.
Herzlichen Dank.
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Für die Fraktion der AfD hat das Wort der Kollege Peter Boehringer.
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Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Versuchen wir, nach diesem Stakkato des planwirtschaftlichen EU-Sprechs doch wieder in die Realität und den Rechtsstaat einzutauchen.
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Macron will mächtiger werden. Dazu braucht er die EU und einen Zahlmeister Deutschland. Es ist absurd, dass wir hier heute über den Merkel/Macron-Vorschlag überhaupt diskutieren; denn gemäß Artikel 311 AEUV ist der EU eine Kreditfinanzierung ihrer Ausgaben verboten – Punkt!
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An dieser Stelle könnte und müsste diese Debatte zu Ende sein!
Die EU hat als Nichtstaat apodiktisch kein eigenes Besteuerungs- oder gar Verschuldungsrecht, der Staatenbund EU lebt ausschließlich von Zuweisungen aus den Haushalten der Mitgliedstaaten. Man kann nicht, wie es aber offenbar geplant ist, einfach per Taschenspielertrick Kreditaufnahme der EU als neue Eigenmittelart umdefinieren.
Ältere Kollegen könnten jetzt vielleicht einwenden: Aber das haben wir doch schon 1975 gemacht. – Ja, in der Tat gab es damals ein Kriseninstrument namens Community Loan Mechanism – Gemeinschaftsanleihen der EWG –, über die tatsächlich in 20 Jahren wenige Milliarden an die schon damals wie heute üblichen Pleitiers Italien, Frankreich, Griechenland ausgezahlt wurden. „Zahlungsbilanzhilfe“ hieß das damals euphemistisch, wenn Rom oder Paris wieder mal bettelnd nach Brüssel pilgerte, um einige Millionen zu bekommen.
Dumm nur, dass diese Option 1999 endete: Mit der Euro-Währungsunion trat die No-bailout-Klausel von Maastricht in Kraft, heute der Artikel 125 AEUV mit Verfassungsrang; es ist nun mal so.
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Über EU-Kredite finanzierte Zahlungsbilanzhilfen zugunsten von Euro-Mitgliedsländern wurden damals explizit verboten.
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Und es ist ja auch ganz logisch: Was sollte bei den geplanten EU-Anleihen denn passieren, wenn etwa Italien einmal bankrott ist oder zahlungsunwillig? Soll dann die selbst gar nicht tilgungsfähige EU Insolvenz anmelden, weil Italien seinen Tilgungsbeitrag nicht leistet? Nein, natürlich würde Deutschland auch den italienischen Anteil tilgen. – Die von der Regierung behauptete teilschuldnerische Haftung ist reine Theorie.
Sind das noch Euro-Bonds durch die Hintertür, oder ist das nicht schon die Vordertür? Und sagte nicht Frau Merkel 2012: „Keine Euro-Bonds, solange ich lebe“?
Nicht nur rechtlich, auch haushalterisch ist der Vorschlag ein Albtraum. Der Wiederaufbaufonds wird ein neuer Schattenhaushalt im Niemandsland sein, für den aber Deutschland voll haftet. Sie können sagen, teilhaftet – egal, wir haften.
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Statistisch werden die anfangs 500, seit gestern nun bereits 750 Milliarden Euro Kreditmittel des Fonds niemandem zugerechnet, weder der EU noch Deutschland, obwohl die Milliardenkredite ja real aufgenommen werden. Angela und Ursula im Wunderland! Die 750 Milliarden Euro können für alle möglichen grünlinksideologischen EU-Projekte nach Belieben verschleudert werden – was auch mit Sicherheit passieren wird –, aber natürlich erst nach Abzug der bei solchen Summen üblichen millardenschweren Verwaltungskosten und Korruptionsversickerungen.
Haushaltsklarheit und nationales Budgetrecht sind in einem solchen Umfeld nur noch eine ferne Erinnerung. Da hilft auch kein Hinweis auf eine formale Beteiligung des Bundestags per sogenannter begrenzter Einzelermächtigung; wir haben es ja eben schon gehört. Bei einer Schuldenaufnahme von 750 Milliarden Euro mit Tilgung bis 2058 ist gar nichts mehr begrenzt, weder quantitativ noch zeitlich.
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Das Haushaltsrecht des Bundestags ist als Königsrecht und vielleicht letzte Bastion deutscher Souveränität in Artikel 110 des Grundgesetzes verankert. Der Merkel/Macron-Vorschlag stellt das zur Disposition. Eine begrenzte Einzelermächtigung über 750 Milliarden Euro ist ein schlechter Witz und zugleich ein Dammbruch. Wenn dieser Damm einmal gebrochen ist, dann wird Brüssel immer wieder riesige begrenzte Einzelsummen zulasten deutscher Bonität aufnehmen und sie in Südeuropa und Frankreich großzügig verteilen. Das geht auch im Billionenbereich und ist immer noch, Herrn Jung, der Jung-Doktrin folgend, eine begrenzte Einzelermächtigung. Das ist so absurd.
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Meine Damen und Herren, nur Staaten dürfen Steuern erheben, nur Staaten dürfen Schulden aufnehmen, weil nur Staaten sie aus künftigem Steueraufkommen auch wieder zurückzahlen können. Die EU ist aber nach höchster Rechtsprechung kein Staat – immer noch nicht.
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Sie darf gemäß Lissabon-Urteil des Verfassungsgerichts von 2009 ohne Volksabstimmung über eine Aufgabe der deutschen Staatlichkeit auch niemals einer werden. Dieses Referendum aber wird den Deutschen seit Jahren und Jahrzehnten vorenthalten.
Der vorliegende Vorschlag präjudiziert einen hochgradig illegalen Zustand eines EU-Staats, für den es in Deutschland niemals eine demokratische Mehrheit geben würde.
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Merkel und Macron haben mit diesem Vorschlag eindeutig den Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung verlassen.
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Es ist die Pflicht dieses Bundestags, den Marsch in die völlige Rechtsbeugung zugunsten eines illegalen Bundesstaats EU-ropa zu stoppen. Wir dürfen das nicht erneut dem Verfassungsgericht überlassen.
Herzlichen Dank.
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Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Kollege Markus Töns.
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Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Liebe Damen und Herren! Also, es ist schon irre, wenn Sie als jemand Ihrer Fraktion, Herr Boehringer, von dem Verlassen der freiheitlichen Grundordnung und vom demokratischen Rechtsstaat sprechen. Das ist bei Ihren Einlassungen hier schon abenteuerlich.
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– Ja, ich gucke gerne in den Spiegel; ich kann das auch noch. Ob Ihr Spiegel bei Ihrem Anblick nicht blind wird, daran würde ich doch zweifeln.
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Aber wir kommen zu den Fakten. Und das will ich Ihnen auch sagen: Wir stecken in der größten Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg in Europa,
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und das ist eine enorme Herausforderung. Der Einbruch wird wahrscheinlich 30-mal stärker sein als in der Finanzkrise, die wir 2008/2009 hatten. Die Arbeitslosigkeit wird in Europa steigen, besonders in Südeuropa. Die Verschuldung der Staaten wächst, und wir müssen reagieren.
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Die ersten Reaktionen, meine Damen und Herren, waren bis jetzt, auf die Auswirkungen der Krise zu reagieren und sie zu bekämpfen,
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national und europäisch. Künftig wird es darum gehen, die Wirtschaft Europas wiederzubeleben.
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Dafür brauchen wir eine sozial-ökologische Transformation,
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und zwar sind hier die Mitgliedstaaten gefragt.
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– Sie können ja mal zuhören, vielleicht verstehen Sie ja dann was davon. Das ist nämlich interessant.
Ich sage es Ihnen mit aller Deutlichkeit: Die deutsch-französische Initiative – nicht nur durch die Kanzlerin, sondern ganz besonders auch durch den Bundesfinanzminister Olaf Scholz auf den Weg gebracht – ist schon die erste Antwort auf diese Fragen. Diese brauchen wir auch.
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Die Frage wird ja auch immer gestellt: Warum gemeinsame Anleihen in diesem Programm? Dann sage ich Ihnen das: weil wir ein gemeinsamer Wirtschaftsraum sind, weil 60 Prozent der Exporte aus Deutschland in die Europäische Union gehen und weil wir diese starke europäische Wirtschaftskraft auch brauchen. Das ist – das sage ich gegen jegliche Mythen, die hier immer von rechter Seite verbreitet werden – ureigenstes Interesse Deutschlands und des deutschen Staates und deshalb auch der Bürgerinnen und Bürger.
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Die ganze europäische Wirtschaft braucht Unterstützung. Dabei muss natürlich ein Fokus auf den besonders betroffenen Regionen liegen. Hier geht es um eine Ausrichtung an gemeinsamen europäischen Zielen. Ich finde, dass das enorm wichtig ist. Hier geht es um Nachhaltigkeit. Es geht um die Erreichung der Klimaziele, wenn wir jetzt wieder investieren. Und es geht darum, das sozial gerecht zu gestalten; denn das erwarten die Bürgerinnen und Bürger in Europa von uns.
Der Vorschlag der Kommission, meine Damen und Herren, ist ausgewogen und gut.
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Die Kombination aus Krediten und Zuschüssen ist nach meiner Überzeugung genau der richtige Weg. Es ist Ausdruck europäischer Solidarität. Auch klar ist: Solidarität ist aus meiner und aus unserer Sicht keine Einbahnstraße. Wer Geld bekommt, muss sich auch an den Rechtsstaat und an rechtsstaatliche Grundsätze halten. Hier ist der Vorschlag der Kommission konsequent und auch richtig.
Die Rückzahlung, meine Damen und Herren,
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wird nicht nur aus Beiträgen der Mitgliedstaaten, sondern aus neuen Eigenmitteln geschehen. Das ist ein richtiger Schritt, das ist ein überfälliger Schritt. Wir werden hier wahrscheinlich noch diskutieren und man wird auf europäischer Ebene noch diskutieren, wie die neuen Eigenmittel aussehen. Ich glaube, da haben wir noch einen wichtigen Schritt vor uns, und das halte ich auch für wichtig. Unsere Erwartung ist, dass die Bundesregierung für diese Eigenmittel eintritt, und zwar für eine vernünftige Form der Eigenmittel.
Zum Vorschlag zum mehrjährigen Finanzrahmen, den Sie ja auch schon erwähnt haben. Aus meiner Sicht und aus Sicht der Sozialdemokratie hätte dieser noch ambitionierter sein können. Ich halte den Vorschlag des Europäischen Parlaments von 1,3 Prozent des BNP, also des Bruttonationalprodukts, für einen durchaus gangbaren und vernünftigen Weg. Er wäre angemessen gewesen, aber vielleicht können wir auf der Wegstrecke noch ein bisschen was erreichen.
Wir haben aber – das ist sicherlich richtig – keine Zeit zu verlieren. Wir brauchen eine Einigung im Juli; die ist zwingend notwendig. Dazu müssen wir dann an dieser Stelle – da habe ich vollstes Vertrauen in den Bundesfinanzminister – die deutsche Ratspräsidentschaft nutzen.
Ein herzliches Glückauf!
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Vielen Dank, Kollege Töns. – Der nächste Redner für die Fraktion Die Linke ist der Kollege Fabio De Masi.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Meine Fraktion unterstützt selbstverständlich den Wiederaufbau in Europa; denn wenn Italien und Spanien Fieber haben, kann auch Deutschland nicht gesund werden.
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Es ist offensichtlich, auch hier in Deutschland: Es ist eben teurer, in der Krise zu kürzen; denn wenn Unternehmen sterben, wenn Jobs vernichtet werden, dann brechen uns auch die Steuereinnahmen von morgen weg.
Weil jetzt bei diesem Aufbaufonds auch über die Verknüpfung mit dem Europäischen Semester gesprochen wird: Was nicht geht, ist, in der Coronakrise mit feuchten Augen für die Krankenschwestern und Ärzte in Italien, Spanien oder Deutschland zu klatschen und dann zu sagen: Geld gibt es nur, wenn man den Leuten ins Portemonnaie greift und wieder die Löhne und Renten kürzt. – Das müssen wir verhindern! Das wäre Gift für Europa.
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Wir haben ja auch in Deutschland wieder die Debatte: Die Union will die Grundrente aussetzen, diskutiert über die Senkung von Mindestlöhnen und will den Soli auch für DAX-Manager und Bundestagsabgeordnete abschaffen. Es dürfen nicht wieder die Leute die Rechnung bezahlen, die den Laden am Laufen halten. 63-mal hat die EU-Kommission seit 2011 EU-Mitgliedstaaten aufgetragen, ihre Gesundheitsausgaben zu kürzen. Jeder Mensch in diesem Land versteht doch: Was die Krise jetzt teurer macht, ist, dass wir die Wirtschaft nicht mehr anfahren können, weil unser Gesundheitssystem sonst zusammenbrechen würde. Dieser Unsinn in Europa muss ein Ende haben!
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Natürlich muss man auch Auflagen machen, wenn man Geld gibt. Aber warum denn nicht mal, anstatt der Krankenschwester ins Portemonnaie zu greifen, die Multimillionäre und Milliardäre in Europa zur Kasse bitten,
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warum nicht die Steueroasen austrocken?
Deswegen will ich – apropos Steueroasen – etwas zu den sparsamen Vier sagen, die der Kollege Lambsdorff angesprochen hat: die Niederlande, Österreich, Dänemark und Schweden.
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Wie heißt der erfolgreichste Autokonzern der Niederlande? Fiat – das habe ich von einem Kollegen gelernt; guter Hinweis –; denn der italienische Autobauer Fiat zahlt seine Steuern nur noch in den Niederlanden, weil die Niederlande eine dreiste Steueroase sind, die auch die anderen Länder in Europa abzockt.
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Bei Ihnen, Herr Kollege Gottschalk, ist wirklich Hopfen und Malz verloren. Eric Cantona – das ist ein französischer Fußballspieler – hat einmal gesagt, mit Leuten wie Ihnen zu diskutieren, sei, wie mit einer Taube Schach zu spielen.
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Die setzt man in drei Zügen schachmatt, die läuft über das Spielfeld, wirft die Figuren um, hinterlässt dann ihre Notdurft und meint, sie hätte im Schach gewonnen.
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Zurück zum Thema. Auch die Niederlande haben wie Deutschland chronische Leistungsbilanzüberschüsse. Das heißt: Sie haben mehr ins Ausland verkauft als von dort eingekauft. Es ist eben nun einmal so: Die Ausgaben der einen sind die Einnahmen der anderen und umgekehrt. Das heißt: Ohne die Schulden auch Italiens und Spaniens hätten die überhaupt keine Umsätze gemacht.
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Auch Österreich – auch das muss hier gesagt werden – hat seit Einführung des Euro noch kein einziges Mal die Maastricht-Kriterien zur Staatsverschuldung erfüllt. Spanien hatte eine der niedrigsten Staatsschuldenquoten Europas vor der Euro-Krise.
Deswegen bin ich doch sehr verwundert über die teilweise absurden Debatten, die wir hier führen. Heute früh habe ich von einem Redner der Union gehört, man würde jetzt Zuschüsse in Europa machen, aber man sei standhaft geblieben bei den Coronabonds. – Das ist ein Widerspruch. Die Coronabonds wären nämlich billiger gewesen; denn würde die EZB diese Bonds kaufen, gäbe es null Zins- oder Haftungsrisiko für Deutschland, weil die EZB niemals in Euro pleitegehen kann.
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Deswegen will ich hier einmal vortragen, was ein sehr renommierter deutscher Ökonom, der übrigens auch die CDU berät, letztens geschrieben hat. Herr Südekum sagte: Wir bräuchten jetzt öffentliche Investitionen statt Kürzungen in Europa. Die Industriestaaten sollten aus dem Schuldenproblem der Coronakrise einfach herauswachsen. Er sagt auch:
Einem weiteren Akteur kommt eine entscheidende Rolle zu: den Zentralbanken. Wenn sie als Käufer von Staatsanleihen zur Verfügung stehen, sind niedrige Zinsen garantiert. Und was immer die öffentlichen Haushalte dorthin abführen, fließt als Zentralbankgewinn wieder zurück. Wir leihen uns das Geld quasi selber. Solide Staaten mit einer soliden Währung können das.
Deswegen fordert Herr Südekum, das Mandat der Europäischen Zentralbank zu ändern, damit sie auch Staaten und nicht nur die Banken finanzieren kann – und das will auch Die Linke.
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Ein letzter Hinweis. Ich bin sehr dafür, dass wir die Debatte um den europäischen Aufbaufonds auch an die Digitalbesteuerung knüpfen; denn wir erleben ja jetzt in der Krise einen, der sich über Corona freut: Jeff Bezos, der mit Amazon jetzt seine Marktmacht ausbaut. Deswegen müssen wir dafür sorgen, dass die Multis in Europa ihre Steuern zahlen.
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Ich will das hier auch noch mal sagen: Das gilt auch für die Lufthansa. Gestern kam heraus: Die Lufthansa macht mit zwei Mitarbeitern – angeblich in Malta – 200 Millionen Euro Gewinn. Das glaubt nicht mal ein Fünfjähriger. Deswegen müssen wir in Europa endlich für Steuergerechtigkeit sorgen.
Vielen Dank.
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Die nächste Rednerin ist für Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Dr. Franziska Brantner.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Vorschlag der Kommissionspräsidentin von der Leyen zeigt den richtigen Weg. Es kommt jetzt entscheidend darauf an, was die Bundesregierung daraus macht.
Zur Höhe. Weil die Konsequenzen dieser Coronapandemie nun mal so groß sind – überall so groß sind –, müssen die Antworten eben auch entsprechend groß sein, damit wir diesen Binnenmarkt wieder auf die Beine stellen und in europäischer Souveränität in Zukunft leben können.
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Herr Lambsdorff, es hat mich gerade sehr gewundert, dass Sie die geizigen Vier dafür gelobt haben, dass sie keine Zahl genannt haben. Ich meine: Wir stellen jetzt einen siebenjährigen Haushalt auf, sollen einen Wiederaufbaufonds beschließen – und das ohne eine Zahl, ohne eine Größenordnung? Herr Lambsdorff, das ist doch lächerlich.
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Die geizigen Vier haben sich einfach nur davor gedrückt, eine inhaltliche Aussage zu machen. Dass Sie das loben, wundert mich.
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Vor allen Dingen wundert mich das, weil die Liberalen im Europäischen Parlament ja den 2 Billionen Euro zugestimmt haben. Also, die 750 Milliarden Euro sind eindeutig darunter.
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Die egoistischen Vier wollten mit ihrem Vorstoß gegen Zuschüsse vor allem ihren eigenen Beitrag senken, und das, obwohl sie selber massiv vom europäischen Binnenmarkt profitieren. Die Niederlande haben einen Exportüberschuss von 10 Prozent. Deswegen ist deren Position auch nicht sparsam, sondern sie ist egoistisch. Es sind einfach klassische Trittbrettfahrer.
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Herr Lambsdorff, Sie sprachen bei Twitter von „Geschenken“. Herr Lambsdorff, Sie wissen es besser.
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Es ist Geld, das wir, wie seit Jahrzehnten üblich, über EU-Programme mit Kofinanzierung nun in Nachhaltigkeit, Innovation und Resilienz investieren wollen. Herr Lambsdorff, Sie wissen auch: Europäische Programme bedeuten, dass das Europäische Parlament inhaltlich mitgestalten kann, dass es die demokratische Kontrolle gibt und dass der Europäische Rechnungshof, die Europäische Antibetrugsbehörde OLAF und in Zukunft auch noch die Europäische Staatsanwaltschaft dabei sind. Trotzdem behaupten Sie immer noch: Das bedeutet: Ohne Kontrolle geht das Geld irgendwohin. – Sie wissen es besser, Herr Lambsdorff. Hören Sie endlich auf mit diesem Gerede!
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Das ist einfach nicht Ihr Niveau.
Weil es in den nächsten Jahren um wahnsinnig viel Geld geht und dadurch auch die Spielräume für die nächsten Jahre und Jahrzehnte abgesteckt werden, muss dieses Geld jetzt in Zukunftsprojekte investiert werden. Wir müssen einen neuen Anfang für morgen schaffen. Deswegen muss der Klimaschutz Herzstück dieses Wiederaufbaufonds sein.
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Wir brauchen höhere verbindliche europäische Klimaziele für 2030. Es ist unverantwortlich, dass diese Bundesregierung sie immer noch blockiert. Hören Sie damit endlich auf!
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Leider hat sich beim MFR-Vorschlag für den siebenjährigen Haushalt mit Blick auf die Agrarpolitik nichts geändert, und das steht im krassen Widerspruch zum Green Deal. Hier, liebe Bundesregierung, könnten Sie mal dringend nachverhandeln, damit wir auch in die Agrarpolitik mehr Klimaschutz reinbekommen.
Wenn es um so viel Geld geht, dann muss auch sichergestellt werden, dass dieses Geld nicht in die Taschen von Demokratiezerstörern kommen kann. Wir brauchen dringend eine Konditionalisierung des europäischen Haushaltes und des Wiederaufbaufonds im Hinblick auf die Kriterien von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Ich fordere Sie auf: Stimmen Sie keinem europäischen Haushalt zu, der diese Konditionalisierung nicht enthält!
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Wenn es darum geht: „Wie zahlen wir die Schulden eines Tages über den europäischen Haushalt zurück?“, dann gibt es die Möglichkeit: nationale Beiträge oder – das hat die Europäische Kommission jetzt auch vorgeschlagen – neue Eigenmittelquellen – Digitalsteuer, Emissionshandel, CO2-Grenzabgabe, Plastikabgabe. Suchen Sie sich davon was aus, Bundesregierung! Bis jetzt haben Sie alles davon blockiert und gesagt: Es gibt gar keine Eigenmittel. – Das ist eine unverantwortliche Position in diesen Zeiten. Gehen Sie da endlich von der Bremse, und ermöglichen Sie neue Einnahmequellen für die Europäische Union!
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Wenn wir schon dabei sind: Wir als Staaten verlieren in der Europäischen Union über 100 Milliarden Euro jährlich aufgrund von Mehrwertsteuerbetrug. Über 100 Milliarden Euro im Jahr! Seit drei Jahren liegt ein Vorschlag der Europäischen Kommission auf dem Tisch, um dies zu bekämpfen. Die Bundesregierung blockiert seit drei Jahren. Haben wir wirklich noch die Zeit und das Geld, um solche Vorschläge zu blockieren? Wir müssen doch jetzt sichergehen, dass jeder Cent, der eigentlich gezahlt werden soll, auch wirklich in der Staatskasse landet. Das sind über 100 Milliarden Euro pro Jahr. Bewegen Sie sich endlich! Machen Sie was bei der Mehrwertsteuerreform!
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Frau Kollegin.
Es kommt jetzt darauf an, dass die Bundesregierung mit der Ratspräsidentschaft zu einem schnellen Ergebnis kommt. Alle Kraft voran! Für Europa! Für ein nachhaltiges und souveränes Europa!
Ich danke Ihnen.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Der nächste Redner ist der Kollege Ecki Rehberg, CDU/CSU.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, über das Ob muss man sich nicht streiten. Dass Europa insgesamt aus der Krise herauskommen und wettbewerbsfähiger werden muss, liegt im ureigenen deutschen Interesse; denn 60 Prozent unserer Exporte gehen in die Europäische Union.
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Wenn wir als Europa auch in Zukunft eine Rolle in der Welt spielen wollen – USA, China und Russland sind die großen Wettbewerber, die Konkurrenten auf der Weltbühne –, dann können wir das nur gemeinsam in Europa leisten.
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Es gibt eine Parallelität. Der mehrjährige Finanzrahmen steht an. Kollege Töns, zur Wahrheit gehört eines dazu: Man kann 1,3 Billionen Euro fordern. Bloß, dann muss man auch sagen, wie hoch die Belastung für den deutschen Bundeshaushalt ist. Diese beträgt aktuell 35 Milliarden Euro im Soll. Wenn ich auf 1,3 Billionen Euro gehe, dann bin ich bei 50 Milliarden Euro. Da muss man ehrlich sein. Man muss dann dem Bürger, dem Steuerzahler in Deutschland sagen: Wenn ich 1,3 Billionen Euro für den MFR in Europa haben will, dann ist der deutsche Beitrag deutlich höher, als er es heute ist. – Das gehört schlichtweg zur Wahrheit in der Debatte dazu.
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Nun zum Recovery Fund mit einem Volumen von insgesamt 750 Milliarden Euro. Die Europäische Kommission hat den Merkel/Macron-Vorschlag, den ich für sehr gut und richtig halte, weil er befristet ist und Konditionalität verlangt, noch einmal mit Krediten in Höhe von 250 Milliarden Euro aufgestockt. Kollege Lambsdorff, Sie waren mehrere Jahre Mitglied des Europäischen Parlaments. Wenn wir innerhalb von sieben Jahren 1,85 Billionen Euro umsetzen wollen – die 750 Milliarden Euro bis 2024, sicherlich nachlaufend –, dann ist die große Herausforderung nicht, Geld in das Schaufenster zu stellen, sondern die große Herausforderung für das Europäische Parlament und die Europäische Kommission wird sein, dieses Geld umzusetzen.
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Das wird die große Herausforderung sein, insbesondere im Hinblick auf Folgendes – ich betone das immer wieder –: Stand heute haben wir bei 1 Billion Euro für den mehrjährigen Finanzrahmen in den letzten sieben Jahren 280 Milliarden Euro gebunden, aber nicht ausgegeben. Deswegen mache ich mir Sorgen um die Umsetzung. Es wird entscheidend darauf ankommen, wie der Eigenmittelbeschluss – wir werden als nationales Parlament über Artikel 311 AEUV mit eingebunden sein – aussehen wird. Ich hoffe, dass die Fraktionen des Bundestages ein Interesse daran haben, dass sich Europa weiterentwickelt, dass Europa gestärkt ist, und dass wir möglichst viel und zusammen agieren werden.
Lassen Sie mich noch einen Satz zu den sogenannten sparsamen Vier sagen. Der Ansatz ist ja, den EU-Haushalt zu deckeln; der Ansatz ist ferner, Mittel vorzuziehen und über Kredite zu vergeben. Ich gucke mal in Richtung FDP: Wenn Sie das so toll finden, muss ich Ihnen sagen – Sie haben ja mittlerweile die große Liebe zu den Landwirten in Deutschland entdeckt –:
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40 Prozent des EU-Haushalts gehen in die Landwirtschaft. Weitere 30 Prozent sind Kohäsionsfonds. Ich stelle mir vor, wenn wir das alles vorziehen, es bei 1,0 Prozent BNE und bei 1 Billion Euro belassen, was denn die Ergebnisse an dieser Stelle sein werden, liebe Kolleginnen und Kollegen. Deswegen ist dieser Ansatz der sparsamen Vier mehr als zu hinterfragen. Ich halte ihn für keinen tauglichen Ansatz. Vielleicht wäre es von der EU-Kommission ein bisschen gescheiter gewesen, sich nur auf den Merkel/Macron-Vorschlag zu konzentrieren und nicht die beiden Vorschläge additiv zu verknüpfen. Ich habe schon ausgeführt: Die Umsetzung wird an dieser Stelle schwierig genug werden.
Natürlich gibt es Fragen gerade zu dem Vorschlag der Kommission; Graf Lambsdorff hat ihn aufgerissen. In der Kürze der Zeit kann ich nicht alle Fragen stellen. Aber die Fragen wird die Kommission schon beantworten müssen. Nur ein Hinweis – auch an Sie –: Ich weiß nicht, ob es sinnvoll ist, die EIB noch mehr zu hebeln. Wir haben sie gerade um 200 Milliarden bei dem Drei-Säulen-Paket ESM/EIB/SURE gehebelt. Das Geld muss, finde ich, erst einmal umgesetzt werden. Ich glaube, dass wir spannende Debatten vor uns haben.
Eine letzte Bemerkung an die Kolleginnen und Kollegen der AfD. Herr Kollege Boehringer, heute Morgen einen Antrag einbringen, der zum Bruch des Grundgesetzes auffordert, und jetzt vom Rechtsstaat reden – perfider geht es schlichtweg nicht!
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Ich glaube, Sie sollten sich wirklich mal einen Spiegel vorhalten.
Herzlichen Dank.
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Für die Fraktion der AfD hat das Wort als Nächstes der Kollege Kay Gottschalk.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kollegen! Liebe Steuerzahler und vor allen Dingen liebe zukünftige Generationen da draußen! Wir sprechen heute über einen Wiederaufbaufonds, den Recovery Fund, der nach den Vorstellungen von Frau von der Leyen insgesamt 750 Milliarden Euro umfassen soll, 500 Milliarden Euro davon als nicht zurückzuzahlende Zuwendung, 250 Milliarden Euro – immerhin – als Kredit, meine Damen und Herren. Schachmatt in drei Zügen, Herr De Masi! Sie sprechen hier immer von Solidarität. Ich zeige Ihnen mal auf, was Sie hier im Hohen Haus unter Solidarität verstehen. Italien sollen wir mit 1 350 Euro pro Kopf helfen. Für Spanien sind es 1 638 Euro pro Kopf. Das macht in Summe für Italien 81 Milliarden Euro, für Spanien 77 Milliarden Euro; diese sollen nicht zurückgezahlt werden. Meine Damen und Herren, der Rest in Krediten! Ich glaube, diese sehen wir auch nicht wieder.
Kleine Belehrung, Mezzogiorno, die Kasse des Südens: Wir versenken seit den 60er-Jahren in Italien Geld, ohne dass es zu Strukturreformen kommt und ohne dass dieses Land auf die Beine kommt. Wann lernen wir eigentlich mal dazu?
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Meine Damen und Herren, was Sie hier starten, ist nichts anderes als der rechtswidrige Versuch der Vergemeinschaftung von Staatsschulden – nur in einem anderen Gewand. Aber das lassen wir Ihnen nicht durchgehen, und der Frau Merkel auch nicht. Ich kann Ihnen aber eines an dieser Stelle versprechen: Wir werden alle parlamentarischen und juristischen Mittel nutzen und ausschöpfen, um diese Falltür für Deutschland in die Transferunion – nichts anderes ist es – geschlossen zu halten. Sie wollen hier den Höllenschlund der Vergemeinschaftung öffnen. Das lassen wir nicht zu, meine Damen und Herren.
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Sie verkaufen hier schlichtweg 60 Prozent Staatsverschuldung im Verhältnis zum BIP – ein Maastricht-Kriterium, das auch Sie von der CDU/CSU schon längst über Bord geschmissen haben –, um die Party- und Dolce-Vita-Staaten des Südens zu beglücken, die trotz zehnjähriger Niedrigzinspolitik es nicht auf die Kette gekriegt haben, was übrigens auch zulasten der deutschen Steuerzahler, der deutschen Sparer, der deutschen Versicherungen, der deutschen Pensionskassen ging. Trotz dieser Chancen haben es Italien, Spanien und die anderen Länder nicht auf die Kette bekommen, ihre strukturellen Probleme zu lösen. Und jetzt soll mehr Geld mehr helfen? Sie werfen gutes Geld dem schlechten hinterher. Lassen Sie es doch einfach, meine Damen und Herren!
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Und Solidarität? Solidarität ist bei Ihnen – ich will es mal vergleichen –: Sie geben Italien weiter Zuschüsse, einem Land, in dem die Bürger mit 62 Jahren in Rente gehen. Bei uns dürfen sich die Deutschen als Belohnung bis 67 abrackern, und Herr Spahn hat ja jüngst sogar ins Spiel gebracht, meine Damen und Herren, die Deutschen dürften bis 70 arbeiten. Schauen Sie sich die Statistik an: Niemand geht so spät in Rente wie die Deutschen. Sie wollen uns den Mindestlohn abspenstig machen; auch das klang bei Ihnen an. Wie wollen Sie den Bürgern hier eigentlich verkaufen, dass Sie Unsummen in den Süden geben und hier über Lohnkürzung sprechen? Und dann reden Sie von Solidarität. Ist das Ihre gelebte Solidarität?
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Schauen wir uns doch die OECD-Studien an. Fakten, Fakten! Machen Sie den Faktencheck! Deutschland ist mit 49,4 Prozent Spitzenreiter bei Abgaben und Steuern. Italien, Spanien, Frankreich – weit hinter uns, meine Damen und Herren. Herr Binding – er ist, glaube ich, leider nicht da –, Sie redeten gestern vom Durchschnitt. Schauen wir uns das Median-pro-Kopf-Vermögen der Staaten, denen wir helfen wollen, an, meine Damen und Herren; das ist noch viel gerechter als der Durchschnitt. Man hat in Spanien ein Pro-Kopf-Vermögen von 95 000 Euro, in Frankreich eines von 101 942 Euro, und die arme deutsche Wurst, die solidarisch sein soll, Herr De Masi – ein Lippenbekenntnis –, 35 313 Euro. Also: Die Deutschen sollen dem Spanier helfen, haben aber nicht mal ein Drittel von dem, was er als Median-Vermögen hat. Gelebte Solidarität dieser EU, meine Damen und Herren!
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Ich glaube, das widerlegt die Mär vom reichen Deutschland und führt Ihre großzügige Europarettungspolitik ad absurdum. Meine Damen und Herren, diese EU – das stelle ich für heute fest – ist ein Waterloo und Versailles für Deutschland in einem.
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Ich frage mich auch, wie Sie eigentlich bei diesen erschreckenden Zahlen deutschen Arbeitnehmern noch dazu verhelfen wollen, zu Vermögen zu kommen. Wie sagte ich einst? Erst Flüchtlinge, dann Facharbeiter; erst Südländer, dann Deutschland. Germany First? Fehlanzeige, meine Damen und Herren! In Wirklichkeit – das schreibe ich Ihnen hier ins Stammbuch, und das wird die Geschichte zeigen – wollen Sie doch nur eines: Sie wollen eine längst bankrotte Währung, nämlich den Euro, durch die Hintertüre mit Blut, Schweiß und Tränen der Deutschen retten, meine Damen und Herren, und das wird nicht mit uns geschehen; denn diese Union kennt nur Solidarität, wenn es darum geht, dem deutschen Steuerzahler das Geld aus der Tasche zu ziehen.
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Meine Damen und Herren, wir werden mit allem, was uns zur Verfügung steht, uns dagegen wehren, aus Verantwortung für zukünftige Generationen und vor allen Dingen für die Zukunftsfähigkeit hier in Deutschland.
Kümmern Sie sich um unsere Infrastruktur, kümmern Sie sich um die Digitalisierung, kümmern Sie sich um die Renten! Das war eben ärmlich, was Sie hier gerade zuvor zur Grundrente diskutiert haben, meine Damen und Herren. Aber wir werden dieser irrsinnigen Europa- und Euro-Rettungspolitik weiterhin den Spiegel der Wahrheit vorhalten. Diese Politik geschieht nicht mit uns.
Danke schön.
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Als Nächstes hat das Wort der Kollege Christian Petry, SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach dieser Rede, die auch ein Faschist im Dritten Reich hätte halten können – –
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Wenn man nämlich vom Versailler Vertrag als Dolchstoß redet und das mit der EU vergleicht,
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ist das im Jargon nicht besser.
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– Und es wird auch durch Ihr Gebrülle nicht besser.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir können uns entscheiden: Sind wir für ein Europa der Solidarität, sind wir für ein Europa der Stabilität, oder sind wir für ein wirtschaftliches Europa, sind wir dafür, oder lassen wir unsere Nachbarinnen und Nachbarn alleine? Wir haben die Entscheidung, wir haben die Entscheidungsfreiheit, und das ist gut so. Unsere Interessen sind in europäische Interessen eingebettet – das ist mehrfach genannt worden –, nicht nur im wirtschaftlichen Sinne, auch im gesellschaftspolitischen Sinne. Die liberalen Demokratien, die Freiheitsrechte, nicht nur die 60 Prozent Binnenmarktanteil sind das, was Europa für uns ausmacht. Dies ist eine große Leistung. Darauf können wir stolz sein, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Die EU hat ambitionierte Programme vorgelegt. 450 Milliarden haben wir mit dem ESM bereits verabschiedet, dem IPE und SURE. Wir haben nun ein Recovery Programme Next Generation EU vor, 500 Milliarden Euro Anleihen, durchfinanziert, rückzahlbar von 2028 bis 2058, entweder über den EU-Haushalt direkt, jedenfalls über den EU-Haushalt, aber möglicherweise auch mit neuen Eigenmitteln, über die wir in der Zukunft sehr seriös diskutieren können.
Hier ist schon viel darüber gesprochen worden, ob dies eigene Abgaben sind, ob das durch Emissionshandel oder durch Steuern geschieht. Bezüglich Steuern kann man durchaus überlegen, ob es möglich ist, internationale wirtschaftliche Tätigkeit immer nur national zu besteuern, oder ob dies eben der Steuervermeidung Tür und Tor öffnet; „Double Irish with a Dutch Sandwich“ ist bekannt. Auch hier ist es eine dankbare Aufgabe, seriös darüber reden zu können, wie wir das regeln.
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Wenn man dies alles mit dem mehrjährigen Finanzrahmen zusammenrechnet, dann sind wir bei sehr ambitionierten Summen. Das geht in die Billionen. Der mehrjährige Finanzrahmen über sieben Jahre sieht 1,1 Billionen vor, 750 Milliarden und 450 Milliarden im ersten Programm. Wir sind bei 2,4 Billionen Euro in den nächsten sieben Jahren. Schwerpunktmäßig sollen diese Mittel in den nächsten drei Jahren verausgabt werden, seriös finanziert über den mehrjährigen Finanzrahmen, nicht durch Aufstockungen, sondern in diesem Rahmen. Darauf, dass hier dieses positive Signal, dieses ambitionierte Ziel gesetzt wurde, können wir stolz sein, darauf, dass hier die entsprechenden Aufbauleistungen nach der Krise oder bereits während der Krise beginnend geleistet werden können. Ich finde, das ist eine großartige Chance für Europa.
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Lieber Ecki Rehberg – wo ist er; da hinten –, leider wird sich durch die drohende Senkung des Bruttoinlandsprodukts in diesem Jahr, rechnerisch gesehen, der prozentuale Anteil, wenn es bei den 35 Milliarden bleibt, sowieso erhöhen. Dafür können wir nichts, das ist so, das wird sich ausgleichen. Das ist immer die Schwierigkeit, wenn man nur in Prozentanteilen von etwas rechnet, was mal größer und mal kleiner werden kann. Insoweit sind wir da auf dem Weg.
Ich glaube, das ist wichtig. Denn der Aufruf für Europa, klimaneutral gestaltet mit dem Green Deal, sozial verantwortlich gestaltet mit der Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit, mit den sozialen Standards wie europäischer Mindestlohn, Arbeitslosenrückversicherung, Kurzarbeitergeld, den sozialen Standards insgesamt, mit einer ordentlichen Gesundheitsvorsorge, mit einer Abstimmung auch für den Krisenfall untereinander – das haben wir ja in der Krise gelernt –, das digitale Europa, die Führerschaft in diesem Punkt wieder zu übernehmen, starke Akteure im Handel, im Welthandel bei gleichzeitiger offener liberaler Demokratie – das ist das, was Europa ausmacht.
Alle anderen Systeme, Systeme, die über den Wirtschaften stehen, die in der Welt groß sind, haben nicht diese Offenheit und die Freiheit, die wir uns erarbeitet und erkämpft haben, die teilweise unsere Vorväter erkämpft haben oder die auch unter dramatischen Ereignissen entstanden sind. Das gilt es zu verteidigen. Es ist ein Aufruf für Europa. Das Signal ist gesetzt. Wir haben unsere Vorschläge dazu gemacht.
Ich glaube, wir tun gut daran, hier mitzumachen. Es wird in den Bundestag kommen, übrigens nicht mit einer Zweidrittelmehrheit, sondern mit einer einfachen Mehrheit. Wer am Montag in der Anhörung war, die im Europaausschuss stattgefunden hat, wird dies auch mitgenommen haben. Es ist aber auch in den Dokumenten nachzulesen. In diesem Sinne sind wir für Deutschland in einem vereinten Europa integriert. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten.
Glück auf!
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Herr Kollege Petry, zu Ihrer Eingangsbemerkung: Wir sollten wirklich überlegen, ob wir so die Reden hier im Deutschen Bundestag beginnen wollen. Der Kollege Gottschalk fühlt sich von dieser Eingangsbemerkung, die Sie gemacht haben, beleidigt und möchte eine persönliche Erklärung nach § 30 unserer Geschäftsordnung abgeben. Ich weise darauf hin, dass das ohne Möglichkeit der Erwiderung ist. – Herr Kollege Gottschalk.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Es ist ungeheuerlich und zeigt eigentlich den wirklich geistig-moralischen Verfall
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Ihrer Partei, wenn Sie auf Fakten so reagieren, und Sie werden nicht ein Faktum, das ich hier eben in meiner Rede genannt habe, widerlegen können. Ich könnte noch die Eigentumsquote und Wohneigentum anfügen. Ich habe hier die OECD-Studie zitiert.
Sie haben, glaube ich, eben hier über die Grundrente debattiert. Da ging es um Kleckerbeträge, und jetzt kübeln Sie, und zwar wesentlich für andere. Wenn Sie also Fakten, die ich eben genannt habe, tatsächlich mit Faschismus gleichsetzen, meine Damen und Herren, dann möchte ich Ihnen den Spiegel vorhalten.
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Und ich bin wirklich entsetzt. Ich verwahre mich aufs Ärgste gegen solche ungeheuerlichen Behauptungen. Die sind hier auch nicht durch die Redefreiheit abgedeckt.
Aber es ist offensichtlich – so erlebe ich das auch tatsächlich im Diskurs und im Wahlkampf –, dass Sie Fakten versuchen mit Faschismus gleichzusetzen und damit versuchen, irgendwo die Lufthoheit zu erobern und zu erhalten. Das wird Ihnen aber nicht gelingen. Denn die Wahrheit dieser Zahlen wird Ihnen auf die Füße fallen. Nochmals: Ich finde es schäbig. Ich glaube, ein Helmut Schmidt würde sich im Grabe umdrehen, wenn er Sie hier hätte heute reden hören.
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Wir setzen die Aktuelle Stunde fort. – Der Kollege Michael Link hat das Wort für die FDP-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das ist ein sehr ernstes und schwieriges Thema, über das wir heute reden, und deshalb tut es ihm nicht gut – lassen Sie mich das sehr deutlich sagen, Herr Kollege Gottschalk –, wenn Sie hier durch das Evozieren, das Heraufrufen von Feindbildern, mit Schlachtengemälden, mit verlorenen und gewonnenen Kriegen arbeiten und den Eindruck erwecken, als ob wir hier in einer Situation sind, wo sozusagen der eine den anderen besiegt.
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Es ist hier gerade der Vorteil dieser Europäischen Union, dass wir uns vereinigt haben, um jeden Streit nur noch am grünen Tisch zu klären, auch den finanziellen, der manchmal hier selbst unter uns hart ausgetragen wird. Aber was Sie machen, ist eine Wasserscheide zu all dem, was wir vorher gehört haben. Das ist Verhetzung, und deshalb kann ich da nur ganz klar sagen: Ein Glück, dass wir die Europäische Union haben und unseren Streit friedlich regeln.
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Wir wollen ja gerade – lassen Sie mich das sehr deutlich sagen, weil es hier überhaupt nicht gesagt worden ist – auch finanziell mehr Verantwortung für Europa übernehmen, und dazu stehen auch wir als Freie Demokraten. Unser Beitrag zur EU wird alleine schon durch den Brexit von früher einem Fünftel auf jetzt ein Viertel steigen. Das ist unbenommen, das ist klar. Aber das erhöht doch auch unsere Verantwortung, hinzuschauen, wohin das Geld geht. Deshalb sage ich das Folgende mit Blick vor allem auf die von mir sehr geschätzten und respektierten Haushälter der CDU/CSU: Schauen Sie da bitte genauer hin, was da von wegen Befristung und Begrenzung vorliegt. Ich glaube Ihnen, Kollege Rehberg, sehr wohl, dass Sie das wollen. Das findet sich in den Vorschlägen leider noch nicht so.
Also: Wir sind am Anfang eines Prozesses. Deshalb haben wir diese Aktuelle Stunde beantragt, weil wir sensibilisieren wollen für das, auf was wir jetzt achten müssen. Wie hoch soll das sein? Welche Instrumente sollen genutzt werden? Wofür soll das Geld ausgegeben werden? Und wie lange soll das alles laufen?
Die erste Frage: Wie viel? Ich glaube, dass die Höhe an sich schon ein Problem ist. Die Höhe an sich verhindert, dass wir das machen, was wir eigentlich machen sollten. Auch darauf hat Kollege Rehberg absolut richtig hingewiesen. Die über 280 Milliarden Euro RALs – die sogenannten RALs, ein wunderschönes technisches Wort; das, was nicht ausgegeben ist, was gebunden herumliegt, aber nicht genutzt werden kann – müsste man nutzen. Die große Höhe verhindert aber, dass wir die Mittel in der besten Art und Weise einsetzen, und natürlich wird jeder nur die Zuschüsse wollen.
Das ist der zweite Punkt: Welche Instrumente? Die Zuschüsse sind natürlich sehr viel attraktiver als die Darlehen. Ich glaube, dass wir damit Fehlanreize schaffen. Denn die Kommission ist keine Bank. Die Europäische Investitionsbank könnte sehr wohl diese Darlehen begeben. Aber die Kommission ist, ehrlich gesagt, aus meiner Sicht überfordert, wenn sie jetzt hier mit Darlehen anfangen will.
Wofür? Konditionalitäten? Da bleibt es sehr, sehr vage. Lesen Sie die Texte! Es bleibt sehr vage, was vorgeschrieben und was an Bedingungen vorgelegt wird, wofür das Geld eingesetzt werden kann. Im Wirtschaftsausschuss gab es gestern eine spannende Anhörung, haben Kollegen berichtet. Da wurde gesagt: Beim Wofür kommt es hauptsächlich an auf Solvenzsicherung europäischer Unternehmen in der Krise. Wie viel sieht von der Leyen dafür vor? 31 Milliarden Euro! Wie viel gehen an die Staaten für Investitions- und Kohäsionsprogramme? 610 Milliarden Euro! Das ist Geld für weitgehend schon immer gewünschte Vorhaben dieser Staaten, die aber nichts mit der Coronakrise zu tun haben. Hier soll die Krise offensichtlich dafür genutzt werden, Finanzmittel über eine Verschuldung am Anleihemarkt bereitzustellen. Das kann doch nicht der richtige Weg sein.
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Und dann: Wie lange? Auch da steckt der Teufel im Detail. Es wird gesagt: zwei Jahre. In den Texten steht: Bis 2024 soll Next Generation genutzt werden können, und die Rückzahlungen laufen ab 2028 bis 2058. Im ganz klein Gedruckten steht, dass ein Rückfall der Eigenmittelobergrenze, die man jetzt ausnahmsweise erhöhen will, erst dann stattfindet, wenn alles zurückgezahlt ist, also 2058.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Programme so weit über die eigene politische Tätigkeit hinaus zu machen, ist an und für sich schon fragwürdig.
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Wir fordern dringend, dass dieses Programm kleiner wird, dass es sich auf Darlehen konzentriert statt auf Zuschüsse. Wir fordern eine striktere Begrenzung dieses Programmes, und wir fordern vor allem, dass es zielgenauer eingesetzt wird, nicht für die Unterstützung von Programmen von Staaten, die sie ohnehin schon einmal machen wollten, aber nicht finanzieren konnten,
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sondern dass es wirklich sehr genau auf die Krisenfolgen begrenzt wird.
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Ein letzter Satz. Es wird gesagt: Gab es doch alles schon. Zuschüsse gab es schon aus dem EU-Haushalt – stimmt, aus dem EU-Haushalt – und Anleiheaufnahmen. – Ja, gab es: Anleihen für Dinge, die nicht aus dem EU-Haushalt liefen. Jetzt verknüpfen Sie aber beides; jetzt sollen zum ersten Mal Zuschüsse gemacht werden aus dem EU-Haushalt, die mit Anleihen finanziert sind. Das ist etwas Neues, und da ist sehr wohl die Frage, ob das nicht mit Zweidrittelmehrheit beschlossen werden muss, wenn Sie das in den Eigenmittelbeschluss schreiben wollen. Also: Vorsicht an der Bahnsteigkante! Das muss sehr genau überprüft werden. Wir raten hier dringend zu einem maßvolleren Programm.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Kollege Link. – Die nächste Rednerin ist die Kollegin Patricia Lips, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Der Spiegel titelt: „Abnehmer dringend gesucht – Deutsche Betriebe produzieren wieder – doch für wen?“ Über die Hälfte aller unserer Exporte gehen zu unseren europäischen Nachbarn. Wir können aktuell trefflich über Lockerungen und Öffnungen in wichtigen wirtschaftlichen Branchen im eigenen Land diskutieren. Wenn weite Teile Europas nicht mitziehen können, wenn Liefer- und Produktionsketten nicht geschlossen werden können, dann bleibt manches auch bei uns Makulatur.
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Wir wollen ein starkes Deutschland. Europa braucht auch einen starken Motor. Doch beides gelingt uns nur in einem gemeinsam funktionierenden Binnenmarkt. Das ist elementar für unser Land.
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Außerdem: Die Welt sortiert sich gerade neu. Es wird darauf ankommen, wie stark wir aus der Krise herauskommen und welche globale Rolle Europa in Zukunft spielt. Es geht um nichts weniger als unseren Wohlstand, aber am Ende auch um unsere gemeinsamen gesellschaftlichen Werte, und auch das schaffen wir nur gemeinsam.
Vorschläge liegen nun auf dem Tisch. Ganz genauso wie im eigenen Land werden auf europäischer Ebene Maßnahmen in Gang gesetzt und diskutiert: natürlich Soforthilfen während der Krise, der gemeinsame Haushalt, der so oder so eine größere Bedeutung erhalten wird, vermutlich auch muss, und in Verbindung damit jetzt ganz aktuell ein Konjunkturprogramm oder Wiederaufbaufonds – oder wie auch immer man es nennen mag – für die Zukunft.
Den einen ist es zu wenig – das hat die Diskussion heute gezeigt –, den anderen bereits jetzt zu viel. Die kommenden Wochen werden aber zeigen, wo es vor allem noch offene Fragen gibt. Denn eines steht fest: Große Worte allein reichen nicht. Der Teufel steckt wie zumeist im Detail.
Deshalb möchte auch ich schon den einen oder anderen Finger warnend heben. Es geht nicht nur um unfassbar viel Geld und dessen Verteilung; es steht vielmehr ein ganz grundlegender Paradigmenwechsel im Raum. Es geht um die Aufnahme von Schulden über die Europäische Union und auf Vorschlag der Kommission auch um neue, zusätzliche Einnahmequellen.
Kolleginnen und Kollegen, uns ist dabei schon wichtig: Es darf am Ende keine allgemeine Haftungsgemeinschaft geben.
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Die Rechtsgrundlagen der Verträge sind zu wahren. Wie schnell ist nach einem ersten Schritt ein zweiter getan, selbst wenn zurzeit noch undenkbar?
Die Maßnahmen müssen eine Ausnahme bleiben – es wurde schon betont –, zeitlich, im Volumen begrenzt und ausdrücklich konditioniert. Es ist zu begrüßen, dass dies in weiten Teilen auch schon so vorgesehen ist. Aber wie schnell sind Situationen geschaffen nach dem Motto „Was einmal funktioniert hat, klappt bei Bedarf ganz schnell auch wieder“? Wir schaffen immerhin einen Präzedenzfall.
Und vor allem: Nichts darf zum Stopfen alter Löcher dienen oder in die allgemeinen Haushalte fließen. Dies gilt im Übrigen auch für manchen Plan aktuell im eigenen Land. Alter Wein in neuen Schläuchen schafft keinen dringend benötigten Mehrwert, und das muss uns doch allen wichtig sein.
Last, but not least: Natürlich, die Rechte und Mitsprache des Bundestages müssen immer gewahrt sein; denn auch unser Anteil wird deutlich steigen. Der nationale Haushaltsgesetzgeber muss immer eingebunden sein.
Abschließend: Nur immer mehr Geld wird am Ende aber auch nicht das Allheilmittel sein. Ziel muss bleiben, dass mit allen Maßnahmen, die getroffen werden, die vereinbart werden, die Wettbewerbsfähigkeit gestärkt wird. Dies erst sichert Arbeitsplätze, damit unseren Wohlstand und bietet so die notwendigen Spielräume auch zum Erhalt wichtiger sozialer Errungenschaften.
Insofern wünsche ich uns für die kommenden Wochen und Monate kluge Beratungen im Sinne eines gemeinsamen großen Ganzen. Europa lebt nicht nur durch die einzelnen Regierungen oder ihre Parlamente. Europa lebt vor allem durch die Akzeptanz und das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger, und hier tragen wir eine große Verantwortung.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Lips. – Der nächste Redner ist für die SPD-Fraktion der Kollege Andreas Schwarz.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich beginne gerne mit einem Zitat von Gesine Schwan. Sie hat einmal gesagt – das ist noch gar nicht so lange her –:
Solidarität heißt in der sozialdemokratischen Tradition nicht Barmherzigkeit oder Armenhilfe, sondern gegenseitiges Einstehen von Partnern füreinander im Bewusstsein, dass wir alle unverschuldet in Not geraten können.
Meine Damen und Herren, genau darum geht es hier. Die Coronapandemie hat weltweit unzählige Menschen und Unternehmen unverschuldet in Not geraten lassen. Gerade wir hier in Europa haben gemerkt, was es bedeutet, wenn das gesellschaftliche, aber auch das wirtschaftliche Leben in vielen Bereichen heruntergefahren, ja, teilweise sogar zum Stillstand gebracht wird.
Große und mittlere Unternehmen geraten in ernste Schwierigkeiten. Millionen von Menschen sind in Kurzarbeit, und das nicht nur in Deutschland, sondern überall in der Welt. Wir in Deutschland können feststellen: Unsere gute Haushaltspolitik und auch das funktionierende Sozialgefüge, das wir haben, hat sich in dieser Krise bewährt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt haben wir doch die Chance, in dieser großen Bewährungsprobe zu zeigen, dass wir es können, dass wir in Europa zueinanderhalten und dass wir füreinander da sind; das erwarten die Menschen letztendlich auch von uns. Wir müssen zusammenhalten. Europa ist eine Schicksalsgemeinschaft und wird es auch immer bleiben.
Meine Damen und Herren, seien wir ehrlich: Wer die europäischen Ablaufprozesse kennt, weiß, dass manches manchmal lang dauern kann, dass manchmal vielleicht auch kein Ergebnis kurzfristig zustande kommt. Doch diesmal ist es wirklich anders. Nicht nur, dass wir hier in Deutschland, im Bundestag, schnell, unbürokratisch und vor allen Dingen effektiv geholfen haben und auch weiterhin helfen werden. Auch auf europäischer Ebene ist uns das bisher gelungen. So haben Olaf Scholz und die anderen EU-Finanzminister bereits vor Ostern ein 540-Milliarden-Hilfsprogramm bereitgestellt. Unterstützungspakete für Arbeitsplätze, für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, für kleinere und mittlere Unternehmen sowie für Mitgliedstaaten wurden hier geschnürt. Das nenne ich nachbarschaftliche Solidarität. Das ist Bestandteil der europäischen Idee; das ist es, was Europa jetzt auch braucht.
Unser Finanzminister hat mit seinem französischen Kollegen auch weiterhin das Heft des Handelns in die Hand genommen. Sehen wir die Initiative von Frankreich und Deutschland doch positiv: Es ist für Europa wichtig, dass die Achse Berlin-Paris funktioniert und in der europäischen Familie auch Verantwortung übernimmt. Die EU-Kommission hat ja auch sehr schnell reagiert, greift den Vorschlag auf und erweitert das Paket auf 750 Milliarden Euro; davon sollen 500 Milliarden Euro als Zuschüsse und 250 Milliarden Euro als Kredite ausgereicht werden. Eine Fondslösung ist sicherlich ein bewährtes Mittel; mit dieser Idee arbeiten wir auch in Deutschland erfolgreich. Verbunden mit Programmen zur Beschleunigung des Green Deals und der Digitalisierung werden wir den Neustart der europäischen Wirtschaft und ihre Anpassungen an die zukünftigen Herausforderungen schaffen; da bin ich mir ganz sicher.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mir ist durchaus bewusst, dass sich innerhalb der großen Europäischen Union, vor allen Dingen bei unseren Nachbarn in Österreich und den Niederlanden, bezüglich der Frage der Ausgestaltung Unmut regen kann. Das muss Demokratie aushalten, und darüber müssen wir mit unseren Partnern letztendlich dann auch reden. Ob Zuschüsse oder Darlehen der Weisheit letzter Schluss sein können, muss man schon unter dem Gesichtspunkt von sozialen und ökologischen Komponenten mit Fragen der Rechtsstaatlichkeit, der Steuerehrlichkeit und der Steuergerechtigkeit verknüpfen und auch gemeinsam abwägen. Wir wollen und dürfen uns hier sicher nicht an China orientieren, wo niedrige Menschenrechtsstandards oder Sozialstandards als Wettbewerbsvorteile gelten. Wir brauchen klare und gerechte Konditionen und Abmachungen. Ausschließlich ökonomische Zwecke dürfen nicht Grundlage für eine positive Entwicklung der EU werden. Europa muss wertebasiert entwickelt werden.
Eines muss aber auch sicher sein: Hier hilft keine Gießkanne. Wir wollen keine Haushaltslöcher stopfen, sondern zusätzlich zu nationalen Investitionen Mittel mobilisieren, die die Zukunftsfähigkeit unseres Kontinents sichern. Letztendlich geht es bei diesen Hilfeleistungen um den Erhalt und die Verteidigung des europäischen Binnenmarktes und damit um die Zukunft Europas auch als Wertegemeinschaft. Es ist schon angeklungen: 60 Prozent unserer Exporte gehen ins europäische Ausland.
Ich bin deshalb guter Dinge, dass Olaf Scholz und alle Beteiligten ein vorzeigbares Ergebnis zum Wohle Europas erzielen werden. Unsere Botschaft an Europa ist klar: Wir müssen zusammenhalten und Solidarität leben. Wir sind Nachbarn, die eng zusammenstehen.
Danke schön.
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Vielen Dank, Kollege Schwarz. – Der letzte Redner in der Aktuellen Stunde ist der Kollege Alexander Radwan, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die FDP hat ja den Antrag auf diese Aktuelle Stunde heute gestellt. Jetzt hätte ich eigentlich gedacht, es kommt eine Initiative der Liberalen aus Europa gemeinsam mit Macron, die uns dann erzählen, was der richtige Weg ist. Wir werden uns die Beschlüsse – Herr Lambsdorff, Sie kennen die europäischen Prozesse ebenso gut wie ich – dann genau anschauen. Aber das nur als flapsige Bemerkung vorweg.
Der Disput bzw. der Dialog zwischen Herrn Petry und Herrn Gottschalk vorhin lässt mich dann doch ein bisschen davon abweichen. Sie haben hier von der Verantwortung für zukünftige Generationen gesprochen.
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Genau darum geht es: dieses Friedenswerk der Europäischen Union – da mögen Sie die Augen rollen; Sie mögen nicht daran glauben –, dieses Friedenswerk des europäischen Kontinents für die zukünftigen Generationen zu bewahren.
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Wenn Sie hier von Versailles und von Waterloo reden und dann gegenüber dem Kollegen Petry von geistig-moralischem Verfall reden, dann kann ich nur sagen: Man sollte selber damit beginnen, sich genau anzuschauen, mit wem man sich umgibt.
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Das gilt sowohl national wie auch europäisch.
Meine Damen und Herren, wir reden hier sehr viel von Solidarität. Es ist nicht nur Solidarität. Es ist letztendlich eine Maßnahme, die im ökonomischen Interesse Deutschlands ist. Wenn wir uns die aktuelle Situation in der jetzigen Pandemiephase anschauen, wo Lieferketten abreißen, wo Absatzmärkte wegbrechen, kann, glaube ich, keiner mehr leugnen – außer er will unbedingt aus der Europäischen Union heraus –, dass es hier einen eklatanten ökonomischen Zusammenhalt gibt.
Aber es geht auch um den politischen Zusammenhalt in Europa. Wir müssen auch ein Stück weit zurückschauen, ob wir in den letzten 10, 15 Jahren alles richtig gemacht haben. Natürlich wollten wir entsprechende Maßnahmen auch über den ESM auf europäischer Ebene voranbringen, und die Maßnahmen waren richtig. Aber ich weiß nicht, ob es am Schluss richtig war, dass wichtige Infrastruktur wie zum Beispiel der Hafen von Piräus in Griechenland von den Chinesen gekauft wurde. Darum brauchen wir Europa: damit wir angesichts der großen Player, die es in der Welt gibt, ein Stück weit geeint unsere Themen setzen und unsere Probleme in Europa selber lösen.
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Es geht hier nicht um einen Blankoscheck, und es geht auch nicht darum, keine Hilfen zur Verfügung zu stellen. Es geht um die Zukunft Europas. Daher geht es auch nicht darum, Altschulden zu übernehmen, sondern darum, in die Zukunft Europas zu investieren; die Stichworte sind gefallen: Digitalisierung, Infrastruktur, Technologie, Gesundheit und Klimaschutz. Eine Totalverweigerung ist keine Alternative, sondern wir müssen jetzt klug handeln.
Mit dem Anleiheprogramm, meine Damen und Herren, wird jetzt ein neues Kapitel in der Europäischen Union aufgeschlagen.
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Das gilt es entsprechend positiv zu begleiten und dabei die vom Deutschen Bundestag beschlossenen wichtigen Maßnahmen mit einzubringen. 2027 beginnt die Rückzahlung über 30 Jahre. Die Kommission spricht entweder von Kürzungen im Haushalt, höheren Beiträgen der Mitgliedstaaten oder einer EU-Steuer. Da möchte ich mit Blick auf diejenigen, die heute bereits eine EU-Steuer bejubeln – die von mir geschätzte Kollegin Brantner ist gerade nicht da –, schon auch sagen: Eine EU-Steuer auf der jetzigen Basis ist aus meiner Sicht nicht vorstellbar. Wenn man wie Sie diesen Weg gehen möchte, meine Damen und Herren, wenn die Kommission diesen Vorschlag jetzt macht, dann sollte sie auch dort ansetzen, wo es auf europäischer Ebene entsprechend ein Vakuum gibt.
Das Verfassungsgerichtsurteil wurde bereits mehrfach angesprochen. Es ist letztendlich ein Auswuchs dessen gewesen, dass die Europäische Zentralbank in einem Bereich gehandelt hat, wo die Mitgliedstaaten und die Kommission versagt haben, wo sie nicht gehandelt haben. Darum erwarte ich von der Europäischen Kommission und auch von der Bundesregierung, dass sie diesen Prozess mit einer strikten Konditionierung begleiten. Ein lapidarer Verweis auf das Europäische Semester ist mir hier zu wenig. Ich weiß gar nicht, ob die Europäischen Semester, Herr Kollege Graf Lambsdorff, in den Hauptstädten in den letzten Jahren überhaupt gelesen wurden. Das kann nicht sein. Wir brauchen eine klare Konditionierung mit Anreizen und Sanktionen.
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Meine Damen und Herren, das gilt auch für den Stabilitäts- und Wachstumspakt, wenn es dann in etlichen Jahren um die Frage geht: Wer kann hier was übernehmen? Da blicke ich gerade auch zu den Sozialdemokraten. Wir haben die Situation, dass momentan die Staaten von der Pandemie getroffen sind, die auch in den letzten Jahren den Stabilitäts- und Wachstumspakt gerissen haben. Ich möchte zukünftig nicht mehr eine lapidare Antwort erleben wie die von Jean-Claude Juncker auf die Frage, ob er ein Verfahren gegen Frankreich einleitet: Nein, das machte er nicht, „because it’s France“. Wenn hier auf Rechtsstaatlichkeit verwiesen wird, dann gehört dazu auch die Einhaltung des Stabilitäts- und Wachstumspakts.
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Darum muss er – der gerade ausgesetzt ist – nicht nur wieder eingeführt werden, sondern er muss scharfgestellt werden. Er muss entpolitisiert werden.
Wir brauchen hier einen Automatismus. Das ist, meine Damen und Herren, auch die Forderung an die Bundesregierung und die Kommissionspräsidentin von der Leyen, die gestern im Parlament in Brüssel gesagt hat: Das Nichthandeln kostet, und es wird uns auch dann sehr viel kosten, wenn wir in diesem Bereich nicht aktiv sind. – Davon hat man von der Kommission bisher leider nichts gehört.
Besten Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Radwan. – Damit ist die Aktuelle Stunde beendet.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Anknüpfend an die Debatte, die wir soeben geführt haben, kann einem angesichts der hohen Summen schon schwindelig werden: 500 Milliarden Euro umfasst der Vorschlag für einen europäischen Wiederaufbaufonds der deutschen und der französischen Regierung, 750 Milliarden Euro der der EU-Kommission. Ich glaube, es ist wichtig, dass wir viel Geld in die Hand nehmen, um die Mitgliedstaaten zu unterstützen und vor allem um die Konjunktur in allen EU-Staaten wieder in Gang zu bringen.
Aber eines ist dabei ganz wichtig: Die Bürger müssen das Vertrauen behalten, dass die Gelder auch dort ankommen.
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Dazu ist es erforderlich, dass es eine Kontrolle gibt, dass klar ist, was mit dem Geld passiert, dass es nicht in dunklen Kanälen verschwindet. Passend zu dieser Debatte ist deshalb hier die Debatte zur Einrichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft angesetzt, die das Ziel hat, dafür zu sorgen, dass Straftaten gegen die finanziellen Interessen der Union geahndet werden, und zwar effektiv. Also, dieses Gesetz hat eine ganz wichtige Zielsetzung, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Die Verhandlungen waren sehr lang, sehr intensiv, sehr zäh. Herzlichen Dank an das Bundesjustizministerium und allen, die hieran mitgewirkt haben. Aber, ich glaube, es hat sich gelohnt. In der Tat war ja einiges zu regeln. Es muss klar geregelt sein – und das ist es –, wie die Zuständigkeiten sind. Wie ist das Verhältnis der Europäischen Staatsanwaltschaft zu den nationalen Strafverfolgungsbehörden? Es muss klar sein, nach welchen Prozessregeln die Ermittlungsverfahren verlaufen. Und es muss klar sein, welche Beschuldigtenrechte bestehen; da darf es keine Abstriche geben. Deswegen war es erforderlich, so lange zu diskutieren.
Warum brauchen wir überhaupt eine Europäische Staatsanwaltschaft? Das ist schnell erklärt. Die EU gibt an die Gebietskörperschaften in ihren Mitgliedstaaten oft sehr hohe Summen: Fördermittel, Subventionen. Und wenn der Verdacht des Betrugs oder der Veruntreuung dieser Gelder in einem Mitgliedstaat auftaucht, dann kann es die Besorgnis geben, dass die örtlichen Ermittlungsbehörden etwas zurückhaltend sind bei ihren Ermittlungen. Denn wenn sie Erfolg haben, dann kann das erhebliche finanzielle Nachteile für diese Gebietskörperschaft oder das Mitgliedsland haben. Deswegen ist der Sinn, dass eine europäische Einrichtung unabhängig von den örtlichen Interessen ermittelt und sich um die finanziellen Interessen der EU kümmert.
Wie funktioniert das konkret? Wenn der Verdacht einer Straftat gegen die finanziellen Interessen der Union, also etwa Subventionsbetrug oder Untreue, auftaucht, dann kann die Europäische Staatsanwaltschaft die Strafverfolgung übernehmen. Das passiert so, dass jedes Mitgliedsland – derzeit haben sich 22 Länder entschlossen, mitzumachen – Staatsanwälte an die Europäische Staatsanwaltschaft delegiert, die dann in den Mitgliedstaaten für die Europäische Staatsanwaltschaft tätig sind: durch die Durchführung der Ermittlungsmaßnahmen und gegebenenfalls Anklage an den örtlichen Gerichten.
Es gilt für das Ermittlungsverfahren die Verordnung der Europäischen Staatsanwaltschaft, in der alle grundlegenden Verfahrensregeln enthalten sind. Bei Themen, die dort nicht geregelt sind, greift die normale Strafprozessordnung des jeweiligen Landes. Dieses Regelungswerk ist sehr umfangreich, keine leichte Kost. Aber es ist wichtig, dass wir im Sinne einer effektiven Strafverfolgung durch die Europäische Staatsanwaltschaft glasklare Regelungen haben zur Zuständigkeit, zur Zusammenarbeit mit den nationalen Strafverfolgungsbehörden und vor allem dass die Beschuldigtenrechte gewahrt sind. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, dass das ein Meilenstein für eine einheitliche europäische Rechtspolitik ist.
Lassen Sie uns auch in die Zukunft schauen. Es geht zwar zunächst einmal darum, die Europäische Staatsanwaltschaft einzurichten, um gegen Straftaten gegen die finanziellen Interessen der EU vorzugehen. Aber wenn sich diese Einrichtung bewährt hat, dann können wir mittelfristig durchaus auch darüber nachdenken, weitere Gebiete, etwa die Terrorismusbekämpfung, hier aufzunehmen. Denn wir alle wissen, dass Kriminalität nicht an Deutschlands Grenzen haltmacht.
Und wir ergänzen – das auch noch kurz – mit diesem Gesetz eine Definition im Strafgesetzbuch. Wir stellen klar, dass auch Amtsträger im Sinne des § 11 Strafgesetzbuch ist, wer für Dienststellen der Europäischen Union in Deutschland arbeitet. Das ist wichtig, um entsprechende Straftaten, etwa bei Geheimnisverrat, ahnden zu können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein gutes Gesetz. Stimmen wir dem so zu!
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Dr. Fechner. – Der nächste Redner in der Debatte: für die AfD-Fraktion Tobias Matthias Peterka.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen! Die Europäische Union hat also festgestellt, dass sie ein Problem mit Korruption hat – siehe auch die Aktuelle Stunde gerade eben –, dass die Gelder, die sie wie selbstverständlich bei ihren leistungsfähigen Mitgliedern einsammelt, eben durchaus, Herr Fechner, in dunklen Kanälen verschwinden, und zwar oft innerhalb der Projekte bei weniger gut dastehenden Ländern. Radwege in Italien werden auf dem Papier einfach dreifach gebaut. Aufträge zum Brückenbau in Spanien werden einfach an die bekannte Verwandtschaft vergeben. Die EU wird spätrömisch gemolken und damit natürlich auch deren letzte schlagende Herzkammer: Deutschland.
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Also, was tun? Auf Gipfelebene war nichts zu machen. Da gibt es zwar Gespräche, aber die Mehrheiten liegen eben einfach beim „Club Med“. Standardlösungen bürokratischer Apparate erweitern einfach die zur Verfügung stehende Apparatur: eine von den Nationalstaaten unabhängige EU-Staatsanwaltschaft. Das passte dann auch gleich so toll in das Staatlichkeitsnarrativ der Union, dass politisch kein Kraut mehr dagegen gewachsen war. Gut, Rumänien versuchte dann doch noch irgendwie zu verhindern, dass ausgerechnet jemand, der sich besonders im rumänischen Filz auskennt, Chefin der Behörde wird; aber gut, das sind Brüsseler Details.
Nun haben wir sie also da, die EU-Staatsanwälte. Zuständigkeit: Vergehen gegen europäisches Recht zum finanziellen Nachteil der Union; ermittlungsorganisatorischer Unterbau: keiner; denn so weit ging die Selbstaufgabe der einzelnen Staaten dann zum Glück doch nicht. Für die eigentlichen Maßnahmen vor Ort wird also weiterhin auf die nationalen Behörden zurückgegriffen werden müssen. Ob das allgemein so klappt, zum Beispiel in Rumänien, könnte an sich schon ein Treppenwitz werden.
Hier zeigt sich aber vor allem erneut exemplarisch die Hybris der EU. Es wurde gerade eben wieder gesagt: Man will sich auf Teufel komm raus gerieren wie ein Staat, Stück für Stück.
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Mal minimal und unauffällig, zunehmend aber dreist und völlig offen. So eben nicht nur bei den Rachefantasien im Hinblick auf das unbotmäßige deutsche Urteil zur EZB, sondern auch bei der EUStA: höchstbezahlte, de facto durchaus von Brüssel gesteuerte Staatsanwälte – ein Angriff auf das Primat der allein demokratisch aufgestellten Mitgliedstaaten. Richtig, dass sich hier zum Teil rausgehalten wird; unter anderem machen Polen und Schweden nicht mit.
Jeder weiß doch ganz genau, wer den Takt in dieser EUStA tatsächlich angeben wird. Politischer Durchgriff zwar nicht offen formal, wie leider noch in Deutschland, aber dafür oligarchisch verdeckt, wie bisher schon – jeder weiß es – beim EuGH.
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Frau Kövesi mag sich ja gut im rumänischen Sozisumpf auskennen – bravo dafür! –; aber sie hat auch gleich ganz gut erkannt, wie die EU-Bürokratur läuft: Verlange stante pede erstens mehr Geld, zweitens mehr Zuständigkeit!
Offen fantasiert wird auch in mehreren Mitgliedstaaten – wir haben es hier gehört – von der Terrorbekämpfung als neuem Zuständigkeitsfeld oder gleich einer Komplettzuständigkeit im Strafrecht. So will der Bund Deutscher Kriminalbeamter ganz offen ein EU-Strafrecht mit EU-Prozessordnung und dazu noch ein EU-FBI, was zwingend das Herabsinken der Mitgliedstaaten auf bloße Bundesstaaten bereits im Namen trägt.
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Die bestehende Eurojust-Agentur zur freiwilligen Zusammenarbeit, die es schon gibt, wird damit definitiv untergraben. Dabei war das einmal etwas, was halbwegs funktioniert hat, zusammen mit EJN und OLAF. Aber nein, Zentralismus ist erneut das Mittel der Wahl; wir haben es hier gesehen. Deutschland wird sich dem willfährig öffnen, während andere Länder die EUStA ins Leere laufen lassen werden. Wieder einmal, auf Neudeutsch, Lose-lose für den Musterknaben – ein klares und entschiedenes Nein von uns zu diesem Vorgehen.
Vielen Dank.
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Danke schön. – Der nächste Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Dr. Patrick Sensburg.
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Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! 2017 ist die EU-Verordnung zur Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft in Kraft getreten, und es ist gut, dass wir heute auch die deutsche Umsetzung der rechtlichen Anpassungen in nationales Recht vornehmen, damit es ein rundes, geschlossenes Paket wird.
Dem Beschluss der europäischen Verordnung sind damals intensive Verhandlungen vorangegangen. Wir haben lange miteinander gerungen, diskutiert. Anders als es mein Vorredner gerade dargestellt hat, ist intensiv sowohl mit OLAF, dem Europäischen Amt für Betrugsbekämpfung, als auch mit Eurojust debattiert worden. Wir haben im Deutschen Bundestag um die Europäische Staatsanwaltschaft intensiv gerungen. Wir haben mit dem deutschen Vertreter bei Eurojust, Herrn Meyer-Cabri, gesprochen. Es ist übrigens ganz interessant, dass der deutsche Vertreter inzwischen Vizepräsident von Eurojust ist. Er war maßgeblich an der Entstehung der Eurojust-Verordnung beteiligt. Die ersten Befürchtungen, die auch wir gehabt haben, dass möglicherweise das Zusammenspiel der Europäischen Staatsanwaltschaft mit Eurojust und OLAF nicht klappt, Eurojust möglicherweise an Arbeitsfähigkeit, an Funktionalität verliert, die Zusammenarbeit mit OLAF nicht klappt – das waren auch unsere Sorgen –, sind ausgeräumt worden. Es hat einen intensiven Dialog zwischen Eurojust, der Kommission, dem Europäischen Parlament gegeben.
Wir bewegen uns hier übrigens im Jahre 2014. Da müssten eigentlich auch irgendwann AfD-Abgeordnete im Europäischen Parlament gewesen sein. Ich vermisse da den kritischen Dialog. Ich habe mich damals in viele Debatten eingeschaltet – übrigens der Kollege Fechner auch –, war Berichterstatter für die Europäische Staatsanwaltschaft. Bei den Linken war es Frau Wawzyniak, bei den Grünen der Kollege Ströbele, die sich intensiv eingebracht haben. Damals, in dem ganzen Prozess, habe ich keine einzige Stimme der AfD gehört.
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Es ist ein kompliziertes Thema – das gebe ich zu; aber ein Dialog hat stattgefunden.
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– Ja, ich höre ja zu.
Ich habe sie mal mitgebracht, Sie hätten sie im Intranet des Bundestages – auch im Internet kann man es finden, weil wir transparent sind – finden und dann auch lesen können: die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses aus dem Jahre 2014, vom 4. Juni 2014. Der Bundestag hat, wie man lesen kann, zur Verordnung über die Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft eine ganz intensive Stellungnahme abgegeben. Auf vielen Seiten wurde dargestellt, was unsere Sorgen waren. Wir wollten keinen Durchgriff ins nationale Strafrecht, eine Beschränkung auf die Kompetenz der Bekämpfung des Betrugs zulasten des europäischen Haushalts, eine ganz klare Abgrenzung der nationalen Staatsanwaltschaften von der Europäischen Staatsanwaltschaft. Auf vielen Seiten wurden unterschiedliche Fragestellungen aufgeworfen. Und es hat sich im Verhältnis zu den ersten Entwürfen auch viel bewegt.
Von daher kann ich heute nur sagen: Es ist gut, dass wir jetzt den letzten Akt der Umsetzung in nationales Recht vornehmen und damit endlich Großkriminalität zulasten des EU-Haushalts sowohl zentral, durch eine Europäische Staatsanwaltschaft, also auch national bekämpfen können. Es ist eine gute Verordnung, und es wird jetzt auch ein gutes Gesetz. 22 Länder beteiligen sich an der Europäischen Staatsanwaltschaft. Ich kann mir vorstellen, dass auf Dauer weitere Länder hinzukommen werden.
Man muss sich die Dimension vor Augen führen – Kollege Fechner hat es eben angesprochen –: Allein im Jahre 2018 entstand bei den Betrugsfällen, die durch die nationalen Behörden gemeldet wurden, ein Schaden in Höhe von 1,2 Milliarden Euro. Wenn wir jetzt noch den Mehrwertsteuerbetrug mit einer Schadenssumme von 50 Milliarden Euro dazunehmen, dann kommen wir auf Summen, bei denen klar ist, dass wir etwas tun müssen. Deswegen finde ich es schade, dass manche Fraktion hier im Deutschen Bundestag daran kein Interesse hat. Aber daran wird man sich eben auch festmachen lassen müssen.
Ich glaube, es ist gut, wenn wir diese Betrugsfälle mit einer unabhängigen Staatsanwaltschaft aufarbeiten. Ich glaube, dass das nicht allein bei uns in Deutschland ein Problem ist. Wir sind da schon relativ gut unterwegs. Wenn wir das jetzt in 22 Mitgliedstaaten ordentlich machen, dann ist das etwas sehr Positives. Aber wenn man seine Rede beginnt wie Herr Kollege Peterka von der AfD und einen Rundumschlag gegen andere Länder in der EU macht – gegen Portugal, gegen Italien, gegen Spanien und gegen Rumänien –, dann finde ich das sehr deplatziert. Eigentlich sollte man sich immer zuerst an die eigene Nase packen.
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Und dann nehmen Sie auch nur am Rande zur Kenntnis, was die neue Generalstaatsanwältin der Europäischen Staatsanwaltschaft für eine exzellente Arbeit in Rumänien geleistet hat. Ich kenne Frau Kövesi jetzt seit fast zehn Jahren. Wenn ich mir vor Augen führe, was sie zwischen 2013 und 2018 in Rumänien gegen Anfeindungen von vielen Seiten, gerade auch von der damaligen Regierung, unter der sie hart zu leiden hatte, die sie auch am Schluss entlassen hatte, für eine exzellente Arbeit gemacht hat, dann würde ich eher Lob anbringen als eine Kritik am Rande. Sie hat sich, bevor sie zur Europäischen Generalstaatsanwältin ernannt wurde, auch hier im Bundestag vorgestellt. Das fand ich exzellent. Und ich muss ganz ehrlich sagen: Ich glaube, dass diese Frau eine super Arbeit machen wird. Das hat sie Rumänien bewiesen. Ich gönne ihr auch ein Potenzial an Mitarbeitern, an Ausstattung und Struktur. Ich bin mir sehr sicher, dass dort viele Verfahren auf uns zukommen werden und dass sich Frau Kövesi nicht beeinflussen lassen wird.
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Wir nehmen mit dem vorliegenden Gesetz die notwendigen Änderungen – das hat Kollege Fechner bereits angesprochen – am GVG und an der StPO vor. Wir passen also die Verhältnisse im nationalen Recht an die Regelungen der europäischen Verordnung an. Wir ändern, so wie es der Kollege Fechner gerade angesprochen hat, entsprechend die Regelungen im Bereich von ECRIS, dem Europäischen Strafregisterinformationssystem, damit es auch die Drittstaatenangehörigen enthält. Ich glaube, es ist ein ganz wesentlicher Punkt, dass die entsprechenden Regelungen nicht nur für EU-Bürger, sondern auch für Drittstaatenangehörige gelten und wir das Führungszeugnisregister dementsprechend anpassen. Das ist aus Sicherheitsgründen ein ganz wesentlicher Punkt; aber es ist auch für die betroffenen Drittstaatler ganz wesentlich, dass sie nun ein europäisches Führungszeugnis vorzeigen können.
Deswegen ist es alles in allem ein gutes Gesetz, dem hoffentlich alle Fraktionen zustimmen werden. Über die weiteren Anträge, die von den Fraktionen gestellt worden sind, müssen wir noch einmal nachdenken. Ich glaube eher, dass der Gesetzentwurf der Bundesregierung, der Koalition, so gut ist.
Danke schön.
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Vielen Dank, Dr. Patrick Sensburg. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Dr. Jürgen Martens.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ein besserer Schutz der Finanzen der Europäischen Union ist sinnvoll. Das haben immer wieder statistische Untersuchungen gezeigt. Wir diskutieren inzwischen seit fast 30 Jahren über die Einrichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft. Ich bin froh, dass wir heute konkret über ein Gesetz zur Umsetzung der Europäischen Staatsanwaltschaft entscheiden können, auch wenn wir uns auch andere Detailregelungen bereits in der Verordnung hätten vorstellen können. Es ist gleichwohl ein erheblicher Schritt weiter, und zwar in die richtige Richtung.
Ein Schutz von Interessen der Europäischen Union nach europäischen Standards wirft allerdings auch Probleme im Hinblick auf die deutsche Rechtsordnung auf. Deswegen lassen Sie mich kurz auf den Gesetzentwurf der FDP eingehen, den wir hier eingebracht haben, um die Stellung der Staatsanwaltschaft in Deutschland generell zu stärken, auch um sie europäischen Standards anzunähern, meine Damen und Herren.
Es geht um das Weisungsrecht der Ministerien oder letztlich eines Ministers gegenüber Staatsanwaltschaften, und zwar im Einzelfall. Es geht also um Fälle, in denen von hoher Stelle Einfluss auf ein konkretes Verfahren genommen werden kann. Die geringe praktische Bedeutung dieses Rechtes darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass bereits seine Existenz eine erhebliche und, wie wir finden, schädliche Wirkung hat. Denn die Existenz des Weisungsrechtes vermittelt den bösen Schein, es gäbe hier die Möglichkeit einer politischen Einflussnahme auf konkrete Strafverfahren, und das halten wir für nicht hinnehmbar.
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Dieses Weisungsrecht bringt darüber hinaus auch den Betroffenen – in diesem Fall den Minister – selbst unter Druck, etwa wenn von außen oder von Oppositions- oder dritter Seite verlangt wird, er möge endlich von seinem Weisungsrecht Gebrauch machen, um „ordnungsgemäße Zustände“ herzustellen. Das Weisungsrecht ist also ein Problem für die Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaften und damit auch für die Justiz.
Mit dem heutigen Gesetzentwurf zur Stärkung der Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaften wollen wir europäische Standards einführen. Wir sind an dieser Stelle immer gerne bemüht, andere darüber aufzuklären, wie sie in Europa rechtsstaatlichen Prinzipien genügen könnten. Aber wir selber tun es dann nicht; denn wir haben dieses Weisungsrecht. Dieses Weisungsrecht – das hat der EuGH entschieden – steht der Unabhängigkeit deutscher Staatsanwaltschaften so weit im Wege, dass sie nicht mehr befugt sind, europäische Haftbefehle auszustellen, meine Damen und Herren. Wir haben hier also ein Problem aus europäischer Sicht. Dem sollten wir uns nähern.
Lassen Sie mich ganz kurz noch eines sagen: Die Legitimation der Staatsanwaltschaft als Behörde und ihre demokratische Legitimation beruhen mit Sicherheit nicht auf dem Weisungsrecht der Ministerien gegenüber den Staatsanwaltschaften. Die Rechtmäßigkeitskontrolle erfolgt in einem Rechtsstaat durch Gerichte
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und nicht durch Ministerweisung. Auch das soll einmal klargestellt werden.
Wir haben es hier also mit einem Weisungsrecht zu tun, das über 150 Jahre alt ist. Es ist ein Instrument eines repressiven Obrigkeitsstaates. In einem europäischen demokratischen Rechtsstaat ist dieses Weisungsrecht fehl am Platz. Also lassen Sie es uns abschaffen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Dr. Jürgen Martens. – Nächster Redner: für die Fraktion Die Linke Friedrich Straetmanns.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir behandeln heute einen Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Durchführung einer Verordnung des EU-Rates aus dem Jahr 2017 – das ist angesprochen worden – in Sachen Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft.
Die neue Europäische Staatsanwaltschaft soll eine unabhängige Behörde mit Sitz in Luxemburg sein und bis Ende dieses Jahres arbeitsfähig sein. Sie soll für die strafrechtliche Ermittlung und Verfolgung sowie die Anklageerhebung bei Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Europäischen Union zuständig sein. Ursprünglich geplant als zentralisierte Behörde, sind nun eine Generalstaatsanwältin – das ist angesprochen worden – und dezentral agierende Staatsanwältinnen und Staatsanwälte in den beteiligten Staaten vorgesehen. Mittlerweile beteiligen sich 22 Staaten. Nicht beteiligt sind aber Polen, Ungarn, Schweden, Dänemark und Irland. Das ist bedauerlich, dazu gleich mehr.
Vorab gesagt: Meine Fraktion und ich begrüßen das Ziel der Bekämpfung der Korruption und des Steuerbetruges auf europäischer Ebene durch die Europäische Staatsanwaltschaft. Wir werden uns aber bei der Abstimmung über diesen Entwurf enthalten; denn er stößt bei uns auf einige rechtliche Bedenken. Insbesondere befürchten wir Linke, dass es zu einer Einschränkung prozessualer Rechte durch das Verfahren kommen könnte. Es wurde nämlich kein europäisches Prozessrecht geschaffen, sondern es soll das Recht des jeweiligen Staates Anwendung finden. Für grenzüberschreitende Ermittlungen wurde ein komplexes System geschaffen. Ein Staatsanwalt, der auf Probleme bei der Durchführung eines Prozesses in seinem Staat stößt, soll sich nach sieben Tagen an die Ständige Kammer wenden, die dann entscheidet. Hierbei handelt es sich aber nicht um ein europäisches Gericht, sondern wiederum um ein Gremium der verstärkten Zusammenarbeit. Wir finden diese Strukturen zu komplex und schwer zu überschauen, um diese gut zu finden.
({0})
Weiterhin stellt die hier durchzuführende Verordnung auch kein System an Beweisverwertungsverboten auf. Sie legt einzig einen allgemeinen Grundsatz, eine Art allgemeines Diskriminierungsverbot fest, nach dem sich das Tatgericht bei der Beweisverwertung richten muss. Dabei überlässt der EU-Gesetzgeber die Frage nach den Kriterien für die Beweisverwertung fast gänzlich dem nationalen Richter, dem dadurch ein großer Ermessensspielraum zukommt. Als Richter finde ich das bedenklich.
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Das führt zum einen zu eventuellen Abweichungen, je nach Gerichtsstand, zum anderen wurde hier eine Gelegenheit verpasst, die doch recht dünnen Beweisverwertungsverbote im deutschen Recht einer angemessenen Reform und Ausweitung zu unterziehen.
Zuletzt möchte ich noch zu einem Punkt zurückkommen. Da es sich hier um ein Instrument der vertieften Zusammenarbeit handelt, sind eine Reihe von Mitgliedstaaten nicht beteiligt. Insbesondere in den Staaten Polen und Ungarn ist das problematisch. Beide Staaten erhalten hohe Zuwendungen aus EU-Mitteln. Um EU-Mittel vor Korruption und Betrug zu schützen, wäre es daher nötig, dass sich alle Mitgliedstaaten dem Ziel der Bekämpfung gemeinsam widmen. Hier treten die europäischen Uneinigkeiten klar zutage. Das ist mehr als bedenklich.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Friedrich Straetmanns. – Nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Canan Bayram.
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Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir entscheiden bei diesem Tagesordnungspunkt über vier Dinge. Drei sind gut, ein Punkt – das ist der Gesetzentwurf der FDP – ist uns nicht gut genug.
Gut ist der Gesetzentwurf der Bundesregierung mit der Begleitgesetzgebung zur Europäischen Staatsanwaltschaft. Wir stimmen zu, und insoweit haben Sie mich hier wirklich positiv überrascht, Frau Lambrecht. Vielen Dank für diesen Entwurf.
Gut ist unser Änderungsantrag. Es ist doch nicht einzusehen, dass für die beim Europäischen Stabilitätsmechanismus Tätigen und für die, die für das Europäische Patentamt arbeiten, strafrechtlich etwas anderes gilt als zum Beispiel für die Bediensteten der Europäischen Zentralbank. Daran wurde nicht gedacht. Dem können wir jetzt mit Zustimmung zu dem Änderungsantrag der Fraktion der Grünen gemeinsam abhelfen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Gut ist ebenfalls der Antrag der Grünenfraktion zur rechtsstaatlichen Reform der Staatsanwaltschaft. Warum? Weil der zentrale Grundsatz des Legalitätsprinzips im Strafrecht des Schutzes gegen direkte, indirekte oder verdeckte politische Beeinflussung bedarf und auch des Schutzes gegen den bösen Anschein einer solchen Beeinflussung; Kollege Martens hat es ausgeführt. Deshalb fordern wir eine gesetzliche Beschränkung des sogenannten externen ministeriellen Einzelweisungsrechts und Regelungen zur Transparenz bei Weisungen.
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Die Behauptung, solche Einflussversuche gebe es nicht, widerlegen Berichte aus der Praxis und auf Bundesebene. Ich erinnere hier an das Weisungsverhalten im Fall des Justizministers Maas und seiner Staatssekretärin gegenüber dem damaligen Generalbundesanwalt.
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Weiter fordern wir mindestens eine Debatte über den Status des Generalbundesanwaltes als politischen Beamten, der jederzeit in den einstweiligen Ruhestand versetzt werden kann. Wir kritisieren Ungarn und Polen wegen ihrer Einflussnahme auf die Justiz und behalten gleichzeitig diesen Status des Generalbundesanwalts bei. Das passt nicht zusammen.
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Eine weitere Forderung betrifft die nötige gesetzliche Klarstellung, dass die Europäischen Haftbefehle und die Europäischen Ermittlungsanordnungen durch Richter auszustellen sind und nicht durch die Staatsanwaltschaft; das Fehlen deren Unabhängigkeit hat der Europäische Gerichtshof bemängelt. Dieses Thema ist keinesfalls erledigt, meine Damen und Herren.
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Nicht gut genug ist der Gesetzentwurf der FDP. Ihn lehnen wir ab, weil er nach unserer Auffassung mit seiner Vollabschaffung des ministeriellen Weisungsrechts nicht mit der Verfassung zu vereinbaren ist. Das wurde von der von uns benannten Sachverständigen, Frau Koppers, in der Anhörung auch ausgeführt.
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Vielen Dank, Canan Bayram. – Nächster Redner: Axel Schäfer für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Selten hatten wir ein europäisches Thema hier zur Debatte im Deutschen Bundestag, das so deutlich gemacht hat, wie wir die Selbstverpflichtung, die wir alle eingegangen sind, nämlich daran zu arbeiten, zu einer immer engeren Union der Völker Europas zu kommen, auch umsetzen können.
Es geht erstens um die Sache. Die Sache ist der finanzielle Betrug zulasten der EU. Das Volumen wurde genannt: Es geht um 50 Milliarden Euro. Es besteht also Handlungsbedarf.
Das Zweite sind die Strukturen. Wir brauchen eine europäische Zentralbehörde ohne Zentralismus. Das geht nur, indem wir das auf die Weise machen wie jetzt vorgesehen. Ich danke der Frau Justizministerin und den Kolleginnen und Kollegen, die in diesem Bereich alles parlamentarisch vorbereitet haben. Es ist aber nicht so, wie manche glauben, dass wir jetzt das ganze Strafrecht vergemeinschaften wollen.
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Wir wollen dies vielmehr exemplarisch machen, und zwar auf einem Weg, den die Länder mitgehen können, in eigener Entscheidung, auch über die nationalen Parlamente.
Drittens – das ist auch ganz wichtig –: Es geht immer um handelnde Personen. Ja, wir haben etwas gemacht, was wir zum Beispiel bei Kandidatinnen und Kandidaten für Ministerinnen- oder Ministerposten im Bundestag nie machen. Wir haben hier nämlich, so wie bei der Auswahl von Kommissaren, die Kandidatin für das Amt der Generalstaatsanwältin zur Diskussion eingeladen. Ich hoffe, wir machen das demnächst auch bei Finanzdebatten und fragen unsere Zentralbanken.
Wir haben erlebt, dass die Kollegin sehr qualifiziert ist. Und all diejenigen, die schon mal in Rumänien waren und sich dort die Situation und auch ihre bisherige Arbeit angeguckt haben, wissen: Das ist wirklich eine Frau mit Power, die auch staatlichem Regierungsdruck widerstehen kann. Und auch darauf kommt es doch in Europa an, wenn man etwas Unabhängiges schaffen will.
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Ich glaube, liebe Kolleginnen und Kollegen, auf genau diesem Weg einer verstärkten Zusammenarbeit, den jetzt 22 der Mitgliedstaaten gehen, kommen wir voran. Warum nur – in Anführungsstrichen – verstärkte Zusammenarbeit? Wir hätten uns gewünscht, dass sich alle beteiligen. Dass meine schwedischen Freunde das noch nicht mitmachen, ist bedauerlich und auch, dass es in Irland immer Vorbehalte bei Verfassungsänderungen gibt, von polnischen und ungarischen Regierungen aktuell ganz zu schweigen. Deshalb wird es darauf ankommen, dass wir durch das Gelingen der Europäischen Staatsanwaltschaft deutlich machen, dass wir gemeinsam in Europa vorankommen, und so auch diese fünf Länder Schritt für Schritt einbeziehen. Ich glaube, das wird auch möglich sein.
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Vielen Dank, Axel Schäfer. – Der nächste und letzte Redner in dieser Debatte: Dr. Volker Ullrich für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Mai 2016 hat der rumänische Staatspräsident die Leiterin der rumänischen Antikorruptionsbehörde für weitere drei Jahre im Amt bestätigt. Im Jahr 2018 ist die Leiterin dann durch den rumänischen Justizminister abberufen worden. Klaus Johannis, der rumänische Staatspräsident, hat sich geweigert, diese Abberufung zu unterschreiben,
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ist aber vom rumänischen Verfassungsgericht gezwungen worden.
Am 5. Mai 2020 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg entschieden, dass die vorzeitige Abberufung und damit die Beendigung des Mandats der Leiterin der rumänischen Antikorruptionsbehörde Artikel 6 sowie Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention verletzt hat und damit rechtswidrig war. Gemeint ist Laura Kövesi, die jetzige Generalstaatsanwältin der Europäischen Staatsanwaltschaft.
Wer sich also in Rumänien sechs Jahre lang dem Kampf gegen die Korruption verschrieben hat, wer vom eigenen Verfassungsgericht aus dem Amt gedrängt wird, vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg zieht, dort klagt und obsiegt, ist eine Frau mit Courage, mit Mut. Sie hat unseren Respekt verdient, und sie wird eine gute Generalstaatsanwältin der Europäischen Staatsanwaltschaft sein.
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Dieser Fall zeigt auch, dass es ein großes Bedürfnis in Europa gibt, dass Rechtsstaatlichkeit und die Geltung von Menschenrechten zu einem wesentlichen Merkmal europäischer Politik werden. Diesem Ziel hat sich auch die Europäische Staatsanwaltschaft verschrieben, nur auf einen Fokus, auf einen kleinen und begrenzten Fokus konzentriert. Es geht um die Frage des Kampfes gegen Veruntreuung von EU-Geldern. Aber vor dem Hintergrund, dass der mehrjährige europäische Finanzrahmen mittlerweile 1 Billion Euro auf sieben Jahre beträgt und wir gerade politisch dabei sind, diesen Rahmen zu verdoppeln, weil wir die Auswirkungen der europaweiten Covid-19-Pandemie bekämpfen, zeigt sich, dass es in Europa ein Bedürfnis gibt, dagegen vorzugehen, wenn EU-Gelder veruntreut werden. Und das muss Europa aus sich selbst mit rechtsstaatlichen Mitteln leisten.
Deswegen ist es gut, dass die Europäische Staatsanwaltschaft im November dieses Jahres ihre Arbeit aufnehmen kann. Damit das funktioniert, brauchen wir auch in Deutschland die entsprechenden Begleitgesetze.
Aber klar ist auch: Wir müssen die Europäische Staatsanwaltschaft darin unterstützen, dass sie ihre Arbeit mit der nötigen Sachausstattung vorantreiben kann. Im Augenblick sind 32 Staatsanwälte, sogenannte delegierte Staatsanwälte, vorgesehen. Es ist nicht weiter verwunderlich, dass das möglicherweise nicht ausreicht. Deswegen müssen wir uns auch im Rahmen der Verhandlungen zum mehrjährigen europäischen Finanzrahmen dafür einsetzen, dass die Staatsanwaltschaft die Fälle, die sie auf den Tisch bekommt, mit der nötigen sachlichen und personellen Ausstattung handhaben kann. Und da muss auch klar sein, dass diese Arbeit durch einen gemeinsam getragenen europäischen Geist unterstützt wird, der besagt, dass es eine notwendige und eine wichtige europäische Einrichtung ist, die für mehr Rechtssicherheit und Rechtsstaatlichkeit in Europa steht.
Wir wissen auch, dass diese Staatsanwaltschaft noch nicht von allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union mitgetragen wird. Sie wird im Wege der verstärkten Zusammenarbeit eingerichtet. Aber ich glaube, wir müssen alles tun, um dafür zu werben, dass sich in den Staaten, die noch nicht dabei sein wollen, ein politischer Wille bildet, dass Europa auch bei der Bekämpfung von Korruption und Veruntreuung von europäischen Mitteln nur dann stark sein kann, wenn wir bei diesem Punkt gemeinsam zusammenstehen und alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union sich darauf verständigen, dass die Europäische Staatsanwaltschaft eine gute Idee ist.
Lassen Sie mich noch einen Satz zum Thema „Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft“ sagen; das ist ein wichtiges Thema. Die Anhörung hat ergeben, dass wir die Probleme des Europäischen Haftbefehls in der Praxis gut handhaben können, und zwar deswegen, weil er in Deutschland ohnehin bereits von einem Richter ausgestellt wird. Entscheidend ist aber ein anderer Punkt: Auch die Staatsanwaltschaft steht nicht außerhalb der demokratischen Legitimationskette, sondern ist darin eingebunden. Wenn wir die Staatsanwaltschaften da hinausdrängen, dann brauchen wir andere Möglichkeiten der demokratischen Legitimierung. Und die Staatsanwaltschaften sind ohnehin zusätzlich der gerichtlichen Kontrolle unterworfen.
Entschuldigen Sie, Herr Ullrich, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung?
Ja.
Dr. Martens, bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Kollege, ich habe es vorhin bereits angesprochen, und deswegen meine Frage: Glauben Sie im Ernst, dass das Weisungsrecht gegenüber den Staatsanwaltschaften die Grundvoraussetzung für deren demokratische Legitimation ist?
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Herr Kollege Martens, Sie müssen sich bewusst werden, dass die Staatsanwaltschaften zweierlei Kontrollen unterworfen sind. Zum einen natürlich ist das Handeln der Staatsanwaltschaft der gerichtlichen Kontrolle unterworfen. Darüber hinaus muss sie aber auch als Behörde in den Organisationsaufbau eingebunden sein. Wenn Sie das Weisungsrecht wegnehmen, gerade auch das externe Weisungsrecht, dann haben Sie das Problem, dass Sie hier demokratische Legitimation wegnehmen, mit all den Konsequenzen, die wir nicht wollen, bis zu der Frage, ob wir Staatsanwälte nicht wählen müssten. Und ich glaube, das können wir nicht wollen, weil die Frage der Rechtspflege keine Frage von Wahlplakaten sein kann, sondern eine Frage einer angemessenen Ausbildung und Vorbereitung durch den Justizdienst sein muss. Deswegen bin ich nicht Ihrer Meinung und bitte, Ihren Antrag abzulehnen, aber unserem Gesetzentwurf zuzustimmen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Dr. Volker Ullrich und Dr. Martens. – Damit schließe ich die Aussprache.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser: Das wäre wohl die passende Überschrift für unseren Gesetzentwurf und unseren Antrag, welche wir heute in den Deutschen Bundestag einbringen. Vertrauen ist nicht nur die Grundlage für eine funktionierende zwischenmenschliche Beziehung. Vertrauen der Bevölkerung ist essenziell für die Arbeit von Nachrichtendiensten, und dieses Vertrauen wurde in den letzten Jahren massiv beschädigt. Es wurde beschädigt durch das Staatsversagen im NSU-Skandal, es wurde beschädigt durch den NSA-Abhörskandal, den wir hier aufgearbeitet haben, und es wurde beschädigt durch das Verhalten von Nachrichtendiensten im Fall des Anschlags auf dem Berliner Weihnachtsmarkt 2016.
Das alles zeigt sich in einem Resultat, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wenn zwei Drittel der Deutschen in einer Umfrage angeben, sie hätten wenig bis gar kein Vertrauen in die Arbeit des Bundesnachrichtendienstes, dann ist das das Ergebnis der letzten Jahre. Das kann uns nicht kaltlassen, sondern das muss für uns Ansporn sein, dass wir durch mehr Kontrolle wieder mehr Vertrauen in der Bevölkerung schaffen.
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Das Bundesverfassungsgericht hat am 19. Mai entsprechend geurteilt. Es hat uns als Deutschem Bundestag Hausaufgaben ins Stammbuch geschrieben. Es hat uns Freie Demokraten im Übrigen in unserer Haltung bestätigt, dass wir die Zügel bei der Kontrolle der deutschen Nachrichtendienste deutlich anziehen müssen. Ich habe erfreut zur Kenntnis genommen, dass sich Vertreterinnen und Vertreter der Großen Koalition nach dem Urteil entsprechend geäußert haben. So hat die SPD-Parteivorsitzende, Frau Saskia Esken, im „Handelsblatt“ gefordert, das müsse einhergehen mit einer – Zitat – „intensiven, unabhängigen parlamentarischen Kontrolle der geheimdienstlichen Praxis, über deren konkrete Ausgestaltung wir mit möglichst allen demokratischen Parteien im Bundestag eine Einigung herbeiführen sollten“.
Ich weiß nicht, ob der Kollege Sensburg noch anwesend ist.
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– Da sitzt er ja, sehr gut.
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Herr Sensburg, Sie haben in demselben Artikel gefordert – Zitat –: „Ich kann die Forderung nach einem Nachrichtendienstbeauftragten nur unterstützen.“ Genau deshalb legen wir Ihnen als Serviceopposition heute einen Gesetzentwurf zur Einführung eines parlamentarischen Nachrichtendienstbeauftragten vor.
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Mit diesem Gesetzentwurf wird nicht nur die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vollzogen, er hat auch drei entscheidende Vorteile.
Vorteil Nummer eins: Der Nachrichtendienstbeauftragte wird nicht vom PKGr gewählt, sondern von uns als Parlament mit Zweidrittelmehrheit. Er ist dem ganzen Parlament verantwortlich, und zum ersten Mal in der Geschichte erfährt nicht nur ein Kreis von neun Abgeordneten, sondern das Parlament als Ganzes, was die Nachrichtendienste in ihrer täglichen Arbeit tun.
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Punkt zwei. Wir schaffen ein echtes Frühwarnsystem in der parlamentarischen Kontrolle. Was erleben wir gerade beim KSK-Skandal? – Wir erleben, dass das PKGr erst dann einschreiten kann, wenn die Hütte schon brennt. Erst dann wird der Ständige Bevollmächtigte aktiv. Es besteht momentan keine präventive Kontrolle, und deswegen ist es wichtig, dass ein Nachrichtendienstbeauftragter proaktiv in die Dienste gehen und sich alle Verfahren anschauen kann sowie in den wesentlichen Gremien entsprechend beteiligt ist.
Dritter Vorteil: Der Nachrichtendienstbeauftragte ist eine Ombudsperson. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Nachrichtendienste, die Missstände feststellen, können sich vertraulich an ihn wenden. Es muss nicht alles immer erst in der Presse breitgetreten werden, sondern wir können als Parlament proaktiv eingreifen, wenn Missstände entstehen.
Was haben wir in den letzten Jahren bei der Nachrichtendienstkontrolle erlebt? Eine Polarisierung auf der einen Seite durch die Unionsfraktion, die ja, wenn es um Nachrichtendienstkontrolle geht, fast im blinden Vertrauen agiert und jedes Kontrollverhalten anstößig findet, und auf der anderen Seite links außen eine Generalkritik, die nichts anderes zum Ziel hat als die Abschaffung der Nachrichtendienste.
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Wir als Freie Demokraten sagen: Teil einer wehrhaften Demokratie sind funktionierende Nachrichtendienste; aber genauso Teil davon ist eine funktionierende parlamentarische Kontrolle.
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Wir haben Ihnen einen Gesetzentwurf und einen Antrag vorgelegt. Sie müssen einfach nur noch zustimmen.
Vielen herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Benjamin Strasser. – Hier ist ja heute was los. – Gut, dann geht es weiter. Nächster Redner: Thorsten Frei für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist in der Tat etwas Besonderes, dass das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung in der vergangenen Woche festgestellt hat, dass die Grundrechte auch für Ausländer im Ausland gelten, wenn deutsche Staatsorgane tätig werden. Aber ich möchte an dieser Stelle auch sagen: Diejenigen, die jetzt glauben und triumphieren, dass die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung damit zur Strecke gebracht wurde, die sollten dieses Urteil richtig lesen.
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Dann kommen sie nämlich auf den Trichter, dass eine Kernaussage dieses Urteils ist, dass die strategische Fernmeldeaufklärung grundsätzlich verfassungskonform ist
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und dass der Gesetzgeber letztlich auch ohne Eingriffsschwelle diese erlauben kann, dass das möglich ist
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und dass er das auch vorbehaltlos tun kann.
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Das ist ein Fakt, mit dem wir uns auseinanderzusetzen haben. Das werden wir berücksichtigen, wenn es darum geht, auf dieses Urteil zu reagieren.
Ja, es stimmt: Das Bundesverfassungsgericht hat uns aufgegeben, den Bereich der Eingriffsverfahren, der Löschungsverfahren, der Kontrollverfahren, auch der Übermittlungsverfahren
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konkreter zu fassen und insbesondere mit Blick auf die Verhältnismäßigkeit klarer zu formulieren. Auf der Grundlage werden wir uns das Urteil vornehmen und analysieren.
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Wir werden gemeinsam mit den Kollegen in der Koalition und der Regierung in einem transparenten Verfahren einen Gesetzentwurf erarbeiten,
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ihn vorlegen und hoffentlich hier rasch umsetzen.
Ich kann Ihnen gerne sagen, von welchen Zielen wir uns dabei leiten lassen. Zunächst einmal ist ganz entscheidend, dass die strategische Auslandsaufklärung wirksam sein muss. Das ist von überragender Bedeutung. Ich will zur Einordnung Folgendes sagen: Der Bundesnachrichtendienst bedroht keine Verfassungsgüter. Ganz im Gegenteil: Er ist nicht nur die Grundlage dafür, dass wir den Schutz unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung sicherstellen können, dass wir das demokratische Selbstbestimmungsrecht der Deutschen sicherstellen können, sondern es geht auch um Frieden in Deutschland und Europa. – Das sind die Maßgaben. Dafür brauchen wir den Verfassungsschutz, und dafür braucht er die richtigen Instrumente.
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Ich will an dieser Stelle eines sagen: Die Herausforderung für Deutschland, auch im internationalen Maßstab Verantwortung für Sicherheit zu übernehmen, ist gewachsen. Das wird auch in Zukunft weiter so sein. Wir haben hier im Deutschen Bundestag elfmal Auslandsmissionen der Bundeswehr mandatiert. Und wir erwarten von einem Auslandsnachrichtendienst natürlich, dass er die Sicherheit gewährleistet, dass wir wissen, wo Anschlagsgefahren drohen, damit wir entsprechend sorgsam damit umgehen können. Das ist eine Erwartung, die wir haben. Deshalb brauchen wir dafür auch die notwendigen Instrumente.
Ich will des Weiteren sagen: Gerade weil es so ist, dass der Bundesnachrichtendienst, was die personelle Ausstattung und was die finanzielle Ausstattung anbelangt, nicht zu den bestausgestatteten Diensten weltweit gehört, um es mal vorsichtig zu formulieren,
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sind wir auf internationale Zusammenarbeit und Informationsaustausch angewiesen. Der Bundesnachrichtendienst kooperiert mit 451 Diensten in 167 Ländern. Die Vergangenheit hat gezeigt, wie notwendig dies ist, um die Sicherheit bei uns zu gewährleisten.
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Für uns ist vollkommen klar: Wir können uns keine nationale Sicherheit zweiter Klasse leisten und wollen das auch nicht. Deswegen brauchen wir einen Nachrichtendienst der Extraklasse.
Und jetzt will ich zum Thema der Kontrolle noch etwas sagen.
Oh nein, das werden Sie nicht.
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Einen letzten Satz, wenn Sie gestatten.
Nein, Sie sind schon drüber.
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Das Bundesverfassungsgericht hat nichts zur parlamentarischen Kontrolle gesagt, sondern zur administrativen und zur gerichtsnahen. Deshalb haben wir im Bereich der parlamentarischen Kontrolle nichts zu verändern; die wird vorbildlich erledigt.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin.
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Vielen Dank, Herr Kollege Frei. Ich will ja nicht Herrn Ullrich oder Herrn Schuster etwas von der Redezeit abziehen müssen. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Roman Johannes Reusch.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wie immer, wenn der Kollege Frei vor mir dran ist, kann ich mich kürzer fassen. – Ich danke.
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Dieses bekannte Urteil des Verfassungsgerichts stellt uns vor ziemliche Probleme. Teilweise droht sogar Ungemach, nämlich dann, wenn es uns nicht gelingt, den Nachrichtenaustausch zwischen dem BND und den Partnerdiensten im jetzigen Zustand und Umfang zu erhalten; Kollege Frei hat die Bedeutung hervorgehoben. Denn das Verfassungsgericht sagt ja zum einen, der BND muss Bedingungen setzen, wenn er Nachrichten weitergibt, und zum anderen muss die Third-Party-Rule durchbrechbar sein. Da liegt der Hase im Pfeffer. Es ist wirklich zu befürchten, dass der BND aus dem Kreis der Mitspieler auf Augenhöhe ausscheidet und nur noch geringer qualifizierte Meldungen von anderen Diensten bekommt, wenn es nicht gelingt, hier zufriedenstellende Lösungen zu finden.
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Was deutlich leichter lösbar erscheint, sind die Kontrollauflagen, die wir bekommen haben. Es ist klar: Nunmehr muss auch die Tätigkeit des BND, wie es das Bundesverfassungsgericht so schön ausgedrückt hat, rechtsstaatlich eingehegt werden. – Nun gut, das kann man machen, wie die FDP es vorschlägt, indem man die G 10-Kommission ein bisschen aufbläst. Man kann das Unabhängige Gremium – das besteht ja immerhin aus Bundesrichtern – mit dieser Aufgabe betrauen. Man könnte gar, wie andere Nationen das machen, ein unter Geheimbedingungen tagendes Gericht damit beauftragen.
Das ist alles möglich. Man kann über alles reden. Möglich ist vieles, lösbar ist es auf jeden Fall. Dieser nationale Bevollmächtigte für Nachrichtendienste – ich kann mir den Namen nicht merken, den die FDP sich da ausgedacht hat –
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soll – das finde ich toll – sogar das Kanzleramt und das Innenministerium beaufsichtigen, wenn es um Nachrichtenfragen geht. Da habe ich dann doch ein Schmunzeln nicht unterdrücken können.
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Nach meiner Kenntnis übt das Parlament die Kontrolle über die Regierung aus und kein administrativer Mensch, mag er auch noch so toll gewählt sein. Aber okay.
Wir werden in den kommenden Monaten sicherlich intensive Beratungen vor uns haben. Die AfD steht selbstverständlich zu konstruktiven Vorschlägen und zur Mitarbeit bereit. Schauen wir mal, was dabei herauskommt.
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Vielen Dank, Roman Reusch. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Uli Grötsch.
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Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Grundrechte heißen deshalb Grundrechte, weil sie universell, überall und für alle gelten; egal wo die jeweilige Person gerade ist, egal wer sie ist, und egal woher sie ist. Diese richtungsweisende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts begrüße ich gemeinsam mit meiner Fraktion ganz ausdrücklich.
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Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil ja nicht gesagt – das wurde eben schon betont –, dass die Abhörpraxis im Ausland per se verfassungswidrig ist. Aber sie muss eben noch ein bisschen stärker verfassungskonform ausgestaltet werden.
Lassen Sie uns deshalb, weil die Aufgabe so wichtig ist, jetzt wirksam und schnell handeln. Dann bin ich zuversichtlich, dass uns die Umsetzung des Urteils bis zur nächsten Bundestagswahl im Jahr 2021 gelingen wird. Das neue BND-Gesetz wird internationale Signalwirkung entfalten und zum Vorbild für viele Dienste auf der ganzen Welt werden.
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Vorbild wollen wir im internationalen Kontext auch als Parlamentarisches Kontrollgremium hinsichtlich der Kontrolle der Nachrichtendienste bleiben. Einen parlamentarischen Nachrichtendienstbeauftragten, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, haben wir dabei jedoch nicht im Sinn, und ich will Ihnen gerne erklären, warum wir Ihren Vorschlag ablehnen.
Grundsätzlich finde ich die Kontrollbefugnisse, mit denen Sie Ihren Nachrichtendienstbeauftragten ausrüsten wollen, gar nicht mal so schlecht; denn auch wir wünschen uns eine Kontrolle, die präventiv wirkt und Skandale, wie es sie in der Vergangenheit gab, verhindern hilft. Wir haben aber bereits jetzt das Parlamentarische Kontrollgremium, die G 10-Kommission, das Unabhängige Gremium und den Bundesdatenschutzbeauftragten zur Kontrolle der Nachrichtendienste. Wir glauben, dass es viel mehr darum gehen muss, die Energie all dieser schon bestehenden Institutionen zu bündeln, anstatt sie durch eine zusätzliche Struktur womöglich noch zu zerfleddern.
Sie statten Ihren parlamentarischen Nachrichtendienstbeauftragten in Ihrem Gesetzentwurf wahrhaft mit sehr weitreichenden Befugnissen aus, um Erkenntnisse zu gewinnen, die dem PKGr bislang womöglich verborgen geblieben sind. Dazu sage ich Ihnen: Lassen Sie uns doch das PKGr mit genau diesen Befugnissen ausstatten, damit wir als Parlament in unserem Kontrollauftrag gestärkt werden. Wir als PKGr profitieren nicht von einem Nachrichtendienstbeauftragten, sondern wir profitieren von mehr Zeit für unsere Kontrolle, von mehr Personal bei der Kontrolle und von mehr Gestaltungsspielraum.
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Letzter Punkt. Das gilt ebenso für die G 10-Kommission. Die Kontrolle der Nachrichtendienste kann nicht mal eben nebenbei erfolgen. Auch das gehört meiner Meinung nach zur Wahrheit bei diesem Thema. Das ist ein Fulltime-Job, und deshalb kann ich der Forderung in Ihrem Antrag, mit der Sie die G 10-Kommission aufwerten wollen, durchaus etwas abgewinnen.
Also, liebe Kolleginnen und Kollegen: mehr parlamentarische Kontrolle ja, aber nicht durch einen Nachrichtendienstbeauftragten, sondern durch den Ausbau und eine Vernetzung der jetzt schon bestehenden Organe.
Vielen Dank.
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Vielen herzlichen Dank, Uli Grötsch. – Nächster Redner: für die Fraktion Die Linke Dr. André Hahn.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Bundesverfassungsgericht hat in einem wichtigen Urteil festgestellt, dass das Gesetz zur Ausland-Ausland- Fernmeldeaufklärung des Bundesnachrichtendienstes in zahlreichen Punkten verfassungswidrig ist. Das ist ein großer Erfolg der Klageführer, unter anderem von Reporter ohne Grenzen, und eine schwere Niederlage für Bundesregierung und Koalition.
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Ich erinnere mich noch gut an die hämischen Kommentare aus der Union, aber auch aus der SPD, als ich nach der Beschlussfassung erklärte, dieses Gesetz werde vor den Karlsruher Richtern definitiv keinen Bestand haben. Linke und Grüne hatten damals leider nicht das notwendige Quorum für eine Normenkontrollklage. Umso mehr freue ich mich über das jetzige Urteil.
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Fakt ist aber auch: Mehr als drei Jahre hat die Bundesregierung ein verfassungswidriges Gesetz angewandt, und sie hat auch jetzt noch eine Übergangsfrist bis Ende 2021, um Änderungen vorzunehmen. Für Die Linke sage ich hier ganz klar: Alle vom Verfassungsgericht für rechtswidrig erklärten Praktiken des BND müssen sofort beendet werden!
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Ausdrücklich begrüße ich die Klarstellung des Gerichts, dass die Grundrechtsbindung deutscher Behörden auch im Ausland gilt und der Schutz von Journalisten vor Ausspähung deutlich verbessert werden muss. Union und SPD haben damals im NSA/BND-Untersuchungsausschuss nicht nur die Anhörung Edward Snowdens, dem wir das Wissen über die anlasslose Massenüberwachung durch die Geheimdienste verdanken, sabotiert; Sie haben auch die Ergebnisse des Ausschusses gar nicht abwarten wollen. Im Eiltempo wurde ein Gesetz verabschiedet, das die hochumstrittene Überwachungspraxis des BND nachträglich fast uneingeschränkt legalisiert hat. Somit konnte zum Beispiel die komplette Ausspähung der Kommunikation am weltgrößten Internetknoten DE-CIX in Frankfurt am Main ungeniert fortgeführt werden.
Meine Damen und Herren, ich bin der FDP-Fraktion dankbar für die Möglichkeit der heutigen Debatte. Der vorliegende Gesetzentwurf der FDP ist aus meiner Sicht durchaus geeignet, die parlamentarische Kontrolle der Geheimdienste zu stärken. Ich teile aber nicht alle darin enthaltenen Vorschläge, wie zum Beispiel die geforderte Einrichtung eines eigenständigen Nachrichtendienstbeauftragten; denn wir brauchen keine weitere Zersplitterung der Kontrollgremien. Gleichwohl finde ich im FDP-Entwurf mehrere Punkte, die von der Linken bereits in der letzten Wahlperiode in einem eigenen Gesetzentwurf eingebracht wurden. Das freut mich natürlich.
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Für die Mitglieder des Parlamentarischen Kontrollgremiums muss es endlich eine Stellvertreterregelung geben, und mindestens ein ausgewählter Mitarbeiter je Fraktion muss zur Unterstützung der Arbeit der Mitglieder Zugang zu den Sitzungen erhalten, wie in allen anderen Ausschüssen des Bundestages auch.
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Daneben müssen wir das Recht erhalten, unsere Fraktionsvorsitzenden über wichtige Vorkommnisse zu unterrichten, ohne wegen Geheimnisverrat mit Strafe bedroht zu werden. Die parlamentarische Kontrolle würde zudem deutlich gestärkt, wenn die Opposition ähnliche Minderheitenrechte wie etwa in Untersuchungsausschüssen erhielte. Sie wäre dann nicht mehr wehrlos gegenüber der Regierungsmehrheit, und missliebige Themen könnten nicht einfach unter den Teppich gekehrt werden.
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Es gibt also viele Anknüpfungspunkte, und ich bin deshalb gespannt auf die Beratungen in den Ausschüssen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Dr. André Hahn. – Nächster Redner: für Bündnis 90/Die Grünen Dr. Konstantin von Notz.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die jüngste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum BND-Gesetz ist ein wegweisendes Urteil für die Arbeit der Nachrichtendienste in der digitalen Welt und ein Meilenstein für den Grundrechtsschutz von Millionen von Menschen weltweit.
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Das Urteil bestätigt uns schwarz auf weiß und fast eins zu eins in unseren seit Jahren bestehenden Forderungen nach besseren rechtsstaatlichen Kriterien bei der Fernmeldeaufklärung, und es waren – es wurde gesagt – die Enthüllungen von Edward Snowden, die Aufklärungsarbeit hier im Deutschen Bundestag durch den Parlamentarischen Untersuchungsausschuss und auch die Kontrollbemühungen des Parlamentarischen Kontrollgremiums, durch die die Rolle des Bundesnachrichtendienstes kritisch hinterfragt und am Ende festgestellt wurde, dass er Teil eines weltumspannenden geheimdienstlichen Überwachungssystems ist. Seit vielen Jahren wissen wir also, dass es diese fragwürdigen und teils offen rechtswidrigen Praktiken auch beim Bundesnachrichtendienst gab. Ich sage es Ihnen, Herr Frei, weil Sie so ein bisschen herumdrucksen: Ihr BND-Gesetz, das hat das Karlsruher Gericht nun mal festgestellt, ist verfassungswidrig – nicht so ein bisschen, sondern volle Kanne!
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Sie haben schon damals nicht richtig reagiert. Sie haben zu zögerlich, zu spät und ein bisschen spärlich auf diese Ungeheuerlichkeiten reagieren wollen, und das ist Ihnen jetzt in Karlsruhe eben auf die Füße gefallen. Wir haben hier über hanebüchene Theorien – die Weltraumtheorie, die Funktionsträgertheorie – geredet, und Sie haben gesagt, das Grundgesetz gelte im Ausland für deutsche Behörden nicht. All dem hat das Bundesverfassungsgericht jetzt einen Riegel vorgeschoben, und das ist gut so.
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Damit das aber auch völlig klar ist: Der BND ist ein wichtiger Bestandteil unserer wehrhaften Demokratie, gerade in diesen Zeiten. Insofern ist dieses Urteil auch eine Chance für den BND; denn er ist für diese Skandale bei der technischen Aufklärung, wie das immer so ist, in eine relativ undifferenzierte Gesamthaftung gekommen. Das ändert nichts daran, dass hier sozusagen eine Tür aufgestoßen wird, diesen Blick, der von mir schon statistisch belegt wurde, geradezuziehen, und das werden wir schaffen, wenn wir gemeinsam in dieser Verantwortung stehen, die Dienste, auch den BND, effizient, rechtsstaatlich und gut aufzustellen.
Ein wesentlicher Baustein dafür ist ein offener und transparenter Prozess hier im Haus mit der Bundesregierung. Dabei gilt es, das Urteil selbst und unsere Vorstellungen entlang dieser klaren Linie der Rechtsstaatlichkeit umzusetzen.
Meine Fraktion hat schon 2016 ein umfassendes Konzept zur Neustrukturierung, Modernisierung und Effektivierung der parlamentarischen Kontrolle vorgelegt. Ich freue mich, dass die FDP daraus ein bisschen geräubert hat – das ist guter Parlamentarismus –, aber, an die Serviceopposition
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gerichtet: Dieser Beauftragte mit seinen wirklich schweren Eingriffen in durch das Grundgesetz dem Parlament vorbehaltene Rechte und Befugnisse, das lehnen wir ab.
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Deswegen: Es liegt viel Arbeit vor uns, meine Damen und Herren, viele interessante Fragen: Wie sieht sie aus, die Kontrolle in der digitalen Zeit? Wenn die Datenerhebung digital läuft, wie muss die digitale Kontrolle aussehen? Wir stehen für die Beratungen zur Verfügung. Ich freue mich drauf.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Konstantin von Notz. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Armin Schuster.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ja, da stimme ich Konstantin von Notz zu: Dieses Urteil ist wirklich ein Meilenstein. Es ist auch eine juristische Herausforderung, es ist eine technologische Herausforderung, darauf komme ich noch, und – das genießt unsere Fraktion ganz besonders – es ist eine einzigartige Bestärkung unseres politischen Kurses, was die Kraft eines Auslandsnachrichtendienstes anbelangt. Ich bin schlicht begeistert davon,
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dass den Richtern die Balance gelungen ist, zu erklären: Jawohl, dieses Land braucht eine strategische Fernmeldeaufklärung im Ausland; jawohl, die ist auch anlasslos, da darf auch gespeichert werden, da dürfen Verkehrsdaten gespeichert werden.
Wären die Linken oder die FDP vor Ort in Karlsruhe zahlenmäßig stärker vertreten gewesen, hätten sie gelitten. Wenn Sie die 138 Seiten lesen, werden Sie an vielen Stellen feststellen, wie das Bundesverfassungsgericht von der Leistungsfähigkeit unseres Auslandsnachrichtendienstes überzeugt ist.
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Ich zitiere: Es gibt ein „überragendes öffentliches Interesse“ an dieser Arbeit. Deswegen investiert diese Fraktion mit der SPD zusammen seit Jahren in die materielle, in die personelle Ausstattung dieser Dienste, in gesetzgeberische Reformen und jetzt in eine bessere Rechtskontrolle.
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Meine Damen und Herren, ich bin wahrscheinlich der einzige parlamentarische Überlebende der Reform von 2016;
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ich habe daran eng mitgearbeitet. Leider sind Frau Högl, Herr Lischka usw. nicht mehr da. Den damaligen Fraktionsvize spreche ich jetzt mal nicht an. Meine Damen und Herren, alles hat seine Zeit. Damals sagten die Sachverständigen zu unserer Reform von § 16 BND-Gesetz: epochal, international einzigartig. – Ich weiß, es gab auch Kritik. Ich selber habe massiven Druck empfunden, wie weit wir mit der parlamentarischen Kontrolle beim neuen BND-Gesetz gehen, auch im Hinblick auf die Mitarbeiter des BND.
Ich erinnere mich noch sehr gut. Damals hieß es: Die legen den BND an die Kette. Nein, das haben wir nicht getan. Wir haben 2016 eine starke Reform gemacht – alles hat seine Zeit –; jetzt machen wir eine zweite. Damals waren Dinge noch nicht gangbar, die, glaube ich, heute gangbar sind – ein deutlicher Beleg dafür, wie das Bundesverfassungsgericht auch zu unserer Lösung steht. Wir haben bis 31. Dezember 2021 Zeit. Das ist ein sehr deutliches Signal. Außerdem: Die politische Berichterstattung des BND an die Bundesregierung hat in diesem Urteil einen dicken grünen Haken bekommen.
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– Ja, ja. –
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Was liegt jetzt vor uns? Nicht das, was die FDP beantragt.
Was das Urteil überhaupt nicht aufgreift, ist die parlamentarische Kontrolle. Sie haben mit Ihrem Antrag komplett das Thema verfehlt.
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Als Vorsitzender des PKGr – innenpolitisch hat Thorsten Frei das Sagen – kann ich sagen: Ich habe große Lust, mit allen Fraktionen dieses Urteil zu studieren, und zwar intensiv, und darüber zu hirnen: Wie setzen wir das jetzt um? Juristisch, meine Damen und Herren, ist das nicht schwer. Das Bundesverfassungsgericht hat eine erstaunliche Detailtiefe entwickelt,
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ich würde fast sagen: eine gewisse Liebe zum Gesetzgeber. „Achtung bei der Berufswahl!“, rufe ich den Richtern zu. Wir werden das jetzt angehen.
Der eigentliche Knackpunkt, meine Damen und Herren, ist die technologische Umsetzung dessen, was dieses Gerichtsurteil von uns fordert: neue Datenbanksysteme, neue Prozesse, neue Algorithmen. Das wird dauern. Ich rufe den BND-Mitarbeitern zu: Ich weiß, wir belasten euch immens. Erst kam die 2016er-Reform, dann die interne Reform, die ihr gemacht habt. Jetzt bitte noch einmal einen ganz großen Wurf. Es dient eurer Rechtssicherheit, es dient dem Vertrauen zu euch, weil es für eine unglaubliche Transparenz sorgt.
Vielleicht noch ein Hinweis an die FDP; dann höre ich auch auf, Frau Vorsitzende.
Ja.
Der Polizist sagt, das ist ein Hüftdurchschuss,
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eine Woche nach so einem Urteil, wenn man selbst kaum vor Ort war, sich so schlecht vorzubereiten. Die Idee, das Amt eines parlamentarischen Nachrichtendienstbeauftragten zu schaffen, haben wir – fragt mal Hartfrid Wolff ‑gemeinsam beerdigt.
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Diese Idee ist Quatsch. Ich kann euch nur eins sagen: Der Hüftdurchschuss hat zumindest die Scheibe getroffen, nicht die Zehn. Er ist weit daneben; aber die Scheibe habt ihr zumindest getroffen.
Herr Schuster.
Wir diskutieren auch mit euch. Sie haben gesagt: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. – Ich sage: Vertrauen ist gut, Kontrolle auch; so muss es sein.
Danke schön.
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Vielen Dank, Armin Schuster. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Thomas Hitschler.
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Hochgeschätzte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muss mich jetzt wirklich anstrengen, um annähernd an das Begeisterungslevel des Kollegen Schuster heranzureichen. Aber ich gebe alles. Ich verspreche es Ihnen.
Wir beraten heute zwei Initiativen der FDP, die ziemlich schnell nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts weitreichende Neuregelungen schaffen sollen.
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Die Auswirkung dieser Neuregelungen dürfen wir dabei nicht unterschätzen. In seiner mehr als 60-jährigen Geschichte hat der BND häufig sehr, sehr erfolgreich unser Land vor Gefahren beschützt. Manchmal unter den Augen der Öffentlichkeit, manchmal im Verborgenen. Auch würden viele Soldatinnen und Soldaten, die in unserem Auftrag ihren Dienst in Afghanistan geleistet haben, heute nicht mehr leben, wenn die Aufklärungsarbeit des BND nicht Dutzende Anschläge verhindert hätte.
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Klar ist daher: Die Arbeit unserer Nachrichtendienste ist für uns unverzichtbar.
Ebenso unverzichtbar ist aber auch die Verankerung auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Die Bürger- und Freiheitsrechte des Grundgesetzes, Kolleginnen und Kollegen, sind für uns immer der entscheidende Maßstab. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat diesen Maßstab nun noch einmal deutlich betont. Das Bundesverfassungsgericht sagt beispielsweise, dass deutsche Behörden sich, kurz gesagt, auch im Ausland an das Grundgesetz halten müssen, und es fordert eine unabhängige Instanz mit ausreichenden Befugnissen, um die Nachrichtendienste wirksam kontrollieren zu können.
Kolleginnen und Kollegen, Vertrauen in die Institutionen des Staates ist für dessen Bestehen unerlässlich, und um dieses Vertrauen zu erhalten, ist die grundgesetzliche Verankerung dieser Institution unerlässlich. Das Urteil weist uns einen Weg, wie wir dieses Vertrauen erhalten, ja, wie wir es stärken können. Diesen Weg werden wir in den nächsten Wochen gemeinsam gehen.
Die Abgeordneten der FDP haben gute Impulse vorgelegt.
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Ich freue mich, dass die Liberalen sich bürgerrechtlich engagieren und nicht immer nur diesen wirtschaftsliberalen Weg einschlagen.
Die Bedeutung der Nachrichtendienste macht aber klar, dass wir diese Reform eben nicht übers Knie brechen dürfen. Das darf kein Hoppladihopp-Gesetz werden, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir befinden uns am Anfang eines Prozesses, der so öffentlich wie möglich gestaltet werden muss: mit Verbändebeteiligung, mit Anhörungen und ausgiebigen parlamentarischen Beratungen. Auch wenn uns das Gericht eine Frist gesetzt hat: Ein wenig Sorgfalt und ein wenig Transparenz, Kolleginnen und Kollegen, brauchen wir dabei schon.
Wir fangen bei dem Reformprozess nicht bei null an – viele Rednerinnen und Redner haben das heute betont –: Wir haben bereits erfahrene Kontrollinstanzen, auf deren Arbeit wir aufbauen können: parlamentarische, aber auch außerparlamentarische Institutionen, die wir stärken und vernetzen können und auch sollten. Karlsruhe hat die Bedeutung dieser Instanzen ja sogar betont und klargestellt, dass diese über die Kontrolle der strategischen Fernmeldeüberwachung zu unterrichten sind. Wir haben also bereits Anknüpfungspunkte und Ideen, um die Forderungen des Urteils zeitnah umzusetzen. Diese werden wir gemeinsam in einem anständigen öffentlichen Prozess beraten.
Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen Nachrichtendienste – das ist unbestritten –, und wir brauchen demokratische Kontrolle. Wir stehen nun vor der Aufgabe, beides in Übereinstimmung zu bringen. Diese Aufgabe werden wir annehmen, in gebotener Sorgfalt.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Thomas Hitschler. – Als letzter Redner in dieser Debatte – auch in dieser Debatte macht er den Schluss –: Dr. Volker Ullrich für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur strategischen Fernmeldeaufklärung ist auch ein Auftrag an den Gesetzgeber; diesen müssen wir bis zum wir 31. Dezember 2021 erfüllen. Deswegen ist es auch unredlich, wenn wir innerhalb von acht Tagen einen Gesetzentwurf beschließen sollen, ohne darüber nachzudenken, wie wir die Kautelen des Urteils tatsächlich fassen und umsetzen sollen.
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Für diese wichtige Frage bei der Kontrolle der Nachrichtendienste brauchen wir Zeit, Transparenz, die Einbindung aller parlamentarischen Partner, aber auch der Zivilgesellschaft und der Sachverständigen. Deswegen werden wir uns Zeit lassen und nicht innerhalb von sieben Tagen ein Gesetz verabschieden, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP!
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Entscheidend in diesem Urteil ist auch – das ist wichtig festzuhalten –: Grundrechte schützen immer dann, wenn der deutsche Staat handelt, ganz gleich, ob im Inland oder im Ausland.
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Es ist übrigens keine Anmaßung, wenn der deutsche Staat auch außerhalb unseres Staatsgebietes der Grundrechtsbindung unterliegt; denn die Geltung der Menschenwürde und die Geltung der Menschenrechte sind universell. Das ist für uns eine Art Ordnungsprinzip, auch im Hinblick auf die internationale Ordnung. Aber das Ordnungsprinzip der Geltung der Menschenrechte muss auch geschützt und verteidigt werden. Und das bedeutet, dass wir uns gegen die Herausforderungen wappnen müssen: Cyberterrorismus, Drogenhandel, Terrorismus. Vielfältige Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik Deutschland sind gefährdet. – Wir können unser Land nur schützen, wenn wir rechtzeitig gewarnt sind. Deswegen brauchen wir einen Auslandsnachrichtendienst, und deswegen muss er auch die Befugnis zur Auslandsaufklärung haben; das steht für uns nicht zur Debatte.
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Das Bundesverfassungsgericht hat sogar gesagt, dass auch diese Befugnis nach wie vor zulässig ist. Es hat extra darauf hingewiesen, dass es in unserem staatlichen Interesse liegt, dass diese Aufklärung auch vonstattengeht. Entscheidend ist, wie wir sie organisieren. Wir werden sie nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts gut organisieren können; denn auch unser oberstes Gericht hat gesagt, dass die Arbeitsfähigkeit dieses Dienstes auch in der Funktion als Informationsbeschaffer für die Bundesregierung unabdingbar und unverzichtbar ist.
Deswegen werden wir bei der Frage des Zwecks der Datensammlung, bei der Frage der Verhältnismäßigkeit der Übermittlung die gesetzlichen Vorschriften anpassen. Wir werden auch darüber sprechen, inwiefern wir die Kontrolle neu organisieren müssen; aber wir werden nicht alles neu organisieren können. Die Dinge, die sich bewährt haben, insbesondere auch die starke parlamentarische Kontrolle durch das Parlamentarische Kontrollgremium, gehören zum Kern des parlamentarischen Auftrags des Bundestages. Daran werden wir festhalten; da war die Kontrolle bislang gut, und sie wird gut bleiben.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Dr. Ullrich. – Damit schließe ich die lebendige Aussprache. Sie hat Spaß gemacht.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Heute beraten wir den Entwurf des Adoptionshilfe-Gesetzes in zweiter und dritter Lesung. Es geht um ein wichtiges Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag. Es geht um Adoptionen, die Familien ein Leben lang begleiten. Fast alle von Ihnen kennen vermutlich im Wahlkreis oder in der Familie Menschen, die ein Kind adoptiert haben. Diese Menschen haben sehr viel Mut. Ich bewundere sie, und sie verdienen Hochachtung.
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Ein Haus kann man kaufen und verkaufen, eine Ehe kann geschieden werden; aber eine Adoption ist eine elementare Entscheidung und Weichenstellung im Leben aller Beteiligten. Und so eine wichtige Entscheidung braucht das bestmögliche Verfahren, die bestmögliche Unterstützung. Darum beraten wir heute das Adoptionshilfe-Gesetz in zweiter und dritter Lesung. 2018 wurden in Deutschland 3 733 Kinder adoptiert. Über 95 Prozent davon waren Inlandsadoptionen. Rein statistisch werden in Deutschland jeden Tag 10 Kinder adoptiert.
Sehr geehrte Damen und Herren, mit dem Gesetz wollen wir das Verfahren der Adoption besser machen. Dabei haben wir vier Bereiche im Blick: Es geht um Beratung, Aufklärung, Vermittlung und Begleitung. Das heißt konkret: Wir wollen einen Rechtsanspruch auf Beratung und Begleitung auch nach der Adoption einführen. Wir wollen eine altersgerechte Aufklärung der Kinder von Anfang an unterstützen und den Informationsaustausch und Kontakt zwischen Herkunfts- und Adoptivfamilie fördern. Wir wollen für die Adoptionsvermittlungsstellen einen festgelegten Aufgabenkatalog und die bessere Kooperation zwischen den verschiedenen Fachstellen stärken. Außerdem wollen wir unbegleitete Auslandsadoptionen untersagen und ein verpflichtendes Anerkennungsverfahren für Adoptionen aus dem Ausland einführen, um Kinder vor Kinderhandel zu schützen.
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All diese Punkte haben die Sachverständigen in der Anhörung gelobt, die großen Linien wurden nicht infrage gestellt, und viele Hinweise des Bundesrates haben wir aufgegriffen. Im gesamten Verfahren gab es eine gute Zusammenarbeit mit den Ländern, und ich danke an dieser Stelle allen, die am Verfahren beteiligt waren.
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Alle Fragen konnten jedoch nicht geklärt werden. Die SPD-Bundestagsfraktion und einige andere hatten sich für eine Ausnahme lesbischer Paare von der verpflichtenden Beratung bei Stiefkindadoptionen eingesetzt. Wir wissen, wie wichtig dieses Thema für lesbische Paare ist. Leider können wir diese Frage im Adoptionshilfe-Gesetz nicht lösen. Diese Thematik müssen wir im Abstammungsrecht regeln.
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Ich weiß, wie wichtig das Thema Stiefkindadoption für lesbische Paare ist, und deshalb setze ich mich entschieden für den Abbau von Diskriminierungen bei Regenbogenfamilien ein.
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Es gibt dazu einen Diskussionsvorschlag aus dem Justizministerium, die sogenannte Mit-Mutterschaft. Und damit würden wir erreichen, dass bei Stiefkindadoptionen für lesbische Paare die Beratung wegfällt. Für diese Regelung werde ich mich starkmachen; denn Zwei-Mütter-Familien, in die ein Kind hineingeboren wird, sind keine Adoptions-, sondern Herkunftsfamilien.
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Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, alles in allem machen wir mit dem Adoptionshilfe-Gesetz einen wichtigen Schritt, um Familien besser bei der Adoption zu begleiten. Wir helfen und unterstützen bei der wichtigsten Entscheidung ihres Lebens, und deshalb bitte ich Sie heute um Zustimmung.
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Vielen Dank, Dr. Giffey. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Frank Pasemann.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nachdem bei meiner letzten Rede einige Kollegen hier so nett darauf reagiert haben, sage ich auch heute wieder: Werte Zuschauer an den Fernsehgeräten und vor allen Dingen – für die AfD viel wichtiger – auf YouTube, Facebook und sonstigen sozialen Kanälen.
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In meinem Redebeitrag zur ersten Lesung dieses Gesetzentwurfes ging ich unter anderem darauf ein, dass es sich bei dem vorliegenden Entwurf um nur minimale Verbesserungen des aktuellen Status quo handele. Der Entwurf werde nicht mal dem eigenen Anspruch aus dem Koalitionsvertrag gerecht und bleibe somit sogar hinter dem Kompromiss der Koalitionspartner zurück.
Von einem modernen Adoptionsrecht ist hier die Rede und davon, die Abläufe zu vereinfachen. Das Gegenteil ist leider bei diesem Entwurf der Fall. Der bürokratische Aufwand wird noch weiter verstärkt, und selbst bei der Stiefkindadoption wird eine Begleitung durch Caritas und andere Verbände verpflichtend. Bei der Stiefkindadoption handelt es sich jedoch nur um die rechtliche Würdigung einer bereits real bestehenden Situation. In einer Familie lebende Partner übernehmen Verantwortung für die Kinder des jeweils anderen Partners durch Adoption. Wieso mischt sich der Staat hier also unter dem Vorwand des Kindeswohls in höchst familiäre Prozesse ein?
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Der staatlich forcierte Eingriff durch die Familienpolitik der Bundesregierung in familiäre Abläufe zeigt sich noch an anderer Stelle überdeutlich: bei der gewünschten und hier diskutierten Aufnahme besonderer Kinderrechte ins Grundgesetz. Ich zitiere mit Genehmigung der Präsidentin: „Wir wollen die Lufthoheit über die Kinderbetten erobern“, nannte dies der sozialdemokratische Kulturrevolutionär Olaf Scholz.
Statt die Adoption als eine echte Alternative zur Abtreibung in Betracht zu ziehen, wird in Coronazeiten darüber schwadroniert, die sogenannte Schwangerenkonfliktberatung zu digitalisieren. Damit würde die Abtreibung und – das kann nicht oft genug gesagt werden –
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die Tötung von ungeborenen menschlichen Leben noch einfacher gemacht.
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Zu befürchten steht, dass womöglich Regelungen geschaffen werden, die weit über die derzeitige Coronakrise hinaus gelten werden.
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Um aus der Adoption ein wirksames Instrument der Willkommenskultur für Kinder zu machen, wie es die AfD fordert, bedürfte es einer rechtlichen Vereinfachung und vor allem einer Entbürokratisierung.
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Auch das Gesetz zum Ausbau der Hilfen für Schwangere und zur Regelung der vertraulichen Geburt hätte hier mit bedacht werden müssen. Nichts davon findet sich im vorliegenden Gesetzentwurf wieder. Allein die im Entwurf vorgesehene Regelung zum Auskunftsrecht des Adoptivkindes über seine Herkunftseltern möchten wir als positiv hervorheben, da hier echte Hilfe möglich und nötig erscheint.
Die AfD-Fraktion wird sich zu diesem Entwurf enthalten und fordert eine tatsächliche – und dem Wort gerecht werdende – Verbesserung im Adoptionswesen. Das sind wir einerseits den Kindern und Jugendlichen schuldig, die nach wie vor in Pflegeheimen oft überbeanspruchten und unterbezahlten Betreuern gegenüberstehen, anstatt in eine Pflegefamilie vermittelt zu werden, weil die gesetzlichen Anforderungen hierfür zu hoch sind. Wir sind es aber andererseits auch den nie ins Leben kommenden Kindern schuldig, die die derzeit politischen Verantwortlichen lieber abgetrieben sehen, weil sie „ungewollt“ entstanden sind.
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Für uns als AfD-Fraktion ist und bleibt die Familie jedenfalls die beste Pflegeeinrichtung, ob es nun die eigene ist oder eine fremde, deren Kinderwunsch unerfüllt blieb.
Vielen Dank.
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Danke schön.
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Nächste Rednerin: für die CDU/CSU-Fraktion Dr. Silke Launert.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! „Wer bin ich?“, „Wo komme ich her?“, „Wem sehe ich ähnlich: Vater oder Mutter?“, das sind Fragen, die sich grundsätzlich jeder Mensch stellt, und Fragen, die in den meisten Fällen einfach zu beantworten sind – in den meisten Fällen, eben nicht in allen. Denn immer dann, wenn ein Kind zur Adoption freigegeben wurde, stehen anstelle von einfachen Antworten oft viele Fragezeichen.
Gründe, ein Kind zur Adoption freizugeben, gibt es viele. So unterschiedlich die Einzelfälle auch sind, so eint die einzelnen betroffenen Kinder aber eine Frage, und zwar die nach der eigenen Identität. Wie die wissenschaftlichen Forschungen belegen, ist die Frage nach der eigenen Herkunft, nach der Identität wohl die zentrale Frage des Lebens, der Dreh- und Angelpunkt, zumindest dann, wenn sie nicht geklärt ist.
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Eine Frage, die sich nicht verdrängen lässt und die einen, gerade wenn sie nicht geklärt ist, meist zeitlebens nicht loslässt.
Ein offener und selbstverständlicher Umgang mit dem Thema Adoption – das belegen die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung – ist daher elementar für die eigene Identitätsfindung und damit auch elementar für das einzelne betroffene Kind, um eine gefestigte Persönlichkeit zu entwickeln und das Adoptiertsein gut in sein Selbstbild zu integrieren. Nicht selten kommt es vor, dass Betroffene, denen die Adoption zunächst verschwiegen wurde, erzählen, dass sie immer irgendwie das Gefühl hatten, dass etwas nicht stimmt. Was sie sich nicht erklären konnten: Aber das Gefühl war immer da.
Uns allen ist bewusst, dass es sich hier um ein äußerst sensibles Thema handelt. Umso wichtiger ist es, allen Betroffenen, dem adoptierten Kind, den Herkunftseltern, aber auch den Adoptivfamilien, in dieser Situation Unterstützung zu bieten, sie auf die Herausforderungen vorzubereiten und zu begleiten.
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Im Koalitionsvertrag haben wir festgelegt, dass wir ein modernes Adoptionswesen in Deutschland wollen, dass es unser Ziel ist, die Strukturen der Beratung und der Adoptionsvermittlung zu verbessern. Und dieser Zielsetzung kommen wir heute nach. Mit dem Adoptionshilfe-Gesetz wollen wir alle Beteiligten unterstützen und damit vor allem dem Kindeswohl zur besseren Durchsetzung verhelfen.
Hierzu haben wir zum einen den Rechtsanspruch auf nachgehende Begleitung durch eine Adoptionsvermittlungsstelle eingeführt. Eine Adoption ist nicht nur der formale Akt, der Beschluss des Familiengerichts; nein, sie ist damit nicht abgeschlossen. Eine Adoption ist eine lebenslange Entscheidung, ein lebenslanger Weg für alle Beteiligten. Und wir wollen, dass fachkundige Wegbegleiter auf diesem Weg zur Seite stehen. Niemand soll ihn allein gehen; denn aus den Forschungen wissen wir: Es kommt zu Herausforderungen, und es ist besser, wenn man gut darauf vorbereitet ist.
Diese Zielsetzung liegt auch der Neuregelung zugrunde, nach welcher die Adoptionsvermittlungsstellen die annehmenden Eltern dahin gehend beraten, dass sie das Kind von Anfang an altersentsprechend über die Tatsache der Adoption aufklären sollen. Zudem sollen sie bereits vor Beginn der Adoptionspflege mit den Eltern – den Herkunfts- und den Adoptiveltern – erörtern, wie sie sich eine Zusammenarbeit vorstellen können. Dafür soll von Anfang an der Nährboden gelegt werden.
Darüber hinaus führen wir verpflichtende Beratungen auch bei Stiefkindadoptionen ein. Die Auswirkungen einer Adoption, sowohl tatsächlich als auch rechtlich, sind massiv. Die Fachexperten haben uns in der Anhörung auch dargelegt, wie wichtig es ist, dass man die Beteiligten frühzeitig umfassend über alle Folgewirkungen tatsächlich-rechtlicher Art aufklärt. Das ist der Grund, warum wir das hier einführen.
Ein weiterer Punkt ist das Verbot der unbegleiteten Auslandsadoption; Frau Ministerin hat dazu schon mehr ausgeführt.
Geben Sie uns allen heute die Chance, gemeinsam dazu beizutragen, allen, die am Adoptionswesen beteiligt sind – insbesondere den betroffenen Kindern –, zu dem zu verhelfen, was uns allen am Herzen liegt: zu einer Familie, die ein Ort ist, an dem man stets weiß, wer man ist, aber auch, wo man hingehört.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Dr. Launert. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Daniel Föst.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es ist wichtig, dass sich der Bundestag intensiv mit dem Thema Adoption beschäftigt. Die Adoption ist lebensverändernd, nicht nur für das Kind, sondern auch für die Herkunfts- und für die Adoptiveltern. Insgesamt ist es richtig und wichtig, dass das deutsche Adoptionsrecht endlich reformiert wird.
Wir müssen auch zugeben bzw. anerkennen, dass im Adoptionshilfe-Gesetz auch einige ordentliche, einige richtige Dinge stehen: das Verbot der unbegleiteten Auslandsadoption, die Evaluation des Gesetzes – das könnten Sie übrigens sehr viel öfter in Ihre Gesetze schreiben –, auch die verpflichtende Beratung. Damit können wir Freien Demokraten leben, obwohl ich sehr skeptisch bin, ob der Beratungsmehraufwand wirklich so abgefedert werden kann, wie Sie sich das vorstellen.
Bei den durchaus positiven Ansätzen, die Sie im Gesetz formuliert haben, verstehe ich nicht, warum Sie das Thema nicht gleich komplett richtig angegangen sind. Das Adoptionshilfe-Gesetz hilft sicherlich vielen Menschen. Aber es verschärft gleichzeitig eine besondere Diskriminierung, und zwar die von lesbischen Paaren, die von Zwei-Mütter-Familien. Und das ist nicht tragbar.
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Die verpflichtende Beratung für Stiefkindadoption in Kombination mit der immer noch fehlenden Reform des Abstammungsrechts schafft nicht nur keine Klarheit für diese Damen, sondern – im Gegenteil – es schafft noch weitere Diskriminierung. Erst gestern im Familienausschuss haben sich CDU/CSU und SPD geweigert, diese zusätzliche Diskriminierung zu verhindern, weil sie den Änderungsanträgen nicht zugestimmt haben.
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Nach wie vor müssen Zwei-Mütter-Familien die Stiefkindadoption durchlaufen, was jetzt noch aufwendiger wird. Dabei handelt es sich gar nicht um eine Stiefkindadoption. Wenn zwei verheiratete bzw. verpartnerte Frauen mit expliziter oder impliziter Zustimmung des biologischen Vaters ein Kind kriegen bzw. ein Kind in ihre Familie aufnehmen, dann geht es um die Anerkennung der Elternschaft und nicht um die Stiefkindadoption. Die Anhörung zu Ihrem Adoptionshilfe-Gesetz hat gezeigt – die Ausschusssitzung gestern auch noch mal –: Der Nachbesserungsbedarf bei Zwei-Mütter-Familien wird von allen gesehen. Aber eine Nachbesserung scheitert immer wieder an der Großen Koalition. – Mir wäre das peinlich.
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Wir Freie Demokraten haben deshalb hier einen Entschließungsantrag vorgelegt, der diese Diskriminierung beenden soll. Die Ehe für alle ist geltendes Recht. Aber die Große Koalition weigert sich seit Jahren, Gleichheit herzustellen und das Abstammungsrecht zu modernisieren. Wir Freie Demokraten und auch viele andere in der Opposition wollen das ändern.
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Mich stimmt es wirklich traurig, wenn Menschen dafür kämpfen müssen, auch vor dem Gesetz die Eltern ihrer Kinder zu sein. Viele von Ihnen, werte Kolleginnen und Kollegen, sind selber Eltern. Versetzen Sie sich einmal in die Lage der betroffenen Mütter. Wenn Sie das getan haben, müssen Sie unserem Entschließungsantrag zustimmen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Daniel Föst. – Nächste Rednerin: für Die Linke Katrin Werner.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir diskutieren heute abschließend über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Adoptionshilfe. Der Entwurf ist ein Schritt in die richtige Richtung, um die Adoptionspraxis an neuen Familienbildern und stärker an den Bedürfnissen der Kinder auszurichten. Einen Rechtsanspruch aller Beteiligten auf eine fachliche Begleitung, die Förderung eines offenen Umgangs und eines Informationsaustausches zwischen Herkunfts- und Adoptionsfamilie sowie das Verbot von unbegleiteten Auslandsadoptionen sind wichtige Punkte.
Eins ist aber jetzt schon klar: Auf die Adoptionsvermittlungsstellen kommt mehr Arbeit zu. – Aber wissen Sie, genau da ist der erste Haken. Wir wissen aus der Studie des Deutschen Jugendinstitutes, dass schon jetzt die Hälfte der Stellen nicht mal die gesetzliche Vorgabe von mindestens zwei Vollzeitfachkräften erfüllen kann. In Ihrem Gesetz fehlt der Ansatz, wie Sie das mit mehr Personal und entsprechenden Geldern abdecken wollen. Steuern Sie doch mal von Anfang an dagegen! Sonst geht es am Ende wieder zulasten von Kindern, von Eltern und von Beschäftigten.
An vielen Stellen ist das Gesetz einfach nicht mutig genug. Etliche Vorschläge von Sachverständigen sind einfach unter den Tisch gefallen. Damit könnte eine viel stärkere Orientierung an Kinderrechten erreicht werden. Die Schaffung einer unabhängigen Beschwerdestelle brächte zumindest eine Verbesserung auch für Familien und Kinder. In unserem Entschließungsantrag haben wir die Vorschläge aufgegriffen.
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Lassen Sie mich auf einen Punkt besonders eingehen. Bei der häufigsten Adoptionsform, der Stiefkindadoption, soll es künftig eine Beratungspflicht der Eltern des Kindes, des annehmenden Elternteils und des Kindes geben – völlig richtig, auch aus Sicht des Kindes. Bis hierhin ist alles okay. Mit der Einführung einer Beratungspflicht bei Stiefkindadoption wird aber ein schwerwiegendes Problem geschaffen. Die Diskriminierung von lesbischen, bisexuellen Frauenpaaren wird durch diese neue Regel verschärft. Bekommen verheiratete oder unverheiratete Frauenpaare ein Kind, gilt nur die gebärende Mutter automatisch als rechtliche Mutter. Die Co-Mutter muss das aufwendige und langwierige Stiefkindadoptionsverfahren durchlaufen. Diese rechtliche Diskriminierung wurde eben nach der Einführung der Ehe für alle nicht abgeschafft.
({1})
Mit dem neuen Gesetz wird dadurch eine weitere Hürde für Frauenpaare eingezogen. Wir haben als Linke einen Änderungsantrag eingebracht – genauso wie die Grünen –, um genau diese Diskriminierung zu verhindern. Und – das wurde auch schon angesprochen – gestern haben die Große Koalition und die AfD im Familienausschuss beide Anträge abgelehnt. Wissen Sie, die rechtliche Diskriminierung von Regenbogenfamilien gehört jetzt endlich abgeschafft.
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Dazu muss, Frau Giffey, die Beratungspflicht für Frauenpaare aus dem vorliegenden Gesetz gestrichen werden, und auch das Abstammungsrecht muss endlich angepasst werden.
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Ich möchte noch mal sagen: Stimmen Sie diesen Änderungsanträgen zu!
Zusammengefasst – ganz einfach –: Das Gesetz geht, ehrlich gesagt, nicht weit genug. Es vernachlässigt völlig die zusätzlichen Kosten und – ganz wichtig – verschärft die Diskriminierung der betroffenen Frauen.
Danke.
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Vielen Dank, Katrin Werner. – Nächste Rednerin: Ulle Schauws für Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Vielen Dank! – Frau Präsidentin! – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muss Ihnen sagen: Ich wurde selten von einem Gesetzesverfahren so enttäuscht wie von diesem. Auf der einen Seite beinhaltet das Gesetz die dringend notwendige Reform des Adoptionsrechts, was dem Wohl der Kinder und der Familien dient; dazu wurde schon viel Richtiges gesagt. Und den Teil des Gesetzes finden wir Grüne begrüßenswert. Aber: Dieses Gesetz betrifft – völlig verfehlt – auch lesbische und bisexuelle Frauenpaare, bei denen ein Kind in die eigene Familie geboren wird. Wenn beide Mütter rechtlich Eltern werden wollen, dann bleibt zurzeit nur die Stiefkindadoption. Damit trifft dieses Gesetz die Regenbogenfamilien hart. Das dient mitnichten dem Kindeswohl.
({0})
Was bedeutet das konkret? Eine Zwei-Mütter-Familie bekommt ein gemeinsames Kind, und das in diese Beziehung hineingeborene Wunschkind kann von der Co-Mutter nur adoptiert werden, nachdem das Paar eine Zwangsberatung zur Adoption hat über sich ergehen lassen. Ich sage Ihnen: Schlimmer geht’s kaum. Für Frauenpaare mit ihren Kindern ist das eine drastische Verschlechterung und verschärft die bestehende Diskriminierung von Regenbogenfamilien weiter. Und das geht nicht!
({1})
Sie von der Union haben sich gestern alle bei dieser Debatte im Ausschuss weggeduckt. Ich sage Ihnen: Es ist wirklich schwer erträglich, mit welch ignoranter Haltung Sie Zwei-Mütter-Familien mit einem Wunschkind wie Familien zweiter Klasse behandeln.
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung der CDU/CSU-Kollegin Wiesmann?
Nein, ich erlaube keine Zwischenfrage.
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– Sie können ja unseren Anträgen zustimmen, und Sie können nachher auch noch etwas dazu sagen.
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Ich sage Ihnen: Wir sind viel von Ihnen gewöhnt. Aber dass Sie in so einem Maße in Familien eingreifen wie jetzt und das den Regenbogenfamilien aufbürden wollen, damit verlieren Sie, finde ich, an Glaubwürdigkeit. Das ist keine fortschrittliche Familienpolitik.
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Das haben auch die Expertinnen und Experten in der Anhörung bestätigt. Eine weitere Diskriminierung von Zwei-Mütter-Familien wurde von einigen sogar als verfassungswidrig bezeichnet. Genau diese Diskriminierung wollen Sie heute beschließen? Ich sage Ihnen: Das ist entwürdigend.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, anstatt Frauenpaaren selbstverständlich die automatische Anerkennung der Elternschaft zu gewähren, könnte sich der Adoptionsprozess jetzt sogar noch weiter verlängern. Und das ist fatal. Es muss doch klar sein, dass Rechte von Kindern in allen Familien gleich gelten müssen. Wir Grüne fordern die Änderung im Abstammungsrecht schon lange. Ich habe 2018 hier für meine Fraktion einen Gesetzentwurf eingebracht, der vor Kurzem abgelehnt wurde. Aber Zwei-Mütter-Familien brauchen die Abschaffung der würdelosen und diskriminierenden Stiefkindadoption. Also machen Sie es endlich!
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Schon in der letzten Wahlperiode hat der Arbeitskreis Abstammungsrecht im BMJV klar empfohlen, die Situation von Co-Müttern in Deutschland gerecht zu ändern. Mittlerweile gab es drei SPD-Justizministerinnen, aber immer noch kein Gesetz. Wissen Sie, wie viele Frauenpaare mit Kindern auf dieses Gesetz warten? Ich appelliere daher an die Justizministerin, jetzt schnell zu handeln. Und an Sie von der Union appelliere ich: Stimmen Sie unserem grünen Änderungsantrag zu und lassen Sie uns die Schikane in diesem Gesetz heute beenden! Sonst können wir nur auf den Bundesrat hoffen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Ulle Schauws. – Da ich jetzt mehrfach darauf hingewiesen worden bin, dass es Zwischenrufe gab, die ich aber akustisch nicht so nachvollziehen konnte, werden wir das im Protokoll klären, was Sie alles reingerufen haben, und dann werde ich mich oder wird sich gegebenenfalls mein Nachfolger anschließend dazu verhalten.
({0})
– Da brauchen Sie nicht lachen. Das ist so. Ich habe es nicht verstanden, aber ich habe gehört, dass es mehrere Zurufe gab. Die kann ich aber nur rügen, wenn ich genau weiß, was gesagt wurde, und deswegen klären wir das jetzt im Protokoll.
Jetzt hat die Kollegin Wiesmann das Wort für eine Kurzintervention.
Vielen herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – Ich habe nur bedauert, dass ich keine Frage stellen durfte. Aber ich sage natürlich auch jetzt gerne kurz etwas zu Ihren Ausführungen, liebe Frau Kollegin Schauws.
Ich bedaure den Ton in der Debatte außerordentlich, weil ich finde, dass Sie mit Formulierungen wie „Wegducken im Ausschuss“ oder „unglaubwürdige Familienpolitik“ – ich meine, es ist Ihr gutes Recht, hier polemisch zu werden – in der Sache einfach an dem Punkt, um den es uns als Unionsfraktion hier geht, vorbeigehen. Es ist nämlich nicht so, dass wir nicht auch für den Abbau und die Beseitigung von Diskriminierungen von gleichgeschlechtlichen Paaren einträten. Das wissen Sie zum Beispiel von mir auch sehr genau. Ich gehöre auch, wie viele meiner Kolleginnen und Kollegen, zu den Befürwortern der Ehe für alle, mit allen Konsequenzen.
Aber in dem Moment, da es um dritte Beteiligte geht, ist es vollkommen legitim und notwendig, auch noch mal nachzudenken. Wenn ein Kind auf diese Weise in eine bereits bestehende gleichgeschlechtliche Familie hineinkommt, dann ist es unter Umständen – das ist auch meine Überlegung in diesem Zusammenhang – aus Sicht genau des Kindeswohls, das Sie ja mit vielen anderen – da sind wir uns oft einig – häufig ins Feld führen, sehr wohl geboten sowie richtig und wichtig, sich als Familie genaue Gedanken darüber zu machen, was das vielleicht doch für das Aufwachsen des Kindes an Schwierigkeiten oder potenziellen Identitätsfragen aufwerfen könnte. Meine Kollegin Frau Dr. Launert hat darauf hingewiesen. Ich nehme für mich in Anspruch, zu dem Schluss zu kommen, dass es genau aus Kindeswohlüberlegungen heraus sehr sinnvoll sein kann. Das sollte man nicht hier als Zwangsberatung abqualifizieren. An vielen anderen Stellen fordern Sie Beratung von Familien, auch zu Recht; hier wird sie schlechtgemacht. Nein, es geht darum, mit aller Professionalität, die wir da in unserer Gesellschaft zur Verfügung haben, darauf hinzuweisen, was für Dinge sich ergeben können, und es dann gut zu begleiten.
Wenn Sie nun auch noch sagen, das müsste alles auf einer anderen gesetzlichen Grundlage geregelt werden, etwa im Abstammungsrecht, so ist das ein legitimer Einwand. Den kann man haben, und darüber werden wir dann auch gerne sprechen. Aber es geht nicht an, an dieser Stelle abzuleugnen, dass in dem Moment, wo sich eine solche Familie gründet und ein Kind in diese Situation hineinkommt, es eine verantwortliche Sache der Eltern ist, sich auch Rat und präventiv Unterstützung zu holen, um eine solche Entscheidung verantwortlich fällen zu können und auch zu wissen, was auf ihre Familie dann zukommt. Das kann man hier nicht als „Sich-Wegducken“ abqualifizieren, als Versuch, Familien in zwei Klassen aufzuteilen oder sonst was. Das ist unsere Auffassung von dem, wie es möglich ist, dem Kindeswohl gerecht zu werden.
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Vielen Dank, Frau Wiesmann. – Frau Schauws, Sie wollen antworten.
Vielen Dank, dass Sie auch den Ton angesprochen haben. Ich glaube, das ist wichtig. Auch möchte ich Sie persönlich nicht angreifen, weil wir dazu im Austausch stehen. Aber in der Sache muss ich Ihnen sagen: Ich verstehe Ihre Argumentation überhaupt nicht.
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Erstens gilt das, was Sie sagen, für heterosexuelle Paare in dem Maße nicht. Auch Sie, Herr Patzelt, verstehe ich einfach nicht: Sie machen einen Unterschied zwischen den Geschlechtern der Paare an dieser Stelle.
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Wenn in eine Hetero-Familie ein Kind geboren wird, wird genau das ja nicht gemacht.
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– Ja, Herr Patzelt, Entschuldigung! Ich bin ja dran. – Gesetzt den Fall, Sie wollen mit Ihrer Frau ein Kind und sind nicht zeugungsfähig, was ja mal sein kann. Dann werden Ihnen genau diese Dinge nicht so wie einem lesbischen Paar auferlegt. Genau das ist der Unterschied.
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Und wenn Sie jetzt noch sagen: „Wenn wir im Abstammungsrecht die Sachen regeln, trifft auf einmal diese Beratung für lesbische Paare nicht mehr zu“, dann, finde ich, machen Sie eine unglaubwürdige Linie auf. Das ist doch überhaupt nicht logisch. Warum lassen Sie denn nicht zu, dass dieses Gesetz durch unseren Änderungsantrag oder den Entschließungsantrag der FDP so geändert wird, dass sich genau diese bestehenden Ehen, diese bestehenden Herkunftsfamilien, nicht an dieser Zwangsberatung beteiligen müssen? Warum müssen sie das denn machen? Das mussten Sie mit Ihrem Mann, mit Ihren Kindern auch nicht. Sie machen genau Folgendes: Sie regieren in Familien hinein und sagen ihnen: Sie müssen sich noch mal Gedanken machen, weil Sie zwei Frauen sind. – Das ist Diskriminierung pur, und Sie können das an dieser Stelle heute und hier ändern.
Ich sage das noch mal in aller Freundlichkeit: Es gibt wirklich sehr, sehr viele Paare außerhalb dieses Hauses, die auf dieses Gesetz, auf ein geändertes Abstammungsrecht und einen Abbau dieser Diskriminierung warten. Das muss enden!
({4})
Vielen Dank.
Ich darf Sie noch mal darauf hinweisen oder bitten, dass Sie Ihre Zwischenrufe etwas mäßigen.
({0})
– Das werden wir im Protokoll noch mal nachvollziehen. Aber ich wurde jetzt wiederholt von Kollegen gebeten, Sie darauf hinzuweisen, sich zurückzuhalten. Wenn Sie anderen Kolleginnen und Kollegen in einer Debatte intellektuelle Fähigkeiten absprechen, dann bitte ich mal – –
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– Sie haben es die ganze Zeit ganz offensichtlich gemacht, und das werde ich durch das Protokoll überprüfen lassen, und dann werde ich auch dementsprechende Maßnahmen ergreifen.
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Die nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Susann Rüthrich.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kinder haben das Recht auf ihre Familie. Wir haben das zu gewährleisten, gerade auch dann, wenn es schwierig ist. Kindern ist am meisten geholfen, wenn sie in sicherer, liebevoller und verlässlicher Umgebung aufwachsen können. Wenn das, aus welchen Gründen auch immer, in der Familie nicht sein kann, in die sie geboren wurden, dann kann die Aufnahme am besten sein in eine neue Familie oder durch einen zweiten Elternteil auf dem Weg der Adoption.
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Eine Adoption ist aber kein Selbstläufer; denn es gibt ja gute Gründe, die oft alles andere als angenehm sind. Deshalb ist es gut, dass mit diesem – –
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– Okay, können wir kurz die Redezeit anhalten? Es ist wirklich schwierig, in einem Raum zu reden, wo niemand mehr zuhören kann. – Also: Deshalb ist es gut, dass mit diesem Gesetz sowohl die abgebenden wie die annehmenden Familien vor, während und nach der Adoption beraten und begleitet werden können.
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Für die psychische Gesundheit der Kinder ist es dabei wichtig, offen mit der Adoption umzugehen – von Anfang an und altersangemessen. Diesen Weg zum Wohle der Kinder zu gehen, das wird mithilfe dieses Gesetzes nun aktiv unterstützt. Gut und wichtig ist es auch, dass nur noch begleitete und damit am Kindeswohl orientierte Auslandsadoptionen möglich sind.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in der Regel ist das Ergebnis von Adoption, dass das Kind wieder zwei rechtliche Eltern hat. Es gibt aber Kinder, die in bereits bestehende Familien mit zwei Eltern hineingeboren werden – und wo trotzdem ein Elternteil zur Adoption gezwungen ist, nämlich da, wo eben lesbische oder bisexuelle Frauen gemeinsam Eltern werden. In jeder heterosexuellen Ehe ist der Gatte automatisch rechtliches Elternteil, und das ist deswegen so, damit das Kind abgesichert ist. Das ist eine Regelung, die im Sinne des Kindes sinnvoll und völlig unumstritten ist. Auch eine Vaterschaftsanerkennung geht per Unterschrift unter „Ich kann das bezeugen“. Das geht ganz einfach, und keiner fragt, ob es sich um einen biologischen Elternteil handelt.
Bei den weiblichen Paaren soll nun genau das ein Riesenproblem sein? Es ist mir in keiner Weise schlüssig, warum es im Sinne des Kindes sein soll, dass es, gleichwohl es in eine intakte Familie geboren wurde, auf seinen zweiten rechtlichen Elternteil warten muss – mit allen bekannten Risiken.
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Im Adoptionsverfahren wird die Eignung der Elternschaft geprüft. Das müssen sich Zwei-Mütter-Familien wirklich nicht gefallen lassen;
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denn es ist eine eindeutige Ungleichbehandlung von gleichgeschlechtlichen im Vergleich zu heterosexuellen Familien. Die Beratung bei der Adoption ist ja richtig, damit alle, also die Abgebenden wie die Annehmenden wie auch altersangemessen die Kinder, eine vollumfassend informierte Entscheidung treffen können. Aber für die Zwei-Mütter-Familien ist eine solche Beratung einfach nur Quatsch.
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Uns als SPD und auch mir persönlich tut es weh, wenn wir diesen Familien den Weg jetzt länger machen, als er eh schon ist.
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Mehr noch aber tut es den Familien weh; die sind nämlich die Betroffenen. Mit dem Koalitionspartner CDU/CSU war es leider nicht möglich, diese Paare von der Beratungspflicht auszunehmen. Wenn das Gesetz so nicht durch den Bundesrat kommt, dann haben alle das Nachsehen; denn dann kann das Gesetz nicht im Oktober in Kraft treten. Dann wissen hoffentlich alle Adoptionswilligen, bei wem sie sich bedanken können.
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Der Ball liegt jetzt bei unseren Rechtspolitikerinnen und Rechtspolitikern. Denn dass diese Familien mit zwei Müttern überhaupt auf den Weg der Adoption gehen müssen, das ist ja das Grundproblem. Und das muss endlich über das Abstammungsrecht abgeschafft werden.
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Wir in der SPD werden alles dafür tun, zum Erfolg zu kommen, und zwar bevor uns das Bundesverfassungsgericht wieder dazu zwingt. Da unser Gesetz außer in diesem Punkt ein großer Fortschritt und wirklich gut ist, stimmen wir selbstverständlich zu.
Alles Gute allen Familien!
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Vielen Dank, Susann Rüthrich. – Nächste Rednerin: Silvia Breher für die CDU/CSU-Fraktion. Frau Breher, bitte.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mir gewünscht, dass wir heute ein bisschen mehr über die positiven Dinge in diesem Gesetz sprechen, über die wesentlichen Inhalte, über die wir uns im Grunde einig sind – bis auf diesen einen Punkt der Stiefkindadoption, der aber jetzt so einen breiten Raum eingenommen hat. Ich werde dazu gleich noch ein bisschen was sagen.
Zunächst einmal möchten wir mit diesem Gesetz doch eines fördern: das Gelingen der Adoption, und zwar aus Sicht des Kindes, damit es dem adoptierten Kind möglich wird, gut aufzuwachsen und in seiner neuen Familie zu einem gesunden und frohen Leben zu finden.
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Dazu haben wir die Beratungspflichten in dieses Gesetz aufgenommen, ein Recht auf Begleitung auch über die Adoption hinaus, ein Recht auf unterstützende Beratung für die abgebenden Eltern, dass sie wissen: Was können wir statt Adoption sonst noch machen? All dies sind ganz wichtige Punkte in diesem Gesetz. Ich freue mich, dass es gelungen ist, dieses entsprechend umzusetzen.
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Einen Punkt möchte ich hier noch einmal ganz besonders hervorheben, und zwar den offenen Umgang mit der Adoption. Es ist doch so, dass Eltern nicht wissen: Sage ich es meinem adoptierten Kind, und wie sage ich es? Wie gehe ich um mit dem Thema Adoption? Deswegen ist es gut und richtig, dass die Adoptionsvermittlungsstellen jetzt angehalten werden, zu beraten, zu begleiten und zu erklären, was im Sinne des Kindes an welcher Position im Leben mitgeteilt werden kann: ein offener Umgang mit der Herkunfts- und am Ende auch mit der Adoptionsfamilie. Wir fördern auch den Kontakt zwischen Herkunfts- und Adoptionsfamilie. Überall dort werden die Familien begleitet und unterstützt.
Was für uns ganz wichtig ist, ist, dass wir die unbegleitete Auslandsadoption jetzt endlich untersagen. Wir gehen gegen den Kinderhandel vor, gegen das Kaufen eines Kindes im Ausland ohne jegliche Kontrolle und Begleitung.
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Zukünftig werden diese Adoptionen von einer Fachstelle nach unseren Standards beraten und begleitet, damit auch die Kinder aus dem Ausland mit ihren Familien den gleichen Schutz erfahren wie die Kinder in Deutschland. Das ist für mich ein ganz, ganz wichtiger positiver Faktor in diesem Gesetz.
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Herr Pasemann, da Sie sich hier ja immer hinstellen und sagen, was alles nicht toll und was alles bescheiden an unserem Gesetz ist: Ganz ehrlich: Ich kenne einen in dieser Debatte, von dem habe ich nicht einen einzigen konstruktiven Vorschlag gehört, und das sind Sie.
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Sie haben keinen Änderungsvorschlag vorgelegt. Aber eines habe ich von Ihnen gehört: im Ausschuss gestern die Bemerkung, wir könnten die Auslandsadoptionen doch begrenzen. Was für ein grandioser Vorschlag! Vielleicht würden Sie sich mal mit dem Inhalt des Gesetzes beschäftigen,
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mit den positiven Bildern und mit den Vorteilen, die wir für die Kinder und Familien mit diesem Gesetz auf den Weg bringen.
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Ich möchte jetzt doch noch mal was zu den Anträgen sagen: Ja, die Beratungspflicht gilt zukünftig auch für die Stiefkindadoptionen. Alle Sachverständigen haben gesagt, dass es sinnvoll ist, die Beratungspflicht auf Stiefkindadoptionen auszuweiten. Sie haben aber sehr wohl auch auf diesen Punkt hingewiesen, der in Ihren Anträgen vorhanden ist. Auch wir – und das wissen Sie – haben über diesen Punkt debattiert und intensiv gesprochen. Wir kennen die Situation der lesbischen Elternpaare, und wenn wir ganz ehrlich sind – die Ministerin hat es vorhin schon gesagt –, dann ist das Ergebnis Ihrer Anträge nur Make-up in dieser Diskussion. Sie beendet nämlich nicht die Situation.
Es ist doch nicht die Frage, ob bei Stiefkindadoptionen beraten wird oder nicht; es ist doch eine Frage des Abstammungsrechtes, und ob lesbische Elternpaare am Ende überhaupt eine Stiefkindadoption durchführen müssen. Diese Diskussion gehört nicht in dieses Gesetz.
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Diese Diskussion gehört ins Abstammungsrecht, und wir werden diese Diskussion im Rechtsausschuss weiterführen und dort intensiv diskutieren.
Deshalb: Abgesehen von dieser Diskussion ist es ein gutes Gesetz, und ich bitte um Ihre Zustimmung.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Die letzte Rednerin für die CDU/CSU-Fraktion ist die Kollegin Sylvia Pantel.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bei aller politischen Unterschiedlichkeit sind wir doch bemüht, das Beste für unsere Familien und gerade eben für unsere Kinder gesetzlich zu regeln. Unsere Herangehensweise ist unterschiedlich; aber das Kindeswohl ist das Maß unseres Handelns und steht im Mittelpunkt unserer Gesetzgebung. Für uns ist Beratung nicht würdelos, und auch heterogene Paare werden beraten.
2018 – Frau Ministerin hatte es schon gesagt – wurden 3 733 Kinder adoptiert; davon waren es bei 176 Kindern Auslandsadoptionen. Nicht jeder familiäre Kontext, in den ein Kind hineingeboren wird, ist für das Kind gesund. Es ist notwendig, dass die abgebenden Eltern umfassend über mögliche Hilfe- und Unterstützungsmaßnahmen im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe informiert sind, damit sie in Kenntnis all ihrer Möglichkeiten für sich entscheiden können, ob die Freigabe ihres Kindes zur Adoption der beste Weg für das Kind ist oder ob sie sich mit den entsprechenden Hilfe- und Unterstützungsangeboten zutrauen, für ihr Kind doch selber zu sorgen.
Bei jedem Menschen besteht das Bedürfnis, etwas über seine Wurzeln und seine Identität zu erfahren; das Wissen um die eigene Herkunft ist für viele adoptierte Kinder enorm wichtig. Deshalb wird mit dem Gesetz ein offener und selbstverständlicher Umgang mit der Adoption gefördert. Die Adoptionsvermittlungsstellen sollen die Adoptiveltern dahin gehend beraten und ermutigen, dass sie das Kind von Anfang an altersentsprechend über die Tatsache der Adoption aufklären. Deshalb soll es vor und auch nach der Adoption Beratungsangebote geben.
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Die Entscheidung, ein Kind zu adoptieren, aber besonders der Entschluss der leiblichen Eltern, ein Kind zur Adoption freizugeben, ist eine so tiefgreifende Entscheidung, die das Leben aller Betroffenen lebenslang bindet und auch bestehende Familienstrukturen wie Oma, Opa, Tante, Onkel, Cousin und Cousine wirklich maßgebend verändert.
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Deshalb ist es wichtig, dass die Beteiligten auf alle Konsequenzen hingewiesen werden und eine gute Beratung und Begleitung erfahren.
Hier setzt das Adoptionshilfe-Gesetz an. Weil den Adoptionsvermittlungsstellen eine tragende Rolle zukommt, müssen ihre Strukturen gestärkt werden. Es wird ein Aufgabenkatalog festgelegt und die Kooperation zwischen den verschiedenen Fachstellen wie zum Beispiel der Schwangerschaftsberatung oder der Erziehungsberatung ausgebaut.
Um auch die Kinder, die aus dem Ausland adoptiert werden sollen, zu schützen, werden unbegleitete Auslandsadoptionen grundsätzlich untersagt. Es soll ein verpflichtendes Anerkennungsverfahren für Adoptionen aus dem Ausland eingeführt werden. Damit schützen wir die Kinder und wollen verhindern, dass sich eine Art Markt entwickelt. So werden die Adoptionsfamilien auf die besondere Herausforderung einer Auslandsadoption gut vorbereitet.
Mit diesem Gesetz sollen die an der Adoption beteiligten leiblichen Eltern, die Adoptiveltern und vor allem die Kinder gestärkt und ein gutes Gelingen der Adoption unterstützt werden.
Frau Kollegin, kommen Sie zum Ende.
Deshalb ist das Gesetz ein gutes Gesetz. Wir haben immer das Wohl des Kindes als Allererstes und ganz oben im Blick.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Wir reden heute hier über das Wasserhaushaltsgesetz, also über Wasser. Und wenn es um Wasser geht, wird es meistens emotional. Ich will mal ganz allgemein anfangen: Wasser ist für mich nicht irgendeine Ware; der Zugang zu sauberem Wasser ist für mich ein Menschenrecht. Dass wir hier in Deutschland den Hahn aufdrehen und sauberes Wasser haben, ist keinesfalls eine Selbstverständlichkeit. In vielen Ländern ist das nicht der Fall. Deswegen müssen wir alles dafür tun, diesen Zustand zu erhalten.
Mit der Änderung des Wasserhaushaltsgesetzes, die wir vorhaben, ist heute ein guter Tag für sauberes Wasser in Deutschland. Deswegen möchte ich damit beginnen, der Ministerin und dem Ministerium noch mal für den Entwurf und die gute Begleitung zu danken. Ich möchte Frau Damerow als Berichterstatterin der Union dafür danken, dass wir immer konstruktive und in der Sache zielorientierte Gespräche hatten und so weit gekommen sind, dass wir die Änderung des Wasserhaushaltsgesetzes heute beschließen können.
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Es geht – das haben wir hier schon häufig diskutiert – um Nitrat im Wasser, und es geht um Düngemittel. Eine moderne Landwirtschaft braucht Düngemittel – das wissen wir –; sonst haben wir keine entsprechenden Erträge. Ich will das an der Stelle noch mal sagen: Es ist uns auch sehr wichtig, dass wir eine funktionierende Landwirtschaft in Deutschland haben. Nitrat tritt aber insbesondere da auf, wo Tierhaltung in größerem Maße betrieben wird, wo Gülle entsteht und zu wenig Fläche vorhanden ist, um Gülle auszubringen. Deswegen kommt es immer wieder dazu, dass Nitrat als löslicher Bestandteil der Düngemittel in den Boden gelangt, dort die Schichten durchwandert und je nach Bodenbeschaffenheit letzten Endes, manchmal erst nach vielen Jahren, ins Grundwasser gelangt.
Das Grundwasser ist die Quelle für unser Trinkwasser, und mittlerweile, muss man sagen, haben wir immer mehr Probleme, Nitrat aus dem Trinkwasser zu entfernen. Da wird momentan schon ein erheblicher Aufwand betrieben. Manchmal kann man es nur mit sauberem Wasser verdünnen, um die Grenzwerte einzuhalten. Nitrat ist aber nicht ganz ungefährlich, insbesondere für Säuglinge. Insofern müssen wir das im Blick haben.
Auch die Gewässer sind von Nitrat betroffen. Wir haben diffuse Eintragsquellen aus der Landwirtschaft. Es wird also aus der Landwirtschaft auch Nitrat in unsere Gewässer eingetragen: in die Flüsse, in die Seen, in die Talsperren usw. Auch hieraus gewinnen wir unser Trinkwasser; immerhin 30 Prozent werden als Filtrat aus Flüssen, Seen und Talsperren gewonnen. Es geht auch darum, den Anteil von Nitrat in den Gewässern zu reduzieren.
Das ist ein Thema, das uns, gerade im Umweltausschuss, schon seit vielen Jahren begleitet. Deutschland ist verklagt worden; das muss man an der Stelle auch sagen. Wir haben die Nitratrichtlinie der EU nicht so umgesetzt, dass man damit einverstanden war. Deutschland drohen auch Strafzahlungen in diesem Bereich. Deswegen gilt es, hier etwas zu tun.
Natürlich muss man auch sagen: Nicht nur die Landwirtschaft ist schuld, sondern es liegt auch an der Art und Weise, wie Landwirtschaft europäisch gefördert wird. Darüber müssen wir reden. Wir müssen auch moderne Verfahren an den Start bringen, die die Düngung gegebenenfalls besser regulieren. Aber jetzt gilt es, wirklich zu handeln und die Strafzahlungen abzuwenden. Darum geht es heute auch in diesem Gesetzentwurf als Teil eines Pakets zum Thema „Nitrat und Düngemittel“.
Wir hatten am Montag eine Anhörung mit Experten, die eine Lösung aufgezeigt haben, nämlich die Lösung, die jetzt auch im Wasserhaushaltsgesetz beschlossen werden soll. Sie besteht darin, dass man zwischen den landwirtschaftlichen Nutzflächen und den Gewässern einen 5 Meter breiten Streifen anlegt, der sozusagen den Eintrag aus den landwirtschaftlichen Flächen in die Flüsse verhindert. Da geht es nicht nur um Nitrat; auch Phosphat, Pflanzenschutzmittel und Sedimente sind dort umfasst.
Wir haben am Montag von den Experten noch mal ganz deutlich gehört, dass es hier nicht um eine Kleinigkeit geht. Es geht darum, dass wir das, was vielerorts schon umgesetzt wird – es gibt diese Randstreifen schon in einigen Bundesländern; teilweise gibt es auch Fördermittel dafür –, in Deutschland jetzt verpflichtend machen. Die Erfahrungen, die wir damit gemacht haben, sind sehr positiv. Ich will das noch mal ganz deutlich sagen; denn es geht hier wirklich nicht um eine Kleinigkeit. Der Eintrag des Nitrats, das normalerweise aus den landwirtschaftlichen Flächen in die Gewässer gelangt, wird dadurch um 50 Prozent reduziert. Der Nitrateintrag in die Gewässer wird also quasi halbiert. Bei den Pflanzenschutzmitteln sind es sogar 60 Prozent, und bei den Sedimenten sind es dadurch, dass der zu erzeugende Streifen dauerhaft begrünt wird, tatsächlich 80 Prozent, die man zurückhalten kann. Es geht hier also um eine deutliche Veränderung, um eine deutliche Verbesserung in den Gewässern, und deswegen bin ich sehr froh, dass wir diese Änderung heute beschließen können.
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Dazu kommt, dass es weitere Stressfaktoren für unsere Gewässer gibt. Das haben Sie in den letzten Jahren alle mitbekommen: Wir hatten quasi den dritten heißen und trockenen Sommer in Folge.
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Das heißt, die Gewässer sind auch durch die Temperaturen besonders gestresst. Daher ist es ganz wichtig, dass wir auf diesen Grünstreifen gegebenenfalls auch Verbuschungen haben, sodass ein Kühleffekt für die Gewässer eintritt.
Ich glaube, dass wir heute eine ganz wichtige Sache entscheiden können. Weil ich weiß, dass die Opposition in dem Bereich noch Bedenken hatte, möchte ich an dieser Stelle auch noch mal appellieren, diesem Gesetzentwurf zuzustimmen.
Im Grunde genommen kann man eigentlich nichts Negatives finden. Man kann natürlich mehr fordern und sagen: „Ein breiterer Grünstreifen wäre vielleicht besser als die 5 Meter“; aber wir wissen, dass die 5 Meter einen enormen Effekt haben. Wir wissen, dass Strafzahlungen drohen. Deswegen wäre es an dieser Stelle auch wichtig, jetzt wirklich zu handeln. Und wir wissen um die vielen positiven Effekte dieses Grünstreifens. Deswegen noch mal ein Appell heute an alle: Stimmen Sie zu! Wir werden das auf alle Fälle tun.
In diesem Sinne: vielen Dank für Ihr Interesse.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Der nächste Redner ist für die Fraktion der AfD der Kollege Karsten Hilse.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Landsleute! Vor allem: Liebe Landwirte! Die heute zur Debatte stehende Neufassung des Wasserhaushaltsgesetzes soll den Nitrateintrag in Gewässer durch die Landwirtschaft weiter reduzieren. Landwirte sollen verpflichtet werden, entlang von Gewässern einen 5 Meter breiten Grünstreifen anzulegen und zu unterhalten. Ob das funktioniert und damit der Natur hilft, ist nicht erwiesen.
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Auf jeden Fall werden die Landwirte de facto enteignet, da ihr Grund und Boden natürlich weniger Ertrag abwirft. Besonders hart trifft es hier kleine Winzerbetriebe in unseren Flusstälern. Der Begriff „Gewässer“ bleibt im vorliegenden Entwurf zudem unbestimmt, was Willkür Tür und Tor öffnet.
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Seit den frühen 80er-Jahren ist Nitrat im Grundwasser ein Thema, durchaus zu Recht – Sie hatten es erwähnt –: Stark überhöhte Nitratwerte im Trinkwasser, das hierzulande sehr häufig aus Grundwasser gewonnen wird, stellen für Säuglinge eine Gefahr dar. Zu viel Nitrat in Gewässern begünstigt Algenbildung. – Ein Grund für Nitrateintrag ins Grundwasser war und ist die Landwirtschaft, wohlgemerkt: ein Grund, nicht der alleinige Grund.
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Nitrat ist für Pflanzen lebensnotwendig. Aber auch hier gilt nach Paracelsus: Allein die Dosis macht’s, dass ein Ding kein Gift sei.
Seit den 80er-Jahren hat sich in der Landwirtschaft viel getan. Natürlich sind wir nicht im Nitratparadies; aber unter Mithilfe der Landwirte wurde viel erreicht. Doch dann kam man im Jahr 1991 in der damaligen EWG überein, dass man ein Problem, das sich perfekt regional lösen lässt, auch zentralistisch angehen könnte. Gedacht, getan: die Geburtsstunde der europäischen Nitratrichtlinie, übrigens mit freundlicher Genehmigung der damaligen Regierung unter Helmut Kohl, dem Ziehvater unserer allseits geliebten Kanzlerin.
Die Verurteilung Deutschlands durch den EuGH, mit dem dieses Gesetz begründet wird, haben wir dennoch nicht der EU, sondern einzig und allein der Bundesregierung zu verdanken. Die Nitratrichtlinie fordert, dass von der Landwirtschaft beeinflusste und repräsentative Messstellen auszuwählen sind, was auch vernünftig ist. Die Bundesregierung stattdessen meldet seit Jahren ausschließlich Messstellen, die besonders belastet sind, darunter auch solche, die in Wohn- und Industriegebieten liegen und mit der Landwirtschaft nichts – aber auch gar nichts – zu tun haben.
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Die EU-Kommission hat dieses Vorgehen mehrfach gerügt und Änderungen angemahnt.
Bei den Messstellen für Stickoxide sind Ihre Lügen, dass es einen monokausalen Zusammenhang zwischen erhöhten Stickstoffwerten und dem Fahrzeugverkehr gebe, aufgeflogen. Bei den Nitratmessungen wird der gleiche Betrug vorgenommen: nicht repräsentative Messstellen und die Herstellung eines monokausalen Zusammenhangs mit einer Zielgruppe. Bei Stickoxiden sind es die bösen Dieselfahrer, und beim Nitrat sind es die Landwirte, die hier zu Buhmännern gemacht werden.
Landwirte schützen die Umwelt von Natur aus, seit es die Landwirtschaft gibt und seit Jahrtausenden, lange bevor sich Ideologen auf die Fahne geschrieben haben, dass Landwirte quasi Umweltzerstörer seien. Und natürlich kommen die schrillsten Vorwürfe genau aus den Reihen der Neostalinisten, die bei der Zerstörung der Umwelt durch ihre geliebten sogenannten erneuerbaren Energien eher abwinken.
Der Urteilsspruch des EuGH und damit auch das neue Wasserhaushaltsgesetz wie auch die neue Düngeverordnung, gegen die wir übrigens eine Klage anstreben, sind das direkte Ergebnis der falschen Messstellenauswahl der Bundesregierung und haben nichts mit Aussagen zur tatsächlichen und repräsentativen Nitratbelastung zu tun. Weit über 90 Prozent des deutschen Grundwassers sind völlig in Ordnung.
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Das EuGH-Urteil fordert auch nicht die hier zur Debatte stehenden Begrünungsmaßnahmen entlang von Gewässern. Die EU dient der Bundesregierung wieder einmal als Legitimierung für absurde Regelungsorgien.
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Für ein Gesetz, das bestenfalls eine Scheinlösung darstellt, die Landwirte de facto enteignet und die Fehler der Bundesregierungen vertuschen soll, steht meine Fraktion nicht zur Verfügung.
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Die AfD wird die vorliegende Abänderung zum Wasserhaushaltsgesetz ablehnen.
Vielen Dank – auch für Ihre Aufmerksamkeit.
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Die nächste Rednerin hat das Wort, und zwar für die CDU/CSU-Fraktion die Kollegin Astrid Damerow. Bitte schön.
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Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Gesetzentwurf zur Änderung des Wasserhaushaltsgesetzes sieht vor, einen 5 Meter breiten Gewässerrandstreifen mit verpflichtender Begrünung an landwirtschaftlichen Flächen mit Hangneigung einzuführen. Diese Pufferzone soll verhindern, dass infolge der Aufbringung von Düngemitteln Nährstoffe in Gewässer abgeschwemmt werden.
Anlass der Änderung ist ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom Juni 2018, in dem festgestellt wurde, dass Deutschland gegen seine Verpflichtung zur vollständigen Umsetzung der Nitratrichtlinie verstoßen hat. Demnach seien keine weiteren Maßnahmen zum Gewässerschutz durch Nitratverunreinigung ergriffen worden; dazu gehören insbesondere Maßnahmen an Flächen mit Hangneigung – so der EuGH.
Ursprünglich forderte die EU-Kommission für Flächen ab 15 Prozent Hangneigung ein vollständiges Düngeverbot. Davon wären übrigens insbesondere der Weinbau und viele unserer Mittelgebirgsregionen betroffen gewesen. Im Zuge der Verhandlungen zur Düngeverordnung hat die Bundesregierung der Kommission daraufhin vorgeschlagen, ab einer Hangneigung von 5 Prozent einen begrünten Gewässerrandstreifen von 5 Metern einführen zu wollen. Dies soll im Wasserhaushaltsgesetz – das tun wir heute – verankert werden.
Die Kommission hat allerdings deutlich gemacht, dass das gegen Deutschland eingeleitete Vertragsverletzungsverfahren nur dann ausgesetzt werde, wenn die Änderungen im Wasserhaushaltsgesetz und der Düngeverordnung unverzüglich umgesetzt würden. Die Einführung von Gewässerrandstreifen im Wasserhaushaltsgesetz bundesseits ist also wesentlicher Teil des Düngekompromisses, den wir mühevoll mit der EU-Kommission ausgehandelt haben.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir verfolgen mit dieser Maßnahme – der Kollege Thews hat es dargestellt – natürlich das Ziel, die Qualität unserer Gewässer weiter zu verbessern, aber natürlich auch die auf uns zukommenden Kosten eines möglichen Vertragsverletzungsverfahrens abzuwenden.
Die am Montag dieser Woche durchgeführte Sachverständigenanhörung im Umweltausschuss hat jedoch deutlich gemacht, dass es in der Auslegung des Gesetzes Raum für Missverständnisse gibt. Als zuständige Berichterstatter der Koalitionsfraktionen haben mein Kollege Michael Thews – vielen Dank dafür – und ich daher eine Protokollerklärung abgegeben, die möglichen Missverständnissen bei der Interpretation des Gesetzes vorbeugen soll.
Die Regelung des § 38a ermöglicht auch künftig eine landwirtschaftliche Nutzung, beispielsweise für Beweidung und den Anbau von Grünfutter. Auch sieht die neue Regelung lediglich eine verpflichtende Begrünung, aber keine – ich betone: keine – Beschränkung auf bestimmte Kulturen vor. Die Flächen können als ökologische Vorrangflächen im Rahmen des Screening angemeldet werden. Ebenso können die Randstreifen mit Maßnahmen aus Agrarumweltprogrammen kombiniert werden, sofern eine ökologische Aufwertung, beispielsweise zum Insektenschutz, gegeben ist.
Die Landwirte hatten außerdem die Befürchtung, dass auch Kleingewässer von der Regelung betroffen seien. Deshalb haben wir nochmals klargestellt, dass nach § 2 Absatz 2 Satz 1 des Wasserhaushaltsgesetzes die Länder Kleingewässer von wasserwirtschaftlich untergeordneter Bedeutung, wie beispielsweise Entwässerungsgräben, von der Regelung ausnehmen können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte zum Schluss noch einmal zwei Punkte besonders hervorheben: Ja, wir muten mit diesem Gesetz unseren Landwirten viel zu. Mit dieser Gesetzesänderung greifen wir auch in Eigentumsrechte ein.
({1})
Gerade deshalb ist es die Pflicht des Bundes und der Länder, dass wir unsere Landwirtschaft bei den steigenden Anforderungen unterstützen, im Übrigen auch und vor allem durch finanzielle Unterstützung.
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Außerdem, liebe Kolleginnen und Kollegen, wissen wir alle, dass viele unserer Maßnahmen zum Schutz der Umwelt nur mittel- oder langfristig zum gewünschten Erfolg führen. Es ist deshalb wichtig, dass wir nicht ständig nach neuen Maßnahmen rufen
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oder neue Maßnahmen einführen,
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sondern die Geduld aufbringen, die Wirkungen dessen, was wir fordern und was wir beschließen, abzuwarten,
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diese Prozesse wissenschaftlich begleiten und – ganz wichtig – die Ergebnisse dann auch nachvollziehbar, transparent darstellen.
Abschließend – ich habe noch eine Minute – möchte ich ganz persönlich noch etwas sagen. Ich bin als Umweltpolitikerin, die übrigens inmitten der Landwirtschaft lebt, zutiefst davon überzeugt, dass wir gelingenden Umweltschutz nur hinbekommen werden, wenn wir das partnerschaftlich machen. Alleine durch Ordnungsrecht werden wir nie Erfolg haben. Und wir alle wissen: Die Landwirte müssen – gerade im Bereich des Wassers – unsere Partner sein. Die Landwirte, die übrigens auch sauberes Wasser wollen, sind unsere Partner.
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Deshalb halte ich es für unverzichtbar, dass wir gerade nach den letzten Wochen und Monaten unseren Landwirten die Hand ausstrecken. Wir sind ihre Partner, wir sind ihre Freunde, wir brauchen sie. Denn am Ende des Tages – ich weiß, der Begriff ist ein wenig abgegriffen, aber er gilt nach wie vor – wollen wir nicht vergessen: Unsere Landwirtschaft macht uns satt.
Danke schön.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Damerow. – Der nächste Redner kommt aus der FDP-Fraktion und ist der Kollege Dr. Gero Hocker – mit frischem Wasser.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, niemand in diesem Hause würde abstreiten, dass sauberes Wasser Lebensgrundlage für uns alle ist.
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Aber darüber, meine Damen und Herren, wer in welchem Umfang Verantwortung dafür trägt, dass wir Auffälligkeiten an den Messstellen haben, sind wir uns dann doch schon überhaupt nicht mehr einig. Meine Damen und Herren, die Einfachheit und die Pauschalität, mit der Sie wiederum unsere Landwirtschaft an den Pranger stellen, lassen wir Ihnen nicht durchgehen.
({1})
Selbstverständlich hat die Landwirtschaft eine große Verantwortung. Aber Sie machen es sich zu einfach, wenn Sie pauschal eine ganze Berufsgruppe diskreditieren, meine Damen und Herren.
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Man kann ja sehr transparent und sehr offen nachlesen, zum Beispiel in den Lageberichten über die Beseitigung kommunaler Abwässer, die die Bundesländer herausgeben, dass natürlich, auch wenn Abwässer gesäubert, gereinigt wurden, Kläranlagen durchlaufen haben, immer noch erhebliche Nährstofffrachten in unsere Oberflächengewässer gelangen. Deswegen sage ich Ihnen eines: Sie machen es sich zu einfach, Frau Ministerin, wenn Sie diese Fakten einfach ausblenden und meinen, den Weg des geringsten Widerstandes gehen zu können,
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und die Verantwortung explizit denjenigen zuschieben, von denen Sie meinen, dass sie am wenigsten Widerstand leisten. Das ist unerträglich, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Werte Kolleginnen und Kollegen, am 27. März hat der Bundesrat eine Düngeverordnung beschlossen, die ja schon ein spezifisches Düngeverbot zum Beispiel in Hanglagen vorsieht. Und Sie fordern in Ihrem Entwurf zusätzlich ein pauschales, komplettes Bewirtschaftungsgebot eines Gewässerrandstreifens von 5 Metern.
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Ich sage Ihnen mal, wozu das führt: Bei mir in Niedersachsen, in Ostfriesland, sind die Flächen manchmal so schmal und eingerahmt von Gewässern, dass, wenn ich an jeder Seite 5 Meter Gewässerrandstreifen abschneide, dort nicht gewirtschaftet werden kann, dass da vielleicht nur noch die Hälfte der Fläche überbleibt, Frau Ministerin.
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Sie verursachen Eingriffe in das Eigentum, und Sie nehmen den Menschen ihre Existenzgrundlage weg, und das ist nicht akzeptabel.
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Damit schießen Sie auch weit über das Ziel hinaus; denn kein Europäischer Gerichtshof, keine EU-Kommission würde das verlangen, verlangt das vom Gesetzgeber in Deutschland. Sie möchten gerne mehr als 100 Prozent erreichen. Sie möchten gerne 150, vielleicht sogar 200 Prozent erreichen. Das ist unerträglich, wie Sie damit einer Branche das Leben schwer machen.
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Ich sage es Ihnen ganz ausdrücklich: Wer eine vorübergehende politische Lösung erreichen möchte, der schiebt den schwarzen Peter einer Berufsgruppe zu, von der er meint, dass sie sich vielleicht am wenigsten wehrt.
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Und damit haben Sie sich schon getäuscht.
Meine Damen und Herren, wer hingegen wirklich ein Interesse daran hat, dass Oberflächenwasser in Deutschland sauber ist, der kümmert sich um die wahren Ursachen von Messauffälligkeiten. Wenn Sie die Verantwortung für dieses Thema komplett und alleine bei den Landwirten abladen wollen, wie Sie es in der Vergangenheit bereits getan haben, dann – das sage ich Ihnen – haben Sie die Rechnung jedenfalls ohne meine Fraktion und ohne mich gemacht.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Kollege Hocker. – Der nächste Redner ist der Kollege Ralph Lenkert für die Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Heute geht es erneut um Maßnahmen zur Stickstoffreduktion, weil Deutschland die EU-Richtlinien nicht einhält. Deutschland muss erneut nachsitzen. Und die EU hat recht: Weniger Stickoxide, weniger Stickstoff, weniger Phosphat, weniger Pestizide in unseren Gewässern tragen zum Schutz des Trinkwassers und der Natur bei.
Aber warum kriegen wir das Problem nicht gelöst? Statt zusammenzuarbeiten, kämpft das Umweltministerium um Naturschutz, und das Landwirtschaftsministerium schießt quer, will möglichst hohe Erträge durch starken Einsatz von Pestiziden und Düngemitteln. Und diese Blockade bewirkt diesen faulen Kompromiss – schlecht für die Flüsse, und manche Landwirte trifft er hart.
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Für Die Linke liegt die Lösung auf der Hand: Zukünftig verzichten Landwirte auf die Nutzung der Gewässerrandstreifen. Zwar verlieren sie dadurch Einnahmen, aber ihnen werden Ausgleichszahlungen in Höhe der EU-Flächenprämien garantiert.
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Geld gegen Naturschutz – dieses Verfahren wird in vielen Bundesländern, auch in Thüringen, seit Jahren erfolgreich praktiziert. Das wäre doch ein Modell für den Bund.
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Zukünftige Ausgleichszahlungen für Nutzungsverzicht wären garantiert, egal ob die Gewässerrandstreifen 5, 10 oder 20 Jahre nicht bearbeitet werden. Ohne Bearbeitung entwickelt sich eine natürliche Ufervegetation – optimal für den Gewässerschutz und die Biodiversität.
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Landwirtinnen und Landwirte erhalten als Ausgleich ein gesichertes Einkommen, ganz ohne Ertragsrisiko. Das wäre ein großer Umweltschutzbeitrag – für gute Biotope, für weniger Stickoxide und Pestizide im Wasser, für den Schutz von Fischen in Hitzesommern. So profitieren Umwelt und Landwirte gleichermaßen, liebe Koalitionäre.
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Aber Ihr Wasserhaushaltsgesetz ist ein Bürokratiemonster.
Erstes Beispiel. Gewässerrandstreifen sollen nur bei einer Hangneigung über 5 Grad angelegt werden, bei 4,99 Grad Hangneigung aber nicht. Da ist doch Streit vorprogrammiert.
Zweites Beispiel. Die auf 5 Meter festgelegte Breite des Gewässerrandstreifens soll an der Böschungsoberkante beginnen – bei kanalisierten Gewässern kein Problem. Bei einem sich natürlich schlängelnden Bach gibt es mal eine Böschungsoberkante, und mal gibt es keine. Wenn es keine gibt, dann soll man vom Ufer aus an der Linie des Mittelwasserstandes die 5 Meter messen. Irrt sich der Landwirt, gibt es saftige Strafen. Sie können doch keinem erklären, dass so was funktionieren soll.
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Im Übrigen bedeutet Ihr Gesetz das Ende der bestehenden Landesprogramme. Damit fallen bisherige Gewässerrandstreifen ohne Hangneigung weg, und die Landwirtinnen und Landwirte, die sie bisher aus eigenem Umweltengagement angelegt haben, sind die Gelackmeierten.
Auf den Punkt gebracht: Besser wäre es, Sie folgten unseren Vorschlägen. Landwirte erhielten für Nutzungsverzicht im Bereich der Gewässerrandstreifen einen dauerhaften Ausgleich. Das wäre gut für die Umwelt und würde den Landwirten helfen. Meine Damen und Herren aus den Ministerien, das ist doch eigentlich leicht verständlich. Schießen Sie nicht mehr gegeneinander, sondern arbeiten Sie zusammen, zum Wohle der Umwelt und der Landwirtschaft.
Vielen Dank.
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Es macht sich bereit die Kollegin Dr. Bettina Hoffmann, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Bitte schön.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In Deutschland haben wir seit Langem ein Nitratproblem. An jeder fünften Grundwassermessstelle wird der Grenzwert überschritten. Mit der Novelle zur Düngeverordnung und des Wasserhaushaltsgesetzes werden jetzt trotzdem leider nur die Minimalforderungen der EU-Kommission umgesetzt. Es waren dabei nicht die Sorgen um sauberes Trinkwasser, es waren erst massive Strafandrohungen von über 800 000 Euro pro Tag, die der Regierung klargemacht haben: Aussitzen ist keine Option mehr.
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Auf dem Papier mag das Nitratproblem vorerst gelöst sein, in der Realität aber nicht. Warum? In der Anhörung wurde klar: Ein Randstreifen von 5 Metern ist zu schmal, um ein wirksamer Puffer gegen Einträge zu sein. Die Randstreifen dürfen sogar alle 5 Jahre umgebrochen werden, damit die Flächen ihren Status als Ackerland nicht verlieren. Nur damit alte Förderstrukturen erhalten werden, werden regelmäßig wichtige Lebensräume zerstört. Das ließe sich ganz einfach ändern. Es ist doch Unsinn, dass genau die Bäuerinnen und Bauern Nachteile haben, die langfristig wertvolle Randstreifen als Barriere gegen Nitrat und als Heimat für Insekten anlegen.
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Das Gesetz ist ein Bürokratiemonster. Die unteren Wasserbehörden werden nun alle Äcker auf ihre Hangneigung überprüfen müssen, nur um Ausnahmen für die Landwirte zu schaffen; denn damit ist ein großer Teil der intensiv genutzten Auen ausgenommen. Es ist daher ein immenser, unnötiger und ungerechter Aufwand.
Insgesamt hilft der Gesetzentwurf weder dem Gewässerschutz noch den Landwirten, noch ist er praktikabel umsetzbar. Eine einfache klare Regelung wäre in jeder Hinsicht besser gewesen.
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Wir Grüne fordern bundesweit einheitliche Gewässerrandstreifen mit einer Breite von mindestens 10 Metern, und das unabhängig von der Geländeneigung. Die Regierung doktert aber nur am Düngerecht herum. Ich frage mich: Vor wem haben Sie eigentlich so große Angst?
Die Landwirte erzeugen durch den wirtschaftlichen Druck weiterhin Nitratüberschüsse, solange die Bundesregierung die Augen vor dem eigentlichen Problem verschließt: Zu viele Tiere auf zu wenig Fläche produzieren zu viel Gülle. Zu Recht sind die Bäuerinnen und Bauern verärgert, dass sie jetzt wieder keine Verlässlichkeit haben.
Ich appelliere an Sie: Geben Sie den Landwirten endlich eine echte Perspektive, wie sie rentabel und im Einklang mit der Natur wirtschaften können.
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Keine Bäuerin und kein Bauer hat schließlich Interesse daran, Wasser zu verschmutzen.
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Wir alle brauchen jetzt eine ökologische Neuausrichtung der Agrarpolitik und ein Ende der industriellen Massentierhaltung.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Bettina Hoffmann. – Wir kommen zum letzten Redner zu diesem Tagesordnungspunkt. Das ist der Kollege Artur Auernhammer für die CDU/CSU, der auch ein frisches Wasser bekommt.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Erst einmal ein herzliches Dankeschön an die Saalassistenz für die viele Arbeit, die Sie mit uns haben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gesetze werden in Anhörungen fachlich diskutiert. Es wäre vielleicht für die eine oder andere Fraktion oder für den einen oder anderen Kollegen hilfreich, wenn sie oder er auch an diesen Anhörungen teilgenommen hätten, wie zum Beispiel für Herrn Hocker oder die gesamte AfD-Fraktion.
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– Ich habe Sie leider am Montagnachmittag vermisst.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sind uns einig: Der Schutz unserer Gewässer hat große Bedeutung. Jeder von uns hat ein Interesse, eine hohe Qualität unserer Gewässer in Deutschland zu gewährleisten. Dazu zählen auch die Landwirte. Dennoch habe ich manchmal den Eindruck, gerade in den letzten Wochen, es sei allein die Landwirtschaft schuld an den Problemen bei der Gewässerqualität. Meine sehr verehrten Damen und Herren, so ist es nicht. Und ich würde mir wünschen, dass auch Teile der Bundesregierung das so sehen und sich nicht nur einseitig auf die Landwirtschaft fokussieren würden.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, gerade in der Coronakrise haben viele auch in diesem Hause die Landwirtschaft gelobt und den hohen Stellenwert der Landwirtschaft für die regionale Lebensmittelversorgung in den Fokus gestellt. Wir sollten auch beim Thema Gewässerschutz mit der Landwirtschaft diskutieren und nicht nur über die Landwirtschaft.
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Mit dieser Änderung des Wasserhaushaltsgesetzes haben wir – das ist schon erwähnt worden – einen Teil der Düngeverordnung mit umzusetzen, und das hat Konsequenzen. Das hat Konsequenzen für die Bäuerinnen und Bauern bei der Bewirtschaftung. Aber ich sage auch dazu: Bisher gibt es viel freiwilliges Engagement in der Landwirtschaft für Gewässerschutz, dafür, Gewässerrandstreifen anzulegen. Hierfür wurde auch entsprechend entschädigt. Ich hoffe, das ist auch nach diesem Gesetz noch möglich.
Ich möchte noch einmal betonen: Es handelt sich nicht um einen Produktionsverzicht auf diesen 5 Metern Gewässerrandstreifen.
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Es kann Grünland angelegt werden, der Aufwuchs kann abgeerntet werden. Man muss den Mais nicht bis zum Wasser anbauen. Man kann auch Grünland anbauen. Wir haben auch die Möglichkeit geschaffen, dass Agroforstsysteme angelegt werden können, sodass man mit der Ernte dieser Agroforstsysteme auch noch Bioenergie erzeugen kann.
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All das geschieht im Lichte des EuGH-Urteils. Sie wissen es selbst am besten: Es gab die Auflage der Europäischen Kommission, der europäischen Gesetzgebung, ab 15 Prozent Hangneigung ein grundsätzliches Düngeverbot auszusprechen. Welche Konsequenzen das für den Weinbau, für Almen mit ihren Weiden in Hanglagen nach sich gezogen hätte, sollte sich jeder vor Augen führen.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich hätte mir schon gewünscht, dass das Bundesumweltministerium gerade in den Verhandlungen zum Wasserhaushaltsgesetz auf die Belange der Landwirtschaft mehr Rücksicht genommen hätte. Aber es ist jetzt so.
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Wir denken, mit diesem vorgelegten Gesetzentwurf haben wir jetzt einen guten Kompromiss. Diesen Kompromiss können wir auch – ich persönlich auch – mittragen, weil ich aus einem Land komme, wo Gewässerschutz hoch angesiedelt ist und auch die Landwirte zu Gewässerschutz bereit sind.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Kollege Auernhammer. – Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In dieser Krise zeigt sich eine gewisse Doppelgesichtigkeit: Auf der einen Seite beweisen der Sozialstaat und die Sozialversicherungen in diesen Monaten, dass sie selbst in der jetzigen Extremsituation mit Milliardeneinsatz in der Lage sind, in der Krise ein gewisses Maß an Sicherheit zu geben. Auf der anderen Seite zeigt das umwälzende Ausmaß der Krise auch, dass all diese Gegenmaßnahmen die Erschütterungen durch Arbeitslosigkeit, Existenzverlust und Bildungsmangel nicht vollständig auffangen können.
Tiefe Gräben tun sich auf. Es sind gerade die Verwundbarsten und die ärmsten Gruppen, die ohnehin am Rande der Gesellschaft stehen, die nun umso mehr den Anschluss verlieren: Menschen, bei denen das Kurzarbeitergeld nicht reicht, Familien, die Covid-19 vor fast unlösbare Probleme stellt, Frauen, die den größten Teil der Sorgearbeit leisten müssen, Wohnungslose ohne jede Unterstützung oder Studierende und Auszubildende, denen ein Abbruch der Ausbildung droht. Die Pandemie hinterlässt bei vielen Menschen ein Gefühl von Einsamkeit, von persönlicher Überforderung und sogar Verzweiflung.
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Damit ist die Coronakrise auch eine Krise des gesellschaftlichen und sozialen Zusammenhalts. Darauf müssen wir reagieren, und zwar mit einem Sozialschutz-Paket III, das diese Lücken schließt und das aber auch und vor allem über die Krise hinausweist.
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Wir brauchen einen Dreiklang der Garantien.
Dazu gehört erstens eine materielle Basissicherung. Die heutige Grundsicherung muss zu einer Garantiesicherung mit höheren Regelsätzen und ohne Sanktionen weiterentwickelt werden.
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Zweitens müssen wir die Sozialversicherungen stärken, unter anderem mit einem Rettungsschirm für die Sozialversicherungen, damit die Einnahmeausfälle durch die Coronakrise nicht zu Leistungskürzungen führen.
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Drittens wird in dieser Krise ganz deutlich: Materielle Unterstützung allein reicht nicht. Gerade in Krisenzeiten erfordert gesellschaftliche Teilhabe mehr als finanzielle Absicherung. Notwendig ist eine Strategie, die jede und jeden dabei unterstützt, mit kommenden Unsicherheiten, die durch die ganzen anderen Krisen, die wir ja auch noch haben, ebenfalls verursacht werden, besser umgehen zu können – eine Strategie der Förderung von Widerstandsfähigkeit, eine Strategie der Förderung von Resilienz.
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Dafür braucht es Orte der Begegnung, Orte der Gemeinschaft, an denen Menschen Unterstützung und Anerkennung erfahren. Dienste und Initiativen der sozialen Arbeit, der Weiterbildung und der personenbezogenen Unterstützung sind dazu unverzichtbar. Diese Förderung der Erfahrung von Selbstwirksamkeit hilft Menschen auf die Beine. Diese Stärkung der eigenen Ressourcen kann in großen Institutionen stattfinden wie in der von uns vorgeschlagenen Arbeitsversicherung. Sie spielt sich aber auch genauso an vielen kleinen Orten ab. Solche Orte leisten das, was eine Überweisung auf ein Konto nicht kann: Sie stärken die Menschen am Rand. Diese Orte stabilisieren gleichzeitig aber auch die gesellschaftliche Mitte und tragen damit zu einer gemeinwohlorientierten Politik bei, die die Demokratie stärkt.
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Abschließend will ich noch ein Beispiel für einen solchen Ort geben, damit wir uns das besser vorstellen können: In meinem Wahlkreis gibt es das Mütterzentrum Dortmund als Verein. Dort begegnen sich Mütter mit Kindern, Migranten, Arbeitslose, die dort zum Beispiel in öffentlich geförderter Beschäftigung arbeiten. Dort gibt es Angebote für Familien, Angebote der Bildung, der Beratung, der Schwangerenberatung, eine Musikschule und ein Café. Ich habe die Geschäftsführerin gefragt, was sie eigentlich braucht, um diesen lebendigen Ort des Zusammenhalts zu stärken, und sie sagte mir: Solch einen Ort brauchen wir eigentlich in jedem Stadtviertel. – Das hat mich tief beeindruckt. Ich finde, wir brauchen ein Sozialschutz-Paket III, das diesen Dreiklang der Garantien beinhaltet und diese Orte stärkt.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Kollege Markus Kurth. – Der nächste Redner ist der Kollege Professor Dr. Matthias Zimmer, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dem Grundgedanken kann man, glaube ich, nicht widersprechen: während und nach der Coronakrise den sozialen Zusammenhalt stärken. Das ist angesichts der Größe der Herausforderung zwingend. Wir haben in den letzten Tagen und Wochen auch sehr gute Beispiele des Zusammenhalts erleben dürfen. Doch kann der Antrag der Grünen dazu noch etwas ergänzen?
Der Antrag führt viele Gruppen auf, denen man noch etwas zukommen lassen kann.
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Das spricht für ein weites Herz, und nur Kleingeister würden behaupten, dass damit genau jene Schicht aus Pädagogen, Sozialtherapeuten und kreativ Tätigen umschrieben ist, die das Herkunftsmilieu der Grünen darstellt.
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– Ich habe ja gesagt, nur Kleingeister würden das behaupten, und Sie würden mich doch nicht als Kleingeist bezeichnen, Frau Göring-Eckardt, oder?
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Es fällt schon auf, meine Damen und Herren: Erst am Schluss werden ganz en passant diejenigen angesprochen, die das Geld erwirtschaften, die Leistungsträger. Ich finde, sie müssen sehr viel stärker im Mittelpunkt stehen; denn sie sollen ja Steuern zahlen und damit dazu beitragen, dass der soziale Zusammenhalt gewährleistet werden kann: nicht durch Umverteilung, sondern durch Leistung. Auch das gehört für mich zum sozialen Zusammenhalt.
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Nicht erwähnt ist, was die Folgen für die nächste Generation sein werden; auch das gehört für mich zum sozialen Zusammenhalt. Wir muten durch eine sehr expansive Schuldenaufnahme der nächsten Generation einiges zu. Vielleicht ist das notwendig. Aber wir können nur hoffen, dass wir auf absehbare Zeit nicht noch einmal in eine solche Situation hineinkommen werden. Die Spielräume wären dann erheblich enger.
Zwei konkrete Forderungen will ich herausgreifen, weil sie besonders begründen, warum ich den Antrag nicht für zustimmungsfähig halte:
Die erste Forderung ist die nach einer Lösung für kommunale Altschulden. Das Land Hessen hat einen kommunalen Rettungsschirm aufgespannt und die Kommunen entschuldet. Das ist auch richtig so; denn nicht der Bund ist dafür zuständig, sondern die Länder.
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Ein Bundesprogramm wäre aus zwei Gründen aberwitzig: Zum einen würden die Länder in die Röhre schauen, die selbst schon tätig geworden sind. Neben Hessen ist das, glaube ich, Bayern. Weil der Präsident aus Bayern kommt, fiel mir das gerade noch so eben ein.
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Die Lehre daraus wäre: Man muss nur lange genug nichts tun, dann hilft einem der Bund. Das ist kein Leitbild des Föderalismus, meine Damen und Herren. Der zweite Grund wäre: Hessen müsste sich an der Finanzierung der Altschulden anderer Bundesländer direkt oder indirekt beteiligen. Wie das den föderalen Zusammenhalt befördern soll, erschließt sich mir nicht.
Eine zweite Forderung ist die nach einem Zuschlag in der Grundsicherung. Begründet wird das damit, dass durch die krisenbedingte Teuerung sich die Höhe des Regelsatzes als deutlich zu niedrig erweise. Schaut man allerdings in die Statistik für den April hinein, ergibt sich ein anderes Bild: Die Teuerung bewegt sich in einem durchaus überschaubaren Rahmen. Einige Lebensmittel sind teurer geworden, andere billiger. Besonders bemerkenswert ist der deutliche Rückgang der Energiekosten.
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Zu den Lebensmitteln, die teurer geworden sind, gehört Fleisch, vor allen Dingen Schweinefleisch. Nun erinnere ich mich aber an eine andere Debatte, in der der Vorsitzende der Grünen gefordert hatte: Fleisch muss teurer werden.
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Nun ist es teurer geworden. Wenn das aber bedeutet, meine Damen und Herren, dass deswegen die Regelsätze erhöht werden müssen, dann wäre das ein Schildbürgerstreich.
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Es sei denn natürlich, die Grünen reaktivieren ihre Forderung nach einem fleischfreien Tag in der Woche.
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Dann aber nur ein Tipp, meine Damen und Herren: Es gibt eine alte katholische Tradition, wonach freitags traditionell kein Fleisch gegessen wird. Vielleicht knüpfen Sie an diese Tradition an und nicht an den Veggie-Donnerstag. Dann hätten Sie zumindest die katholische Kirche mit ihrer langen Tradition als Hüterin des Zusammenhalts der Gläubigen hinter sich.
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Vielen Dank, Herr Kollege Matthias Zimmer. – Der nächste Redner ist für die AfD-Fraktion der Kollege Martin Sichert.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Grünen werfen mit Steuergeld um sich: 100 Prozent für Sozialdienstleister, 100 Euro monatlich extra für Asylbewerber. Wer nur vier Monate gearbeitet hat, soll bereits zwei Monate lang Arbeitslosengeld I bekommen. Diese und noch viele weitere Wohltaten wollen Sie verteilen.
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Dabei ist schon die bestehende Politik nicht finanzierbar. Rücklagen in Höhe von 26 Milliarden Euro werden bei der Bundesagentur für Arbeit zwischen März und August dieses Jahres voraussichtlich verbrannt.
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Niemand weiß, wie es danach weitergehen soll. Für jeden Euro, den Sie großzügig ausgeben, müssen am Ende die Steuerzahler bluten.
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Sie reden von sozialem Zusammenhalt, betreiben aber soziale Spaltung.
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Meine Damen und Herren, die Aufgabe eines Volksvertreters ist es, das gesamte Volk zu vertreten und nicht Lobbypolitik für irgendwelche Randgruppen.
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Eines steht fest: Je heftiger Sie und Ihre Klientel Party auf Steuerzahlerkosten feiern, umso schlimmer wird der Kater danach für alle Bürger werden.
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Gerade weil wir so hohe Steuern und Abgaben und so viel Bürokratie haben, rutschen immer mehr Menschen in Armut ab. Sie aber suchen nach immer neuen Möglichkeiten, den Bürgern in die Tasche zu greifen. Wenn wir sozialen Zusammenhalt stärken wollen, dann müssen wir den umgekehrten Weg gehen: runter mit Steuern, Abgaben und Vorschriften. Geben wir den Bürgern und den Unternehmen Luft zum Atmen. So helfen wir den Menschen über die Krise und legen zugleich die Basis für langfristigen zukünftigen Wohlstand. Schaffen wir GEZ-Gebühren, CO2-Steuer und EEG-Umlage ab, weg mit dem neuen Bußgeldkatalog und runter mit der Umsatzsteuer!
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Sozial ist nicht immer mehr Umverteilung. Sozial ist, was Arbeit schafft.
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Mit diesem Slogan hat Angela Merkel 2002 Wahlkampf gemacht.
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– Dass Sie dagegen sind, ist mir schon klar. – Heute ist das vergessen. Auch die Union ist bei immer mehr sozialistischer Umverteilung angelangt.
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Sie wollen die Vergemeinschaftung von Schulden innerhalb der EU.
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Was Sie im Großen unserem Land zumuten, das müssen Sie auch im Kleinen selbst bereit sein zu leisten. Wer von Ihnen wäre bereit, privat mit 26 Fremden eine Schuldengemeinschaft einzugehen? Wer von Ihnen wäre dazu bereit? – Niemand.
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Das habe ich mir schon gedacht.
Es ist genau das Gleiche wie in der Zuwanderungsdebatte: Wer von Ihnen hat seine Wohnungstür ausgehängt und jeden hereingebeten, egal ob derjenige hilfsbedürftig oder schwerkriminell ist?
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Wer von Ihnen hat in den letzten fünf Jahren seine Wohnungstür ausgehängt? – Auch niemand. Auch das war klar. Ganz im Gegenteil: Weil Sie Angst um Ihre Sicherheit haben, wird nun der Bundestag zur Festung ausgebaut. Sie muten den Mitbürgern ständig zu, was Sie selbst nicht wollen. Das ist nicht nur scheinheilig und abgehoben, sondern Sie spalten damit die Gesellschaft.
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Sozialer Zusammenhalt funktioniert nur, wenn Sie als Vorbilder agieren und aufhören, ständig die verschiedenen Bevölkerungsgruppen gegeneinander auszuspielen. Schluss mit dem ideologischen Kampf gegen Autofahrer und Angestellte in der Automobilindustrie! Schluss mit dem ideologischen Kampf gegen Vermieter und Makler! Schluss mit der Verteilung immer weiterer finanzieller Wohltaten auf Kosten unser aller Zukunft! Es ist höchste Zeit für eine echte Politik des sozialen Zusammenhalts.
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Lassen Sie uns als Vorbilder und verantwortungsbewusste Volksvertreter den Bürgern mit Respekt und auf Augenhöhe begegnen. Lassen Sie uns mit langfristig orientierter, sinnvoller Politik die Menschen mitnehmen und zugleich den Grundstein für künftigen Wohlstand legen. Lassen Sie uns endlich die Politik machen, die Deutschland verdient hat – für Einigkeit und Recht und Freiheit.
Vielen Dank.
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Der nächste Redner für die SPD-Fraktion ist der Kollege Bernd Rützel.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Es war sehr viel von Spaltung die Rede, gerade beim letzten Redner, dabei müssen wir in der Zeit der Krise doch zusammenhalten. Die Menschen wollen keinen Streit und keine Spaltung. Sie wollen sehen, dass die Politik zusammenhält und dass wir die großen, schwierigen Aufgaben, die vor uns liegen, gemeinsam anpacken. Wir selber wissen nicht genau, was ist und was kommt, und die Menschen wissen es auch nicht. Sie wollen von uns eine Richtung, sie wollen von uns einen Plan, und den sollten wir auch gemeinsam liefern.
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Ich bin den Grünen dankbar für den vorliegenden Antrag. Sie haben sich richtig Arbeit gemacht. 16 Punkte und 43 Unterpunkte habe ich gezählt. Es kam in diesem Antrag eine ganze Menge zusammen. Ich will betonen: Vieles haben wir hier schon debattiert, beschlossen und auch umgesetzt.
In der Krise zeigt sich mancher Charakter: Manche brauchen Hilfe, weil es ums Überleben geht, andere suchen Mitnahmeeffekte und nutzen die Coronakrise als Deckmantel, andere wiederum kommen mit Vorschlägen aus der Klamottenkiste und hoffen, dass die Zeit günstig ist, um die eigenen Vorhaben genehmigt zu bekommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die SPD steht an der Seite der Arbeitnehmenden im Land. Wir haben das Kurzarbeitergeld wieder auf den Weg gebracht, wir haben es erhöht und ausgeweitet. Das federt Not ab. Wir sind an der Seite der Selbstständigen, der kleinen und mittleren Unternehmen und der Industrie. Wir haben Unterstützungshilfen auf den Weg gebracht: mit geschenktem Geld, aber auch mit Krediten, damit es weitergeht. Wir stehen an der Seite der Jugendherbergen, Gästehäuser, Begegnungsstätten und des Transportgewerbes, weil wir diese Player im Land brauchen. Aber die SPD steht nicht dafür, die Steuer der reichsten 5 Prozent der Menschen zu senken und gleichzeitig den Mindestlohn zu senken. Liebe CDU, ich hoffe, das ist eine Schnapsidee gewesen, die wieder vom Tisch ist.
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Um den Koalitionsfrieden wiederherzustellen, lieber Kai Whittaker, will ich unterstreichen, dass die Große Koalition in der Coronakrise ganz ordentliche Arbeit abgeliefert hat. Ich erinnere an die Sozialschutz-Pakete I und II, die wir auf den Weg gebracht haben für einen leichteren und besseren Zugang zur Grundsicherung, einen leichteren und besseren Zugang zur Sozialhilfe und einen leichteren Zugang zum Wohngeld. Wir haben bei Kita- und Schulschließungen für Lohnersatz gesorgt. Wir haben mit dem zweiten Paket, das wir erst vor 14 Tagen hier beschlossen haben, dafür gesorgt, dass die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes verlängert wird, dass das Kurzarbeitergeld erhöht wird, dass mehr zuverdient werden kann und dass Kinder ein Mittagessen bekommen.
Und es geht weiter. Morgen früh diskutieren wir hier an dieser Stelle über das Arbeitnehmer-Entsendegesetz. Wir sorgen dafür, dass die Menschen, die bei uns auf den Feldern, auf den Baustellen und in den Fleischfabriken arbeiten, besser geschützt sind. Und demnächst verabschieden wir hier in diesem Hause die Grundrente, gell?
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Wir bringen ein großes Konjunkturpaket auf den Weg. Als Kommunalpolitiker, als Stadtrat und Kreisrat weiß ich, dass es Kommunen gibt, die auf finanzstarken Füßen stehen. Aber die wiederum wissen, dass ihnen die Gewerbesteuereinnahmen demnächst gewaltig wegbrechen werden und dass aufgrund der fehlenden Einnahmen die Bücherei, die Musikschule und die Schwimmbäder schließen müssen.
Lieber Kollege Zimmer, ich schätze Sie sehr, aber was ich gehört habe fällt unter die Todsünde Nummer sechs. Sie lautet: Neid, Eifersucht und Missgunst. Wir sollten alle helfen und nicht auf den anderen gucken und sagen: Mir geht’s gut, der andere hat halt Pech gehabt. – Uns hilft an dieser Stelle die Kardinaltugend Gerechtigkeit und Einsicht oder anders ausgedrückt: Es geht um Nächstenliebe, es geht um Solidarität. Beides ist das Gleiche.
Vielen Dank.
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Für die FDP-Fraktion hat das Wort der Kollege Pascal Kober.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, Sie haben einen Antrag vorgelegt, mit dem Sie den sozialen Zusammenhalt in und nach der Krise stärken wollen. Insgesamt enthält er 46 Forderungen. Sie wollen von der Unterstützung von sozialen Dienstleistern über die Unterstützung von gemeinnützigen Unternehmen auch die Studierenden und die Selbstständigen unterstützen. Sie wollen Kommunen entschulden.
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Sie wollen das Personal im öffentlichen Gesundheitsdienst erhöhen. Sie versprechen eine Fülle an Wohltaten. Das alleine, liebe Kolleginnen und Kollegen, reicht aber noch nicht. Sie beschreiben auch Ihre mega Reformvorstellungen: Sie wollen die Pensionen abschaffen,
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Sie wollen die private Krankenversicherung abschaffen, Sie wollen Bürgerversicherungen einführen. – All das ist Teil Ihres Antrags.
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Allein, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, bei all Ihren falschen Großprojekten und bei all Ihren kleinen Forderungen, bei all diesen 46 Forderungen vermisse ich eines, nämlich das Preisschild.
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Das ist keine verantwortungsvolle Politik; denn so erwecken Sie den Eindruck, dass Sie allen alles versprechen, ohne es am Ende auch wirklich einhalten zu können.
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Das ist in der jetzigen Situation besonders unangebracht. Das ist generell unangebracht, aber in der jetzigen Situation, in der die Menschen wirklich große Sorgen haben, ganz besonders unangebracht.
An mancher Stelle kann man versuchen, nachzurechnen. Sie wollen beispielsweise alle Vereine und das ehrenamtliche Engagement mit den Mitteln der Deutschen Stiftung für Engagement und Ehrenamt unterstützen. Wenn Sie die vorhandenen Mittel dafür nutzen würden, würde auf jeden einzelnen der 600 000 Vereine eine Summe von etwa 38,33 Euro entfallen.
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Es ist also vorauszusetzen, dass Sie da über zusätzliche Leistungen des Staates reden, sofern Sie sich nicht vollständig lächerlich machen wollen.
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Wenn Sie, wie gesagt, an Ihre Forderungen kein Preisschild heften, dann machen Sie einen kardinalen Fehler. Dann stärken Sie nicht den sozialen Zusammenhalt in unserer Gesellschaft, weil Sie eben nicht nachhaltig, auch nicht generationengerecht denken. Das ist ein Fehler, das stärkt eben nicht den sozialen Zusammenhalt in unserer Gesellschaft.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, das ist insofern schade, als Sie in der Problembeschreibung an vielen Stellen den richtigen, den wunden Punkt treffen. Aber die Lösung kann nicht sein, allen nebulös alles zu versprechen, stattdessen muss man ganz gezielt Schwerpunkte setzen und intelligente Lösungen finden, beispielsweise bei den sozialen Dienstleistern, die Arbeitslose qualifizieren. Da ist im Moment doch nicht mehr die Frage, wie wir sie über das Nichtstun hinwegretten können, sondern die Frage muss lauten: Wann können sie wieder beginnen, Arbeitslose zu qualifizieren und auszubilden? Das ist doch die Frage, die wir stellen müssen.
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Wir müssen an die Zukunft denken.
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Wie können wir durch Entbürokratisierung, wie können wir durch Digitalisierung die sozialen Dienstleister in die Zukunft schicken? Das sind die Herausforderungen, auf die es jetzt Antworten zu finden gilt. Ihr Antrag gibt darauf leider keine Antworten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich freue mich auf die Debatte im Ausschuss. 46 Forderungen ohne Preisschild, dem können wir aber – das kann ich jetzt schon sagen – nicht zustimmen.
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Vielen Dank, Kollege Pascal Kober. – Nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke ist die Kollegin Jessica Tatti.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Coronapandemie entlarvt, wie fatal es ist, wenn man jahrzehntelang systematisch den Sozialstaat und das Gemeinwesen schwächt. Allerspätestens seit den 90er-Jahren haben alle Regierungen aus CDU, CSU, SPD, FDP und den Grünen den Sozialstaat abgebaut
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und immer mehr auf die Freiheit des Marktes gesetzt.
Das funktioniert, solange die Sonne scheint. Aber die Sonne scheint eben nicht immer.
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Wenn es wirtschaftlich nicht mehr so rosig aussieht, dann soll immer wieder der Staat mit dem Geld der Steuerzahler einspringen und die Verluste der Unternehmen tragen, die sich in besseren Zeiten bereichert haben.
Für die Bewältigung der Pandemie und ihrer wirtschaftlichen und sozialen Folgen müssen jetzt die Weichen gestellt werden. Aber der Tenor macht mir Sorgen. So schlägt Friedrich Merz größenwahnsinnige Unternehmenshilfen vor, die er durch die Ausplünderung des Sozialstaates finanzieren will.
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Die CDU muss Abgeordnete ihrer eigenen Fraktion öffentlich zurückpfeifen, weil diese den Mindestlohn für die Ärmsten senken, aber gleichzeitig den Soli für die Reichsten streichen wollen.
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Die Ministerpräsidenten der Autoländer, so auch der grüne Ministerpräsident Kretschmann, schreien nach dubiosen Autokaufprämien, mit denen die bis vor Kurzem noch hochgehaltenen Klimaziele in den Wind geschossen würden.
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Während Sie der Lufthansa Milliarden hinterherwerfen, ohne daran soziale und ökologische Bedingungen zu knüpfen, bangen gleichzeitig, und das nicht nur bei der Lufthansa, Millionen Menschen um ihre Arbeitsplätze, um ihren Familienbetrieb, um ihre materielle Existenz. Was für eine fehlgeschlagene und falsche Politik!
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Daher unterstützt meine Fraktion einen Großteil der Forderungen, die sich im Antrag der Grünen wiederfinden.
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Wir wollen den Sozialstaat wiederherstellen und die Sozialversicherung stärken. Wir wollen den Menschen, die durch die Krise in finanzielle Not geraten, deutlich mehr Rückendeckung geben.
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Das ist nicht nur sozial verantwortlich, sondern auch wirtschaftlich klug. Sehr geehrte Damen und Herren der Regierung, jeder Euro mehr, den Sie in dieser schwierigen Zeit dem Hartz-IV-Empfänger, der Alleinerziehenden und den Kurzarbeitern geben, stärkt auch die Wirtschaft, weil sie ihr Einkommen zu 100 Prozent konsumieren müssen.
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Das gilt jetzt in der Coronapandemie, und das gilt generell.
Werte Kolleginnen und Kollegen, schon unsere Wirtschaftsordnung beschert uns regelmäßig Krisen, wie zuletzt die Dotcom-Blase und die Immobilien- und Bankenkrise.
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Jetzt stellt uns ein Virus vor unvorhersehbare Herausforderungen. Und der Kapitalismus gibt darauf keine Antwort.
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Deshalb sollten wir auch kapieren, und zwar endlich alle kapieren, dass Güter und Dienstleistungen, Herr Whittaker, wie Gesundheit, Bildung, Wohnen und Infrastruktur nicht den Kräften des Marktes überlassen werden dürfen;
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denn der Markt stellt nicht den Menschen in den Mittelpunkt, sondern das reine Profitinteresse. Und mit dieser falschen Logik müssen wir brechen.
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Ein starker Sozialstaat ist das Fundament des sozialen Zusammenhalts, nicht nur während der Krise, sondern auch danach.
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Der nächste Redner ist für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Kai Whittaker.
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Herr Präsident! Werte Kollegen! Wenn man sich den Antrag anschaut, dann könnte man meinen, liebe Kollegen von den Grünen, dass Sie die Zeit im Homeoffice ganz gut genutzt haben.
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Immerhin stolze 46 Einzelvorschläge legen Sie heute vor. Aber wenn ich mir diesen Antrag genauer anschaue, muss ich dann doch feststellen: Ihnen scheint die Decke auf den Kopf gefallen zu sein. – Zumindest finde ich ziemlich viel Copy-and-paste in Ihrem Antrag. Er ist nämlich voll mit politischen Evergreens der Grünen aus den letzten Jahren.
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Da sind die Arbeitsversicherung, die Bürgerversicherung und die Kindergrundsicherung drin.
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Das sind alles schöne Begriffe; aber nichts davon hilft jetzt, die Krise zu lindern, und das ist das Problem.
Ich möchte ein Beispiel herausgreifen: Sie wollen einen „Rettungsschirm Zivilgesellschaft“ einrichten. Die Deutsche Stiftung für Engagement und Ehrenamt soll diesen Rettungsschirm verwalten. Die Gründung dieser Stiftung haben wir aber erst vor zwei Monaten hier im Deutschen Bundestag beschlossen, sie befindet sich noch mitten im Aufbau. Bis von da Hilfe kommen könnte, ist die Krise schon längst vorbei. Was soll dieser Vorschlag?
An dieser Stelle muss ich sagen: Sie denken in Ihrem Antrag in zwei Zeitachsen, die nicht zusammenpassen. Sie wollen heute etwas beschließen, was erst übermorgen wirken wird.
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Ich finde, wir müssen das Feuer heute löschen und dann darüber nachdenken, wie wir den Dachstuhl wieder aufbauen können.
Ich finde es auch bemerkenswert, dass Sie eine Krise des sozialen Zusammenhalts in unserem Land feststellen. Ich muss sagen: Meine Kollegen und ich empfinden das nicht; das glatte Gegenteil ist der Fall.
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Die Menschen kümmern sich umeinander. Es war gerade die Junge Union, die ein großartiges Signal der jungen Generation ausgesandt hat,
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als sie die älteren Bürger während der aktuellen Coronakrise eben nicht vergessen hat, sondern beispielsweise für sie eingekauft hat. Das war ein tolles Signal von Jung an Alt.
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Sie sehen ein Land, in dem die Bürgergesellschaft quasi zerfällt. Ich sehe ein Land, das vor Solidarität nur so strotzt. Deshalb bitte ich Sie: Hören Sie auf damit, diese tollen bürgerlichen Initiativen als Beleg dafür herzunehmen, dass der Staat seinen Verpflichtungen nicht nachkommt. Sie missbrauchen diese Initiativen aufs Schlimmste.
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Im Übrigen finde ich Ihr Weltbild, das Sie in diesem Antrag zeigen, echt bemerkenswert. Im Prinzip machen Sie ein gigantisches Versprechen: Sie wollen jeden Menschen so schützen, als hätte es diese Pandemie nie gegeben.
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Ich finde, dass das ein falsches Versprechen ist. Das ist ein Versprechen, das niemand ernsthaft geben kann.
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Sie gaukeln den Menschen eine bedingungslose Sicherheit vor, die es so nicht gibt. Da muss ich ganz offen sagen: Wenn es eine Sturmflut gibt, dann kann man den Menschen nicht erzählen, dass sie trocken in ihren Wohnzimmern sitzen bleiben können. Wir als CDU sind da ehrlich und sagen den Bürgern: Ja, wir bekommen alle nasse Füße,
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aber mit unseren kurz- und mittelfristigen Maßnahmen sorgen wir dafür, dass das Wasser uns wenigstens nicht bis zum Hals steht. – Das ist der Unterschied.
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Herr Kollege Whittaker, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Markus Kurth?
Das wird uns alle sicherlich bereichern, insofern herzlich gerne.
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Ich hoffe es. Vor allen Dingen hoffe ich, dass es bei Ihnen persönlich dazu führt, dass Sie den Antrag noch mal genau lesen – besonders den Feststellungsteil – und sich später insbesondere vielleicht auch meine Rede noch mal anhören.
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Dann würden Sie nämlich feststellen, dass ich gesagt habe, dass es um eine Strategie zur Stärkung von Resilienz geht, um Situationen von Unsicherheit besser aushalten zu können. In unserem Antrag machen wir gerade in dem Punkt, bei dem es um die Stärkung von sozialen Diensten und Einrichtungen geht, einen Vorschlag für eine Strategie, in der die Sozialpolitik anerkennt, dass sie nicht so tun kann, als gebe es keine Krise und als ob man totale, hundertprozentige Sicherheit für alles schaffen könne. Dass es diese allumfassende Sicherheit nicht gibt, auch wenn wir uns bestens darum bemühen, ist ja gerade der zentrale und aus meiner Sicht auch neue Gedanke dort.
Das scheinen Sie komplett missverstanden zu haben, da Sie jetzt unserem Antrag den Gedankengang vorwerfen, wir würden die Menschen glauben machen wollen, dass es diese Krise nicht gegeben habe. Das genaue Gegenteil ist der Fall.
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Herr Kollege Kurth, zunächst einmal möchte ich sagen: Ich teile den grundsätzlichen strategischen Ansatz, dass unsere Gesellschaft widerstandsfähiger sein muss. Da gibt es gar keinen Dissens zwischen uns. Ich frage mich aber schon, ob wir den richtigen Weg beschreiten würden, wenn wir Ihrem Antrag folgen würden.
Wenn ich Ihren Antrag durchlese, dann muss ich schon feststellen, dass Sie jetzt versuchen, zu versprechen, ganz viel Geld an verschiedenen Stellen auszugeben. Resilienz hat aber etwas mit langfristigen Maßnahmen zu tun. Die helfen jetzt, in dieser aktuellen Krise, in der das Haus brennt, nicht. Das müssen wir dann miteinander besprechen, wenn wir den Dachstuhl wieder aufbauen wollen. Das ist das, was ich gerade in meiner Rede versucht habe klarzumachen.
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Sie vermischen da eben zwei Zeitachsen, und deshalb funktioniert Ihr Antrag nicht. Das ist der Punkt, den ich gemacht habe.
Deshalb sage ich auch ganz klar: Die Krise – und da sind wir ja beieinander – wird vieles verändern. Sie zeigt unsere Stärken wie unsere Schwächen auf. Wir werden mehr Geld in die Digitalisierung, in die Daseinsvorsorge und in nachhaltige Technologien investieren müssen. Das ist die Resilienzstrategie, die wir fahren müssen und um die wir in diesem Haus noch ringen werden.
Wenn wir jetzt Ihrem Antrag folgen würden, dann hätten wir gar kein Geld mehr für all diese Maßnahmen, und wenn ich an die kommenden Generationen denke, dann, finde ich, wäre dieser grüne Geldregen wirklich absolut unverantwortlich.
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Die zukünftige Generation wird noch lange genug an dieser Pandemie zu knabbern haben, und da bürde ich ihr nicht auch noch Ihr Paket auf.
Übrigens: Hätten wir in der Vergangenheit all diese grünen politischen Evergreens, die Sie hier fordern, beschlossen, dann hätten wir für die jetzigen Kriseninstrumente überhaupt kein Geld mehr zur Verfügung. Dank der schwarzen Null, die wir immer eingefordert haben und die Sie immer kritisiert haben, haben wir jetzt die vollen Wassertanks, mit denen wir das Feuer löschen können.
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Deshalb: Sie denken nicht nachhaltig – weder wirtschaftlich noch sozial –, und deswegen ist das Beste, was wir für den Zusammenhalt dieser Gesellschaft tun können, diesen Antrag abzulehnen.
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Als nächste Rednerin hat das Wort für die Fraktion der SPD die Kollegin Daniela Kolbe.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es stimmt: Die Pandemie droht die Unterschiede in unserer Gesellschaft zu verstärken. Manche Ungleichheiten macht sie auch noch mal besonders sichtbar. Aus diesem Grund haben wir in einem Affenzahn das Sozialschutz-Paket I und das Sozialschutz-Paket II gemacht.
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Ich möchte auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des BMAS noch mal ganz herzlich danken – ich hoffe, Frau Staatssekretärin, dass Sie den Gruß ausrichten –; denn in diesen Sozialschutz-Paketen sind viele richtig gute und richtig große Dinge drin.
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Ganz sachgemäß sind viele davon auch befristet, weil wir schlicht nicht wissen, wie lange das dauern wird. Vieles ist auch noch nicht hundertprozentig richtig, weil man eben nicht in die Zukunft gucken kann und auch im BMAS keine Glaskugeln stehen. Ich bin mir deswegen sicher: Es wird ein Sozialschutz-Paket III geben. Und wenn das notwendig ist, dann sind wir dabei, da sind wir an Bord, um eben den sozialen Zusammenhalt in diesem Land zu stärken.
Die Grünen zählen sehr viele Punkte auf. Es ist wirklich ein umfassender Antrag, der hier vorgelegt wurde. Manches würde ich glatt unterschreiben, anderes nicht, und bei manchem würde ich sagen: Das ist so nicht zutreffend. Zum Beispiel finde ich es gut, dass Sie sich um das SodEG – das Sozialdienstleister-Einsatzgesetz – Gedanken machen, aber die Punkte, die Sie bringen, sind aus meiner Sicht im jetzigen Gesetz schon abgedeckt und so auch gar nicht notwendig. Da ist die Regierung vielleicht besser, als Sie als Opposition das unterstellen.
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Ich will festhalten – und das sagt eine, die mit dieser Koalition zu Beginn sehr gefremdelt hat –: Ich bin sehr froh – und ich glaube, die Menschen in Deutschland und in Europa können das auch sein –, dass die SPD in der Bundesregierung ist; denn wir setzen auf sozialen Zusammenhalt, gerade in einer solchen existenziellen Krise.
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Andere wollen gerne den Mindestlohn absenken oder sehr viel Geld ausgeben, um den Soli auch für die Spitzenverdiener, also die reichsten 10 Prozent, die gerade nun wirklich gar kein Problem haben, abzuschaffen.
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– Ich finde es schön, dass hier mal die Unterschiede deutlich werden und auch mal klar wird, auf welcher Seite die AfD steht.
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Dabei muss es jetzt vor allem um die Menschen gehen, die es unter normalen Bedingungen schon schwer haben und die es jetzt in der Pandemie besonders schwer haben. Deshalb haben wir das SGB II „geöffnet“, die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I verlängert, das Kurzarbeitergeld drastisch erhöht und die Regelungen dafür entsprechend ausgeweitet. Dass die AfD und der Kollege hier davon sprechen, die BA würde in dem Zusammenhang Geld verbrennen, spricht Bände. Liebe Leute da draußen, die ihr gerade Kurzarbeitergeld bekommt: Die AfD hätte euch lieber auf der Straße gesehen. Das ist doch die Botschaft!
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Wir unterstützen die Menschen, die ihre Kinder zu Hause betreuen. Das haben wir heute noch mal ausgeweitet. Wir haben einen Schutzschirm für soziale Unternehmen und Einrichtungen gespannt. Klar ist: Damit haben wir erst mal nur das Schlimmste abgewendet, und das Wiederaufbauen muss noch kommen.
Wir haben aber schon ein bisschen auf den Tisch gelegt. Das 57 Milliarden Euro schwere Paket für Kommunen von Olaf Scholz und der SPD liegt auf dem Tisch, ebenso der Kinderbonus von 300 Euro pro Kind, der genau dort ankommt, wo er hingehört, nämlich bei den Familien, vor allem bei denen, die es gerade recht schwer und nicht so viel Geld haben. Das ist sozial gerecht und im gleichen Atemzug wirklich auch wirtschaftlich vernünftig, weil diese Familien das Geld direkt wieder ausgeben, und damit müssten doch eigentlich auch die Grünen ganz zufrieden sein.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt: der Kollege Stephan Stracke, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Coronapandemie hat sicherlich tiefgreifende Auswirkungen auf das Wirtschaftsgeschehen und den Arbeitsmarkt, und deswegen haben wir – das ist beispiellos in der Geschichte der Bundesrepublik – mit tatsächlichen Maßnahmenpaketen reagiert, um sicherzustellen, dass die Folgen für die Menschen begrenzt werden. Ich denke an die Soforthilfen, an die Schnellkredite, an die Bürgschaften in mehrstelliger Milliardenhöhe. Das sind wahre Schutzschirme für unsere Unternehmen und Selbstständigen. Wir schützen Millionen von Arbeitsplätzen mit deutlichen Erleichterungen und Verbesserungen der Regelungen zur Kurzarbeit.
All das zeigt: Wir helfen denen, die in der Krise wirtschaftlich und sozial besonders betroffen sind; denn gerade Familien mit geringen Einkommen, Selbstständige und Kleinunternehmer trifft es in dieser Zeit besonders hart.
Wenn man sich den Katalog der Grünen anschaut, dann erstaunt es natürlich schon, was in den 16 Punkten alles an Wünschen zusammengeschrieben ist. Über vieles von dem kann man diskutieren, manche Punkte sind allerdings tatsächliche Ladenhüter; es wurde zu Recht darauf hingewiesen – beispielsweise auf die Bürgerversicherung, auf die Arbeitsversicherung,
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auf den Kampf gegen die Minijobs, darauf, dass man Menschen mit Behinderungen aus den Werkstätten vertreiben will, und vieles mehr.
Das zeigt, dass Sie jetzt, in dieser Phase der Krise, in der wir stecken, an Systemveränderungen rangehen wollen. Das kann man sich sicherlich für später aufbewahren, aber derjenige, der das jetzt macht, hat das Ausmaß und die Tiefe dieser Krise nicht verstanden, und deswegen lehnen wir diesen Antrag, der hier vorliegt, natürlich ab.
Besonders bezeichnend ist, dass bei all diesen Maßnahmen nichts, aber auch gar nichts zu den Kosten erwähnt wurde. Als würde das Geld vielleicht irgendwie vom Staat, vom Steuerzahler oder von wo auch immer kommen! Jedenfalls wird darüber an keiner Stelle etwas gesagt. Es zeigt sich eben auch: Wer den sozialen Zusammenhalt in dieser Gesellschaft gerade in Krisenzeiten zu Recht hochschätzt, der darf nicht nur auf die Leistungen schauen, sondern der muss auch darauf schauen, wer am Ende die Rechnungen bezahlt. Das bedeutet, wir müssen in diesem Bereich solidarisch zusammenstehen.
Jetzt sind wir in einer anderen Phase der Krise. Ging es am Anfang um Überbrückungshilfen, geht es jetzt darum, die Konjunktur durch gezielte Maßnahmen zu stärken. Ich sehe hier beispielsweise Arbeitsplatzprogramme für Deutschland. Wir wollen die Kaufkraft entsprechend stärken. Es geht darum, die Investitionspakete mit klaren Maßnahmen und Maßgaben zu versehen, nämlich: Wir investieren nicht in alte Schulden, sondern in neue Chancen, und wir fördern das, was heute Arbeitsplätze schafft und morgen den Wohlstand sichert. Deswegen setzen wir auf Infrastrukturprojekte. Das macht klar: Wir wollen eine Politik, die letztendlich nicht auf dem Rücken der Beschäftigten oder Geringverdiener passiert, sondern wir wollen eine Politik, die die Gesellschaft stärkt, die zusammenführt. Deswegen diskutieren wir sehr verantwortungsvoll, und am Ende müssen wir klug entscheiden. Genau dieses kluge Entscheiden, das zeichnet diese Regierungskoalition aus.
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Vielen Dank, Herr Kollege Stracke. – Ich schließe die Aussprache zu diesem Punkt.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich empfinde es als einen historischen Moment – und ich darf ganz persönlich sagen: auch als bewegend –, wenn heute der Deutsche Bundestag dem Staatsvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Zentralrat der Juden in Deutschland zur Einrichtung einer Militärseelsorge für Jüdinnen und Juden in der Bundeswehr zustimmt – ein großer Moment, wie ich finde.
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Ich will mich ausdrücklich für das Angebot, das im Februar des letzten Jahres der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dr. Josef Schuster, in diesem Zusammenhang öffentlich gemacht hat, bedanken. Ich fand es klug, selbstbewusst und sehr berechtigt, dass er von einem Angebot sprach. Es geht nicht um eine Forderung. Denn nach § 36 des Soldatengesetzes haben selbstverständlich Soldatinnen und Soldaten unabhängig von ihrem Glauben und ihrer Weltanschauung Anspruch auf Seelsorge in der Bundeswehr. Es ging darum, ein Angebot zu machen, wie die jüdische Gemeinschaft in Deutschland dabei unterstützend an die Seite unseres Staates sowie der Soldatinnen und Soldaten tritt.
Dieses Angebot knüpft an eine eindrucksvolle Tradition an – wenn wir etwa daran denken, dass der große Leo Baeck zu den rund 30 Militärrabbinern in der Armee Deutschlands während des Ersten Weltkriegs gehörte –, eine Tradition, die jäh unterbrochen wurde durch die unsägliche Nazibarbarei und die unsäglichen Verbrechen an den Juden Europas.
Nach der Gründung der Bundeswehr Ende 1955 hat es daher rund zehn Jahre gedauert, bis Ende der 60er-Jahre erstmals Juden – damals waren es ja nur Männer – sich auf den Weg zum Dienst in der Bundeswehr machten. Dem damals und in beschämender Weise auch heute sich immer wieder zu Wort meldenden ausgrenzenden Antisemitismus setzten sie ein selbstbewusstes „Dies ist unser Land“ entgegen, für das sie bereit waren einzustehen, auch mit ihrer Existenz.
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Zu dieser Entscheidung von Juden – heute: von Jüdinnen und Juden –, in der Bundeswehr zu dienen, ist nun auch eine institutionelle Antwort des Zentralrats der Juden in Deutschland, der jüdischen Gemeinschaft hinzugetreten, die sagt: Wir treten an die Seite dieser Bundeswehr, wir treten an die Seite derjenigen aus unseren Reihen, die für dieses Land einstehen und dabei auch Risiken für Leib und Leben in Kauf nehmen. – Für dieses Geschenk einer so klaren Ansage an unser Gemeinwesen können wir wahrlich dankbar sein!
Meine Damen, meine Herren, wie wichtig die Seelsorge für Soldatinnen und Soldaten ist, haben viele von uns bei Besuchen bei der Bundeswehr im Einsatz erlebt. Gerade Auslandseinsätze, die die Soldatinnen und Soldaten mit existenziellen Fragen – Verwundung, Tod, Trauer – konfrontieren, aber auch mit ganz lebenspraktischen Fragen – gerade junge Menschen: mit der Trennung von Familie, Partner, gewohntem Umfeld –, all dies macht es wichtig, dass ihnen jenseits der Hierarchie Menschen zur Seite stehen, denen sie vertrauen können, die sie begleiten.
Ich bin ganz sicher, dass die jüdische Tradition, die Theologie und, wenn ich so sagen darf, auch die Lebensklugheit – nicht zuletzt durch die Mitwirkung der Militärrabbiner am Lebenskundlichen Unterricht – einen wichtigen Beitrag leisten kann zu einer guten Begleitung von Frauen und Männern in der Bundeswehr, unabhängig davon, welchem Glauben sie selbst angehören. Das ist ein starkes Signal. Ich freue mich, dass dies heute Zustimmung durch das deutsche Parlament findet.
Danke.
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Vielen Dank, Kollege Hermann Gröhe. – Die nächste Rednerin: für die AfD-Fraktion die Kollegin Beatrix von Storch.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mein Kollege Jan Nolte hat in der ersten Lesung schon gesagt: Die AfD begrüßt die Einführung jüdischer Militärseelsorger in der Bundeswehr. – An erster Stelle steht daher unser Dank an die jüdischen Soldaten, die in unserer Armee dienen und die bereit sind, Demokratie und Deutschland mit der Waffe in der Hand unter Einsatz ihres Lebens zu verteidigen. Das ist auch 75 Jahre nach dem Ende des NS-Regimes und der Ermordung der europäischen Juden keine Selbstverständlichkeit.
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Wir stehen vor dem Jubiläumsjahr „1 700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“. Zu dieser Geschichte gehört das Gedenken an die deutschen Soldaten jüdischen Glaubens. 100 000 von ihnen dienten im Ersten Weltkrieg; jeder Sechste von ihnen ist für das Vaterland gefallen. Franz Josef Strauß hat als Verteidigungsminister für die Neuauflage des Buches „Kriegsbriefe gefallener deutschen Juden“ gesorgt. Die Dr.-Leo-Löwenstein-Kaserne trägt den Namen des Gründers des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten.
Die Einführung jüdischer Militärseelsorger in der Bundeswehr ist der nächste logische Schritt, um an dieser gemeinsamen Geschichte wieder anzuknüpfen. Die Grundlage für diese Seelsorge bietet der Staatsvertrag – Herr Gröhe hat es gerade gesagt – zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Zentralrat der Juden.
Das ist genau so auch genau richtig: Die Seelsorge der Bundeswehr muss in einem Vertrag mit einer Körperschaft öffentlichen Rechts geregelt werden, deren rechtlicher Status – deren Mitglieder, deren Mitgliedschaft, Organisation, Finanzen – transparent, überprüfbar und zu hundert Prozent mit dem Grundgesetz vereinbar ist.
Deswegen funktioniert das für die muslimischen Glaubensgemeinschaften nicht. Die muslimischen Dachverbände können keine Vertragspartner der Bundesrepublik sein; sie sind keine Religionsgemeinschaften im Sinne des Grundgesetzes und eben auch keine Körperschaften öffentlichen Rechts. Einzelne Moscheen können auch kein Vertragspartner der Bundeswehr sein – die Bundeswehr kann vor Ort nicht jeden einzelnen Imam oder eine einzelne Moschee überprüfen. Und die Dachverbände der Muslime grenzen sich nicht ausreichend von der Scharia ab. Die Lehre der Scharia darf nicht Einzug halten in die Bundeswehr; das ist eine Frage der nationalen Sicherheit.
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Zum Schluss. Die Militärseelsorger der Bundeswehr waren stets starke und kantige Persönlichkeiten. Es war der streitbare katholische Militärbischof Johannes Dyba, der sich schützend vor die Soldaten gestellt hat gegen Anwürfe – hauptsächlich von links – „Soldaten sind Mörder“. Er hat klargestellt: Wer das sagt, ist kein Friedensstifter. – Er stellte sich mehr vor die deutschen Soldaten als die meisten der linken Abgeordneten.
Es war jüngst der evangelische Militärbischof Sigurd Rink, der sich eindeutig und klar für den scheidenden Wehrbeauftragten Hans-Peter Bartels ausgesprochen und dieses so unfasslich unwürdige Berliner Postengeschacher zu Recht scharf kritisiert hat,
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aufgrund dessen Herr Bartels, ein über Parteigrenzen hinaus anerkannter Experte, seinen Platz räumen musste, um in Berlin Raum zu schaffen; ihm folgte dann Frau Högl. Nun gut.
Die Militärseelsorge in der Bundeswehr durch Militärbischöfe und demnächst durch Militärrabbiner vermittelt eine klare Botschaft: Der Dienst an der Waffe, der Schutz der Demokratie und die Verteidigung des Vaterlandes sind fest im Geist von Judentum und Christentum verankert. Soldaten beschützen unser Land, und viele schöpfen die Kraft dazu aus ihrem Glauben.
Vielen Dank.
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Für die SPD hat das Wort die Kollegin Katrin Budde.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute ist ein guter Tag für die Bundesrepublik Deutschland, und es ist ein guter Tag für das deutsche Parlament. Ich gehe davon aus, dass wir den Gesetzentwurf gleich mit großer Mehrheit beschließen werden. Wir beschließen das Gesetz zum Vertrag vom Dezember letzten Jahres zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Zentralrat der Juden in Deutschland, und wir errichten eine Körperschaft öffentlichen Rechts zur Regelung der jüdischen Militärseelsorge. Das ist gut – 75 Jahre nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges, 75 Jahre nach dem Ende des Holocausts und im Wissen um unsere Verantwortung dafür.
Aber wir leben eben auch wieder in einer Zeit, in der Menschen jüdischen Glaubens offen sagen: Wir fühlen uns nicht mehr sicher in Deutschland. – Auch das gehört zur deutschen Realität. Das ist ein unhaltbarer Zustand. Ich hätte mir so etwas nie vorstellen können. Nun werden wir mit dem heutigen Beschluss zu diesem Gesetz diese Angst natürlich nicht nehmen können; aber dieser Beschluss ist ein Baustein, ein Zeichen für staatliche Anerkennung, auch institutionell. Auch damit zeigen wir, dass der jüdische Glaube schlichtweg zu Deutschland gehört.
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Soldatinnen und Soldaten jüdischen Glaubens haben damit die gleichen institutionellen Möglichkeiten wie Soldatinnen und Soldaten katholischen und evangelischen Glaubens. Wir sichern ihnen auch die finanzielle Untersetzung zu, das Geld, damit das stattfinden kann. Nun ist bei der Einbringung zu Recht das Augenmerk auf Soldatinnen und Soldaten anderen Glaubens oder auf diejenigen, die gar keiner Glaubensrichtung angehören, gelegt worden. Das ist richtig, und das ist gut so. Bisher wird das Recht, das in § 36 des Soldatengesetzes formuliert ist, über die Vermittlung seelsorgerischer Angebote außerhalb der Bundeswehr umgesetzt. In Koblenz wird das möglich gemacht, vermittelt durch das Zentrum Innere Führung. Es wäre gut, wenn wir weitere ergänzende, feste Regelungen finden würden, auch für die Soldatinnen und Soldaten muslimischen Glaubens.
Ich will mich auch bedanken, dass die Beratung im Ausschuss einvernehmlich stattgefunden hat; das war gut. Deshalb gehe ich auch von einem einvernehmlichen Beschluss aus. Das, was in vielen NATO-Staaten Selbstverständlichkeit ist, wird jetzt auch wieder bei uns möglich: Militärrabbiner können seelsorgerisch in der Bundeswehr wirken, aber sie können auch in die Bundeswehr hineinwirken. Das sollen sie auch; denn es geht um weit mehr als die seelsorgerische Tätigkeit für 300 Soldatinnen und Soldaten und deren Angehörige: Die Vermittlung von Wissen beugt Fake News oder gefährlichem Halbwissen vor und ist eine Möglichkeit, dass wir Antisemitismus entgegenwirken, dass wir Ressentiments abbauen. Das ist eine Bereicherung für alle, egal welchen Glaubens sie sind – auch wenn sie keiner Glaubensrichtung angehören.
Ein Rabbiner, gefragt, warum der Zentralrat der Juden in Deutschland jetzt diesen Schritt zusammen mit der Bundesrepublik macht, hat darauf geantwortet, dass es früher vorrangig um Gedenken und Aufarbeitung von Diskriminierung und Zurücksetzung ging, aber dass es seit circa 15 Jahren auch andere Gespräche gibt und dass es gut ist, dass es eine Orientierung nach vorne gibt. Das ist auch der Grundstein dafür, dass wir heute diesen Vertrag endlich beschließen können, und das mit einer großen Mehrheit, worum ich Sie ganz herzlich bitten möchte.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Für die FDP hat das Wort der Kollege Pascal Kober.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Verabschiedung des Gesetzes über die jüdische Militärseelsorge bedeutet einen historischen Schritt, für den wir alle hier im Haus vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte sehr dankbar sind.
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Mir ist aber wichtig, zu betonen: Mit der Einrichtung der jüdischen Militärseelsorge wird nicht nur ein neues Kapitel aufgeschlagen. Vielmehr ist das heute zu verabschiedende Gesetz auch die konsequente Antwort darauf, dass in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten junge Menschen jüdischen Glaubens im Bewusstsein der Geschichte unseres Landes ganz persönlich für sich die Entscheidung getroffen haben: Das ist mein Land, das ist meine Wertordnung, das sind meine Mitbürgerinnen und Mitbürger, kurzum: Das ist die Freiheit, der ich dienen möchte, die ich verteidigen will und für die ich auch bereit bin, wenn es zum Äußersten kommt, mein Leben zu geben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in einer Zeit, in der die Stimmen in unserer Gesellschaft lauter werden, die die Verantwortung, die aus der deutschen Geschichte erwächst, kleiner reden wollen, erinnern uns jüdische Bundeswehrsoldatinnen und ‑soldaten daran, wie nicht trotz, sondern gerade mit und aus unserer Geschichte Identität, Identifikation und Verantwortung erwachsen können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, als Zweites möchte ich betonen: Militärseelsorge in der Bundeswehr richtet sich in ihrem Selbstverständnis, sei sie christlich oder in Zukunft auch jüdisch, immer an alle Soldatinnen und Soldaten und ihre Familien. Und in dieser Tradition und Verpflichtung wird auch die jüdische Militärseelsorge stehen: im Lebenskundlichen Unterricht, aber auch in den vielen Begegnungen und Gesprächen, die zwischen Seelsorgern und Soldatinnen und Soldaten geschehen werden. Die jüdische Militärseelsorge wird das Leben in der Bundeswehr reicher machen, und sie ist ein Angebot – weit über die jüdischen Soldatinnen und Soldaten hinaus – für alle in unserer Bundeswehr, egal wessen Glaubens sie sind und welche Haltung sie haben.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe mich sehr gefreut, dass in der ersten Lesung der Arbeit der Militärseelsorge von vielen Seiten Dank ausgesprochen wurde. Als jemand, der selbst als Militärseelsorger gearbeitet hat, möchte ich den Dank zurückgeben an alle, die dieses Gesetz für die Einrichtung der jüdischen Militärseelsorge möglich gemacht haben. Denn es ist auch Ausdruck der Wertschätzung des Gedankens der Militärseelsorge als solcher und damit auch Ausdruck des Bewusstseins, dass der Soldat ein Mensch ist – ein Mensch, der Orte und Zeiten braucht, wo er ganz vorbehaltlos das sein darf, was er ist: nämlich ein Mensch mit Hoffnungen, mit Sorgen, mit Fragen, mit Ängsten, mit Nöten, aber auch mit Momenten des Glücks.
Und ein weiterer Dank gilt all den Soldatinnen und Soldaten auf allen Ebenen: den Kommandeuren, den Kommandanten, den Chefs und Einheitsführern in der Bundeswehr, die die Arbeit der Militärseelsorge durch ihre unterstützende, offene und wertschätzende Haltung in der Vergangenheit haben immer gut gelingen lassen, die im Sinne der ihnen anvertrauten Soldatinnen und Soldaten, Kameradinnen und Kameraden durch ein offenes Ohr und Verständnis und helfende Hände die Arbeit der Militärseelsorge immer erleichtert haben. Die jüdische Militärseelsorge wird in der Bundeswehr auf ein ihr freundlich gesonnenes Umfeld treffen. Wir setzen heute die Struktur; denjenigen, die sie mit Leben füllen werden, wünschen wir alles Gute.
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Vielen Dank, Pascal Kober. – Die nächste Rednerin ist für die Fraktion Die Linke die Kollegin Petra Pau.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich kann mich kurzfassen: Ein Staatsvertrag zwischen dem Zentralrat der Juden in Deutschland und der Bundesrepublik Deutschland sieht jüdische Militärseelsorge vor. Diese Absicht muss nun durch ein Gesetz fundiert werden; darum geht es hier und heute. Die Linke wird dem zustimmen.
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Christliche Seelsorger gehören zur Normalität im Alltag, im Bundeswehralltag. Wir als Linke sind für Gleichberechtigung und Gleichstellung der Religionen. Über die historische Dimension unserer heutigen Entscheidung – des Einsatzes von Militärseelsorgerinnen und ‑seelsorgern, Rabbinerinnen und Rabbinern – wurde ja schon gesprochen, im 75. Jahr der Befreiung vom Nationalsozialismus. Also, wenn es dieses Angebot gibt – ich habe das ebenso empfunden wie Sie, Kollege Gröhe –, dann sollten wir es annehmen, und es ist höchste Zeit.
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Ich will aber auch die Bemerkung der Kollegin Budde aufnehmen: Wir sollten uns ziemlich schnell – ich weiß: das ist alles nicht einfach – auch darum kümmern, dass es ein Angebot für muslimische Soldatinnen und Soldaten gibt. Natürlich müssen wir auch die anderen Glaubensrichtungen im Blick haben.
Natürlich verstehen sich Seelsorger als religiöses Angebot. Aber zugleich geht es um die Vielfalt in einer offenen Gesellschaft. Auch deshalb stimmt die Linke heute diesem Gesetz zu.
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Dazu kommt: Rabbinerinnen und Rabbiner sind zugleich Repräsentanten jüdischen Lebens und jüdischer Kultur. Das heißt: Mit ihrem Wirken klären sie auch auf. In der Bundeswehr wie in der gesamten Gesellschaft ist das bitter nötig im Kampf gegen Antisemitismus und auch in der Vermittlung von Bildung.
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Ein vorletzter Gedanke. Sie wissen es: Die Linke favorisiert strukturell eine andere Lösung zur Organisation der Militärseelsorge, eine Lösung, wo das Religiöse und das Militärische bzw. der Staat nicht in dieser Weise verbunden sind. Nun ist es so, wie es ist; es wird wie für die Christinnen und Christen geregelt. Trotzdem wird die Linke natürlich mit Ja stimmen.
Zum Abschluss. Einen Unterschied gibt es: Ja, Seelsorge steht Soldatinnen und Soldaten überall zu, ob in der Kaserne, auf dem Übungsplatz oder im Einsatz. Wir aber bleiben dabei: Die Linke lehnt Auslandseinsätze der Bundeswehr ab.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Pau. – Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort der Kollege Dr. Tobias Lindner.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich in der heutigen zweiten und dritten Lesung des Gesetzes drei Bemerkungen machen.
Erstens. Kollege Gröhe ist schon darauf eingegangen: Soldatin oder Soldat zu sein, ist kein Beruf wie jeder andere. Der Dienst in Streitkräften stellt Frauen und Männer vor ganz existenzielle Fragen. Dienst in Streitkräften heißt in letzter Konsequenz, auch bereit zu sein, das eigene Leben einzusetzen oder gegebenenfalls andere Menschen zu töten.
Gläubige Soldatinnen und Soldaten stehen damit vor ungeheuren Konflikten. Die Zehn Gebote geben uns auf: „Du sollst nicht töten.“ Deswegen ist es gut, dass Soldatinnen und Soldaten Zugang zu Seelsorge haben – auch und gerade in Einsätzen. Deswegen ist es gut, dass es eine Militärseelsorge gibt, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Zweitens. Die Bundeswehr ist ein Spiegelbild unserer Gesellschaft, auch der religiösen Pluralität in unserer Gesellschaft. Gerade deswegen ist es richtig, dass nun auch den Soldatinnen und Soldaten jüdischen Glaubens der Zugang zur Militärseelsorge offensteht. Es war ein langer Weg; darauf ist in der ersten Lesung eingegangen worden.
Der Weg war mit einigen Hindernissen gepflastert. Wir haben ja schon darüber gesprochen: Wenn wir religiöse Pluralität ernst nehmen, dann müssen wir auch die Voraussetzungen schaffen, dass Soldatinnen und Soldaten muslimischen Glaubens, die unserem Vaterland dienen, Zugang zur Militärseelsorge haben. Ich wünsche mir, dass beide Seiten, die muslimischen Verbände in Deutschland und die Bundeswehr, mit einem ähnlichen Pragmatismus und einer Offenheit für Lösungen an diese Herausforderung herangehen, wie wir am Ende die Lösung für Militärrabbinerinnen und Militärrabbiner geschaffen haben.
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Drittens. Militärseelsorge steht nicht nur den Soldatinnen und Soldaten, die gläubig sind, offen – auch das ist in dieser Debatte schon gesagt worden –; sie steht allen Soldatinnen und Soldaten offen: als Ratgeber, als Gesprächspartner. Aber – ich finde, auch das muss man in diesen Tagen laut und deutlich sagen – die Militärseelsorgerinnen und ‑seelsorger leisten einen wichtigen Beitrag zur politischen Bildung in der Bundeswehr und zur Inneren Führung. Er ist in diesen Tagen nötiger denn je, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Ich will noch eine letzte Bemerkung machen. Frau von Storch, es ist ja schon fast witzig und entbehrt nicht einer gewissen Komik, dass gerade Sie als Vertreterin Ihrer Partei hier an dem Pult etwas über Postengeschacher in diesen Tagen erzählen. Wenn Hans-Peter Bartels eines nicht verdient hat, dann ist es das, dass sich die AfD als seine größte Verteidigerin hier in diesem Haus aufspielt.
Herzlichen Dank.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort die Kollegin Kerstin Vieregge.
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Herr Bundestagspräsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Plenardebatte vom 15. Mai hat Bundesverteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer zu Recht ausgeführt, welche Bedeutung Militärseelsorge für die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr hat. Wer im Dienst für unser Land sein Leben aufs Spiel setzt, hat selbstverständlich Anspruch auf Seelsorge. Gerade wer die Einsatzgebiete der Bundeswehr kennt, weiß, wie bedeutsam das ist. Militärseelsorge spendet Sinn, Rückhalt, Fürsorge und Trost in belastenden Situationen.
Die Arbeit der evangelischen und katholischen Seelsorger ist von wesentlicher Bedeutung für die Bundeswehr. Es ist also eine großartige Sache, dass nun auch die rund 300 Soldatinnen und Soldaten jüdischen Glaubens auf diese Weise betreut und bestärkt werden; denn selbstverständlich wird damit nicht nur das Grundrecht auf freie Ausübung der eigenen Religion betont, sondern auch die Ausübung des Glaubens an sich gestärkt.
Unsere Aufgabe heute, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es, dem Vorhaben die notwendige parlamentarische Legitimität zu geben. Natürlich kann dies eines Tages ebenso für Angehörige anderer Religionen gelten. Ministerin Kramp-Karrenbauer hat vor zwei Wochen orthodoxe Christen und Muslime genannt. Sicher ist es noch ein weiter Weg dorthin. Viele Voraussetzungen müssen erfüllt werden. Doch der schnelle Umsetzungsweg im Fall der jüdischen Militärseelsorge zeigt auch, was alles möglich sein kann, wenn der politische Wille vorhanden ist.
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Bereits in der gestrigen Sitzung des Verteidigungsausschusses habe ich darauf hingewiesen: Jüdisches Leben hat in deutschen Streitkräften schon lange dazugehört, auch wenn die Soldaten oft an eine Art gläserne Decke der Diskriminierung stießen. Offizierslaufbahnen blieben ihnen verwehrt. Doch noch im Ersten Weltkrieg zum Beispiel kämpften rund 100 000 Soldaten jüdischen Glaubens. Viele wurden für Tapferkeit und andere militärische Leistungen hoch dekoriert. Leider fielen etwa 12 000. Seelsorgerisch betreut wurden sie von eigenen Feldrabbinern.
Mit der Zeit des Nationalsozialismus endete dies. Das Andenken an diese Veteranen wurde getilgt. Die meisten fielen dem Holocaust zum Opfer. Aus zahlreichen Berichten über diese Zeit wissen wir, wie wenig diese ehemaligen Soldaten, die sich zumeist als deutsche Patrioten sahen, wahrhaben konnten, weshalb ihr Vaterland sich auf eine solche Weise gegen sie wandte.
In den Jahren und Jahrzehnten des Wiederaufbaus und der Nachkriegszeit entwickelte sich behutsam das Verhältnis unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger jüdischen Glaubens zur Bundeswehr zum Guten. Heute, 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges, ist es eine Selbstverständlichkeit, wenn jüdische Soldatinnen und Soldaten in der deutschen Armee dienen.
Doch leider erleben wir seit einigen Jahren mitten in Deutschland eine starke Zunahme von Judenhass und Antisemitismus. Alte Ressentiments werden geschürt. Radikale und extremistische Positionen werden wiederbelebt. Insbesondere durch das Internet ist heute jede noch so abstruse Theorie schnell auf ihrem Weg um die Welt. Leider ist der argumentative Weg von Bill Gates und dem Coronavirus zur zionistischen Weltverschwörung für allzu viele Wirrköpfe vorgezeichnet.
Insofern meine ich, dass wir mit dem nun anstehenden Parlamentsbeschluss ein wichtiges Zeichen setzen – nicht im Kampf gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus; dafür ist das Vorhaben zu klein und letztlich zu selbstverständlich. Aber wir setzen ein deutliches Zeichen, indem wir heute feststellen: Jüdisches Leben gehört zu Deutschland, und jüdisches Leben gehört zur Bundeswehr.
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Wenn Soldatinnen und Soldaten jüdischen Glaubens sowie jeder anderen Religion als Staatsbürger in Uniform für Deutschland und die freiheitlich-demokratische Grundordnung einstehen, dann ist das ein Grund für Freude und Stolz.
Danke schön.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Vieregge. – Der nächste Redner: für die SPD-Fraktion der Kollege Dr. Fritz Felgentreu.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Volkstrauertag beginnt für mich in Berlin jedes Jahr mit einer besonders bewegenden Gedenkstunde auf dem jüdischen Friedhof in Weißensee, dem Weltkulturerbe. Dort gibt es ein liebevoll gepflegtes Gräberfeld für gefallene jüdische Soldaten des Ersten Weltkrieges. Wenn Sie die dort herrschende morgendliche Novemberstimmung vor Augen haben, dann können Sie sich vielleicht vorstellen, dass gerade dieses Gedenken eine besonders nachhaltige Wirkung für alle Teilnehmer entfaltet. Ich gehe immer mit einem Gefühl der Erschütterung aus dieser Gedenkstunde weg, weil ich dort die Gräber von Männern sehe, die im Ersten Weltkrieg für ihr Vaterland im festen Vertrauen auf dieses Vaterland gestorben sind und deren Familien in einer unerträglichen Weise vom gleichen Land wenig später verraten, ausgegrenzt, vertrieben und ermordet worden sind. Dieser Verrat wirkt tief nach. Deswegen ist das vollkommen richtig, was Sie, lieber Kollege Gröhe, vorhin gesagt haben. Es ist überhaupt keine Selbstverständlichkeit, dass das, was es noch im Ersten Weltkrieg gegeben hat – eine jüdische Militärseelsorge –, heute, über 100 Jahre später, wieder auflebt. Das ist nicht unser Verdienst, sondern es ist die Bereitschaft der jüdischen Gemeinden in Deutschland und ihres Zentralrats, diesen zerrissenen Traditionsfaden wieder aufzunehmen im Vertrauen auf eine bessere gemeinsame Zukunft.
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Es ist vollkommen richtig, was Kollegin Vieregge eben gesagt hat. Jüdisches Leben gehört zu Deutschland, und es gehört zur Bundeswehr. Aber dass wir das feststellen, reicht nicht. Entscheidend ist, dass die Jüdinnen und Juden in Deutschland das festgestellt haben und dass sie heute bereit sind, sich in diesem Sinne – auch institutionell – in die gemeinsamen Anstrengungen einzubringen und gemeinsam die militärische Seelsorge in die Zukunft zu tragen. Dafür möchte ich auch im Namen der SPD-Fraktion der jüdischen Gemeinde, dem Zentralrat der Juden meinen Dank aussprechen. Ich freue mich auf alles, was in Zukunft aus diesem wiedergewonnenen Verhältnis erwächst.
Danke schön.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt erhält die geschätzte Kollegin Emmi Zeulner, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch wenn die Zahl der Gläubigen in den Kirchen zurückgeht, so ist doch das Bedürfnis nach einem spirituellen Halt im Leben ungebrochen. Und fast jeder von uns – egal welchen Glaubens – ist in seinem Leben schon einmal mit Seelsorge in Berührung gekommen und weiß, wie wertvoll – wörtlich – die „Sorge um die Seele“ ist.
Ich selbst habe bei meinem Besuch im Kosovo von dem dortigen Bundeswehrseelsorger nach einem guten Gespräch ein kleines Kreuz geschenkt bekommen, in dieser besonderen Situation, in der man sich im Ausland befindet, in einer ungewohnten Umgebung, und doch als Gemeinschaft mit den Kameraden und Kameradinnen zusammensteht. Das begleitet und berührt mich noch heute. Heute ist ein besonderer Tag; denn wir erweitern die Seelsorge für diejenigen, die unser ganzer Stolz als Parlament sind: unsere Soldatinnen und Soldaten.
In dieser Woche haben wir wieder mehrere Verlängerungen von Bundeswehrmandaten beschlossen. Es ist unsere Fürsorgepflicht, für seelischen Beistand unserer Parlamentsarmee zu sorgen. Hier setzt die Militärseelsorge an. Sie begleitet auch in schweren Zeiten und fängt auf, nicht nur die Soldaten aller Glaubensrichtungen im Ausland und Inland selbst, sondern auch deren Familien. Diese seelsorgerische Unterstützung soll jedem unserer Soldatinnen und Soldaten gleichermaßen zur Verfügung stehen, auch den jüdischen Kameradinnen und Kameraden, und das besonders vor dem Hintergrund unserer Geschichte. Wenn wir uns bewusst machen, dass heute deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens einen Eid ablegen, unser Vaterland tapfer zu verteidigen, dann lässt mich das nicht kalt. Dass so selbstverständlich jüdische Soldatinnen und Soldaten unseren Streitkräften angehören, ist einfach ein unschätzbarer Wert.
Der dem Gesetz zugrundeliegende Vertrag betont nochmals die Wichtigkeit der Gewissheit für alle in unserem Land, dass das Judentum fester Bestandteil der demokratischen Gesellschaft unserer Bundesrepublik ist und das auch bleiben soll. Diese Gewissheit wird durch die Einführung der militärischen Militärseelsorge bestärkt und setzt ein deutliches Zeichen gegen Antisemitismus.
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Diesem Gesetz kann man nur zustimmen.
Mein geschätzter Kollege Markus Grübel hat es in einer Rede zu diesem Gesetz sehr treffend formuliert. Es geht um mehr als Toleranz. Es geht eben nicht nur um das reine Tolerieren einer anderen Weltanschauung. Es geht um Respekt, Respekt im Sinne eines Achtens einer anderen Religion, im Sinne eines Wertschätzens der anderen Ansicht. Und genau diese Wertschätzung und diesen Respekt bringen wir mit der Erweiterung der Militärseelsorge um die jüdische Militärseelsorge zum Ausdruck.
Vielen herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Zeulner. – Damit schließe ich die Aussprache.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn Krisen überhaupt etwas Gutes haben, dann, dass man aus ihnen etwas lernen kann. Nun hätte es dieser Coronakrise aber nicht bedurft, um zu erkennen, dass in der Landwirtschaft und vor allem in unserem politischen Umgang mit den Landwirtinnen und Landwirten, vor allem aber auch mit Verbraucherinnen und Verbrauchern vieles gehörig danebengegangen ist. Corona macht Missstände deutlich wie durch ein Brennglas. Sie zwingt die politisch Handelnden zu bisher undenkbaren Lösungsansätzen, so zum Beispiel gestern im Landwirtschaftsausschuss. Kollege Spiering – sehr vorbildlich – hat festgestellt: Deutschland kann sich selbst ernähren. – Herzlichen Dank für diese Erkenntnis; die teilen wir sicher alle. Aber was ist nun zu tun? Dazu müssten entsprechend unserem Antrag, über den wir hier erstmalig beraten, kreative, zukunftsfeste und nachhaltige Entwicklungen eingeleitet werden, die neue Chancen für die Landwirtschaft, für die Menschen im ländlichen Raum, somit für die Entlastung der städtischen Ballungszentren und vor allem auch für Umwelt, Natur und Artenschutz bieten.
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Wir wollen mit dem vorliegenden Antrag ein Einstiegsszenario aufzeigen, das niemanden überfordert, aber viele fördert, und zwar so, dass Versorgungs- und Existenzsicherheit gleichermaßen langfristig gesichert werden.
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Diese Krise bietet uns die Chance, uns endlich abzuwenden von Agrarindustrien und globalisierter Ernährungswirtschaft, um längst überfällige regionale Ernährungssysteme systematisch aufzubauen und zu stärken. Dazu zählen wir auch Reformen bei der Förderstruktur, zum Beispiel bei der GAP. Sie muss endlich so gestaltet werden, dass sich eine umweltschonend bewirtschaftete und regional ausgerichtete Fläche nicht nur lohnt, sondern auch rechnet.
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Die Aufstockung in der zweiten Säule um 15 Milliarden Euro, wie Frau von der Leyen gestern angekündigt hat, ist ein Anfang. Wichtiger ist hier jedoch die Verstetigung der Mittel für den gesamten mehrjährigen Finanzrahmen bis 2027.
Außerdem werde ich nicht müde, zu betonen, dass über die GAK, die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“, sowie das Agrarinvestitionsförderprogramm bereitgestellte Fördermittel schnell dahin gelangen müssen, wo sie gebraucht werden. Da muss sich auch Bürokratie in Zukunft schneller bewegen,
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zum Beispiel in die vor- und nachgelagerten Bereiche, die die regionale Weiterverarbeitung, Vermarktung und vor allem auch den Konsum der Produkte sicherstellen. Die Beantragung und Ausreichung der Fördergelder muss an die neuen vielseitigen Bedarfe der ländlichen Entwicklung angepasst werden.
Eine regionale Wertschöpfung braucht jedoch mehr – das wissen wir allerdings auch alle mittlerweile –; Stichwort „Bodenmarkt“. Verkauf von Boden an landwirtschaftsfremde Investoren zur Spekulation und Gewinnmaximierung entziehen nicht nur kleinen und mittleren landwirtschaftlichen Betrieben die Produktionsgrundlage, sondern sie zerstören darüber hinaus ganz lokal verankerte Wertschöpfungsketten, die es bisher noch oder schon wieder gibt. Wir finden, der Zugang zu Boden muss für die Landwirte durch ein Gesetz langfristig gesichert sein.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, regionale Ernährungssysteme zu stärken, wie wir das mit unserem Antrag fordern, würde sehr viele und weitergehende positive Entwicklungsmöglichkeiten und Chancen für die Bäuerinnen und Bauern und die weiterverarbeitenden Betriebe ermöglichen. Ökonomisch sicher, ökologisch nachhaltig und sozial gerecht, das sind die Grundvoraussetzungen, um das bäuerliche und das genossenschaftliche Eigentum langfristig zu schützen und Verbraucherinnen und Verbraucher in diesen Prozess positiv einzubinden. Das wollen wir sicherlich alle.
Frau Ministerin, herzlichen Dank, dass Sie unserem Antrag mit Ihrer persönlichen Anwesenheit die Bedeutung beimessen, wie Sie das heute tun.
Danke schön.
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Herzlichen Dank, Frau Kollegin, für die letzten Sätze.
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Ich freue mich auch immer wieder, wenn Mitglieder der Bundesregierung anwesend sind.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Katharina Landgraf, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Frau Ministerin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kollegen! Über Essen und Trinken, über gesunde Ernährung zu sprechen, ist immer und für alle Altersgruppen wichtig, für jeden von uns. Sich darüber im Klaren zu sein, was gesunde Ernährung und Bewegung für mich selbst bedeuten und für meinen Körper bewirken, das ist auch in dieser Situation von großer Bedeutung, und darüber möchte ich reden; denn unaufhörlich steigen ja die Kosten für die Behandlung ernährungsbedingter Krankheiten. Das sollte uns wachrütteln. Ich warte auch auf einen Aufschrei von den Gesundheitspolitikern und auch aus der Ärzteschaft.
Die Anträge der Opposition, über die wir heute reden, stammen allesamt aus der sonnenverwöhnten Vor-Corona-Zeit, geprägt von der Philosophie der Regulierung, der Steuerung, der Bevormundung von Landwirtschaft und Verbraucher. Da muss ich eine bemerkenswerte Ausnahme machen: Das trifft bei der FDP nicht zu. Das möchte ich auch würdigen.
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Aber am Ende: Wie soll es nun gehen? Wenigstens IN FORM haben Sie begrifflich aufgenommen. Aber insgesamt ist es wahrscheinlich von dem Duktus geprägt: Lieber nicht regieren als schlecht regieren.
Vielfältige Faktoren beeinflussen unsere Nahrung. Das alles kann man in dem nationalen Plan IN FORM nachlesen; denn der bringt beste Empfehlungen zum Ansatz. Doch letztendlich entscheidet jeder von uns selbst, was von diesen Vorschlägen man sich aneignet. Festzustellen ist: Das Ernährungsbewusstsein der Bevölkerung hat sich entwickelt, aber längst nicht bei allen, und das ist die große Herausforderung. Gesunde Ernährung, Bewegung, frische Luft bei jedem Wetter muss sich auch irgendwie lohnen; das muss auch honoriert werden. Da brauchen wir noch mehr Leitbilder, als wir jetzt haben.
Was haben wir also in dieser Zeit jetzt gelernt? Essen geht immer. Essen gibt es immer.
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Es gibt genug. Die Versorgung in Deutschland ist sicher, preiswert, oft unangemessen billig. Gerade jetzt können wir auf uns selbst schauen. Wir haben jetzt Raum und Zeit dafür, für gesunde Ernährung, zum Kochen. Wir können selber anbauen, so wir einen Garten oder einen Balkon haben. Garten, Gartenmärkte und Gärtner freuen sich. Wir können regional kaufen, und wir sollten uns auch einmal ohne Fitnesscenter bewegen. Vielleicht merken wir sogar, wie schön unsere Umgebung ist und dass es auch einfach geht, damit es uns gut geht. Das muss jetzt in die Herzen und Köpfe hinein.
Wir müssen das Immunsystem stärken, jeder von uns, also auch bewusst. Man kann Gesundes sogar genießen. Ich meine nur einheimisch, regional und saisonal. Ich erinnere jetzt gerade an Gurken, Radieschen, Erdbeeren und Salat. Auch pflanzliche Öle können regional sein. Es muss nicht unbedingt ein exotisches Produkt sein. Gesund ist auch regionales Deutsches. Wenn man regionale Produkte kauft, kann man kurze Wege schon einmal vorprogrammieren. Vielleicht kennt man sogar selber die Gärtner oder die Landwirte, die Felder. Die frische Ware müssten wir schätzen, Essen nach Saison.
Jetzt ist eben die Frage, wie sich der Staat, die Gesellschaft dazu verhalten. Wir haben schon viel für regionale Produkte getan, so mit dem Regionalfenster. Aber nimmt es der Verbraucher auch an? Die Entscheidung aber für einen gesunden Lebensstil –
Kommen Sie zum Schluss, Frau Kollegin?
– obliegt uns ganz persönlich, Herr Präsident, in ureigener Sache. Daran sollten wir weiter arbeiten, vielleicht auch einmal mit einer Bewegung zum gesunden Ernähren.
Vielen Dank.
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Vielen Dank für den Appell, Frau Kollegin Landgraf. – Nächste Rednerin ist für die AfD-Fraktion die Kollegin Franziska Gminder.
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Herr Präsident! Frau Ministerin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! „Gesunde Ernährung für ein gesundes Leben“, dies war der Titel für meine erste Rede im Bundestag im Januar 2018. Ganz aktuell liegt nun der zweite ernährungspolitische Bericht der Bundesregierung vor, der alle vier Jahre veröffentlicht wird und den Zeitraum von Juni 2016 bis März 2020 umfasst. Vier Anträge der Opposition beschäftigen sich mit dem uns alle betreffenden Thema: zwei von der Linken, „Regionale Ernährungssysteme stärken“ und „Für eine zukunftsweisende und soziale Ernährung – Besonders für Kinder“, ein Antrag der Grünen, „Gesunde Ernährung im Alltag einfach machen – Ernährungswende umsetzen“, und ein Antrag der FDP, „Mehr Bildung, Bewegung und besseres Essen“.
Alle diese Themen treffen bei vernünftigen Menschen auf offene Ohren. Wie lassen sich diese Ziele erreichen? Die Ernährungspolitik soll ja keine Verbotspolitik sein, sondern mit guten Argumenten und Anregungen eine Hinwendung zum gesundheitsbewussten Lebensstil erreichen.
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Wünschenswert ist eine verbrauchernahe Versorgung der Bevölkerung auf kurzen Wegen mit regionalen, nachhaltig erzeugten Lebensmitteln ohne schädliche Plastikverpackungen. Transporte von Kartoffeln und Karotten zum Waschen ins Ausland, zum Beispiel nach Italien, oder zum Pulen von Krabben nach Marokko mit anschließendem Rücktransport zum Verkauf nach Deutschland sollten nicht mehr vorkommen.
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Eine Minimierung der Transportwege wäre sehr wünschenswert.
Eine gute Ernährung sollte uns auch etwas wert sein. Die Deutschen geben durchschnittlich 10 Prozent ihres Einkommens für Nahrungsmittel aus. In Frankreich sind es 13 Prozent, das ist erheblich mehr. Auch sollte der Verbraucher dafür sorgen, dass der erzeugende Landwirt einen angemessenen Preis für seine mit viel Arbeitseinsatz und Schweiß produzierten Waren erhält. Hofläden sind zu fördern, damit auch das Höfesterben aufhört.
In der Coronakrise zeigt sich die Anfälligkeit der bisher als sakrosankt geltenden Globalisierung. Der Selbstversorgungsgrad liegt in Deutschland bei Getreide und Kartoffeln zwar bei fast 100 Prozent, bei Gemüse aber nur bei 36 Prozent und bei Obst nur bei 22 Prozent. Das muss sich ändern.
Unsere Kinderernährung liegt leider auch ziemlich im Argen. Früher gab es den Spruch: Kinderernährung liegt in Deutschland auf dem Niveau der Schweinezucht, je fetter umso besser. – Hier hat glücklicherweise ein Umdenken stattgefunden. Das Ende der gesüßten Kindertees mit allen schädlichen Folgen für die Zähne ist zu begrüßen. Allerdings sind die Vorlieben für „zu fett, zu süß, zu salzig“ noch viel zu weit verbreitet. Und dicke Kinder neigen auch im späteren Erwachsenenleben zu Übergewicht, sogar Adipositas, mit allen schädlichen Folgen für Kreislauf, Herzerkrankungen und Diabetes.
Auf internationale Ausschreibungen für Kita und Schulessen sollte verzichtet werden. Ich erinnere nur an den Skandal 2012 durch aus China importierte tiefgefrorene, mit dem Norovirus belastete verdorbene Erdbeeren mit den bekannten negativen Folgen bei über 10 000 Menschen, überwiegend Kinder.
Eine Bildung der Kinder in den Schulen mit Kochkursen, Anpflanzen von Gemüse und Obst in Schulgärten ist eine zu begrüßende Aufgabe. Leider sind in vielen Haushalten aus finanziellen Gründen und Zeitmangel für das Kochen Fertiggerichte weit verbreitet. So praktisch eine Pizza zwischendurch sein mag – Vorsicht Zucker! –; Sie kann aber eine gesunde Mahlzeit nicht ersetzen. Auch in Altenheimen und Krankenhäuser muss auf bessere und gesündere Ernährung geachtet werden. „Geiz ist geil“ darf nicht das Motto sein.
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Ich komme zum Schluss. Die Einführung des Nutri-Score als erweiterte Nährwertkennzeichnung ist ein Schritt auf dem richtigen Weg. Es braucht aber eine Gesamtstrategie, die nicht nur die Ernährungsbildung, sondern auch die Bewegung von Kindern und Jugendlichen begünstigt.
Frau Kollegin, kommen Sie jetzt tatsächlich zum Schluss.
Ich komme gleich zum Schluss. – Es ist doch unmöglich, dass viele Kindergartenkinder keinen Purzelbaum mehr hinbekommen,
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und ein 30-minütiger Schulweg auf Schusters Rappen hat noch keinem geschadet.
Frau Kollegin, bitte.
Turnunterricht und Schwimmen müssen wieder stärker im Schulunterricht stattfinden. Hoffen wir, dass die Einschränkungen, denen wir auf allen diesen Feldern durch das Coronavirus unterliegen, bald völlig beendet werden und wir wieder in den gesunden Alltag zurückkehren.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Vielleicht an die AfD-Fraktion: Das war jetzt eine Minute über der Zeit. Ich bin heute gnädig, weil ich auch einmal beliebt sein will bei den Kolleginnen und Kollegen des Parlaments; ich bin sonst immer der Böse. Aber ich bitte doch darum, dass wir, damit wir 21 Uhr erreichen, die Redezeiten einhalten.
Als nächste Rednerin spricht zu uns die Kollegin Isabel Mackensen, SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Sehr geehrte Frau Ministerin! Vor ein paar Wochen war ich im Internet und habe online Produkte ausgewählt, habe mich um 17 Uhr zum vereinbarten Treffpunkt begeben, auf den Dorfplatz nach Weisenheim am Berg, und habe dort Fisch, Apfelsaft, Kartoffeln und Honig von Erzeugern der direkten Umgebung abgeholt. Die direkte Vernetzung von Erzeugern und Konsumenten ermöglichen in meinem Beispiel die Marktschwärmer. Vier tolle Frauen haben in meinem Wahlkreis in Weisenheim am Berg eine solche Schwärmerei gegründet: eine großartige Form der regionalen Wertschöpfung.
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Gerade im ländlichen Raum mit seiner vielfältigen Struktur ist es wichtig, kreative, vor allem aber passgenaue Formen der Vermarktung von landwirtschaftlichen Erzeugnissen zu finden. So gibt es bei mir im Wahlkreis Direktvermarktungsangebote wie Hofläden, zum Beispiel in Meckenheim und Gerolsheim, Dorfläden wie in Elmstein und Neidenfels, Wochenmärkte wie in Speyer und Grünstadt, aber auch alternative ganzheitliche Konzepte wie die Solidarische Landwirtschaft in Neustadt. Diese Beispiele gibt es in ganz Deutschland, und es gilt, diese Form zu unterstützen.
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Aus dem Ökobarometer 2019 wird die vermehrte Nachfrage nach regionalen Produkten sehr deutlich. So erachten neun von zehn Befragten das Merkmal „regional" bei Lebensmitteln als wichtig oder sehr wichtig; die Kombination mit „Bio" wird als besonders beliebt angesehen. Doch zur Wahrheit gehört auch, dass sich solche Lippenbekenntnisse nicht immer im Kaufverhalten widerspiegeln.
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Das liegt aber auch daran, dass der Begriff „Region" nicht klar definiert ist.
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– Vielen Dank.
Um für Verbraucherinnen und Verbraucher gerade im Supermarkt mehr Transparenz zu schaffen, muss eine gesetzliche Regionalkennzeichnung für Lebensmittel festgelegt werden. Bei als „regional“ gekennzeichneten Produkten muss die Regionsangabe durch die Benennung geografischer Grenzen oder des Umkreises in Kilometern für die Verbraucherinnen und Verbraucher nachvollziehbar sein.
Als positives Beispiel möchte ich an dieser Stelle das Regionalfenster des BMEL hervorheben, in dem angezeigt wird, woher das Produkt stammt, wo es gegebenenfalls verarbeitet wird und wie hoch der Anteil regionaler Rohstoffe ist. Dieses gesetzlich zu verpflichten, kann ein solcher Beitrag für Transparenz sein.
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Die regionale Produktion, Verarbeitung und Vermarktung von Lebensmitteln ist nicht nur eine Chance für die einzelnen Betriebe, ihr Einkommen zu diversifizieren und zu stabilisieren, sondern auch eine Chance für die gesamte Region. Die Landwirtschaft, egal ob Ackerbau, Nutztierhaltung oder Sonderkulturen wie der Obst- und Weinbau, ist ein bedeutender Wirtschaftsfaktor für den ländlichen Raum. Es gibt viele kleine und mittlere Betriebe mit einem weiteren Standbein in der Direktvermarktung, dem Urlaub auf dem Bauernhof, der Gastronomie oder sogar pädagogischen Angeboten.
In diesem Zusammenhang möchte ich die Bedeutung der Frauen für die regionale und nachhaltige Wertschöpfung besonders hervorheben.
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Denn Frauen sind meistens die treibende Kraft der Direktvermarktung und auch bei der Umstellung auf ökologischen Landbau. Ihr Engagement, auch wenn sie rein formal oft nur den Status der mitarbeitenden Ehepartnerin haben, ist enorm und wichtig für die Entwicklung des ländlichen Raums.
Ich begrüße in diesem Kontext die Forderung der Präsidentin des Deutschen Landfrauenverbandes, Petra Bentkämper. Sie fordert eine Frauenquote von 30 Prozent in den Führungspositionen der Bauernverbände.
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Völlig richtig: Die Vertretung der Landwirtschaft muss die Realität widerspiegeln; die Landwirtschaft muss weiblicher werden!
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Das waren jetzt nur 30 Sekunden drüber.
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Nicole Bauer, FDP-Fraktion, das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Ministerin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wie wir alle wissen: Durch die Coronakrise haben regionale Bauernmärkte und Biokistenvertreiber einen fulminanten Aufschwung erfahren. Ah, ja! Aber woran liegt das? Nicht nur daran, dass sich Leute, die jetzt Fremdkontakte scheuen, das Essen nach Hause liefern lassen. Nein, Gesundheitsaspekte und Nachhaltigkeit sind in aller Munde. Dazu gehören aus meiner Überzeugung auch regionale und saisonale Erzeugnisse unserer heimischen Landwirtschaft.
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Unsere Produkte haben Qualität; das schätzen die Bürger, und das auch zu Recht. Die Landwirte leisten tagtäglich großartige Arbeit und sind innovativ. Ich kann mich noch gut daran erinnern, als meine Großmutter bereits vor über 25 Jahren als eine der Ersten in der Region mit Direktvermarktung begonnen hat. Sie wurde von vielen Seiten belächelt. Stellen Sie sich das einmal vor: eine Frau, die damals den Mut hatte, unternehmerisches Geschick mitbrachte und den richtigen Riecher für diese Zukunftsentwicklung hatte! Sie wurde belächelt. Heute hingegen – schauen Sie! –: regionale Märkte nahezu überall und moderner denn je.
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Aber im Gegensatz zu Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, bin ich nicht der Ansicht, dass es ohne Globalisierung geht. Wir werden auch weiterhin Futtermittel und Bananen importieren müssen.
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Also suggerieren Sie nicht, dass eine „verbesserte“ Eiweißstrategie alle Probleme lösen wird.
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Auch eine ausschließliche Extensivierung der Landwirtschaft hierzulande wird allgemein zu mehr Hunger und Not führen. Es ist nämlich unsere Landwirtschaft, die uns satt macht; dessen müssen wir uns tagtäglich bewusst sein.
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Aber während Sie von „erpresserischen Großkonzernen“ und „landwirtschaftsfremden Investoren“ sprechen, denke ich bei der Landwirtschaft an die Landwirte in meinem Wahlkreis, die Milchtankstellen eröffnen, die Alpakawanderungen anbieten und die Eier- und Fleischautomaten aufstellen. Sie selbst entwickeln innovative Ansätze – trotz der bösen, bösen Industrie. Da kommen wir zum eigentlichen Punkt: Ohne diese böse Industrie, die Sie immer anzweifeln, könnten wir uns Ihre sozialen Wohltaten gar nicht leisten, die Sie großzügig tagtäglich verteilen wollen.
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Dann komme ich auch gern zu den Grünen: Lassen Sie doch den Verbrauchern die Wahl. Deshalb plädiere ich im Bereich der Ernährung für mehr Forschung und Bildung. Ich fordere mehr Langzeit- und Interventionsstudien, um klare Aussagen über „gesund“ und „ungesund“ treffen zu können, und diesen Erkenntnisgewinn aus der Forschung können wir dann an Schulen, Universitäten, in Kindergärten und bei der Ausbildung vermitteln.
Aber auch die Eltern haben eine Schlüsselfunktion. Wenn wir sie und die Kinder erreichen und in den Schulen für Ernährung sensibilisieren, dann braucht sich der Staat nicht einzumischen, was die Familien am Abend auf dem Tisch haben.
Also: Auf ein besseres Gespür für das, was wir unserem Körper zumuten, für die Wechselwirkungen zwischen Gesundheit, Bewegung und Ernährung, darauf kommt es an.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Bauer. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Renate Künast, Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Fangen wir doch mal mit Corona an. Die Coronapandemie hat doch das Thema „Ernährung und Essen“ eigentlich wieder richtig nah an uns herangeführt. Man könnte also sagen, wenn man individuell betrachtet, was so auf dem Markt los war: Die Wertschätzung für Ernährung ist gewachsen, vor allen Dingen für regionale, für ökologische, für importunabhängige Lebensmittel. Plötzlich fangen die Leute an, Fotos vom gekochten Essen zu posten und zu tweeten, kaufen Mehl und alles, um wieder selber Brot zu backen. Also: Man sieht an dieser Stelle schon, dass da wieder ein gemeinsames Interesse am Essen entsteht.
Trotzdem: Es wurde noch etwas anderes durch Corona sichtbar. Es wurde eine Decke weggezogen, und was sich jetzt zeigt, ist, dass unser Ernährungssystem eigentlich gescheitert ist.
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Ich will Ihnen sagen, warum.
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Wir sehen nämlich jetzt die fast 10 Millionen Diabetiker, über die wir in unserem Land immer reden, meine Damen und Herren. Die sind jetzt eben nicht nur übergewichtig und krankheitsanfällig, nein, jetzt heißen sie „Risikopatienten“.
Wir haben noch mehr gelernt durch Corona, nämlich zum Thema Zoonosen. Wir haben uns in der Art und Weise, wie wir unsere Lebensmittel produzieren, weltweit so ausgedehnt, dass wir sozusagen immer weiter in die Wälder gehen, Kontakte zu Tieren haben, auf deren Viren wir gar nicht vorbereitet sind; die finden plötzlich einen neuen Wirt, und das ist der Mensch. Wir sehen an dieser Stelle durch Corona also auch, dass wir Raubbau betreiben, dass wir die Klimakrise verursachen, den Verlust an Artenvielfalt zu verantworten haben und unsere eigene Gesundheit gefährden.
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Man kann also sagen: Der Grund für die Pandemie ist die falsche Art und Weise, wie wir unsere Nahrungsmittel produzieren, Landwirtschaft betreiben und mit der Umwelt umgehen. Wofür wir plädieren, ist, dass wir genau diese Erkenntnis jetzt nehmen, umdrehen und sagen: Und deshalb brauchen wir jetzt eine Ernährungswende.
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Nicht einfach ausdehnen, sondern Klasse statt Masse! Wir müssen jetzt auf Agrarökologie setzen, auf Bioanbau, auf durchaus mehr regionale Verarbeitung, ohne die Globalisierung gänzlich aufzugeben.
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Aber die Prozentzahlen können schon noch steigen, meine Damen und Herren, vor allen Dingen die Zahlen bei der regionalen Wertschöpfung. Es müssen nicht nur große Lebensmittelkonzerne zur Wertschöpfung beitragen, sondern das kann auch hier, mitten in Europa, mitten in Deutschland, geschehen.
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Wir müssen auch die Politik der Städte entsprechend ausrichten. Die müssen den Landwirten eine Perspektive geben, genauso wie wir die EU-Agrargelder umbauen müssen, damit sie das hiesige Wirtschaften, das ökologischere, das verträglichere Wirtschaften finanzieren, meine Damen und Herren.
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Und dann müssen wir natürlich überhaupt an die Ernährungswirtschaft ran. Wissen Sie, die Lebensmittelwirtschaft hat die Menschen durch hochverarbeitete Produkte immer zuckerabhängiger gemacht, und in Wahrheit sind die Unternehmen selber auch zuckerabhängig, weil sie ihre Marken jetzt gar nicht mehr umbauen können hin zu Produkten mit weniger Zucker.
Also: Eine Ernährungswende muss her. Wir müssen diese Krise jetzt für einen Umbau nutzen. Wir haben gesehen: Im Ernährungsbereich gibt es so viel Kreativität, Verbindungen, neue Formen – online und offline. Diese Kreativität wollen wir erhalten.
Zum Ende möchte ich einen Wunsch äußern. Nachdem wir all das im Überblick sehen, was wir vorher kannten und seit Corona kennen: Wir müssen in Zukunft anders leben, anders wirtschaften und uns anders ernähren.
Frau Kollegin.
Wir müssen Schulen, Kitas und Kantinen, Stadt und Land sowie das Handwerk und regionale Wertschöpfung zusammenbringen. Das muss größer und stärker werden und nicht das Alte.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Es ist der Fluch der bösen Tat: Jetzt überziehen einfach alle in der gleichen Größenordnung. – Nächste Rednerin ist für die CDU/CSU-Fraktion die Kollegin Ingrid Pahlmann.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nichts im Leben scheint auf den ersten Blick so selbstverständlich und banal wie die Ernährung, wie Essen und Trinken. Aber dennoch wird kaum etwas anderes so vielseitig und kontrovers diskutiert.
Am Montag hatten wir im Deutschen Bundestag ein Fachgespräch zur Ernährungsforschung. Alle Wissenschaftler waren sich darin einig, dass wir in Deutschland gute, sichere und erschwingliche Lebensmittel zur Verfügung haben. Und trotzdem spielen ernährungsbedingte Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes und Adipositas eine immer größere Rolle bei der Mortalität in unserem Land.
Seit der vergangenen Woche liegt uns nun der ernährungspolitische Bericht für die Jahre 2016 bis 2020 vor. Er zeigt, was wir, was die Bundesregierung in puncto Ernährungspolitik und gesundheitlicher Verbraucherschutz bereits auf den Weg gebracht hat. Zu den umgesetzten Maßnahmen gehören zum Beispiel der Nutri-Score, die Ansätze zur Reduktion von Lebensmittelverschwendung, die Reduktionsstrategie für Zucker, Salz und Fette in Fertigprodukten, die wir mittlerweile aus praktischen Gründen und aus Zeitmangel immer häufiger auf unserem Teller finden. Wir gehen da mit unserer Ministerin den Weg der freiwilligen Selbstverpflichtung der Lebensmittelindustrie.
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Noch besteht die Chance der Freiwilligkeit, aber ich sage auch: Es muss geliefert werden.
Wir haben aber auch Erfolge zu verzeichnen: Wir haben das Verbot von Zucker in Kindertees und die allgemeine Reduzierung des Zuckergehalts in Kindergetränken, Quarkzubereitungen und Kinderjoghurts. In dem Bereich geht es also wirklich voran. Es gibt aber auch Produktgruppen, wo die Verbesserungen signifikanter sein könnten und sollten. Dringenden Handlungsbedarf sehe ich da beim Salzgehalt von Fertigprodukten. Da sind die Tiefkühlpizzen ein absolutes Negativbeispiel. Da ist definitiv Luft nach oben.
Darüber hinaus müssen wir aber, wie es die Wissenschaftler am Montag im Fachgespräch ausführten, auch noch an weiteren Schrauben drehen. Drei Dinge sind aus deren Sicht dabei unerlässlich: erstens Bildung, zweitens Information und drittens die regulatorischen Maßnahmen.
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Flankierend zu unser aller Anstrengung ist im Bereich Bildung und Information der Deutsche LandFrauenverband mit Aktionen wie „Kochen mit Kindern“, dem Ernährungsführerschein und der Forderung nach dem Schulfach „Alltagskompetenz“ richtig gut unterwegs. Aber da brauchen die Landfrauen dann auch die Unterstützung der Kultusministerien der Länder; denn alleine können sie es nicht umsetzen. Aber auch die Kommunen haben ihre Verpflichtung und ihre Möglichkeit, zum Beispiel bei der Auswahl ihrer Caterer auf Qualität und Einhaltung der DGE-Empfehlungen zu achten. Das können nämlich die Kommunen entscheiden.
Heute war übrigens die Preisverleihung im Rahmen von „Zu gut für die Tonne“. Einer der Nominierten ist aus meiner Heimatstadt. Er bietet als Caterer ein „Ganzheitliches Schulmensakonzept – Ernährungsbildung mit regionalen Produkten“ an. Wir haben ihn als Stadtrat damals ganz explizit aufgrund dieser Aktivitäten ausgewählt, für uns die Schul- und Kitaversorgung sicherzustellen. Das ist ein bisschen teurer; aber das war uns die Sache wert. Die Kommunen haben also durchaus das Zepter in der Hand.
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Unsere Aufgaben auf Bundesebene sind die weitere Informationsübermittlung und die regulatorischen Maßnahmen. Da sollten wir uns dann auch nicht scheuen, der Wirtschaft gehörig auf die Füße zu treten, damit sie ihre Rezepturen weiter anpasst
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und die Geschmacksnerven der Verbraucherinnen und Verbraucher neu polt: weg von zu süß, zu salzig, zu fett hin zu einem gesünderen Maß. Der farbliche Nutri-Score kann dabei Entscheidungshilfe sein, aber auch hier muss man die Plausibilität selbst prüfen; denn nicht immer ist eindeutig, dass „grün“ auch gleich „gesund“ ist. – Ich meine das jetzt nicht politisch.
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Deshalb ist immer auch ein gewisses Maß an Ernährungsbildung nötig.
In vielen Haushalten spielen Nahrungsergänzungsmittel leider eine immer größere Rolle. Diese Supplemente sind nicht genau reguliert; sie sind frei verfügbar und beileibe nicht unproblematisch. Diesem Bereich werden wir uns in den kommenden Wochen intensiv widmen.
Sie sehen also: Das Themengebiet Ernährung bietet noch etliche Bereiche, die es zu regulieren und zu verbessern gilt. Wir bleiben zusammen mit unserer Ministerin dran.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Pahlmann. Alles wunderbar.
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Nun erhält als erster Mann in dieser Debatte der Kollege Rainer Spiering, SPD-Fraktion, das Wort.
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Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Frau Bauer, ich hatte eben ein Bild vor Augen: Sie und Wolfgang Kubicki auf Alpakas durch Baden-Württemberg.
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– Und dann durch Bayern. – Ich musste das jetzt einfach noch mal loswerden.
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Die Anträge, die wir hier heute von den Grünen, der Linken und der FDP vorliegen haben, unterscheiden sich diametral. Ich habe mich sowohl bei den Grünen als auch bei den Linken in der Beschreibung des Zustandes wiedergefunden, musste für mich allerdings auch feststellen, dass dann die kompletten Parteiprogramme hinterhergeschoben worden sind,
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und das war für mich bei der Bewältigung dieser Frage dann einfach zu viel.
Wirklich geärgert habe ich mich über die FDP.
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Der immer wiederkehrende Hinweis „Es ist, wie es ist, und es ist gut; wir machen weiter so wie bisher“ steht bei der FDP in Stein gemeißelt. Im Grunde genommen steht dahinter: Mehr Zucker, mehr Fett! Wenn’s Geld bringt, dann ran!
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Ich glaube, so können wir nicht miteinander umgehen.
Zur Frage der Bildung. Nun bin ich selbst Berufsbildner und weiß, mit welchem Bildungsstand die Mädchen und Jungen bei uns ankommen. Ich finde, diese Argumentation ist einfach hochgradig unfair.
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Denn gerade die Kinder aus sozial schwächeren Familien haben den Bildungszugang, den Sie in Ihrer elitären Truppe offensichtlich für selbstverständlich halten, überhaupt nicht.
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Ich weiß gar nicht, mit welcher Unverfrorenheit man Schichtarbeiterinnen und Schichtarbeitern, die Nachtschicht schieben, die zu Billigstlöhnen arbeiten, jetzt auch noch verdonnert, eine staatliche Aufgabe zu übernehmen, der sie im Bereich der Ernährung überhaupt nicht gewachsen sind. Ich finde es total unfair, was die FDP da macht.
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Ich würde ganz gerne auf ein paar Einzelbeispiele eingehen und nicht das große Ganze retten wollen. Wir haben in der Coronakrise gesehen, dass es eine Sollbruchstelle in der Fleischkette gibt: Das sind die großen Schlachtbetriebe. – Wir haben in Deutschland im Großen und Ganzen noch vier große Betriebe und ein paar kleinere, die jetzt reihenweise wegbrechen, namentlich bei mir zu Hause. Das heißt, der Landwirt wird seine Schweine nicht los, und der Fleischverarbeiter bekommt kein Fleisch.
Da wäre es höchste Zeit, dass wir uns unserem regionalen Handwerk zuwenden. Handwerk hält Tarifverträge über die Innungsverbände. Handwerk zahlt in die Sozialversicherung ein. Handwerk ist gut ausgebildet. Handwerk hat einen guten Ruf, anders als die Schlachtbetriebe. Es wird höchste Eisenbahn, dass wir dem deutschen Handwerk, auch dem Schlachthandwerk, endlich wieder den Stellenwert beimessen, der ihm zusteht. Das wäre Hilfe, die wir sofort leisten können, die wir vor Ort leisten können und die wir über regionale Programme mit Unterstützung Berlins fahren können.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Spiering. Sie sollten sich das Bild, das Sie vor Augen hatte, doch noch mal überlegen. Denn Alpakas sind kleine Kamele,
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Stockmaß 81 bis 85 Zentimeter, also mehr so Ponygröße.
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– Nein, gibt es nicht. Ich habe es gerade noch mal nachgeschaut, Frau Kollegin Lemke; aber egal.
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Vor allen Dingen wollen wir den Alpakas mein Gewicht nicht zumuten.
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Ich wäre ungefähr doppelt so schwer wie das Eigengewicht des Kamels. Und das ist dann einfach unter Tierschutzgesichtspunkten nicht gut.
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Als nächster Redner hat der Kollege Artur Auernhammer, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
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Herr Präsident, vielen Dank für Ihre Rücksichtnahme auf die Tiere. – Meine sehr verehrten Damen und Herren! Verehrte Frau Ernährungsministerin! Ja, es ist richtig, dass wir über Ernährung diskutieren und dass auch zwei Männer in dieser Debatte dabei sind. Denn – meine Damen, nehmen Sie es nicht persönlich – fast 50 Prozent der deutschen Frauen leiden an Übergewicht. Aber – meine Herren, das nehmen Sie bitte jetzt persönlich – bei den Männern sind es fast zwei Drittel der Bevölkerung, die an Übergewicht leiden.
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Und das sollte uns zu denken geben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es hat viele Ursachen. Gerade in der Coronakrise haben wir gesehen, dass viele Menschen in den Supermarkt rennen und sich Dinge kaufen, die sie sich vielleicht noch nie gekauft haben. Es liegen jetzt Tausende von Packungen an Mehl und Hefe in den privaten Haushaltungen, wo noch nie ein Brot gebacken worden ist. Das zeigt uns, dass die Kompetenz, mit Lebensmitteln umzugehen, dass die Kompetenz, wie ich Nahrungsmittel erzeuge, wie ich Nahrung zubereite, in unserer Gesellschaft eigentlich viel zu wenig verankert ist. Wir leisten uns die teuersten Einbauküchen und die billigsten Lebensmittel, und das passt nicht zusammen, meine Damen und Herren.
Ich möchte noch eines deutlich erwähnen. Wenn wir über Ernährung diskutieren, dann haben wir viel im Bereich der Bildung, der Aufklärung, der Deklaration zu diskutieren. Aber wir müssen auch darüber diskutieren, wie wir uns verhalten, wie wir uns bewegen. Wir bewegen uns viel zu wenig. Gerade in der Coronazeit, in der Homeoffice-Zeit, hat die deutsche Bevölkerung nicht in der Zahl zugenommen – das kommt erst in neun Monaten –, sondern an Gewicht zugenommen.
Deshalb ist es wichtig, dass dieser Coronaspeck wegkommt, dass wir wieder zu sportlichen Aktivitäten zurückkommen, dass wir – dafür bin ich dankbar – wieder sportliche Aktivitäten machen können in der freien Natur; das müssen wir wieder machen. Wir müssen überall das Engagement in den Sportvereinen, in den Fitnessstudios unterstützen, damit wir auch wieder stärker in Bewegung kommen. Denn nur derjenige, der sich ausreichend bewegt, verbrennt auch die Kalorien,
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und deshalb hält es ihn gesund, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Wir können hier sehr viel diskutieren über Ernährungskompetenz, über Bildung. Aber ein Großteil der Verantwortung liegt auch bei den Ländern. Ich bin dankbar, dass gerade aus der Landfrauenbewegung sehr viel Engagement kommt, ein eigenes Unterrichtsfach in den Ländern zu etablieren. Ich glaube, es sollte unsere Unterstützung finden, dass die Länder in den Schulen diese Unterrichtseinheiten wieder stärker favorisieren und wir unsere Kinder wieder mehr in das Bewusstsein „Wie produziere ich Lebensmittel? Wie bereite ich Nahrungsmittel zu?“ bringen. Dann habe ich auch nach einer Coronakrise eine gesunde Bevölkerung, und das sollte unser aller Anliegen sein.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Damit schließe ich die Aussprache.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir befinden uns derzeit in einem intensiven Diskussionsprozess über eine grundlegende Reform des Wahlrechts. Wir haben dazu in dieser Woche eine Anhörung im Innenausschuss des Deutschen Bundestages gehabt. Wir haben letzte Sitzungswoche darüber in einer Aktuellen Stunde debattiert.
Heute steht aber eher eine technische Gesetzesänderung auf der Tagesordnung. Die 24. Änderung des Bundeswahlgesetzes ist allerdings gleichzeitig kein Präjudiz dafür, dass andere Änderungen des Wahlgesetzes – eine 25. Änderung – nicht möglich sind.
Heute beraten wir die Wahlkreisanpassungen aufgrund der Bevölkerungsentwicklung. Regelmäßig, vor jeder regulären Bundestagswahl, ist zu prüfen, ob die Grenzen der Wahlkreise noch der aktuellen Bevölkerungsentwicklung entsprechen. Wir haben die Situation, dass eine Verschiebung zwischen den Bundesländern nicht notwendig ist. Aber aufgrund der Bevölkerungsentwicklung muss es in drei Bundesländern – Brandenburg, Nordrhein-Westfalen und Bayern – zwingend Änderungen beim Zuschnitt einzelner Wahlkreise geben.
Wir haben uns dazu entschieden, nur die Änderungen vorzunehmen, die wirklich notwendig sind. Das heißt, dort, wo es jetzt schon eine Bevölkerungsabweichung von 25 Prozent nach oben oder unten zum Normwahlkreis, der derzeit aus 243 523 Personen besteht, gibt, müssen wir eine Änderung durchführen.
Ein Wahlkreis, der Wahlkreis 61 Potsdam – Potsdam-Mittelmark II – Teltow-Fäming II überschreitet bereits jetzt diese Grenze. Fünf weitere Wahlkreise werden voraussichtlich bis zur nächsten Bundestagswahl im September 2021 diese Grenze überschreiten. Bei der hier zwingend notwendigen Neueinteilung haben wir uns vom Grundsatz der Wahlkreiskontinuität leiten lassen.
Wegen des Bevölkerungszuwachses im Berliner Umland ist die zum Landkreis Potsdam-Mittelmark gehörende amtsfreie Gemeinde Werder aus dem Wahlkreis 61 herauszulösen und dem Wahlkreis 60 Brandenburg an der Havel – Potsdam-Mittelmark I – Havelland III – Teltow-Fläming I zuzuordnen.
In Nordrhein-Westfalen wird die zum Kreis Gütersloh gehörende Stadt Schloß Holte-Stukenbrock aus dem Wahlkreis 137 Paderborn herausgelöst und dem Wahlkreis 136 Höxter – Gütersloh III – Lippe II zugeordnet. Im Gegenzug wird die Stadt Detmold als Kreisstadt des Kreises Lippe und ehemalige Residenzstadt des Fürstentums Lippe nun dem Wahlkreis 135 Lippe I zugeordnet.
In Bayern kommt die Verwaltungsgemeinschaft Wörth a. d. Isar vom Wahlkreis 228 Landshut zum Wahlkreis 230 Rottal-Inn, die Verwaltungsgemeinschaft Wörth a. d. Donau vom Wahlkreis 233 Regensburg zum Wahlkreis 234 Schwandorf und die Verwaltungsgemeinschaft Uehlfeld vom Wahlkreis 243 Fürth in den Wahlkreis 242 Erlangen und die Gemeinde Altenmünster vom Wahlkreis 253 Augsburg-Land zum Wahlkreis 254 Donau-Ries.
Was wir nicht in das jetzige Gesetzgebungsverfahren eingeführt haben, ist die Frage, was passiert, wenn eine Bundestagswahl, die als Präsenzwahl vorgesehen ist, etwa wegen einer Epidemie nicht so stattfinden kann, wie wir es gewohnt sind. Das ist eine wichtige Frage, der wir uns stellen müssen; denn aufgrund der Periodizität der Wahl endet ja eine Wahlperiode auf jeden Fall. Hier wollen wir ein eigenes Gesetzgebungsverfahren, um uns mit dieser Frage zu befassen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Heveling. – Als nächster Redner hat das Wort für die AfD-Fraktion der Kollege Albrecht Glaser.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es geht bei dieser Wahlrechtsnovelle der Bundesregierung, die als Änderungsgesetz der Regierungsfraktionen firmiert, um Handwerk ohne tiefere politische Substanz. Der Kollege hat das alles wunderbar dargestellt; das muss ich dann überhaupt nicht wiederholen.
Politisch brisant ist etwas ganz anderes. Die filigrane Veränderung der Wahlkreise darf wohl als sicheres Indiz dafür angesehen werden, dass das Projekt Wahlrechtsreform von der Koalition endgültig abgeblasen wird, und dies, obwohl eine Parlamentarierkommission über Monate hinweg daran gearbeitet hat und bis heute fast täglich von einer Wahlrechtsreform geredet wird, obwohl sie gar nicht stattfinden wird.
Am Montag gab es zu dem Vorschlag der drei kleinen Fraktionen eine Anhörung im Innenausschuss; davon war auch die Rede. Das Ergebnis war bemerkenswert:
Erstens. Der minimalinvasive Eingriff in das geltende Recht, wie es ein Gutachter formulierte, bekam durchweg schlechte Noten. Das lag nahe, da der Vorschlag das Grundproblem der Entstehung einer vor der Wahl unbekannten Zahl von Überhangmandaten und der daraus resultierenden Ausgleichsmandate nicht löst. Zudem erfordert er eine Neueinteilung aller Wahlkreise in Deutschland – eine schon bei Einbringung im Oktober 2019 nicht mehr in dieser Legislaturperiode zu lösende Aufgabe, wie wahrscheinlich alle Beteiligten auch wussten.
Zweitens. Interessant war daher vor allem die Diskussion über die Begrenzung der Zahl der Direktmandate auf die den Parteien nach den Verhältnisstimmen zustehenden Mandate. Sowohl der von der SPD öffentlich verkündete Vorschlag als auch der von der AfD im Oktober 2019 eingebrachte Wahlrechtsantrag arbeiten mit diesem Gedanken. Nach dem AfD-Modell könnte exakt die im Gesetz festgelegte Gesamtmandatszahl auf diesem Weg erreicht werden, ohne die bisherige Wahlkreiseinteilung ändern zu müssen. Man könnte also auch ein Gesetzesvorhaben noch durchziehen.
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Ohne Probleme könnte man auf diese Weise die 598 Mandate, die nach geltendem Recht angestrebt werden, erhalten. Man könnte sogar eine niedrigere Zahl erreichen.
Die Begrenzung der Zahl der Direktmandate erfolgt dadurch, dass die Kandidaten mit den schlechtesten Wahlkreisergebnissen keine Überhangmandate für ihre Partei erzeugen können. Die oft erhobene Behauptung, diese Kappung sei verfassungswidrig, wurde durch Zitate aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts überzeugend widerlegt.
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– Ehe Sie Nebel versprühen, muss ich doch wenigstens noch etwas zur Sache sagen, Herr Kollege Frieser.
Auch die Behauptung ungleicher Stimmgewichte, die der Kollege Amthor in einer früheren Debatte bildhaft vortrug,
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wurde von einem Sachverständigen ausdrücklich falsifiziert. – Sie wurden besonders gewürdigt, Herr Kollege. – Amthor hatte am 14. Mai ausgeführt – ich zitiere mit Ihrer freundlichen Erlaubnis –:
Jemand gewinnt einen Wahlkreis mit vielleicht … 24 oder 25 Prozent. Da sagen Sie: Das ist zu wenig; der soll nicht einziehen. – Aber über die Landesliste zieht dann der unterlegene Kandidat ein, der vielleicht nur 10 Prozent erzielt hat.
Das könne nicht richtig sein.
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Der Sachverständige hat gerechnet – iudex non calculat – und schnell festgestellt, dass bei den kleinen Parteien ein Listenmandat etwa 70 000 Stimmen erfordert und ein nicht durch Zweitstimmen abgedecktes Direktmandat etwa 35 000. Er folgert richtigerweise – ich zitiere –: Die „nicht gekappten überschüssigen Direktmandate“ beruhten auf dem „mit Abstand niedrigsten Wählerzuspruch“, es seien „diejenigen, hinter denen die mit Abstand geringste Anzahl von Wählern steht“.
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Es verhalte sich also, sagt der Sachverständige, „genau umgekehrt zu dem, was die Aussage von Philipp Amthor suggerieren soll“.
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Es bleibt schließlich zu vermelden: Eine Wahlrechtsänderung ist derzeit überhaupt nicht mehr möglich, da nach geltendem Wahlrecht die Fristen für die Aufstellung der Kandidaten bereits laufen. Das bestätigte auch einer der Staatsrechtslehrer, die anwesend waren.
Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss.
Die öffentliche Darstellung der SPD, der CDU, der Vorschlag der Koalition der Kleinen – das alles ist Theaterdonner.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Glaser. – Nächster Redner ist für die SPD-Fraktion der Kollege Mahmut Özdemir.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn das Wahlrecht allgegenwärtig ist und in jeder Debatte in den letzten Wochen öfter vorkommt,
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dann ist das auch ein untrügliches Zeichen dafür, dass die Wahlen näherrücken und dass wir dringend Vorbereitungen und Vorkehrungen dafür zu treffen haben. Im Gegensatz zu meinem Vorgänger würde ich lieber zum tatsächlichen Tagesordnungspunkt, zum Entwurf eines Änderungsgesetzes, sprechen.
Wahlen sind das Herz unserer Republik und die Seele unserer Demokratie. Mit dem Vierundzwanzigsten Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes bereiten wir, wenn wir den Bericht der Wahlkreiskommission entgegengenommen haben, normalerweise abschließend die Wahlen vor. Das Grundgesetz weist das Wahlrecht dem Deutschen Bundestag zu. Es darf nicht – auch wenn dies beispielsweise in Anhörungen gefordert wurde – irgendwelchen unabhängigen Expertenkommissionen zugewiesen werden; das ist schlicht und einfach falsch. Wenn es um die demokratischen Belange in diesem Land geht, dann muss der Deutsche Bundestag darüber entscheiden, und dazu zählt auch das Wahlrecht.
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Wenn es eine Mehrheit in diesem Hause gibt, dann gibt es sie, und wenn nicht, dann wird das Wahlrecht auch nicht geändert, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Mit diesem Gesetz schneiden wir Wahlkreise neu zu, die aufgrund einer Bevölkerungsentwicklung neu zuzuschneiden sind, und reformieren auch die Wahlkostenerstattung und dynamisieren sie. Damit schaffen wir aber auch Sicherheit für die Wählerinnen und Wähler und Sicherheit für die Kandidierenden in den 299 Direktwahlkreisen und sorgen dafür, dass sie überall wissen, wo eine Wahl stattfindet und welche Gemeinde zu welchem Wahlkreis gehört. Es ist am Ende des Tages ein Gesetz, das alle irgendwie beachten, aber nur wenige betrifft.
Wir haben umsichtig versucht, Strukturen zu erhalten. Wir haben Eingriffe so gering wie möglich gehalten, obschon es zahlreiche Vorschläge insbesondere von den Bundesländern gab. Sie haben an dieser Stelle das Vorschlagsrecht. Aber am Ende des Tages muss der Deutsche Bundestag hier in einem Gesetzgebungsverfahren darüber entscheiden. Wenn wir dazu kommen – und dazu hat Herr Kollege Heveling vorgetragen –, dass am Wahltag die Chancengleichheit und die Gleichheit der Wahl gewährleistet sind, dann ist es zu Recht nicht notwendig, dass wir gewachsene Strukturen in Wahlkreisen zerreißen.
Zugegeben: Vielen ist vielleicht gar nicht bewusst, zu welchem Bundestagswahlkreis – mit welcher Nummer und welchem Namen – ihre Gemeinde tatsächlich gehört. Und doch erreichen uns zahlreiche Stellungnahmen von Stadträten, von Gemeinderäten, von Bürgermeistern, die dann sagen: Ich möchte bitte mit meiner Gemeinde unbedingt in den Bundestagswahlkreis A kommen oder im Bundestagswahlkreis B bleiben. – Das zeigt auch ein Stück weit Verbundenheit. Das zeigt aber auch, dass Wahlkreise Interessengemeinschaften sind, in denen Kommunen, aber auch Vertreter auf kommunaler Ebene und Landesebene Einfluss auf dieses Hohe Haus nehmen. Ich finde, das ist ein sehr schönes Zeichen; das ist quasi eine Hommage an die Direktwahlkreise.
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Nicht jeder Forderung und jedem Begehren konnten oder durften wir folgen. Wir haben ein Ermessen in diesem Hause, aber wir sind auch dazu verpflichtet, die eben genannte und betonte Chancengleichheit, die Gleichheit der Wahl von Kandidierenden, nach Recht und Gesetz wahrzunehmen.
250 000 Einwohner plus/minus 25 Prozent ist die Bezugsgröße für unsere 299 Wahlkreise im Land, damit wir am Ende des Tages, wenn wir in dieses Haus einziehen, von einer gleich verteilten Stimmgewalt reden können. Die Pflicht, Wahlkreise neu zuzuschneiden, bestand bei sieben Wahlkreisen und im gesamten Bundesland Thüringen beim Nachvollziehen der kommunalen Neugliederung. Wir haben dies, um das gleich vorwegzusagen, in jedem Wahlkreis bei einer Gemeinde entsprechend umgesetzt. Die Städte seien hier der Ehre halber genannt, weil sie die Betroffenen dieses Gesetzes sind: Werder (Havel), Schloß Holte-Stukenbrock – einigen bayerischen Kollegen mussten wir beibringen, dass das tatsächlich eine Stadt und ein Stadtname ist; in Nordrhein-Westfalen kennt man diese Stadt immer aus der Stauschau am Morgen –, Detmold, Altenmünster und die Verbandsgemeinden Wörth an der Isar, Wörth an der Donau und Uehlfeld. Ursprünglich wollten wir Wörth an der Isar und Wörth an der Donau in der Debatte mal vertauschen, um zu sehen, ob tatsächlich irgendjemand während der Debatte aufpasst. Aber wir haben es uns heute verkniffen.
In diesen Gemeinden kommt es zu einer neuen Gemeinschaft von Wählerinnen und Wählern. Es kommt zu einem neuen Verbund; es kommt zu einer neuen Interessengemeinschaft. Wenn am Tag der Bundestagswahl die Wählerinnen und Wähler tatsächlich zur Urne gehen, haben sie einen neuen Kandidaten bzw. eine neue Kandidatin, vielleicht einen unbekannten, wenn der amtierende nicht mehr antritt. Also werden auch hier die Karten neu gemischt.
Das Änderungsgesetz schafft Rechtssicherheit und die Grundlage für die Vertreterversammlungen, die durch die Parteien vor Ort durchgeführt werden. Außerdem schafft es eine gerechte Kostenerstattung.
Erst wenn die Wahlkreise tatsächlich feststehen, wenn wir wissen, welche Gemeinde zu welchem Bundestagswahlkreis gehört, dürfen die Parteien die Kandidatinnen und Kandidaten tatsächlich zuweisen, laut Frist übrigens schon ab dem 25. Juni 2020. Vertreter für die Versammlungen dürfen, wenn es nicht ein Vollversammlungssystem ist, schon ab März gewählt werden.
Versammlungen sind in diesen Tagen ein schwieriges Geschäft: Abstand, Hygienekonzepte, Sicherheitskonzepte. Rückfragen an das Gesundheitsamt, ob man die Versammlung in diesem Kontext bzw. in diesem Umfang, mit dieser Personenanzahl in diesem Raum durchführen kann, führen zu großen Unsicherheiten. Es werden große Hallen benötigt oder teilweise auch unverhältnismäßig hohe Kosten aufgerufen.
Gerade deshalb ist Folgendes wichtig. Ich habe gerade von Kollegen gehört, dass dies die letzte Wahlrechtsänderung in diesem Hause vor der Bundestagswahl im Jahr 2021 sein wird. Das können wir, glaube ich, entkräften. Aufgrund der jüngsten Erfahrungen, die wir gemacht haben, beispielsweise der pandemischen Entwicklung, wäre es geradezu fahrlässig, wenn wir nicht Notfallmechanismen für die Aufstellung von Kandidatinnen und Kandidaten für die Vertreterversammlungen im Bundesgesetz einführen. Das werden wir in Gestalt einer Verordnungsermächtigung für das Bundesministerium des Innern tun. Und wir müssen, wenn die Parteien bzw. Untergliederungen sich nicht körperlich treffen können oder dürfen, dafür Sorge tragen, dass unter Abwesenden die Aufstellung der Kandidatinnen und Kandidaten möglich ist. Mir ist die Aussage sehr wichtig, dass wir keinen Zweifel daran lassen dürfen, dass unsere Demokratie handlungsfähig und funktionsfähig ist.
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Der Termin der Bundestagswahl 2021 darf zu keinem Zeitpunkt infrage stehen; das gilt auch für die Wahl selber. Deshalb ist es auch wichtig, dass wir im weiteren Verlauf gemeinsam in diesem Hause darüber diskutieren, ob die Bundestagswahl möglicherweise als Briefwahl durchgeführt werden müsste. Hier sehe ich für die Sozialdemokraten einen entscheidenden Punkt: Die Regel ist die Wahl an der Urne; die Briefwahl ist die Ausnahme. Deshalb haben wir als Sozialdemokraten ganz klar formuliert: Wenn es zu einer solchen Regelung kommt, dass die Bundestagswahl lediglich als Briefwahl durchgeführt werden darf, dann darf die Verordnungsermächtigung vom Bundesministerium des Innern frühestens vier Monate vorher in Anspruch genommen werden, und es darf nur mit der Genehmigung des Parlaments vonstattengehen.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Das sind die Bedingungen, die die Sozialdemokraten postulieren.
Ansonsten bitte ich um Zustimmung zu dem Gesetz, damit auch die Untergliederungen, die das Recht in Anspruch nehmen möchten, ab sofort ihre Kandidierenden aufstellen dürfen, damit sie für die Bundestagswahl 2021 gerüstet sind.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Wir werden die weiteren angesprochenen Gesetzentwürfe gerne im Haus einbringen und mit allen diskutieren.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Und vielen Dank für Ihre Geduld, Herr Präsident.
Herr Kollege Mahmut Özdemir, vielen Dank für Ihren Beitrag. – Als nächster Redner hat der Kollege Konstantin Kuhle, FDP-Fraktion, das Wort.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sprechen heute über eine technische Änderung des Wahlrechts vor der nächsten Bundestagswahl, und in der Tat wenden wir hier eigentlich nur das geltende Wahlrecht an. Wenn eine bestimmte Bevölkerungszahl überschritten oder unterschritten wird, dann muss der Wahlkreiszuschnitt verändert werden. Das ist eine Anwendung des geltenden Wahlrechts. Da machen wir als staatstragende und verantwortungsbewusste Oppositionsfraktion natürlich mit.
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Wir machen das aber mit einem ausgesprochen schlechten Gefühl; denn sosehr wir das geltende Recht anwenden, so sehr wollen wir es eigentlich ändern. Wir wollen in dieser Legislaturperiode des Deutschen Bundestages eine Änderung des Wahlrechts erreichen, mit der eine Verkleinerung des Parlaments möglich wird. Das wird bisher leider von der Großen Koalition, insbesondere von den Unionsfraktionen, blockiert.
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Wir haben uns in der Anhörung im Innenausschuss am Montag noch einmal genau angeschaut, welche Hebel im Wahlrecht bestehen. Das sind die Hebel zur Verkleinerung des Bundestages, die im gemeinsamen Gesetzentwurf von Linken, Grünen und FDP vorgebracht werden, also die Abschaffung des Sitzkontingentverfahrens, die Verkleinerung der Zahl der Wahlkreise und die moderate Erhöhung der Gesamtzahl der Abgeordneten. Dann schwebten noch andere Hebel im Raum, wie beispielsweise die unausgeglichenen Überhangmandate oder das Kappungsmodell.
All das ist am Montag diskutiert worden. Aber es ist auch zur Sprache gekommen, dass ein Kompromiss möglicherweise in einer Kombination dieser unterschiedlichen Hebel liegt. Aber jetzt passiert etwas, was einen Kompromiss möglicherweise torpediert. Denn, lieber Kollege Heveling, natürlich ist das, was heute passiert, ein Präjudiz für die Nutzung eines dieser Hebel. Sie können mir doch nicht ernsthaft erzählen, dass wir jetzt den Wahlkreiszuschnitt moderat ändern, um dann in zwei Wochen die Gesamtzahl der Wahlkreise zu reduzieren. Es wird mit diesem Gesetz heute schlichtweg unwahrscheinlicher, dass es zu einer Gesamtreform des Wahlrechts kommt. Deswegen sitzen Sie dieses Problem weiter aus. Das ist eine ausgesprochen schlechte Nachricht für all jene Bürgerinnen und Bürger, die sich eine Reform des Wahlrechts wünschen.
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Ein Hebel wird also komplett vom Tisch genommen. Übrigens will ich mal sagen: Ich schätze es bei Linken, Grünen und FDP insgesamt so ein, dass ein gemeinsamer Gesetzentwurf nur dann zustande kommen dürfte, wenn sich zumindest moderat etwas an der Wahlkreiszahl ändert. Das machen Sie heute mit diesem Gesetzesvorschlag schwieriger. Dann gibt es verschiedene Trumpfkarten, die im Gesetzentwurf von FDP, Grünen und Linken nicht enthalten sind, die aber sehr wohl in der öffentlichen Debatte eine Rolle spielen. Das ist – ich habe es schon gesagt – die Schaffung unausgeglichener Überhangmandate und das Kappungsmodell.
In der Anhörung am Montag ist etwas sehr Interessantes passiert: Verschiedene Sachverständige haben darauf aufmerksam gemacht, dass diese beiden Dinge möglicherweise gar nicht miteinander kompatibel sind. Denn was ist das für ein Wahlrecht, das einerseits bewusst Überhangmandate in Kauf nimmt und andererseits welche streicht? Da blickt kein Mensch mehr durch.
Sie sind als Koalition so verkantet, dass es – das ist meine Prognose – aufgrund Ihrer Verweigerungshaltung, insbesondere in der CSU, in dieser Legislaturperiode nicht zu einer Reform des Wahlrechts kommen wird. Das ist, so technisch diese Anpassung heute ist, eine sehr traurige Nachricht. Deswegen stimmen wir sehr wehmütig dieser technischen Anpassung zu.
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Vielen Dank, Herr Kollege Kuhle. – Nächster Redner ist für die Fraktion Die Linke der Kollege Friedrich Straetmanns.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ja, wir reden in der Tat über eine technische Anpassung an ein bestehendes Recht. Wahlkreise, die sich in der Bevölkerungsstruktur anders, größer darstellen, müssen entsprechend angepasst werden. Das wäre grundsätzlich eine Sache, der man zustimmen könnte.
Aber jetzt kommt ein großes, dickes und betontes Aber. Ich freue mich zwar, dass Sie als Regierung in der Lage sind, eine rein technische Umsetzung vorzunehmen – das ist das, was man von der Regierung erwarten darf –, bedauernswert ist aber – mein Vorredner hat es angesprochen –, dass Sie das Kernproblem komplett wegschieben, nämlich die Frage, ob Sie es nicht auch als politisch geboten ansehen, sich für eine Verkleinerung des Bundestages einzusetzen.
Das ist genau das Problem dieses Gesetzesvorhabens. Es zementiert im Grunde die eine Stellschraube der Veränderung, dass die Zahl der Wahlkreise geändert wird. Sie können doch der Wahlkreiskommission gar nicht mehr zumuten, dass über das gesamte Bundesgebiet erneut gearbeitet werden muss. Das ist der Punkt, den wir als Linke hier kritisieren.
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Angesprochen ist auch die Frage, ob die nächste Bundestagswahl als reine Briefwahl stattfinden wird. Ich will Ihnen das für meine Fraktion ganz klar beantworten: Wir werden das nicht mitmachen, weil wir es als grundrechtsrelevanten Eingriff in das Prinzip der Unmittelbarkeit der Wahl ansehen, und wir werden uns dem entgegenstellen.
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Ich muss das ganz klar sagen: Auch wenn eine Krise, eine Pandemie ausbricht, muss es andere technische Möglichkeiten geben. Denn eine reine Briefwahl verstößt aus unserer Sicht gegen Grundprinzipien des Demokratieprinzips.
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Ich freue mich – ich will ja auch ein bisschen Positives hier verbreiten –, dass diesmal kein Bundesland auf Kosten eines anderen Bundeslandes einen Wahlkreis dazubekommen hat. Wir begrüßen als Linke aber auch, dass die Frage der Wahlkostenerstattung in diesem Gesetzentwurf geregelt ist und dass wir uns in Zukunft damit nicht mehr befassen müssen, weil dann nämlich die allgemeine Preisentwicklung als Index funktionieren wird. Ich hoffe aber, dass wir, wenn wir das nächste Mal über das Thema Wahlkampfkostenerstattung sprechen, auch ein Thema aufgreifen, das uns als Linke wichtig ist, und das heißt: Verbot der Spenden von Unternehmen an Parteien.
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Denn wenn die Parteien schon vom Staat gefördert werden, dann können wir auch erwarten, dass solche Spenden grundsätzlich verboten werden.
Ich fasse zusammen: Auch wenn der vorliegende Entwurf einige unterstützenswerte Punkte enthält, können wir ihm aus den genannten Gründen nicht zustimmen. Denn er zementiert das alte Wahlrecht, und die Neueinteilung der Wahlkreise hätte eben, wie gesagt, in einer Reduzierung münden müssen.
Sie verwalten als Regierung hier nur das Elend. Sie führen die mathematisch und juristisch notwendigen Operationen hier zwar aus, aber das reicht nicht für unsere Zustimmung. Der große Wurf ist ausgeblieben; das kritisieren wir. Wir werden uns deshalb enthalten.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächste Rednerin in dieser Debatte ist die geschätzte Kollegin Britta Haßelmann, Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Tat: Wir reden heute über das Bundeswahlgesetz, und das hat bei vielen Menschen, die das Thema auf der Tagesordnung gesehen haben, wahrscheinlich erst mal Hoffnung geweckt: Hoffnung darauf, dass dieses Parlament endlich die Kraft findet zu einer Wahlrechtsreform, damit wir die Verantwortung wahrnehmen und vermeiden, dass wir nach der nächsten Bundestagswahl vielleicht 800 oder mehr Abgeordnete werden.
Dem ist leider nicht so. Denn bisher finden weder CDU und CSU noch CDU/CSU und SPD die Kraft, auf der Grundlage des personalisierten Verhältniswahlrechtes einen Vorschlag zu entwickeln und ihm diesem Haus vorzulegen, sodass wir gemeinsam die Wahlrechtsreform machen können. Denn bisher weigern Sie sich ja, unserem verfassungsgemäßen Vorschlag von FDP, Linken und Grünen, der dem Parlament vorliegt, zuzustimmen – sehr zu unserem Bedauern.
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Heute gibt es also leider wieder kein Ergebnis, sondern einzig eine technische Anpassung, eine technische Änderung, die erforderlich wird, weil substanzielle Veränderungen an Wahlkreisen vorgenommen werden müssen – insgesamt zehn –, um den Abweichungen zwischen den durchschnittlichen Bevölkerungszahlen und den Einwohnerinnen- und Einwohnerzahlen und Ergebnissen bei Wahlen Rechnung zu tragen.
Es geht also um diese Abweichungszahlen, und deshalb – das wissen die Kolleginnen und Kollegen aus dem Innenausschuss – haben wir als Fraktion gesagt: Das kann man im Detail, wenn man jeden einzelnen Wahlkreis dieser zehn Wahlkreise betrachtet, so oder so sehen. Es ist dann am Ende eine Abwägung. In den meisten Fällen sind wir den Empfehlungen der Länder gefolgt, an der einen oder anderen Stelle nicht. Das ist eine Abwägung, die Wahlkreise dann neu zuzuschneiden. Aber wichtig ist: Das ist notwendig, und deshalb werden wir dem Ganzen heute unsere Zustimmung geben.
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Die Erstattung von Wahlkosten soll nicht mehr wie bisher auf dem Verordnungswege, sondern gesetzlich an die jährliche Preisentwicklung angepasst werden, und der Erstattungsbetrag – da werden sich die Länder und Kommunen freuen – wird erhöht. Das ist sozusagen der Kern dieses Gesetzentwurfs. Das ist, wie gesagt, eine kleine technische Änderung, der wir zustimmen.
Hellhörig kann man jetzt werden, wenn man dem SPD-Kollegen in dem gefolgt ist, was er hier vertreten hat, nämlich dass wir auch noch eine zweite Änderung vor uns haben – wir kennen das bisher nur aus der Presse –, und zwar sollen sogenannte Notfallmechanismen eingebaut werden für den Fall einer pandemischen Situation.
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Ich kenne das nur aus der „Rheinischen Post“. Ich wäre froh, uns würde mal was vorgelegt, meine Damen und Herren.
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– Im Ausschuss habe ich davon auch gehört. Aber wenn jetzt gesagt wird, dass das alles auf dem Verordnungswege des Bundesinnenministeriums laufen soll, meine Damen und Herren, werde ich ganz hellhörig.
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Wo sind wir denn hier? Das Wahlrecht ist ein originäres Recht des Bundestages, des Parlamentes, und ich will, dass Sie jetzt endlich mal was vorlegen und dem Parlament und den anderen Fraktionen dann auch sagen, was. Denn über die Frage elektronischer Abstimmungen haben wir schon geredet, als Sie noch nicht mal wussten, was das überhaupt ist; da haben wir das schon praktiziert, meine Damen und Herren.
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Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich würde mal gerne sehen, was Sie da machen wollen, und ich frage mich: Wo bleibt das selbstbewusste Parlament? Das Bundeswahlrecht wird durch ein Gesetz im Parlament gemacht und nicht auf dem Verordnungswege durch das Innenministerium.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Herr Kollege Amthor, auch Sie werden besonders begrüßt: Als nächster Redner hat für die CDU/CSU-Fraktion der bereits mehrfach lobend erwähnte Kollege Philipp Amthor das Wort.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir uns jetzt abseits der Emotionalität rein auf das Sachliche konzentrieren, dann kann man daran anknüpfen, was der Kollege Ansgar Heveling schon ausgeführt hat: Es geht darum, dass wir mit der heutigen Fraktionsinitiative unser geltendes Bundeswahlrecht rechtmäßig aufstellen, indem wir notwendige Anpassungen in den Wahlkreisen in Brandenburg, Nordrhein-Westfalen, Thüringen und Bayern vornehmen.
Aber, meine Damen und Herren, ich sehe ein: Sich Donnerstagabend nur auf das Sachliche zu beschränken, wäre ja auch ein bisschen langweilig und würde an dem Elefanten im Raum vorbeigehen.
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Denn natürlich muss es darum gehen, heute auch darüber zu reden, dass alle Fraktionen in diesem Haus mit unterschiedlichen Akzenten aber doch der Wille eint, dass wir den Bundestag verkleinern wollen. Ich sage: Das gilt auch für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, was uns aber auch einen sollte, ist der Umstand, dass wir natürlich ein rechtmäßiges, ein verfassungsmäßiges Bundeswahlrecht brauchen. Mit dem Vorschlag, den wir heute unterbreitet haben, sichern wir die Rechtmäßigkeit unseres jetzigen Bundeswahlrechts.
Aber wir haben in der Anhörung natürlich auch manche Vorschläge gehört, die ausdrücklich nicht verfassungsgemäße Vorschläge sind.
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Da möchte ich auf das Brückenmodell eingehen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Sie wissen, dass das Brückenmodell eine Nichtzuteilung von gewonnenen Wahlkreisen vorsieht. Da kann ich Ihnen nur sagen: Dieses Brückenmodell ist vielleicht eine Brücke, allerdings von einem verfassungsmäßigen Wahlrecht zu einem verfassungswidrigen Wahlrecht.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, für uns muss klar sein: Die Zuteilung von Wahlkreismandaten sollte nicht systemfremd unter die Bedingungen der Verhältniswahl gestellt werden. Für uns gilt der zentrale Satz: Den Bundestag verkleinern ja, aber wer einen Wahlkreis gewinnt, der muss auch im Bundestag vertreten sein, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Gleichzeitig ist es aber so: Frau Kollegin Haßelmann, Sie haben gesagt, die Opposition habe ja einen verfassungsgemäßen Vorschlag vorgelegt.
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Und wissen Sie was? Das ist richtig.
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Aber genauso richtig ist, dass nicht jeder verfassungsgemäße Vorschlag verfassungspolitisch auch sinnvoll ist, liebe Kolleginnen und Kollegen. Das ist nämlich der Unterschied. Wir haben hier mehrfach darüber gesprochen, dass wir Ihren Vorschlag aus inhaltlichen Gründen ablehnen, weil er zu einer weiteren Entwertung der Wahlkreismandate führt.
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Wir haben in der Anhörung auch sehr deutlich gehört, dass im Vordergrund steht, dass nicht nur nach unserer Überzeugung, sondern auch nach der Überzeugung des Bundesverfassungsgerichts das Wahlkreismandat einen Funktionsgewinn in unserem Wahlsystem darstellt, und diesen Funktionsvorteil wollen wir erhalten, meine Damen und Herren.
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Es ist in der Tat so, dass die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts immer wieder gesagt hat: Ja, die Wähler in einem Wahlkreis sind nicht nur eine arithmetische Größe, sondern sie bilden auch eine zusammenhängende Einheit. – Sie vermitteln direkte demokratische Legitimation, und das wollen wir erhalten.
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Deswegen sagen wir: Die technische Anpassung heute ist der erste Schritt.
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Es wird, wenn wir einen Konsens finden, ein weiterer Schritt folgen.
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Das Ziel eint uns: Wir wollen eine Verkleinerung des Deutschen Bundestages. Dafür gibt es Vorschläge, die nicht verfassungswidrig sind und nicht auf Kosten der Wahlkreise gehen.
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Genau das werden wir als unsere Überzeugungen einbringen.
Herzlichen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Vielen Dank, Herr Kollege Amthor. – Frau Kollegin Haßelmann, wir müssen uns nicht aufregen. Wir haben noch zwei Sitzungswochen, in denen das umgesetzt werden kann.
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– Vor der Sommerpause haben wir nur noch zwei, Herr Amthor.
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Als letzter Redner in dieser Debatte hat der Kollege Michael Frieser, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
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Sehr verehrter Herr Präsident, ich habe schon festgestellt: Weder der Kollege Kuhle noch ich sind als „geschätzter“ oder „vielgelobter“ Kollege, wie die Kollegin Haßelmann oder der Kollege Amthor, bezeichnet worden.
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Es soll uns recht sein, aber wir halten das mal fürs Protokoll fest.
Liebe Kollegen, dass es heute mitunter zu Themaverfehlungen kommen wird, war eigentlich ersichtlich. Wir mussten die entscheidende Frage der Wahlkreisanpassungen klären. Das ist nicht nur ein gesetzlicher Auftrag, sondern notwendig. Seien wir froh, dass wir heute den Gesetzentwurf in großer Einigkeit – zumindest fast – verabschieden können.
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Wir müssen Grenzen berücksichtigen. Wir müssen nicht nur Bevölkerungsstatistiken wälzen. Nein, der schwierige Prozess der Wahlkreisanpassungen zeigt uns, dass es sich hierbei nicht um irgendeine abstrakte Größe handelt. Es gibt sehr wohl eine Identifikation der Bürger mit ihrem Wahlkreis, und es ist ihnen nicht egal, zu welchem Wahlkreis sie gehören; sie können ganz schön heftig reagieren,
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wenn sie aufgrund organisatorischer oder statistischer Größenordnungen einem anderen Gebiet zugeschlagen werden.
Das ist übrigens der Grund dafür, warum wir im Durchschnitt so lange für die Wahlkreisreform gebraucht haben. Das zeigt, dass man nicht leichtfertig sagen kann: Bei Wahlkreisreduzierungen ist es doch egal, ob 30, 40 oder 50 dabei herauskommen, wir werden das irgendwie hinkriegen.
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Sie haben erlebt, wie schwierig die Abstimmung und wie hoch die Identifikation der Bürger mit ihren Wahlkreisen tatsächlich ist.
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Man sollte schon darauf achten, welche Büchse der Pandora man bei dieser Thematik öffnet. Man spürt, dass der Bürger in einem Abgeordneten nicht nur einen Repräsentanten sieht, der eine Region vertritt, sondern dass man ihn auch als jemand ansieht, der die Bundespolitik vor Ort erklären und erläutern kann. Auf diese Wechselbezüglichkeit kommt es an. Deshalb sollte man über die Frage der Wahlkreisreduzierung nicht einfach hinwegschreiten, geschweige über die Frage der Kappung der Zahl der Direktmandate.
Zur tollen Idee der Nichtzuteilung von gewonnenen Direktmandaten möchte ich sagen: Der Erfolgswert aller Stimmen für Direktmandate wäre null. Wenn ein Wahlkreis nicht zugeteilt wird, ist keine einzige Stimme, die dort abgegeben wird, etwas wert. Das kann nicht der Sinn einer Wahlrechtsreform sein.
Ich bin dankbar und froh, dass wir heute zumindest die Wahlkreisreform beschließen können.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Frieser. Ich möchte zum Ausdruck bringen: Ich schätze Sie alle, aber Sie besonders, weil Sie Ihre Redezeiten immer einhalten.
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Damit schließe ich die Aussprache.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der 1. Januar 2000 war ein Tag historischer Dimension. Die Welt startete in ein neues Jahrtausend, und in Deutschland wurde Rechtsgeschichte geschrieben. Das noch aus der Kaiserzeit stammende Blutsrecht im Staatsangehörigkeitsrecht wurde durch das Bodenrecht ergänzt. Seitdem kann nicht nur, wer von deutschen Eltern abstammt, Deutsche oder Deutscher werden, sondern auch, wer in Deutschland geboren wird.
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Für Barbara John, damalige Berliner Ausländerbeauftragte, CDU, und Befürworterin der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts, war das – ich zitiere – eine „volle, totale Revolution“. Dieser Paradigmenwechsel war einer, wenn nicht der größte Schritt auf dem Weg zu einer modernen Einwanderungsgesellschaft.
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Doch nach 20 Jahren muss endlich der nächste Schritt folgen, und zwar nach vorne und nicht zurück.
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Deshalb fordern wir erstens die Ausweitung des Geburtsortsprinzips. Die deutsche Staatsangehörigkeit soll durch Geburt im Inland erworben werden können, wenn ein Elternteil rechtmäßig seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hat. Alles andere macht hier geborene und aufgewachsene Menschen zu Ausländern im eigenen Land, und das ist absurd, meine Damen und Herren.
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Zweitens. Wir fordern die vollständige Abschaffung des Optionszwangs und die Ermöglichung von Mehrstaatigkeit. Es muss endlich Schluss sein mit den Deutschen auf Probe. Mit dem ewigen Vorwurf der Illoyalität, der von der Union sicherlich gleich wieder kommen wird, beleidigen Sie nicht nur mich, sondern auch Millionen von Doppelstaatlerinnen in diesem Land und auch in diesem Parlament.
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Drittens. Wir fordern die Abschaffung des im letzten Jahr eingeführten sogenannten Leitkulturparagrafen. Verabschieden Sie sich auch hier umgehend von der Einbürgerung unter Kulturvorbehalt! Wer das Staatsangehörigkeitsrecht endlich in dieses Jahrtausend heben und das Versprechen einer pluralen Demokratie einlösen möchte, sollte sich uns und unserem Antrag anschließen statt den Ewiggestrigen.
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Das Bundesverfassungsgericht bezeichnet die Funktion der Staatsangehörigkeit als verlässliche Grundlage gleichberechtigter Zugehörigkeit. Es würde unsere Demokratie und unsere Einwanderungsgesellschaft stärken, wenn Kinder und Jugendliche mit Einwanderungsgeschichte in dem Bewusstsein aufwachsen, dass sie ohne Wenn und Aber zu dem Land gehören, in dem sie leben und in dem sie geboren wurden.
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Doch alldem zum Trotz erleben wir in den letzten Jahren einen traurigen Rollback. Die Union will das moderne Staatsangehörigkeitsrecht aushöhlen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, verteidigen Sie diesmal mit uns unsere gemeinsamen Errungenschaften! Sie wissen uns und viele Menschen mit Einwanderungsgeschichte an Ihrer Seite.
Deutsche haben unterschiedliche Wurzeln, unterschiedliche Hautfarben, verschiedene Religionszugehörigkeiten oder auch gar keine und heißen nicht mehr nur Müller, Meier oder Schulze. Diese Vielfalt ist nicht nur ein Zugewinn, sondern unsere Stärke und essenziell für die Widerstandsfähigkeit unserer Demokratie und unserer Gesellschaft.
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Das muss sich endlich im Staatsangehörigkeitsrecht widerspiegeln; denn die Gleichberechtigung ist der erste Schritt zur Gleichstellung.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt Gesetzentwürfe, da wäre der Verfasser gut beraten, ihn nach der ersten Lesung im Bundestag im Ausschuss ruhen zu lassen und zu hoffen, dass zum Ende der Legislaturperiode der Mantel der Diskontinuität die Blöße bedeckt, die man sich mit dem Gesetzentwurf gegeben hat.
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– Es ist interessant, dass wir hier wieder eine tolle Kombination aus AfD und Linken haben, lieber Herr Kollege Hahn.
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Aber lassen Sie mich doch einfach ausreden; dann werden Sie auch verstehen, was ich sagen möchte.
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– Nein. Also bitte, ich habe von einem Gesetzentwurf geredet; ich habe nicht gesehen, dass die Grünen einen vorgelegt haben. Ich spreche vom Gesetzentwurf, den die AfD vorgelegt hat. Aber ganz offensichtlich sind Sie ja einig damit, Herr Hahn; das ist auch wieder ein interessantes Erlebnis hier.
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– Herr Hahn, überlassen Sie es doch bitte mir, wie ich rede und in welcher Reihenfolge ich zu den unterschiedlichen Gesetzentwürfen und Anträgen Stellung nehme. Zu den Grünen und zu den Linken werde ich schon noch kommen. Deren Anträge bieten genügend Anlass, dazu das Notwendige zu sagen.
Jedenfalls ist es so: Ich beschäftige mich zunächst einmal mit dem Gesetzentwurf der AfD-Fraktion.
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Er ist kurz, hat aber eine Begründung, die eine Mischung aus Auslassungen und Halbwahrheiten ist und die insbesondere von einer bemerkenswerten Unkenntnis des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts zeugt. Ich will das gerne an drei Beispielen kurz belegen:
Erstens. Sie sagen, das Ius sanguinis sei abgeschafft. Wenn Sie aber mal einen Blick in das Staatsbürgerschaftsrecht werfen, dann sehen Sie in § 4 Absatz 1 dieses Gesetzes einen einfachen, aber doch auch klaren Satz, in dem steht, dass durch Geburt ein Kind die deutsche Staatsangehörigkeit erwirbt, wenn ein Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Das nennt man Ius sanguinis, und es bedeutet nichts anderes als den Erwerb der Staatsangehörigkeit durch Geburt.
Der zweite Punkt. Sie sagen in Ihrem Gesetzentwurf, die Optionspflicht sei abgeschafft. Frau Polat hat ja gerade eben das Gegenteil dargestellt. Es ist mitnichten so. Dem Grunde nach ist es vielmehr so, dass jemand, der als Kind ausländischer Eltern hier in Deutschland geboren ist, eine Optionspflicht hat; die ist – darauf komme ich nachher noch zurück – nur dann nicht vorhanden, wenn ein Kind in Deutschland aufgewachsen ist.
Da gibt es insofern eine ganze Reihe von Punkten, wo man sagen kann: Das passt alles nicht zusammen.
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Das gilt auch für den dritten Punkt. Sie sagen, Sie möchten § 29 Absatz 1 Nummer 2 Staatsangehörigkeitsgesetz abschaffen. Das ist nichts anderes als ein Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot und damit auch gegen die rechtsstaatlichen Prinzipien unserer Verfassung.
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Deshalb, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist dieser Gesetzentwurf natürlich in Gänze abzulehnen.
Ich will aber auch in der Sache etwas sagen: Für uns als Union ist vollkommen klar, dass wir den Grundsatz, Mehrstaatigkeit zu verhindern, auch in Zukunft beibehalten möchten.
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Da möchte ich Ihnen ganz klar widersprechen, liebe Frau Polat. Wir wollen, dass das die Ausnahme bleibt und nicht die Regel wird. Ich kann Ihnen das auch klar begründen: Die Staatsbürgerschaft ist mehr als ein Stück Papier, das über Aufenthaltsrechte entscheidet. Da geht es um mehr als nur um die Frage, in welcher Schlange man sich am Flughafen anstellt. Bei der Staatsbürgerschaft wird ein besonderes Verhältnis zwischen Bürger und Staat statuiert, und das ist in der Tat auch durch Identifikation und Loyalität geprägt.
Deswegen ist Ihr Antrag völlig daneben; denn Sie sagen, die „Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse“ darf nicht Bestandteil des Staatsangehörigkeitsrechts sein. Wenn Sie das sagen, liebe Frau Polat, dann wollen Sie offensichtlich auch, dass Polygamisten in Deutschland wieder eingebürgert werden können,
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genau das, was wir im letzten Jahr verhindert haben. – Das ist die Politik der Grünen.
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Ich fand es schon bemerkenswert, dass sich Ihr Antrag kaum von dem der Linken unterscheidet. Das ist kein Qualitätsmerkmal, ganz im Gegenteil.
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Ich finde es richtig, dass wir uns vor diesem Hintergrund darüber Gedanken machen, wie man multiple Staatsangehörigkeiten verhindern kann. Dafür gibt es durchaus Vorschläge. Der Generationenschnitt beispielsweise ist ein hervorragender Vorschlag, der, lieber Herr Thomae, auch im FDP-Antrag zur Sprache kommt, dort aufgegriffen wird. Auch wenn man zu der Auffassung kommt, dass ein Kind ausländischer Eltern, das in Deutschland geboren ist, sich nicht zwischen der deutschen Staatsangehörigkeit und der der Eltern entscheiden soll, ist zu bedenken, dass das in der Folgegeneration dennoch nicht unproblematisch ist; denn dann hätten wir in der dritten Generation vielleicht nicht nur Doppelstaatsbürgerschaften, sondern sogar Vierfach- und Sechsfachstaatsbürgerschaften. Das sollten wir unter allen Umständen vermeiden. Deswegen wäre der Generationenschnitt sowohl zumutbar für die Betroffenen als auch eine richtige Möglichkeit, um im Staatsbürgerschaftsrecht eine gewisse Linie zu halten. Ich finde das absolut unterstützenswert.
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Lassen Sie mich zum Abschluss noch eines sagen: Ich finde, dass wir über die Frage des Staatsbürgerschaftsrechts schon auch mit einer gewissen Ernsthaftigkeit sprechen sollten,
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und vor allen Dingen nicht anderslautende Meinungen dämonisieren sollten.
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Ich kann mich sehr gut daran erinnern: Als die CDU sich auf ihrem Parteitag vor vier Jahren mit dem Thema beschäftigt hat und sich eine Mehrheit für die Optionspflicht ausgesprochen hat, da ist von Linken und Grünen die Bemerkung gekommen, das sei ein Rückfall in die Vormoderne, das sei schlimmer Populismus, das sei ein furchtbarer Rechtsruck.
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Ich will Ihnen eines sagen – Sie haben offensichtlich ein kurzes Gedächtnis –:
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Sie haben als Rückfall in die Vormoderne und als schlimmen Populismus etwas bezeichnet, was vor sechs Jahren noch geltendes Recht in Deutschland war. Und nicht nur das: Dieses vor sechs Jahren geltende Recht ist im Jahr 1999 Recht in Deutschland geworden. Sie wissen hoffentlich, wer damals regiert hat: Es waren die Grünen und niemand anders, der dafür gesorgt hat. – Deshalb ist es wirklich nicht akzeptabel, wie Sie hier argumentieren.
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Ich glaube, das, was Sie in Ihren Anträgen vorschlagen, ist falsch.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Das gilt für die Anträge von den Grünen wie von den Linken und genauso für den Gesetzentwurf der AfD. Deswegen sollte man das ablehnen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Gottfried Curio, AfD-Fraktion.
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Sehr geehrter Präsident! Meine Damen und Herren! Grüne und Linke wollen das Staatsbürgerschaftsrecht weit öffnen. Leitgedanken seien „gleichberechtigte Teilhabe“ sowie „Pluralität und Vielfalt“, nach dem Grundsatz „Wer hier lebt, soll hier wählen“. Man kann die Staatsbürgerschaft sozusagen ersitzen. Maßnahmen dafür: Einbürgerungsanspruch für jeden Migranten mit Aufenthaltserlaubnis – für sogenannte Flüchtlinge schon nach drei Jahren –, regelhafte Zulassung von Mehrstaatigkeit, keine eigene Sicherung des Lebensunterhalts im Grundsatz, eine weltweite Einladung zur Sozialabzocke in Deutschland und – damit daraus auch noch ein Schneeballsystem wird –
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Staatsangehörigkeit per Gebot in Deutschland. Und Integration? Kein Einbürgerungstest mehr, gar noch Abschaffung der Forderung nach Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse.
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Die Grünen wollen, dass aus Deutschland Innerafrika wird.
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Die AfD will Kultur und wirtschaftliche Stärke Deutschlands erhalten.
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Dass in diesem Land eine deutsche Mehrheitsgesellschaft lebt, nicht mit einem dreijährigen Aufenthalt, sondern mit einer in Jahrhunderten gewachsenen Tradition, interessiert die Fraktionen der Inländerfeinde nicht.
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Dass einseitig den Zuwanderern Identitätsrücksichten entgegengebracht werden – regelhaft doppelte Staatsbürgerschaft –, aber kein Recht den Deutschen auf Gestaltungshoheit im eigenen Land, interessiert Sie nicht.
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Dass es überhaupt kein Anrecht auf Teilhabe an fremdem Gut gibt, nur weil jemand illegal mein Grundstück betritt oder sich schon einige Jahre darauf umtreibt, stört Sie nicht. Dass bei Verfassung und Grundrechten allenfalls noch Kenntnis erbeten wird, aber kein Bekenntnis mehr, es kümmert Sie nicht. Dass geprägte Wirklichkeit, spezifische Traditionen bewahrenswert, lange gewachsene Kulturen schützenswert sind,
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das widerspricht Ihrem Selbstverständnis.
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Das wollen Sie nicht. Das Ganze missbraucht die Leistungsfähigkeit der Deutschen für die Wohlfahrt illegaler Migranten und dient nicht den Interessen unserer Bürger.
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Mit dem forcierten Import von Fremdstaatlern und nachfolgender Ermächtigung zur Wahlbürgerschaft unterscheiden sich Linke und Grüne aber nur unwesentlich von Union und SPD mit ihrem Globalen Migrationspakt mit der Migration als Ziel an sich. So wird Integration immer aussichtsloser; man hat es nicht mehr nötig. Die deutsche Staatsbürgerschaft ist aber kein Willkommensgeschenk; nachgeworfen ist sie sogar ein Integrationshindernis.
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Gerade der Besitz mehrerer Staatsbürgerschaften muss Ausnahme bleiben. Welchem Land gehört sonst die Loyalität? Die CDU aber tritt sogar ihre eigenen Parteitagsbeschlüsse mit Füßen.
Wir sagen: Die angestammt arbeitende Bevölkerung muss Herr im eigenen Hause bleiben; keinen Gratiszutritt zur deutschen Wahlkabine!
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Natürlich darf es nie eine Einbürgerung bei illegalem Eindringen auf das Staatsgebiet geben – Verbrechen von Anfang an. Ebenso wenig darf es Einbürgerungen ohne Sprachbeherrschung, ohne Selbstversorgung und ohne das Bekenntnis zu Grundwerten wie Religionsfreiheit, körperliche Unversehrtheit und Gleichberechtigung von Mann und Frau geben.
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Das koranische Selbstverständnis des Islam widerspricht all dem aber explizit und ist untrennbar mit einem gesellschaftlichen Machtanspruch samt entsprechenden Gewaltaufrufen verbunden, der mit unserer Verfassung unvereinbar ist. Nicht jede Kultur ist mit jeder anderen kompatibel.
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Schließlich die Schattenseiten der Vielfalt: Integration, schulische Leistung und im Arbeitsmarkt mangelhaft, aber überdurchschnittlich in der Kriminalitätsstatistik. In Schulen und Kitas explodiert der Rassismus gegen Deutsche, gegen Christen und gegen Juden. Vielfalt schafft gerade keinen gesellschaftlichen Zusammenhalt. Kultur- und Sprachbarrieren führen zu Abkapselung und wachsenden Parallelgesellschaften.
Der Zusammenhalt einer Gesellschaft kann nicht verordnet werden, und schon gar nicht entsteht er aus der Zersplitterung in verschiedene kulturelle Gruppen. Er kann nur entstehen aus einer ihr schon innewohnenden Zusammengehörigkeit durch gemeinsame Herkunft, Sprache, Geschichte, Mentalität, Bräuche und Werte.
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Nicht umsonst meinte die Merkel von 2010 zu Multikulti: „Dieser Ansatz ist gescheitert, absolut gescheitert.“ – Gescheitert wie das Ansinnen Ihrer Anträge! Wir lehnen sie ab.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Josip Juratovic, SPD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin stolz auf unser Land und auf die Menschen, die es durch das Wirtschaftswunder zu einem Land gemacht haben, welchem man mit Respekt und Anerkennung begegnet.
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Dieses Wirtschaftswunder gäbe es jedoch nicht ohne die Millionen von Menschen, die jahrzehntelang im Maschinenraum Schulter an Schulter mit den Einheimischen als sogenannte Gastarbeiter unser Land mit aufgebaut haben.
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Wie viel Identifikation und Loyalität brauchen Sie noch, Herr Frei?
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Diese Menschen wurden und werden heute noch von vielen als Menschen zweiter Klasse betrachtet. Diese Überlegenheit, nur weil man die deutsche Staatsangehörigkeit hat, ist ein Trauma eines jeden sogenannten Gastarbeiters. Dazu kommt es mitunter auch durch jene Anträge der AfD, die wir heute ebenfalls diskutieren.
Es schmerzt, wenn Menschen nach über 40, 50 Jahren nicht die Genugtuung und Anerkennung bekommen, die sie sich redlich verdient haben,
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nämlich einfach gleichberechtigt dazuzugehören. Es geht um die Genugtuung, dass sie sich ihre Staatsangehörigkeitsrechte und somit ihre Gleichberechtigung schwer erarbeitet haben, ohne dass sie ihre Wurzeln abschneiden müssen.
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Leider gibt es auch unter den sogenannten Gastarbeitern zwei Klassen. Ich gehöre zu der privilegierten Klasse. Ich bin deutscher Abgeordneter kroatischer Herkunft, im Herzen Verfassungspatriot – übrigens: der besten Verfassung der Welt –, im Geiste Europäer, und ich habe zwei Staatsbürgerschaften.
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Mein Privileg ist, dass mein Herkunftsland Mitglied in der EU ist. Meine Kolleginnen und Kollegen dagegen, deren Herkunftsland nicht in der EU ist, haben nicht das Anrecht auf die doppelte Staatsbürgerschaft. Das ist eine himmelschreiende Ungerechtigkeit.
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Kolleginnen und Kollegen, man soll die Zukunft nicht mit der Vergangenheit knechten; aber man darf die Vergangenheit auch nicht durch die Zukunft entrechten.
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Es geht um unsere Glaubwürdigkeit und darum, den Menschen mit dem einfachen Satz: „Du gehörst dazu; du hast es verdient, gleichberechtigter Teil unserer Gesellschaft zu sein“, Würde, Anerkennung und Genugtuung zu geben.
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Das wäre meines Erachtens der glaubwürdigste Beitrag zur Integration und zum gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland.
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Kolleginnen und Kollegen, der Gesetzentwurf der AfD ist kein neuer Gesetzentwurf, wie so vieles an Ihren populistischen Forderungen, die sich eigentlich mehr dem Geschichtsrevisionismus als der Zukunft unseres Landes nähern. Was mich wundert, ist der Mangel an Mitgefühl, da einige sogenannte Deutsche mit Migrationshintergrund auch unter Ihnen ähnliche Schicksale wie die der Gastarbeiter durchlaufen haben.
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Meine Damen und Herren der AfD, Sie sind nicht das deutsche Volk; Sie sind vielmehr nur der Rand unserer Gesellschaft, der sich rücksichtslos populistisch zum Mittelpunkt aufzublasen versucht.
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Doch eines müssen Sie wissen: Die große Mehrheit meiner deutschen Kolleginnen und Kollegen, die mich zu dem gemacht hat, was ich heute bin, wird nicht ein zweites Mal auf Sie hereinfallen. Daran werden wir solidarisch Schulter an Schulter wachsam arbeiten.
Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.
An die verfassungstreuen Demokratinnen und Demokraten in unserem Hohen Haus möchte ich appellieren: Integration und gesellschaftlicher Zusammenhalt brauchen Gerechtigkeit. Ich bitte Sie im Namen der Vergessenen unter uns, der Gerechtigkeit zu ihrem Recht zu verhelfen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Herr Kollege Juratovic. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Linda Teuteberg, FDP-Fraktion.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Verleihung der Staatsangehörigkeit ist eine der weitreichendsten Rechtskreiserweiterungen, die ein Rechtsstaat vornehmen kann. Es geht um das bedeutendste Statusrecht.
Deutschland ist ein weltoffenes Land mit einer in der jüngeren Geschichte reichen, bereichernden Einwanderungsgeschichte – von der Ansiedlung französischer Hugenotten in Preußen im 17. und 18. Jahrhundert bis zum Zuzug von Unionsbürgern in unserer jüngsten Geschichte, ermöglicht durch Arbeitnehmerfreizügigkeit und Niederlassungsfreiheit in der Europäischen Union.
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Zugleich ist unser Land für qualifizierte Fachkräfte nicht so attraktiv, wie es sein könnte.
Mit der Einbürgerung werden Zuwanderer Teil des Staatsvolkes. Sie dürfen dann an Wahlen teilnehmen und die politische Richtung des Landes mitbestimmen. Weil der demokratische Rechtsstaat kein Interesse daran hat, in relevantem Umfang ungeeignete Personen zu seinen Bürgern zu machen, darf und muss er die Einbürgerung an Voraussetzungen knüpfen. Die gelungene Integration in unsere Gesellschaft ist für uns dabei die Hauptvoraussetzung.
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Zugleich ist die Möglichkeit des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit Ausdruck der Offenheit und Voraussetzung für Zusammenhalt und Integration.
Einige Eckpunkte für uns Freie Demokraten für eine Reform des Staatsangehörigkeitsrechtes sind: Dass die Verleihung der Staatsangehörigkeit Ergebnis und Ziel einer gelungenen Integration in die deutsche Gesellschaft ist. Sie ist keine Vorleistung, kein Vorschuss in der Hoffnung auf mögliche zukünftige Integrationsleistungen.
Es darf keine Rabatte bei den Integrationsanforderungen geben, wie Sprachkenntnisse, Bekenntnis zu und Achtung von Werte- und Rechtsordnung und Bestreitung des Lebensunterhaltes.
Eine Rechtsordnung, die sich selbst ernst nimmt, darf keine Fehlanreize für die Missachtung ihrer selbst setzen. Ein Staat muss niemanden zu seinem Bürger erklären, der ihm nicht sagt, woher er kommt, wer er ist, wie er heißt. Es darf bei Identitätstäuschungen zwar keinen völligen Ausschluss der Einbürgerung geben, aber das muss spürbare Konsequenzen haben.
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Der freiheitliche Rechtsstaat sollte für humanitäre Härten Regelungen vorsehen, aber er muss und sollte sich nicht auf der Nase herumtanzen lassen. Und nach spätestens zwei Generationen sollten sich Einwanderer in der Regel für eine Staatsangehörigkeit entscheiden müssen.
Für gut qualifizierte und integrationsbereite Einwanderer muss Deutschland ein Leuchtturm sein. Wenn die Voraussetzungen erfüllt sind und eine Entscheidung für unser Land vorliegt, dann ist das ein Grund zum Feiern. Und zwar nicht zaghaft und hinter verschlossenen Türen, sondern feierlich mit den Symbolen unseres Landes: mit der Flagge, mit dem Singen der Hymne, mit der Übergabe unseres Grundgesetzes und der jeweiligen Landesverfassung.
Wir werden uns konstruktiv in die Beratungen für ein angemessenes Staatsangehörigkeitsrecht einbringen und erwarten einen Entwurf der Bundesregierung.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Teuteberg. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion Die Linke die Kollegin Gökay Akbulut.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema Staatsangehörigkeitsrecht ist für uns Linke ein zentrales Thema.
Viele Migrantenselbstorganisationen, mit denen ich dazu in engem Austausch stehe, kritisieren die hohen Hürden. Zwar geht der Antrag der Grünen in die richtige Richtung, den positiven Bezug zur Reform des Staatsangehörigkeitsgesetzes von 1999 können wir jedoch in dieser Form nicht teilen. Es war damals ein wichtiger Schritt. Aber vieles ist in den vergangenen Jahren auf der Strecke geblieben. Teilweise hat es auch Verschärfungen gegeben, die wir kritisieren, wie den Wegfall des Inlandsprivilegs, die Erhöhung der Gebühren und höhere Sprachanforderungen.
Auch heute ist das Staatsangehörigkeitsrecht immer noch viel zu restriktiv. Die Einbürgerungszahl stagniert, bei Menschen aus Drittstaaten ist sie sogar rückläufig. Menschen leben im Durchschnitt 17,3 Jahre in Deutschland bis zu ihrer Einbürgerung.
In der Studie „Der Weg zum Pass“ aus Baden-Württemberg gaben 79 Prozent der Befragten an, dass das Wahlrecht für sie der wichtigste Grund war, sich einbürgern zu lassen. Dieser wichtige und gute Gedanke findet sich auch in der Gesetzesbegründung der letzten großen Reform; er wurde jedoch bis heute nicht umgesetzt. Dort steht es eindeutig, dass „kein Staat es auf Dauer hinnehmen kann, daß ein zahlenmäßig bedeutender Teil seiner Bürger über Generationen hinweg außerhalb der staatlichen Gemeinschaft steht“. Das betrifft mittlerweile über 10 Millionen Menschen in unserer Gesellschaft, die weiterhin ausgeschlossen bleiben. Das Ganze nennt man auch Demokratiedefizit. Das müssen wir abschaffen.
In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte heißt es in Artikel 21 Absatz 1:
Jeder hat das Recht, an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten seines Landes unmittelbar oder durch frei gewählte Vertreter teilzunehmen.
Die Realität ist aber anders. So wie Bertolt Brecht es schon in seinem Werk „Flüchtlingsgespräche“ von 1941 formulierte – was bis heute noch gilt –: „Der Paß ist der edelste Teil von einem Menschen.“ Wenn er gut ist, wird er anerkannt, der Mensch hingegen nicht. – Diesen Umstand müssen wir ändern. Deshalb fordern wir mit unserem Antrag eine Einbürgerungsoffensive,
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bei der Mehrstaatsangehörigkeiten generell akzeptiert werden, die deutsche Staatsangehörigkeit per Geburt in Deutschland verliehen wird und Menschen, die sich seit fünf Jahren rechtmäßig in Deutschland aufhalten und ihren Lebensmittelpunkt hier haben, das Recht auf Einbürgerung bekommen. Denn nur mit einer echten Einbürgerungsoffensive und einem modernen Staatsangehörigkeitsrecht und Partizipation für alle können wir auch von einer modernen Einwanderungsgesellschaft sprechen.
Vielen Dank.
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Sehr gut; punktgenau. – Vielen Dank, Frau Kollegin Akbulut. – Nächster Redner ist der Kollege Michael Kuffer, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Irgendwie sind wir in weiten Teilen der Debatte schon wieder in einer Märchenstunde angelangt. Während sich die Damen und Herren auf der einen Seite des Saals ein linkes Utopia ausmalen,
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in dem die deutsche Staatsangehörigkeit zum bedeutungslosen und inhaltsleeren Geschenk für jedermann herabgestuft werden soll, gehen die Herrschaften auf der anderen Seite des Saals wieder mal her und präsentieren erneut einen Änderungsvorschlag, der, wie man schon ohne große juristische Vorkenntnisse unschwer erkennen kann, mit unserem Grundgesetz kollidiert.
Da können die Menschen wirklich froh sein, dass die Regierungspolitik in diesem Land von verlässlichen Parteien der Mitte gestaltet wird und dass Vernunft und Sachverstand und
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Mäßigung die Grundlagen der Politik von CDU und CSU sind.
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Alle Ihre Vorlagen, ganz gleich, ob von der linken oder von der rechten Seite, haben eins gemeinsam: Sie lassen jedes Maß an Ausgewogenheit vermissen.
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Stattdessen vermitteln Sie hier den Eindruck, dass Sie wirklich nur extrem können.
Die Staatsbürgerschaft, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist – das ist sicherlich unbestritten – die intensivste Form der Bindung an einen Staat. Ein Staat kann einem Menschen kein umfangreicheres Recht zugestehen als dieses. Die Staatsbürgerschaft umfasst eine Vielzahl unveräußerlicher Rechte als freier Bürger im Staat und im Übrigen ein umfassendes Versprechen über Schutz im Ausland. Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist dieses Rechtsgebiet auch kein Experimentierfeld für ideologische Fantasien. Nein, das Staatsbürgerschaftsrecht war und ist ein sensibles Feld mit schwierigen politischen Auseinandersetzungen und – das sage ich sage dazu – schlussendlich mühsam errungenen Kompromissen.
Die Kriterien zur Erlangung der deutschen Staatsbürgerschaft müssen den höchsten Maßstäben genügen. Wer sie erlangen möchte, muss sich ohne Wenn und Aber zu unseren Werten und unserer Staats- und vor allem Gesellschaftsordnung bekennen; daran halten wir als Union ohne jede Diskussion fest.
In Richtung von Grünen und Linken sage ich ganz deutlich: Weil Ihnen diese Werte nichts bedeuten, gehen Sie auch so flapsig mit der Staatsbürgerschaft um.
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Für uns ist klar: Die doppelte Staatsbürgerschaft muss ein Ausnahmefall bleiben; sie darf nicht zur Regel werden.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Polat?
Nein, danke. – Man muss aber – auch das verlangt gemäßigte Politik – Wege und Lösungen finden, um der Realität zu begegnen und den gesellschaftlichen Frieden zu sichern. Deshalb haben wir die Optionspflicht, anders als die AfD es behauptet, auch nicht abgeschafft, sondern wir haben mit einem Generationenschnitt einen Mittelweg gefunden; denn in einer aufgeladenen politischen Gefechtslage ist Kompromissfähigkeit weiterhin ein hohes Gut. Insofern ist der Gesetzentwurf der AfD nicht überraschend.
Dass Sie den Kompromiss verachten, um Ihr eigenes Dasein zu rechtfertigen, ist ja nichts Neues. Bei Ihrem Versuch, ohne jede Stichtags- und Übergangsregelung die Optionspflicht ausnahmslos für alle im Inland aufgewachsenen Nicht-EU-Mehrstaatler wieder einzuführen, steht Ihnen aber unsere Verfassung im Weg. Das würde nämlich offensichtlich am Rückwirkungsverbot des Artikels 20 Grundgesetz scheitern. Ich frage mich wirklich, ob es bei Ihnen einfach die fehlenden handwerklichen Fähigkeiten sind oder ob es schlicht daran liegt, dass Sie unsere Verfassung offensichtlich als reine Handlungsempfehlung betrachten und deshalb immer wieder mit solchen Vorschlägen daherkommen.
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Aus diesen Gründen werden wir die vorliegenden Anträge und den Gesetzentwurf ablehnen.
Wir werden weiterhin für ein wertegebundenes, rechtsstaatlich fundiertes Staatsangehörigkeitsrecht eintreten, das klare Regeln kennt und nicht beliebig zum Spielball der politischen Debatte wird.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Kuffer. – Letzter Redner des heutigen Tages wird der Kollege Helge Lindh, SPD-Fraktion, sein.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das eigentlich furchtbare Wort „Vaterlandsverrat“ sollte man nicht verwenden. Wenn es aber einmal angemessen gewesen wäre, dann bei der Rede von Herrn Curio.
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Darüber hinaus ist es auch der Einbringerin des Gesetzentwurfs, also der AfD, tatsächlich gelungen, am eigenen Beispiel deutlich zu machen, dass die Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse von Beginn an fatal scheitern kann. Sie sind das beste Beispiel dafür.
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Wenn man den Gesetzentwurf verstehen will, braucht man nur eine Zeile zu lesen. Ich empfehle, die Begründung, „A. Allgemeiner Teil“, zu lesen. Da steht – ich zitiere den vierten Punkt –: „Beispiel: Türken“. Das ist Ihr Konzept von Staatsangehörigkeit; in dieser Erbärmlichkeit zeigt es sich. Um das noch abschließend durch ein Beispiel zu ergänzen: Wenn einer meiner größten neurechten Fans, Anabel Schunke – sie schaut bestimmt zu und plant schon ihren nächsten Post – gerne von „Passdeutschen“ spricht, dann weiß man, in welchem Umfeld wir uns hier geistig begegnen. Und genau diese braune Tunke ist es, die unsere Debatte über Staatsangehörigkeit so sehr vergiftet und gegen die wir aktiv anarbeiten müssen.
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Allerdings – das muss man auch sagen – krankt die Debatte auch daran, dass wir einerseits manchmal zeigen wollen, wie hart und konsequent wir sind, und andererseits unsere Weltoffenheit demonstrieren. Darum geht es aber nicht. Es geht um die Befindlichkeit der Betroffenen; diese müssen im Mittelpunkt stehen.
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Es geht auch darum, dass sich ein Einwanderungsland zu sich selbst bekennt, und das heißt, nach Regeln und klaren Standards Staatsangehörigkeit zu ermöglichen und nicht Staatsangehörigkeit zu verhindern. Es heißt „Staatsangehörigkeitsgesetz“, nicht „Staatsangehörigkeitsverhinderungsgesetz“.
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Wir sind aber in der Tat manchmal zu gut darin, Staatsangehörigkeit zu verhindern. Deshalb muss doch insbesondere ein Kriterium sein, Realität anzuerkennen, und das heißt, Anerkennung von Mehrstaatlichkeit.
Und dann das Zweite. Es ist nun mal unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit und das, glaube ich, klügste Denkmal, das wir ihnen bauen können, dass wir uns vor den Leistungen der ersten Generation der Einwanderer, der sogenannten Gastarbeitergeneration, verneigen, davor, was sie – im Unterschied zu Herrn Curio – für dieses Land geleistet haben.
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Und sie verdienen insbesondere die Staatsangehörigkeit dieses Landes.
Wenn das alles so ist und wir das gewährleistet haben,
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dann wünsche ich mir auch Feiern zum Erhalt der Staatsangehörigkeit, also Einbürgerungsfeiern. Aber diese Einbürgerungsfeiern sind dann nichts mehr wert, wenn zum Beispiel der Eingebürgerte afrikanischer Herkunft in den Bus steigt und Gegenstand von Racial Profiling wird oder wenn sich die Eingebürgerte arabischer Herkunft abends auf dem Sommerfest rechtfertigen muss, ob sie denn wirklich auf dem Boden des Grundgesetzes steht, und aufgefordert wird, dass sie sich klar vom IS distanziert.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Und es scheitert auch, wenn der Eingebürgerte immer noch als Deutscher mit Migrationshintergrund gilt, und es scheitert erst recht, wenn die Angehörigen des Eingebürgerten erleben müssen, wie sie in einer Shishabar von einem Verfechter dieses Reinheitswahns des Deutschtums eiskalt abgeknallt werden.
Herr Kollege, kommen Sie jetzt bitte zum Schluss!
Auch das gehört in diese Debatte, und das müssen wir gewährleisten, sonst belügen wir uns selbst.
Vielen Dank.
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Damit schließe ich die Aussprache.