Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 5/27/2020

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Entwicklungspolitik bekommt eine neue Bedeutung und Rolle. Deshalb spreche ich heute vom Platz des Wirtschaftsministers aus. ({0}) Herzlichen Dank, meine Damen und Herren. Ich bin dankbar für diese Stunde. Halten wir für eine Minute unsere Gedanken an und denken nicht nur an uns, an die Sorgen und Probleme, die wir diskutieren, sondern denken wir für eine Minute an 4 Milliarden Arme in der Welt, die von weniger als 7 Dollar am Tag leben müssen. Denken wir an 850 Millionen Hungernde, die mit 1,50 Dollar am Tag auskommen müssen, und an 70 Millionen Flüchtlinge. Die Coronasituation ist für diese Menschen besonders dramatisch und trifft sie am härtesten; denn all das, was wir in Deutschland, in Europa an Möglichkeiten des Schutzes zur Verfügung stellen können, gibt es dort so gut wie nicht. Wir dürfen nicht nur an uns denken, meine Damen und Herren. 200 Milliarden Euro Rettungsschirm für Europa, für die europäischen Länder, für die Menschen hier in Europa: 200 Milliarden Euro! Ich bitte Sie, das Parlament, den Finanzminister, um 3 Milliarden Euro für alle Entwicklungsländer, für die Ärmsten der Armen, ({1}) für unser Corona-Sofortprogramm. 3 Milliarden Euro: Ist das zu viel ({2}) – so sehen das die einen –, oder ist das zu wenig an Solidarität? Die Pandemie bekämpfen und besiegen wir nur weltweit. Deshalb ist es notwendig, dass wir unsere Solidarität zeigen. Meine Damen und Herren, die neue Bedeutung der EZ: Die Entwicklungszusammenarbeit Deutschlands bedeutet internationale Kooperation mit 100 Ländern in der Welt. Unsere Aufgabe Nummer eins ist die Bekämpfung der Armut und des Hungers. Ich denke zum Beispiel an den Jemen, wo sich im Augenblick die größte humanitäre Katastrophe weltweit abspielt. Hunger ist Mord; denn wir könnten dieses Problem weltweit mit relativ bescheidenen Mitteln gemeinsam lösen. Mit 30 Milliarden Dollar, so sagen uns Wissenschaftler, pro Jahr, zehn Jahre lang, können wir alle Menschen satt machen. Die Entwicklungszusammenarbeit ist Zukunfts- und Friedenspolitik. Wir investieren in das Überleben von Millionen von Kindern. Ich denke an die 10 Millionen Flüchtlinge, davon die Hälfte Kinder, in Syrien. Mit 50 Cent pro Tag retten wir ein Menschenleben in diesen Flüchtlingscamps. Dennoch sterben täglich 15 000 Kinder. 70 Millionen Kinder auf der Welt sind Arbeitssklaven. Sie arbeiten auch für uns in der Kleiderproduktion, in der Schuhproduktion. Wir dürfen das nicht zulassen. Entwicklungszusammenarbeit ist auch internationale Klima- und Umweltpolitik. Hier müssen wir weltweit umdenken. Auch das Klima retten wir nur weltweit, nicht alleine in Deutschland und nicht alleine in Europa. Wollten alle so leben, wirtschaften und konsumieren wie wir, dann bräuchten wir drei Erden. Jedem ist klar, dass es diese drei Erden nicht gibt. Deshalb muss die Devise heißen: Umdenken! Auch nach der Krise dürfen wir nicht zurück zu einer Normalisierung der Globalisierung, wie wir sie vorher gehabt haben: immer weiter, immer mehr und immer schneller. Wir brauchen eine globale Energiewende. Dazu muss auch Brüssel seinen Beitrag leisten. Wenn jeder afrikanische und jeder indische Haushalt Zugang zu Strom auf der Basis von Kohle bekommt – das ist im Augenblick die Planung –, so bedeutet das 1 000 Kohlekraftwerke zusätzlich. Meine Damen und Herren, deshalb schlage ich einen europäisch-afrikanischen New Deal für Klima- und Energiepolitik vor. Wir brauchen eine weltweite Energiewende. Deutschland hat die Technologie. Wir können Arbeitsplätze sichern. Wir können daraus eine große Win-win-Situation schaffen. Bei allen Problemen muss Europa handlungsfähig werden. Parallel hat Frau von der Leyen ihr Programm vorgeschlagen. Wir brauchen einen EU-Afrika-Partnerschaftsvertrag und zumindest eine Verdoppelung der EU-Afrika-Mittel für die nächsten sieben Jahre. Bis heute, Herr Präsident, hat die Europäische Union zur Bekämpfung der Pandemie mit dramatischen wirtschaftlichen und finanziellen Folgen für die Entwicklungsländer keinen einzigen zusätzlichen Eurocent zur Verfügung gestellt – keinen Eurocent! Wir lassen, was Europa anbetrifft, diese Länder leider bisher alleine. Mit „BMZ 2030“ hat Ihnen mein Haus ein Reformkonzept vorgelegt. Wir reagieren auf die neuen Herausforderungen der Zeit, auf neue Themen. Ich möchte diese Reform mit Ihnen umsetzen und so das Ministerium zukunftsfähig weiterentwickeln. Mehr Wirksamkeit ist dabei die Devise. Zum Schluss möchte ich allen draußen in der Welt danken: Unsere Entwicklungshelfer – die GIZ, die KfW, viele private Organisationen und die Kirchen – sind nicht zurückgekommen; sie sind draußen bei den Menschen in den Entwicklungsländern, sie leisten großartige Arbeit, und sie haben unsere Unterstützung. Vielen herzlichen Dank. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Die erste Frage stellt der Kollege Dietmar Friedhoff, AfD.

Dietmar Friedhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004719, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Minister! Sie fordern die EU auf, Afrika und Zentralasien mit zusätzlichen 50 Milliarden Euro zu unterstützen. Sie möchten im Nachtragshaushalt Ihres Ressorts zusätzliche 3 Millionen Euro für Coronasofortmaßnahmen haben. ({0}) – Milliarden. Entschuldigung, genau. Die WHO geht in Afrika mit Bezug zu Covid-19 von derzeit 90 000 Infizierten und ungefähr 3 000 Toten aus. Durch die Covid-19-bedingte Behandlungskonzentration finden derzeit keine Behandlungen unter anderem in den Bereichen Masern und Polio, Tuberkulose, Aids und Malaria statt. Dadurch bedingt, geht man von einem – dieses Wort finde ich eigentlich sehr entsetzlich – gesundheitlichen Kollateralschaden von über 1 Million zusätzlichen Toten 2020 in Afrika aus, nur in diesen vier Bereichen. Herr Müller, sind die von Ihnen geplanten Maßnahmen also wirklich zielführend, oder richten sie nicht einen unwiderruflichen zusätzlichen Schaden durch eine unverhältnismäßige Zielkonzentration an?

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Herr Kollege, Sie sprechen die Dimension an. Diese Pandemie ist dort nicht nur eine Krise, die zu Tod durch das Virus führt, sondern die Experten sagen uns: Eine Vielzahl mehr an Toten wird die dadurch ausgelöste Wirtschafts-, Finanz- und Hungerkrise verursachen. Wir haben jetzt schon in vielen Ländern Afrikas, aber auch in Lateinamerika und in Indien eine Hungerkrise gigantischen, dramatischen Ausmaßes. Der Lockdown hat dazu geführt, dass viele Menschen ähnlich wie in Deutschland keine Arbeit mehr haben. Bei uns gibt es Kurzarbeitergeld, aber in den afrikanischen Ländern bekommen 90 Prozent der Arbeiterinnen und Arbeiter Tagelohn, in einem Arbeitsverhältnis, wo es weder Hartz IV oder Kurzarbeitergeld noch eine Stütze gibt. Von einem Tag auf den anderen stehen Millionen – wenn ich Indien dazunehme, Hunderte von Millionen – vor dem Nichts. Das World Food Programme kann nicht mehr herein, die Logistik bricht zusammen, und deshalb ist diese Pandemie eine Hunger-, Wirtschafts- und Finanzkrise dramatischen Ausmaßes.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nachfrage.

Dietmar Friedhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004719, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ja, gerne; die Nachfrage passt genau. – Derzeit hungern 250 Millionen Menschen alleine in Afrika. Der Lockdown und die Konzentration auf Covid-19 werden weitere Menschen treffen. Herr Minister, von wie vielen hungernden Menschen zusätzlich bis zum Ende des Jahres gehen Sie aus? Wie viele werden Ihrer Meinung nach Lockdown-bedingt an Hunger sterben?

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Ich bin niemand, der die Apokalypse beschreibt, ({0}) aber es kann sich jeder ausmalen, welche dramatischen Verhältnisse zum Beispiel in den Flüchtlingscamps herrschen. Ich war noch im Februar in Kutupalong, in dem weltgrößten Flüchtlingscamp: Es sind 800 000 Rohingya, die dort auf dem Boden, auf dem Feld, auf einem früheren Elefantengelände leben müssen. Leider ist auch dort jetzt das Virus angekommen. Wir dürfen nicht abwarten, bis dieses Virus Tausende Menschenleben fordert, und deshalb habe ich sofort entschieden – mit Ihrer Unterstützung –, dass Deutschland dort vor Ort eine Notfallmedizin aufbaut, dass wir Labore und Tests bereitstellen und den Menschen vor Ort helfen. Das muss unsere Devise sein. Wir sind drei Monate voraus in der Krise, wir haben viel Wissen, Können, Erfahrung, und das sollten wir jetzt mit unseren internationalen Organisationen den Ärmsten der Armen und den Bedürftigsten zur Verfügung stellen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dr. Sascha Raabe, SPD, stellt die nächste Frage.

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, erst einmal vielen Dank für Ihre Ausführungen und vor allem auch für das Engagement im Rahmen der Coronapandemie, in den Entwicklungsländern die gesundheitlichen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen abzumildern. Wir unterstützen als Entwicklungspolitikerinnen und Entwicklungspolitiker der SPD voll, dass wir aus dem Nachtragshaushalt hier auch zusätzliche Mittel brauchen. Sie haben ja einen Bedarf von etwa 3 Milliarden Euro angemeldet, vielleicht auf dieses und nächstes Jahr verteilt. Ich denke, das ist sehr wichtig, und das unterstützen wir. Aber es geht ja nicht nur um Geld, sondern jetzt in der Krise sind Arbeitnehmerinnen in Entwicklungsländern auch noch vulnerabler. Die Näherinnen in Bangladesch sind arbeitslos, viele stehen auf der Straße und laufen auch Gefahr, ausgebeutet zu werden. Dazu meine Frage: Setzen Sie sich weiter für ein Lieferkettengesetz ein, und wie sind die Erfolgsaussichten für dieses Gesetz, das wir unbedingt brauchen, um Menschenrechte und Arbeiternehmerrechte in Entwicklungsländern zu schützen? EU-Justizkommissar Reynders hat jetzt eine Initiative angekündigt, und mich würde interessieren, wie Sie das im Kabinett voranbringen können und wie es damit weitergeht.

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Ich glaube, die Pandemie hat uns gezeigt: Wir leben in einem globalen Dorf. Dieses Virus ist in Wuhan ausgebrochen und hat innerhalb von wenigen Wochen die ganze Welt erreicht. Wir sind aber auch in der Frage der Lieferbeziehungen, des Austausches von Waren und Dienstleistungen, weltweit verbunden. Unsere Jeans werden in Bangladesch produziert, unsere Turnschuhe, unsere Kleidung und vieles mehr. Aber dort werden sie von Menschen produziert, die unter sklavenähnlichen Bedingungen arbeiten müssen. Es gibt keine Arbeitsrechte wie in Deutschland; 14 Stunden müssen die Frauen in Bangladesch arbeiten, für 15 bis 20 Cent pro Stunde, damit wir eine Jeans in Bangladesch für 5 Euro einkaufen können, die in Deutschland 50 oder 100 Euro im Verkauf kostet. Das ist die Handelsspanne, meine Damen und Herren. Es ist unerträglich, dass wir, die reichen Industriestaaten, solche Zustände in unseren globalen Lieferketten dulden und erlauben. Wir haben nun viele Jahre auf Freiwilligkeit gesetzt, und viele, viele Firmen verpflichten sich, in den Lieferketten soziale und ökologische Mindeststandards und Menschenrechtsstandards umzusetzen. Aber Freiwilligkeit führt offensichtlich nicht zum Erfolg. Deshalb halte ich daran fest – wir bekommen dieser Tage die Auswertung des NAP-Monitoringprozesses –, ein Lieferkettengesetz auf den Weg zu bringen, das diese Verhältnisse verändert.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nachfrage, Herr Kollege.

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie haben unseren Arbeitsminister, Hubertus Heil, ja voll an der Seite und uns Sozialdemokraten sowieso. Wir sind seit Langem für eine verbindliche Regelung. Die Frage ist, ob Sie auch Wirtschaftsminister Altmaier schon überzeugt haben; denn der blockiert ja da leider noch. Und ich verstehe es auch nicht, weil ich mit vielen Unternehmensverbänden und Unternehmern rede, die sagen: Wir wollen auch faire Wettbewerbsbedingungen haben; denn der ehrliche Unternehmer soll ja geschützt werden, und die schwarzen Schafe sollen nicht auf Kosten von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern billiger produzieren können. Anschließend daran die Frage: Ich weiß, ich habe Sie an der Seite; bei „Fairer Handel statt Freihandel“ arbeiten wir auch gut zusammen. Aber auch bei Mercosur ist es so: Wirtschaftsminister Altmaier möchte dieses Abkommen auf Teufel komm raus so beschließen, wie es ist. Das wird zu großen Abholzungen des Regenwaldes führen; denn wir haben dort im Nachhaltigkeitskapitel keine Sanktionsmöglichkeiten, wenn Brasilien dagegen verstößt, und wir wissen, was dieser fanatische, populistische Präsident dort vorhat.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege.

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir müssen verhindern, dass durch so ein Abkommen am Ende Arbeitnehmerrechte, Menschenrechte, Regenwald und Klimaschutz unter die Räder kommen. Ich frage Sie: Was können wir tun, damit die Bundesregierung diesem Abkommen so nicht zustimmt, sondern dafür sorgt, dass das Nachhaltigkeitskapitel verbindlich sanktionierbar ist, damit dort fairer statt freier Handel stattfinden kann?

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Darf ich mal die Bemerkung machen, dass auch bei der Dringlichkeit der Probleme global für die Befragung unserer Regierungsbank eigentlich die Beschränkung von einer Minute für Frage und Antwort gilt? – Herr Bundesminister.

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Noch mal zu den Lieferketten: Der Monitoringprozess endet diesen Freitag. Nach den bisherigen Informationen wird es wie in der ersten Runde sein. Es haben sich circa 30 Prozent der Befragten beteiligt – ich nehme nichts vorweg, es wird erst ausgewertet –, aber: mit einem vollkommen unbefriedigenden Ergebnis. Sollte es sich so bestätigen, werden wir den Koalitionsvertrag umsetzen und ein Lieferkettengesetz vorlegen. Und ich freue mich, dass ich große Unterstützung nicht nur von Verbänden, sondern auch aus der Wirtschaft habe, von Unternehmern, die sagen: Wir müssen Menschenrechtsstandards garantieren, wir müssen die Kinderarbeit stoppen, und wir brauchen auch ökologische Standards. Einen ähnlich entscheidenden Schritt müssen wir in den Außenhandelsabkommen umsetzen, das heißt, die Nachhaltigkeitskapitel im Mercosur-Abkommen, in Abkommen mit Indonesien und anderen Staaten für verbindlich erklären und Verstöße sanktionieren. Dann werden brennende Regenwälder nicht mehr das Morgen sein, sondern das Gestern.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Dazu möchte der Kollege Uwe Kekeritz, Bündnis 90/Die Grünen, eine Frage stellen.

Uwe Kekeritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004066, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herzlichen Dank. – Sie haben das Stichwort „Mercosur“ genannt; das finde ich sehr interessant. Sie wissen, dass die Brandrodungen extrem ausgeweitet wurden; noch nie wurde so viel Wald vernichtet wie zurzeit. Sie wissen auch, dass Corona dort drüben wütet und dass vor allen Dingen die Indigenen betroffen sind; sie sind sowohl vom Virus als auch von der Brandrodung betroffen. Der Umweltminister Brasiliens hat vor Kurzem gesagt: Wir müssen die Chance nutzen – in der Öffentlichkeit nimmt man uns zurzeit nicht wahr –, diese Brandrodungen zu legalisieren und die Täter straffrei zu stellen, damit die Großgrundbesitzer dieses Land erwerben können. – Wollen Sie tatsächlich mit einem solch verbrecherischen Regime ein Handelsabkommen betreiben? Wir wissen doch, dass die nur an ihrem persönlichen Profit interessiert sind; Menschenrechte und Legalität spielen überhaupt keine Rolle. Wie kann diese Bundesregierung ein solches Vorgehen verantworten? ({0})

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Ich denke an die Menschen, und den Menschen ist so nicht geholfen. Auch in Afrika gibt es viele Regierungen, mit denen wir unter Berücksichtigung demokratischer Menschenrechtsstandards nicht zusammenarbeiten dürften. Der Entwicklungsminister hat es fast ausnahmslos mit schwierigen Ländern zu tun. Aber ich kann Ihnen sagen: Ich habe heute Nachmittag entschieden, dass wir in Manaus direkt helfen werden – den Indigenen, den Menschen vor Ort –, Covid-19 zu stoppen. Wir haben Möglichkeiten und Mittel. ({0}) Ich bin nach wie vor auch mit der brasilianischen Regierung im Gespräch. Ich bin der Meinung: Wenn wir die Gespräche abbrechen, nichts tun, uns aus dem Amazonas zurückziehen, dann helfen wir weder den Menschen, den Indigenen, noch dem brennenden Regenwald. Deshalb versuche ich – auch mit dem brasilianischen Umweltminister –, neue Maßnahmen nach vorne zu bringen. In den nächsten Wochen wird entschieden, ob wir uns mit einem neuen Waldprogramm im Amazonas engagieren wollen. Ziel ist, die Brandrodungen der Regenwälder zu stoppen. Dazu trägt aber ganz erheblich das Thema „Zertifizierung von Sojaeinfuhr“ – auch für die deutsche und europäische Landwirtschaft – bei. Wir können nicht von Flächen, für die Regenwälder gerodet wurden, hier unsere Schweine und Rinder füttern. Deshalb muss Soja zertifiziert werden. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nachfrage?

Uwe Kekeritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004066, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kekeritz.

Uwe Kekeritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004066, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke schön. – Diese Antwort widerspricht ein bisschen Ihrer Länderliste. Sie haben ja viele Länder aus dieser Länderliste gestrichen, und wir haben nach einem Argument gefragt.

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Ja.

Uwe Kekeritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004066, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sie haben gesagt: Wir arbeiten jetzt nicht mehr mit den Ländern zusammen, die die Menschenrechte missachten, die die Korruption fördern, die auf die Legalität, auf das Rechtssystem pfeifen, die was weiß ich noch alles machen. – Und jetzt in Brasilien gilt das alles nicht mehr? Das muss man mir erst erklären, Herr Müller.

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Der Regenwald in Brasilien ist in etwa 20-mal so groß wie Deutschland; das muss man sich mal vorstellen. ({0}) Und er richtet sich nicht danach, wer gerade in Brasilia oder São Paulo regiert. Im Übrigen gab es unter Lula die höchsten Rodungszahlen. Jetzt haben wir Bolsonaro. Wir müssen an die Natur, an das gigantische Potenzial des Regenwaldes denken und auch international dafür werben und Unterstützung finden, um den Einschlag des Holzes zu stoppen. Nicht nur in Brasilien, auch in Indonesien und in Zentralafrika sind wir aktiv. Ohne Regenwälder kein Klimaschutz, keine Zukunft für Arten, für Menschen und Tiere. Das muss uns ganz klar sein. Den allermeisten in Deutschland ist die Bedeutung des fernen Regenwaldes nicht klar. Der Regenwald speichert CO2 und gibt uns die Luft zum Atmen. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Jetzt möchte dazu die Kollegin Helin Sommer, Die Linke, noch eine Frage stellen.

Helin Evrim Sommer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004897, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Genau. – Sie haben hier zum Thema Lieferkettengesetz und auch zu Ihrem Reformkonzept „BMZ 2030“ einiges ausgeführt. Ich möchte dazu eine Frage stellen: Der Bereich Arbeitsbedingungen taucht in Ihrem Konzept „BMZ 2030“ nicht mehr als Kernthema, sondern nur als ein Unterthema bzw. Randthema auf. Wie können Sie sich das erklären? Sie preschen jahrelang vor und fordern ein Lieferkettengesetz, aber in Ihrem Konzept benennen Sie das nur als Randthema. Das Thema ist nach wie vor ganz wichtig, um künftig menschenwürdige Arbeitsbedingungen in bestimmten Ländern zu fördern. Sie haben Südostasien genannt. Überhaupt gibt es nur noch zwei Länder – Bangladesch und Kambodscha –, die bilaterale Partner bleiben sollen; alle anderen wandern ja in den multilateralen Bereich. Wie wollen Sie das alles machen, wenn Sie sich selbst das Instrument aus der Hand nehmen lassen?

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Wir alle müssen verstehen: Geht es den anderen da draußen auf die Dauer schlecht, wird es uns auf die Dauer nicht gut gehen. Das ist eine Frage der Humanität. Ich habe vorhin das Thema der Jeansfertigung angesprochen. Wir alle trinken in der Früh unseren Kaffee. Der Kaffee kommt aus Westafrika oder aus Äthiopien. In einem Kilogramm Kaffee, das in Berlin 8 oder 10 Euro kostet, stecken 50 Cent an Bohnen. Auf den Plantagen arbeiten Kinder. Weil die Familien von dem Einkaufspreis, den wir für die Ernte der Kaffeebohnen bezahlen, nicht leben können, müssen die Kinder mitarbeiten. Das ist Ausbeutung von Mensch und Natur. Auch deshalb brauchen wir das Lieferkettengesetz. ({0}) Das ist genau das Thema: faire Arbeitsbedingungen. In den Entwicklungsländern gilt es, einen Prozess nachzuholen, den wir im 19. und 20. Jahrhundert – Bismarck’sche Sozialgesetzgebung, grundlegende Arbeitsbedingungen – ({1}) umgesetzt haben. Ich bin an Ihrer Seite: Wir werden das nur schaffen, wenn wir die Gewerkschaftsbewegung –

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Minister.

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

– und die Arbeiter in diesen Ländern stärken.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Wollen Sie noch eine Nachfrage stellen? – Bitte.

Helin Evrim Sommer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004897, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich habe Ihnen deutlich gemacht, dass der Bereich Arbeitsbedingungen nicht mehr als Kernthema in Ihrem Konzept vorhanden ist. Nach welchen Kriterien haben Sie in der Länderliste die Themen festgelegt, die für Sie als Kernthemen gelten? Das ist wirklich sehr, sehr diffus. Wir haben auch heute Vormittag im Ausschuss hinlänglich darüber diskutiert. Uns wurde trotzdem nicht erklärt, nach welchen Kriterien diese Länderauswahl und die Themenauswahl in Ihrem Konzept nun erfolgen.

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Als Erstes: Arbeitsbedingungen und insbesondere auch die Themen „Frauenrechte“ und „Stoppt Kinderarbeit!“ stehen bei mir ganz oben. Bei der Länderauswahl haben wir uns nun nach zwölf Jahren in der Reform – wir arbeiten mit über 100 Ländern in der bilateralen EZ, bei der Zuschüsse des Finanzministers, also Geld des Steuerzahlers, fließen – zu einer neuen Form entschlossen: stärker zu konzentrieren. Deutschland kann nicht allein die Probleme der Welt lösen. Deshalb zeige ich auch immer wieder auf Europa. Wir konzentrieren uns stärker und konditionieren. Das heißt, ich verlange von den Staaten, mit denen wir direkt zusammenarbeiten und in die Geld des Steuerzahlers fließt, Offenlegung der Haushalte, Transparenz, Kampf der Korruption und die Einhaltung der Menschenrechte. Das sind Grundbedingungen. Deshalb scheiden Staaten aus der Zusammenarbeit aus – das tut weh, wie bei Myanmar –, und deshalb wird diese Gruppe kleiner. Aber ich habe andere Qualitäten eingeführt: die Zusammenarbeit mit globalen Partnern zum Schutz globaler Güter. Und wir gehen aus keinem Land der Welt in der Zusammenarbeit bei humanitärer Hilfe und Notfallhilfe heraus.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dazu stellt jetzt die Kollegin Sandra Weeser, FDP, eine Frage, und dann kommt noch Frau Haßelmann, und dann kommt der Kollege in der Beek.

Sandra Weeser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004929, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. – Sehr geehrter Herr Minister Müller, Sie haben jetzt sehr schön ausgeführt, was in den letzten Jahrzehnten teilweise auch verpasst worden ist, wo die Bundesregierung sich jetzt in der Pflicht sieht. Das sind hehre Ziele; das finde ich auch richtig. Aber eine Frage habe ich an Sie, was das Lieferkettengesetz angeht. Bei all dem, was die letzten Jahrzehnte offensichtlich nicht funktioniert hat, und angesichts dessen, dass die Bundesregierung es nicht geschafft hat, nachhaltige Lieferketten durchzusetzen: Wie sollen das die Unternehmer sicherstellen, wenn ein Staat das nicht sicherstellen kann?

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Also, der Großteil der deutschen Unternehmen setzt diese Mindeststandards im sozialen und ökologischen Bereich um – lesen Sie mal die Nachhaltigkeitsberichte –, aber eben nicht alle. Es kann nicht akzeptiert werden, dass Kinderarbeit in unseren Produkten steckt, in den Teppichen, in den Polstern. Ich möchte nicht nachfragen, wie es hier im Haus ausschaut, ob wir diese Nachweise erbracht haben. Und es kann auch nicht sein, dass wir die Menschen für die Produktion unserer Wohlstandsprodukte mit 12 Cent in der Stunde abspeisen und sie 14 Stunden bei einer Sechstagewoche arbeiten lassen – meist Frauen, die kaserniert leben. Ich kann Ihnen diese Beispiele nennen; denn ich rede von der Realität, die ich gesehen habe. Es muss auch im Interesse der Unternehmerinnen und Unternehmer sein, den Kunden die Lieferketten für ihre Produktlinien nachzuweisen. Ich glaube, es kommt keiner mehr darum herum. Im Übrigen freue ich mich, dass EU-Kommissar Reynders angekündigt hat, unsere Vorschläge aufzugreifen und auf europäischer Ebene aktiv zu werden.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Nachfrage, Frau Kollegin?

Sandra Weeser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004929, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Gerne, ja. – Aber damit wälzen wir die ganze Thematik ja jetzt auf die Unternehmen ab. Die machen das in großen Teilen ja schon sehr gerne freiwillig. Glauben Sie nicht, dass auch der Konsument ein Stück weit die Verantwortung tragen sollte, wenn es darum geht, zu hinterfragen, wie solche Lieferketten zustande kommen? ({0}) Wenn Sie jetzt sagen: „Ich will nicht wissen, was hier im Bundestag verbaut ist“, dann stelle ich mir auch die Frage: Warum hat sich der Bundestag nicht darum gekümmert, was hier verbaut worden ist?

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Solange große deutsche Unternehmen auf „Geiz ist geil“-Werbung setzen und den Verbraucher mit billigsten Angeboten locken, glaube ich nicht an die Freiwilligkeit. Wir haben den Test gemacht: Das deutsche Textilbündnis legt diese Standards fest. Es ist das Angebot an Handel und Textiler in Deutschland, sich auf freiwilliger Basis zu verpflichten. Das Ergebnis jetzt nach sechs Jahren ist – toll: 50 Prozent haben das getan. Ich ziehe den Hut vor allen, die beim Grünen Knopf mitmachen; das ist das Siegel für den Verbraucher, das wir umgesetzt haben. Aber es sind eben nur 50 Prozent des Handels im Textilbereich in Deutschland, die sagen: Wir machen freiwillig mit. – Das war der Testlauf mit dem Ergebnis, dass Mittelständler sagen: Es geht. Wir haben die Standards umgesetzt. – Es geht auch in anderen Branchen, und es belastet uns auch nicht mit ungebührlichen Kosten. Also: Alle Argumente sind in der Praxis getestet, aber eines ist ausgeräumt: Freiwilligkeit führt nicht zum Ziel und ist auch ein Stück Wettbewerbsverzerrung für die, die in der Produktion und im Verkauf immer auf billigst setzen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Britta Haßelmann stellt die nächste Frage dazu.

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Ich komme zurück zum Lieferkettengesetz. Herr Minister Müller, wir kennen ja Ihre Strategie bei Regierungsbefragungen. Sie erzählen hier schöne Geschichten, was Sie in der Welt alles gesehen haben. Viele der Parlamentarier aus dem Bereich der Entwicklungszusammenarbeit, die hier sitzen, haben das auch alles schon gesehen und kennen das. Wir brauchen keine Beschreibungen über die elende Situation, über die erbärmlichen, ausbeuterischen Bedingungen. Wir wollen von Ihnen jetzt mal wissen, wann Sie liefern, und wir wollen keine Interviews, keine blumigen Erklärungen, keine dramatischen Schilderungen hören. Woran scheitert das Lieferkettengesetz? Warum kriegen Sie das nicht auf die Kette? Wo ist der Widerstand? Und: Was tun Sie ganz konkret? Das wollen die Parlamentarierinnen und Parlamentarier von Ihnen wissen, ({0}) und sie wollen keine Geschichten über die Arbeitsbedingungen von Menschen hören. Die kennen wir, die sind schlimm, und dagegen müssen wir was tun. ({1})

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Also, ich bin ja schon ein Stück weit vorangekommen: Peter Altmaier hat mir heute schon seinen Platz überlassen. ({0}) Ich sage Ihnen konkret, wie es abläuft. Wir haben in der Koalitionsvereinbarung den NAP-Prozess dargelegt. Es läuft die zweite Runde der Befragung. Unter dem Stichwort „Freiwilligkeit“ wird festgestellt, wer mitmachen will, wer kann und wer nicht kann. Am Freitag endet diese zweite Runde. Es gibt einen festen Zeitplan: Mitte Juli wird das Ergebnis bekannt gegeben. Aber es ist jetzt schon erkennbar, dass auch dieser zweite Monitoring-Prozess mit der Abfrage bei den Unternehmen, ob sie bezüglich Menschenrechtsstandards eine Risikoanalyse vornehmen usw., scheitern wird. ({1}) Und dann greift die Koalitionsvereinbarung. Dann werden Minister Heil und ich dem Deutschen Bundestag einen Entwurf für ein Lieferkettengesetz vorlegen, und dann baue ich auf die Unterstützung aller. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Jetzt muss ich dem Kollegen in der Beek tief in die Augen schauen; denn ich habe zum Thema Lieferketten noch drei weitere Nachfragen. Kann ich die noch vorziehen? – Gut. Dann ist die Nächste die Kollegin Heike Hänsel, Die Linke.

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen herzlichen Dank, Herr Präsident, dass Sie sich noch mal für unsere Nachfragen eingesetzt haben; aber es ist ja auch ein sehr wichtiges Thema, das uns alle umtreibt. – Herr Minister, erst mal begrüße ich es, zu hören, dass Sie sich hier dafür verbürgen: Es wird ein Lieferkettengesetz kommen. – Das habe ich jetzt verstanden; das haben Sie hier ja praktisch fast unter Eid ausgesagt. Darauf setzen wir natürlich alle. Jetzt brauchen wir ja auch einen internationalen Rahmen. Es gibt eine andere Initiative, die UN-Binding-Treaty-Initiative, in deren Rahmen auf UN-Ebene versucht wird, im Grunde für alle multinationalen Konzerne weltweit ein Unternehmensstrafrecht einzuführen – eine wichtige Voraussetzung auch für ein Lieferkettengesetz. Die Bundesregierung hat sich da bisher nicht mit Ruhm bekleckert und das eigentlich immer boykottiert. Meine Frage: Werden Sie sich dafür einsetzen, dass das vorangetrieben wird, auch im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft? Also, gibt es da von Ihrer Seite jetzt Initiativen bei der deutschen Ratspräsidentschaft für diese UN-Initiative und ein Lieferkettengesetz auf europäischer Ebene?

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Also, das Unternehmensstrafrecht liegt bei der Justizministerin, die ja auch an dem Thema arbeitet. Ich will noch mal auf das Thema „Stoppt Kinderarbeit!“ zu sprechen kommen. Dazu haben wir uns vor 70 Jahren weltweit bekannt, und dennoch leben 75 Millionen Kinder in ausbeuterischen Verhältnissen. Das zeigt: Wo nicht sanktioniert wird, kommen wir auch nicht zum Ziel in der Umsetzung. Zum Lieferkettengesetz. Ich habe Ihnen gesagt, wie der Prozess in Deutschland ist. Noch vor dem Sommer wird dieser Prozess beendet sein. Die Auswertung und das Ergebnis werden folgen; die Eckwerte stehen bereits. Und dann wird es zur Vorlage eines Gesetzentwurfes kommen. Im Rahmen der deutschen Ratspräsidentschaft mache ich das zu einem Schwerpunkt meiner Arbeit; der EU-Kommissar hat bereits Vorarbeiten geleistet. Eine EU-Verordnung oder eine Richtlinie für eine europäische Regelung vorzulegen, das wäre im Sinne aller. Aber ich kann gleich denen entgegentreten, die sagen „Dann warten wir mal auf Europa“: Ich werde nicht weitere fünf Jahre warten, bis aus Brüssel eine Initiative kommt. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nachfrage?

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke schön. – Herr Minister, wie sieht es denn aus, wenn der Entwurf eines Lieferkettengesetzes vorliegt: Wird es ein Verbandsklagerecht beinhalten? Und in welcher Höhe bewegen sich die Sanktionsmöglichkeiten, um sicherzugehen, dass wir hier nicht nur über einen geringen Ordnungswidrigkeitsrahmen, sondern wirklich auch über empfindliche Strafen sprechen? ({0})

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Ich kriege schon aus den Reihen hinter mir klare Aussagen dazu. – Das sind die Details; die werden wir im Gesetzgebungsprozess mit Ihnen diskutieren. Natürlich muss sanktioniert werden. Aber ich kann und muss an der Stelle auch ein klares Signal geben: Wir werden Mittelständler nicht an den Rand der Existenz bringen. – Diese Sorge wird von Verbandsvertretern und Mittelständlern ja immer wieder bewusst geäußert. Zu mir kommen Elektriker und fragen: Ja, wie ist denn das jetzt? Ich verlege ein Stromkabel im Haus und muss nachweisen, wo das Kupfer herkommt? Da geht ja mein Betrieb kaputt! – Diese Argumente kommen insbesondere aus bestimmten Verbandskreisen, und das ist absoluter Blödsinn. Wir machen da einfach ein vernünftiges Gesetz, das die Missstände in den großen globalen Lieferketten beseitigen wird, aber nicht kleine Handwerker oder Mittelständler belastet.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Vielen Dank. – Jetzt stellt der Kollege in der Beek, FDP, die nächste Frage.

Olaf In der Beek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Minister, ich möchte zum Corona-Sofortprogramm zurückkommen. Sie hatten ja am 22. April im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung das Corona-Sofortprogramm vorgestellt. Sie sagten uns, 1,15 Milliarden Euro werden im BMZ aus dem laufenden Haushalt für 2020 umgeschichtet, und 3,15 Milliarden Euro möchten Sie gerne aus dem Nachtragshaushalt beim Bundesfinanzminister beantragen. Sie wissen, dass unsere Fraktion dem Ganzen eigentlich sehr positiv gegenübersteht. Aber es ist eine Menge Zeit seit dem 22. April vergangen, und ich tue mich als Abgeordneter wirklich sehr schwer damit, herauszufinden, was denn jetzt eigentlich umgeschichtet wird, was genau haushaltstechnisch umgeschichtet wird. Wenn man das wüsste, dann kann man ja auch viel besser beurteilen, was man eigentlich mit den 3,15 Milliarden Euro anfangen will, die man beantragt. Erlauben Sie mir dazu die Frage: Wäre es jetzt nicht an der Zeit, unmittelbar auf die Parlamentarier und auch auf den Bundesfinanzminister zuzugehen, um ihnen genau zu erklären, was Sie mit diesem Geld vorhaben? – Vielen Dank.

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Ich bin vor zwei Stunden aus einer Diskussion mit den Haushaltsberichterstattern gekommen. Wir legen alles offen; wir sind komplett transparent. Mir ist das sehr wichtig. Im ersten Schritt haben wir – ich bin Schwabe; ich schaue zuerst in meinen eigenen Geldbeutel – im eigenen Haushalt nachgeschaut und gesagt: „Wir müssen sofort reagieren“, und haben 1 Milliarde Euro auf relevante Themen verteilt. Innerhalb von kürzester Zeit haben wir im Irak fünf Notfallkrankenhäuser aufgebaut, ein Quarantänekrankenhaus in Erbil und vieles mehr. Unsere Sondereinsatzgruppe „Labor und Ärzte“ ist in Kolumbien unterwegs und wird jetzt nach Manaus reisen. Wir stellen unser Wissen zur Verfügung. Also, da wird sofort gehandelt. Der zweite Schritt ist, dass wir Bedarfe festgelegt haben – titelscharf genau – und uns gefragt haben: Wo ist der größte Bedarf, in welchem Land, jetzt und sofort? Daraus ergeben sich die 3 Milliarden Euro. Diese Mittel haben wir beim Finanzminister beantragt; 1,2 Milliarden Euro haben wir innerhalb unseres Hauses umgeschichtet.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Minister.

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Und wir haben titelscharf erklärt, wohin was fließen soll und was wir beantragen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege in der Beek, mögen Sie eine Nachfrage stellen?

Olaf In der Beek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr gerne.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Bitte sehr. – Ich muss noch mal darum bitten, dass wir uns einigermaßen an die vorgegebenen Zeitbegrenzungen halten – auch der antwortende Minister.

Olaf In der Beek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Minister, können Sie verstehen, dass es uns als Parlamentarier etwas verärgert, dass wir nichts feststellen können, was auf der einen Seite wirklich effektiv umgeschichtet worden ist und was auf der anderen Seite neu dazukommen soll. Das ist zwar auch wieder – wie Frau Haßelmann gerade gesagt hat – sehr schön und sehr blumig erklärt; aber die Fakten für uns Parlamentarier sind ja wichtig, weil wir sie zu kontrollieren haben. Und dieses Recht entziehen Sie uns gerade. Deswegen die Frage zum nächsten Punkt, denn dafür reicht die Zeit noch: Glauben Sie wirklich, dass bei diesem Aufwuchs des Haushaltes die Durchführungsorganisationen in der jetzigen Form wirklich in der Lage sind, dieses Geld in den nächsten ein bis zwei Jahren anständig und ordentlich durchzuplanen?

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Glauben Sie denn wirklich, dass wir in Europa ein 1 000-Milliarden-Euro-Programm umsetzen können? Es geht um 3 Milliarden Euro, lieber Herr Kollege. Ich habe hier die Liste, in der titelscharf steht – es sind 70 oder 80 Einzeltitel, runtergebrochen bis auf 100 000 Euro –, wo was wer wann bekommt: Testkits, Labore, Krankenhäuser. In der ganzen Vielfalt sind wir unterwegs, und zwar nicht nur im Gesundheitsbereich; es geht auch um Ernährungssicherung. Diese Pandemie ist eine Hungerkrise geworden. Es kann in vielen Regionen kein Saatgut mehr ausgebracht werden. Es kann nicht mehr geimpft werden, weil die Transportwege geschlossen werden. Wir müssen Staaten stützen. Der Libanon mit 1,5 Millionen Flüchtlingen steht vor dem Staatsbankrott. Überall dort leisten wir Unterstützung – direkt und indirekt über internationale Organisationen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Eine Frage dazu, Herr Schinnenburg, aber bitte nur eine; denn wir müssen noch ein bisschen weiterkommen.

Dr. Wieland Schinnenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004874, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Selbstverständlich nur eine. – Herr Minister, Sie haben jetzt dargelegt zu einem Sofortnotprogramm bezüglich Corona. Stimmen Sie mir zu, dass wir in Deutschland bisher sehr gut durchgekommen sind, weil wir ein gut ausgebautes Gesundheitssystem haben? Ich habe die Sorge: Jetzt machen Sie ein Notprogramm für Corona, das läuft oder auch nicht läuft; aber die nächste Krise kommt bestimmt. Was tun Sie eigentlich seit Jahren, um die Gesundheitssysteme in den Entwicklungsländern zu verbessern, damit sie selber in der Lage sind, solche Krisen zu managen, so wie wir es in Deutschland gemacht haben?

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Ich darf Ihnen die Zahlen in Erinnerung rufen: 4 Milliarden Menschen sind arm, 850 Millionen Menschen hungern, und jeden Tag kommen 250 000 Menschen durch das Bevölkerungswachstum – davon 90 Prozent in den Entwicklungsländern – zusätzlich auf diesen Planeten. Sie wollen essen, sie brauchen Nahrung, sie brauchen Schule, Arbeit, Gesundheit. Wir sind die Reichen der Welt: Deutschland, die USA, Japan. Wir sind 10 Prozent der Weltbevölkerung, aber wir besitzen 90 Prozent des Vermögens. ({0}) Ich bitte das deutsche Parlament und den Finanzminister in dieser Weltkrise, wo Millionen Menschen in diesen Ländern vor dem Hungertod stehen, um 3 Milliarden Euro als Solidarität und Unterstützung. Das ist die Frage, die ich eingangs gestellt habe, die Sie beantworten müssen: Ist das zu viel verlangt, – ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr.

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

– oder ist es zu wenig?

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Vielen Dank. – Die nächste Frage stellt der Kollege Dr. Georg Kippels, CDU/CSU. ({0}) – Jetzt stellt der Kollege Dr. Kippels seine Frage. ({1})

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Aber ich war im Zeitrahmen.

Dr. Georg Kippels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004327, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Herr Minister, wir haben im Rahmen der Coronapandemie sehr häufig mit der WHO, der Weltgesundheitsorganisation, zu tun, die durchaus auch Kritik ausgesetzt ist. Die Weltgesundheitsversammlung hat vor wenigen Wochen mit lebhaften Beiträgen diskutiert. Meine Frage ist: Wie schätzen Sie Ihrerseits die Rolle der WHO in der Bewältigung der aktuellen Krise ein, und wie könnte die koordinierende Funktion zukünftig für die Bewältigung von Pandemien verbessert werden, aber unbedingt nicht nur finanziell, sondern vielleicht auch durch andere Instrumentarien?

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Wir müssen Konsequenzen ziehen, und das heißt, die WHO zu einem Weltpandemiezentrum ausbauen und weiterentwickeln. Virologen sagen uns, dass es mindestens 40 Viren von ähnlicher Gefährlichkeit gibt, Zoonosen, die vom Tier auf den Menschen übertragen werden und überspringen. Nach dieser Pandemie ist vor der nächsten. Deshalb müssen wir uns wappnen. Das heißt, die WHO muss ein weltweites Monitoringsystem aufbauen, Forschungslabore, Wissenschaftler vernetzen, aber auch in puncto Bekämpfung neue Strategien anwenden, auch bei der Beteiligung des Einsatzes von Impfstoffen, wo wir jetzt bereits die Infrastruktur vorbereiten. Die WHO nimmt in der Zukunft eine herausragende Rolle in dieser Frage ein. Wir im Ministerium reagieren bereits jetzt mit dem Aufbau eines Sonderstabes „Gesundheit, Pandemiebekämpfung und One Health“. Frau Staatssekretärin Dr. Flachsbarth wird Beauftragte für diesen Bereich und sich dieser Rolle ganz besonders widmen.

Dr. Georg Kippels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004327, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Keine Nachfrage. – Dann stellt die nächste Frage der Kollege Ottmar von Holtz, Bündnis 90/Die Grünen.

Ottmar Holtz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004762, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Schönen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister, Sie wollen die WHO zu einem Pandemiezentrum ausbauen. Dazu hätte ich noch eine Frage. Die WHO ist bereits jetzt mit dem Auftrag, den sie eigentlich hat, massiv unterfinanziert. Pandemiebekämpfung ist das eine, aber, ich glaube, wir müssen – das werden wir morgen hier noch eingehend diskutieren – auch einen Blick auf die Gesundheitssysteme und auf die Strukturen in den Entwicklungsländern werfen, und dazu brauchen wir eine koordinierende Stelle. Ich hätte jetzt ganz gerne Ihre Einschätzung zur Pandemiebekämpfung auf der einen Seite und zur Stärkung von Gesundheitssystemen auf der anderen Seite, wo, glaube ich, die WHO auch eine entscheidende Rolle zu spielen hat. Wie sehen Sie das, dass wir das eine jetzt nicht tun, und das andere dann aber lassen, was nicht richtig wäre?

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Stärkung der Gesundheitssysteme ist ein wesentlicher Bereich, der ja auch bei uns ein Schwerpunkt in der Entwicklungszusammenarbeit ist. Aber es geht weit darüber hinaus. Wenn Sie sich mit Zoonosen beschäftigen, dann kommen Sie natürlich auf die Frage des Zusammenlebens zwischen Mensch, Tier und Natur. Deshalb sage ich: Wir müssen einen neuen Ansatz finden. – Wenn wir diesen Weg weitergehen – Sojafelder in die Regenwälder zu treiben, den Mensch immer näher zu den Tieren zu bringen, die Natur zu zerstören, Artenvielfalt zu reduzieren –, dann werden wir mit Folgepandemien, mit Folgeproblemen konfrontiert werden. Deshalb muss der Ansatz ein viel breiterer sein, ein Ansatz, der auch die Agrarökologie, die Umweltpolitik, die Umweltmedizin miteinbezieht – und das im weltweiten Verbund. Deshalb haben wir den Sonderstab „Gesundheit, Pandemiebekämpfung und One Health“ eingerichtet. Wir stellen uns hier mit Humanmedizinern, Veterinärmedizinern, Ökologen und Agrarwissenschaftlern auf, um dieses Thema in der Gesamtheit zu bearbeiten.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Nachfrage, Herr Kollege von Holtz?

Ottmar Holtz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004762, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Schönen Dank, Herr Präsident. – Das war jetzt nicht die Antwort auf meine Frage. Ich habe nach den Gesundheitssystemen in den Entwicklungsländern gefragt. Dass „One Health“ ein wichtiger und richtiger Ansatz ist, steht außer Frage; das sehe ich auch so. Aber es geht um die Gesundheitsgrundversorgung. Pandemiebekämpfung löst nicht die Probleme der Gesundheitsgrundversorgung in den Entwicklungsländern. Wir müssen im Rahmen der Entwicklungspolitik ein Augenmerk darauf legen; das passiert nicht. Meine Frage war, wie Sie das einschätzen, wie Sie das zuwege bringen, unterstützen wollen und welche Rolle Sie in diesem Zusammenhang für die WHO sehen.

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Die Länder müssen natürlich Eigeninitiative zeigen; dabei unterstützen wir sie. Das ist der ganz zentrale Punkt. Ein Land wie Mali hat keine 100 Beatmungsgeräte oder 20 Intensivbetten. Wir werden in diesen Ländern durch unser Geld und unsere Investitionen in den nächsten fünf oder zehn Jahren keinen Standard wie in Europa oder in Deutschland erreichen. Aber die Afrikaner haben selber viel zu bieten und können auf Erfahrungen zurückgreifen; gerade im Bereich der Ebolabekämpfung haben sie das gezeigt. Dabei werden wir sie unterstützen. Das heißt, wir reichen ihnen die Hand in Form unseres Wissens und unserer Forschungsergebnisse; aber im Notfall investieren wir auch in Intensivmedizin. Es haben sich jetzt zum Beispiel viele deutsche Firmen gemeldet – darüber freue ich mich riesig –, die Beatmungsgeräte für die Entwicklungsländer hergestellt haben; sie sind sofort eingesprungen. Das ist eine großartige Unterstützung durch die deutsche Industrie.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Die nächste Frage stellt die Kollegin Eva Schreiber, Die Linke.

Eva Maria Schreiber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004882, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke schön. – Lieber Herr Minister Müller, wir haben ja gerade schon über das Lieferkettengesetz gesprochen, und Sie haben in Ihrer Antwort auf die Frage des Kollegen Holtz das Zusammenleben von Mensch, Tier und Natur erwähnt. Lieferketten sind ja keine Einbahnstraße; man sollte sie vielleicht in beide Richtungen denken. Jetzt exportieren mit Bayer und BASF zwei deutsche Firmen Pestizide, die sie in Deutschland herstellen, in Länder des globalen Südens. Das sind Pestizide, die in Europa aus Umwelt- und Gesundheitsgründen explizit verboten oder nicht mehr zugelassen sind. Das sind Wirkstoffe, die Missbildungen an Embryonen hervorrufen oder krebserregend sein können. Frankreich hat eine Regelung, so etwas zu unterbinden. Laut Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes haben wir mit § 25 des Pflanzenschutzmittelgesetzes alle Mittel in der Hand, diese Doppelstandards abzuschaffen. Setzen Sie sich dafür ein, dass Substanzen, die bei uns aus guten Gründen nicht mehr auf den Acker kommen, nicht mehr in Länder des globalen Südens verkauft werden? Ich denke, Unternehmen, die das tun, verletzen damit ihre menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten. Sind Sie diesbezüglich in Kontakt mit Ihrer Kollegin Julia Klöckner im Landwirtschaftsministerium?

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Grundsätzlich unterstütze ich das. Im Einzelfall gibt es Problemlagen wie jetzt die Heuschreckenplage, die bei uns so nicht auftreten und wo der Einsatz von Mitteln notwendig ist, die wir nicht kennen. Aber grundsätzlich unterstütze ich Ihre Ausführungen.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Zweite Frage.

Eva Maria Schreiber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004882, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Wie genau unterstützen Sie meine Ausführungen? Da ich jetzt noch ein bisschen Zeit habe: Auch auf internationaler Ebene ist eine stärkere Regulierung von Pestiziden im Allgemeinen und ein weltweites Verbot von sogenannten hochgefährlichen Pestiziden geboten. Haben Sie da schon konkrete Schritte unternommen? Setzen Sie sich für Transparenz ein? Denn es ist ja wichtig, welche Pestizide von welchen Unternehmen in welche Länder exportiert werden. Können wir da mit einer entsprechenden Liste rechnen?

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Sie haben mich sensibilisiert, auch für meinen nächsten Termin. Ich habe anschließend ein Gespräch mit BASF; ({0}) da werde ich das Thema sofort aufbringen. Ansonsten gebe ich das gleich als Auftrag an meine Beauftragte für Gesundheit, Dr. Maria Flachsbarth, weiter. ({1}) – Ja, man muss auch delegieren können, wenn man starke Frauen an seiner Seite hat. ({2})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Okay, vielen Dank. – Uwe Kekeritz hat sich gemeldet für eine weitere Frage.

Uwe Kekeritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004066, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herzlichen Dank. – Jetzt ist gerade der Begriff „Agrarökologie“ gefallen. Mein Beitrag passt, glaube ich, ganz gut zum Beitrag von Eva Schreiber. In der letzten Regierungsbefragung haben Sie auf die Frage, was Sie denn konkret gegen die Plastikflut, die Meeresverschmutzung tun, toll geantwortet und gesagt: Die Frage gebe ich zurück ans Parlament. Und ich sage Ihnen, was Sie als Parlament morgen tun können. Sie können eine Gesetzesinitiative starten und einen Antrag an die Regierung stellen. – Ich habe diesbezüglich weiter nichts gehört; aber dieses Parlament ist im Juni 2019 aktiv geworden und hat einen Koalitionsantrag zur Agrarökologie verabschiedet. Großartig! Das Parlament hat Ihnen zur Agrarökologie einen ganz klaren Auftrag gegeben. Ich habe in den letzten drei Monaten versucht, herauszufinden, inwieweit Sie diesbezüglich aktiv geworden sind. Ich kann Ihnen sagen: Das Ergebnis ist minimal; es sind tatsächlich keine Daten vorhanden. Sie haben nichts gemacht! – Wie ist das zu erklären? Sie bekommen einen Auftrag vom Parlament und ignorieren diesen.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Die Frage ist verstanden.

Uwe Kekeritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004066, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ist sie? Gut.

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Herr Kekeritz, Sie sind noch nicht umfassend genug informiert. Deshalb sind Sie der Erste hier im Plenum, der mein neues Buch „Umdenken. Überlebensfragen der Menschheit“ bekommt. ({0}) In diesem neuen Buch, „Umdenken“, ({1}) fordere ich auch ein Umdenken in der weltweiten Agrarpolitik. ({2}) Da kommen wir zur Agrarökologie. Sie haben recht, dass sich hier einiges wesentlich ändern muss. Aber ich bin auf einem guten Weg; das kann ich Ihnen versprechen. ({3})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Eine Zusatzfrage? Wollen Sie aus dem Minister noch einen Werbeblock herauskitzeln?

Uwe Kekeritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004066, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Wissen Sie, das ist der typische Müller. Das hier ist eine Regierungsbefragung. Ich verstehe Ihre Antwort so, dass Sie die Zeit vom Verabschieden des Antrags der Koalition bis jetzt genutzt haben, um ein Buch darüber zu schreiben. Das ist allerdings nicht das, was ich von meinem Minister erwarte. ({0}) – Man könnte sagen: Das ist Arbeitsverweigerung. Jetzt möchte ich noch auf den Mercosur-Vertrag zurückkommen. Sie haben uns erzählt, wie wichtig es ist, die Menschen zu schützen, den Wald zu schützen. Hier in diesem Hause gibt es doch niemanden, der das nicht unterschreibt. Vielmehr ist die Frage gewesen: Inwieweit glauben Sie, dass dieses Handelsabkommen – Mercosur – tatsächlich weiterführt? Sie sagten: Es muss ein Nachhaltigkeitskapitel eingetragen werden, das Sanktionen vorsieht. Sie wissen genau: Die Verhandlungen sind abgeschlossen. Es gibt ein Nachhaltigkeitskapitel; aber es beinhaltet keine Sanktionen. Inwieweit ist der Mercosur-Vertrag zweckdienlich?

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Zum Buch: Das ist kein kommerzielles Projekt – sonst würde ich es nicht erwähnen; der Erlös fließt an ein Entwicklungsprojekt –; da ist der Sachverhalt genau dargestellt. ({0}) Herr Kekeritz, ich bin sieben Jahre im Amt. Ich habe das Problem, dass ich den Schwarzen hier zu grün bin und den Grünen noch zu schwarz. ({1}) Aber ich habe vieles von Ihnen aufgenommen, und wir setzen vieles in den Entwicklungsländern um. Da sind wir hier der Zeit voraus. Ich nenne ein Beispiel – das haben Sie mich nämlich letztes Jahr gefragt –: Plastik. Die Meeresvermüllung bereitet uns enorme Probleme in der Welt. In den nächsten zehn Jahren gibt es in den Ozeanen mehr Plastik als Fische. Meine Damen und Herren, als ich damals gesagt habe: „Jetzt führen wir ein Plastiktütenverbot ein“, gab es hier bei vielen einen Aufschrei. ({2}) Frau Schulze hat es dann eingeführt. ({3}) Wir brauchen ein weltweites Verbot des Exportes von Müll aus den Industrie- in die Entwicklungsländer. Das ist ein europäisches Thema, das ich auch im Rahmen der deutschen Ratspräsidentschaft anstoßen werde.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Der nächste Fragesteller ist Dr. Christoph Hoffmann von der FDP.

Dr. Christoph Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004757, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Vielen Dank für das Wort. – Herr Minister, Sie haben das Stichwort „Heuschreckenplage“ genannt. Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen hat ein sehr gutes koordinierendes Monitoringsystem für Heuschreckenplagen, die es schon seit mehr als 2 000 Jahren gibt. Die FAO hat im September 2019 eine Warnung herausgegeben und Deutschland um 2  Millionen Euro gebeten. Sie hat dann im Dezember gesagt, sie brauche 6 Millionen Euro. Ende Februar waren es 138 Millionen, und heute sind es 153 Millionen Euro , die zur Bekämpfung der Heuschrecken notwendig sind. Mittlerweile hat Ihr Ministerium 20 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Aber Sie sind sicher mit mir einer Meinung, dass man eine Insektenplage, die ein exponentielles Wachstum aufweist, hart, gleich zu Anfang und entschlossen bekämpfen muss, statt hinterher mit viel Steuergeld die Hungersnot zu bekämpfen. Warum haben Sie nicht entschlossener zu Beginn dieser Heuschreckenplage gehandelt und der FAO das Geld zur Verfügung gestellt? Ist es nicht skandalös, dass Sie hier eigentlich zu langsam gehandelt haben und letztendlich dadurch auch Menschen in den Hunger getrieben haben? Wer trägt denn daran eigentlich die Schuld? Ist es Ihr Ministerium, oder ist es das Außenministerium?

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Ich bin da Ihrer Meinung: Man muss vorausschauend planen und handeln. Deshalb ist es besser, jetzt die 3 Milliarden Euro zu investieren, als sich später einer Katastrophe in den Entwicklungsländern gegenüberzusehen. Da gehört die Heuschreckenplage im Augenblick mit dazu. 25 Millionen Menschen werden ihrer Existenz beraubt.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Zusatzfrage dazu?

Dr. Christoph Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004757, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich habe noch eine Nachfrage. – Sie haben die Bekämpfung von Hungersnöten zu Recht als eine zentrale Aufgabe der Bundesregierung hier in den Mittelpunkt gestellt. Beim Coronavirus haben wir den Effekt, dass durch ihn solche Hungersnöte verstärkt werden. Warum sitzen Sie als Minister dann nicht mit am Tisch beim Coronakabinett, wenn das so wichtig ist? Lassen Ihnen die Kollegen nicht die entsprechende Aufmerksamkeit zuteil werden?

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Ich kann Sie beruhigen: Ich habe vor 14 Tagen vorgetragen. Ich habe die Unterstützung der Kanzlerin. Als meine geschätzte Kollegin – das sage ich mit vollem Respekt und Anerkennung –, Frau Kollegin Wieczorek-Zeul, das Haus verlassen hat, lag der Etat bei 3,5 Milliarden Euro. Im selben Jahr, als Ihr Kollege Niebel das Haus verlassen hat – ich schätze auch Herrn Niebel dafür, was er gemacht hat –, wurde der Haushalt abgesenkt; er lag da bei 6,4 Milliarden Euro. Wir liegen jetzt bei 11 Milliarden Euro. Die quantitative Steigerung zeigt: Die Entwicklungspolitik hat in dieser Koalition einen hohen Stellenwert bei der Kanzlerin und bei den Parlamentariern. ({0})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Eine Nachfrage von Agnieszka Brugger.

Agnes Malczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004106, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister, das ist ja schön, dass Sie mit so vielem, was wir hier vortragen, übereinstimmen. Die Forderung nach mehr Geld zur Bekämpfung der Coronakrise haben wir, ehrlich gesagt, schon vor zwei Monaten im Haushaltsausschuss gestellt. Jetzt haben Sie uns hier gesagt, Sie haben 3 Milliarden Euro mehr beantragt, Sie haben hier eine schöne Liste, in welche Titel das Geld gehen soll, und warten jetzt – wie lange? zwei Monate? – auf die Antwort vom Bundesfinanzminister. Wann haben Sie denn mal vor, nachzufragen? Wir haben hier so viele Rettungspakete auf den Weg gebracht. Wann bekommt dieses Parlament eine Antwort von Ihnen, ob wir bereit sind, für internationale Solidarität im Kampf gegen das Coronavirus auch Geld auf den Tisch zu legen, und zwar frisches Geld, also Geld, das nicht nur von Umschichtungen in Ihrem Haus herrührt?

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Ich habe keinen Anlass, zu zweifeln, dass unsere Anträge genehmigt werden. 1,2 Milliarden Euro haben wir als überplanmäßig beantragt. Ich hoffe, dass die Entscheidung in den nächsten Wochen in unserem Sinne fällt; denn die Maßnahmen sind dringlichst in den Ländern angefragt. Ansonsten warten wir wieder zu lange. Es sterben Tausende. Aber was dazukommt: Es brechen ganze staatliche Strukturen zusammen. Schauen wir uns das mal in der Sahelregion an. Der Zirkel ist da folgender: Es bricht über das Coronavirus eine Hunger-, Finanz- und Wirtschaftskrise aus. Die Staatlichkeit bricht zusammen. Polizei und staatliche Strukturen sind nicht mehr vorhanden. In der Sahelregion, aber auch im Libanon deuten sich solche Dinge an. Dann kommt es zu verstärktem Terror, was wir insbesondere jetzt in der Sahelregion haben. Der Terror führt zu Flucht und Vertreibung. Ich möchte nicht warten, bis die ersten 100 000 Flüchtlinge aus Not und Elend hier in Europa ankommen, bevor wir reagieren. Das war vor fünf Jahren der Fall, und das sollte diesmal nicht der Fall sein. Deshalb zweifle ich nicht daran, dass wir jetzt vorzeitig entschlossener eingreifen.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Haben Sie eine Zusatzfrage?

Agnes Malczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004106, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja. – Ich würde trotzdem noch mal die Frage wiederholen. Wir teilen das ja total, dass das alles schlimm ist und dass wir schnell handeln müssen. Ich habe gesagt: Jetzt warten wir schon zwei Monate, ob es Gelder für mehr internationale Solidarität geben wird. – Jetzt sagen Sie, wir sollen noch ein paar Wochen warten. Mir stellt sich schon die Frage, wann das Lieferkettengesetz kommt. Wenn Sie sagen: „Moria ist ein Schandfleck“, den Turbokapitalismus kritisieren, mehr Geld für die internationale Solidarität im Kampf gegen das Coronavirus wollen, müssen Sie uns hier nicht überzeugen. Aber warum hört Ihnen denn im Kabinett niemand zu, und warum kommt dann nichts Konkretes?

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Ich mache ja auch Vorschläge, wissen Sie: „Umdenken“. ({0}) Wir müssen natürlich auch Bewegung in unseren Strukturen erzeugen. Die größten Coronagewinner sind Amazon, Netflix und andere. ({1}) Der Chef von Amazon hat im ersten Quartal 2020 29 Milliarden Dollar Gewinn gemacht. 29 Milliarden Dollar Gewinn! ({2}) Aus der Coronakrise ist ein Amazon-Fieber geworden. Ich unterstütze unseren Finanzminister Scholz bei der Einführung einer Digital- oder Mindestbesteuerung für Digitalkonzerne, die an solchen Krisen Milliarden verdienen und sich an der Bewältigung der Probleme nicht beteiligen. Das sollten wir gemeinsam auch zur Grundlage der geplanten europäischen Beschlüsse machen, dass wir nicht nur Milliarden-Rettungsschirme aufspannen, sondern auch die mit ihren Einnahmen beteiligen, die bei solchen Krisen noch riesige Milliardengewinne abgreifen. ({3})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Für eine weitere Zusatzfrage hat sich der Kollege Frohnmaier gemeldet, der aber jetzt sowieso dran gewesen wäre. Sie kommen also jetzt nur einmal dran. Bitte sehr.

Markus Frohnmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004721, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Minister Müller, Sie haben auch über Wirtschaftlichkeit – jetzt natürlich im Kontext von Corona – gesprochen. Ich will Sie noch mal ganz konkret zur Qualitätskontrolle der GIZ fragen, die Ihr Haus immer wieder in Auftrag gibt: Bekommen wir von Ihnen die Qualitätskontrolle für 2018 zur Verfügung gestellt? Der Hintergrund ist ja der: Es ist ein Staatsunternehmen mit milliardenschwerem Auftragsvolumen auch aus Ihrem Haus. Wir wollen natürlich vor dem Hintergrund, dass bekannt wurde, dass insbesondere 2017 von den Vorgaben zur Wirtschaftlichkeit, die das BMZ macht, bei den Projekten nur 44 Prozent eingehalten worden sind, wissen, wie sich das seit 2017 entwickelt hat. Bekommen wir von Ihnen das zur Verfügung? Sie berufen sich immer wieder darauf, dass das den Kernbereich der Exekutive berühren würde. Ich frage Sie: Journalisten hatten die Möglichkeit, auf Grundlage des IFG Auskunft dazu zu erhalten. Es kann doch nicht sein, dass Medien quasi mehr Kontrolle ausüben können als das Parlament. Bekommen wir also von Ihnen den Bericht für 2018?

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Wir haben mehrfach im Ausschuss dazu berichtet. Es ist zentral wichtig, dass erstens Steuergeld nicht in korrupte Kanäle fließt – deshalb habe ich großen Wert darauf gelegt, dass wir hier effiziente Strukturen umsetzen – und dass wir zweitens die Wirksamkeit unserer Maßnahmen in den Entwicklungsländern wesentlich erhöhen. Das ist Schwerpunkt der Reform „BMZ 2030“. Darüber hinaus hat das Parlament einen Anstoß gegeben – wir leiten das jetzt ein –, eine Organisationsuntersuchung der GIZ umzusetzen. Auch die GIZ wird sich bei der Reform „BMZ 2030“ strukturell weiterentwickeln. Wir haben neue Themen – ich nenne Digitalisierung und Klimaschutz –, wir haben andere Länder und andere Herausforderungen. An der Stelle möchte ich aber sagen: Meine Damen und Herren, wir haben ein großartiges Unternehmen. Kein Land der Welt hat ein Unternehmen wie die GIZ mit Tausenden von Leuten, Expertinnen und Experten draußen in der Welt. Das sind Botschafter Deutschlands, Botschafter des Friedens, der Entwicklung und der Zusammenarbeit. An dieser Stelle einen herzlichen Dank an alle, die in schwierigsten Verhältnissen draußen tätig sind: im Sudan, in Nigeria, in Mali usw. ({0}) Sie haben denselben Dank verdient wie unsere Soldatinnen und Soldaten.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Zusatzfrage?

Markus Frohnmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004721, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ja, sehr gerne. – Vielleicht habe ich mich falsch ausgedrückt. Das war jetzt keine Antwort auf meine Frage. Ich will es noch mal versuchen. Die GIZ ist ein Staatsunternehmen, das Steuergeld für Aufträge bekommt. Ich als Parlamentarier möchte, wenn es einen Bericht gibt, der offensichtlich Pressevertretern zugänglich ist, konkret wissen, warum hier die Wirtschaftlichkeitsvorgaben zumindest für 2017 nur zu 44 Prozent eingehalten worden sind. Wenn Sie sich auf den Standpunkt zurückziehen, dass das den Kernbereich der Exekutive berührt, und auch jetzt in Ihrem Vortrag keine klare Antwort auf die Frage gegeben haben, ob Sie uns das zur Verfügung stellen wollen oder nicht, dann habe ich als Parlamentarier natürlich den Eindruck, dass Vertreter der Medien quasi mehr Kontrolle ausüben können als das Parlament selbst. Darum die Frage noch mal ganz klar: Bekommen wir für 2018 den Prüfbericht von Ihnen? ({0})

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Wir haben vollkommene Transparenz durch den Rechnungshof, durch den Haushaltsausschuss, durch den Bundestag. Allein von Januar bis Mai gab es 350 parlamentarische Anfragen. Wir öffnen die Bücher. Sie sehen die Rechnungen. Sie können jedes Projekt besuchen und selber ein Gutachten dazu schreiben. Aber Sie bewerten Qualität von Projekten anders als viele von uns. Ich denke da zum Beispiel an das Thema Frauenförderung und die Kritik, die Sie hier häufig vorgetragen haben. Also: Qualität ist ein Begriff, der unterschiedlich ausgelegt wird. Aber Sie haben Zugang zu allem, was zugänglich ist. ({0}) – Ja, in meinen Geldbeutel lasse ich Sie nicht hineinschauen. ({1})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Letzter Fragesteller in dieser Regierungsbefragung ist der Kollege Dr. Karamba Diaby. ({0})

Dr. Karamba Diaby (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004259, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, durch die Coronakrise ergeben sich natürlich viele Schwierigkeiten, die wir kennen. Sie haben einige erwähnt. Wir wissen auch, dass ausgebaute Strukturen in den Ländern zusammenbrechen werden. Ich denke dabei insbesondere an den Bereich „Bildung und Ausbildung“. Im Rahmen der vielfältigen internationalen Aktivitäten der Bundesregierung gibt es viele gut laufende Projekte. Die GIZ ist in vielen Ländern sehr aktiv. Meine Frage an Sie ist: Wo sehen Sie aufgrund der Konsequenzen der Coronakrise die Herausforderung, schnell im Bereich „Bildung und Ausbildung“ in den Entwicklungsländern Unterstützung zu leisten?

Dr. Gerd Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11002742

Bildung und Ausbildung habe ich zum Schwerpunkt gemacht. Wir wollen das Ziel erreichen, 25 Prozent unserer Investitionen in normalen Zeiten für Ausbildung – Stichwort: Sonderinitiative „Ausbildung und Beschäftigung“ – vorzusehen. Berufliche Bildung ist das beste Produkt, das Deutschland anbieten kann. Es ist dramatisch. Ich nenne Ihnen einmal eine Zahl – wir müssen die gegenwärtigen Probleme in Deutschland ja ein Stück weit im Vergleich betrachten –: Im Augenblick können 1,5 Milliarden Kinder in den Entwicklungsländern nicht zur Schule gehen. 1,5 Milliarden! Verschärfend kommt hinzu: Die Hälfte dieser Kinder – 750 Millionen Kinder – bekommen somit keine tägliche Schulspeisung, welche bisher ihre einzige Mahlzeit am Tag war. Sie können sich vorstellen, wie es den Kindern im Augenblick geht und welch ein Rückschlag das für Bildung und Ausbildung in unseren Partnerländern ist. Ein ganz neuer Aufschwung muss nach dieser Krise hier geschehen; denn Bildung ist der Schlüssel für vieles im Bereich der Entwicklung. Insbesondere sind die volle Gleichberechtigung der Frauen und Mädchen – dafür kämpfe ich – ({0}) und der volle Zugang zu Bildung wichtig, auch nach der ersten Schwangerschaft, nach der die jungen Frauen häufig aus dem Bildungssystem ausscheiden. ({1}) Mit Frauen können wir in unseren Partnerländern riesige Entwicklungssprünge erzielen. Deshalb setze ich hier ganz besonders stark auf Ausbildung und berufliche Bildung.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Eine Zusatzfrage?

Dr. Karamba Diaby (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004259, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, danke.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Dann sind wir am Ende der Regierungsbefragung.

Peter Altmaier (Minister:in)

Politiker ID: 11002617

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe der Debatte natürlich bereits heimlich gelauscht, um mich auf ein Gespräch vorzubereiten, das wirklich wichtig ist. ({0}) Es geht um die Frage: Wie können wir es im Interesse unserer Arbeitnehmer, unserer Familien und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des ganzen Landes ermöglichen, möglichst schnell, nachhaltig und wirksam wieder in eine Phase wirtschaftlichen Wachstums zu gelangen? Ich möchte mich aber zunächst noch einmal bei all den vielen im Pflege- und im Krankenbereich – den Ärzten, den Menschen im Gesundheitswesen – und auch bei all denen bedanken, die in den Parlamenten – auch in den Kommunalparlamenten – daran mitgewirkt haben, dass wir die medizinische Herausforderung der Pandemie, was die Zahl der Todesopfer angeht, was die Zahl der Infektionen angeht, was die Verläufe angeht, was die Behandlungsmöglichkeiten angeht, bis zum heutigen Tag wesentlich besser bewältigt haben als die meisten anderen Länder um uns herum in einer vergleichbaren Situation. Das war eine großartige Leistung. Dafür bin ich dankbar, und darauf können wir gemeinsam stolz sein. ({1}) Meine Damen und Herren, das Gleiche gilt für die wirtschaftliche Situation. Die Pandemie hat die Welt in eine Rezession gestürzt. Der Internationale Währungsfonds erwartet für dieses Jahr eine Rezession von 3 Prozent weltweit. Diejenigen, die wie der Kollege Schneider und andere bereits während der Banken- und Börsenkrise Mitglieder dieses Hohen Hauses waren, wissen: Damals war es ein Einbruch um 0,1 Prozent weltweit. Das bedeutet, dass ein Land wie Deutschland, das sehr stark exportorientiert und auf fast allen internationalen Märkten erfolgreich unterwegs ist, selbstverständlich auch die Rückwirkungen spürt. So kommen zwei Dinge zusammen: zum einen die Sorgen und die Nöte der vielen Selbstständigen, Handwerker, Mittelständler und Angehörigen der freien Berufe, deren Geschäfte und Unternehmen über Wochen geschlossen waren und zum Teil immer noch geschlossen sind und die Umsatzrückgänge von bis zu 100 Prozent in Kauf nehmen mussten. Und zum anderen die Sorgen derer, die Güter und Waren für den Export produzieren und feststellen müssen, dass Aufträge gecancelt werden, weil in den auftraggebenden Ländern die wirtschaftlichen Verhältnisse so schlecht geworden sind. Da stellt sich für uns die Frage, wie wir damit umgehen können, wie wir darauf reagieren müssen. Es kann ein einfaches Weiter-So nicht geben. Es kann auch ein einfaches Abschreiben von früheren Erfolgsrezepten nicht geben. Wir müssen uns klar werden, wo wir stehen, was wir wollen und wie wir damit umgehen. Für mich ist klar: Wir brauchen eine große gemeinsame Offensive auf allen staatlichen Ebenen. Um die Menschen zu ermuntern, dieses System der sozialen Marktwirtschaft, das so viele Jahrzehnte erfolgreich war, durch investive Entscheidungen, durch Käufe, durch die Bereitschaft, wieder auf Selbstständigkeit und unternehmerische Initiative zu setzen, zu stärken und mit neuer Kraft zu versehen. Ohne Wachstum gibt es keine Gerechtigkeit. Ohne Wachstum gibt es auf Dauer keinen Umweltschutz, keine erfolgreiche Bildungspolitik, keine menschenwürdige Infrastruktur, kein funktionierendes Gesundheitssystem. ({2}) Deshalb: Ja, wir brauchen wieder Wachstum in Deutschland. Wir wollen aus dieser Krise wieder herauskommen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, in dem Augenblick, in dem viele nicht wussten, wie es weitergeht, in dem sich viele die größten gesundheitlichen, aber auch geschäftlichen und beruflichen Sorgen gemacht haben, hat die Bundesregierung umsichtig, geschlossen und entschlossen gehandelt. Wir haben einen Schutzschirm für Hunderttausende, ja für Millionen von Unternehmerinnen und Unternehmern aufgespannt, für Betriebe, aber auch für viele Millionen Beschäftigte. Wie im Bereich der gesundheitlichen Herausforderung, so ist es auch im Bereich der Wirtschaftspolitik gelungen, viele Auswirkungen abzumildern oder abzuschirmen. Wir haben in Deutschland einen Anstieg der Arbeitslosigkeit, einen Anstieg von Unternehmensinsolvenzen, die Gott sei Dank weitaus geringer sind als in anderen Ländern um uns herum. Wenn Sie über den Atlantik zu unseren Freunden in die USA schauen: Dort sind inzwischen über 20 Millionen Menschen als Folge der Coronapandemie arbeitslos gemeldet. Wenn Sie nach Europa schauen: Einige unserer Nachbarstaaten haben große Probleme, ihre sozialen Sicherungssysteme angesichts der Herausforderungen instand zu halten. Deshalb brauchen wir auch europäische Solidarität, wenn es um Aufschwung und Wiederaufbau geht. Wir haben es bei uns ermöglicht, viele Millionen Arbeitsplätze zu retten, indem wir Kurzarbeit zugelassen haben. Wir haben es ermöglicht, unsere mittelständischen Strukturen zu erhalten, indem wir für die Solo-Selbstständigen und die Unternehmen mit bis zu zehn Mitarbeitern umfassende und angepasste Soforthilfen bereitgestellt haben, indem wir Kreditprogramme der KfW aufgelegt haben bis hin zu einem Rettungsfonds für Unternehmen, die ohne eigenes Verschulden in Not geraten sind. Ich sage das nicht aus Daffke oder deshalb, um die Bundesregierung in ein gutes Licht zu rücken, sondern ich sage das, weil es um Millionen von Existenzen geht. Alleine bei der Lufthansa, die uns in dieser Woche beschäftigt hat und immer noch beschäftigt, stehen über hunderttausend Arbeitsplätze auf dem Spiel. Ich habe bei allem, was man diskutieren kann, nirgendwo jemanden gehört, der gesagt hat: Lasst doch dieses Unternehmen einfach in die Insolvenz gehen. Vielmehr waren sich alle einig, dass wir nach den erfolgreichen Jahren unserer Wirtschaftspolitik, in denen wir gut gewirtschaftet haben, in denen Rücklagen entstanden sind, in denen wir die schwarze Null mit Zähnen und Klauen verteidigt haben, solange die Zeiten gut waren, zum jetzigen Zeitpunkt die Möglichkeit haben, dort zu helfen, wo Hilfe notwendig und angebracht ist. Mit der Lufthansa sind wir im Augenblick so weit, dass das staatliche Hilfspaket bereitsteht. Wir verhandeln in Brüssel mit der Europäischen Kommission über die Einzelheiten einer Genehmigung. Ich möchte an dieser Stelle eines mit allem Nachdruck sagen und mit allem Respekt vor den zuständigen Stellen, die wir natürlich jederzeit beachten: Es ist nicht nur im deutschen Interesse, sondern es ist auch im Interesse der Europäischen Union, dass wir nicht zulassen, dass am Ende als Folge dieser Pandemie ein industriepolitischer Ausverkauf wichtiger Interessen Europas, der Europäischen Union und unseres eigenen Landes stattfindet. Wir wollen nach dem Ende dieser Krise im globalen Wettbewerb mit wettbewerbsfähigen Unternehmen, die wir haben, auch weiter unsere Rolle auf den globalen Märkten spielen. Deutschland ist ein Land, das auf den globalen Märkten wettbewerbsfähig ist. So wird es auch in Zukunft bleiben. Deshalb erhalten wir die Lufthansa und andere Unternehmen. ({3}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir werden als Koalition in der kommenden Woche darüber sprechen, wie wir die Konjunktur in Schwung bringen können. Es geht um kein einfaches Konjunkturprogramm. Wir müssen dafür sorgen, dass es eine große Welle von Innovationen gibt, dass es eine große Bereitschaft gibt, dabei auch den Gedanken der Nachhaltigkeit, zu dem wir uns gemeinsam bekennen, zu verankern. Dass wir bereit sind, unorthodoxe Wege zu gehen, wenn es um Freiräume für Unternehmen und Beschäftigte geht. Meine Damen und Herren, wann, wenn nicht jetzt, besteht die Möglichkeit, eine umfassende Entbürokratisierung ins Werk zu setzen, die den Menschen Mut macht, dass es sich lohnt, wieder zu investieren und wieder neu loszulegen? ({4}) Wann, wenn nicht jetzt, ist der Zeitpunkt gekommen, den Menschen zu sagen: „Wir sorgen dafür, dass die Sozialabgaben als Folge dieser Coronapandemie nicht steigen, sondern unter 40 Prozent bleiben“? Und wann, wenn nicht jetzt, ist der Zeitpunkt gekommen, den Menschen zu sagen: „Die Energie- und Stromkosten werden auch in Zukunft bezahlbar bleiben“? ({5}) Dafür stehen wir als Bundesregierung, und dafür setzen wir uns gemeinsam ein. Wir wollen einen Aufschwung für alle. Wir wollen einen Aufschwung, der Arbeitnehmern, der Familien, der Unternehmern, Selbstständigen, Handwerkern und Mittelständlern zugutekommt. Die Strukturen, wie sie in Deutschland gewachsen sind, reflektieren nicht nur unsere Leistungsfähigkeit, sie reflektieren auch unsere Kultur und unsere Identität. Wir möchten, dass die vielen, vielen Einzelunternehmen in der Gastronomie, in den freien Berufen, bei den Künstlern, aber auch in allen anderen Bereichen eine Chance haben, dort erfolgreich weiterzumachen, wo die Coronapandemie zu einer Unterbrechung geführt hat. ({6}) Wir haben die Kraft und wir haben die Möglichkeit, diesen neuen Anfang gemeinsam zu gestalten. Ich möchte alle in diesem Haus einladen, dabei mitzuwirken. Vielen Dank. ({7})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der AfD der Kollege Enrico Komning. ({0})

Enrico Komning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004787, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister Altmaier! Liebe Kollegen von der Großen Koalition! Es wäre ja schön gewesen, wenn Sie zu Ihrer heutigen Aktuellen Stunde Ihr angekündigtes ominöses Konjunkturpaket auch schon vorgelegt hätten. Dann hätten wir heute hier wenigstens eine Gesprächsgrundlage. Die wirtschaftliche Situation in Deutschland ist düster. Für das Gesamtjahr geht das Institut für Weltwirtschaft von einem Minus von 7,1 Prozent aus. Für das kommende Jahr erwarten die Konjunkturforscher allerdings dann ein deutliches Plus von 7,2 Prozent. Ich glaube, diese Prognose ist reichlich optimistisch. Ich sage Ihnen: Bei der Fortführung der gegenwärtigen Politik wird der Absturz schlimmer, und die Erholung wird ausfallen, meine Damen und Herren. Herr Minister, ich muss mich schon sehr wundern: Während Sie noch im März in einer Fernsehsendung sagten, dass kein einziger Arbeitsplatz verloren gehen müsse, sprechen Sie nun heute davon, dass Hunderttausende von Arbeitsplätzen auf der Kippe stünden. Sie sagten, Sie hätten umsichtig gehandelt; davon haben Sie heute gesprochen. Herr Minister, Sie haben den wirtschaftlichen Lockdown zu einem Zeitpunkt beschlossen, als die Infektionsgeschwindigkeit bereits abnahm. Seither war Ihr Handeln von Angst und Panik geprägt. ({0}) Sie haben die wirtschaftlichen Folgen des monatelangen Lockdowns vollkommen außer Acht gelassen. Stattdessen reiben Sie sich an den Ministerpräsidenten auf – mit fatalen Folgen für die Menschen in Deutschland. Dennoch lassen Sie sich durch Ihre dienstbeflissenen Medien für Ihre Maßnahmen feiern. Sie schmeißen erst das Kind in den Brunnen und rühmen sich dann dafür, dass Sie dem Kind jetzt ein Seil zuwerfen. ({1}) Meine Damen und Herren, ja, das Kind ist jetzt in den Brunnen gefallen, und wir müssen tatsächlich über die Beschaffenheit des Rettungsseils sprechen. Ich denke, das beste Konjunkturpaket ist, alle Coronamaßnahmen sofort abzuschaffen und den Rechtsstaat wiederherzustellen. ({2}) Meine Damen und Herren, gerade Restaurants und Hotels werden mit Maskenzwang und Abstandspflicht auf Dauer unterhalb jeder Wirtschaftlichkeit arbeiten. Und ausgerechnet jetzt verfallen Sie in den Wahlkampfmodus. Die sogenannte Familienprämie ist getreu dem Gießkannenprinzip purer Populismus und nützt in der gegenwärtigen Lage nicht. Wir haben gegenwärtig vor allem einen Angebotsschock. Der Nachfrageschock ist zu vermeiden, aber nicht zu übertünchen. Versetzen Sie die Bundesländer lieber in die Lage, in bessere Bildungseinrichtungen zu investieren. Unterstützen Sie die Länder bei der Suche nach Lehrern. Es geht darum, die Unternehmen wieder zum Arbeiten zu bringen, und dabei muss die Hilfe zielgerichtet sein. Auch eine Abwrackprämie folgt dem Gießkannenprinzip und wird vornehmlich asiatische und französische Autohersteller profitieren lassen. Das, meine Damen und Herren, ist aber keine Hilfe für Deutschland. ({3}) Ich darf Sie daran erinnern: Sie sind für den deutschen Wirtschaftsstandort verantwortlich. Ihr großes Europakonjunkturpaket ist nichts anderes als eine gigantische Geldumverteilung nach Frankreich. Ich appelliere an Sie: Verfolgen Sie endlich deutsche Interessen. Schützen Sie die deutschen Steuerzahler, solange es sie noch gibt. ({4}) Und, Herr Minister, beugen Sie sich nicht dem Brüsseler Diktat. Es kann nicht sein, dass Deutschland durch die EU-Kommission an eigener Wirtschaftshilfe gehindert wird, nur weil andere EU-Mitgliedstaaten selbst dazu nicht in der Lage sind. Der zentralistisch daherkommende Brüsseler Staatskapitalismus – so titelt im Übrigen heute auch „Die Welt“ – ist bestimmt keine Antwort auf unsere Probleme. ({5}) Durch den Zusammenbruch der globalen Lieferketten, durch die Stilllegung von Produktion und Dienstleistungen sind viele und vornehmlich kleine und mittlere Unternehmen in Existenzgefahr geraten. Hier gilt es, systematisch und durchdacht Hilfe zu leisten. Schaffen Sie bei den Unternehmen Liquidität, indem Sie beispielsweise Verluste auf das Steuerjahr 2018 und auch auf das Steuerjahr 2017 rücktragen lassen. Schaffen Sie nicht nur den Soli auf die Einkommensteuer, sondern auch auf die Körperschaftsteuer ab, stunden Sie die Umsatzsteuer, helfen Sie vor allem marktfähigen Unternehmen, schaffen Sie die EEG-Umlage ab und senken Sie damit die Energiekosten. Das Wichtigste für die Wirtschaft ist jedoch die Verlässlichkeit der politisch Handelnden, und hieran fehlt es insbesondere. Und schließlich: Hören Sie endlich auf, fortgesetzt mit einem erneuten Lockdown zu drohen. Im Übrigen bin ich der Ansicht, dass wir mehr direkte Demokratie brauchen. Vielen Dank. ({6})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vor allen Dingen über die parlamentarische. – So, meine Damen und Herren, wir fahren in der Debatte weiter fort. Das Wort hat für die Fraktion der SPD der Kollege Achim Post. ({0})

Achim Post (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004378, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, eine deutsche Bundesregierung kann die deutschen Interessen nicht besser vertreten, als in Europa zu investieren und zu gucken, dass auch unsere Nachbarn wieder auf die Beine kommen. ({0}) Ansonsten zeigt diese Debatte, zeigt wahrscheinlich das politische Gefühl bei jedem von uns, dass diese Krise anders ist. Sie ist deshalb anders, weil sie nicht nur eine Branche betrifft, sondern fast alle Branchen. Zudem ist diese Krise beispiellos, weil sie nicht nur ein Land betrifft, sondern fast alle Länder. Die Zahlen, die der Bundesminister bezüglich des Minuswachstums genannt hat – global, europäisch und national –, sind eindrücklich, und wir sollten sie ernst nehmen und nicht auf die leichte Schulter. Ich will Ihnen mal sagen, was wir jetzt brauchen. Wir brauchen jetzt ein Konjunktur-, Innovations- und Investitionspaket, das schnell wirkt, das die Binnennachfrage ankurbelt, das zur Modernisierung von Gesellschaft und Wirtschaft beiträgt und das nachhaltig – nicht nur in der Krise – für gute Arbeit sorgt, am besten für tarifvertraglich abgesicherte gute Arbeit, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Und ich finde, dass wir, die Bundesrepublik Deutschland, die Bundesregierung, der Bundestag, die Millionen Bürgerinnen und Bürger, unsere Sache in den letzten Wochen und Monaten gut gemacht haben. Nur deshalb sind wir bei allen Schwierigkeiten, bei allen Herausforderungen, bei allem, was noch vor uns liegt, relativ gut durch diese Krise gekommen. Aber sie ist noch lange nicht zu Ende. Deshalb zum Konjunkturprogramm: Was wir nicht brauchen, ist ein Konjunkturprogramm, das viele von uns schon erlebt haben, eines mit der Gießkanne, für jeden etwas, für keinen richtig was. Wir sollten uns auf das konzentrieren, was wir in den nächsten 12, 16, 18 Monaten bei den Unternehmen und Unternehmungen hinkriegen, denen völlig die Geschäftsgrundlage weggezogen wurde: bei den Busunternehmen, bei Schaustellern, bei sozialen Einrichtungen. Da gibt es eine Menge mehr: bei der Gastronomie, in der Tourismusbranche, aber auch in den Leitindustrien mit Millionen von Beschäftigten, in den Leitindustrien und der Zulieferindustrie, im Bereich Stahl, im Bereich Maschinenbau, im Bereich Automobil, in der Chemie. Ich weiß auch, und ich bin davon überzeugt, dass wir mit Abwrackprämien für alte Technologien die Zukunft nicht werden gestalten können. ({2}) Wir müssen außerdem gucken, dass diese Gesellschaft, diese parlamentarische Demokratie, diese funktionierende parlamentarische Demokratie, in den nächsten Tagen und Wochen das Richtige macht. Da lese ich einige Vorschläge von vor zwei, drei Tagen, auch von Kolleginnen und Kollegen hier aus dem Haus, dass man schon wisse, welche Zutaten man eigentlich brauche, um ein ordentliches Konjunkturprogramm zu machen, um einen ordentlichen Aufschwung hinzubekommen. Man bräuchte nämlich die Absenkung von Sozialstandards und die Absenkung der Mindestlöhne. – Diesen Kolleginnen und Kollegen empfehle ich einen Leitsatz aus dem Sonntagskalender. Er ist ganz einfach: Wir brauchen weniger Manchester-Kapitalismus und mehr soziale Marktwirtschaft, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Da wir dabei sind, zu diskutieren, was wir jetzt machen müssen, will ich mal zwei, drei Dinge sagen, die wir machen müssen: Die Kommunen – unsere Dörfer, unsere Gemeinden, unsere Städte – haben jetzt Steuerausfälle; sie müssen jetzt mehr Geld für andere Kosten aufwenden. Und diejenigen, die schon seit vielen Jahren darunter ächzen, dass sie Altschulden haben, sind jetzt in einer noch schlechteren Lage als vorher. Deswegen ist das Paket für einen Solidarpakt für die Kommunen von Bundesfinanzminister Olaf Scholz genau das Richtige, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({4}) – Wir machen es. Ich verspreche es dir. Und es gibt noch etwas, was schnell wirkt. Unsere Familien, die Männer und Frauen, die Mädchen und Jungen, haben jetzt Schwierigkeiten; die brauchen jetzt Geld, gerade die Bezieher von kleinen und mittleren Einkommen. Deswegen spricht aus meiner Sicht überhaupt nichts dagegen, einen Familienbonus einzuführen. Ob der nachher 300, 350 oder 400 Euro hoch ist, das ist mir an dieser Stelle nicht egal, aber das ist alles akzeptabel, und man kann für das eine so gut argumentieren wie für das andere. ({5}) Und ganz zum Schluss, liebe Kolleginnen und Kollegen, will ich mal eines sagen: Das Paket für Europa, das hier gerade angesprochen wurde, der deutsch-französische Vorschlag, der vor allen Dingen von der Kanzlerin und vom Vizekanzler ausgearbeitet und mit unseren französischen Freunden besprochen wurde, ist die Grundlage dafür, die Freundschaft zwischen Deutschland und Frankreich zusammenzuhalten, aber auch ganz Europa zusammenzuhalten. Nicht umsonst ist der Vorschlag der Kommission von heute auf der Grundlage dieses deutsch-französischen Vorschlages entstanden, und darauf, ehrlich gesagt, bin ich stolz, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({6}) Mein allerletzter Punkt ist: Ich bin zufrieden und zuversichtlich, wenn wir nach dem Wochenende ein ordentliches Konjunkturpaket hinbekommen, und ich bin noch zufriedener, wenn es danach die Überschrift trägt: „Fortschritt, Gerechtigkeit, Solidarität und Nachhaltigkeit – für Wachstum und Beschäftigung in Deutschland und Europa“. Schönen Dank. ({7})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion der FDP der Kollege Michael Theurer. ({0})

Michael Theurer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004914, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Bundeswirtschaftsminister hat hier aus unserer Sicht völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass es dringend erforderlich ist, dass wir hier in diesem Hause und in der Bundesrepublik Deutschland wieder einen Konsens herstellen, dass wir ein Wachstum der Wirtschaft brauchen; denn wir erleben ja gerade, dass es einen massiven Einbruch in der Wirtschaft gibt: Nach minus 6,2 Prozent in der Frühjahrsprojektion sprechen die Fachleute jetzt von minus 10 Prozent. Die deutsche Wirtschaft schrumpft; wir fallen zurück. Das ist der falsche Weg. Millionen von Arbeitsplätzen sind akut gefährdet. Der Wohlstand von Millionen von Menschen in Deutschland ist gefährdet, und ja, da müssen wir entschieden gegenhalten, meine Damen und Herren. ({0}) Und sehr verehrter Herr Minister Altmaier, Sie haben ja mal beklagt, dass die Freien Demokraten Sie an dieser Stelle nicht genügend loben würden. Wir wollen Sie heute ausdrücklich für Ihr Adenauer-Erlebnis loben. Konrad Adenauer sagte einmal, dass ihn niemand daran hindern könne, über Nacht auch mal schlauer zu werden. Sie sprechen sich jetzt für ein Belastungsmoratorium aus: keine neuen Steuern, keine Steuererhöhungen, keine zusätzliche Bürokratie. Wir haben das schon lange gefordert. Wir freuen uns, dass Sie das übernommen haben. Wir sind gespannt, ob Sie das jetzt auch in der Regierungskoalition durchsetzen können. ({1}) Meine Damen und Herren, Solikomplettabschaffung wirkt nachfrageseitig, wirkt angebotsseitig, entlastet vor allen Dingen die vielen Handwerker und die vielen Mittelständler, die ansonsten keine Entlastung haben. Wir sind gespannt, wann Sie das durchsetzen. Ich kann nur sagen: Sie sind, was das angeht, eigentlich Spätzünder. ({2}) Oder: die wichtige Idee, die wir als FDP unter der Überschrift „negative Gewinnsteuer“ hier vorgetragen und in den Deutschen Bundestag eingebracht haben; Verlustrückträge, dass die Unternehmen die Verluste, die jetzt entstehen, rücktragen können auf alte Rechnungen und damit direkt Liquidität bekommen, damit die von den Experten heute in der Anhörung des Wirtschaftsausschusses befürchtete Insolvenzwelle nicht eintritt. Das war unser Vorschlag, Sie haben ihn dankenswerterweise übernommen; aber bitte setzen Sie ihn auch um. Ankündigungen alleine reichen nicht aus. Wenn man in der Regierung ist, dann muss man auch handeln. ({3}) Soeben läuft über den Ticker, dass der Aufsichtsrat von Lufthansa das Rettungspaket ablehnt. ({4}) – Ablehnt. – Warum? Weil der von Ihnen gewählte Weg der direkten Beteiligung zu einer Teilverstaatlichung führt, was dazu führt, dass wettbewerbsrechtliche Auflagen aus der Europäischen Union gemacht werden; die waren zu erwarten. Das ist ein unprofessionelles Vorgehen der Bundesregierung; das hätte besser vorbereitet werden müssen. Denn es gibt ja einen anderen Weg: unter 10 Prozent bleiben, keine außerordentliche Hauptversammlung riskieren, das Insolvenzrisiko abwenden und den Rest über Kredite machen. Jede zeitliche Verzögerung gefährdet bei der Lufthansa hunderttausend Arbeitsplätze. ({5}) Wir haben Sie gewarnt; aber Sie haben an der Stelle nicht auf uns gehört. Deshalb müssen wir an dieser Stelle für den richtigen Weg kämpfen. Wir sind gegen einen anonymen Finanzkapitalismus US-amerikanischer Prägung. Aber wir sind auch gegen einen Kommandokapitalismus chinesischer Prägung, dem ja hier manche anhängen. Wir sind für die soziale Marktwirtschaft, wir sind für eine humane Marktwirtschaft; denn Märkte sind Menschen. Wir sagen: Der richtige Weg, den wir jetzt gehen müssen, ist: entfesseln, entlasten und investieren. „Entfesseln“ bedeutet: Bürokratieabbau, Planungsbeschleunigung, Auflagen weg, schneller genehmigen, Sonderwirtschaftszonen zu Freiheitszonen entwickeln. ({6}) „Entlasten“ heißt: Körperschaftsteuer und Einkommensteuer senken auf international wettbewerbsfähiges Niveau; kurzfristig, vielleicht bis Ende des Jahres oder für die nächsten zwei Jahre, die Merkel-Steuer – die Erhöhung der Mehrwertsteuer, die durch die Große Koalition um 3 Prozentpunkte – aussetzen, um einen Nachfrageimpuls zu geben, nicht einzelne Kaufprämien und Gutscheine für manche Branchen, sondern ein attraktiver Ordnungsrahmen für alle, meine Damen und Herren; ({7}) auch die Vorfälligkeit der Sozialversicherungsbeiträge zurücknehmen und damit 25 Milliarden Euro Liquidität in die Wirtschaft pumpen, damit die Wirtschaft wachsen kann. ({8}) Und es heißt natürlich: Investitionen der öffentlichen Hand nicht mit der Gießkanne, sondern ganz gezielt; Glasfaser für alle, 5G, Testbereiche für autonomes Fahren sowie Bildungsinfrastruktur, Technologieparks, Gründerzentren. Innovationsnation Deutschland: Das ist der richtige Weg. Unser Programm heißt: Soziale Marktwirtschaft – entfesseln, entlasten, investieren. ({9})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächster spricht der Kollege Alexander Ulrich für die Fraktion Die Linke. ({0})

Alexander Ulrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003858, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Altmaier, Sie haben als Erster geredet. Möglicherweise war es Ihre Idee, eine Aktuelle Stunde zu beantragen. Es wäre aber vielleicht auch sinnvoll gewesen, als Wirtschaftsminister eine Regierungserklärung abzugeben in der größten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. ({0}) Aber wenn Sie dazu heute etwas sagen wollten, so muss ich feststellen, dass Ihre Rede sehr enttäuschend war. ({1}) Millionen Menschen da draußen wissen nicht, wie es nach dem Soforthilfeprogramm weitergehen soll, und von Ihnen kein Satz dazu. Sie sagen: „Wir machen ein Konjunkturpaket“; Sie sagen aber in keinem Satz, was die Inhalte dieses Konjunkturpaketes sind, sondern nennen nur die Überschrift. Dann laden Sie auch noch den Bundestag ein, mitzumachen. Doch heute Morgen im Wirtschaftsausschuss kamen über die Parlamentarische Staatssekretärin keine konkreten Vorschläge dazu, was denn nächste Woche beschlossen werden soll und wie sich der Bundestag beteiligt. Ich sage Ihnen: Ihre Rede heute war eine große Enttäuschung und wird den Notwendigkeiten dieses Landes nicht gerecht. ({2}) Dann beginnen Sie Ihre Rede mit einem Dank an die vielen Helden des Alltags, auch an die Menschen im Gesundheitswesen; aber aus Ihrer Partei, Ihrer Fraktion, kommen dann Vorschläge wie: Man soll den Mindestlohn absenken ({3}) oder die Mindestlohnerhöhung verschieben und auch die Einführung der Grundrente verschieben. Ich finde: Wer mit den Helden des Alltags so umgeht wie Ihre Partei, Ihre Fraktion, der sollte sich schämen, hier nochmals Dank diesen Menschen auszusprechen. ({4}) Sie haben die Lufthansa angesprochen. Auch wir sagen: Ja, ein Unternehmen mit mehr als 100 000 Beschäftigten muss gerettet werden. Aber die Frage ist immer: Wie wird ein Unternehmen gerettet? Man hat manchmal den Eindruck, dass die Lufthansa Deutschland rettet und nicht umgekehrt. Wir lassen uns von der Lufthansa diktieren, zu welchen Bedingungen eine Rettung stattzufinden hat. Für uns als Linke ist klar: Eine Rettung muss einhergehen mit Beschäftigungssicherung. Darauf zu verzichten, ist eigentlich ein Skandal für den Steuerzahler. ({5}) Dass man auch keinen Einfluss nehmen will! Die Lufthansa ist an der Börse noch etwas mehr als 4 Milliarden Euro wert. 9 Milliarden Euro sollen wir für die Rettung in die Hand nehmen, aber auf Mitsprache verzichten. Wir dulden also auch in Zukunft, dass die Lufthansa Gewinne in Steueroasen verschieben kann. ({6}) Der Steuerzahler soll zwar die Lufthansa retten; aber wir akzeptieren, dass die Lufthansa weiterhin den Steuerzahler abzockt. Das kann doch nicht wirklich von dieser Bundesregierung unterstützt werden. ({7}) Was wir jetzt tatsächlich brauchen, ist ein Zukunftsinvestitionsprogramm. Wir als Linke haben schon vor der Coronakrise gesagt: Wir müssen in die Zukunft investieren. Wir brauchen dafür auch keine schwarze Null, eine Schuldenbremse; denn das Land ist schon vorher auf Verschleiß gefahren. Wir brauchen Investitionen in die Gesundheit, in die Bildung, in die Infrastruktur. Wir brauchen auch Investitionen in erneuerbare Energien und deren Ausbau. Jetzt muss Geld in die Hand genommen werden. Deshalb: Machen Sie ein Konjunkturpaket, mit dem man in die Zukunft investiert, und kein Strohfeuer für wenige Monate! ({8}) Herr Altmaier, ich muss Sie enttäuschen: Heute Morgen war kein Experte da, noch nicht einmal einer derjenigen, die Ihre Fraktion vorgeschlagen hat, keiner, der gesagt hat, man solle der Automobilindustrie mit einer Abwrackprämie 2.0 helfen. Deshalb: Hören Sie auf, an diesen Ideen weiterzuarbeiten! Wir brauchen Investitionen in die Mobilitätswende. Wir brauchen Investitionen, die die Transformation der Automobilindustrie hin zu mehr E-Mobilität gestalten können. Dafür braucht es vielleicht Hilfe, aber keine Abwrackprämie 2.0. ({9}) Jedes Konjunkturpaket wird verpuffen, wenn wir nicht an das Problem der Kommunen herangehen. Wir brauchen Aktionen auf allen staatlichen Ebenen, und wenn Sie hier eine Aktuelle Stunde beantragen, dann ist es auch wichtig, darüber zu reden, wie wir die Kommune als wesentliche staatliche Ebene mit einem Konjunkturprogramm zum Laufen bringen. Deshalb braucht es endlich eine Lösung der Altschuldenproblematik. Wir als Linke haben schon vor der Coronakrise gesagt: Wir brauchen einen Altschuldenfonds. Herr Post, wenn Sie sagen: „Wir machen das“, dann nehme ich Sie beim Wort. Machen Sie es endlich! Zeigen Sie der Bundesregierung mal, dass die SPD mit dabei ist! Verhandeln Sie es! Wir brauchen einen Altschuldenfonds für die Kommunen; denn wenn wir diesen haben, dann braucht es auch kein Konjunkturpaket. ({10}) Wir als Linke haben Ihnen auch schon vor der Coronakrise gesagt: Wir brauchen Investitionen. Dabei müssen Sie nicht unsere Ideen übernehmen. Der Deutsche Gewerkschaftsbund und der BDI haben den tollen Vorschlag gemacht, dass man jährlich zusätzliche Investitionen von 45 Milliarden Euro organisieren müsste, um dieses Land fit für die Zukunft zu machen. Der DGB hat heute Morgen in der Anhörung gesagt: An der Aktualität dieser Notwendigkeit hat sich auch durch Corona nichts verändert. Deshalb: Schauen Sie sich das Papier von DGB und BDI an. Das sind ja zwei Organisationen, die nicht jeden Tag partnerschaftlich zusammenarbeiten. Wenn die schon mal auf so eine tolle Idee kommen, Herr Altmaier, und Sie sie aufnehmen würden, dann hätten Sie auch mehr zu sagen als das, was Sie heute gesagt haben, dann hätten Sie schon viel Griffiges gehabt, was man nächste Woche beschließen könnte. ({11}) Es ist wichtig, dass wir aus dieser Krise mit mehr guter Arbeit herausgehen. Deshalb muss der Mindestlohn auch schnell auf 12 Euro erhöht werden. Wir brauchen mehr flächendeckende Tarifverträge, eine Allgemeinverbindlichkeit. Ein Staat, der hilft, muss von jedem Unternehmen verlangen, dass die Beschäftigung gesichert wird, auch bei der Lufthansa. Vielen Dank. ({12})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin in der Debatte ist die Kollegin Claudia Müller für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Claudia Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004830, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen! Es gab in letzter Zeit doch sehr unterschiedliche Stimmen aus der Koalition dazu, was denn jetzt die besten Maßnahmen für Wege aus der Krise seien. Deshalb war ich, ehrlich gesagt, fast ein bisschen überrascht, dass ausgerechnet Sie dieses Thema jetzt setzen. Aber möglicherweise dient diese Aktuelle Stunde ja auch Ihrer Ideenfindung, und da helfen wir natürlich sehr gerne. ({0}) Denn im Gegensatz zur Bundesregierung haben wir Grüne mit unserem Zukunftspakt heute ein Konzept vorgestellt, ein Konzept zur Stabilisierung und zu Wegen aus der Krise – ({1}) übrigens nicht nur aus der Coronakrise. Selbstverständlich nehmen wir die Klimakrise mit in den Blick, zu der Sie, Herr Altmaier, heute kein einziges Wort verloren haben. ({2}) Viele unserer Vorschläge, die Sie darin finden, sind übrigens Vorschläge, die Sie heute auch in der Anhörung von de facto allen Sachverständigen gehört haben. Schauen Sie mal rein, fühlen Sie sich inspiriert. Wir sind aber noch nicht aus der Krise heraus. Das heißt, wir sind noch nicht fertig damit, die besonders stark betroffenen Gruppen vor dem Ruin zu schützen. Das sind: Start-ups, die Kreativszene, Gründerinnen, Unternehmerinnen, die kluge Ideen umsetzen, Menschen, die handwerkliche Traditionen in die heutige Zeit überführen. Sie alle sind Deutschlands Potenzial für die Zukunft, und sie alle sind in erster Linie selbstständig. Wir sprechen ständig mit Stolz von der Gründerrepublik Deutschland. Aber wenn man sich die letzten Wochen anguckt, ist das nichts als blanker Hohn. Monatelang vergisst diese Bundesregierung Millionen von Selbstständigen und Gründerinnen. Und die Hoffnung, dass das in der ersten Runde ein Versehen war, ist jetzt weg; denn Ihre Eckpunkte zeigen, dass Sie die moderne Arbeits- und Wirtschaftswelt nicht verstehen. ({3}) Der Vorstoß der AG Wirtschaft und Energie der CDU/CSU-Fraktion, der praktisch nur aus ollen Kamellen besteht, macht dies noch deutlicher. Aber gewundert hat mich das, ehrlich gesagt, nicht; denn das sind die gleichen Stimmen, die jetzt gefordert haben, das Thema Klimaschutz und den Green Deal hintanzustellen. Zur Krisenbewältigung auf allen Ebenen brauchen wir jetzt aber einen ganzheitlichen Blick auf die Gesellschaft. Das bedeutet zum Beispiel im Bereich Arbeit, anzuerkennen, dass Unternehmerinnen und Selbstständige eben nicht die Haifische im Becken sind, sondern genauso eine Absicherung und Unterstützung brauchen wie abhängig Beschäftigte. Sie brauchen dringend eine gerechte Unterstützung, um die Krise zu überleben und dann weiterzumachen; denn für sie bedeutet eine Insolvenz im Allgemeinen persönlicher Ruin und Weg in die Armut. Doch Sie von SPD und CDU/CSU schicken diese Menschen zum Jobcenter. Damit lösen Sie Frust und übrigens auch zusätzliche Bürokratie aus; denn die Vermögensprüfung ist keineswegs ausgesetzt; sie findet weiterhin statt. Häufig bedeutet das für die Betroffenen: Die persönliche Altersvorsorge muss angegangen werden; das Partnereinkommen wird geprüft. Das ist übrigens ein Vorgehen, das Sie beim Thema Kurzarbeitergeld ablehnen würden – vollkommen zu Recht. Bei Gründerinnen und Selbstständigen machen Sie das aber. Sie erklären damit Unternehmerinnen, Selbstständige, Gründerinnen und Kreative zu Arbeitenden zweiter Klasse. ({4}) Unsere Erkenntnis daraus: Neben schnellen, unbürokratischen Hilfen müssen wir auch die sozialen Sicherungssysteme offener gestalten, um diesen Menschen in Krisenzeiten Unterstützung zu bieten und diesen Gruppen – selbst wenn sie nicht einzahlen – ein Anrecht auf Kurzarbeitergeld zu ermöglichen. ({5}) Denn in der Krise hat sich auch gezeigt, dass gerade kleine Unternehmen, Selbstständige und Kreative mit wenig Ressourcen oft sehr schnell sehr flexibel Dinge verändern können, sich anpassen können. Das ist die Innovationsfähigkeit, die wir jetzt brauchen, um aus dieser Krise zu kommen. Forschung und Innovation sind die Schlüssel, und nichts treibt die Entwicklung in diesem Bereich so sehr voran wie das Thema Klimaschutz. Auch wenn wir jetzt über die Coronakrise reden: Die Klimakrise und das Artensterben haben deswegen nicht aufgehört. Wenn wir über Krisenfestigkeit reden, dann muss das für all diese Krisen gelten. Wir brauchen Investitionen auf allen Ebenen: in Infrastruktur, vor allem die digitale, erneuerbare Energien, Forschung, Innovation, Schulen und frühkindliche Bildung. Wir dürfen nicht zulassen, dass einige – leider momentan entscheidende – Personen mit ihrem Unvermögen die Zukunftschancen dieses Landes und der zukünftigen Generation verspielen. ({6}) Wir haben jetzt die Chance, aus dieser Krise zu lernen und Ökonomie und Ökologie zu verbinden, nicht nur, um eine Erholung der Wirtschaft zu erreichen, sondern auch, um sie zukunftsfähig und krisenfest zu machen. Denn schon jetzt gilt: Was ökologisch sinnvoll ist, ist auch ökonomisch sinnvoll. Wer das nicht einpreist, dem werden mittelfristig auch keine Rettungspakete mehr helfen. ({7})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Dr. Carsten Linnemann. ({0})

Dr. Carsten Linnemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004098, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das wird nicht die letzte Aktuelle Stunde zu den wirtschaftlichen Auswirkungen von Corona sein. Die aktuelle Lage ist fragil; die Perspektiven sind nicht rosig. Ich ziehe daraus drei Schlussfolgerungen. Erstens. Die Krise wird länger dauern, als wir glauben. Diese Wahrheit muss man aussprechen. Das Verbrauchervertrauen wird eine Weile brauchen, um wieder auf das Niveau zu kommen, auf dem es einmal war. In einigen Branchen dauert das sehr lange. Zweitens. Wir werden sehr viel Geld in die Hand nehmen müssen. Oder anders ausgedrückt: Wir müssen vernünftig mit diesem Geld umgehen. Es ist wie ein Boot mit Proviant, in dem wir sitzen; wir sehen aber heute noch nicht das Ufer. Entsprechend vernünftig müssen wir mit dem Geld umgehen. Ich bin froh, dass die Bundesregierungen der letzten Jahre mit diesem Geld verhältnismäßig gut umgegangen sind, sodass wir heute überhaupt die Möglichkeiten haben, den Menschen zu helfen. ({0}) Drittens. Wir werden aber – das ist entscheidend, und deswegen reden wir heute über die Zukunft – auch über die Zeit nach dieser Krise nachdenken müssen, darüber, was wir heute strukturell machen können, damit es mit Deutschland in Zukunft wieder bergauf geht. Lieber Herr Alexander Ulrich, ich verstehe nicht, warum Sie Herrn Altmaier so angegangen haben, ({1}) sowohl bei der Lufthansa-Frage als auch bei der Frage, warum er nichts zu dem Nachfolgeprogramm des Soforthilfeprogramms gesagt hat. Zu den beiden Punkten. Erstens. Was die Lufthansa betrifft, bin ich ihm dankbar, dass er so reagiert hat, wie er reagiert hat, und nicht so reagiert hat, wie Sie das wollen. Wenn Sie sagen, Sie hätten die Gunst der Stunde genutzt und wären dort als Staat eingestiegen, um operativ und strategisch bei Unternehmensentscheidungen mitzusprechen, dann befürchte ich, dass das so geendet hätte wie beim Flughafen Berlin-Brandenburg, wo mehrere Politiker im Aufsichtsrat sitzen. ({2}) Wir sollten das den Experten überlassen und uns da als Politik fernhalten. ({3}) Zweitens. Beim Thema „betroffene Unternehmen, Härtefallfonds“ ist es Peter Altmaier, der seit Wochen darauf hinweist, dass wir Branchen haben, die besonders betroffen sind; sie wurden hier alle genannt. Eine Branche wird übrigens weniger oft genannt, ist aber genauso wichtig wie Gastronomie und Hotels, nämlich der stationäre Handel. Alle Unternehmen, die mit Veranstaltungen zu tun haben – Schausteller usw. –, aber auch die Gastronomie, Hotels und der stationäre Handel leiden im Moment darunter, dass es immer noch zu wenig Vertrauen gibt, dass sie nicht zu den Umsätzen zurückkehren, die sie mal hatten. Genau für diese Branchen brauchen wir jetzt ein Programm, mit dem wir unsere mittelständischen Strukturen stärken – das stand auch in der Zeitung; wie ich höre, wird es am Dienstag, dem 2. Juni, verabschiedet –, mit dem wir dafür sorgen, dass Unternehmen, die im Vergleich zum Vorjahr signifikant weniger Umsätze haben, in diesen Monaten Zuschüsse bekommen, die sie nicht zurückzahlen müssen. ({4}) Ich finde, das ist an dieser Stelle richtig so, und genau dahinter steht Peter Altmaier. ({5}) – Doch. Lesen Sie es im Protokoll nach, Herr Ulrich. Er hat einen Satz dazu gesagt, weil das jetzt in Arbeit ist und am Dienstag verabschiedet wird. Ansonsten kann ich dem Kollegen Theurer nur zustimmen; da mache ich aus meinem Herzen auch keine Mördergrube. Er hat völlig recht: Wir brauchen branchenübergreifende Lösungen und keine branchenspezifischen Einzellösungen. ({6}) Was der Mittelstand, was die Wirtschaft jetzt braucht, ist Liquidität: erstens durch die Verrechnung der Verluste mit den Gewinnen ({7}) und zweitens – ganz klar – durch die Abschaffung der Vorfälligkeit der Sozialversicherungsbeiträge. ({8}) Damit entlasten wir gerade auch kleine und mittlere Unternehmen nicht nur mit Geld und Liquidität, sondern auch mit weniger Bürokratie. Deswegen ist das völlig richtig. In die Zukunft blickend: Wir brauchen Strukturreformen, die wir jetzt angehen, und wir müssen uns jetzt die Frage stellen, wie wir das machen. Ich glaube, es macht keinen Sinn, beim EEG – um das Thema aufzugreifen – jetzt einfach nur mit Steuergeldern reinzugehen; vielmehr sollte man eine Reform machen, die nachhaltig ist, beispielsweise indem man sagt: Wir reduzieren die Stromsteuer auf das europäische Mindestmaß und lassen das EEG auslaufen. – Das wäre auf der einen Seite eine Entlastung von 400 Euro im Jahr für eine vierköpfige Familie, und wir würden damit auf der anderen Seite die neuen Technologien, die klimafreundlichen Technologien, attraktiver machen. Das wäre, glaube ich, jetzt der richtige Schritt, anstatt einfach nur Geld ins EEG zu pumpen. ({9}) Der nächste Punkt ist, Freiräume zu schaffen. Völlig richtig; das müssen wir jetzt machen. Wir sehen: Wenn Arbeitnehmer und Arbeitgeber sich einig sind, dann können sie Arbeitszeiten, dann können sie Homeoffice und vieles mehr organisieren. Wir brauchen einen Rahmen, ja. Mir geht es auch nicht um die Ausweitung der Arbeitszeit, sondern wir müssen ganz klar darüber reden, dass wir die Freiräume bekommen, dass wir das Arbeitszeitgesetz modernisieren, dass wir die Verwaltung digitalisieren, dass wir Bürokratie abschaffen, ({10}) und vieles, vieles mehr. Jetzt ist die Chance, dieses zu tun, und das sollten wir auch machen. Vielen Dank. ({11})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Steffen Kotré für die AfD. ({0})

Steffen Kotré (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004791, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Linnemann, sehr gut: Abschaffung der Vorfälligkeit. Wann? Ab wann können wir damit rechnen? Kriegen wir das umgesetzt? Nicht nur darüber reden, sondern: Kriegen wir das umgesetzt? – Sehr schön. Haben wir sehr schön vernommen. Die Schädigung der Wirtschaft ist nicht Corona allein, sondern eben auch der Bundesregierung anzulasten, weil die Bundesregierung falsche Maßnahmen getroffen hat. Sie hat die Wirtschaft und das gesellschaftliche Leben heruntergefahren, als Corona und die Gefahren der Ausbreitung bereits abebbten. ({0}) Um das noch mal zu verdeutlichen: Sie alle kennen diese Kurve. ({1}) Daran kann man das ganz deutlich ablesen: Am 9. März sind als erste Maßnahme Versammlungen ab einer gewissen Anzahl von Personen abgesagt worden. Dann gibt es den Peak der Ausbreitung, wo der Reproduktionsfaktor größer 3 war. ({2}) Aber dann geht die Kurve runter. Und erst zwölf Tage später gab es dann den Shutdown der Wirtschaft, ({3}) als die Ausbreitung der Pandemie längst schon wieder im grünen Bereich war. ({4}) Daran können wir ablesen, dass die Bundesregierung gegenüber der Wirtschaft mindestens grob fahrlässig gehandelt hat. ({5}) Wir müssen auch sehen, wo die Bundesregierung grob fahrlässig nicht gehandelt hat. ({6}) Sie hat sich nicht vorbereitet, als Wuhan in China abgeriegelt worden ist. Sie hat keinen Expertenkrisenstab mit Epidemiologen und anderen gesellschaftlich relevanten Kräften eingerichtet, sondern sie hat einzig und allein einem Virologen vertraut, der sozusagen als Hofberichterstatter fungierte. ({7}) Demokratie, meine Damen und Herren, also der freie Wettbewerb um die besten Lösungen, scheint der Bundesregierung ein Dorn im Auge zu sein. ({8}) Mittlerweile ist man leider ja in den Medien schon Rechtsextremist, Verschwörungstheoretiker oder Virusleugner. Jede noch so abstruse Brandmarkung wird benutzt, um Andersdenkende zu stigmatisieren. ({9}) Hier und da tauchen in einigen Medien auch schon wieder die totalitär zersetzenden Methoden auf, die ich aus der DDR kennen. ({10}) Im zwangsgebührenfinanzierten Staatsfernsehen kommt die größte Oppositionspartei dieses Landes praktisch nicht vor. Auch das ist demokratiefeindlich, meine Damen und Herren. ({11}) Wenn die DDR-Bürgerrechtlerin, Frau Angelika Barbe, von Polizisten weggezerrt wird, weil sie sich informieren will und für die Meinungsfreiheit eintritt, dann ist auch das nicht mehr rechtsstaatlich, meine Damen und Herren. ({12}) Und die Kaltstellung eines pflichtbewussten Beamten aus dem Innenministerium, der an befugter Stelle vor dem Shutdown gewarnt hat, ({13}) deutet ebenso auf ganz unschöne Entwicklungen in diesem unserem real existierenden Deutschland hin. Doch diese Freiheit lassen wir uns nicht nehmen; die werden wir uns wieder erkämpfen, meine Damen und Herren. ({14}) Aber eine Erklärung für das Handeln der Bundesregierung könnte sein, dass sie ablenken möchte, nämlich von den Versäumnissen der Vergangenheit, noch vor dem Virus. Ich denke da zum Beispiel an die Diskriminierung und Schädigung der Automobilindustrie, die Zerstörung der sicheren und preiswerten Kernenergie, ({15}) die Schädigung der Energiewirtschaft insgesamt, die Schädigung deutscher Firmen durch die Sanktionspolitik, sodass überall dort, wo deutsche Firmen herausgedrängt werden, jetzt US-amerikanische Firmen reinkommen und den Umsatz wegnehmen. ({16}) Was ist nun zu tun, was tut not? Neben dem Schutz der Risikogruppen: sofortige Beendigung aller Beschränkungen, Wiederherstellung der vollständigen Gewerbefreiheit und der Bürgerrechte, meine Damen und Herren, ({17}) Entlastung der Wirtschaft dort, wo einfach nur ein Federstrich genügt: Streichung unsinniger Subventionen, Abschaffung der Energiewende, Wiedereinführung der Kohleverstromung und Kernenergie, Bürokratieabbau jetzt wirklich umsetzen. Auch wenn Statistiker und Sicherheitsfanatiker aufschreien mögen – das müssen wir tun. Und vor allen Dingen: Schluss mit diesem Pawlow’schen Reflex immer dann, wenn es um die EU geht. ({18}) Kommen wir zu den kostenträchtigen Maßnahmen, die sich aber rentieren werden: steuerliche Maßnahmen – einige wurden schon genannt: Breitbandausbau, Digitalisierung der Behörden, stille Beteiligung bei Schlüsselunternehmen und solchen, bei denen Know-how-Abfluss ins Ausland droht, zielgerichtete staatliche Investitionen, auch um private Investitionen entsprechend anzureizen. Und lassen Sie uns im Endeffekt – es wurde heute genannt – aber auch wirklich umsetzen: Die soziale Marktwirtschaft wiederbeleben. Nein, Herr Bundesminister, nicht stärken – das funktioniert, glaube ich, nicht mehr, weil zu viel Substanz verloren gegangen ist –, sondern wirklich wiederbeleben. Die Wirtschaftspolitik muss nach Jahren und Jahrzehnten der planwirtschaftlichen Lenkung endlich wieder marktwirtschaftlichen Prinzipien folgen. ({19}) Meine Damen und Herren, lassen Sie uns die Fesseln der Bürger und Unternehmen lösen. ({20}) Geben wir ihnen wieder alle Bürgerrechte, gute Perspektiven, Stabilität und vor allen Dingen eines: Freiheit. Vielen Dank. ({21})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der SPD der Kollege Bernd Westphal. ({0})

Bernd Westphal (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004442, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das, was die Regierung an Politik und Maßnahmen einleitet, Herr Kotré, ist nicht grob fahrlässig, sondern grob fahrlässig ist es, wenn man Ihnen die Stimme gibt. Wir können froh sein, dass Sie keine Regierungsverantwortung tragen. ({0}) Die aktuelle Krise – das zeigt sich in Dimension und Form – stellt Wirtschaft, Gesellschaft und Politik vor enorme Aufgaben. Bei allem Vertrauen auch in die Marktkräfte, was Innovation angeht, kommt es jetzt darauf an, ausgehend von staatlichen Impulsen und einem handlungsfähigen Staat eine Neubelebung der Wirtschaft zu organisieren. Herr Kollege Theurer, Sie haben die Lufthansa angesprochen. Wenn Sie die Tickermeldung richtig lesen, dann merken Sie: Es geht darum, dass die Lufthansa ihre Entscheidung im Aufsichtsrat verschoben hat, weil die Europäische Kommission Prüfkriterien anlegt, die neu bewertet werden müssen. Es geht dabei aber nicht um den Rettungsschirm, den die Regierung hier auf den Weg gebracht hat. Das will ich nur noch mal korrigieren. ({1}) Es geht jetzt mithilfe eines Konjunkturpakets darum, dass wir unsere Basis für Wirtschaft und eine solidarische Gesellschaft sichern. Die SPD hat Kompetenzen, diese wirtschaftliche Dynamik mit sozialer Gerechtigkeit und vor allen Dingen auch mit dem Schutz der Umwelt zu verbinden. Das jetzt notwendige Konjunkturpaket muss mehrere Aspekte miteinander verbinden. Deshalb geht es zunächst um die Stärkung der Nachfrage. Wie macht man das? Natürlich mit gut bezahlten Arbeitsplätzen, mit – am besten – tarifgebundenen Arbeitsplätzen, indem wir zum Beispiel mit einem Schutzpaket für die Arbeitsplätze oder ({2}) mit Kurzarbeitergeld für Kaufkraft sorgen, indem wir mit Soforthilfen für Liquidität in den Unternehmen sorgen und mit den Unternehmenskrediten die Arbeitsplätze sichern. Das sind wichtige Impulse, die dafür sorgen, dass die Leute Geld im Portemonnaie haben und konsumieren können. Das, was an Vorschlägen für den Mindestlohn hier von einer Fraktion kam – muss ich sagen –, hat mit sozialer Marktwirtschaft nichts zu tun; das ist unchristlich, unsozial und ökonomisch völlig unsinnig. ({3}) Was wir jetzt brauchen, ist natürlich auch eine Wertschätzung von Arbeit. Das, was wir hier mit der Bezeichnung „systemrelevant“ für den Bereich von Pflege und Gesundheit formuliert haben, muss auch Veränderungen verursachen bei den Arbeitsbedingungen, bei der Ausgestaltung von Arbeitsplätzen in dem Pflege- und Gesundheitsbereich. Aber natürlich sind auch Investitionen in Bildung – Stichwort: Fachkräftepotenzial – erforderlich. Gerade jetzt, wo der Transformationsprozess und der Wandel der Arbeitswelt positiv mit Qualifizierung unterstützt werden müssen, müssen wir in einem Konjunkturpaket entsprechende Maßnahmen verankern. Mit Blick auf die jetzige Situation von jungen Menschen, die einen Ausbildungsplatz suchen, muss die Wirtschaft alle Anstrengungen unternehmen; wir müssen mit einem Pakt für Ausbildung dafür sorgen, jungen Menschen eine Perspektive in der beruflichen Ausbildung zu organisieren. ({4}) Der zweite Punkt ist: Stärkung der Investitionstätigkeit, und zwar öffentlich wie auch privat. Diese Investitionen müssen natürlich auch Aspekte des Klimaschutzes, der Digitalisierung und der nachhaltigen Transformation in unserer Volkswirtschaft unterstützen. Da gibt es Bereiche wie zum Beispiel die Energiewirtschaft. Wir haben durch die Energiewende enorme Impulse an Investitionen, die auf dem Markt schon sichtbar sind. Wir haben mit dem Ausbau der Windenergie, mit Solarenergie, aber auch mit Speichern, mit Netzen, mit Digitalisierung in der Energiewende, mit Steuerung enormes Potenzial, hier Technologien zu entwickeln, die bei der Bewältigung des globalen Problems des Klimawandels helfen. Und deshalb brauchen wir Investitionszuschüsse, auch für Industrien, die im Wandel sind; auch die steuerliche Forschungsförderung kann ausgebaut werden. Wir brauchen bessere Abschreibungsbedingungen. Der Hochlauf von Wasserstoff zum Beispiel könnte mit einer guten Regulatorik organisiert werden, und auch niedrige Strompreise könnten im privaten, aber auch im wirtschaftlichen Bereich für Impulse sorgen. Was unsere Schlüsselindustrien angeht, brauchen wir natürlich intelligente Lösungen. Deshalb brauchen wir für einen Kernbereich der deutschen Industrie, die Automobilindustrie, sicherlich mehr als nur eine Abwrackprämie; vielmehr brauchen wir hier eine stabile Brücke für die Beschäftigten in diesem Bereich und Mobilitätskonzepte für das 21. Jahrhundert. ({5}) Was öffentliche Investitionen in die Infrastruktur angeht: Dazu gehören sicherlich 5G und Digitalisierung, aber auch die Voraussetzung, dass wir mit Glasfaser und einer europäischen Cloud-Infrastruktur für Impulse in der Industriepolitik sorgen. Neben Nachfrage, Investition und Transformation geht es der SPD vor allen Dingen auch um die Stärkung der sozialstaatlichen Struktur und der Daseinsvorsorge. Deshalb ist ein Programm für Kommunen absolut der richtige Weg; das sichert den sozialen Zusammenhalt und auch die ökonomische Basis. Und deshalb ist es richtig, dass in diesem Konjunkturprogramm auch Eltern und Kinder unterstützt werden und auch, wie gesagt, die kommunale Basis. Wir haben den Anspruch, dass keiner zurückbleibt. Gandhi hat mal gesagt: „Die Zukunft hängt davon ab, was wir heute tun.“ Deshalb: Arbeiten Sie mit an einem wirkungsvollen Konjunkturprogramm. Herzlichen Dank! Glück auf! ({6})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Klaus-Peter Willsch. ({0})

Klaus Peter Willsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003264, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Liebe Zuschauer an den Fernsehgeräten oder Zuhörer am Radio! Es ist gut, dass wir heute hier diese Debatte führen; denn sie zeigt, wie wir mit diesem Thema und dem richtigen Weg, damit umzugehen, ringen. Es hat natürlich niemand ein Patentrezept in der Tasche gehabt. Hinterher wird sicher Zeit sein, zu vergleichen, wie verschiedene Länder – Sie lesen über Schweden und das Vorgehen dort und über andere Länder – mit dem Thema umgegangen sind. Wir werden uns in der Phase der Nachbetrachtung sicher anschauen, mit welchen Maßnahmen verschiedene Länder der Pandemie begegnet sind und was daran klug war und was wir daraus für das nächste Mal lernen. Aber jetzt, in einer sich täglich ändernden Lage, kommt es darauf an, lagegerecht zu entscheiden und Schritt für Schritt zu versuchen, richtig vorzugehen. Wir wissen alle nicht genau, ob wir uns richtig verhalten; aber der epidemiologische Befund gibt uns zumindest nicht grob Unrecht, möchte ich sagen. Es geht Ihnen allen doch wahrscheinlich so wie mir. Wir haben am Montag in Hessen die allgemeine Coronaverordnung neu geregelt und die Regel für Kneipen, dass pro 5 Quadratmeter Fläche nur ein Gast erlaubt ist, aufgehoben. Der Mindestabstand von anderthalb Metern gilt natürlich immer noch. Da bekomme ich gleich viele Rückmeldungen. Die einen sagen: Endlich! – Die anderen sagen: Wie könnt ihr das riskieren? Jetzt ist es so gut gelaufen, und ihr riskiert alles! – Keiner weiß genau, was richtig ist; deshalb müssen wir uns herantasten. Das tun wir. Ich glaube, das macht unsere Regierung nicht schlecht. Wir als Parlamentarier tun unseren Teil dazu. Wir nehmen auf, was wir rückgemeldet bekommen; wir geben es weiter und versuchen, unsere Ideen in die nächste Phase der Hilfen für unsere Wirtschaft hineinzugeben. Vielleicht ein Gedanke zu Europa, da die Kommission heute etwas vorgelegt hat. Ich sage mal: Da ist noch ein bisschen Luft nach oben. Zu sagen: „Es gibt zwei widerstreitende Konzepte; ich packe beide zusammen, lege sie aufeinander“, scheint mir noch nicht der Weisheit letzter Schluss zu sein. Bei aller Notwendigkeit und Berechtigung des Rufs nach europäischer Solidarität: Wir sollten unser Licht nicht unter den Scheffel stellen. Wir leisten im Hinblick auf die Höhe der Zinsen sozusagen durch die Leihgabe unserer Bonität innerhalb des Euro-Systems einen riesigen Beitrag für viele der überschuldeten Staaten. Man darf sich nicht von falschen Argumenten oder der Vortäuschung falscher Tatsachen treiben lassen; denn – ich habe das schon an anderer Stelle gesagt – das Geschäftsmodell, zu sagen: „Ich gehe als Bauer durch die Straßen und verteile Geld, und dann sollen die Leute auf den Markt kommen und meine Kartoffeln kaufen“, ist kein nachhaltiges Geschäftsmodell. Das muss man in aller Bescheidenheit hier auch mal vortragen dürfen. ({0}) Zur Rettung der Lufthansa. Herr Theurer, wir hatten ja breite Übereinstimmung in fast allen Punkten. Ich habe mich gefreut über das leidenschaftliche Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft; das schreit geradezu nach engerer Zusammenarbeit. ({1}) Aber in einem Punkt lagen Sie nicht richtig. Wenn ich die bisher vorliegenden Informationen richtig gedeutet habe, dann hat der Aufsichtsrat der Lufthansa darauf verzichtet, eine Aktionärsversammlung einzuberufen und sich positiv zu dem Vorschlag zu äußern; denn er sagt: Da drohen noch Auflagen der EU. – Das ist aber unabhängig von der Höhe der Beteiligung; das hat ja nichts mit 10 oder 20 Prozent zu tun. ({2}) Das ist eine Frage davon, wie die Kommission mit uns umgeht. Da will ich auch mal sagen, wenn ich hier als Deutscher über die Deutsche Lufthansa rede: Nach gefühlt zehn Rettungen der Alitalia, die überhaupt kein funktionierendes Geschäftsmodell mehr hat, jetzt auf einmal zu hören, man müsse irgendwelche Slots neu verteilen, irritiert mich sehr. ({3}) Da erwarte ich von der Kommission und unserer Kommissionspräsidentin, dass sie auch mal daran denkt, wo sie herkommt. ({4}) Herr Kollege Post, uns allen sind die Kommunen lieb und teuer. Wir wohnen ja schließlich alle in Kommunen. Aber das, was Sie hier vorschlagen, ist halt ein bisschen einfach. Es gibt Bundesländer, zufälligerweise nur Bundesländer mit Finanzministern aus der Union, die sich gekümmert haben: Das ist Hessen, Hessenkasse; das ist das Saarland, der Saarlandplan, und das ist Bayern; ich weiß gerade nicht, wie es dort heißt. ({5}) Sie haben alle Kassenkredite bei den Kommunen abgelöst und haben sich um das gekümmert, was ihres Amtes ist. Nach unserer Kompetenzordnung in Deutschland gehören die Kommunen zu den Ländern. Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht, und jetzt sollen wir als Hessen für andere Länder mit bezahlen? Das werden wir so nicht erleben. Da erwarten wir gerechtere und richtigere Lösungen. Die Länder sind zuständig für ihre Kommunen und nicht der Bund. So weit meine kurzen Gedanken zu dem Ganzen. Zum Schluss noch eins. Wir können noch nicht, wie ich es mir ersehne, wieder auf Weinfesten und Kirmessen mit den Menschen tanzen. Da müssen wir noch ein bisschen vorsichtig sein. Aber eins sollten wir beherzigen. Ich wandle das jetzt ab und zitiere es – mit Genehmigung des Präsidenten – als Schlusswort, weil ich mir keinen Ordnungsruf einhandeln will.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Das wollte ich gerade sagen.

Klaus Peter Willsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003264, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, als Schlusswort. – Der Religionsstifter der Protestanten, Martin Luther, hat gesagt: Einem verzagten Hintern kann kein fröhlicher Furz entfahren. – Das sollten wir jeden Tag beherzigen; wir sollten ein bisschen optimistisch sein und positiv auf die Menschen zugehen. Das ist das Wichtigste, das wir für unsere Konjunktur tun können. Danke schön. ({0})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Also, dieses Zitat ist so alt, dass es nicht gerechtfertigt ist, dafür Ihre Redezeit um eine Minute zu überziehen. ({0}) Beim nächsten Mal ziehe ich Ihnen das ab. Wir machen weiter in der Debatte. Nächster Redner ist für die Fraktion der SPD der Kollege Bernhard Daldrup. ({1})

Bernhard Daldrup (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004258, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich sage mal ganz zu Anfang: Wenn man schon Luther zitiert, dann muss man wenigstens so viel Mut haben, deutsche Sprache auch zu reden. Von „Hintern“ hat er nicht gesprochen. – Egal. ({0}) Ebenso entschlossen, wie wir gegen die Ausbreitung der Coronapandemie tätig geworden sind, müssen wir jetzt auch geschlossen handeln, wenn es darum geht, Impulse für die wirtschaftliche Entwicklung auf allen staatlichen Ebenen zu setzen. Ich sage mal an dieser Stelle: Dazu braucht man neben all der Hilfen für Branchen, neben all der Hilfe für einzelne Berufsgruppen einen funktionierenden Staat. Man braucht dabei einen starken Staat, sonst wird das alles nicht gelingen. Wenn das eine solche Gemeinschaftsaufgabe ist, dann haben die Kommunen dabei eine ganz zentrale Rolle – darüber will ich gleich sprechen, Herr Willsch; Sie werden sich wundern –; denn 60 Prozent der öffentlichen Investitionen werden durch die Kommunen getätigt: in kommunale Einrichtungen, in Straßen, in Kitas und in soziale Einrichtungen. Im Übrigen sind die Kommunen der Ort des sozialen Zusammenhaltes in unserer Gesellschaft, Heimat im besten Sinne. Wenn wir das alles wieder organisieren wollen, ist Heimat, ist sozialer Zusammenhalt eine Produktivkraft in diesem Land, die wichtig ist. ({1}) Die Folgen der Coronapandemie gefährden die Kommunen unmittelbar: fast 16 Milliarden Euro weniger Steuern laut der Steuerschätzung, davon alleine 12 Milliarden Euro weniger Gewerbesteuern im Vergleich zum letzten Jahr. Die Folge: unmittelbare Betroffenheit bei den Kommunen. Der Vorschlag des Bundesfinanzministers Olaf Scholz, den Kommunen die Gewerbesteuerausfälle jeweils zur Hälfte mit den Ländern zu erstatten – einige machen das schon jetzt –, ist genau die richtige Antwort auf die Herausforderungen. ({2}) Es ist wirksam; es ist schnell umsetzbar; es ist nachvollziehbar. Es geht ohne Gängelung der kommunalen Selbstverwaltung. Es sichert kommunale Liquidität. Alles das, richtig, geht auf keinem anderen Weg schneller. Es ist also vernünftig. ({3}) Jetzt gibt es darüber hinaus eine ganze Reihe praktischer Vorschläge; heute sind auch welche genannt worden. Von den Ländern werden noch einige dazukommen. Ich persönlich begrüße auch sehr die Vorschläge unserer Bundesumweltministerin in ihrem eigenen Programm, weil sie viele zukunftsorientierte Projekte im Bereich des ÖPNV, der Wasserstoffstrategie und ähnlicher Dinge mehr beinhalten. Wir müssen uns auch darum kümmern, dass unsere Städte wieder lebendig werden, der Handel darin wieder lebendig wird usw. ({4}) In Verbindung mit diesen zukunftsweisenden Projekten ist der Vorschlag von Olaf Scholz zur Erstattung der Gewerbesteuerausfälle besonders überzeugend. Er ist, Herr Kollege Ulrich, nicht das Konjunkturprogramm, aber er ist ein wichtiger, zentraler Bestandteil des Programms. Wir haben das deshalb sehr intensiv mit der Wissenschaft diskutiert. Wir haben mit Professor Truger vom Sachverständigenrat darüber gesprochen, mit Professor Horn, mit Professor Junkernheinrich – er wird vielen von den Regionalanalysen ein Begriff sein – und selbstverständlich mit Professor Carsten Kühl, dem Direktor des Deutschen Instituts für Urbanistik. Alle diejenigen, die in der Wissenschaft tätig sind, halten genau diesen Weg für den richtigen. Und nicht nur die halten diesen Weg für richtig: auch der ZDH, selbstverständlich auch der Oberbürgermeister der Stadt Hamm, der Landesvorsitzender der KPV in NRW ist, also der Kommunalpolitischen Vereinigung der CDU und CSU, natürlich die Oberbürgermeister aus der SPD sowieso. Selbstverständlich ist das Bündnis „Raus aus den Schulden“, das 70 Kommunen in neun Bundesländern umfasst, uneingeschränkt für diesen Vorschlag, sowohl was die Gewerbesteuer als auch was die Frage angeht, was denn eigentlich mit der Altschuldenhilfe sein soll. Dazu gehören übrigens auch – das habe ich vergessen – Herr Landsberg vom Städte- und Gemeindebund und der Kollege Brändle von der CSU. Auch die alle halten das für vernünftig, Herr Brehm. Sie werden das noch mal bestätigen können; vielen Dank schon jetzt dafür. Also, warum sollten Bund und Land diesen Weg nicht beschreiten, zumal – ich will das an dieser Stelle betonen – alle, die ich hier zitiert habe, auch den zweiten Teil des Scholz-Vorschlages, nämlich die hälftige Übernahme der Kassenkredite von insgesamt 45 Milliarden Euro, ausdrücklich unterstützen? Es geht dabei nämlich gar nicht um neue Schulden; die Schulden sind ja schon da. Es geht darum, dass der Bund gemeinsam mit den Ländern den größten Teil dieser Schulden übernimmt und die Kommunen wieder handlungsfähig macht. Das ist der zentrale Punkt. Es geht überhaupt nicht darum, dass Länder, die nicht betroffen sind, die Schulden der Kommunen anderer Bundesländer übernehmen. Das sagt nicht nur Herr Söder bewusst falsch, sondern Sie, Herr Willsch, sagen es auch falsch, weil Sie es vielleicht nicht wissen. Darum geht es nicht. Es geht darum, dass derjenige, der sich verweigert, nichts davon hat, aber diejenigen, die es brauchen, dadurch nichts bekommen. Er schadet den anderen. Das ist der Punkt, um den es jetzt geht. Wir können sonst nämlich die Investitionsfähigkeit der Kommunen nicht ausweiten, weil die überschuldeten Kommunen das nicht können. Denn sie benötigen ihre Handlungsspielräume. Ich will an dieser Stelle auch mal sagen: Einige hier im Haus kommen aus Ländern, deren Kommunen die geringsten Schulden haben, die höchsten Rücklagen haben, obwohl sie geringe Gewerbesteuereinnahmen haben, und zwar deswegen, weil ihnen in den letzten drei Jahrzehnten solidarisch mit Milliardenbeträgen geholfen worden ist. Ich will das gerne konkretisieren. Aber mir geht es nicht darum, Gegensätze aufzubauen, sondern darum, Hürden zu überwinden. Das ist mein entscheidender Punkt. ({5}) Ich sage Ihnen an dieser Stelle noch mal ganz deutlich: Es geht auch nicht darum, es sozusagen verfassungsrechtlich einfach nur den Ländern zuzuschieben. Wir können das gerne machen; in Nordrhein-Westfalen will ich es gerne Herrn Laschet sagen, so wie Sie es früher immer bei Rot-Grün gemacht haben. Rot-Grün hat übrigens gehandelt. Als Erste hatten sie seinerzeit einen Schuldenpakt aufgelegt. Andere Länder machen es auch. Aber es ist eben nicht hinreichend. Wenn es eine gemeinschaftliche Aufgabe des Staates insgesamt ist, dann ist es auch Aufgabe des Bundes, bei der verfassungsrechtlichen Aufgabe zur Schaffung gleichwertiger Lebensbedingungen erst recht in der Folge der Bewältigung einer solchen Krise gemeinschaftlich zu helfen. ({6}) Ich kann nur davor warnen, sozusagen in Plattitüden zu verfallen und es den Kommunen zuzuschieben, als könnten sie mit dem Geld nicht umgehen. Sie wissen ganz genau, in welchen schwierigen Situationen sie gewesen sind. Ich kann das leider aus zeitlichen Gründen –

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Sie müssen zum Schluss kommen, Herr Kollege.

Bernhard Daldrup (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004258, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

– nicht mehr ausführen, will aber an dieser Stelle sagen: Wir müssen darauf achten, gemeinschaftlich den Verfassungsauftrag zur Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse zu erfüllen. Deswegen appelliere ich an alle, in den weiteren Beratungen den Kommunalen Solidarpakt 2020 des Bundesfinanzministers zu unterstützen. Wir jedenfalls stehen an der Seite der Kommunen. Herzlichen Dank. ({0})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Sebastian Brehm für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Sebastian Brehm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004682, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den nächsten Tagen und Wochen geht es darum, weitere notwendige Entscheidungen für den Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft und damit für den Erhalt von Millionen von Arbeitsplätzen zu treffen. Deshalb haben wir konzentriert in einem ersten Schritt Sofortmaßnahmen getroffen und umgesetzt. Wir werden auch noch weitere Sofortmaßnahmen treffen. Das ist gut und richtig. Das Wichtigste in der jetzigen Situation ist es, Liquidität für die Unternehmen zu sichern. Auch in der Zukunft ist es wichtig, Liquidität in den Unternehmen zu behalten. Deswegen reichen diese kurzfristigen Maßnahmen nicht aus. Wir brauchen auch langfristige Maßnahmen, um die deutsche Wirtschaft wettbewerbsfähig zu halten. Wir wollen das schaffen, indem wir es den Unternehmen ermöglichen, aus eigener Kraft wieder aus der Krise zu kommen. Aus steuerlicher Sicht spielt dabei die Möglichkeit der Ausweitung des steuerlichen Verlustrücktrags eine zentrale Rolle. Wir hatten das diese Woche auch bei der Sachverständigenanhörung zum Corona-Steuerhilfegesetz gehört. Unisono hat jeder gesagt: Der Verlustrücktrag ist einer der zentralen Punkte für die Stabilisierung und Sanierung der Wirtschaft. ({0}) Derzeit ist es so, dass nicht ausgeglichene Verluste bis zu einem Betrag von 1 Million Euro – oder bei Zusammenveranlagung 2 Millionen Euro – in das Vorjahr zurückgetragen werden können; der restverbleibende Verlust kann mit zukünftigen Gewinnen verrechnet werden, allerdings nur eingeschränkt. Mit der Einreichung der Steuererklärung 2020 im Jahr 2021 werden die Unternehmen das in Anspruch nehmen. Bloß kommt die Liquidität, die dann 2021 zurückkommt, wesentlich zu spät. Deshalb sollten wir die Möglichkeit der Verlustberücksichtigung schon heute, im Jahresabschluss 2019 – und die Jahresabschlüsse werden gerade gemacht –, ermöglichen. ({1}) Wir sollten die Verlustrücktragsmöglichkeit erweitern, nämlich auf die Verluste aufgrund von Corona. Die sind oft weitaus höher als 1 Million Euro oder 2 Millionen Euro; deswegen brauchen wir die Erweiterung. Natürlich kommt es zu Steuermindereinnahmen durch den Verlustrücktrag, ganz klar. Aber es kommt ja so oder so zu Steuermindereinnahmen, spätestens im Jahr 2021, wenn die Steuererklärung eingereicht ist. Also: Je früher man den Verlust berücksichtigt, desto eher kommt dann die Möglichkeit, Gewinne zu erwirtschaften, sodass man auch wieder Steuern zahlen kann. Deswegen ist es notwendig und richtig, diesen Schritt zu machen. ({2}) Der Vorteil dieses Verlustrücktrags ist erstens, dass wir heute die Liquidität haben. Aus eigener Kraft haben die Unternehmen die Liquidität. Zweitens. Es ist europarechtlich überhaupt keine Fragestellung, weil es gesetzlich möglich ist. Drittens – das habe ich schon gesagt –: Aus eigener Kraft werden die Unternehmen saniert. Viertens. Es ist ganz einfach umzusetzen, weil wir die gesetzlichen Maßgaben schon im Steuergesetz haben. Wir müssen sie bloß um die Beträge erweitern, und dann ist es ruckzuck erledigt. Deswegen: Wir haben ja eine pauschalierte Verlustrücktragsmöglichkeit – die ist ja auf dem Verwaltungswege ermöglicht worden –; die ist aber zu kurz gesprungen. Wir brauchen die Ausweitung des Rücktrags von Verlusten aufgrund von Corona. ({3}) Zweitens. Wir brauchen natürlich – weil ich den Kollegen Güntzler sehe; wir reden ja die ganze Zeit darüber – eine Modernisierung des Unternehmensteuerrechts. Dringend brauchen wir diese. Wir sind im OECD-Vergleich eines der Länder mit der höchsten Unternehmensteuerbelastung. Deswegen kann ich immer wieder nur sagen: Wir fordern eine Grenze für die maximale Belastung für Gewinne, die im Unternehmen verbleiben, also nicht an den Unternehmer ausgezahlt werden – die bleiben im Spitzensteuersatz –, und zwar bis maximal 25 Prozent. Das sind marktwirtschaftliche Möglichkeiten. Das ist soziale Marktwirtschaft. Denn da besteht nämlich dann Liquidität in den Unternehmen, da kann man investieren in Digitalisierung, übrigens aber auch zum Beispiel in Dinge von ökologischem Wert. Deswegen brauchen wir die Modernisierung der Unternehmensbesteuerung. ({4}) Drittens. Wir brauchen – der Bundesminister hat es angesprochen – ein Belastungsmoratorium. Wir müssen alle Dinge verschieben, die Unternehmen belasten. Zum 1. Juli wäre die Anzeigepflicht für grenzüberschreitende Steuergestaltungsmodelle eingeführt worden. Das müssen wir verschieben, mindestens um ein Jahr. Zum 1. Oktober wären die neuen Kassensysteme eingeführt worden. Das müssen wir verschieben, um mindestens ein Jahr. Ich glaube, die ganze Industrie oder auch der Einzelhandel oder die Gastronomie haben jetzt andere Sorgen, als sich eine neue Kasse zu kaufen, ({5}) übrigens auch nicht die nötige Liquidität. Viertens. Wir brauchen auch eine Rücknahme von Belastungen an den Stellen, wo die Wirtschaft geholfen hat. Die Wirtschaft hat damals im Zusammenhang mit der Vorfälligkeit der Sozialversicherungsbeiträge geholfen. Deswegen kann ich heute auch sagen: Die Rücknahme der Vorfälligkeit der Sozialversicherungsbeiträge wäre jetzt ein wichtiger Schritt, um Liquidität zu bekommen. ({6}) Wenn wir dies alles umsetzen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dann haben wir die Chance, dass der deutsche Mittelstand und die deutsche Industrie gestärkt aus dieser Krise hervorgehen. Deswegen werbe ich heute darum, dass wir diese Schritte machen, um den Unternehmen die Möglichkeit zu geben, aus eigener Kraft wieder aus der Krise herauszukommen. Herzlichen Dank. ({7})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde ist der Kollege Markus Uhl für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Markus Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004645, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich zum Schluss dieser Debatte die angesprochenen Punkte auch noch einmal aus Sicht eines Haushälters beleuchten. Die Coronapandemie stellt unser Land, Europa und die Welt sicherlich vor die größte Herausforderung, die wir seit dem Zweiten Weltkrieg erleben müssen. Wir sind bislang besser als andere durch diese Krise gekommen. Mit konsequentem Handeln auf allen staatlichen Ebenen, mit enormen finanziellen Aufwendungen und mit dem großen Einsatz vieler Einzelner konnte die weitere Verbreitung des Virus eingedämmt und eine Überlastung unseres Gesundheitssystems verhindert werden. Dabei waren die getroffenen Maßnahmen weit weniger einschneidend als zum Beispiel in China, Italien oder auch Frankreich. Deshalb will ich an dieser Stelle noch einmal meinen großen Dank und meine Anerkennung gegenüber denjenigen ausdrücken, die unser Land in dieser schwierigen Zeit am Laufen gehalten haben und zum Teil auch über sich hinausgewachsen sind. ({0}) Ihren Anteil an dieser positiven Entwicklung haben natürlich auch die Unternehmerinnen und Unternehmer in unserem Land, die Verantwortung für ihre Beschäftigten übernommen haben und übernehmen und alles dafür tun, die Arbeitsplätze zu erhalten. Wir, der Bund und die Länder, konnten mit Soforthilfen, Schnellkrediten, Bürgschaften und dem Wirtschaftsstabilisierungsfonds einen Schutzschirm für Unternehmer und für Selbstständige mit einem Gesamtvolumen von mehr als 1,8 Billionen Euro aufspannen. Aktuell sind zum Beispiel mehr als 12,6 Milliarden Euro an Soforthilfen für kleine Unternehmer und Solo-Selbstständige bewilligt. Bei den Steuern wurden mittlerweile Stundungen, Erstattungen, Herabsetzungen von Vorauszahlungen in einer Höhe von insgesamt fast 30 Milliarden Euro gewährt. Diese Programme sind ein großer Kraftakt, aber zugleich ein notwendiger, wenn auch nur erster wichtiger Schritt, um Arbeitsplätze zu sichern und Liquidität in den Unternehmen zu halten. Wir können uns das nur deshalb in dieser Dimension leisten, weil wir unseren Haushalt in den letzten Jahren seriös und generationengerecht geführt haben. ({1}) Sechs Jahre in Folge hatten wir einen ausgeglichenen Haushalt mit einer schwarzen Null. Diese Jahre gingen einher mit Wirtschaftswachstum, steigenden Löhnen und niedriger Arbeitslosigkeit. Meine Damen und Herren, jetzt richten wir den Blick nach vorne. Ja, wir brauchen zur weiteren Erholung unserer Wirtschaft ein Konjunktur- und Innovationspaket, und das wird auch weiteres Geld erfordern. Dabei geht es um Nachhaltigkeit, Nachhaltigkeit nicht nur in einer ökologischen Dimension, sondern auch im Sinne der Generationengerechtigkeit. Ralph Brinkhaus hat recht, wenn er an dieser Stelle einen Kassensturz fordert. Die Frage, die wir uns auch stellen müssen, ist: Welche Gesamtverschuldung wollen wir denn in Kauf nehmen? Zuletzt hatten wir es geschafft, die staatliche Verschuldungsquote bei 59 Prozent des BIP zu halten. Die Frage, die wir uns nun stellen müssen, ist: Welche Verschuldung wollen wir den kommenden Generationen zumuten? Darüber müssen wir auch die Debatte führen. ({2}) Wir wissen heute schon, meine Damen und Herren, dass weitere Mittel natürlich hilfreich und sinnvoll sind – für Europa, aber auch zur Kompensation der Steuerausfälle und dafür, dass die Sozialausgaben im Rahmen bleiben. Klar ist aber auch: Eine außergewöhnliche Krise braucht außergewöhnliche Maßnahmen zu ihrer Bewältigung. Auf Dauer können wir diese Ausgabenpolitik daher nicht durchhalten. Wir kommen aus den Schulden nur dann wieder heraus, wenn unsere Wirtschaft wieder voll in Schwung kommt und wenn wir Wachstum haben, meine Damen und Herren. ({3}) Deshalb müssen wir bei den nun anstehenden Programmen die richtigen Prioritäten setzen und vernünftig mit den Geldern umgehen. Dazu zählen Punkte, die teilweise schon angesprochen wurden: der Verlustvortrag, ein Digitalisierungsschub mit einem massiven Ausbau von digitaler Infrastruktur für unsere Wirtschaft, unsere Gesellschaft, insbesondere in der öffentlichen Verwaltung, ein Belastungsmoratorium für die Wirtschaft, also keine zusätzliche Bürokratie, keine neuen Melde- und Dokumentationspflichten und keine neuen finanziellen Belastungen. Dazu zählt aber auch die weitere Planungsbeschleunigung und ‑erleichterung sowie die Beschleunigung von Genehmigungen durch Digitalisierung. Da haben wir schon etwas gemacht. Ich glaube, es stünde uns gut an, das über das Ende der Pandemie hinaus fortzuführen. ({4}) Dazu gehören letztlich auch Investitionen in Bildung und in Forschung und natürlich in die Innovationsfähigkeit unserer Wirtschaft. Peter Altmaier hat recht: Wir müssen jetzt insbesondere den Branchen helfen, die von dieser Pandemie und den Einschränkungen hart getroffen sind und bisher nur eingeschränkt ihrem Geschäft nachgehen können. Deshalb brauchen wir auch die Überbrückungshilfen, die er angesprochen hat. Meine Damen und Herren, zum Schluss will ich aber auch noch etwas zur Situation der Kommunen sagen. Die Kommunen haben in dieser Pandemiezeit Herausragendes geleistet.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das müssen Sie bitte in Ihren letzten Satz packen. Sie sind über der Zeit.

Markus Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004645, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich glaube, dass die Länder ihre verfassungsgemäßen Aufgaben machen müssen. Das haben noch nicht alle getan; ich schaue da auch nach Rheinland-Pfalz. Wenn die Länder ihre Hausaufgaben gemacht haben, dann sollten wir auch als Bund die Kommunen nicht alleinelassen. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Aktuelle Stunde ist beendet.

Aydan Özoğuz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004124, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen heute abschließend über die Fortführung der Beteiligung unserer Bundeswehr an dem EU-Mandat EU NAVFOR Somalia Operation Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie vor der Küste Somalias. Ich denke, wir sind uns hier im Hause in einem relativ breiten Bündnis einig, dass mit diesem Mandat, das ja vor nunmehr zwölf Jahren begann, erfolgreich der Seeweg am Horn von Afrika insbesondere für Schiffe des Welternährungsprogramms und für Handelsschiffe vor Piraterie geschützt wird. Dabei geht es beispielsweise um die Lieferung von 2 Millionen Tonnen Nahrungsmitteln seit Beginn des Einsatzes. Aktuell sind 5,2 Millionen Menschen in Somalia auf humanitäre Hilfe angewiesen. Das sind rund 40 Prozent der Bevölkerung. Wie so oft, wenn humanitäre Hilfe gebraucht wird, können Sie nicht warten, bis die Region eines Tages befriedet oder stabilisiert ist. Im Auswärtigen Ausschuss wurde uns noch einmal sehr deutlich vor Augen geführt, wie verheerend die Auswirkungen der Heuschreckenplage sind. Sie hat ein dramatisches Ausmaß und zerstört zusätzlich die Ernten. Dagegen spielt die Ausbreitung des Coronavirus bisher eine untergeordnete Rolle. Aber gerade durch Corona mehren sich die Warnungen vor einer akuten Hungerkrise, da durch die Importbeschränkungen die Lebensmittelpreise in die Höhe getrieben werden. Die Operation Atalanta hat innerhalb des letzten Jahrzehnts die Piraterie vor der somalischen Küste deutlich reduziert. Das kann man auch an unseren Reden nachvollziehen, die hier in den letzten Jahren gehalten wurden. Diesen Erfolg jetzt als Argument zu nehmen, dass man den Einsatz dort nicht mehr braucht, kann ich, ehrlich gesagt, überhaupt nicht verstehen; denn genau diese Sicherheit wird dort jetzt gebraucht – für die Nahrungsmittel, für die Schiffe, für das Welternährungsprogramm und für die Handelsschiffe. ({0}) Es sind deutsche Soldatinnen und Soldaten, die als Teil des EU-Einsatzes Atalanta zur Sicherheit und Stabilität am Horn von Afrika beitragen. Dafür gebührt ihnen unser aller ausdrücklicher Dank. ({1}) Niemand kann sagen, dass die Gefahr dort gebannt sei. Auf dem afrikanischen Kontinent kann sich die Pandemie durch eine sehr unheilvolle Kombination aus schwachen Gesundheitssystemen, schlechten sanitären bzw. hygienischen Bedingungen, dicht besiedelten Städten, ganz besonders in Somalias Flüchtlingslagern, schnell zu einer humanitären Katastrophe ausweiten. Wir wissen, dass das Land sich seit drei Jahrzehnten im Ausnahmezustand befindet. Es herrscht Bürgerkrieg seit 1991. Zum einen kämpfen Clans um die Macht im Land, zum anderen werden Friedensverhandlungen immer wieder von bewaffneten Gruppen boykottiert, die von der instabilen Lage profitieren, weil sie ihnen ermöglicht, ungestört illegale Geschäfte zu betreiben. Dazu gehören eben auch Piraterie und Erpressung, und das machen wir ihnen mehr oder weniger unmöglich durch unseren Einsatz. Um langfristig das Ziel eines stabilen Staats zu erreichen, unterstützt die Bundesregierung auch den Aufbau eines funktionierenden somalischen Sicherheitsapparates. Im Bereich der Landwirtschaft schafft das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung strukturelle Verbesserungen, die langfristig durch gesteigerte Produktivität und Ausbildungseinrichtungen eine Perspektive aus der humanitären Notlage bieten sollen. Insgesamt konnten mithilfe der deutschen Beteiligung 2019 humanitäre Hilfsmaßnahmen im Umfang von rund 76 Millionen Euro umgesetzt werden. Somalia zählt also weiterhin zu einem der größten Krisengebiete weltweit. Mit der Beteiligung Deutschlands an der Operation Atalanta helfen wir in einer schlimmen humanitären Katastrophe und tragen zur Stabilisierung der Region bei. Ich bitte Sie daher um Unterstützung für dieses Mandat. Vielen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Armin-Paul Hampel für die AfD-Fraktion. ({0})

Armin Paulus Hampel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004735, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Besucher – nicht im Deutschen Bundestag, sondern an den Bildschirmen und Rundfunkgeräten zu Hause! ({0}) Horst Köhler sprach im März 2010 die wegweisenden Worte, dass „ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege“. Dafür, meine Damen und Herren, musste damals ein deutscher Bundespräsident zurücktreten, und ich kann mich nicht erinnern, dass er aus den Reihen der heutigen Koalition massive Unterstützung bekommen hat, er möge doch in seinem Amt bleiben. Andere munkeln – das sind Gerüchte –, es hätte auch andere Gründe für seinen Rücktritt gegeben. Doch das ist, wie es so schön heißt, eine andere Geschichte. Wie lange haben sich eigentlich Christ- und Sozialdemokraten in dieser Republik davor gedrückt, Horst Köhlers Einschätzung als realpolitische Notwendigkeit zu übernehmen? ({1}) Es hat lange gedauert. Jetzt heißt die Überschrift zu Atalanta – erinnern Sie sich an die Worte von Herrn Köhler –: „Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der durch die Europäische Union geführten EU NAVFOR Somalia Operation ATALANTA zur Bekämpfung der Piraterie vor der Küste Somalias“. ({2}) – Wenn Sie kein Englisch können, kann ich Ihnen das gerne übersetzen, Frau Kollegin. ({3}) Sie setzen also Waffengewalt außerhalb des NATO-Bündnisses ein, um deutsche Interessen zu schützen. Das ehemalige Feigenblatt „Welternährungsprogramm“ taucht übrigens in der Überschrift gar nicht mehr auf. Es muss aber doch erlaubt sein, meine Damen und Herren, zu fragen, warum es so lange dauern musste, bis die Worte Horst Köhlers in die Wirklichkeit umgesetzt worden sind. Und auch das ist nur zum Teil der Fall gewesen. Was wir in der bisherigen Operation vor Somalia erlebt haben, war, dass andere Nationen in der Tat robust ihre Interessen vertreten haben, dass Deutschland immer da war, wo möglichst nichts passieren konnte. Ich habe von Staatssekretär Tauber gelernt, dass wir auch einmal kräftig in die Luft geschossen haben. Das ist ja ein eindrucksvoller Akt gewesen. Ansonsten aber weiß ich, dass es eine andere Operation gibt, nämlich die der „coalition of the willing“, neben den Amerikanern unter anderem die Inder, die einmal in der Tat massiv Waffen eingesetzt haben – das sehr robust, zugegeben; es gab auch Tote. Danach – zu Ihrer Information – ist nicht ein einziges Schiff mehr in irgendeine Bedrängnis vor der Küste Somalias gekommen. Das ist robuste Durchsetzung der nationalen Interessen, in diesem Falle von Indien. ({4}) Hier stellt sich jetzt die Frage, nachdem wir feststellen, dass es kaum noch Piraterie an der somalischen Küste gibt, warum wir nicht jetzt schon vorausschauend eine Koalition der Willigen finden, die sich dort, wo sich neues Unheil anbahnt, frühzeitig positioniert, nämlich vor der Küste von Guinea. Das wissen wir alle: Die nächste Piraterie, die nächste Krise findet dort statt. Sie ist schon viel stärker als vor der Küste Somalias. Auch das tun wir nicht, sondern auch da sind wir wieder die Letzten, die möglicherweise in einen solchen Einsatz kommen. Bei uns in Deutschland und bei der deutschen Bundesregierung geht das immer nach der „Ach, nicht! Doch! Doch!“-Definition. Wir sind erst einmal dabei, aber, wenn es ernst wird, lieber doch nicht so richtig. Meine Damen und Herren, ich kann Ihnen sagen: Wenn wir einer solchen Operation zustimmen sollten, dann muss sie ein robustes Mandat haben, sie muss auf Erfolg orientiert sein, und sie muss die Durchsetzung der deutschen Interessen vor Ort zum Ziel haben. Nichts anderes ist für eine solche Operation außerhalb des NATO-Gebietes gerechtfertigt, meine Damen und Herren. Danke schön. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Thomas Erndl das Wort. ({0})

Thomas Erndl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004709, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Werte Soldatinnen und Soldaten, die die Debatte verfolgen! Ich glaube, die humanitäre Hilfe ist kein Feigenblatt, Herr Kollege, sondern ein zentrales Element dieser Mission, weil Dürren, Überschwemmungen, Hungerkatastrophen über Jahre das Bild Ostafrikas prägen und seit Monaten auch die Heuschreckenschwärme mit dazukommen, die die Lebensgrundlage von Millionen von Menschen in dieser Region bedrohen. Allein wegen der Heuschreckenplage droht laut Vereinten Nationen mehr als 25 Millionen Menschen eine Hungersnot. Hinzu kommt natürlich seit einigen Monaten die Coronaviruspandemie, die bereits jetzt die wirtschaftlichen Probleme und die Herausforderungen in Ostafrika verstärkt. Mit Blick auf Somalia – die Kollegin Özoğuz hat es bereits angesprochen – ist ein Drittel der Bevölkerung auf Unterstützung, auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen, über 5 Millionen Menschen. Viele Somalier leben sprichwörtlich von der Hand in den Mund und sind auf Hilfslieferungen des Welternährungsprogramms angewiesen, wie im Übrigen auch viele Kinder. Schulen sind momentan geschlossen und werden trotzdem über entsprechende Programme des Welternährungsprogramms versorgt. Was hat das alles mit der Bundeswehrmission zu tun? Na ja, auch die Lieferungen des Welternährungsprogramms sind auf sichere Lieferwege angewiesen, und die stellt die Mission sicher. Seit Beginn der Operation 2008 fanden bereits über 1 400 Schiffstransporte ohne Zwischenfälle statt, und jährlich werden 2 Millionen Tonnen Nahrungsmittel in die Region geliefert. Diese humanitären Hilfslieferungen sind unverzichtbar und werden auch in den kommenden Monaten umso wichtiger werden. Deswegen ist es wichtig, dass wir sichere Transportwege weiter sicherstellen. Die Antipirateriemission am Horn von Afrika ist deshalb weiter erforderlich, weil die Sicherheitslage in Ostafrika, vor allem in Somalia, weiterhin fragil ist. Auch wenn es nur sehr wenige Angriffe sind, so muss man feststellen, dass die kriminellen Netzwerke weiterhin bestehen und dass es Menschen gibt, die vielleicht verzweifelt sind und sich aufgrund der wirtschaftlichen Bedingungen, vor allem wegen der Coronakrise, der Piraterie zuwenden könnten. Die EU-Mission Atalanta ist erfolgreich, weil sie eben diese Piraterie unprofitabel macht, weil sie eine abschreckende Wirkung hat. Dazu leisten unsere deutschen Soldatinnen und Soldaten einen wichtigen und vor allem unverzichtbaren Beitrag. Im Namen der Kolleginnen und Kollegen herzlichen Dank den Soldatinnen und Soldaten für diesen Einsatz. ({0}) Diese Mission der Europäischen Union ist von der wirtschaftlichen Seite her von fundamentaler Relevanz für Deutschland und die Europäische Union als Exportregion. Die Frage sicherer Handelswege ist ganz klar im Weißbuch der Bundeswehr verankert. Insofern gibt es überhaupt keinen Dissens und keine Diskussion. Die gesamte Passage am Horn von Afrika durch das Rote Meer ist eine Haupthandelsroute zwischen Europa, der Arabischen Halbinsel und Asien mit jährlich über 1 Milliarde Tonnen Waren, die über die Passage transportiert werden. Das sind knapp 10 Prozent des Welthandels. Sichere Transport- und Seewege sind für unsere Wirtschaft und unsere Versorgungssicherheit elementar. Deswegen haben wir ein berechtigtes Interesse. Wenn wir das als Europäische Union wahrnehmen wollen, dann bedeutet es, dass die Europäische Union diese Aufgabe nur übernehmen kann, nur dafür einstehen kann, wenn viele mitarbeiten und viele einen Beitrag leisten. Wenn wir für Multilateralismus einstehen, dann bedeutet das, dass auch wir unseren Beitrag leisten und diesen Beitrag bei dieser Mission auch in Zukunft leisten wollen. Deswegen bitte ich sehr herzlich um Zustimmung zur Verlängerung dieses Mandates. Herzlichen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Ulrich Lechte für die FDP-Fraktion. ({0})

Ulrich Lechte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004799, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Zuschauer an den Fernsehern! Seit 2008 gibt es die EU-Mission Atlanta, und wir können einige Erfolge vorweisen. Aktuell haben wir das Piraterieproblem am Horn von Afrika sehr gut im Griff, aber die Piraten weichen auf andere – in Anführungszeichen – „Geschäftsfelder“ der organisierten Kriminalität aus. Dazu zählen Waffen- und Drogenschmuggel sowie Menschenhandel. Das hat die Bundesregierung zwar erkannt, aber leider wurden noch keine Konsequenzen daraus gezogen. Sie sagen lediglich, dass eine mögliche Anpassung der Sekundäraufgaben geprüft werde. Sie von der Regierungsbank schieben diese Prüfung hoffentlich nicht wieder auf die lange Bank. Detailfragen beim Atalanta-Mandat sind aber nur ein verhältnismäßig kleines Problem im Vergleich zu den Maßnahmen, die im Sinne des vernetzten Ansatzes damit einhergehen müssten, bei denen wir aber viel zu wenig aktiv sind. Uns dürfte allen klar sein, dass man Piraterie nachhaltig nicht auf hoher See, sondern an Land bekämpfen müsste; denn Piraten finden Rückzugsräume in fragilen Staaten, in denen ihnen keine Strafverfolgung droht. An dieser Stelle sind die Mission der Afrikanischen Union, AMISOM, und die zivile EU-Mission EUCAP Somalia zur Stabilisierung des Landes unterstützend tätig. Seit November 2019 ist Deutschland in der Mission auch wieder mit einer Polizeibeamtin vertreten, einer einzigen Polizeibeamtin, der ich an dieser Stelle herzlich für ihren Dienst danken möchte. ({0}) Aber, ich denke, ein Land wie Deutschland könnte da ein bisschen mehr tun. Unser Engagement auf See und unser Engagement an Land stehen definitiv in keinem angemessenen Verhältnis. ({1}) Das Gleiche gilt für die humanitäre Hilfe für Somalia. Auch hier liegt unser Beitrag weit unter unseren Möglichkeiten und dem tatsächlichen Bedarf. Eine biblische Heuschreckenplage, der Covid-19-Ausbruch und jetzt auch noch Überschwemmungen verschlimmern die humanitäre Krise. Schon heute sind 5,2 Millionen Menschen in Somalia auf humanitäre Hilfe angewiesen. Die Vereinten Nationen beziffern den humanitären Bedarf in diesem Jahr mit 1 Milliarde US-Dollar. Das bedeutet Leid und Not in der Zivilbevölkerung ungeahnten Ausmaßes, das man sich in Deutschland nicht vorstellen kann; das muss bei uns niemand so erleiden. Wir beschließen heute unsere Beteiligung an der Marinemission Atalanta für ein weiteres Jahr und bewilligen ein Budget in Höhe von 35,5 Millionen Euro. Das ist richtig, und dem stimmen wir als FDP auch zu. Aber eine wesentliche Aufgabe der Mission ist der Schutz der Seetransporte des Welternährungsprogrammes der Vereinten Nationen, WFP. Ebendiesem WFP haben wir für das aktuelle Jahr lediglich Gelder in Höhe von 22,5 Millionen Euro für Somalia zugesagt. Das ist weder angemessen noch verhältnismäßig. ({2}) Wenn unsere Bundeswehr schon gemeinsam mit unseren Partnern für die Sicherheit der humanitären Hilfslieferungen sorgt, dann sollten wir diese Sicherheit auch nutzen und uns stärker an der humanitären Hilfe für Somalia im Rahmen eines vernetzten Ansatzes beteiligen. Nur so können wir den Menschen helfen und nachhaltig für Frieden und Stabilität in dieser Region sorgen. Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Tobias Pflüger für die Fraktion Die Linke. ({0})

Tobias Pflüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004852, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erneut bekommen wir von der Bundesregierung die Verlängerung eines Bundeswehreinsatzes vorgelegt. Atalanta, die Mission, die offiziell Piraten am Horn von Afrika bekämpfen soll, soll für ein weiteres Jahr verlängert werden. Allerdings ist es so, dass es inzwischen kaum mehr Piratenangriffe gibt, wie die EU-Mission selber angibt. Trotzdem wollen Sie die Bundeswehr weiterhin dort hinschicken. Wir halten das für falsch. ({0}) Dafür gibt es aber eine Menge anderer Probleme an Land in Somalia. Im Antrag der Bundesregierung ist davon überhaupt nicht die Rede. Wir haben als Linke schon immer erklärt und kritisiert, dass dieser Einsatz nur die Symptome bekämpft, aber nicht an die Ursachen herangeht. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt eine ganze Reihe von Problemen, die sich gerade in Somalia auftürmen. Die Covid-19-Pandemie geht auch an Somalia nicht vorbei; insbesondere die 2,6 Millionen Binnenflüchtlinge sind hier besonders gefährdet. Hinzu kommen die schon genannte Heuschreckenplage und Überschwemmungen. Das Gesundheitssystem, wenn man es überhaupt so nennen kann, des Landes ist am Boden. Mehr als 5 Millionen Menschen waren schon vor Corona auf humanitäre Hilfe angewiesen. Der Bürgerkrieg an Land dauert an. Hilfsorganisationen warnen vor einer Katastrophe, wenn die ärmsten Länder im Kampf gegen Corona nicht unterstützt werden. Das ist es, was Somalia heute braucht: Hilfe, und keine Militäreinsätze ({2}) und schon gar keine Militäreinsätze auf hoher See, bei der die Soldaten auch an Land bis zu 2 Kilometer ins Landesinnere vorrücken dürfen; bis heute völlig unlogisch. Die Atalanta-Mission hat immer großartig damit geworben, dass sie auch Frachter des Welternährungsprogramms schützt. Das stimmt aber so gar nicht mehr. Weil kein Sicherungsteam zur Verfügung stand, so heißt es in der Begründung, hat seit dem 11. Mai ein privates Sicherheitsteam diese Aufgabe übernommen. Also erzählen Sie das mit dem Welternährungsprogramm nicht ständig. ({3}) Von wegen Welternährung! Ihnen geht es doch nur darum, deutsche Wirtschaftsinteressen auch militärisch abzusichern. Vor einem Jahr hat es ein Kollege in der Debatte sehr offen gesagt: Wir sind Exportweltmeister, wir sind eine Exportnation, und wir haben deshalb ein hohes Interesse an sicheren Handelswegen. ({4}) Darum geht es offensichtlich bei diesem Einsatz. Wir Linke haben einen Antrag vorgelegt und sagen: Es braucht keine Auslandseinsätze, ({5}) und es braucht keine neuen Rüstungsprojekte, sondern wir müssen mehr in die Gesundheit investieren. – Das wäre richtig. ({6}) Ich bin immer wieder erstaunt, dass die Bundesregierung, aber auch die FDP – von der so viel dazwischengerufen wird – immer wieder nicht bereit sind, bei den Militärausgaben zu kürzen. Wir werden noch einiges an Ausgaben erleben, die insbesondere nach Corona notwendig sein werden: Nachtragshaushalte, Hilfskredite, Kurzarbeitergeld. Gehen Sie endlich an die Militärausgaben! ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir halten diesen Einsatz für falsch. Wir Linke werden ihn ablehnen. Vielen Dank. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun Dr. Tobias Lindner das Wort. ({0})

Dr. Tobias Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004217, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor sich hier weiter durch Zwischenrufe über Koalitionsoptionen ausgetauscht wird, lassen Sie mich zum Thema dieses Mandats kommen, nämlich zur Ernährungssituation in Ostafrika. Ich glaube, wir müssen leider feststellen, dass diese allein durch Corona schon nicht besser geworden ist. Aber – das ist hier mehrfach an diesem Pult in dieser Debatte angesprochen worden –: Corona führt natürlich auch dazu, dass viele Krisen und Tragödien unter dem medialen Radar verschwinden. Die Heuschreckenplage in Ostafrika ist angesprochen worden. Länder wie Kenia haben seit 70 Jahren eine solche Plage nicht mehr erlebt, und sie führt dazu, dass für 25 Millionen Menschen im Osten Afrikas die Ernährungssituation mehr als kritisch ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen, in einer solchen Situation ist es, glaube ich, der Mühe wert, mit dem Bundesaußenminister darüber zu streiten, ob wir genug an humanitärer Hilfe leisten, ob wir alles tun, was wir können, ob wir das Welternährungsprogramm stärker unterstützen müssen. Ich finde, über eines können wir nicht streiten – das will ich ganz deutlich sagen –: Wenn wir Hilfe leisten wollen, wenn wir Schiffe mit Nahrungsmitteln und Hilfsgütern nach Ostafrika, nach Somalia schicken wollen, dann muss der Zugang auf dem Seeweg möglich sein, und dann braucht es am Ende des Tages auch die Schiffe von Atalanta, um die Schiffe des Welternährungsprogramms zu schützen und zu sichern, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Es ist, Herr Kollege Hampel, schon ein deutlicher Ausdruck davon, welch zynischer Geist in Ihrer Fraktion herrscht, ({1}) wenn Sie das Welternährungsprogramm in dieser Debatte als ein Feigenblatt betiteln. Das zeigt, was für ein Menschenbild Sie haben. ({2}) Ich will aber an dieser Stelle auch eines ganz deutlich sagen: Wenn wir heute darüber reden, dass die Mission Atalanta leider immer noch notwendig ist, dann zeigt das natürlich schon, dass sie an die Symptome, aber nicht an die Ursachen der schwierigen humanitären Situation in Ostafrika rangeht. Ich glaube, da kann man nicht einfach nur achselzuckend zusehen und so tun, als könnte sich daran nichts ändern. Da erwarte ich von unserer Bundesregierung, da erwarte ich auch von der Europäischen Union, dass an dieser Stelle mehr Druck gemacht wird, dass mehr Eigeninitiativen kommen. Denn ich will hier in diesem Bundestag den Tag noch erleben, an dem wir alle sagen können: Die Mission Atalanta ist erfüllt, weil die Gründe für die humanitäre Krise in Ostafrika beseitigt worden sind, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Ein letzter Punkt. Ich finde, wenn dieses Mandat eine Schwäche hat, dann ist es die Landoption, die es ermöglichen würde, 2 Kilometer an Land zu operieren, die ein einziges Mal gezogen worden ist. Diese Option birgt mehr Risiken, als sie tatsächlichen Nutzen für die Sicherheit des Welternährungsprogramms und für dieses Mandat hat. Sie wären gut beraten gewesen, diese Option aus dem Mandat herauszustreichen. Herzlichen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Siemtje Möller für die SPD-Fraktion. ({0})

Siemtje Möller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004826, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Bundeswehreinsatz am Horn von Afrika begründet sich aus, wenn man so will, zwei Argumentationssträngen: Erstens. Die Freiheit der Seewege ist im Seerechtsübereinkommen von 1982 schriftlich festgehalten. Natürlich kann und muss die internationale Gemeinschaft auch diesen Bereich des Völkerrechts durchsetzen und allgemeinverbindlich halten, weil es am Ende uns allen dient. Ich sage das deshalb, weil es auch einem Interesse dient, das die Weltgemeinschaft teilt. Ja, auch wir als Bundesrepublik Deutschland haben ein Interesse daran, Handel und freie Seewege zu erhalten und nutzbar zu halten. Im 21. Jahrhundert sind Warenströme und Handelswege weltweit verknüpft. Wir alle, ob als Konsumentin oder Konsument, als Arbeitnehmerin oder Arbeitsnehmer, als Geschäftsführerin oder Geschäftsführer eines Betriebes oder auch als Forscherin oder Forscher, sind auf diese Güter angewiesen, und es ist deshalb unser Interesse, Piraterie zurückzudrängen und Sicherheit auf den Meeren herzustellen. ({0}) Das zweite – dem erstgenannten sogar moralisch übergeordnete – Argument für die Weiterführung dieser Mission ist die Verantwortung für die Welt, der man sich nicht entziehen kann und als Bundesrepublik Deutschland nun auch wahrlich nicht sollte. Bei diesem Mandat geht es darum, dass in Somalia Hilfslieferungen aus der ganzen Welt sicher ankommen und nicht von Piraten blockiert und beschlagnahmt werden. Es wurde auch heute schon zahlreich genannt, aber ich finde, es ist wichtig, dass sich diese Zahl einbrennt: Es sind 5,2 Millionen Menschen in diesem Land, die auf Nahrungshilfen angewiesen sind. Wie unberechenbar das Leben sein kann, merken viele von uns – glücklicherweise, wenn man so will – erst jetzt in der Coronakrise. Plötzlich leben wir in der Lage. Pläne müssen geändert und Prioritäten angepasst werden. Es müssen Notfallpläne gemacht werden. Die Menschen an der Ostküste Somalias kennen ein Leben mit diesen zahlreichen Unwägbarkeiten leider nur zu gut. Die Lebensbedingungen können wir uns in Europa häufig kaum vorstellen, und wir sind uns dessen in unserer privilegierten Position selten bewusst. Die schwachen staatlichen Strukturen und die zwischenstaatlichen Konflikte, die sich häufig um den Zugang zu Rohstoffen drehen, sind Herausforderungen, die wir in Deutschland nicht haben. Hinzu kommen große Armut, Lebensmittelknappheit, Seuchen sowie Flucht- und Migrationsbewegungen, gepaart mit organisierter Kriminalität in Form der Piraterie und religiöser Extremismus. Dazu kommt jetzt noch die Coronapandemie, die auch an Afrika nicht ohne Auswirkungen vorbeiziehen wird und die geschilderte Situation in Somalia nur noch zusätzlich verschärft. Bei dieser Vielzahl von Problemen muss man irgendwo ansetzen. Atalanta ist ein richtiger Weg; denn die Zahl der Überfälle auf Schiffe ist zurückgegangen. So wird organisierter Kriminalität auf See die Grundlage entzogen, und Hilfe, die dringend benötigt wird, kann da ankommen, wo sie gebraucht wird. ({1}) Hier einmal die Zahlen: Über 2 Millionen Tonnen Nahrungsmittel wurden ausgeliefert. Über 1 400 Schiffe des Welternährungsprogramms wurden geschützt. Verdächtige Vorfälle von dramatischem Ausmaße wurden 2019 auf fünf begrenzt, und bei den Angriffen war glücklicherweise nur einer zu verzeichnen. Wir sehen: Die Zahlen sind extrem zurückgegangen, und gleichzeitig kann man konstatieren, dass Atalanta wirkt – für die redlichen Menschen in Somalia und, wenn man so will, auch auf der ganzen Welt. ({2}) Mir ist es besonders wichtig, eines zu betonen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Möller, achten Sie bitte auf die Zeit?

Siemtje Möller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004826, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja. ({0}) Im Rahmen der deutschen Beteiligung an der von der Europäischen Union geführten Mission leistet die Bundeswehr einen wertvollen Beitrag. Ich danke den Soldatinnen und Soldaten für diesen Beitrag zu gelungener europäischer Zusammenarbeit, und ich bitte das Hohe Haus, dem Antrag zuzustimmen. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Ursula Groden-Kranich für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Ursula Groden-Kranich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004280, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Herr Außenminister! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten und beschließen heute die Fortsetzung der Operation Atalanta. Dies ist in Zeiten der Pandemie aus diversen Gründen besonders wichtig: Sie betrifft am Horn von Afrika eine der Haupthandelsrouten zwischen Europa und Asien, ist also wichtig für unsere eigene Versorgungssicherheit. Und was Versorgungssicherheit bedeutet, haben wir in den letzten Wochen der Pandemie aus eigener Erfahrung feststellen können. Außerdem ist sie essenziell für Schiffe des Welternährungsprogramms der UN und der Afrikanischen Union. Auch dieses Programm ist noch wichtiger als bisher, da die humanitäre Situation in Afrika in Pandemiezeiten absehbar noch prekärer sein wird. Pirateriebekämpfung ist zwar das Hauptaugenmerk von Atalanta; aber genauso wichtig ist der Einsatz an Land, da Somalia noch immer keine stabilen staatlichen Strukturen hat und die ganze Region durch den Konflikt im Jemen zusätzlich destabilisiert wird. Atalanta ist eine echte Erfolgsgeschichte der europäischen Zusammenarbeit und international anerkannt auf dem Feld der Pirateriebekämpfung. Daher gab es auch im Jahr 2019 keine Angriffe am Horn von Afrika. Umso wichtiger ist nun, nicht nachzulassen und die Erfolge auszuweiten; denn die somalische Zentralregierung in Mogadischu hat nach wie vor keine Kontrolle über die Piraten an der Ostküste des Landes. Trotz erkennbarer Fortschritte im wirtschaftlichen Bereich und in demokratischen Prozessen sind die grundsätzlichen Spannungen zwischen Zentralregierung, ihren föderalen Staaten sowie den Clans und Stämmen ungelöst vorhanden. Korruption ist ein dauerhaftes, großes Problem. Der Aktionsradius der Banden ist zwar eingeschränkt und bewegt sich derzeit nur im teils legalen, teils illegalen Seeverkehr an Somalias Küsten oder zwischen Somalia und dem Jemen; für die internationale Gemeinschaft heißt das aber: Es muss weiterhin erhöhte Wachsamkeit am Horn von Afrika und speziell an den Küsten Somalias bestehen. So ist nicht nur die Fortsetzung der Operation zu begrüßen, sondern auch die strategische Überprüfung von Atalanta durch die EU. Dabei steht die mögliche Anpassung der Sekundäraufgaben im Raum, die wir unbedingt unterstützen sollten. Kurz und salopp gesagt: Bei der Bekämpfung der Kriminellen am Horn von Afrika müssen wir genauso flexibel und kreativ sein wie sie. Wenn also deren Aktivitäten von Waffen- und Drogenschmuggel je nach Bedarf zu Menschenhandel und Migrantenschmuggel ausgeweitet werden, sollten wir darauf schnell und effektiv reagieren können. Zum Schluss noch ein Punkt, der mir besonders wichtig ist: Die Bundesregierung verfolgt unser Engagement in Somalia zu Recht als ressortübergreifenden Ansatz. Wir wollen nicht nur Brände löschen, sondern den Menschen vor Ort helfen, langfristige und nachhaltige Perspektiven zu entwickeln. Daher kombinieren wir militärische mit zivilen Maßnahmen und beteiligen uns beispielsweise zusammen mit dem UN-Flüchtlingshilfswerk und dem Roten Kreuz an humanitären Hilfsmaßnahmen. Wichtig ist, dass wir dabei nicht nur die direkte physische Not lindern und den Hunger stillen, sondern noch stärker auf Bildung und die Herstellung von Chancengleichheit von Männern und Frauen setzen. Wir wissen aus vielen erfolgreichen Projekten des BMZ beispielsweise, dass sich die Stärkung von Frauen und Mädchen bei der Entwicklung von Gesellschaften immer besonders auszahlt, nicht nur ideell, sondern auch in harten wirtschaftlichen Fakten. ({0}) Daher sollten wir in Somalia, wo teils noch immer brutale archaische Strukturen bestehen, beispielsweise die Beschneidung von Mädchen, unser Engagement im zivilen Bereich fortsetzen und ausbauen. Zusammen mit der sehr erfolgreichen Mission Atalanta können wir die Region damit effektiv und nachhaltig stabilisieren. Vielen Dank unseren Soldatinnen und Soldaten für ihren Einsatz und Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Jürgen Hardt für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Jürgen Hardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004050, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Ende der zweiten Lesung zum Antrag der Bundesregierung auf Fortsetzung des Atalanta-Mandats kann ich feststellen – darüber freue ich mich –, dass das Mandat wiederum eine breite Mehrheit in diesem Hause bekommen wird. Das ist Ausdruck dafür, dass es schon immer ein erfolgreiches Mandat gewesen ist und dass die Operation der Europäischen Union, an der sich Deutschland seit vielen Jahren beteiligt, ein positives Beispiel dafür ist, wie wir durch den Einsatz unserer Bundeswehr zum Frieden in der Welt beitragen können. Dafür möchte ich den Soldatinnen und Soldaten, aber auch den politisch Verantwortlichen in Brüssel und hier in Berlin herzlich danken. ({0}) Ich hatte zusammen mit Thomas Silberhorn im letzten Jahr die Gelegenheit, die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr und die Kameraden anderer Streitkräfte in Dschibuti zu besuchen. Was sehr augenfällig war: Dort, wo sich die Bundeswehr engagiert, engagiert sie sich vielleicht nicht immer mit einer großen Zahl von Soldaten – auch diesmal ist die Zahl der im Einsatz befindlichen deutschen Soldaten übersichtlich –, aber dafür beteiligen wir uns mit Hochwertfähigkeiten, die für den Erfolg des Einsatzes ungeheuer wichtig sind. Wir haben einen Seefernaufklärer vor Ort, wir haben aber auch medizinisches Personal, das zum Beispiel in der Lage ist, Taucherunfälle zu behandeln. Jeder, der Marineeinsätze in einer solchen Region kennt, weiß: Die Besatzungen an Bord der Schiffe sind heilfroh, dass es eine Taucherdruckkammer gibt, die zuverlässig bedient wird. Im Falle eines Taucherunfalls bedeutet das, dass man nach den Maßstäben gerettet wird, die wir in Europa an diese Art von medizinischer Versorgung anlegen. Das wird sehr geschätzt und dient auch dem Ansehen Deutschlands. Der Kollege Tobias Lindner hat das Thema „Einsatzfähigkeit Richtung Land“ angesprochen. Wir haben vor einigen Jahren intensiv über eine entsprechende Mandatsergänzung gesprochen. Damals haben wir gesagt: Es geht nicht darum, dass man jetzt in großem Stil an Land geht, sondern darum, dass die Piraten wissen, dass sie sich der Verfolgung nicht einfach nur dadurch entziehen können, indem sie ihr Boot an Land ziehen. Damit haben wir es für die Piraten schwieriger und komplizierter gemacht, ihre Operationen fortzusetzen. Der Erfolg des Einsatzes gibt auch dieser Entscheidung, dem klaren Signal an die Piraten, das wir damals gesendet haben, recht. Es ist angesprochen worden, dass Somalia durch diesen Einsatz mit Blick auf die Naturkatastrophen und mit Blick auf Covid-19 nicht wirksam gerettet werden kann. Ich glaube, dass wir als Deutschland und Europa in den nächsten Monaten enorm gefordert sein werden, die Auswirkungen des Covid-19-Virus in Afrika und in Entwicklungsländern generell in den Griff zu bekommen. Ich meine, dass wir uns noch keine Vorstellung davon machen, welche schrecklichen humanitären Nöte wir in diesen Ländern im Herbst und Winter, der vor uns liegt, möglicherweise zu befürchten haben. Ich finde, dass es sich lohnt, wenn wir uns in diesem Zusammenhang in Zukunft entsprechend stark einsetzen, auch jenseits des Mandates. Herzlichen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache.

Markus Frohnmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004721, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Stellen Sie sich vor, Sie sind eine junge Familie. Schulen und Kitas müssen schließen; Homeoffice, während die Kleinsten herumtoben und die Größeren an mancher Schulaufgabe verzweifeln. Sie geht in Kurzarbeit, er verliert den Job. Wie sollen Sie die nächsten Raten für den Hauskredit bezahlen? – Stellen Sie sich vor, Sie bauen sich über Jahre eine Existenz mit einem Hotel auf. Sie beschäftigen 70 Mitarbeiter und verlieren durch den Shutdown fast alle Buchungen. Sie müssen Mitarbeiter entlassen oder in Kurzarbeit schicken. Alles, was Sie mühsam aufgebaut haben, steht vor dem Zusammenbruch. Und jetzt stellen Sie sich vor, Sie sind Minister dieser Bundesregierung. Sie sehen: Deutschland hat bereits 2 Billionen Euro Schulden. Aufgrund der fiskalischen Mindereinnahmen und Mehrausgaben kommt jetzt noch 1 Billion obendrauf. Die Schulden explodieren. Über 10 Millionen Bürger dieses Landes gehen in Kurzarbeit. – Und was macht Entwicklungsminister Müller? Zusammen mit dem Komiker Eckart von Hirschhausen besucht er das Pandagehege im Berliner Zoo, tätschelt einen Plastikpanda und stellt sein neues Taschenbuch vor. ({0}) Fast täglich haben Sie, Herr Minister, uns in den letzten Wochen mit neuen Ideen und Forderungen in den Tageszeitungen überrascht: 3 Milliarden Euro mehr Geld für das Entwicklungsministerium, 50 Milliarden Euro Stabilisierungskredite und Nothilfen für Afrika und Nahost, ein Green Deal für Afrika, ein Weltkrisenrat bei der UNO, und zur Krönung wollen Sie den EU-Schutzschirm von Berlin bis nach Kapstadt ausdehnen. – Sie hören richtig! Während der SPD-Parteivorsitzende Walter-Borjans noch von Coronabonds träumt, ist man bei der CSU mit Minister Müller schon einen Schritt weiter. Hier will man mit deutschem Steuergeld gleich die ganze Welt retten. ({1}) Während unsere Familien, Arbeitnehmer und Unternehmer den Gürtel enger schnallen, macht Müller den Hosenknopf des deutschen Steuerzahlers so richtig auf. ({2}) Während Kinder nicht mehr Opa und Oma besuchen dürfen, werben Sie für ein klimaneutrales Allgäu. Während Familien ihre Stromrechnung nicht mehr bezahlen können, fördert Müllers Ministerium den Bau einer „Plus-Energie-Moschee“ im marokkanischen Dorf Tadmamt. Während Selbstständige um ihre Existenz bangen, machen Sie Livestreams mit Cem Özdemir bei #CemLive. Während die CSU unter Entwicklungsminister Müller die Grünen längst überflüssig gemacht hat, stehen wir als AfD für die Vernunft und die Interessen Deutschlands ein. ({3}) Wir fordern in unserem Antrag zur Coronakrise: Es darf keine Neuzusagen in der bilateralen Entwicklungshilfe geben; unnütze Entwicklungsprogramme müssen eingestellt oder zumindest einer sinnvollen – ich betone: einer sinnvollen – Verwendung zugeführt werden; ({4}) freiwerdende Mittel müssen der Wirtschaftshilfe in Deutschland zugeführt werden. Für ein starkes Deutschland nach der Krise braucht es Sparsamkeit, global wie national, und ein Ende des Shutdowns. ({5}) Meine Damen und Herren, Sie werden gleich von den Kollegen der Altparteien hören, dass wir als AfD jetzt am liebsten die ganze Entwicklungshilfe eindampfen wollen. ({6}) Das ist unzutreffend. Wir sagen, dass man jetzt, in diesen Zeiten, auf jeden Fall die Entwicklungshilfe auf zwei Kernbereiche konzentrieren muss. Das ist zum einen der Bereich der Gesundheit und der Pandemiebewältigung und zum Zweiten die wirtschaftliche Zusammenarbeit. Daran täte man gut. Was wir seit vielen Jahren erleben, ist, dass im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit das Budget immer weiter wächst. Seit Amtsantritt dieses Ministers hat es sich mittlerweile mehr als verdoppelt. Jetzt hat man die Anzahl der Partnerländer reduziert. Trotzdem soll das Budget weiter anwachsen, immer nach dem Motto „Viel hilft viel!“. Wir sind nicht der Auffassung, dass in diesem Fall viel viel hilft. Wir sind eher der Auffassung, dass es gut wäre, die Mittel entsprechend zu reduzieren, sie hier zuführt, wo sie wirklich gebraucht werden, in Deutschland, beim Bürger, hier bei unseren Unternehmen. Jetzt muss es heißen: Als Erstes bringt man das eigene Haus in Ordnung, und dann, wenn das eigene Haus in Ordnung ist, kann man auch wieder den Nachbarn helfen. Vielen Dank. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Während das Pult für den nächsten Redner vorbereitet wird, bitte ich noch einmal ausdrücklich all diejenigen, die an der Beratung teilnehmen, Platz zu nehmen. Die Abstandsregeln werden nicht dadurch außer Kraft gesetzt, dass ein Gesprächspartner steht und der andere sitzt. Wir haben die Abstandsregeln – das gilt für alle Fraktionen, ausnahmslos – auch durch die Kennzeichnung der Stühle, die freibleiben sollen, hier entsprechend umgesetzt. Ich bitte also darum, dass in allen Fraktionen Gesprächsgrüppchen hinter den Reihen der Fraktion aufgelöst werden und der Abstand eingehalten wird. Sollte jemand an der Beratung teilnehmen wollen und keinen Platz in den Reihen seiner Fraktion finden – das ist aber offensichtlich im Moment nicht der Fall –, haben wir auf der Tribüne genügend Plätze, um im Plenarsaal den Ausführungen folgen zu können. Wir fahren fort in der Debatte. Das Wort hat der Kollege Volkmar Klein für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Volkmar Klein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004071, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gut, dass wir in den letzten drei Jahren an der Devise einer sparsamen Haushaltspolitik und der Senkung der Verschuldungsquote in guten Zeiten festgehalten haben. Das gibt uns jetzt Spielraum, um zu handeln und sehr wohl positiv zu wirken, unser Haus in Ordnung zu bringen, unsere Wirtschaft und unsere Menschen zu schützen und zu stärken. ({0}) Der Antrag der AfD, der weit über das Thema Entwicklungszusammenarbeit hinausgeht, enthält ziemlich befremdliche Forderungen – ({1}) wir haben gerade ein paar Beispiele gehört –, von denen wir uns komplett distanzieren. Dieser Antrag passt eigentlich gar nicht dazu, was die AfD sonst zum Umgang mit der Krise fordert; denn am Ende verbreitet die AfD hier sogar selbst Panik und Angst. So ist in dem Antrag zu lesen, dass die Krise eine „Fokussierung des gesamten staatlichen Handelns auf die erfolgreiche Pandemiebekämpfung“ verlange. ({2}) Das schreibt die AfD! Das heißt, der Straßenbau soll eingestellt werden, die Bundeswehr soll offenbar Pause machen, Bildung ist völlig egal, die Entwicklungszusammenarbeit ist zu streichen. – Das steht in diesem Antrag. Für uns, meine Damen und Herren, sind all diese Dinge weiterhin sehr, sehr wichtig. ({3}) All die genannten Herausforderungen, inklusive Entwicklungszusammenarbeit, bestehen weiterhin. Die Lage in den Entwicklungsländern zu verbessern, das ist durchaus auch in unserem Interesse, und zwar im doppelten Sinne: Auf der einen Seite ist es uns ein ethisches Anliegen, Menschen zu helfen; wir haben aber auch ein praktisches Anliegen daran, dass Menschen dort, wo sie leben, Jobs, Chancen und Perspektiven haben. Da kann einem der Gedanke kommen: Wenn die AfD es ablehnt, dass Menschen dort, wo sie leben, Chancen und Perspektiven finden, dann hofft sie vielleicht darauf, dass sich die Menschen auf den Weg machen, um woanders Chancen zu suchen. Ich glaube, dass genau das der Fall ist. Wir wollen den Menschen dort helfen, wo sie leben – dafür gibt es Entwicklungszusammenarbeit –, nicht nur im Bereich Gesundheit. Ich glaube, wir müssen eher mehr für Jobs und Perspektiven, für Bildung und für Investitionen tun. Ich glaube, dass dies in den nächsten Jahren in den Entwicklungs- und Schwellenländern ganz besonders wichtig sein wird; denn am Ende werden wahrscheinlich genau diese Länder die Verlierer der Krise sein, da die Lage vieler Firmen heute die Banken weltweit zu Wertberichtigung zwingt. Wertberichtigungen bei den Banken sorgen für schwindendes Eigenkapital, für schwindenden Spielraum, um neue Geschäfte einzugehen. Das wird am Ende zu einer Desinvestition führen, gerade in den Ländern, bei denen die Risiken einen Tick höher sind, weswegen auch deren Eigenkapitalunterlegung höher sein muss, weil das in unserem Rechtsrahmen – Basel usw. – so vorgesehen ist. Deswegen müssen wir eher genau dagegenhalten. Wir müssen versuchen, dass mehr investiert wird. AfricaGrow-Fonds, AfricaConnect: Diese Programme, die Gerd Müller aufgesetzt hat, sollen genau da helfen. Wenn man den Antrag der AfD genau durchliest, dann hat man kurz den Eindruck, dass sie es doch einen Tick verstanden haben. ({4}) Sie schreiben, dass das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung „aber bereits über eine wirtschaftliche Infrastruktur“ verfüge, „die genutzt werden kann, um die Produktion der für die Pandemiebekämpfung relevanten Güter in Deutschland sowie in den Entwicklungsländern zu forcieren und somit einer politisch sinnvollen Verwendung“ zuzuführen. ({5}) Das ist doch echte sozialistische Planwirtschaft! Das ist Staatsgläubigkeit! Es ist unglaublich, dass es hier quasi zu einem Schulterschluss zwischen der AfD auf der einen Seite und den Linken mit ihren Planwirtschaftsideen auf der anderen Seite kommt. ({6}) Das alles ist doch wirklich schlimm. Ich denke, dass die kruden Ideen, die die AfD normalerweise formuliert, genauso schädlich für unser Land sind wie sozialistische Parolen, auch wenn sie jetzt plötzlich von der AfD skandiert werden. Das alles wollen wir nicht. Wir wollen eine gute, vernünftige Zusammenarbeit mit den Ländern der Entwicklungszusammenarbeit, und wir wollen das aus unserem eigenen Interesse – sowohl aus unserem ethischen Anliegen heraus, Menschen zu helfen, als auch aufgrund der Überlegung, dass es am Ende auch uns hier in Deutschland nutzt. Deswegen lehnen wir den Antrag ab. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun Dr. Christoph Hoffmann das Wort. ({0})

Dr. Christoph Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004757, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Seit 1990 haben Freihandel und Globalisierung die Anzahl der Armen von 2 Milliarden auf 630 Millionen gesenkt. ({0}) Statt 36 Prozent sind nur noch 8 Prozent der Weltbevölkerung in Armut. Der globale Shutdown scheint diese Erfolge jetzt aber zum Zusammenbruch zu bringen. Die Hotels sind zu, die Nähereien sind zu, es gibt keine Aufträge mehr aus Europa, und die Menschen gehen in die Arbeitslosigkeit. Doch in den Staaten des globalen Südens gibt es keine Kurzarbeit, kein Homeoffice, kein Arbeitslosengeld und auch keine Sozialhilfe. Die Menschen dort fallen nicht weich, sondern sie fallen hart. Die Tagelöhner, die von der Hand in den Mund leben, stehen vor dem Nichts, vor dem Aus. Normalerweise helfen ihre Verwandten im In- und Ausland ihnen, über die Runden zu kommen, aber jetzt sind auf einmal alle betroffen. Alle haben kein Einkommen mehr, und auch die Rücküberweisungen aus Europa in die EZ-Länder von Leuten, die hier arbeiten, werden dieses Jahr drastisch sinken. Für viele Menschen geht es mit dem Shutdown auf null Einkommen, und null Einkommen bedeutet Hunger. Das ist existenziell. Gleichzeitig steigen die Nahrungsmittelpreise im globalen Süden. Um etwa 20 Prozent sind sie schon gestiegen. In Ostafrika fressen sich Trillionen von Heuschrecken durch die Felder und ersticken die dortige Selbstversorgung. Das Welternährungsprogramm spricht von Hungersnöten in biblischem Ausmaß. Alleine in Westafrika sind 50 Millionen Menschen vom Hunger bedroht. Und damit nicht genug: Der Shutdown unterbricht die Gesundheitsversorgung. Viele Impfungen können nicht durchgeführt werden. Drei Monate ohne Impfungen bedeuten 500 000 Tote allein durch Tuberkulose. Deshalb ist völlig klar, dass die Entwicklungsstaaten einen Shutdown ohne unsere Hilfe niemals länger durchstehen können, und deshalb müssen wir helfen. ({1}) Trotz dieser verheerenden Notlage, die ich eben geschildert habe, mit Millionen Toten in Aussicht, fordern Sie hier, Herr Frohnmaier, Herr Friedhoff, Herr Oehme, Herr Weyel, Herr Gauland, Frau Weidel – Sie alle haben das unterzeichnet –, doch tatsächlich, die Entwicklungsgelder in unserer wohlhabenden Gesellschaft zu behalten. Sie versuchen hier, einen ganz billigen Punkt zu machen, und Sie zeigen Ihre hässliche, nationale und auch – wir haben es eben gehört – sozialistische Fratze. Sie wollen den Ärmsten der Armen noch was wegnehmen. Wie armselig ist denn das? ({2}) Das ist in etwa so, als ob Sie einem Bettler in der Fußgängerzone den Hut wegkicken, das Geld herausnehmen und sich dafür Klopapier kaufen, von dem Sie schon genug Vorrat haben. ({3}) Sie reißen mit Ihrem Antrag die Latte der menschlichen Kultur. Menschenrechte und Errungenschaften der Zivilisation sind Ihnen offensichtlich völlig egal; sie sind Ihnen völlig fremd. ({4}) Seien Sie sich meiner persönlichen Verachtung und der Verachtung vieler hier im Saal sicher! ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Dagmar Ziegler für die SPD. ({0})

Dagmar Ziegler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004191, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Im Allgemeinen sagt man ja: Was lange währt, wird gut. – Die AfD hat diesen Antrag ja schon für die letzte Sitzungswoche angekündigt, aber zu mehr, als für ihren YouTube-Kanal wieder irgendwelchen Wischwasch zu schreiben, hat es wieder mal nicht gereicht. ({0}) Die Coronapandemie ist nicht allein eine nationale Herausforderung für Deutschland, sondern eine globale, die wir nur gemeinsam bewältigen können. Die Folgen der Pandemie und der ergriffenen Maßnahmen sind bereits für uns Industriestaaten eine enorme Belastung, wie wir alle spüren. Aber für viele Entwicklungsländer sind sie kaum oder gar nicht ohne Hilfe von außen zu bewältigen. Das betrifft nicht nur die unmittelbaren gesundheitlichen Folgen der Pandemie. Die Gesundheitssysteme dieser Länder sind zu schwach, um dem zu begegnen. Viele Menschen dort sind außerdem durch Mangelernährung und Vorerkrankungen besonders anfällig für eine Infizierung. Auch wenn die von Ihnen in Ihrem Antrag – in Anführungszeichen – geschilderten gravierenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen der Coronapandemie für Deutschland selbstverständlich sehr ernst zu nehmen sind und wir bereits alles Erdenkliche tun, um diesen zu begegnen, dürfen wir weder darauf hoffen, dass das Virus an den Grenzen haltmacht, noch dürfen wir vergessen, dass die Menschen außerhalb Deutschlands zu uns auf diesem Planeten gehören. ({1}) Sie nennen die Aufwendungen der Entwicklungszusammenarbeit „unwesentlich“ und fordern „keine Neuzusagen für die bilaterale staatliche Entwicklungszusammenarbeit“. Und nicht nur das! Sie wollen die Entwicklungszusammenarbeit auf null fahren und aufgebaute Strukturen zerstören. ({2}) Sie bezeichnen einen Großteil der Entwicklungsleistungen als „sozioökonomisch fragwürdige und soziokulturell bedenkliche Ausgaben“. ({3}) – Ja. Geben Sie es doch zu! – Die AfD will es zulassen, dass ohnehin fragile Regionen und Staaten durch Hunger, Unruhen, Gewalt und Terror noch instabiler werden. ({4}) Das könnte auch zu erwartende neue Fluchtbewegungen verstärken, und auch deshalb brauchen wir eine weltweite Solidarität und nicht den nationalen Rückzug. ({5}) Sie fordern eine maximale Kürzung von vermeintlich verzichtbaren Maßnahmen und sogenannten Luxusausgaben. Bitte nennen Sie mir irgendjemanden in diesen Ländern, der von diesem Luxus leben könnte! ({6}) Über die kaum zu bewältigenden gesundheitlichen Herausforderungen hinaus besitzen die Entwicklungsländer auch kaum ausreichende finanzielle Liquidität, um die zu erwartenden wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Pandemie zu stemmen. So weit, mal darüber nachzudenken, was danach käme, reicht es in Ihrem Antrag gar nicht. ({7}) Es droht damit eine nicht abzuschätzende langfristige Beeinträchtigung der Zukunftschancen der Ärmsten der Armen. Das interessiert die AfD nicht. Ihr Antrag steht deshalb in völligem Gegensatz zu den bisherigen Bemühungen der Bundesregierung, aber eben auch der Mehrheit dieses Hauses. Und Sie sind auch noch stolz darauf. Die AfD will zur nationalen Bekämpfung der Coronapandemie in Deutschland Gelder aus der Entwicklungshilfe vereinnahmen. ({8}) Ich will an dieser Stelle nur ein paar Beispiele nennen, die ich für völlig inakzeptabel halte. Sie nennen zum Beispiel die Förderung der entwicklungspolitischen Vorhaben der politischen Stiftungen; das ist ja für Sie anscheinend nur Gedöns. Diese leisten aber unverzichtbare, wichtige und wertvolle Arbeit. Sie tragen erheblich zur Stabilisierung und Förderung der Zivilgesellschaften in den Entwicklungs- und Schwellenländern bei. Weiterhin wollen Sie die entwicklungswichtigen multilateralen Hilfen zum weltweiten Umweltschutz, zur Erhaltung der Biodiversität und zum Klimaschutz streichen. Gerade diese sind aber von globaler Bedeutung. Wir haben nur eine Umwelt, nur ein Klima und nur einen Planeten. ({9}) Wir als starkes Industrieland haben unseren Beitrag zu leisten. Schließlich wollen Sie drei wichtige Sonderinitiativen beschneiden, wie „Eine Welt ohne Hunger“, „Fluchtursachen bekämpfen – Flüchtlinge reintegrieren“ und „Ausbildung und Beschäftigung“. Die AfD bestreitet damit, dass wir das verstärkte Engagement zur Ernährungssicherung und zur Sicherstellung der Grundversorgung zur Verhinderung von Hungersnöten brauchen. Die AfD bestreitet damit, dass wir Flüchtlings- und Krisenregionen stabilisieren, Lieferketten und Arbeitsplätze sichern und die sozialen Sicherungssysteme stärken, aber auch Unternehmen in Schlüsselsektoren wie Textil und Tourismus stützen müssen. Nur so erreichen wir die Nachhaltigkeitsziele der UN, zu denen wir uns im Übrigen verbindlich verpflichtet haben. ({10}) Dies geht eben nur mit der verstärkten globalen Zusammenarbeit und nicht mit nationaler Abschottung und einem völligen Rückzug aus der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit. Deshalb ein weiteres Mal: Danke, AfD, für nichts! ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich erteile dem Abgeordneten Frohnmaier das Wort zu einer Kurzintervention. ({0})

Markus Frohnmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004721, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Werte Frau Ziegler, ich hatte das hier heute schon einmal bei der Ministerbefragung vorgetragen: Bei der Qualitätskontrolle der GIZ wurde beispielsweise festgestellt – es geht um das Verhältnis zwischen BMZ und GIZ –, dass nur 44 Prozent aller Projekte der GIZ nach den Maßstäben im Prüfbericht, die das BMZ der GIZ selber gibt, wirtschaftlich sind. ({0}) Wenn Deutschland seit 60 Jahren und länger Entwicklungszusammenarbeit betreibt und sich nicht unbedingt viel zum Besseren gewendet hat, sondern eher das Gegenteil der Fall ist, dann muss man doch mal die Frage stellen, warum jetzt auf dem Rücken der Coronakrise solche Forderungen wie die nach einem um 3 Milliarden Euro erhöhten Budget und einer Ausweitung des EU-Schutzschirmes auf Afrika und den Nahen Osten kommen. Da müssen Sie den Bürgern da draußen doch mal erklären, was so was überhaupt bedeutet. ({1}) Das, was Sie hier machen, folgt immer getreu dem Motto: Gute Menschen verteilen ihr eigenes Geld, aber Gutmenschen immer das Geld der anderen. – Das ist sinnbildlich für das, was Sie hier als Entwicklungszusammenarbeit bezeichnen. ({2}) Herr Kollege Hoffmann, noch ganz kurz an der Stelle: Sie haben gesagt, ich könne mir Ihrer Verachtung gewiss sein. Begründung: Die AfD will das Geld im Land halten. – Lieber Herr Hoffmann, genau richtig. Wenn eine der größten Krisen seit 1929 hier auf deutschem Boden stattfindet, ({3}) dann wollen wir zu Recht versuchen, das Maximum an Geld hier im Land zu halten, um den Bürgern, um den Unternehmen, um den Menschen hier in Deutschland zu helfen. ({4}) Daran kann ich gar nichts Unanständiges finden. ({5}) Das, was Sie machen, ist Populismus.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie haben das Wort zur Erwiderung.

Dagmar Ziegler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004191, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Frohnmaier, ich weiß nicht, welche Klamotten Sie tragen und was Sie in Ihrer Tasche an IT-Material mit sich führen. Schauen Sie sich mal an, wer das für Sie produziert hat, was Sie mit sich herumschleppen, welche Kinderarbeit dahintersteckt und welche Armen der Ärmsten für Sie schuften! ({0}) Außerdem haben Sie sich gerade widersprochen, weil Sie heute gesagt haben, Sie würden es nur akzeptieren, wenn Gelder in der Entwicklungszusammenarbeit für wirtschaftliche Tätigkeiten zur Verfügung gestellt würden. Jetzt sagen Sie, die GIZ würde das nur für die wirtschaftlichen machen. ({1}) Sie müssen in Ihrer Argumentation einfach ein bisschen klarer und logischer werden. Sie müssen einfach mal darüber nachdenken, dass wir in einer globalen Welt leben und nicht in der AfD-Blase. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie dürfen stehen bleiben, Herr Abgeordneter Frohnmaier. Sie haben es mit Ihrer Kurzintervention durch persönliche Ansprache geschafft, zwei Erwiderungen zu ermöglichen. Ich habe aber nicht vor, das den ganzen Abend so zu gestalten, um das auch gleich zu sagen. ({0}) Das Wort hat der Kollege Hoffmann.

Dr. Christoph Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004757, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Frohnmaier, es gibt eigentlich zu Ihrem Antrag nicht mehr zu sagen als das, was schon gesagt worden ist. Sie versuchen, den Ärmsten der Armen das Geld zu entziehen. Das ist einfach unmenschlich. Das haben die Leute nicht verdient. ({0}) Wenn Sie das nicht einsehen, dann gehören Sie einfach nicht zu dieser Zivilisation. Das habe ich mit unserer Verachtung für Sie gemeint. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich komme zurück zum Tagesordnungspunkt 4. Die Zeit für die namentliche Abstimmung über die Beschlussempfehlung ist in exakt fünf Minuten vorbei. Das heißt, diejenigen, die noch nicht die Gelegenheit genutzt haben, abzustimmen, haben jetzt dazu die Möglichkeit – natürlich unter Einhaltung der Abstandsregeln. Nun fahren wir in der Debatte fort. Das Wort hat die Kollegin Helin Evrim Sommer für die Fraktion Die Linke. ({0})

Helin Evrim Sommer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004897, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir sind dafür, dass wir 4 Milliarden Euro aus dem Nachtragshaushalt für die ärmsten Länder im Kampf gegen das Coronavirus bereitstellen. ({0}) Ich möchte in den drei Minuten meiner Redezeit kurz erläutern, warum. Die Coronapandemie verschont kein Land. Bislang ist das Covid-19-Virus für weltweit 350 000 Tote und eine stillgelegte globale Wirtschaft mitverantwortlich. Besonders heftig trifft es jetzt schon die ärmsten Länder der Welt. Versorgungssysteme, Märkte und Lieferketten brechen zusammen. Menschen verlieren massiv ihr Einkommen. Es drohen Chaos, Bürgerkrieg und massenhafte Flucht. Die internationale Gemeinschaft weiß, dass sie unverzüglich mit Soforthilfen gegensteuern muss. Und hier bei uns? Da gibt es dann diesen Antrag von rechts. Er propagiert „Germany first total“ und will allen Ernstes die Entwicklungszusammenarbeit aussetzen. Könnte bitte jemand den Damen und Herren rechts noch einmal erklären, dass dieses Virus kein Deutsch spricht, kein Heimatland hat ({1}) und sich auch nicht von irgendwelchen Grenzziehungen beeinflussen lässt? Herr Minister Müller hingegen hat das erkannt. In seinem Corona-Sofortprogramm heißt es völlig richtig: Corona besiegen wir nur weltweit oder gar nicht. ({2}) 1 Milliarde Euro will Minister Müller aus seinem eigenen Etat durch Umschichtung beisteuern. Damit soll das Virus in den ärmsten Ländern der Welt bekämpft werden, so der Ansatz. Sie stopfen also, lieber Herr Entwicklungsminister Müller, eine Lücke und schaffen damit leider eine andere. Sinnvolle Unterstützung sieht anders aus. Deswegen fordern wir in unserem Antrag, 4 Milliarden Euro aus dem Nachtragshaushalt als Soforthilfe für betroffene Länder einzusetzen, und zwar ohne Hin-und-her-Rechnen. ({3}) Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen warnt, dass sich aufgrund der Pandemie in diesem Jahr die Zahl der hungernden Menschen verdoppeln wird. Wir brauchen ein entschlossenes Handeln und eine internationale Solidarität mit den Entwicklungsländern. Nur wer das Virus weltweit bekämpft, bekämpft es auch hier in unserem Land, in Deutschland. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, welches seine Stimme nicht abgeben konnte? Dann sollte das in den verbleibenden zwei Sekunden geschehen. ({0}) Das ist offensichtlich nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis wird Ihnen, wie üblich, später bekannt gegeben. Wir fahren in der Debatte fort. Das Wort hat der Abgeordnete Uwe Kekeritz für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({1})

Uwe Kekeritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004066, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Uns liegt mal wieder ein Klassiker vor, erstellt von Entwicklungspolitikern, deren Ziel es ist, die Entwicklungspolitik abzuschaffen – ein Klassiker deshalb, weil da postuliert wird: Wir Deutschen sind die Opfer, die Afrikaner sind die Täter. – Das sind die Grundstrukturen von Hassbotschaften, und deswegen ist es ein Klassiker. ({0}) – Das finden wir in ganz vielen Ihrer Anträge. Die Coronakrise scheint der AfD jetzt ein geeigneter Hebel zu sein, wieder einen Vorstoß zu unternehmen und die Entwicklungspolitik zu diffamieren. Mit solch einer Geisteshaltung muss Demokratie, das heißt müssen wir zurechtkommen. Das ist leider so. Ich könnte mir auch was Schöneres vorstellen. Aber es ist unsere Aufgabe, in Zukunft dafür zu sorgen, dass dieses Problem hier immer weniger wird. ({1}) Es fällt mir schwer, eine ernsthafte Debatte zu diesem Antrag zu führen. So viel Unfug habe ich selten auf zwei Seiten Papier gedruckt gesehen. ({2}) Es zeugt auch davon, dass die AfD weder verstanden hat, welchen Beitrag die Entwicklungspolitik für Entwicklungsländer leistet, noch haben Sie verstanden, wie die deutsche Wirtschaft und die Weltwirtschaft funktionieren, und Sie haben auch nicht verstanden, wie die Wirtschaft des globalen Südens funktioniert. ({3}) Werte Kolleginnen und Kollegen, Sie haben jetzt sehr gute Argumente gegen diesen Antrag vorgebracht. Das ist doch löblich. Aber glauben Sie denn tatsächlich, dass diese Argumente bei dieser Partei nicht bekannt sind? Die kennen die. Aber das ist denen völlig egal; denn es geht ihnen nicht um Argumente. ({4}) Es geht ihnen um Botschaften; um Hassbotschaften geht es ihnen, um Diffamierungen. ({5}) Der Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen spielt dabei keine Rolle. Die erste Botschaft, die Sie senden wollen: Die Coronaprobleme in Deutschland könnten wesentlich gemildert werden, würden wir die Entwicklungszusammenarbeit einstellen. – Genau das Gegenteil ist der Fall. Die wirtschaftliche Situation würde sich sowohl hier als auch in afrikanischen Ländern verschlechtern. Wir hätten absolut nichts davon. Wir sind auf Rohstofflieferungen angewiesen, wir sind auf Absatzmärkte angewiesen, und vor allen Dingen sind wir auf ein Miteinander angewiesen; denn nur miteinander werden wir die Zukunft gestalten. ({6}) Die zweite falsche Botschaft lautet – das haben Sie jetzt nicht erwähnt –: Sie stellen die Jahresetats des BMZ nebeneinander – 10,2 Milliarden, 10,4 Milliarden und 10,6 Milliarden – und erwecken den Eindruck, als wenn das rausgeschmissenes Geld wäre. Das ist eine Diffamierung der Arbeit hier. Sie sagen an keiner Stelle, wo Sie wirklich Kritik üben würden, und Sie sagen vor allen Dingen auch nicht, was besser gemacht werden könnte. An der dritten Botschaft erkennt man, dass Herr Frohnmaier die Federführung bei diesem Antrag hatte. Sie versuchen wieder, die Unsinnigkeit von Entwicklungsausgaben auch dadurch zu belegen, dass Sie Programme aufführen, die den Begriff „Gender“ enthalten. Dafür bekommen Sie in Ihrer Fraktion Schenkelklopfer und Lacher, und das erheitert Sie. ({7}) Herr Frohnmaier, meinen Sie nicht auch, dass es langsam an der Zeit wäre, dass Sie Ihre Bildungslücke bezüglich „Gender“ – Funktion, Begriff, geschichtliche Relevanz, gesellschaftliche Relevanz – endlich schließen? ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Kollege.

Uwe Kekeritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004066, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sie schüren mit Ihren Anträgen immer wieder bewusst die Botschaft, die da lautet: Das sind die Schuldigen. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Kekeritz, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Uwe Kekeritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004066, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Noch drei Sekunden. – Das haben wir auch schon im Ausschuss diskutiert, und da sagten Sie, Herr Frohnmaier: Das ist Demokratie. – Ich kann Ihnen versichern: Das ist Missbrauch von Demokratie und nicht Demokratie. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Georg Kippels für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Georg Kippels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004327, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Was soll man jetzt als letzter Redner in dieser Debatte zu diesem Antrag noch sagen? ({0}) Es ist schlicht und ergreifend ein Ausdruck von blankem Unverständnis für Entwicklungspolitik und wirtschaftliche Zusammenhänge. Ich wäre ja vielleicht noch ein bisschen erleichtert, Herr Frohnmaier, wenn ich das Gefühl haben könnte, dass das eine Folge von limitierter Intelligenz ist. ({1}) Nein, es ist Ideologie, nichts anderes als Ideologie, und das kommt auch in der Begrifflichkeit ausdrücklich heraus. Wir haben schon einige Beispiele als Zitate gehört. Aber ich will ganz konkret an Ihren Aussagen festmachen – und sie widerlegen –, dass das wirtschaftliche Grundverständnis für Entwicklungspolitik und die Pandemiebekämpfung in Deutschland schlicht und ergreifend nicht vorhanden ist. Sie haben unter anderem ausgeführt, dass der Grüne Knopf eine Prestigeinitiative ist – schönes Wort, entsprechend emotional belegt. Aber der Grüne Knopf soll die Produktionsverhältnisse unter anderem in Entwicklungsländern sichern, sodass dort Menschen von ihrer Arbeit leben können, unter sicheren Bedingungen arbeiten können und Produkte hergestellt werden, die dann im Rahmen der Lieferkette irgendwann mal den Handel hier in Deutschland sicherstellen. Wenn das nicht mehr gewährleistet ist, weil in diesen Ländern die Produktionsprozesse aufgrund eines Shutdowns oder aufgrund sonstiger weiter bestehender gesundheitlicher Probleme oder sonstiger Defizite nicht fortgeführt werden können, werden unsere Läger leer sein. Es besteht also ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen EZ und wirtschaftlich florierendem Handel hier in Deutschland. Beispiel zwei, Tourismus: Wie sieht es denn mit unserer Tourismusbranche aus? Es will leider nicht jeder in Bayern oder im Allgäu oder an der Nordsee Urlaub machen, sondern auch in fernen Ländern. ({2}) Wenn man in den fernen Ländern mithilfe der EZ jetzt die Situation nicht stabilisiert und beispielsweise Landerechte ermöglicht, wird die Tourismusbranche in Deutschland auch weiterhin darniederliegen, und wir werden dort einen massiven Verfall an Arbeitsplätzen haben. Und zum guten Schluss Beispiel drei: Wie sieht es denn mit der Lufthansa aus? Das ist ein renommiertes Unternehmen, aber es kann weltweit nicht landen, unter anderem deshalb, weil durch die Pandemie in vielen Ländern, die beliebte Urlaubsziele, aber auch Geschäfts- oder Tagungsziele sind, nicht geflogen und nicht gelandet werden kann. Also auch da besteht ein unmittelbarer Zusammenhang. Wahrscheinlich war Ihnen irgendwie diese Verbindung nicht so ganz fern liegend, und Sie haben dann in den Schlusssätzen Ihres Vortrags noch versucht, dergestalt die Kurve zu kriegen, dass Sie ausgeführt haben: Ja, es gibt ja zwei Punkte, die Sie in Ihrem Antrag ausdrücklich als aufrechterhaltungswürdig beschrieben haben, Gesundheit und wirtschaftliche Zusammenarbeit. – In der Passage zum Thema „Aufrechterhaltung der gesundheitspolitischen Maßnahmen“ – Punkt 6, vierte Zeile – steht allerdings, dass nur diejenigen Coronamaßnahmen in den Entwicklungsländern unterstützt werden sollen, die als primäre Zielsetzung die Bekämpfung des Virus haben. Was bitte ist die primäre Zielsetzung? Nach Ihrer Vorstellung ist es wahrscheinlich die Impfung. Da ist aber nix. Wir haben noch keinen Impfstoff, und wir haben auch noch keine Therapie. Das heißt, eine primäre Zielsetzung ist blanke Illusion, nichts anderes als ein Feigenblatt. Zum guten Schluss dann das Thema „wirtschaftliche Zusammenarbeit“: Wenn in den Entwicklungsländern Schutzkleidung, Atemschutz oder was auch immer für die gesundheitliche Vorsorge genäht, produziert oder wie auch immer hergestellt wird, dann ist das in Ordnung. Also, für das deutsche Gesundheitssystem darf gearbeitet werden. Aber für die eigene Wirtschaftlichkeit eines Entwicklungslandes, für die Familien, für die Kinder, für die Frauen und Mädchen, die in die Schule gehen sollen, die eine Ausbildung haben wollen, ist eine Unterstützung nicht gerechtfertigt. Das ist und bleibt nichts anderes als schlichte Ideologie und hat mit einem wirklichen humanitären Weltbild für Entwicklungszusammenarbeit absolut nichts zu tun. Lassen Sie es sein, Herr Frohnmaier! Das holt keinen mehr hinter dem Kamin hervor. Wir lehnen diesen Antrag mit großer Überzeugung ab. Vielen herzlichen Dank. ({3})

Dr. Thomas Gebhart (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11004038

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mehr als 20 000 Menschen in unserem Land werden Tag für Tag außerhalb der Kliniken intensiv gepflegt. Die Zahl derer, die aus den Krankenhäusern entlassen werden und im Anschluss weiter intensiv gepflegt werden müssen, steigt. Sicherlich kennen viele von uns auch im persönlichen Umfeld Fälle von Menschen, die außerhalb der Klinik beatmet werden müssen. Um diese Menschen, Menschen, die einer Intensivpflege bedürfen, geht es in dem Gesetzentwurf, den wir heute einbringen und den wir jetzt debattieren. Was wollen wir erreichen? Wir wollen erreichen, dass die Versorgung und die Lebensqualität der Betroffenen verbessert werden, dass Fehlentwicklungen entgegengetreten wird. Wir wollen erreichen, dass Möglichkeiten zu Missbrauch – und zwar mit Blick auf diejenigen, die besonders schutzbedürftig sind – beseitigt werden. ({0}) Und wir wollen, dass die besonderen Bedarfe der Patientinnen und Patienten angemessen berücksichtigt werden. Wir wollen eine qualitätsgesicherte und wirtschaftliche Versorgung, und zwar nach aktuellem medizinischen, therapeutischen und pflegerischen Standard, der jeweils zu gewährleisten ist. ({1}) Wir werden das erreichen, indem wir die bisherigen Regelungen in diesem Bereich in einen neuen Leistungsanspruch auf außerklinische Intensivpflege überführen. Und – auch das ist ein ganz wichtiger Punkt –: Die Eigenanteile in den vollstationären Pflegeeinrichtungen werden künftig erheblich reduziert werden. Dadurch entsteht für die Versicherten eine Wahlmöglichkeit, die unabhängiger ist von den eigenen finanziellen Belastungen. Bei all dem, meine Damen und Herren, ist ein Punkt ganz besonders wichtig. Ich will diesen Punkt ausdrücklich betonen, weil er nämlich auch in den bisherigen Debatten zu diesem Thema und im Vorfeld dieser heutigen Debatte eine wichtige Rolle gespielt hat – ich will es ausdrücklich sagen –: Die Leistungen der außerklinischen Intensivpflege können auch weiterhin bei Versicherten zu Hause erbracht werden, soweit an diesem Ort die medizinische und pflegerische Versorgung sichergestellt werden kann. ({2}) Damit ist es noch nicht getan. Es geht auch darum, die dauerhafte Beatmung, wo es geht, abzuwenden; dazu sind die Möglichkeiten auszuschöpfen. Krankenhäuser – so wollen wir es regeln – können im Rahmen des Entlassmanagements besondere ärztliche Anschlussbehandlungen auch in anderen Krankenhäusern veranlassen. Hierfür schaffen wir eine Finanzierungsgrundlage und Regelungen, wir sehen vor, dass Entwöhnungspotenziale erkannt werden, und wir wollen, dass diese Entwöhnungspotenziale da, wo sie vorhanden sind, auch tatsächlich genutzt werden. Meine Damen und Herren, das ist der eine große Bereich. Der andere große Bereich, um den es in diesem Gesetzentwurf geht, ist die medizinische Rehabilitation; diese werden wir stärken. Wir werden Pflegebedürftigkeit, wo es geht, vermeiden helfen und Teilhabe stärken. Wir fördern den Grundsatz „Reha vor Pflege“. Damit geben wir eben auch in diesem Bereich eine Antwort auf die Herausforderungen des demografischen Wandels. Wie stärken wir die Reha? Indem es zum Beispiel bei Anträgen auf geriatrische Reha künftig so sein wird, dass der Zugang und die Verfahren erleichtert und beschleunigt werden. ({3}) Bei Anträgen auf andere Rehaleistungen können die Kassen von der ärztlichen Verordnung nur abweichen aufgrund einer gutachterlichen Stellungnahme. Auch das ist ein ganz wichtiger Punkt. ({4}) Und wir stärken die Reha auch mit Blick auf die Auswahl der jeweiligen Rehaeinrichtungen – aus Patientensicht ebenfalls ein entscheidender Punkt. ({5}) Meine Damen und Herren, es sind weitere Regelungen vorgesehen, auf die ich in der Kürze der Zeit gar nicht im Einzelnen eingehen kann. Aber kurzum können wir eines sagen: Es geht bei diesem Gesetzentwurf und bei diesem Gesetz um schutzbedürftige Menschen, ein Thema, das uns alle angeht. Deswegen wünsche ich uns und freue ich mich auf konstruktive Beratungen. Herzlichen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich gebe Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung bekannt: abgegebene Stimmkarten 657. Mit Ja stimmten 536 Abgeordnete, mit Nein haben 82 Abgeordnete gestimmt, und es gab 39 Enthaltungen. Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 656; davon ja: 535 nein: 82 enthalten: 39 Ja CDU/CSU Dr. Michael von Abercron Stephan Albani Norbert Maria Altenkamp Peter Altmaier Philipp Amthor Artur Auernhammer Peter Aumer Dorothee Bär Thomas Bareiß Norbert Barthle Maik Beermann Manfred Behrens (Börde) Veronika Bellmann Dr. André Berghegger Melanie Bernstein Peter Beyer Marc Biadacz Steffen Bilger Peter Bleser Norbert Brackmann Michael Brand (Fulda) Dr. Reinhard Brandl Silvia Breher Sebastian Brehm Heike Brehmer Ralph Brinkhaus Dr. Carsten Brodesser Gitta Connemann Astrid Damerow Alexander Dobrindt Michael Donth Marie-Luise Dött Hansjörg Durz Thomas Erndl Hermann Färber Uwe Feiler Enak Ferlemann Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) Dr. Maria Flachsbarth Thorsten Frei Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) Michael Frieser Hans-Joachim Fuchtel Ingo Gädechens Dr. Thomas Gebhart Alois Gerig Eberhard Gienger Eckhard Gnodtke Ursula Groden-Kranich Hermann Gröhe Klaus-Dieter Gröhler Michael Grosse-Brömer Astrid Grotelüschen Markus Grübel Manfred Grund Oliver Grundmann Monika Grütters Fritz Güntzler Olav Gutting Christian Haase Florian Hahn Jürgen Hardt Matthias Hauer Mark Hauptmann Dr. Matthias Heider Mechthild Heil Thomas Heilmann Frank Heinrich (Chemnitz) Mark Helfrich Rudolf Henke Michael Hennrich Marc Henrichmann Ansgar Heveling Christian Hirte Dr. Heribert Hirte Alexander Hoffmann Karl Holmeier Erich Irlstorfer Hans-Jürgen Irmer Thomas Jarzombek Andreas Jung Ingmar Jung Alois Karl Anja Karliczek Torbjörn Kartes Volker Kauder Dr. Stefan Kaufmann Ronja Kemmer Roderich Kiesewetter Michael Kießling Dr. Georg Kippels Volkmar Klein Axel Knoerig Jens Koeppen Markus Koob Carsten Körber Alexander Krauß Gunther Krichbaum Dr. Günter Krings Rüdiger Kruse Michael Kuffer Dr. Roy Kühne Andreas G. Lämmel Katharina Landgraf Ulrich Lange Dr. Silke Launert Jens Lehmann Paul Lehrieder Dr. Andreas Lenz Antje Lezius Andrea Lindholz Dr. Carsten Linnemann Patricia Lips Nikolas Löbel Bernhard Loos Dr. Jan-Marco Luczak Daniela Ludwig Dr. Saskia Ludwig Karin Maag Yvonne Magwas Gisela Manderla Dr. Astrid Mannes Matern von Marschall Hans-Georg von der Marwitz Andreas Mattfeldt Stephan Mayer (Altötting) Dr. Michael Meister Jan Metzler Dr. h. c. (Univ Kyiv) Hans Michelbach Dr. Mathias Middelberg Dietrich Monstadt Karsten Möring Elisabeth Motschmann Axel Müller Dr. Gerd Müller Sepp Müller Carsten Müller (Braunschweig) Stefan Müller (Erlangen) Dr. Andreas Nick Petra Nicolaisen Michaela Noll Dr. Georg Nüßlein Wilfried Oellers Florian Oßner Josef Oster Ingrid Pahlmann Sylvia Pantel Martin Patzelt Dr. Joachim Pfeiffer Stephan Pilsinger Dr. Christoph Ploß Eckhard Pols Thomas Rachel Kerstin Radomski Alexander Radwan Dr. Peter Ramsauer Eckhardt Rehberg Lothar Riebsamen Josef Rief Johannes Röring Dr. Norbert Röttgen Stefan Rouenhoff Erwin Rüddel Albert Rupprecht Stefan Sauer Dr. Wolfgang Schäuble Andreas Scheuer Jana Schimke Tankred Schipanski Christian Schmidt (Fürth) Dr. Claudia Schmidtke Patrick Schnieder Nadine Schön Felix Schreiner Dr. Klaus-Peter Schulze Uwe Schummer Armin Schuster (Weil am Rhein) Torsten Schweiger Detlef Seif Johannes Selle Reinhold Sendker Dr. Patrick Sensburg Bernd Siebert Thomas Silberhorn Björn Simon Tino Sorge Jens Spahn Katrin Staffler Frank Steffel Dr. Wolfgang Stefinger Albert Stegemann Andreas Steier Peter Stein (Rostock) Sebastian Steineke Johannes Steiniger Christian Frhr. von Stetten Dieter Stier Gero Storjohann Stephan Stracke Max Straubinger Karin Strenz Dr. Peter Tauber Dr. Hermann-Josef Tebroke Hans-Jürgen Thies Alexander Throm Dr. Dietlind Tiemann Antje Tillmann Markus Uhl Dr. Volker Ullrich Arnold Vaatz Kerstin Vieregge Volkmar Vogel (Kleinsaara) Christoph de Vries Kees de Vries Dr. Johann David Wadephul Marco Wanderwitz Nina Warken Kai Wegner Albert H. Weiler Marcus Weinberg (Hamburg) Dr. Anja Weisgerber Peter Weiß (Emmendingen) Sabine Weiss (Wesel I) Marian Wendt Kai Whittaker Annette Widmann-Mauz Bettina Margarethe Wiesmann Klaus-Peter Willsch Oliver Wittke Tobias Zech Emmi Zeulner Paul Ziemiak Dr. Matthias Zimmer SPD Ingrid Arndt-Brauer Bela Bach Heike Baehrens Ulrike Bahr Nezahat Baradari Doris Barnett Dr. Matthias Bartke Sören Bartol Bärbel Bas Lothar Binding (Heidelberg) Dr. Eberhard Brecht Leni Breymaier Dr. Karl-Heinz Brunner Katrin Budde Dr. Lars Castellucci Bernhard Daldrup Dr. Karamba Diaby Esther Dilcher Sabine Dittmar Saskia Esken Yasmin Fahimi Dr. Johannes Fechner Dr. Fritz Felgentreu Dr. Edgar Franke Ulrich Freese Dagmar Freitag Michael Gerdes Martin Gerster Angelika Glöckner Timon Gremmels Kerstin Griese Michael Groß Uli Grötsch Bettina Hagedorn Rita Hagl-Kehl Metin Hakverdi Sebastian Hartmann Dirk Heidenblut Hubertus Heil (Peine) Gabriela Heinrich Marcus Held Wolfgang Hellmich Dr. Barbara Hendricks Gabriele Hiller-Ohm Thomas Hitschler Frank Junge Josip Juratovic Thomas Jurk Oliver Kaczmarek Elisabeth Kaiser Ralf Kapschack Gabriele Katzmarek Arno Klare Lars Klingbeil Dr. Bärbel Kofler Daniela Kolbe Anette Kramme Christine Lambrecht Christian Lange (Backnang) Dr. Karl Lauterbach Sylvia Lehmann Helge Lindh Kirsten Lühmann Heiko Maas Isabel Mackensen Caren Marks Katja Mast Christoph Matschie Dr. Matthias Miersch Klaus Mindrup Susanne Mittag Falko Mohrs Claudia Moll Siemtje Möller Bettina Müller Detlef Müller (Chemnitz) Michelle Müntefering Dr. Rolf Mützenich Dietmar Nietan Ulli Nissen Thomas Oppermann Josephine Ortleb Mahmut Özdemir (Duisburg) Aydan Özoğuz Markus Paschke Christian Petry Detlev Pilger Sabine Poschmann Florian Post Achim Post (Minden) Dr. Sascha Raabe Martin Rabanus Mechthild Rawert Andreas Rimkus Sönke Rix Dennis Rohde Dr. Martin Rosemann Dr. Ernst Dieter Rossmann Michael Roth (Heringen) Bernd Rützel Sarah Ryglewski Johann Saathoff Axel Schäfer (Bochum) Dr. Nina Scheer Marianne Schieder Udo Schiefner Dr. Nils Schmid Uwe Schmidt Ulla Schmidt (Aachen) Johannes Schraps Michael Schrodi Ursula Schulte Martin Schulz Swen Schulz (Spandau) Frank Schwabe Stefan Schwartze Andreas Schwarz Rita Schwarzelühr-Sutter Rainer Spiering Svenja Stadler Martina Stamm-Fibich Sonja Amalie Steffen Mathias Stein Kerstin Tack Claudia Tausend Michael Thews Markus Töns Carsten Träger Ute Vogt Marja-Liisa Völlers Dirk Vöpel Gabi Weber Dr. Joe Weingarten Bernd Westphal Dirk Wiese Gülistan Yüksel Dagmar Ziegler Stefan Zierke Dr. Jens Zimmermann AfD Dr. Bernd Baumann Marc Bernhard Andreas Bleck Peter Boehringer Stephan Brandner Jürgen Braun Petr Bystron Tino Chrupalla Joana Cotar Thomas Ehrhorn Berengar Elsner von Gronow Dr. Michael Espendiller Peter Felser Dietmar Friedhoff Dr. Anton Friesen Markus Frohnmaier Dr. Götz Frömming Dr. Alexander Gauland Dr. Axel Gehrke Albrecht Glaser Franziska Gminder Wilhelm von Gottberg Armin-Paulus Hampel Mariana Iris Harder-Kühnel Dr. Roland Hartwig Jochen Haug Udo Theodor Hemmelgarn Waldemar Herdt Martin Hess Martin Hohmann Dr. Bruno Hollnagel Leif-Erik Holm Fabian Jacobi Dr. Marc Jongen Jens Kestner Stefan Keuter Norbert Kleinwächter Enrico Komning Steffen Kotré Dr. Rainer Kraft Rüdiger Lucassen Frank Magnitz Jens Maier Dr. Lothar Maier Dr. Birgit Malsack-Winkemann Hansjörg Müller Volker Münz Sebastian Münzenmaier Christoph Neumann Jan Ralf Nolte Ulrich Oehme Gerold Otten Tobias Matthias Peterka Paul Viktor Podolay Stephan Protschka Martin Reichardt Martin Erwin Renner Roman Johannes Reusch Ulrike Schielke-Ziesing Uwe Schulz Martin Sichert Detlev Spangenberg René Springer Beatrix von Storch Dr. Alice Weidel Dr. Harald Weyel Wolfgang Wiehle Dr. Christian Wirth FDP Grigorios Aggelidis Renata Alt Christine Aschenberg-Dugnus Nicole Bauer Jens Beeck Dr. Jens Brandenburg (Rhein-Neckar) Mario Brandenburg (Südpfalz) Sandra Bubendorfer-Licht Karlheinz Busen Carl-Julius Cronenberg Britta Katharina Dassler Bijan Djir-Sarai Christian Dürr Hartmut Ebbing Dr. Marcus Faber Daniel Föst Otto Fricke Thomas Hacker Peter Heidt Markus Herbrand Torsten Herbst Katja Hessel Manuel Höferlin Dr. Christoph Hoffmann Reinhard Houben Ulla Ihnen Olaf In der Beek Gyde Jensen Dr. Christian Jung Karsten Klein Dr. Marcel Klinge Daniela Kluckert Pascal Kober Dr. Lukas Köhler Carina Konrad Wolfgang Kubicki Konstantin Kuhle Alexander Kulitz Alexander Graf Lambsdorff Ulrich Lechte Christian Lindner Michael Georg Link (Heilbronn) Oliver Luksic Till Mansmann Dr. Jürgen Martens Christoph Meyer Alexander Müller Roman Müller-Böhm Frank Müller-Rosentritt Dr. Martin Neumann (Lausitz) Matthias Nölke Hagen Reinhold Bernd Reuther Dr. h. c. Thomas Sattelberger Christian Sauter Frank Schäffler Dr. Wieland Schinnenburg Matthias Seestern-Pauly Frank Sitta Judith Skudelny Dr. Hermann Otto Solms Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann Benjamin Strasser Michael Theurer Stephan Thomae Manfred Todtenhausen Dr. Florian Toncar Dr. Andrew Ullmann Gerald Ullrich Johannes Vogel (Olpe) Sandra Weeser Nicole Westig Katharina Willkomm BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Annalena Baerbock Dr. Danyal Bayaz Dr. Franziska Brantner Dr. Anna Christmann Ekin Deligöz Anja Hajduk Dr. Bettina Hoffmann Ottmar von Holtz Dieter Janecek Renate Künast Dr. Tobias Lindner Friedrich Ostendorff Cem Özdemir Tabea Rößner Dr. Manuela Rottmann Manuel Sarrazin Stefan Schmidt Markus Tressel Daniela Wagner Gerhard Zickenheiner Fraktionslos Lars Herrmann Uwe Kamann Nein SPD Hilde Mattheis René Röspel AfD Matthias Büttner Siegbert Droese Kay Gottschalk Dr. Heiko Heßenkemper Karsten Hilse Nicole Höchst Andreas Mrosek Frank Pasemann Dr. Robby Schlund Dr. Heiko Wildberg DIE LINKE Doris Achelwilm Gökay Akbulut Simone Barrientos Dr. Dietmar Bartsch Lorenz Gösta Beutin Matthias W. Birkwald Heidrun Bluhm-Förster Michel Brandt Christine Buchholz Dr. Birke Bull-Bischoff Jörg Cezanne Sevim Dağdelen Fabio De Masi Dr. Diether Dehm Anke Domscheit-Berg Klaus Ernst Susanne Ferschl Brigitte Freihold Nicole Gohlke Dr. Gregor Gysi Dr. André Hahn Heike Hänsel Matthias Höhn Andrej Hunko Ulla Jelpke Kerstin Kassner Dr. Achim Kessler Katja Kipping Jutta Krellmann Caren Lay Sabine Leidig Ralph Lenkert Michael Leutert Stefan Liebich Dr. Gesine Lötzsch Thomas Lutze Pascal Meiser Amira Mohamed Ali Niema Movassat Norbert Müller (Potsdam) Zaklin Nastic Dr. Alexander S. Neu Thomas Nord Petra Pau Victor Perli Tobias Pflüger Martina Renner Bernd Riexinger Eva-Maria Schreiber Dr. Petra Sitte Helin Evrim Sommer Kersten Steinke Friedrich Straetmanns Dr. Kirsten Tackmann Jessica Tatti Alexander Ulrich Kathrin Vogler Andreas Wagner Harald Weinberg Katrin Werner Pia Zimmermann Sabine Zimmermann (Zwickau) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Canan Bayram Erhard Grundl Sylvia Kotting-Uhl Monika Lazar Lisa Paus Corinna Rüffer Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn Fraktionslos Marco Bülow Enthalten AfD Marcus Bühl Johannes Huber Jörn König Corinna Miazga Thomas Seitz FDP Reginald Hanke BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Lisa Badum Margarete Bause Agnieszka Brugger Katja Dörner Katharina Dröge Harald Ebner Matthias Gastel Kai Gehring Katrin Göring-Eckardt Britta Haßelmann Dr. Anton Hofreiter Dr. Kirsten Kappert-Gonther Uwe Kekeritz Katja Keul Sven-Christian Kindler Maria Klein-Schmeink Stephan Kühn (Dresden) Christian Kühn (Tübingen) Markus Kurth Sven Lehmann Steffi Lemke Dr. Irene Mihalic Claudia Müller Dr. Ingrid Nestle Dr. Konstantin von Notz Filiz Polat Claudia Roth (Augsburg) Ulle Schauws Margit Stumpp Jürgen Trittin Dr. Julia Verlinden Beate Walter-Rosenheimer Fraktionslos Verena Hartmann Abgeordnete, die sich wegen gesetzlichen Mutterschutzes für ihre Abwesenheit entschuldigt haben, sind in der Liste der entschuldigten Abgeordneten (Anlage 1) aufgeführt. Wir fahren jetzt in der Debatte fort. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Axel Gehrke für die AfD-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Axel Gehrke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004725, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das vorliegende Gesetz erscheint mir Corona-positiv getestet, und das spezifisch auf Covid-19. Warum? Es geht fast ausschließlich um beatmungspflichtige geriatrische Patienten. Das ist alles wichtig; aber der Titel verspricht mehr und damit zu viel. Medizinische Intensivpflege verbessern zu wollen, ist löblich; aber bitte dann nicht nur in der Geriatrie und nicht nur bei Beatmungspatienten. Unter Rehabilitation versteht man alle Maßnahmen zur Teilhabe. Medizinische Rehabilitation ist nur ein kleiner, wenn auch wichtiger Teilbereich. Im Titel sollte daher das Wort „medizinische“ eingefügt werden. Herr Staatssekretär, Sie haben es eben auch schon so genannt. Zunächst zur Intensivpflege. Am kritischsten sind für mich, wie zu erwarten, die Passagen zur Langzeitbeatmung. Häusliche Intensivpflege wurde ja im Entscheidungsprozess gnädig nach massiven Protesten wieder zugelassen, allerdings nur unter erheblichen formalen, bürokratischen, finanziellen und damit vor allem entehrenden Einschränkungen. Ich glaube, das lässt Ihnen hier heute die gesamte Opposition nicht durchgehen. Das häusliche Umfeld muss eine gleichwertige Versorgungsform bleiben, ohne die Sicherstellung umzudrehen und damit die sowieso schon vom Schicksal schwer getroffenen Patienten auch noch vom Medizinischen Dienst und den Krankenkassen gängeln zu lassen. ({0}) Der Ansatz, die Qualität zu verbessern, ist immer richtig. Das gelingt aber nur durch entsprechende personelle Ausstattung, adäquate Bezahlung und verstärkte Ausbildung von Spezialkräften. Hier fehlt zum Beispiel der Bezug zu notwendiger Physio- und Ergotherapie sowie zur Schlucktherapie völlig. Und schon vergessen? Die vielen Covid-19-Erkrankungen geriatrischer Patienten hätten doch nicht besser zeigen können, dass die häusliche Intensivpflege funktioniert und vielfach lebensrettend gewirkt hat. ({1}) Richtig ist auch, die Möglichkeit der Entwöhnung von der Beatmung immer wieder zu überprüfen. Hier müssen aber weitere rehabilitative Elemente wie Mobilisierung, Atemtherapie und insbesondere ADL-Übungen in den Prozess eingebaut werden, anstatt die Krankenhäuser mit Prämien locken zu wollen. Das, meine Damen und Herren, ist peinlich und entwürdigend. ({2}) Fazit für diesen Teil: unausgegoren – großer Staat, kleiner Patient. Nun zur geriatrischen Rehabilitation. Auf die Genehmigung durch die Krankenkassen zu verzichten, ist richtig und war überfällig. Es ist aber – so auch der Bundesrat – nicht einsehbar, warum das für andere Indikationen zur AHB nicht gelten soll. Und dass Krankenhausärzten plötzlich die Fähigkeit zur Beurteilung einer Indikation zur medizinischen Rehabilitation abgesprochen wird, kann man fachlich nur staunend zur Kenntnis nehmen. Neuere Erkenntnisse zur Flexibilisierung der Schnittstellen durch ambulante oder aufsuchende Rehabilitation sucht man sowieso vergebens. Die Festlegung einer Dauer von 20 Behandlungstagen oder drei Wochen ist komplett unsinnig. Sie muss natürlich von einem individuell und fachärztlich definierten Rehabilitationsziel abhängen. Fazit dieses Abschnittes: Nicht durchdacht und fachlich insuffizient. ({3}) Abschließend noch zur Schnittstellenproblematik. Es wird wieder ein grundsätzlicher Fehler perpetuiert. Die medizinische Frührehabilitation wurde bereits 2001 in das SGB V verpflichtend aufgenommen. Durch die DRGs kam es dann zu extrem frühzeitigen Verlegungen in die Rehabilitationskliniken, die ihrerseits wieder Intensivstationen zur Übernahme aufbauen mussten. Mit diesem Gesetz kommt nun noch ein dritter Verlegungsweg hinzu, der Intensivpflege vorhält. Fazit: Sowohl Patienten als auch Kosten könnten erheblich geschont werden, wenn die Phase eins wie früher zumindest an den Spezialkliniken wieder so lange durchgeführt würde, bis die Patienten rehafähig werden. Ich komme zum Schluss.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Ja.

Prof. Dr. Axel Gehrke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004725, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Dieses Gesetz hat noch deutlich Luft nach oben und bedarf dringender Verbesserung im Ausschuss. Frau Präsidentin, erlauben Sie mir abschließend noch einen persönlichen Satz.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Aber wirklich schnell.

Prof. Dr. Axel Gehrke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004725, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Liebe Frau Zeulner – sie ist aber nicht da, oder? - ({0}) – gut –, Sie hatten mich hier im Plenum sehr nett aufgefordert, meine Partei zu verlassen. Ich weiß Ihre Aufrichtigkeit sehr zu schätzen; aber glauben Sie mir – oder geben Sie es Frau Zeulner weiter –: Nicht im Traum würde ich dahin wechseln wollen, weswegen ich 2013 in die AfD eingetreten bin. Vielen Dank. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Axel Gehrke. – Schönen guten Abend, liebe Kolleginnen und Kollegen! – Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Bärbel Bas. ({0})

Bärbel Bas (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004006, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Gesetz trägt den Titel „Stärkung von intensivpflegerischer Versorgung und medizinischer Rehabilitation in der gesetzlichen Krankenversicherung“. Wir haben gerade schon gehört: Wir stärken hier eindeutig den Grundsatz „Rehabilitation vor Pflege“; damit will ich das Prinzip auch noch mal nennen. Im Vorfeld, in den Referentenentwürfen, stand ein anderes Prinzip im Vordergrund, nämlich „ambulant vor stationär“. Das betrifft den Bereich der außerklinischen Intensivpflege. Der war im Vorfeld sehr umstritten und ist es auch bis heute. Ich finde, über diesen berühmten Elefanten im Raum muss man mal reden, weil das im weiteren Gesetzgebungsverfahren ganz entscheidend ist. Ich glaube, es ist unstrittig, dass wir auch bei der außerklinischen Intensivpflege Qualitätskriterien brauchen. Wir haben nicht umsonst auch Korruptionsfälle gehabt, eine Pflegemafia, die im Hintergrund steht, die Kräfte eingesetzt hat, die weder die Qualifikation für eine Intensivpflege noch Möglichkeiten zur Beatmung hatten. Das muss ausgemerzt werden. ({0}) Das muss und soll auch Ziel dieses Gesetzes sein. Natürlich muss man Qualität dann auch prüfen und kontrollieren können; auch das ist wichtig. Aber was nicht geht, ist, dass wir mit diesem Gesetzentwurf den Eindruck erwecken, als würde diese Leistung für bestimmte Gruppen aus wirtschaftlichen Gründen geprüft. ({1}) Das ist ja der Punkt, der im Moment auch viel diskutiert wird. Steckt da der wirtschaftliche Gedanke dahinter, weil die Intensivpflege wirklich viele Kräfte bündelt? Ja, das ist im Kern der Intensivpflege so. Das darf aber nicht dazu führen, dass wir Angst vor einer Unterversorgung erzeugen oder Angst davor, dass jemand anderes den Ort bestimmt, wo man gepflegt wird. ({2}) Diese Prinzipien, glaube ich, sind entscheidend, nämlich das Wunsch- und Wahlrecht – dass ich bestimmen kann, wie und wo ich gepflegt werde – und dass der Staat, dass wir alle mit den Krankenkassen zusammen dafür sorgen müssen, dass die Versorgung auch gewährleistet werden kann. Das müssen wir stärken. ({3}) Dieses Ziel muss das Gesetz verfolgen. Ich glaube, wir können im weiteren Gesetzgebungsverfahren in der Tat noch daran arbeiten, dass das noch deutlicher wird als bisher. ({4}) Durch Zufall war ich heute Morgen – das war aber schon lange vereinbart – tatsächlich in einem Haushalt, wo eine Patientin intensiv gepflegt wird; ich stehe noch ein bisschen unter dem Eindruck dieses Besuchs. Da haben wir auch über diese Betrugsfälle gesprochen. Dahinter steckt – das wissen wir mittlerweile alle – eine richtige Mafia. Das sind Strukturen, bei denen ich mir nicht ganz sicher bin, ob wir sie mit dem MDK überprüfen können, ob es Sinn macht, wenn jemand einmal im Jahr bei dieser Patientin vorbeischaut. Sie hat schon von Kindesbeinen an eine Erkrankung, deren Verlauf mit zunehmendem Alter immer schwerer wird. Aber sie ist selbstbestimmt; sie will zu Hause leben. Sie kann das auch – eben mit der intensiven Unterstützung. Auf der anderen Seite müssen diese Betrugsfälle aufgeklärt werden. Ein MDK, der alle zwölf Monate mal guckt und am Bett sitzt und fragt, ob noch alles in Ordnung ist, macht da keinen Sinn. Wir müssen andere Wege finden, diese Pflegemafia, die es ja gibt, mit der Staatsanwaltschaft und anderen Elementen zu bekämpfen, auch mit Elementen, die wir den Kassen zur Verfügung stellen, damit sie genau das prüfen und ausmerzen können. Das ist, glaube ich, im Sinne aller hier im Hause. Ich glaube nicht, dass wir das mit dem momentanen Entwurf schaffen. Deswegen glaube ich: Da müssen wir nachschärfen. ({5}) Da müssen wir uns noch etwas einfallen lassen, etwa indem wir hier – der Vorschlag liegt ja auf dem Tisch – eine bundesweite Betrugsdatenbank einrichten. Es gibt genügend Vorschläge, etwa mehr Transparenz im Leistungsgeschehen oder im Abrechnungsgeschehen. All das können wir machen, um diesen Sumpf auszutrocknen, und das ist auch richtig. Aber wir müssen aufpassen, dass wir jetzt nicht die Axt an den Patienten legen, der zu Hause ist und Angst hat, dass er dann nicht mehr gepflegt werden kann, ({6}) sondern wir müssen die Axt an die Betrüger legen; die müssen wir bekämpfen. Dieser Gesetzentwurf geht in die richtige Richtung; aber da müssen wir noch nachschärfen. Ich weiß, dass auch der Koalitionspartner es so sieht, dass wir bestimmte Dinge noch konkretisieren können, um das deutlich zu machen. Ich glaube, das ist im Sinne aller, die dieses Gesetz dann betreffen wird. Herzlichen Dank. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Bärbel Bas. – Nächste Rednerin: für die FDP-Fraktion Nicole Westig. ({0})

Nicole Westig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004931, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Bas, ich bin Ihnen sehr dankbar für die offenen Worte und dafür, dass Sie den Änderungsbedarf direkt angesprochen haben. Ich glaube, das gibt vielen Menschen mit Intensivpflegebedarf Hoffnung. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, hohe Kosten für Beatmung und Intensivpflege, Effizienz und der Fachkräftemangel sind wesentliche Argumente für den Entwurf eines IPReG, den wir heute hier diskutieren. Auch wir Freie Demokraten treten für Kostensenkung und Effizienz ein. Aber das darf nicht alleiniges Kriterium für die Gesetzgebung in einem solch sensiblen Bereich sein; ({1}) denn wir stehen ebenso für den Grundsatz „Selbstbestimmt in allen Lebenslagen“. Wir wollen, dass jeder Mensch die Chance erhält, im Rahmen seiner Möglichkeiten ein selbstbestimmtes Leben zu führen. ({2}) In diesem Gesetzentwurf sind aber Effizienz und Selbstbestimmtheit gegeneinander ausgespielt worden, und Letzteres bleibt auf der Strecke. Der Behindertenbeauftragte hat es heute Morgen noch einmal betont: Es darf keine Einschränkungen des Rechts auf ein selbstbestimmtes Leben in der eigenen Häuslichkeit geben. – Das droht jedoch künftig Menschen mit Intensivpflegebedarf, und das versetzt sie in Angst, Angst, dem Medizinischen Dienst bestehende Pflegemängel nicht mehr melden zu dürfen, weil dieser sie sonst in ein Heim steckt. Der Sicherstellungsauftrag, den die Krankenkassen haben, muss auch für die Intensivpflege gelten; ({3}) nicht nur stationär, sondern auch ambulant. Ich möchte an dieser Stelle nicht verhehlen, dass es unter den häuslichen Settings auch schwarze Schafe gibt. Aber wenn es Missbrauch in Intensivpflege-WGs gibt, dann gehören nicht die WGs generell abgeschafft und eine ganze Branche unter Generalverdacht gestellt, sondern dann gehört ebendieser Missbrauch abgeschafft durch flächendeckende Qualitätskontrollen. ({4}) Hier müssen wir ansetzen, und wir sollten nicht mit der Holzhammermethode ein Gesetz verabschieden, das gegen die UN-Behindertenrechtskonvention verstößt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Grundsatz „Wir bleiben zu Hause“ prägt seit Wochen unser Leben, und das weltweit. Welches fatale Signal setzen wir in diesen Zeiten mit einem Gesetz, das diesen Grundsatz mit Füßen tritt? Die Covid-19-Ausbrüche in unseren Pflegeheimen zeigen uns, dass wir für vulnerable Gruppen mehr häusliche und individuelle Versorgungskonzepte benötigen, auch um einer Isolation in den Einrichtungen vorzubeugen. Sie jedoch wollen solche Konzepte abschaffen. Als Appell möchte ich zum Schluss mit Erlaubnis der Präsidentin aus dem Brief einer betroffenen Familie aus meinem Wahlkreis zitieren: Der Gesetzentwurf zeigt keinerlei Empathie und Rücksicht für die Menschen mit Intensivpflegebedarf. Es geht um Kostenreduzierung und Umverteilung von Personal, aber nicht um die Lebensqualität der Betroffenen, die schicksalhaft in diese Situation gekommen sind oder noch kommen werden. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen wir das nicht zu. Vielen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Nicole Westig. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Pia Zimmermann. ({0})

Pia Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004454, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Bas, ich bin sehr erstaunt und freue mich sehr darüber, dass Sie feststellen, dass Veränderungen am Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz nötig sind. Erst mal muss ich sagen: Es ist bisher keine richtig gute Regierungsarbeit, sondern eher eine schlechte. Wir haben nun die dritte Version dieses Gesetzentwurfes vorliegen, aber nicht weil Veränderungen im parlamentarischen Prozess normal sind; vielmehr haben vor allem die mutigen Proteste der betroffenen Menschen, die wir heute auch in Berlin hatten, diesen dritten Entwurf erzwungen. Das Bundesgesundheitsministerium hat mit den bisherigen Entwürfen Grundrechte verletzt. Aber, Herr Spahn, Ihr richtiges Ansinnen, die Abkassiererei in privat betriebenen Beatmungs-WGs zu beenden, hat auch in der vorliegenden Fassung immer noch Nebenwirkungen, die nicht zu akzeptieren sind. ({0}) Solche Wohngemeinschaften sind nämlich oft unseriös. Da wird oft mit gefährlicher Pflege von privaten Unternehmen ein Riesenreibach gemacht. Schieben Sie dem einen Riegel vor, Herr Spahn! Dafür haben Sie meine Unterstützung. ({1}) Aber tun Sie das nicht mit Grundrechtseinschränkungen. Tun Sie das nicht unter Missachtung der UN-Behindertenrechtskonvention. Und tun Sie das nicht auf Kosten der vielen Menschen, die auf Intensivpflege angewiesen sind. ({2}) Denn Menschenrechte gelten uneingeschränkt, auch für Menschen mit Intensivpflegebedarf. Es ist traurig, dass man das noch einmal so deutlich sagen muss. Ja, rein theoretisch können Menschen mit Intensivpflegebedarf entscheiden, wo und wie sie leben wollen. Aber diese Entscheidungen werden gelenkt. Die Betroffenen sollen nachweisen, dass sie an ihrem Wohnort die Pflege „tatsächlich und dauerhaft“ sicherstellen können. Aber gesteuert wird das über Kostenvorteile bei stationärer Unterbringung. Über die Zusage, ob häuslich versorgt werden darf, entscheidet allein der Kostenträger. Das ist doch Zwang! Viele Menschen werden nicht einmal frei entscheiden können, und das wissen Sie ganz genau. An diesem Problem hat sich seit dem ersten Entwurf wirklich nicht viel geändert. Und dann – ich komme zu einem weiteren Beleg für Ihre eher schlechte Regierungsarbeit – rühren Sie das im Ministerium auch noch zusammen mit dringend notwendigen Verbesserungen im Rehabereich. Rehaangebote für Ältere und chronisch Kranke, für Eltern und ihre Kinder müssen schon lange leichter zugänglich sein. Was Sie hier vorlegen, ist aber nur ein akzeptabler Anfang für dringend notwendige Rehareformen, mehr nicht. Da müssten wir auch noch viel mehr über bessere ambulante Rehaangebote sprechen. Die sind gerade für Ältere und chronisch kranke Menschen im Alltag entscheidend. ({3}) Ich fasse zusammen: gute, zarte Ansätze im Rehabereich, doch immer noch ein verfehlter Ansatz in der außerklinischen Intensivpflege. Legen Sie uns eine vierte Version vor, in der Sie das richtiggestellt haben. Darüber können wir dann in einer Anhörung sprechen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Pia Zimmermann. – Nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Corinna Rüffer. ({0})

Corinna Rüffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004390, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will noch mal versuchen, explizit eine behindertenpolitische Position in diese Debatte reinzubringen. Das ist, glaube ich, notwendig, um später im weiteren Gesetzgebungsprozess voranzukommen. Ganz grundsätzlich: Corona macht an vielen Stellen Probleme deutlich, die wir vorher nicht gesehen haben. Es wirft noch mal ein Schlaglicht auf Probleme, die wir vorher nicht gesehen haben. – Ein selbstbestimmtes Leben führen zu können, die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe, das ist das Versprechen der UN-Behindertenrechtskonvention, und die ist seit nunmehr elf Jahren geltendes Recht in diesem Land. Ich muss Ihnen leider sagen: Wir sind total weit davon entfernt, dieses Versprechen in Deutschland umzusetzen, und wir erleben das in der Pandemie in ganz besonderer Weise. Viele Menschen, gerade solche mit Behinderungen, leben seit Wochen und Monaten in absoluter Isolation. Das muss man sich mal vorstellen: Auf Kontakt zu ihren Liebsten mussten sie in den vergangenen Wochen und Monaten fast vollständig verzichten, und das in einer Situation, die ja für uns alle schwierig und belastend ist. Das ist wirklich kaum nachzuvollziehen. Unter dem Stichwort der Triage diskutieren wir die Frage, wer im Fall einer Überforderung des intensivmedizinischen Systems die überlebenswichtige Behandlung, das letzte Atemgerät bekommt. Menschen mit Behinderungen fürchten – das ist völlig nachvollziehbar –, dass sie in diesen Situationen den Kürzeren ziehen würden. Jetzt stehen wir ernsthaft hier und behandeln das IPReG, ein Gesetz, gegen das Menschen mit Behinderungen seit Monaten opponiert haben und die gefragt haben: Warum diskutieren wir jetzt und hier dieses Gesetz, wo wir nicht die Möglichkeit haben, unsere Stimme laut zu erheben vor diesem Reichstag, weil wir isoliert zu Hause sitzen? ({0}) Ich zitiere – damit Sie nachempfinden können, worum es hier geht und woher der Widerstand gegen dieses Gesetz kommt – den Vater eines dreijährigen Kindes. Er ist beatmet. Er beschäftigt seine Pflegekräfte über ein Budget selbst. Er schreibt den Text mit einem Computer und bedient die Tastatur mit seinen Augen; über diesen Menschen reden wir hier. Er sagt: Dass ich selbstbestimmt und in Würde bei meiner Familie leben darf, optimal gepflegt werde … ist der Boden, auf dem mein Glück steht und ohne den ich haltlos fallen würde. Was er fürchtet, ist, dass wir als Parlament ihn haltlos fallen lassen werden; das muss ich Ihnen, sehr geehrte Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, sagen. Herr Dusel war heute Morgen im Gesundheitsausschuss. Herr Dusel hat eindeutig gesagt, dass der Vorschlag, über den wir hier heute diskutieren, den Voraussetzungen und Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention nicht entspricht ({1}) und dass dieser junge Vater zu Recht darum fürchtet, dass der MDK ihn wider seinen Willen im Fall der Fälle in ein Heim abschiebt. Das ist der Punkt, über den wir hier reden. Ich habe einzelne Töne in dieser Diskussion gehört, die darauf hindeuten, dass wir die Kuh vom Eis bekommen können. Aber bitte, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, denken wir im weiteren Gesetzgebungsprozess über die Menschen nach, die darum fürchten, dass sie nach den Vorgaben weiterhin in ihrer häuslichen Umgebung leben können. An diese Menschen zu denken, das muss die Prämisse sein; denn diese Menschen haben das Recht, in ihrer häuslichen Umgebung zu leben. ({2}) Das spricht nicht dagegen, dass wir Missstände in diesem Bereich beheben müssen. Wir dürfen diese beiden Punkte nicht weiterhin gegeneinandersetzen.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Kollegin.

Corinna Rüffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004390, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen herzlichen Dank, Corinna Rüffer. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Erwin Rüddel. ({0})

Erwin Rüddel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004139, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Genau das wollen wir: Wir wollen, dass Wahlfreiheit herrscht. Wir haben es ja mehrfach gehört: Es hat mehrere Entwürfe gegeben. Wir haben uns weiterentwickelt, und zwar hin zu dieser Wahlfreiheit. Ich habe das Gefühl, dass von den Oppositionsfraktionen immer noch Punkte aus dem ersten Entwurf, wo diese Wahlfreiheit eingeschränkt war, vorgetragen werden und dass damit bei den Menschen Ängste erzeugt werden. Ich denke, wir sollten uns emotional etwas zurückfahren, und wir sollten über die Dinge diskutieren, die jetzt tatsächlich im Gesetzentwurf stehen. ({0}) Ich begrüße diesen Gesetzentwurf nachdrücklich. Es geht darum, Intensivpflegebedürftige besser zu versorgen, Fehlanreize in der Intensivpflege zu beseitigen und die Selbstbestimmung der Betroffenen zu stärken. Ich möchte drei Punkte besonders hervorheben, die mir sehr wichtig erscheinen. Erstens: die Wahlfreiheit des Ortes der Versorgung. Niemand, der die stationäre Pflege nutzen möchte, soll künftig aus finanziellen Erwägungen hiervon abgehalten werden können. Damit die Versorgung in einer stationären Einrichtung nicht aus finanziellen Gründen scheitert, werden Intensivpflegebedürftige in stationären Pflegeeinrichtungen weitgehend von Eigenanteilen entlastet. Die Krankenkassen können diese Kostenübernahme auch für den Fall anbieten, dass sich der Gesundheitszustand der versicherten Person bessert und außerklinische Intensivpflege nicht mehr nötig wäre. Zweitens: die Versorgungsqualität verbessern. Die außerklinische Intensivpflege in Wohngruppen wird verschärften Kontrollen unterzogen. Das ist richtig; denn wir wollen mehr Qualität und die Sicherheit, dass diese Qualität auch gewährleistet ist. ({1}) Deshalb wird der G-BA einheitliche Vorgaben an die Qualität definieren, und künftig werden nur noch qualitätsgeprüfte Pflegedienste eine außerklinische Intensivpflege erbringen können. Drittens: Verbesserung der Lebensqualität. Die Entwöhnung von Beatmung wird gefördert. Wenn eine Entwöhnung von der Beatmung möglich erscheint, soll vor der Entlassung aus dem Krankenhaus ein entsprechender Versuch gestartet werden. Dies wird mit zusätzlichen Vergütungen honoriert und umgekehrt mit Abschlägen sanktioniert, wenn ein solcher Versuch unterbleibt; denn Patienten sollen nicht länger künstlich beatmet werden als unbedingt nötig. ({2}) Ich bin der festen Überzeugung, dass wir mit diesem Gesetz einen großen Sprung nach vorne machen: für Wahlfreiheit und für Versorgungsqualität. Ich bitte darum, dass wir dieses Gesetz schnell und zügig diskutieren und zu einer Entscheidung bringen im Sinne der Betroffenen. Vielen Dank. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Erwin Rüddel. – Nächste Rednerin: Heike Baehrens für die SPD-Fraktion. ({0})

Heike Baehrens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte noch mal auf das Thema Rehabilitation eingehen. Eine erfolgreiche medizinische Rehabilitation schafft Lebensqualität und senkt Kosten. Wird durch die Reha die Pflegebedürftigkeit hinausgezögert, amortisieren sich die Kosten schon nach zwei bis drei Monaten. Ich habe ein Bild vor Augen: Einen 89-jährigen Mann, der beim Absteigen vom Fahrrad stürzt, sich den Oberschenkelhals bricht, operiert wird und anschließend in die Reha geht. Er kehrt von dort in sein vertrautes Umfeld zurück und kann seinen Alltag wieder selbstständig leben. Erst acht Jahre später muss er zum ersten Mal ambulante Pflegeleistungen in Anspruch nehmen. Vielleicht einmalig, aber doch ein gutes Beispiel, wie wertvoll Rehabilitationsmaßnahmen sind, gerade auch im hohen Alter. ({0}) Deshalb verbessern wir den Zugang zur geriatrischen Reha, indem eben tatsächlich die Ärzte diese Rehabilitationsmaßnahmen verordnen können. Wir beschleunigen die Verfahren, wir stärken das Wunsch- und Wahlrecht, und wir heben vor allem auch für chronisch kranke Kinder die Vierjahresfrist auf. Insbesondere ältere Menschen wissen oft gar nicht, wie hilfreich eine Rehamaßnahme sein kann, und vor allem: Sie scheuen den Weg durch die Instanzen. Deshalb müssen die Hürden abgebaut werden, und deshalb sollten wir auf diese langwierigen Widerspruchsverfahren verzichten; denn wir wissen: Reha lohnt. Deshalb machen wir diese Maßnahmen. ({1}) Rehabilitationskliniken haben auch eine wichtige Funktion in der medizinischen und therapeutischen Versorgungskette. Als Arbeitgeber stehen sie gleichzeitig im Wettbewerb mit den Krankenhäusern und den Pflegeeinrichtungen um gute Fachkräfte. Darum stärken wir mit diesem Gesetz auch die Verhandlungsposition der Rehaeinrichtungen gegenüber den Krankenkassen durch verbindliche Vorgaben für Versorgungs- und Vergütungsverträge. Wir schaffen dadurch mehr Transparenz und Verbindlichkeit bei der Vertragsgestaltung und setzen auf faire Verhandlungen zwischen Krankenkassen und Rehakliniken; denn die Preise, die von Krankenkassen bezahlt werden, müssen der Echtkostenentwicklung gerecht werden: Nicht Grundlohnsummenbindung ist da richtig, sondern Tarifbindung ist richtig. Denn nur so kann es gelingen, dass die Rehaeinrichtungen im Wettbewerb um gutes Personal tatsächlich mithalten können. ({2}) Uns als SPD ist es wichtig, die Rehabilitation zu stärken, weil Menschen befähigt werden, ihre Kräfte zu mobilisieren. Sie gewinnen damit Selbstständigkeit und Lebensqualität. Vielleicht noch als kleine Nachricht zum Schluss: Der damals 89-Jährige hat übrigens vor zwei Jahren noch mal eine Rehakur gemacht, und in wenigen Wochen wird er 100. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Heike Baehrens. – Nächster und letzter Redner in dieser Debatte: Erich Irlstorfer für die CSU/CDU-Fraktion. ({0})

Erich Irlstorfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004311, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Der Grundsatz „ambulant vor stationär“ ist der Wunsch der Betroffenen, und zwar jeden Alters. Und unsere Antwort darauf ist: Prävention, Rehabilitation und dann die Pflege. Deshalb ist es notwendig, dass wir schutzbedürftige Menschen – und ich sage ausdrücklich noch mal: jeden Alters – in ihrem Wunsch, daheim zu leben, ernst nehmen. Ich möchte unterstreichen, was die Kollegin Baehrens hier gesagt hat: Rehabilitation ist ein Werkzeug, um Menschen möglichst lange vor stationärer Pflege in der Häuslichkeit zu behalten. Und das machen wir nicht nur aus Kostengründen, sondern wir machen das aus Überzeugung, weil es in diesen Rehabilitationseinrichtungen Fachleute gibt, die einen Mehrwert für das Leben der Betroffenen schaffen, ({0}) die das einfach auch können, meine sehr geehrten Damen und Herren. Intensivpflege ist eine Verbesserung der Situation durch passgenaue Leistungen. Das ist das Entscheidende. Und deshalb ist es so wichtig, dass wir die außerklinische Intensivpflege stärken und dass wir die Rehabilitationseinrichtungen im Verhältnis zu den Krankenkassen auch nicht ausspielen, sondern dafür sorgen, dass es wirkliche Verhandlungen gibt, damit diese Einrichtungen nicht als Bittsteller auftreten müssen und nicht im Endeffekt wieder hinunterfallen, auch wenn es um den Kampf um ordentliches Personal geht. Nein, die Rehabilitationseinrichtungen müssen gestärkt werden! Und das ist hierbei ein Teileffekt. ({1}) Ich möchte aber auch eine klare Haltung der Union – ich glaube, auch der anderen Kolleginnen und Kollegen – hier zum Ausdruck bringen, wenn es um Missbrauch geht: Missbrauch muss bekämpft werden, und Missbrauch heißt auch, dass man sich unrechtmäßig Mittel selbst zuschustert. Diesen Einrichtungen, diesen Personen, die das machen, sagen wir den Kampf an. ({2}) Aber wir werden hier nicht, wie schon erwähnt, mit dem Holzhammer draufhauen und eine ganze Szene verunglimpfen. Nein, wir werden in einem ordentlichen Miteinander mit dem Medizinischen Dienst, der natürlich auch unsere Unterstützung benötigt – auch personelle Unterstützung, auch im Bereich der Ausbildung –, diesen Kampf aufnehmen. Es geht uns nicht darum, Mittel zu sparen, Mittel zu beschneiden oder sonst irgendwas. Wir wollen eine passgenaue Einsatzstruktur für die Mittel, die wir aus Steuergeldern und Beitragsgeldern in die Hand nehmen, und wir wollen, dass sie ordentlich eingesetzt werden. Das ist unser Ziel, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({3}) Zum Schluss möchte ich noch mal unterstreichen: Dauerhafte Beatmung ist kein Lebensentwurf. Es gibt Situationen, in denen man sie nicht verhindern kann; das ist völlig klar. Aber es ist unsere Aufgabe, und es muss unsere Aufgabe sein, dass wir Menschen, die die Möglichkeit haben, durch eine Entwöhnung wieder zu einem relativ normalen Leben zurückzukehren, auch entwöhnen. ({4}) Das ist notwendig. Das ist eine Lebenseinstellung, meine sehr geehrten Damen und Herren. Dafür setzen wir uns ein. Verehrte Kollegin Rüffer, das, was Sie hier vorgetragen haben, unterstreiche ich zu hundert Prozent. Da sind wir beieinander. Deshalb ist es notwendig, dass wir jetzt mit diesem Gesetz den ersten Schritt machen, dass wir genau das, was Sie beschrieben haben, auch wirklich verhindern, wenn es so sein sollte. Wenn es notwendig ist, dann müssen wir auch nachschärfen. Aber geben Sie diesem Gesetz eine Chance! Stimmen Sie zu! Ich bin der Überzeugung, dass es gut und richtig ist. Herzlichen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen herzlichen Dank, Herr Kollege. Würden Sie bitte noch mal kurz hier stehen bleiben? – Dieser wunderbare, reizende bayerische Kollege hat heute Geburtstag. Wir gratulieren ihm von ganzem Herzen. ({0}) Passend zu seiner Physiognomie hat er einen kugelrunden Geburtstag. Wir feiern in Gedanken mit Ihnen mit. Alles, alles Gute! ({1})

Erich Irlstorfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004311, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank!

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Damit schließe ich die Aussprache.

Dr. Jens Brandenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Blutkonserven werden knapp. Der Vorrat reicht in manchen Bundesländern nicht mal mehr für einen Tag. „Ein großes Problem“, sagt das Deutsche Rote Kreuz. Die Spenderzahlen gehen seit Jahren zurück. Blutspendeaktionen in Unternehmen oder Schulen finden jetzt in Coronazeiten kaum noch statt. Jede einzelne Spende zählt. Homo- und bisexuellen Männern ist das verboten. Sie dürfen in Deutschland kein Blut spenden. Das ist nicht nur diskriminierend, sondern grob fahrlässig. Es schadet all denen, die jetzt dringend auf eine Blutspende angewiesen sind. Das Blutspendeverbot für schwule Männer gehört endlich abgeschafft. ({0}) Männer, die Sex mit anderen Männern hatten, sind danach zwölf Monate lang von der Blutspende ausgeschlossen. Ein Jahr Enthaltsamkeit – das ist lebensfremd und medizinisch völlig überzogen. Jede einzelne Spende wird getestet. Auch HIV-Infektionen sind nach einem diagnostischen Fenster von sechs Wochen zuverlässig nachweisbar. Eine wissenschaftliche Begründung für zwölf Monate Abstinenz gibt es nicht. Sie sind absurd, und deshalb sollte man sie streichen. ({1}) Das Blutspendeverbot für transsexuelle Menschen ist inzwischen seit zwei Jahren immerhin gelockert. Noch immer werden transsexuelle Menschen aber als eigene separate Risikogruppe in den Richtlinien aufgeführt. Die offizielle Begründung von 2012 lautet – ich zitiere –: Da sich viele Transsexuelle, die eine vollständige Geschlechtsumwandlung anstreben, beruflich ausgegrenzt und gesellschaftlich diskriminiert fühlen, arbeiten viele als Prostituierte, um auf diese Weise nicht nur den Lebensunterhalt zu verdienen, sondern auch die Operationskosten zu erwirtschaften. Statistiken dazu gebe es nicht. Als Quelle für diese Behauptung verweist die Bundesärztekammer allen Ernstes auf 300 Inserate einer Erotik-Website. Eine unglaubliche Unterstellung! ({2}) Die wissenschaftliche Datenlage für einen pauschalen Ausschluss von homo- und bisexuellen Männern von der Blutspende ist nicht viel belastbarer. Herr Henke, Sie haben ja heute auf den höheren Anteil HIV-Infizierter unter Homosexuellen verwiesen. Im Durchschnitt stimmt das. Dasselbe trifft aber auch auf alle Männer insgesamt zu – und trotzdem sind sie nicht pauschal von der Blutspende ausgeschlossen. ({3}) Jens Spahn behauptet, es gebe zu diesem pauschalen Gruppenausschluss keine alternativen Methoden. Doch, die gibt es! Fragen Sie doch die möglichen Spender nach ihrem tatsächlichen Risikoverhalten – unabhängig von ihrer sexuellen Identität! ({4}) Wer als schwuler Mann in einer monogamen Beziehung lebt, Kondome regelmäßig benutzt und sich auch regelmäßig testen lässt, hat ein geringeres Infektionsrisiko als sein heterosexueller Nachbar, der noch letzte Nacht ungeschützt bei einem One-Night-Stand anonym mit einer Frau geschlafen hat. Dem Ersten eine Blutspende zu verbieten und im zweiten Fall eine Infektion zu riskieren, die so kurzfristig gar nicht nachweisbar wäre, das ist scheinheilig und doppelt fahrlässig. ({5}) Weltweit haben andere Länder das Blutspendeverbot für schwule Männer längst gelockert oder ganz aufgehoben – vor wenigen Wochen erst die USA, Ungarn und Brasilien. Weltweit verweisen Gesundheitsbehörden und Verfassungsgerichte auf neue wissenschaftliche Erkenntnisse. Aus einigen Ländern liegen inzwischen ja gute Studienergebnisse vor. Die zeigen eins: Die Lockerung der Blutspendeverbote hat gerade nicht zu einer Erhöhung des Infektionsrisikos geführt – nicht in Italien, nicht in Kanada, nicht in Großbritannien. Wie lange wollen Sie noch warten? Blut ist nicht schwul oder hetero. Kein Patient soll sterben müssen, weil der mögliche Blutspender der deutschen Richtlinie zu schwul war. Nicht die sexuelle Identität, sondern das persönliche Risikoverhalten eines Menschen ist entscheidend. ({6}) Bereiten wir dem pauschalen Blutspendeverbot für homo- und bisexuelle Männer endlich ein Ende! ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Brandenburg. – Nächster Redner ist für die CDU/CSU-Fraktion Rudolf Henke. ({0})

Rudolf Henke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Brandenburg, ich will erst mal den Antrag der FDP besonders loben ({0}) und begründe das damit, dass er einen Konsens der, glaube ich, meisten hier im Haus klar formuliert: ({1}) Fraglos ist, dass die medizinische Sicherheit der gewonnenen Blutspenden und die Sicherheit der potenziellen Empfängerinnen und Empfänger höchste Priorität hat. Der ebenfalls hier zur Debatte stehende Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist in gleicher Weise zu loben, ({2}) weil auch in diesem Antrag steht: Die Sicherheit der Empfänger*innen von Blutspenden muss oberste Priorität haben. Wie kommt das, dass ein so klarer Konsens da ist? Das hat natürlich damit zu tun, dass wir in den 80er-Jahren die Blut-Aids-Katastrophe erlebt haben, die dazu geführt hat, dass sich damals mehr als 1 500 Bluter durch Blutprodukte, die mit HIV infiziert waren, ihrerseits angesteckt haben. Das ist nicht der einzige Arzneimittelskandal, den es gegeben hat; sondern man muss dazusagen, dass auch das Thema Hepatitis-C-Infektionen im gleichen Zusammenhang steht. Und man muss, weil wir ja in Gesamtdeutschland leben, auch die Anti‑D-Prophylaxe aus den Zeiten der DDR bei Frauen mit bestimmten Blutgruppenkonstellationen erwähnen, bei denen damals 7 500 Infektionen ausgelöst worden sind. Deswegen muss uns allen gemeinsam klar sein: Wenn wir den Satz formulieren, dass die Sicherheit der Empfängerinnen und Empfänger von Blutspenden „oberste Priorität“ haben muss, ({3}) dann muss diese Kategorie des Patientenschutzes natürlich auch Konsequenzen haben. ({4}) Ich erlaube mir, aus der Drucksache 12/6700 – das ist „Erste Beschlussempfehlung und Zwischenbericht“ des 3. Parlamentarischen Untersuchungsausschusses der 12. Wahlperiode – zu zitieren. Dort heißt es auf der Seite 17: Die bei der Blut-AIDS-Katastrophe offenbar gewordenen Strukturdefizite liegen im Meldesystem und im Risikomanagement. Es muss in Zukunft sichergestellt sein, daß Risikosignale unverzüglich zu aktiven Maßnahmen zum Patientenschutz führen. Und in einer Debatte am 6. September 1994 hat der damalige Vorsitzende des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses, Gerhard Scheu ({5}) – ja, das ist über 20 Jahre her, aber es sind ja Lehren, die bis heute beibehalten werden müssen –, ({6}) gesagt: Gestatten Sie mir eine persönliche Schlußbemerkung: Aus dieser nach Contergan zweiten großen Arzneimittelkatastrophe müssen wirkliche Konsequenzen gezogen werden. Ansonsten bestünde Grund zur Besorgnis. ({7}) Welche Konsequenz ist dann daraus gezogen worden? Es hat dann noch bis zum 7. Mai 1998 gedauert, bis der Deutsche Bundestag zum ersten Mal in Deutschland ein Transfusionsgesetz verabschiedet hat – eine Konsequenz aus den aufschlussreichen Arbeiten des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses über den HIV-Skandal, unter Berücksichtigung der HCV-Problematik. ({8}) Damals ist das Transfusionsgesetz, das wir in der letzten Sitzungswoche in einem bedeutenden Punkt geändert haben, zum ersten Mal ins deutsche Recht eingeführt worden. Und dieses Transfusionsgesetz ist die Grundlage dafür, dass wir sagen: Die Frage, wer zur Spende zugelassen wird, wessen Blut zur Spende angenommen wird und wo wir durch Rückstellungen oder durch Ausschlüsse entscheiden, dass eine Spende nicht möglich ist, ist keine Frage, die politisch entschieden werden kann. ({9}) Nach Auffassung unserer Fraktion ist das keine politische Frage, sondern eine Frage, die im Kern eine wissenschaftliche, eine medizinische, eine epidemiologische Frage ist. Dementsprechend regelt das Transfusionsgesetz, dass es eine Hämotherapierichtlinie geben muss. Die Erarbeitung dieser Hämotherapierichtlinie ist der Bundesärztekammer übertragen worden; daran ist das Paul-Ehrlich-Institut beteiligt. Daran sind also viele hochrenommierte Experten beteiligt. Weil wir deren Dienste als Gesetzgeber in Anspruch nehmen, sage ich jetzt einmal: Ich weise den Vorwurf, dass diese Experten pauschal eine Diskriminierung von Schwulen im Sinn hätten, zurück. Diesen Vorwurf haben die Experten, deren Dienste wir uns zum Schutz der Patienten zu eigen machen, nämlich nicht verdient. ({10})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung vom Kollegen Ullmann aus der FDP-Fraktion?

Rudolf Henke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, wie immer.

Prof. Dr. Andrew Ullmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004922, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Kollege Henke, dass Sie die Frage zulassen. – Ich würde Ihnen gerne, weil Sie auch die Wissenschaft angeführt haben, eine Frage stellen. Wir haben versucht, darzustellen, dass das Verhalten eine wichtige Rolle spielt und nicht die geschlechtliche Identität. Wie unterscheiden wir denn einen One-Night-Stand von Hochrisikoverhalten? Sie sind ja ein ärztlicher Kollege. Wäre es nicht wichtig, auch da zu differenzieren? Im Übrigen: Seit 1994 – das ist 26 Jahre her – hat sich auch die Untersuchungsmethodik gerade im HIV- und Aids-Bereich dramatisch geändert. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke, Dr. Ullmann. – Herr Henke.

Rudolf Henke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Zunächst bestätige ich gerne, dass sich viele Untersuchungsmethoden seitdem dramatisch geändert haben. Das ist der wissenschaftliche Fortschritt. Und ich bin ja auch der Meinung, dass dieser berücksichtigt gehört. Was die heutige Richtlinie Hämotherapie angeht, so orientiert sie sich nicht an gruppenbezogenen Ausschluss- oder Rückstellungskriterien, sondern an einer verhaltensassoziierten Beurteilung der Spendetauglichkeit. Kriterien für einen vorübergehenden Ausschluss sind zum Beispiel auch Auslandsreisen, Schwangerschaft, Impfungen, Operationen. ({0}) Ein Aufenthalt im Vereinigten Königreich von Großbritannien von mehr als sechs Monaten in den Jahren 1980 bis 1996 führt zeitlebens zum Ausschluss von der Blutspende. ({1}) Und die Zeitspannen bei Rückstellungen können von einer Woche über vier Monate bis hin zu zwei Jahren gehen. Und die Frage – – ({2}) Ich werbe ja nur dafür, dass wir diese Fragen wissenschaftlich entscheiden ({3}) und nicht politisch. Deswegen ist mir wichtig, noch einmal darauf aufmerksam zu machen, dass wir – jetzt gerade, am Samstag vergangener Woche, in Kraft getreten – das Transfusionsgesetz geändert haben, mit einer Formulierung, die besagt – ich zitiere Artikel 11 des Zweiten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite –: Die Bewertung des Risikos, das zu einem Ausschluss oder einer Rückstellung von bestimmten Personengruppen von der Spende führt, ist – so der Koalitionsbeschluss – im Fall neuer medizinischer, wissenschaftlicher oder epidemiologischer Erkenntnisse zu aktualisieren und daraufhin zu überprüfen, ob der Ausschluss oder die Rückstellung noch erforderlich ist, um ein hohes Gesundheitsschutzniveau von Empfängerinnen und Empfängern von Blutspenden sicherzustellen. Zitat Ende.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Henke, kommen Sie bitte mit Ihrer Rede auch zum Ende.

Rudolf Henke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Koalition hat gehandelt. Das haben wir beschlossen. Und ich werbe sehr dafür, deswegen jetzt nicht einen politischen Druck auf die zuständigen Gremien zu entfalten, sondern zu sagen: Wir vertrauen denen, dass sie eine Entscheidung treffen, die in der Sache richtig ist. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Rudolf Henke. – Nächster Redner in der Debatte: Detlev Spangenberg für die AfD-Fraktion. ({0})

Detlev Spangenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004898, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! „Einfach Leben retten – Blutspendeverbot für homosexuelle und transgeschlechtliche Menschen abschaffen“ – FDP. „Diskriminierung bei der Blutspende beenden – Transfusionsgesetz ändern“ – Grüne. Meine Damen und Herren, Grundsatz: Es gilt allein die Sicherheit der Blutkonservenempfänger. Und: Nicht spenden zu dürfen, ist keine Diskriminierung. – Das ist das Erste. ({0}) – Vielleicht können Sie mal die Klappe halten. Letztes Mal haben Sie auch rumgebrüllt. Wir haben nichts mehr gehört. ({1}) Meine Damen und Herren, beide Anträge haben einen falschen Ansatz. ({2}) – Ich rufe immer lauter, wenn Sie reinbrüllen. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Also, das ist meine Arbeit, Herr Spangenberg.

Detlev Spangenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004898, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Es gibt kein Verbot für genannte Gruppen. ({0}) Allein Einschränkungen für Personen mit einem bestimmten sexuellen Verhalten werden angesprochen. In der Richtlinie von 2017, abgestimmt zwischen Bundesärztekammer und Paul-Ehrlich-Institut, heißt es auf Seite 18 im Hinblick auf die Exposition, also das Ausgesetztsein des Risikos, eine übertragbare Infektion zu erwerben: Zeitlich begrenzt von der Spende zurückzustellen sind Personen – nicht Gruppen –, deren Sexualverhalten ein ... Übertragungsrisiko für durch Blut übertragbare schwere Infektionskrankheiten, wie HBV, HCV oder HIV, birgt, für 12 Monate … So steht es dort drin. ({1}) – Herr Brandenburg, es geht nicht um die Männer allein; Männer sind auch dabei. Es geht um - heterosexuelle Personen mit sexuellem Risikoverhalten … ({2}) - Personen, die Sexualverkehr gegen Geld oder andere Leistungen … anbieten … - Männer, die Sexualverkehr mit Männern haben … - transsexuelle Personen mit sexuellem Risikoverhalten … Es geht um keine Gruppen, sondern immer um einzelne Personen. ({3}) Das ist der entscheidende Punkt, meine Damen und Herren. Sie bedienen wieder einmal angebliche Minderheiten oder solche, die sich als Minderheiten verstehen bzw. die Sie als Minderheiten erst einmal installieren, meine Damen und Herren. Mit dieser Polarisierung diskriminieren Sie quasi Menschen, indem Sie sie pauschal zu einer benachteiligten Gruppe erklären. ({4}) Diesen so diskriminierten Gruppen bieten Sie dann, wie hier geschehen, Ihre Hilfe und Unterstützung auf ideologischer und falscher Grundlage an. Also Schmierentheater und Populismus – mehr sage ich nicht dazu. ({5}) Die vorgesehene Ergänzung des § 12a des Transfusionsgesetzes sieht die Bundesärztekammer ebenfalls kritisch. Im Begründungstext wird ausgeführt: „Die aktuelle Richtlinie Hämotherapie nach dem § 12a sieht in ihrer Ziffer 2.2.4.3.2.2 epidemiologisch begründete befristete Rückstellungen von der Blutspende für bestimmte Gruppen mit erhöhtem Risiko vor, darunter beispielsweise Männer ... Und so weiter. Ich habe es eben ausgeführt. – Dann sagt die Bundesärztekammer: Die Richtlinie Hämotherapie wird hier falsch wiedergegeben bzw. falsch verstanden. In der Richtlinie heißt es nämlich: Zeitlich begrenzt von der Spende zurückzustellen sind Personen, deren Sexualverhalten ein gegenüber der Allgemeinbevölkerung deutlich erhöhtes Übertragungsrisiko für durch Blut übertragbare schwere Infektionskrankheiten … birgt, für zwölf Monate … So steht es dort drin und nicht, wie Sie es interpretieren. Diese Einschränkung ist allein der Tatsache geschuldet, dass diese Personen eben ein höheres Risiko besitzen, nicht geeignetes Blut zu spenden. So steht es da drin; ist nicht von mir. ({6}) Auf das Beratungsergebnis, meine Damen und Herren, der gemeinsamen Arbeitsgruppe des Ständigen Arbeitskreises „Richtlinien Hämotherapie nach §§ 12a und 18 TFG“ der Bundesärztekammer bin ich gespannt. Das RKI und das Bundesministerium für Gesundheit sprechen von der „Blutspende von Personen mit sexuellem Risikoverhalten“ – also immer nur von Personen. Meine Damen und Herren, noch mal zur Diskriminierung. Zurzeit dürfen nicht spenden: Häftlinge, Prostituierte, Menschen, die weniger als 50 Kilogramm wiegen, Menschen über 68 bzw. 72 Jahren und diejenigen, die die Frage nach dem Aufenthalt in Großbritannien – das habe ich erst von Herrn Henke erfahren – in den Jahren 1980 bis 1996 bejahen und die länger als sechs Monate dort gelebt haben. Sind die alle diskriminiert, nur weil Sie beispielsweise keine 50 Kilogramm wiegen? Das ist doch ein Witz, was Sie hier machen. Meine Damen und Herren, die „Süddeutsche Zeitung“, die Ihnen ja auch nahesteht, sagt:

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Detlev Spangenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004898, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Man kann nicht vorsichtig genug sein. Letzter Satz: Meine Damen und Herren, solange ein Restrisiko besteht, dass im Verhalten bestimmter Personen eine Gefahr für Spenderblut liegt, geht die Sicherheit der Empfänger vor, nicht Ihre oder deren ideologische Ausrichtung. Vielen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön. – Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Hilde Mattheis. ({0})

Hilde Mattheis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003588, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir als SPD-Fraktion akzeptieren weder Diskriminierung noch Pauschalierung oder Unterstellungen; das ist für uns völlig klar. In dem Zusammenhang kann man hier deutlich sagen: Es ist das Verdienst von Grünen und FDP, dieses Thema noch mal gesondert auf die Tagesordnung gesetzt zu haben. Aber es ist auch das Verdienst der Koalitionsfraktionen, die Weichen gestellt zu haben, bevor wir das hier diskutieren. Mit dem Zweiten Bevölkerungsschutzgesetz sind nämlich die Weichen für andere Richtlinien gestellt worden. ({0}) Lassen Sie uns daher gemeinsam das Erstellen und das Überarbeiten der Richtlinien begleiten; denn die sind tatsächlich völlig aus der Zeit gefallen. ({1}) Ich glaube, dass es wichtig ist, dass wir diese gemeinsame Botschaft in die Gesellschaft hinaustragen: dass es nicht darum geht, bestimmte Gruppierungen oder Bevölkerungsgruppen wegen ihrer sexuellen Orientierung zu diskriminieren, sondern dass es darum geht, Diskriminierung zu vermeiden, aber auch den Schutz für Blutspendeempfängerinnen und ‑empfänger aufrechtzuerhalten. Auch darum geht es. Das sagen Sie in Ihren Anträgen, und das sagen auch wir in unseren Stellungnahmen. Wenn man sich anguckt, wie die Richtlinien aussehen, muss man sagen: Auch die Wissenschaft, auch die Medizin dürften dazugelernt haben. Ich bin sicher, dass sie dazugelernt haben; denn es geht nicht nur darum, diese Sperrfristen zu hinterfragen. Einmal sind es zwölf Monate – das wurde schon ausgeführt – für sogenannte Risikogruppen der unterschiedlichsten Bereiche. Dazu gehören eben auch heterosexuelle Risikogruppen. Aber wer, bitte schön, geht zum Blutspenden und streicht an: „Ich gehöre zur heterosexuellen Risikogruppe“? Das ist völlig aus der Zeit gefallen. ({2}) Noch eine Hinterfragung, die Sie in Ihren beiden Anträgen nicht ansprechen: Sie sprechen hauptsächlich die sexuelle Orientierung an. Sie sprechen aber zum Beispiel nicht die Sperrfrist von vier Monaten an, die für Häftlinge gilt, die für Menschen, die sich Tattoos stechen lassen, gilt, die für Leute, die in hochrisikoreiche Länder gereist sind, gilt. Ich bin dafür, dass wir im Rahmen unseres politischen Handelns – da haben wir das Heft des Handelns in der Hand – die Bundesärztekammer und alle Wissenschaftler, die dazu auch aufgerufen sind, auffordern, sehr zeitnah genau diese überarbeitete Richtlinie vorzulegen. Dann liegt es an uns, die politische Entscheidung zu treffen. Ich bin sicher, dass es da eine große Einigkeit gibt, wenn die wissenschaftliche und medizinische Grundlage stimmt. Vielen Dank. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Hilde Mattheis. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Doris Achelwilm. ({0})

Doris Achelwilm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004651, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Anwesende! Blutspenden retten Leben. Sie müssen absolut sicher und möglichst ohne Diskriminierung ablaufen. Auf der Achse der Diskriminierungsfreiheit ist noch deutlich Luft nach oben. ({0}) Lange waren schwule und bisexuelle Männer kategorisch von der Blutspende ausgeschlossen. Nach einer Aufforderung durch den Europäischen Gerichtshof, weniger pauschale und belastende Methoden des Gesundheitsschutzes zu prüfen, wurde die Blutspenderichtlinie der Bundesärztekammer überarbeitet, allerdings nur sehr fadenscheinig und formal. Männer, die Sex mit Männern haben, dürfen in Deutschland seit 2017 nach einjähriger Abstinenz Blut spenden. Diese Fortsetzung der alten Grenzziehung stößt Betroffene, die helfen wollen, verständlicherweise vor den Kopf und ist so nicht länger haltbar. Es geht auch anders, ohne dass dadurch die nötige Sicherheit von Blutprodukten beeinträchtigt wäre. ({1}) Diverse Länder in Europa praktizieren hier eine Rückstellungsfrist von drei Monaten. Dänemark und Frankreich planen eine Dauer von vier Monaten. Bestimmte Fristen sind auch notwendig, um das diagnostische Zeitfenster von sechs Wochen zum Nachweis einer HIV-Infektion einzuhalten. Eine exklusive Sonderausschlusszeit von einem Jahr hingegen ist lebensfremd und nicht notwendig. ({2}) Die Richtlinie Hämotherapie gehört in diesem Sinne geklärt: Wie genau müssen wir mit mehr Zeit und vielen Sachverständigen prüfen und diskutieren? Dass die medizinische Beurteilung zur sicheren Gewinnung von Blut und Blutbestandteilen bestimmten Risikogruppen gegenüber auf recht fragwürdigen Grundlagen beruht, zeigt sich insbesondere auch beim Ausschluss transgeschlechtlicher Menschen. Sie unterstellt neben beruflichen Vorlieben, dass Transpersonen gesundheitlich immer mit einer gewissen Vorsicht zu betrachten sind, was völlig absurd ist. Noch mal zur Erinnerung: Eine Person mit sexuellem Risikoverhalten ist bereits durch bestehende Ausführungen von der Blutspende ausgeschlossen. Eine doppelte Markierung schafft nicht automatisch mehr Sicherheit, aber bestätigt definitiv Vorurteile auf Kosten der so markierten Menschen. ({3}) Das passiert dann ganz konkret: Den Blutspendefragebogen mit diesen Ausführungen lesen alle, die ihn beim Spenden gewissenhaft ausfüllen, und ich denke, dass es außer den direkt Betroffenen gesellschaftliche Mehrheiten gibt, die sich hier klare diskriminierungs- und widerspruchsfreie Kriterien wünschen. Verantwortung beim Blutspenden tragen Menschen ohnehin nicht aufgrund ihrer sexuellen Orientierung, die so oder so gelebt werden kann, sondern aufgrund ihres individuellen Risikoverhaltens. Die Richtlinie sollte diesen Grundsatz stärken und nicht Vorurteile reproduzieren. ({4}) Zur Abwägung und Klärung offener Fragen sind Gesetzgeber und Exekutive also auch aus unserer Sicht gefordert. Die Aufgabe sollte nicht allein einer wissenschaftlichen Fachebene überlassen werden, auch wenn Einvernehmen mit dem Paul-Ehrlich-Institut als zuständiger Bundesoberbehörde selbstverständlich herzustellen ist. Nichts spricht dagegen, dass wir uns jetzt in Ausschüssen mit der nötigen wissenschaftlichen Beratung, demokratisch legitimiert, transparent und unter Einbeziehung zivilgesellschaftlicher Gruppen dafür einsetzen, dass Blutspenden auf jeder Ebene optimal geregelt sind. Im Gegenteil: Vieles spricht dafür. Vielen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Doris Achelwilm. – Nächster Redner: für Bündnis 90/Die Grünen Sven Lehmann. ({0})

Sven Lehmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004801, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Worüber wir heute diskutieren, darüber wird auf deutschen Bühnen gelacht. Der Kölner Comedian Markus Barth erzählt in seinen Shows gerne die folgende Geschichte: Ein schwuler Mann lebt mit seinem Partner in monogamer Ehe. Er geht zum Arzt, um Blut zu spenden. Der Arzt fragt ihn: Haben Sie auch ein Jahr auf Sex verzichtet? Denn sonst werden Sie hier leider nicht zugelassen. – Und das Publikum biegt sich vor Lachen über diese absurd-komische Geschichte. Das Ding ist nur: Es ist halt keine Geschichte. Es ist Realität in Deutschland im Jahr 2020, und es ist, ehrlich gesagt, auch nicht lustig. Es ist medizinisch unbegründet, es ist diskriminierend, und deswegen darf es auch so nicht bleiben, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Ein Jahr lang kein Sex oder du bist raus. Damit wird einer Gruppe – doch, es geht um Gruppen – von Menschen deutlich signalisiert, dass ihre Blutspende eigentlich nicht erwünscht ist und dass diese Menschen, völlig egal, wie sie leben, pauschal eine potenzielle Gefahr darstellen. Bei heterosexuellen Menschen wird aber erst einmal angenommen, dass ihre Spende sicher ist. Da hofft man, dass die alten Bilder aus den 80er-Jahren endlich aus den Köpfen sind, und dann zeigt sich, sie finden sich sogar immer noch in den Richtlinien der Bundesärztekammer wieder. Die wird sich ganz sicher nicht von allein bewegen. Der Bundestag als Gesetzgeber muss hier aktiv werden. ({1}) Obwohl händeringend Blutspenderinnen und Blutspender gesucht werden, konnte sich der Bundestag bisher nicht dazu durchringen, diese absurden Ausschlüsse zu kippen. Natürlich hat Sicherheit bei der Blutspende oberste Priorität. Aber dabei muss das individuelle Risikoverhalten – das haben alle Vorrednerinnen und Vorredner gesagt – entscheidend sein und nicht die Frage, ob jemand lesbisch, schwul, bisexuell, trans – oder intergeschlechtlich oder einfach heterosexuell ist. Wer Blut spendet, übernimmt Verantwortung für die Gesellschaft. Das müssen wir doch ermöglichen und fördern, anstatt es pauschal abzuweisen. ({2}) Gestern aber hat Jens Spahn als Bundesgesundheitsminister noch einmal klargemacht, dass er an dieser Diskriminierung festhalten will. Das ist nicht nur enttäuschend, es ist auch überraschend; denn es ist der Gesundheitsminister, der noch vor Kurzem wollte, dass alle Menschen automatisch Organspender sind. Schwule Organe sind also offenbar erwünscht, schwules Blut aber nicht. Das zeigt die gesamte Willkür, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Wir Grüne fordern erstens: Die Bundesärztekammer soll einmal im Jahr überprüfen, ob der Ausschluss von bestimmten Personengruppen von der Blutspende wissenschaftlich noch begründet ist. Wir fordern zweitens ein Verbot direkter oder indirekter Diskriminierung im Transfusionsgesetz. ({4}) Es kann doch nicht allen Ernstes sein, dass ausgerechnet Ungarn mit Viktor Orban in dieser Frage weiter ist als Deutschland. Lassen Sie uns bitte dieses leidige Thema in dieser Legislaturperiode endlich gemeinsam abräumen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Sven Lehmann. – Nächste Rednerin: Emmi Zeulner für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Emmi Zeulner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004452, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu Beginn möchte ich sagen, dass ich nicht bereit bin, mir hier die hingestellten Schuhe der Opposition anzuziehen und mich dem Diskriminierungsvorwurf auszusetzen, wie er in den Anträgen, die Sie formuliert haben, durch die Bank zu lesen ist. Ich finde es auch deshalb so schade, weil wir hier in der letzten Woche das Verbot der Konversionstherapie mit großer Mehrheit verabschiedet haben. Ich möchte hier einen anderen Weg gehen: weg von einer Gefühlsdebatte, die in gewisser Weise nachvollziehbar ist, hin zu einer sachlichen und medizinischen Betrachtung. Es ist mir deshalb wichtig, weil immer wieder der Vorwurf der Diskriminierung in den Raum geworfen wird und alle anderen Argumente kein Gewicht mehr erhalten. Aber in diesem Fall geht es um eine Interessenabwägung, in der die Freiheit des Spenders, zu spenden, dem Schutz der Gesundheit des Empfängers gegenübersteht. ({0}) Wenn wir uns die Fakten anschauen, wird klar, dass hier keine Diskriminierung Grundlage der Entscheidung ist, wer unter welchen Voraussetzungen als Blutspender infrage kommt und wer nicht. Vielmehr wird ausschließlich aufgrund einer Risikobewertung nach dem anerkannten Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft entschieden. ({1}) Diese Entscheidung dient am Ende den Schwächsten und damit auch Schutzbedürftigsten in der Kette der Blutspende: nämlich den Empfängern. Diese gilt es zu schützen und Risiken, soweit es geht, auszuschließen, auf sachlich fundierter Grundlage.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Zeulner, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage oder Kurzbemerkung von Herrn Lechte zuzulassen?

Emmi Zeulner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004452, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte die Rede bitte zum Abschluss bringen. Dafür bietet das System des RKI eine solide Basis; denn hier werden Risikogruppen gebildet und die epidemiologischen Daten ausgewertet. Ergeben diese Daten ein erhöhtes Risiko für Infektionen beispielsweise, so wird die Blutspende im Sinne der Sicherheit des Empfängers abgelehnt; ein objektives System, das ich logisch finde. Grundlage für die Bewertung sind hierbei die Daten, die nach dem Infektionsschutzgesetz an die offiziellen Stellen, also die Gesundheitsämter, gemeldet werden. Zu den Risikogruppen, die zeitweilig – also nicht dauerhaft; deshalb stimmt es nicht, wie die Kollegen von den Grünen im Antrag behaupten, dass es keine individuelle Betrachtung gibt – von der Blutspende ausgeschlossen sind, zählen zum Beispiel auch heterosexuelle Menschen mit sexuellem Risikoverhalten, ({0}) Menschen, die sich im Ausland in bestimmten Gebieten aufgehalten haben, oder – so nennt man es – Männer, die mit Männern Sex haben. All diese Gruppen haben objektiv nach den medizinischen Daten ein erhöhtes Risiko, eine Infektion zu übertragen. So geht aus den Daten auch hervor, dass auf die Risikogruppe „Männer, die Sexualverkehr mit Männern haben“ jährlich 70 Prozent der Neudiagnosen einer HIV-Infektion entfallen und dass HIV-Infektionen grundsätzlich bei männlichen Spendern sechs- bis neunmal höher sind als bei Spenderinnen. Diese Zahlen können wir als mit in der Verantwortung Stehende im Sinne der Empfängersicherheit nicht einfach ignorieren. Medizinisch und im Sinne der Empfänger ist ein zeitweiliger Ausschluss einer Spende, also kein grundsätzlicher, in dem Bereich einfach schlicht geboten. Ja, ich stimme Ihnen zu, dass bei der Risikobewertung auch diejenigen umfasst werden, deren individuelles Verhalten nur ein geringes Risiko darstellt, und dass dies als Ungerechtigkeit empfunden wird. Dies ist aber meiner Meinung nach im Rahmen der Interessenabwägung gerechtfertigt. Und solange wir noch keine gesicherte Methode haben, wie innerhalb der Risikogruppen noch weiter differenziert werden kann, bleibt die Zulassung mit der bestehenden Einschränkung die einzig praktikable Lösung. Ich stimme Ihnen aber in dem Punkt zu, dass, wenn wir die medizinischen Bedenken ausräumen können, wir eine weitere Öffnung des Spenderkreises erreichen müssen, zum Wohle des Bedarfs an Blutspenden. Sollte es also zukünftig Tests geben, die innerhalb kürzester Zeit eine Infektion des Spenders ausschließen können, und sich so zum Beispiel das diagnostische Fenster für eine HIV-Infektion deutlich verringern, dann haben wir eine neue Grundlage und müssen neu bewerten. ({1}) Mit dem fachfremden Änderungsantrag zum Zweiten Gesetz zum Schutz der Bevölkerung haben wir festgelegt, dass die Risikobewertung immer wieder aktualisiert werden muss, und zwar mit dem Ziel, einen ungerechtfertigten Ausschluss – sei er dauerhaft oder zeitweilig – zur Blutspende zu vermeiden. Doch solange sich diese Bewertung nicht geändert hat, steht für mich die Sicherheit des Empfängers, wie es viele Kollegen betont haben, an erster Stelle. Dies wird durch das aktuelle System am ehesten gewährleistet. Deshalb lehnen wir Ihre Anträge ab. Vielen Dank. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Emmi Zeulner. – Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Ulrich Lechte. Herr Lechte, bitte.

Ulrich Lechte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004799, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kollegin, ich beschäftige mich seit 2002 mit diesem Thema, also schon seit 18 Jahren. Beim Landeskongress der Jungen Liberalen in Kempten 2003 hatte ich als deren Landesvorsitzender schon damals einen Antrag eingebracht, um genau diese Diskriminierung anzusprechen. Ich möchte Ihnen zeigen, dass Ihre Argumentation schlicht und ergreifend Quatsch ist. Besuch bei Prostituierten gehört zum dritten Ausschlusskriterium nach homosexuellen oder bisexuellen Menschen und Strafgefangenen. Wer geht aber zu Prostituierten? Das sind keine homosexuellen Männer, sondern es sind heterosexuelle Männer, die zu Hause so tun, als ob alles in Ordnung ist, deren Beziehung aber eigentlich zu Ende ist. Wenn man dann im Rahmen dieser Beziehung alle zwei, drei Monate gemeinsam zur Blutspende geht, wird der Heteromann dort nicht sagen, dass er für die nächsten zwölf Monate von der Blutspende ausgeschlossen ist. ({0}) Das heißt, es geht schlicht und ergreifend um die Frage des Sexualverhaltens und nicht um die Frage der Sexualität. Wenn ich mit einem Partner sechzehneinhalb Jahre in einer monogamen Beziehung bin, dann müsste ich eigentlich derjenige sein, der zur Blutspende gehen darf, weil ich nicht zu Prostituierten renne. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Herr Lechte. – Frau Kollegin, wollen Sie antworten? – Ja, will sie, darf sie.

Emmi Zeulner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004452, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Geschätzter Kollege, deshalb sind auch heterosexuelle Männer mit einem auffälligen Sexualverhalten von der Spende ausgeschlossen. Ich kann daher nur sagen: Das macht es am Ende des Tages einfach nicht besser. Ich bitte, zu akzeptieren, dass das Infektionsrisiko bei Männern im Vergleich zu dem von Frauen sechs- bis neunmal höher ist. Natürlich macht man auch dort eine Unterscheidung. Ich bitte, das zu akzeptieren. Wir haben – darin sind wir uns auch einig – in einem Gesetz bereits verabschiedet, dass es eine regelmäßige Überprüfung des Ganzen geben muss. Daran werden wir uns halten. Am Ende des Tages ist es meiner Meinung nach keine politische Entscheidung, sondern es ist die Bundesärztekammer, die hier mit anderen Instituten Grundlagen schafft. Da werden wir weiter genau hinsehen. Vielen Dank. ({0})

Dr. Karl Heinz Brunner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004256, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren eigentlich auf zwei Ebenen hier in diesem Hohen Haus. Wir diskutieren zum Ersten die Frage, was medizinisch notwendig ist, und sind uns im Klaren darüber, dass Menschen gutes Blut brauchen, und zwar nicht nur ein paar Tröpfchen, sondern viele. Und wir diskutieren zum Zweiten die Frage der Diskriminierung, also darüber, ob Menschen oder Personengruppen in diesem Land diskriminiert werden. Ich will Ihnen ein Beispiel aus meiner Jugend, als ich noch Student war und zum Blutspenden ging, nennen. Damals sind viele Menschen zum Blutspenden gegangen – das war noch vor HIV und Ähnlichem –, weil sie damals 20 Mark bekommen haben. Viele Studentinnen und Studenten haben das gemacht. Jetzt sage ich Ihnen ganz offen: Glauben Sie ernsthaft, dass jemand, der 20 Mark verdienen wollte, auf dem Zettel angekreuzt hat: „Ich bin schwul“, „Ich habe häufig wechselnde Geschlechtspartner“ oder „Ich finde Frauen oder Männer interessant“? Nein, das machte er nicht. Der hat damals nur die 20 Mark im Sinn gehabt. Deshalb ist es eine Doppelzüngigkeit und einfach verlogen, wenn man diese Frage stellt, von der man weiß, dass die überwiegende Anzahl der Personen bei dieser Gelegenheit schlichtweg lügt. ({0}) Ich sage ganz deutlich: Ich halte es für Quatsch, diese Regelung aufrechtzuerhalten. Aber ich halte es auch für Quatsch, das Gesetz zu ändern. Denn wir sind dafür verantwortlich, dass es in Gesetzen keine Diskriminierungen gibt. Für den medizinischen Bereich müssen das aber die Ärzte machen. Die müssen sich auf den Hosenboden setzen, die heutigen medizinischen Kenntnisse nutzen und damit anständige, ordentliche Richtlinien auf den Weg bringen. ({1}) Ich sage auch ganz deutlich: Es macht für mich überhaupt keinen Sinn, die Aussage zu treffen, dass nur schwule Männer einem besonderen Risiko unterliegen, heterosexuelle Männer und heterosexuelle Frauen aber nur dann einem höheren Risiko unterliegen, wenn sie häufig wechselnde Geschlechtspartner haben. Was bedeutet es, häufig wechselnde Geschlechtspartner zu haben? Muss man da täglich oder wöchentlich wechseln? ({2}) Muss man das an jedem zweiten, dritten, vierten Tag machen, oder reicht einmal Thailand aus? ({3}) Die gibt es ja auch, die das einmal im Jahr machen. Ich habe gelernt: Eine Krankheit oder Infektion kann schon beim einmaligen sexuellen Kontakt übertragen werden. Also: Einmal falsch an der Stelle, und schon ist es passiert. Deshalb ist es unsinnig, diese Regelungen zu behalten. ({4}) Ich bitte Sie aber, in den Beratungen in den Ausschüssen, bei der Anhörung der Sachverständigen, die wir hoffentlich dazu hören, bei den Gesprächen mit den Ärzten und der Ärztekammer darauf zu achten, dass die Einsicht vorhanden ist, die Realität des Lebens zu akzeptieren. Und zu dieser Realität des Lebens gehört – ganz gleich, ob es sich um eine Frau oder einen Mann handelt, ob hetero oder schwul –: Es gibt Menschen, die haben viel Geschlechtsverkehr; es gibt Menschen, die haben ein hohes Infektionsrisiko, und es gibt Menschen, die – beispielsweise ich – heute Abend nach Hause gehen und froh sind, nur bei dem einen Menschen zu sein, bei dem sie gerne sein möchten. In dem Sinne wünsche ich Ihnen einen schönen Abend und uns gute Beratungen. Ich glaube, wir können, wenn wir vernünftig sind, zu einem richtigen Ergebnis kommen. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Karl-Heinz Brunner. Dann Ihnen beiden einen schönen Abend! Ich schließe die Aussprache.

Michael Donth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004262, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte gleich zum Einstieg in diesen Tagesordnungspunkt erst einmal Danke sagen. Denn einen Bericht wie den, den wir heute vor uns haben, zu erstellen, ist ein großer Kraftakt für Ingenieure, für Planer, für die beteiligten Genehmigungsbehörden, für viele Juristen und diejenigen, die auch eine umfassende Bürgerbeteiligung organisieren und moderieren. Stellvertretend für alle Beteiligten, von der Bahn bis zum Eisenbahn-Bundesamt, möchte ich meinem Kollegen und Bahnbeauftragten der Bundesregierung, Staatssekretär Enak Ferlemann, und seinem Team dafür ganz herzlich danken. ({0}) Ich danke ebenso – das ist das Besondere bei diesem Projekt – den Bürgerinnen und Bürgern, die sich in der Öffentlichkeitsbeteiligung konstruktiv eingebracht haben. Und ich danke meinen Kollegen Katja Leikert und vor allem auch Björn Simon, die sich für diese Strecke ebenfalls stark eingesetzt haben. Wir haben uns in der Koalition und darüber hinaus eingehend mit diesem Bericht befasst und sind uns einig, dass die Beseitigung dieses Nadelöhrs in der Metropolregion rund um Frankfurt für den Personennah-, für den Fern- und auch den Güterverkehr enorm wichtig ist. Dieser Streckenabschnitt ist ein wichtiges Bindeglied im transeuropäischen TEN-T-Netz. Der Bericht stellt ebenso klar heraus, dass die Anwohner dieses Streckenabschnitts vom Ausbau profitieren wollen. Gleichermaßen müssen sie vor den Lärmauswirkungen dieser höheren Schienenkapazität geschützt werden. Basierend auf unserem guten und wegweisenden Antrag aus dem Jahr 2016 – er hatte den Titel „Menschen- und umweltgerechte Realisierung europäischer Schienennetze“ – bringen wir damit heute ein ganzes Bündel von Maßnahmen konkret auf den Weg und erfüllen damit einen Großteil der Kernforderungen der Bürger aus der frühen Öffentlichkeitsbeteiligung. Es ist das erste Mal seither, dass wir dieses Verfahren zum übergesetzlichen Lärmschutz hier im Parlament umsetzen, nämlich erstens mit Schallschutzmaßnahmen, die effektiv sind und sich besser in die Landschaft einfügen, zweitens mit dem Wunsch, hierbei eine Gesamtlärmbetrachtung einzubeziehen, sofern sie denn rechtzeitig technisch umsetzbar sein wird, und drittens mit der Sicherstellung eines barrierefreien Ausbaus der Stationen entlang der Strecke. Damit schaffen wir einen deutlichen Mehrwert im Rahmen der Ausbaumaßnahmen von Hanau-Wolfgang bis Hailer-Meerholz. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir gehen damit deutlich über das gesetzlich vorgeschriebene Maß hinaus, und deshalb kommt dieses Projekt heute auch hierher. Denn wir geben 29 Millionen Euro mehr für dieses Bahnprojekt aus, als wir das eigentlich nach unseren gesetzlichen Standards tun müssten: 29 Millionen Euro für einen menschen- und umweltgerechten Ausbau dieser für das deutsche wie auch für das transeuropäische Schienennetz wichtigen Bahnstrecke. Wir stellen aber heute nochmals klar, was wir 2016 im Zuge des Ausbaus der Rheintalbahn auch schon gemacht haben und was unseren Koalitionsantrag, im Ausschuss vorgelegt, von dem Entschließungsantrag der Grünen, der heute auch vorliegt, unterscheidet: Der Ausbau dieses Schienennetzes ist Teamarbeit. Die Finanzierung von übergesetzlichen Maßnahmen durch den Bund ist das eine, die Beteiligung von Land und Kommunen das andere. Wir haben zudem die Länder, aber auch die Bahn seit 2016 für den Ausbau der Barrierefreiheit von Bahnstationen mit ausreichenden weiteren Fördermöglichkeiten ganz speziell für diese Frage ausgestattet. Nur gemeinsam und mit Augenmaß lassen sich Vorbehalte oder auch Widerstände von Streckenanrainern bereits im Vorfeld der Planungsverfahren besprechen und aus dem Weg räumen. Das Augenmaß kommt auch durch eine im Zweifel notwendige Eigenbeteiligung zum Ausdruck. Das galt bereits für das Projekt in Baden-Württemberg, das gilt künftig für weitere Projekte von Bayern bis Schleswig-Holstein, und das muss deshalb auch für Hessen gelten. So sorgen wir dafür, dass sich wichtige Ausbauprojekte rascher umsetzen, Nadelöhre beseitigen und Kapazitäten in unserem Schienennetz aufbauen lassen. Das ist unser Ziel. ({1}) Heute ist ein guter Tag für die Bahn, ein guter Tag für die Anwohner an der Strecke und ein guter Tag für die Verkehrspolitik. Kurzum: Das ist eine gute Entscheidung, also stimmen Sie der guten Beschlussempfehlung zu. Ich möchte aber noch anfügen: Heute ist auch ein guter und wichtiger Tag für mich persönlich; wenn ich das zum Abschluss meiner Rede noch sagen darf. Heute dürfen meine Frau und ich unsere Silberhochzeit feiern. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Ach, deshalb. Ich habe mir nur gedacht: Irgendwas ist da, er strahlt heute so silbern, glitzert und ist glücklich. Gratuliere!

Michael Donth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004262, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Deshalb möchte ich Dir, liebe Claudia, für 25 gemeinsame Jahre, für unsere drei tollen Kinder und vor allem für deine Unterstützung danken. Das war bei aller Bedeutung der Bahn und dieser Strecke die wichtigste Entscheidung in meinem Leben. Vielen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Lieber Michael Donth, ein guter Tag für die Bahn, ein guter Tag für Sie. Alles Gute, feiern Sie schön Ihre silberne Hochzeit. Sie strahlen wirklich von innen. Man kann es richtig spüren. Auf die nächsten 25! ({0}) Heute ist irgendwie der Tag zum Gratulieren. Es ist eine gute Stimmung hier im Haus. Hoffentlich geht es so weiter. ({1}) Nächster Redner: Wolfgang Wiehle für die AfD-Fraktion. ({2})

Wolfgang Wiehle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004933, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Manchmal gebietet die politische Vernunft, beim Ausbau der Infrastruktur mehr für die betroffene Nachbarschaft zu tun, als es die gesetzlichen Regelungen vorschreiben. Der viergleisige Ausbau der Bahnstrecke zwischen Hanau und Gelnhausen ist ein solcher Fall. Diese Strecke ist ein Teilabschnitt der Relation Hanau–Fulda und schon heute hochbelastet. Gerade wenn es wie hier vor allem um überregional wichtige Verkehrswege geht, sind die Vorteile durch den Ausbau für die betroffene Anwohnerschaft oft geringer als die erwarteten Belastungen. Vorteile für die Anlieger vor Ort gibt es natürlich, etwa durch eine künftig mögliche bessere Bedienung im Nahverkehr. Im Mittelpunkt steht bei solchen Vorhaben aber das Interesse der Allgemeinheit an einem höheren Durchsatz der Bahnlinie. Hauptnachteil ist der zusätzliche Schienenlärm; entsprechend ist mit vielen Einsprüchen zu rechnen. Die durchgeführte frühe Bürgerbeteiligung war nützlich, um die Kernanliegen aus den betroffenen Gemeinden zu kennen. Ein solches Vorgehen hätte beim Ausbau wichtiger Abschnitte der Rheintalbahn zwischen Karlsruhe und Basel manche Extrarunde in der Planung erspart. Dort hat man später mit verbessertem Lärmschutz umgeplant und damit die Debatten befriedet. Ich sage voraus, dass das auch bei weiteren Ausbauvorhaben so sein wird. Ein Beispiel ist die Anbindung des Fehmarnbelttunnels durch den Ausbau der Bahnstrecke zwischen Lübeck und Puttgarden. Wenn es zu einem Ausbau der Bahnstrecke im Inntal zwischen Rosenheim und Kufstein für die Anbindung des Brennerbasistunnels kommt, wird es auch in dieser empfindlichen Landschaft besonders wichtig sein, viel für den Lärmschutz zu tun. Für die Strecke zwischen Hanau und Gelnhausen hat der Bürgerdialog zwei noch nicht erfüllte Kernforderungen ergeben: die erste betrifft den Lärmschutz und die zweite den barrierefreien Zugang zu den Bahnsteigen. Für den Abschnitt zwischen Hailer-Meerholz und Gelnhausen würde die Planung absurderweise zu schlechterem Lärmschutz als beim Rest der Strecke führen, weil hier schon eine Planfeststellung nach einer älteren Rechtslage vorliegt. Gerade hier ist es ein Gebot der Vernunft, die nötigen 5 Millionen Euro zusätzlich bereitzustellen, um für einen durchgängigen Standard zu sorgen. ({0}) Wenn betroffene Gemeinden städtebaulich ansprechenderen Lärmschutz wünschen, ist es eine Option, dass der Bund dies mitfinanziert. Den entsprechenden Beschluss aus dem Verkehrsausschuss trägt die AfD-Fraktion gerne mit. Das gilt auch für die beschlossenen Zusatzmaßnahmen für die Barrierefreiheit. Eine Grenze ziehen wir aber: Aus Bundesmitteln, also dem Geld der Steuerzahler, über den Kommunen das Füllhorn auszuschütten und ohne Eigenbeteiligung alle gewünschten Sonderelemente an den Lärmschutzwänden zu bezahlen, so wie es die Grünen gerne hätten, das lehnt die AfD-Fraktion ab. ({1}) Ich hoffe, dass der mit vernünftigem Maß zustandegekommene Beschluss aus dem Ausschuss von einer großen Mehrheit getragen wird. Das sollte auch ein Fingerzeig für künftige Projekte sein. Vielen Dank. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Wolfgang Wiehle. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Mathias Stein. ({0})

Mathias Stein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004904, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir wollen mehr Güter vom Lkw auf die umweltfreundliche Schiene verlagern. Dafür müssen wir das Schienennetz fit machen, und das tun wir als Koalition. Für viele Anwohnerinnen und Anwohner bedeuten große Schienengütertrassen aber eben auch mehr Lärm, mehr Erschütterung und mehr Einschränkungen. Im Jahr 2016 haben SPD und Union mit dem sogenannten TEN-Trassen-Antrag einen Vorschlag erarbeitet, um besonders betroffene Regionen zu unterstützen. Diese können nun Schutzmaßnahmen erhalten, die über die gesetzlichen Anforderungen hinausgehen. Konkret bedeutet das: mehr Lärmschutz. ({0}) Das gilt für Gütertrassen, die Teil der transeuropäischen Netze sind und zu denen in einem strukturierten Beteiligungsprozess Forderungen erarbeitet worden sind. Der Antrag der Koalition wurde 2016 einstimmig im Bundestag beschlossen, auch mit Stimmen der Linken und der Grünen; die FDP hatte damals eine kurze Pause im Bundestag eingelegt. All die Regionen, die die Kriterien des TEN-Trassen-Beschlusses erfüllen, können entsprechende Forderungen an die Politik richten. Einen Automatismus, dass die Forderungen dann auch umgesetzt werden, gibt es allerdings nicht. Es obliegt uns Parlamentarierinnen und Parlamentariern, bei jedem Projekt genau zu prüfen, welche Forderungen wir verantworten können. Hanau–Gelnhausen ist das erste Projekt, bei dem der TEN-Trassen-Beschluss angewendet wird. Mit unserem Entschließungsantrag, im Ausschuss vorgelegt, beweisen wir als Koalition, dass wir es ernst meinen mit dem Schutz der besonders betroffenen Regionen. ({1}) Wir haben uns die Kernforderungen und auch die Einschätzung des Verkehrsministeriums, des Eisenbahn-Bundesamtes und der Deutschen Bahn dazu genau angesehen und können den Forderungen fast vollständig zustimmen. Unser Entschließungsantrag ermöglicht mehr Lärmschutz, weil sowohl beim Ausbau als auch beim Neubau ein höherer Lärmschutzstandard gilt, mehr Barrierefreiheit, weil alle Stationen barrierefrei gebaut werden und Bahnsteige möglichst drei Meter breit sein müssen, und mehr Sicherheit bei allen Neu- und Umbauten, weil wir eine Videoüberwachung ermöglichen. Wir investieren in den Schutz der Menschen 24 Millionen Euro mehr, als in der Standardvariante vorgesehen ist. Darüber hinaus sind wir sogar bereit, die Kommunen finanziell mit bis zu 5 Millionen Euro für eine schönere Gestaltung der Lärmschutzwände zu unterstützen. Wir zeigen: Wir nehmen die Sorgen der Menschen vor Ort ernst. ({2}) Ich danke allen Bürgerinnen und Bürgern aus der Region, die sich engagiert in den Planungsprozess eingebracht und ihre Anliegen sachlich erstritten haben. Mit dem heutigen Beschluss wird ihr Engagement belohnt. Das Projekt Hanau–Gelnhausen ist damit Blaupause für eine Reihe noch kommender Projekte wie die Hinterlandanbindung der Fehmarnbeltquerung bei uns in Schleswig-Holstein, die Wallauer Spange in Hessen oder das Alpha-E-Projekt in Niedersachsen. Mit diesem Entschließungsantrag zeigen wir als Koalition, dass wir es mit einer klimafreundlichen Verkehrswende ernst meinen und sie gemeinsam mit den Menschen gestalten wollen. Schade, dass Grüne und FDP im Ausschuss unserem Koalitionsantrag nicht zugestimmt haben. Sie haben jetzt die Gelegenheit, das im Plenum zu tun. Meinem Kollegen Donth und seiner Frau gratuliere ich natürlich zur silbernen Hochzeit. ({3}) Ich hätte nie gedacht, dass Sie, so jung wie Sie sind, schon so lange verheiratet sind. Feiern Sie noch schön! Herzlichen Dank. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Mathias Stein. – Ja, und dass er immer noch so glücklich aussieht! ({0}) Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Dr. Christian Jung. ({1})

Dr. Christian Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004769, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In der Zukunft muss es unser gemeinsames Ziel sein, deutlich mehr Menschen und Güter auf der Schiene zu transportieren als im Jahr 2019. ({0}) Ein stabiles und gut ausgebautes Schienennetz, zusätzliche Gleise, Weichen, Überholgleise und Bahnkurven sind dafür genauso unerlässlich wie neue Terminals für den kombinierten Verkehr sowie funktionierende Ausweichstrecken, die es zum Beispiel für die Rheintalbahn immer noch nicht gibt. Wir Freie Demokraten begrüßen daher den Ausbau der Strecke Hanau–Gelnhausen in Hessen. Sie gehört zu einer der meistbefahrenen Bahnstrecken Deutschlands seit 1867. Wie viele andere Strecken ist diese zurzeit von Engpässen und Überlastungen geprägt wegen des gemischten Verkehrs. Auf 25 Kilometern sollen nun die Schienen viergleisig ausgebaut werden. Dadurch werden Fahrzeiten verkürzt und Überlastungen ausgeglichen. Der Fern- und Schienengüterverkehr wird infolgedessen optimiert. Das finden wir sehr gut. Ich will diese Gelegenheit nutzen, um eine aktuelle Sache anzusprechen. Wir haben gestern den Bericht des Bundesrechnungshofs an den Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages bekommen. Ich möchte vor allem die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU und der SPD bitten, diesen Bericht des Bundesrechnungshofs über Pfingsten in Ruhe zu lesen. Ich hoffe – das hat indirekt auch mit dem Ausbau der Strecke Hanau–Gelnhausen zu tun – für die CDU/CSU und die SPD, dass, wenn Sie diesen Bericht über Pfingsten lesen, der Heilige Geist auch Ihnen Kraft gibt, zu erkennen, dass es so bei der Bahn nicht weitergehen darf; (Beifall bei der FDP – Reinhold Sendker [CDU/CSU]: Da müssen Sie auch dran glauben! Nicht nur lesen! denn ohne Veränderungen bei der Bahn wird jeder weitere Euro im Bermudadreieck Deutsche Bahn verschwinden. Und das dürfen wir nicht zulassen. ({1}) Wir brauchen dringend eine Strukturreform bei der Deutschen Bahn. Dies gilt für den Konzern an sich, die Tochterunternehmen, die Auslandsbeteiligungen. Ebenso gilt dies für die Strategie sowie die zukünftige Ausrichtung in personeller und operativer Hinsicht. Es hilft nichts, wenn es permanent zur Bahn, wie auch gestern, Showveranstaltungen von Minister Scheuer gibt. Alle wissen, der wirklich wichtige und entscheidende Bahngipfel werden die Koalitionsverhandlungen 2021 sein. Es ist heute schon wahrscheinlicher, dass die Freien Demokraten dabei sein werden, als dass Andreas Scheuer, Richard Lutz und Ronald Pofalla dabei sein werden. ({2}) Herzlichen Dank. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Herr Dr. Jung. – Nächster Redner: für die Fraktion Die Linke Jörg Cezanne. ({0})

Jörg Cezanne (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004693, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin natürlich versucht, über die Strecke Hanau–Gelnhausen – das ist sozusagen bei mir daheim ums Eck – eine Rede auf Hessisch zu halten; aber das will ich Ihnen heute Abend ersparen. ({0}) Aber ich möchte ein bisschen zur Einordnung sagen – denn auch aus hessischer Sicht ist nicht völlig eindeutig, warum die paar Kilometer von Hanau nach Gelnhausen jetzt so wichtig sind; Herr Donth hat es schon angesprochen –: Diese Strecke ist ein Kernelement des deutschlandweiten, eigentlich sogar des europäischen Bahnnetzes. Rund um den Knoten Frankfurt besteht einer der größten Engpässe überhaupt. Da laufen der öffentliche Personennahverkehr des Rhein-Main-Gebiets, der Regionalverkehr in Osthessen, der Fernverkehr auf der Nord-Süd-Achse und der europaweite Güterverkehr zusammen. – Insofern ist das ein guter Schritt. Das Spannende heute ist aber eigentlich gar nicht so sehr die Strecke, über die wir reden, sondern das Beteiligungsverfahren, das damit erfolgreich abgeschlossen wird. Das ist die besonders gute Nachricht. Wir haben uns, wie andere hier im Hause auch – die Grünen allen voran –, immer für solche frühen Bürgerbeteiligungen eingesetzt. Dieses Großprojekt zeigt, dass so etwas absolut gute Ergebnisse hervorbringen kann. Wir bestätigen zwei Kernforderungen dieses Beteiligungsforums, und das ist auch gut so. Die erste Kernforderung ist die Forderung nach einem ausreichenden Lärmschutz. Das ist entscheidend für die Leute, die an dieser Bahntrasse leben, und für diejenigen, die durch die Erweiterung vielleicht betroffen wären. Aber ich glaube, das ist auch von strategischer Bedeutung; denn wir müssen die Ziele beim Bahnausbau erreichen ohne zusätzliche Belastungen bzw. mit geringstmöglichen Belastungen für die betroffene Bevölkerung. Wir werden überall dort Bahnstrecken neu bauen, wo ohnehin schon Lärmbelästigungen vorliegen. Deshalb sind Lärmschutzmaßnahmen von besonderer Bedeutung. Dass übergesetzlicher Lärmschutz hier notwendig ist, das haben wir immer betont. Man hätte vielleicht da und dort noch ein bisschen mehr tun können, als wir es heute Abend beschließen bzw. bestätigen werden; trotzdem ist das richtig. Die zweite Kernforderung – Barrierefreiheit – erklärt sich, glaube ich, von selbst. Ich will noch einen Punkt ergänzen: Nicht nur mit Blick auf Lärmschutz und Barrierefreiheit, sondern auch mit Blick auf die Streckenführung, also große Fragen, sind solche Beteiligungsverfahren sinnvoll. Für das Anschlussprojekt, wo es beim Streckenbau ein bisschen komplizierter wird – von Gelnausen nach Fulda –, ist im Beteiligungsverfahren eine Verständigung auf eine neue, bessere Streckenführung erzielt worden. Diese wird die alten Überlegungen zur Mottgers-Spange bzw. Nordspessart-Querung ersetzen. Das finden wir mindestens genauso gut wie die Bestätigung der Kernforderungen von heute. Ich danke Ihnen sehr. – Und dem Ehepaar Donth noch, wie man auf Hessisch sagen tät: Alls so weider gell. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Jörg Cezanne. – Nächste Hessin und nächste Rednerin: Daniela Wagner für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Daniela Wagner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004184, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Schienenausbauprojekt werden dringend erforderliche Kapazitäten im Korridor Frankfurt–Hanau–Fulda–Eisenach geschaffen. In Verbindung mit der sich nördlich anschließenden Neubaustrecke Gelnhausen–Fulda und der NBS Fulda–Gerstungen wird ein markanter Engpass im deutschen und im hessischen Schienennetz aufgelöst. Für alle drei Projekte ist aufgrund ihrer herausragenden Bedeutung für die Kapazitätssteigerung im DB-Streckennetz ein zügiger Planungsfortschritt nicht nur wünschenswert, sondern dringend notwendig und geboten. ({0}) Erfahrungsgemäß ist Akzeptanz bei Bürgerinnen und Bürgern und bei der Lokalpolitik der entscheidende Faktor im Hinblick auf zügige, rechtssichere und konfliktarme Umsetzung. Akzeptanz ist eine entscheidende Voraussetzung für das Gelingen der Verkehrswende. Die Entmischung der Verkehre – schneller Personenfernverkehr, langsamerer Personennahverkehr, langlaufender Güterverkehr – durch viergleisigen Ausbau zwischen Hanau und Gelnhausen bringt eine nachhaltige Kapazitätssteigerung. Das ist ausgesprochen positiv. ({1}) Davon profitiert auch der Schienengüterverkehr im Sinne unseres gemeinsamen Ziels hier im Hause, Güter von der Straße auf die Schiene zu bringen. Hier kommt unser Entschließungsantrag ins Spiel. Wir möchten die Vorschläge der frühzeitigen Bürgerbeteiligung bei der Ausbaustrecke Hanau‒Gelnhausen aufgreifen und die Mehrkosten in der Finanzierung von vornherein absichern. Das gilt für die Kernforderung eins zum Lärmschutz – es geht um die Anwendung der neuen Richtlinie Schall 03 einheitlich auf der gesamten Strecke und um die Ausgestaltung der Lärmschutzwände –, und das gilt für die Kernforderung zwei, die Barrierefreiheit herzustellen. All das ist insgesamt natürlich etwas teurer, aber wir halten diese Mehrkosten im Rahmen dieses Gesamtprojekts für vertretbar und überdies für sehr gut angelegtes Geld. ({2}) Großen Dank auch an die Bürgerinnen und Bürger, die sich engagiert haben! Ich muss sagen: Das Beteiligungsforum hat sich als Format und als Verfahren absolut bewährt. Ich bin froh, dass das heute so ist, wie es ist. ({3}) Noch einige Sätze zu dem, was die Koalition vorträgt: Ich kann Ihren Wunsch, die Mehrkosten mit der Region und dem Land Hessen hälftig zu teilen, durchaus nachvollziehen. Wir halten das allerdings gerade auch hinsichtlich der kommunalen Leistungsfähigkeit in der aktuellen Situation für vollkommen unrealistisch, zumal die Hälfte des Gesamtbetrags der Mehrkosten mehr ist als die 5 Millionen, die Sie im Koalitionsantrag benennen. Deswegen haben wir uns am Ende zu einer Enthaltung entschieden. Wir werden das Projekt aber weiterhin mit viel Engagement und sehr wohlwollend begleiten. Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit, und Ihnen, Herr Kollege, einen schönen Hochzeitstagabend! ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Wenn das so weitergeht und so viel gratuliert wird, dann müssen Sie noch einen ausgeben. ({0}) Nächster Redner in der Debatte: Ulrich Lange für die CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Ulrich Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004087, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Jung, wäre doch nur der Heilige Geist in der Landesvertretung Baden-Württemberg gewesen. Dann müssten Sie heute nicht über Koalitionsverhandlungen fabulieren, sondern dann könnten Sie mitregieren und die Weichen hier mit stellen. ({0}) Sie brauchen niemandem den Heiligen Geist zu wünschen außer sich selber. Und wenn Sie nicht noch ein paar Wähler dazubekommen, dann ist es auf Ihren Plätzen in der nächsten Legislaturperiode wieder leer. – So viel mal zum Einstieg! ({1}) Insgesamt gesehen ist das, was wir heute hier beschließen, wirklich gut und ein starkes Signal aus diesem unserem Haus für mehr Lärmschutz, für bessere Barrierefreiheit und für beispielhafte Bürgerbeteiligung. Wer jetzt über mehrere Jahre Verkehrspolitik und Schienenpolitik gemacht hat, wie einige hier von uns – da beziehe ich Staatssekretär Enak Ferlemann ausdrücklich ein –, der weiß, dass wir in den letzten Jahren viel für diese Bürgerbeteiligung und für diesen Bürgerdialog gemacht haben, weil wir längst begriffen haben und wissen, dass ohne Akzeptanz vor Ort weder Ausbau noch Neubau – ganz egal, welche Infrastrukturfinanzierung – funktionieren kann. Das setzen wir, glaube ich, hier um, und dann wird auch an einem Strang gezogen. ({2}) Auch das gehört am heutigen Tag einfach festgehalten: Diese übergesetzlichen Maßnahmen werden nicht durch eine Erhöhung des Bedarfsplantitels finanziert, sondern müssen aus dem Einzelplan 12 – aus dem Verkehrshaushalt – finanziert werden. Deswegen kommt der Bund – und das möchte ich schon unterstreichen – seiner Finanzierungsverantwortung hier sehr wohl nach. Wir glauben, dass es durchaus angemessen ist, dass sich die Länder und die Kommunen – ich sage ausdrücklich „die Länder“ – hier mit einbringen müssen. Am Ende können solche Mehraufwendungen nur getragen werden, wenn wir die Lasten unter allen Beteiligten fair teilen. Da hat der Bund viel zu tragen, aber nicht alles zu tragen. ({3}) Insofern war der Beschluss von 2016, den wir einstimmig gefasst haben, gut und richtig. Damit haben wir für Fälle mit besonderer regionaler Betroffenheit bezogen auf TEN-Korridore eine solche Lösung gefunden. Das Beispiel des Dialogforums zeigt auch, dass solche Foren im Planungsverfahren einen echten Mehrwert haben. Viele, die schon länger dabei sind – viele waren auch schon an der Rheintalstrecke und an vielen anderen Brennpunkten –, wissen, dass wir immer wieder gefordert sind, eine Balance zwischen früher Öffentlichkeitsbeteiligung und zügigem Planverfahren zu finden. Wir haben erkannt und wissen, dass das kein Widerspruch, sondern eine Chance ist, und diese Chance wollen wir für unsere Schieneninfrastruktur nutzen. Die Öffentlichkeitsbeteiligung kann Zeit sparen – und zwar ausdrücklich gut gemachte Öffentlichkeitsbeteiligung; das war ja auch das erste Mal nach dem „Handbuch für eine gute Bürgerbeteiligung“ –, und das brauchen wir. ({4}) Darüber hinaus will ich heute noch einen wesentlichen Punkt ansprechen: Wenn wir weiter einen Ausbau und Neubau unserer Schieneninfrastrukturen wollen, dann müssen wir die Planungsverfahren weiter beschleunigen. Wenn die Konjunkturpakete greifen sollen, dann brauchen wir flankierend ein Investitionsbeschleunigungsgesetz. Wir müssen uns ernsthaft Gedanken darüber machen, das Raumordnungsverfahren und das Planfeststellungsverfahren besser zu verzahnen; am besten wäre es, sie zusammenzulegen. Wir brauchen – und dafür stehen wir als Union weiterhin – eine materielle Präklusion. All das – eine frühe und schnelle Rechtssicherheit – hilft neben der Bürgerbeteiligung. Wir wollen eine Schieneninfrastruktur. Wir wollen, dass die Planung und die Plangenehmigungsverfahren durch die Digitalisierung deutlich beschleunigt werden. Schnelle, rechtssichere Planung, frühe Bürgerbeteiligung, faire Finanzierung: Dieses Beispiel ist ein gutes Beispiel für die Schiene in ganz Deutschland. Herzlichen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Ulrich Lange. – Jetzt kommen wir gleich zur letzten Rednerin in dieser Debatte und am heutigen Sitzungstag. Ich gebe das Wort Bettina Müller für die SPD-Fraktion. ({0})

Bettina Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004358, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mitten durch die Main-Kinzig-Region führt die Bahnstrecke von Hanau nach Fulda. Diese Strecke ist eine der wichtigsten Ost-West-Achsen und seit 20 Jahren chronisch überlastet. Deshalb soll hier in zwei Abschnitten ausgebaut werden. Zunächst bekommt die vorhandene Strecke Hanau‒Gelnhausen vier Gleise, später wird von Gelnhausen nach Fulda ausgebaut. Die Pendler werden aufatmen, wenn die Züge wieder rollen; denn egal ob Auto oder Bahn: Stau und Verspätungen gehören heute zum Alltag für die Menschen in unserer Region. Sie leiden besonders unter der europaweiten Bedeutung des Verkehrsknotens Rhein-Main. Mit dem Ausbau wird der Verkehr zwar flüssiger, aber der Lärm wird zur extremen Belastung. Schon jetzt verkehren hier täglich 250 bis 300 Züge: Fernverkehr, Nahverkehr, Güterzüge. Deshalb brauchen wir an der gesamten Strecke einen Lärmschutz auf höchstem Niveau. ({0}) Diese Forderung haben wir in den Antrag von SPD und Union aufgenommen. Mit zusätzlichen Mitteln soll der Deutsche Bundestag den besonderen Schutz der Menschen über das gesetzlich vorgeschriebene Maß hinaus ermöglichen. Das ist neu und zeitgemäß. Diese Verkehrspolitik hat die SPD seit 2012 mit ihrem Antrag für einen neuen Infrastrukturkonsens vorangetrieben. Wir wollen große Projekte nicht gegen, sondern mit den Menschen vor Ort stemmen. ({1}) Nur so, liebe Kolleginnen und Kollegen, können wir in Deutschland die Klimawende auch schaffen. Deshalb haben wir im Antrag auch die vom Main-Kinzig-Kreis geforderte Barrierefreiheit und eine Bahnsteigbreite von 3 Metern berücksichtigt. ({2}) Nur wenn Familien mit Kinderwagen, ältere Menschen mit Rollator, körperlich Eingeschränkte und Fahrradpendler mühelos Zugang finden, werden sie die Bahn auch täglich nutzen und das Großprojekt vor der eigenen Haustür akzeptieren. Als Kommunalpolitikerin im Main-Kinzig-Kreis freut es mich besonders, dass ich hier die Ergebnisse einer außergewöhnlichen Bürgerbeteiligung vorstellen kann, die von Planungsbeginn an im Rahmen eines sogenannten Dialogforums stattgefunden hat. Seit 2014 haben sich viele Gruppen mit der Deutschen Bahn regelmäßig über den Ausbau der Strecke verständigt: mit dabei Bürgerinitiativen, Fahrgastinitiativen, Verkehrsverbände, Vertreterinnen und Vertreter der Kommunen und des Kreises, Wirtschaftsverbände und viele mehr. Höchster Schutz für die Betroffenen und niedrigschwelliger Zugang für alle waren das Ergebnis dieses Prozesses. ({3}) Der Bundestag will das jetzt mit 29 Millionen Euro unterstützen. Ich möchte allen danken, die das ermöglicht haben: der engagierten Kreisspitze im Main-Kinzig-Kreis, meinem Kollegen Dr. Sascha Raabe, ({4}) den Unionskollegen vor Ort, unseren Verkehrspolitikern, Kirsten Lühmann, und nicht zuletzt natürlich den Bürgerinnen und Bürgern vor Ort für ihre aktive Mitarbeit. Vielen Dank Ihnen allen. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Bettina Müller. – Damit schließe ich die Aussprache.