Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 5/15/2020

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Heiko Maas (Minister:in)

Politiker ID: 11004809

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Krise, mit der wir es in diesen Tagen zu tun haben, ist anders als alle globalen Herausforderungen der jüngsten Zeit. Sie wirkt in mancher Hinsicht auch demokratisch: Die Coronapandemie trifft jede und jeden von uns in unserem Alltag – sicherlich mit unterschiedlicher Wucht, aber alle erleben wir Einschränkungen, und niemand kann sich davon freikaufen. Und selbst die Ansteckungsgefahr ist – solange es keinen Impfstoff gibt – für alle Menschen gleich hoch: egal ob brasilianischer Präsident, britischer Prinz, deutscher Fußballstar, weder Geld noch Macht schützen vor dem Virus. Was schützt, ist zum Beispiel Abstand halten. Ganz einfache Dinge aus unserer Sicht. Wie aber sollen Menschen in überlaufenen Flüchtlingscamps oder dicht bebauten Favelas Abstand halten? Wie sollen sich Menschen die Hände waschen, wo es nicht einmal Wasser gibt, geschweige denn Seife? Was bedeutet es für die Genesungschancen, wenn ein Land wie Mali ganze vier Beatmungsgeräte hat? Und wie soll man überleben, wenn die Preise für Lebensmittel gerade in die Höhe schnellen, während gleichzeitig die wirtschaftliche Existenzgrundlage wegbricht? Das Coronavirus ist eben nicht nur eine Gesundheitskrise. Diese Krise entwickelt sich immer mehr auch zu einer humanitären Pandemie, und das in einer Welt, wo auch ohne das Virus doppelt so viele Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen sind, wie in Deutschland leben: 168 Millionen. Angesichts dieser Katastrophe ist es eine moralische Verpflichtung, zu helfen. Doch es ist mehr als das: Es liegt auch in unserem ureigensten Interesse. Denn erst wenn das Virus weltweit eingedämmt ist, sind wir alle sicher. Meine sehr verehrten Damen und Herren, eine Krise dieser Größenordnung macht abgestimmtes Handeln im wahrsten Sinne des Wortes überlebenswichtig – innerhalb einer Regierung, aber auch international. Vergangene Woche haben die Vereinten Nationen ihren globalen humanitären Hilfsplan für die Covid-19-Krise aktualisiert. Der Bedarf wird nun mit 6,7 Milliarden US-Dollar beziffert. Das ist eine Verdreifachung seit Ende März. Es fehlt nicht nur an medizinischer Versorgung, es fehlt auch an Sanitäreinrichtungen, an sauberem Wasser, an Seife, an Schutzausrüstung. Flüchtlingslager müssen für mögliche Ausbrüche der Krankheit vorbereitet werden. Millionen Menschen müssen über Vorsichtsmaßnahmen aufgeklärt werden. Immer mehr Menschen sind auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen. Und die neuen Abstandsregeln machen es teurer und aufwendiger, diese Hilfe dorthin zu bringen, wo sie gebraucht wird. Die Vereinten Nationen müssen eigens eine ganz neue Logistik aufbauen, weil die Transportmittel, mit denen die Helfer und die Hilfsgüter bislang vor Ort angekommen sind, überhaupt nicht mehr zur Verfügung stehen. Das ist übrigens ein Grund, warum wir unseren humanitären Partnerorganisationen die größtmögliche Flexibilität bei der Verwendung unserer Mittel eingeräumt haben. Das war auch die dringende Bitte, die Mark Lowcock, Filippo Grandi, Henrietta Fore, Peter Maurer und viele andere an uns herangetragen haben. Und wir haben bereits jetzt zusätzliche 300 Millionen Euro für humanitäre Covid-19-Hilfe bereitgestellt. Aber, meine Damen und Herren, auch hier hat sich inzwischen der Bedarf verdreifacht. Deshalb werden wir nicht umhinkommen, noch einmal nachzulegen. ({0}) Als einer der größten humanitären Geber, der wir mittlerweile sind, haben wir auch eine Vorbildfunktion: Wenn wir uns engagieren – da bin ich mir ganz sicher, und das weiß ich aus vielen Gesprächen –, werden auch andere Geber mitziehen, so wie wir es am 4. Mai bei der großen Geberkonferenz zur Entwicklung eines Impfstoffes erleben konnten. Deutschland hat zugesagt, über eine halbe Milliarde Euro bereitzustellen. Durch die Beiträge von mehr als 40 Ländern und Organisationen wurden daraus 7,4 Milliarden Euro. Mittel sind das eine, Zugänge das andere. Wir sehen mit großer Sorge, wie die Krise das Autoritäre befördert – mit vielfach dramatischen Folgen für die Menschenrechte. Zum Beispiel erleben wir zunehmende Repressalien gegenüber Journalisten: strafrechtliche Ermittlungen und Todesdrohungen in Russland, Verhaftungen in Venezuela oder dem Iran, Einschüchterungsversuche in der Türkei, Inhaftierungen, Ausweisungen oder das Verschwinden von Journalisten in China bis hin zu Gesetzesänderungen, die angebliche Fehlinformationen unter Strafe stellen und damit unabhängige Berichterstattung fast unmöglich machen. Und auch mitten in Europa erleben wir, wie Notstandsmaßnahmen benutzt werden, um den Rechtsstaat zu beschneiden. Gerade erst gestern haben wir hier darüber debattiert. Deshalb begrüße ich ganz ausdrücklich, dass die EU-Kommission ein Monitoring aller solcher Notstandsmaßnahmen begonnen hat. Klar ist dabei ganz sicher: Alle Staaten haben die Pflicht, Maßnahmen zum Schutz gegen Covid-19 zu ergreifen, Maßnahmen, die vorübergehend Menschenrechte auch einschränken können. Aber diese Maßnahmen müssen legitime Zwecke verfolgen, sie müssen verhältnismäßig sein, und sie müssen vor allen Dingen vorübergehend sein. Diese Abwägung werden wir einfordern in unserer Präsidentschaft in der Europäischen Union in wenigen Wochen, in unserer Präsidentschaft im Juli im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, aber auch als Mitglied im Menschenrechtsrat. ({1}) Und wir werden genau hinschauen, etwa was die Rechte von Frauen und Mädchen angeht. Sie werden in der Krise nicht nur häufiger Opfer häuslicher Gewalt, sie sind es auch, die unter Ausgangsbeschränkungen und dem Wegfall der Möglichkeit wirtschaftlicher Betätigung am meisten leiden. In Zeiten, in denen persönliche Begegnungen und Reisen praktisch unmöglich sind, arbeiten wir auch an neuen Möglichkeiten, Menschenrechtsverteidigerinnen und ‑verteidiger zu unterstützen: durch digitale Netzwerke oder indem unsere Botschaften gerade zu diesen Gruppen noch viel aktiver Kontakt suchen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, Menschen weltweit brauchen jetzt unsere Solidarität, Solidarität, die genauso wenig unterscheidet zwischen Arm und Reich, Mann und Frau, Weiß oder Schwarz wie das Virus selbst. Deshalb ist es gut, dass wir heute darüber diskutieren. Es ist wichtig, dass bei dem, was wir tun – nicht nur hier in Deutschland, sondern dort auf der Welt, wo wir helfen –, eines deutlich wird: Wir sind uns dieser Verantwortung bewusst und wollen ihr gerecht werden. Vielen Dank. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Jürgen Braun, AfD. ({0})

Jürgen Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004680, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Liebe Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Bundesaußenminister, das waren mal wieder schöne Worte; diese hören wir sehr häufig von Ihnen. Sie haben angeprangert, dass in anderen Ländern angebliche Fehlinformationen unter Strafe gestellt werden. Könnte es nicht sein, dass wir uns auch mal in unserem Land damit beschäftigen sollten, ({0}) mit dem NetzDG? ({1}) Sie sind verantwortlich gewesen für das Netzwerkdurchsetzungsgesetz, ein Internetzensurgesetz in schlimmster Weise, wo es um die Löschung von anderen Meinungen oder angeblichen Fehlinformationen geht. Aber dazu kommen wir noch. Michael Ignatieff, Rektor der Soros-Universität, der wichtigste Vordenker von George Soros, sagte in der Schweizer „Weltwoche“: Der Nationalstaat bleibt die einzig legitime Quelle politischer Autorität in der Welt. Die Pandemie verstärkt die Macht des Nationalstaats, weil er die einzige glaubwürdige Antwort gibt auf die Frage: „Wer wird mich jetzt beschützen?“. Das könnte von der AfD sein, ist es aber nicht. Merken Sie eigentlich, dass ausgerechnet der linksliberale Michael Ignatieff, der wichtigste Soros-Vordenker, inhaltlich längst weiter ist als Sie alle von den Altparteien hier? ({2}) Hierzulande dreht sich alles um Corona. Wir stoppen das Land um jeden Preis. Auch die humanitäre Hilfe leidet. Interessiert Corona die Menschen in Afrika? Eher nicht so sehr. In Ostafrika sind es die Heuschrecken. Dort fressen derzeit gigantische Schwärme alles kahl. Chemische Mittel, die helfen können, sind von den Grünen jahrzehntelang bekämpft worden. Grünes Jammern über Schäden durch Heuschreckenplagen in Afrika ist deshalb pure Heuchelei. ({3}) Corona verdeckt die große Seuchenproblematik weltweit. Ein Beispiel: Malaria. Malaria ist gefährlicher als das Coronavirus. Wer nicht stirbt, wird – in vielen Ländern Afrikas oder auch in Indien – dauerhaft zum Pflegefall. Gegen die Mücken, die die Krankheit übertragen, müsste stärker mit DDT gearbeitet werden. ({4}) Auch wenn das für grünliche Europäer ein Tabuthema ist: DDT verfügt über die beste Wirkung. Jahrzehntelange grüne Kampagnen gegen DDT haben in Afrika und in Indien verheerende Folgen gehabt, haben viele Menschenleben gekostet. In einigen Staaten der Welt werden abweichende Meinungen zum Umgang mit dem Coronavirus bekämpft und ausgeschaltet. Dann kommt die Internetpolizei in der Manier eines George Orwell – Twitter, Facebook, YouTube usw. ({5}) Susan Wojcicki, der Chefin von YouTube in Europa, rutschte in einem Interview mit CNN eine entlarvende Formulierung heraus. Sie sagte sinngemäß, dass sie auch wissenschaftliche Meinungen löschen lasse, wenn diese im Gegensatz zur Meinung der WHO stünden. Diese WHO ist keine rein medizinische Einrichtung. Sie ist eine politische Organisation. An ihrer Spitze steht ein äthiopischer Kommunist, und der macht nur zu gerne seinen Kotau in Peking. ({6}) Wohlgemerkt, die YouTube-Chefin lässt abweichende Meinungen löschen. Andere Meinungen und Tatsachen löschen lassen – das hätte sich George Orwell nicht besser ausdenken können. Das Orwell’sche Wahrheitsministerium finden wir auch hierzulande. Seine fragwürdigen Helfer sehen sich als Faktenchecker oder Faktenfinder, sie nennen sich „Correctiv“ und tauchen bei der Tagesschau und im ZDF auf. Doch sie vernebeln die Fakten. Sie sind Verschwörungspraktiker. ({7}) Medien, die nicht ausgewogen informieren, Medien, die Selbstzensur üben, Medien, die wie der Spiegel-Verlag und „Die Zeit“ Spenden der Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung erhalten haben, und zwar in Millionenhöhe, solche Medien sind Verschwörungspraktiker. ({8}) Was würden die Grünlinken sagen, wenn in Ungarn oder Polen das Staatsfernsehen die Vertreter der größten Oppositionspartei über Monate hinweg nicht ins Studio einlädt? ({9}) Schnell hieße es, das Staatsfernsehen sei gleichgeschaltet und diene nur der Regierung. Die EU würde Verfahren gegen diese Staaten eröffnen, wie so häufig. In Deutschland sind Regierung und Medien aber auch noch stolz darauf, nicht ausgewogen zu berichten. ({10}) Panik herrscht seit zwei Monaten bei vielen Menschen in Deutschland. Die Bundesregierung hat sie verbreitet. Das Innenministerium hat die Zahl von über 1 Million Coronatoten allein in Deutschland in diesem Jahr in die Welt gesetzt. Christliche Gottesdienste zu Ostern: verboten. ({11}) – Selbstverständlich, in einzelnen Bundesländern sehr wohl. – Treffen von Verwandten: verboten; Treffen in der Familie: häufig verboten; die erkrankte Mutter berühren: verboten; die Hand eines Sterbenden halten: verboten; Besuch von Beerdigungen: verboten; ({12}) Reisen innerhalb Deutschlands: verboten; Eis essen: verboten; sitzen auf einer Parkbank: verboten. ({13}) Staatsrechtler hierzulande warnen einhellig vor der Verfassungswidrigkeit beschlossener Coronamaßnahmen in diversen Bundesländern: Professor Klaus Gärditz, Professor Florian Meinel, Professor Thorsten Kingreen, Professor Pierre Thielbörger, Professor Christoph Möllers, Professor Dietrich Murswiek – um nur wenige Namen zu nennen – sowie die ehemaligen Verfassungsrichter Professor Udo Di Fabio und Professor Hans-Jürgen Papier. Sie alle beklagen die Verletzung von Grund- und Menschenrechten nicht in irgendwelchen autokratischen Staaten, sondern hier in Deutschland. ({14}) In anderen Ländern begleitet eine kritische Öffentlichkeit das Handeln der Regierung. Bei uns begleiten unkritische Medien eine grüne Kanzlerin, die pro forma eine CDU-Regierung anführt. ({15}) ARD, ZDF und die anderen grün-linken Mainstream-Medien hofieren diese Bundesregierung, es sei denn, die Grünen fangen an zu meckern. Die kleinste Oppositionsfraktion bestimmt über die Medien das Meinungsklima in diesem Land. ({16}) Ich zitiere das vielbeachtete interne Papier des Bundesinnenministeriums: Die beobachtbaren Wirkungen und Auswirkungen von COVID-19 lassen keine ausreichende Evidenz dafür erkennen, dass es sich ... um mehr als um einen Fehlalarm handelt. Durch den neuen Virus bestand vermutlich zu keinem Zeitpunkt eine über das Normalmaß hinausgehende Gefahr für die Bevölkerung ... ({17}) Oberregierungsrat Stephan Kohn hat mit diesem Papier für die Wahrheit seine Karriere geopfert. Der Europarat hat beschlossen, mutige Menschen wie ihn zu schützen: Resolution 2300 letztes Jahr, auch mit den Stimmen von CDU und SPD beschlossen. Stephan Kohn ist ein Held für Menschenrechte in Deutschland. ({18})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Frank Heinrich, CDU/CSU. ({0})

Frank Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004054, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte doch noch zu Herrn Maas und zu seiner Rede zurückkehren, was ja unser Thema heute Morgen ist. ({0}) Ich möchte ein Bild gebrauchen, und das kleine Glas vor mir bietet mir die Gelegenheit, das vor Augen zu führen. Sie alle kennen die Situation: Man ist auf einer Party, man ist in einer Gesellschaft, und während man gerade trinkt oder irgendein Gefäß in der Hand hat, wird man angerempelt, unabsichtlich, und dann schwappt das so rüber. ({1}) – Das Redenpult ist jetzt schon öfter geputzt worden. – Dann kommt natürlich kurz die Frage: Wer ist daran schuld, wenn ich jemanden bekleckert habe? Das ist natürlich der Rempler. Aber eigentlich ist die Frage – und das war das Bild –: Was ist denn verschüttet worden? Was ist die Auswirkung? Was war vorher in unserem Glas drin? Die Coronakrise bringt das uns allen vor Augen, auch sichtbar durch die Rede, die wir gerade gehört haben. ({2}) Was steckt in uns, in unseren Gesellschaften? Sind das Misstrauen, Angst, Unsicherheit und Ähnliches, oder sind das Solidarität, Güte, Hinschauen, Dankbarkeit und Freizügigkeit? Das kommt dann über uns hinaus und schwappt in die Welt, in unserem Alltag, einzeln oder darüber hinaus. ({3}) Corona hat uns, die ganze Welt, angerempelt. Diktaturen, Autokratien und Demokratien, wir alle versuchen, das Gleichgewicht wieder hinzukriegen. Es zeigt sich noch stärker als zuvor, welche Werte uns tatsächlich wichtig sind. Ein solcher Schluck, eine solche Auswirkung ist auch, dass wir heute so zentral diese Debatte führen: eine Debatte zu den Auswirkungen dieser Krise auf die humanitäre Situation und – dazu war die Medienwand zu kurz – auch die weltweite Lage der Menschenrechte unter dieser Situation. Denn die Krise führt schmerzhaft vor Augen, was da vorher wirklich drin war an Ungerechtigkeiten und Schwächen, möglicherweise aber auch Stärken. Deshalb möchte ich zuerst kurz nach Deutschland zurückkehren. Ja, wir haben die letzte Woche, gestern und heute ganz viele Nachrichten bekommen – das war teilweise nicht immer die netteste mitteleuropäische Art –; Aufforderungen, wie wir abstimmen sollen. Manchmal kamen solche Nachrichten alle sechs Minuten. Dennoch ist es genial, dass das in unserem Land passieren darf. Hier darf jeder seine Meinung frei äußern. Hier dürfen wir dankbar sein. Das ist unsere Stärke und unsere Genetik. Auch das schwappt in unser Land: Es gibt Demonstrationen mit Sicherheitsabständen; Gerichte, die rechtsstaatlich auf Maßnahmen eingehen, die vielleicht ein Stück übertreten wurden, und dann werden wir zurückgepfiffen. Da gibt es kritische Medienberichterstattung. Sie ist nicht nur erlaubt, sondern sogar erwünscht. Heute soll es um zwei Bereiche gehen: zum einen um die weltweiten humanitären Folgen; dazu hat der Minister gerade sehr deutliche Zahlen für die verschiedenen Bereiche genannt. Zum anderen geht es um die menschenrechtliche Situation durch den Missbrauch dieser Lage durch autokratische Regierungen. Man könnte auch sagen: Diese Krise misst uns den Puls. Die erste Erkenntnis ist: Die Ärmsten werden am stärksten betroffen. Uns schwappt Ungerechtigkeit entgegen. Diejenigen, die vorher schon am Rand standen, für die das Leben bereits vorher hart war, bekommen die Folgen am allerstärksten zu spüren. Beispiel: In den USA trifft Corona die Afroamerikaner und Latinos wesentlich häufiger und stärker als die weiße Bevölkerung: wegen der fehlenden Krankenversicherung, wegen Vorerkrankungen durch schlechte Ernährung oder Niedriglohnjobs. Beispiel Simbabwe. Das Land befindet sich seit einigen Wochen im Lockdown, durchgesetzt vom Militär. Menschenrechtsorganisationen prangern das sehr brutale Vorgehen der Polizei an. Das ist nicht das einzige Land, das man hier nennen könnte. Die Krise trifft mit voller Wucht die Schwächsten und Ärmsten. Menschen, die keine Stimme haben, haben weltweit am stärksten zu kämpfen. Ich bin froh, dass wir hier dieses Thema heute extrovertiert laut in den Mittelpunkt stellen. ({4}) Höchst bedenklich in Zeiten von Covid-19 ist die menschenrechtlich schwierige Lage und die humanitäre Situation von armen und benachteiligten Kindern, insbesondere in Kriegsgebieten, Flüchtlingslagern oder auf der Straße. Besonders gefährdete Personen sind allerdings schon jetzt Minderheiten in Gesellschaften, wie zum Beispiel die Roma in Europa; Gruppen und Personen am Rande der Gesellschaft. Unsere Reaktion – ich habe am Anfang meine Dankbarkeit ausgedrückt – zeigt sich sowohl durch Solidarität innerhalb unseres Landes als auch durch die Zusage einer weiteren Investition in die humanitäre Hilfe und die Zusage, Hilfsorganisationen in der Logistik zu unterstützen, beim World Food Programme. Auch die EU hat jetzt entsprechend reagiert; denn die Lage der Menschen am Rand der Welt birgt das Risiko, dass die Hilfe sie nicht erreichen kann, weil die Wege zu ihnen abgeschnitten sind. Die Zahlen, die in diesem Zusammenhang genannt werden, sind atemberaubend. Wenn keine Hilfe kommt, dann ist es nicht Corona, sondern der Hunger, der diese Menschen umbringt. Die zweite Erkenntnis der Pulsmessung ist: Strukturelle Tendenzen werden verstärkt. Die Krise legt Schwächen offen. Rechtsstaatlichkeit und der Schutz der Menschenrechte sind die Voraussetzung für diese bei uns stolze Demokratie. In der Coronazeit sehen wir eine steigende Tendenz in der Einschränkung von Menschenrechten. Einige Regierungen nutzen die Pandemie, um Rechtsstaatlichkeit zu untergraben, Menschen zu diskriminieren oder Berichte zu zensieren, zu unterdrücken. Wir haben gerade einige Beispiele gehört. Ich habe von der Polizeigewalt in mehreren Staaten gesprochen: Uganda, Südafrika, Simbabwe und Indien. Da ist aber auch Ungarn – das ist gerade genannt worden –: Gerichte bekommen Kompetenzen abgesprochen, Journalisten sowieso. In Polen soll das Wahlrecht geändert werden. Da zeigen sich Schwächen beim Schutz von Menschenrechten, etwa mit Blick auf die gerade genannten Roma in Europa. Journalisten werden unter Druck gesetzt. Protestbewegungen in einigen Ländern – uns fällt da immer zuerst China ein – werden brutal unterdrückt. Die, die am Anfang darüber berichtet haben, dass es möglicherweise einen neuen Virus gibt, sind inzwischen gestorben worden, nicht nur an Corona. Das alles sind schwerste Verstöße gegen die Grundsätze von Menschlichkeit und Menschenrechten. Der „Schutz von Menschenrechten“, sagt Markus Beeko von Amnesty International in Deutschland, ist „in Zeiten der Krise“ wie der globalen Pandemie von ganz „besonderer Bedeutung“. Die menschenrechtliche Lage in autokratischen Systemen ist heute höchst bedenklich. Offensichtlich zeigen sie jetzt gerade ihr wahres Gesicht. Was vorher schon im Glas war, schwappt nun raus und wird für alle sichtbar. Das wird in der Türkei deutlich; ich bin der Bundesregierung dankbar, dass das angesprochen wurde. Da werden Tausende Häftlinge wegen des Coronavirus entlassen, aber politische Gefangene müssen im Gefängnis bleiben. Was machen wir nach der Pulsmessung mit dem Ergebnis? Was wollen wir denn, dass aus uns rausschwappt? Wenn uns Menschenrechte und die Würde des Menschen wirklich wichtig sind, dann müssen wir jetzt laut werden. „Charakter zeigt sich in der Krise“: Das hat Ihr Parteikollege und unser Kanzler Helmut Schmidt gesagt. Was also wollen wir tun? Ich denke daran, den Europarat als Hüter von Menschenrechten zu stärken, wenn wir ab November den Vorsitz im Ministerkomitee übernehmen werden. Ähnliches können wir ab Juli im Rahmen der Ratspräsidentschaft tun. Hinsichtlich unserer Verantwortung in der UN wurde gerade gesagt: hinsehen, hinhören, ansprechen. Ja, da sind wir besser geworden. Aber das müssen wir weiter tun. So oft reden wir unser System schlechter – Sie haben das übrigens gerade auch getan –, als es wirklich ist. Im Wettbewerb darf es nicht mehr nur um Marktmacht und Dollarzeichen gehen. Viel offensiver müssen wir Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verteidigen – in unserem Land, aber auch weit darüber hinaus. Unsere Genetik – damit komme ich zum Schluss – schätzen lernen, sie sichtbarer machen und dann gerne auch nach außen tragen, rausschwappen lassen, nicht nur in Form von Geld, sondern manchmal auch mit Wirtschaftsthemen. Eine Krise ist oft eine Chance, neu auszubalancieren, was uns wirklich wichtig ist – gerne auch dauerhaft und mit Konsequenzen, vielleicht sogar schmerzhafte, manchmal mit klarerer Prioritätensetzung, was das Thema „Wirtschaft und Menschenrechte“ angeht. Ich danke Ihnen für diese Möglichkeit, hier heute zu dem Thema zu einer so zentralen Zeit zu sprechen. Danke. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Gyde Jensen, FDP. ({0})

Gyde Jensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004941, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ganz herzlichen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das, was seit Beginn der Coronapandemie regelmäßig hier in diesem Parlament geschieht, nämlich eine kritische Auseinandersetzung mit den Coronamaßnahmen der Bundesregierung, dass wir in Zeitungen unseres Landes kritische Kommentare darüber lesen können, dass Menschen, wenn sie sich an die Spielregeln des Infektionsschutzes halten, demonstrieren und auch noch so seltsame Verschwörungstheorien verbreiten können, dass unsere Wissenschaftler öffentlich streiten und Meinungen austauschen können: All das ist weltweit leider überhaupt keine Selbstverständlichkeit. ({0}) Diese Krise ist ein Lackmustest für Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit. Wir sehen, dass viele Länder an ihm momentan scheitern. Autokraten auf der ganzen Welt nutzen Corona gerade als Blaupause, um die Arbeit von Journalisten, Oppositionellen, Aktivisten zu beschneiden und Minderheiten durch die Behauptung zu diffamieren, sie würden das Coronavirus verbreiten, und sie so mehr denn je auszugrenzen. In der Türkei – wir haben es gehört – kamen fast 100 000 Gefangene per Dekret frei; politische Häftlinge allerdings bleiben, durch Präsident Erdogan veranlasst, weiterhin hinter Schloss und Riegel. In Ungarn regiert Präsident Orban per Dekret. Das Parlament lehnte kürzlich die Istanbul-Konvention ab. Ein neues Gesetz soll verhindern, dass Transmenschen nachträglich ihr Geschlecht ändern können. In Polen bröckelt der Rechtsstaat. Mitte April hat ein Gesetz die erste Hürde genommen, mit dem Abtreibungen womöglich verboten werden – all das im Schatten von Corona. Genau aus diesem Grund haben wir als FDP-Fraktion hier gestern einen Antrag auf Einführung einer europäischen Grundwerteinitiative eingebracht. Genau deshalb ist es so wichtig – Frank Heinrich hat es gerade angesprochen –, dass wir heute hier in einer Vereinbarten Debatte weiter zu dem Thema sprechen. Dennoch geht es nicht nur um die Einschränkung von Menschenrechten in einzelnen Ländern. Covid-19 wirkt wie ein Katalysator im geopolitischen Wertewettbewerb. Seit Jahren macht China auf internationaler Bühne eine Menschenrechtspolitik mit Sternchen, mit ganz viel Wenn und Aber. Einem Land, in dem jährlich Tausende Menschen hingerichtet werden, Journalisten, Regierungskritiker einfach mal so verschwinden; einem Land, das 1 Million Uiguren in Umerziehungslagern interniert und den perfekten Überwachungsstaat aufbaut; einem solchen Land dürfen wir in dieser Pandemie keinen noch so kleinen Propagandaerfolg überlassen, meine Damen und Herren. ({1}) Das ist aber leider vor allen Dingen der EU bisher gründlich misslungen. Wenn China ein großer internationaler Player sein möchte, dann müssen wir auch entsprechende Erwartungen an die Volksrepublik formulieren. China muss in der internationalen humanitären Hilfe, meine Damen und Herren, endlich einen angemessenen Beitrag leisten. Aktuell nutzt China nämlich Hilfszahlungen als Erpressungsdiplomatie und dafür, um neue Abhängigkeiten zu schaffen. Nur die Verteilung der humanitären Hilfe durch die internationalen Organisationen – einige wurden angesprochen, das Welternährungsprogramm vorneweg – stellt sicher, dass die Gelder auch tatsächlich ohne Erwartung auf Gegenleistung vergeben werden können. Deutschland ist weltweit zweitgrößter Geber für die humanitäre Hilfe; der Minister hat es angesprochen. An dieser Stelle, finde ich, ist es gerechtfertigt, der Bundesregierung vor allen Dingen dafür Dank zu sagen, dass sie gerade jetzt die vereinbarten Mittel sehr zügig überweist. Das ist in dieser Situation extrem wichtig. ({2}) Aber, meine Damen und Herren, das reicht natürlich noch nicht. Um diese Krise mittel- und langfristig auch im humanitären Bereich abfedern zu können, müssen Auswärtiges Amt und BMZ besser zusammenarbeiten. ({3}) Mitten in der größten humanitären und wahrscheinlich auch entwicklungspolitisch größten Katastrophe der letzten Jahrzehnte kündigt das BMZ eine riesige Umstrukturierung der Hilfen und Projekte an. Wir müssen doch aber gerade jetzt die Länder weiter bei ihren Programmen zur Armutsprävention, gegen Gewalt an Frauen und für bessere Bildung unterstützen und dürfen sie nicht im Stich lassen. ({4}) Diese erhebliche Strukturlücke zwischen dem Auswärtigen Amt und der humanitären Hilfe und dem BMZ und der Entwicklungshilfe führt viel zu oft dazu, dass gute und erfolgreiche Projekte nicht weitergeführt werden können. Das darf vor allem jetzt nicht passieren. Corona darf diese Länder nicht um Jahrzehnte zurückwerfen. ({5}) Meine Damen und Herren, am Ende dieser Pandemie werden wir uns die Frage stellen lassen müssen, ob wir wirklich alles dafür getan haben, die Würde der Menschen weltweit tatsächlich so gut es geht zu schützen. Wir wissen, dass das nicht überall in der Form, in der wir es hier in Deutschland kennen, möglich ist. Und genau dieser Bewährungsprobe müssen wir uns hier im Parlament gemeinsam stellen. Denn nur gemeinsam geht das. Auch Herr Braun sollte da vielleicht zuhören und nicht aufs Handy gucken. ({6}) Danke schön.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Gregor Gysi, Die Linke. ({0})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist höchste Zeit, dass wir uns auch mal mit den internationalen Aspekten der Coronakrise beschäftigen. Es stimmt, was Sie sagen, Herr Bundesaußenminister: Wir erleben eine humanistische Katastrophe und eine humanitäre Krise. ({0}) Aber ich sage Ihnen eins: Eine humanitäre Krise hatten wir weltweit schon lange vor der Coronakrise. Das ist nicht neu, aber es wird Zeit, sich damit zu beschäftigen. Wir dürfen nur nicht so tun, als ob in den anderen Ländern vieles nicht stimme und bei uns alles in Ordnung sei. ({1}) Über 2 Millionen arme Menschen haben bisher nichts bekommen. Selbstständige, Freiberuflerinnen und Freiberufler, meistens aus der Kultur- und Kunstszene, haben nichts von den 9 000 Euro des Bundes, weil man ja nur Betriebskosten abrechnen darf. Bei ihnen sind aber Privat- und Betriebskosten identisch. Das ist absichtlich nicht geschehen. ({2}) Oder die indiskutablen Bedingungen auf den Schlachthöfen: Jetzt wird in Demonstrationen Wut und Ärger deutlich. Dass da viel Unsinn erzählt wird, dass das in die falsche Richtung geht, das wissen die meisten von uns – nicht alle, aber die meisten. ({3}) Aber eins muss ich auch sagen: Es bringt ein mangelndes Vertrauen in die Politikerinnen und Politiker zum Ausdruck. Darüber müssen wir uns Gedanken machen: wie man das Vertrauen wieder stärken kann. Seit Ende des Kalten Krieges ist der Wettbewerb zwischen Ost und West vorbei, wer demokratischer und sozial gerechter ist. Was die Demokratie betrifft, hatte der Westen schnell gewonnen. Bei der sozialen Gerechtigkeit war das schon sehr viel schwieriger. ({4}) Das Problem ist nur, dass es diesen Wettbewerb nicht mehr gibt. Es gibt eine zunehmende Tendenz zu autoritären Strukturen, die mich sehr besorgt, ehrlich gesagt. Ich rede jetzt nicht von den Ländern, die noch nie demokratisch waren, sondern von Ländern, die schon einen bestimmten Stand an Demokratie hatten. Schauen Sie sich an, was wir dort für Veränderungen erleben! Schauen Sie sich den Politikstil von Trump an! Schauen Sie sich an, was Erdogan treibt! Orban macht sich zum alleinigen Gesetzgeber seines Landes. Die polnische Regierungspartei will nicht nur das Wahlrecht ändern; die wollte sogar, dass man nur noch per Brief den Präsidenten wählen kann. Alles indiskutabel! ({5}) Das Argument, dass autoritäre Strukturen effizienter sind, ist falsch. ({6}) Wir müssen die Attraktivität der Demokratie beweisen. ({7}) Aber wir haben eben auch Parteien – in Frankreich den Front National, in Deutschland die AfD –, die den gleichen Weg gehen wollen wie jene Politiker, die ich gerade beschrieben habe. Das muss uns auch nachdenklich machen. ({8}) Bewiesen ist allerdings, dass Trumps nationaler Egoismus ebenso wie der nationale Egoismus von Präsident Bolsonaro in Brasilien gerade in der Coronakrise schlimmste Folgen gezeigt haben. Sie haben die höchste Zahl an Infizierten und an Toten. Und die Vorstellung von Trump, einen Impfstoff nur und ausschließlich für die USA zu entwickeln, ist so was von unmenschlich und so was von eigennützig und egoistisch, dass es kaum nachzuvollziehen ist. Aber seinen Bürgerinnen und Bürgern hat das bisher nichts gebracht, gar nichts, um es auch klar zu sagen. ({9}) Aber sie suchen alle nach den Schuldigen für das Virus, um vom eigenen Versagen abzulenken. Es gibt politische und soziale Menschenrechte. Unsere Bundesregierung redet gerne über die politischen, weniger gerne über die sozialen. Aber das ist eine Einheit. Wir brauchen beides: politische und soziale Grundrechte. ({10}) Gerade bei der Coronakrise wird ein Menschenrecht deutlich, nämlich das Recht auf die mögliche beste Gesundheit und auf das Leben. Die Wirtschaftssanktionen der UNO und der USA zum Beispiel gegen Venezuela, Iran und Syrien treffen gerade bei Corona nicht die Regierungen; die können sich immer schützen. Es trifft die Bevölkerung. Ich sage Ihnen: Wenn durch diese Sanktionen Menschen sterben, dann verletzt das das wichtigste Menschenrecht: das Recht auf Leben. ({11}) Wenn ich daran denke, dass die USA sogar Söldnertruppen nach Venezuela geschickt haben, erinnert mich das an die Zeit des Kalten Krieges, ({12}) an Länder wie Chile, Grenada und andere. Das ist immer der falsche Weg. Übrigens: Kuba hat als erster Staat lange vor Deutschland und der EU Italien geholfen. Darüber sollten Sie mal nachdenken. ({13}) Aber nun komme ich kurz zur WHO. Also: Die Struktur bezahlt die UNO und damit die Staaten in der WHO. Alles andere kommt aus Spenden. Und dann wundert man sich, dass das Ehepaar Gates da so eine große Rolle spielt? Ja, die bezahlen ja 10 Prozent des Haushaltes. Da müssen eben die Staaten mehr bezahlen. Und warum zahlen sie nicht mehr? Wegen des ganzen neoliberalen Kapitalismus. ({14}) Der Slogan war immer: flexibel, effizient, weniger Staat, Staat abbauen. – Und das sind die Folgen, die wir jetzt gerade zu spüren bekommen. ({15}) Ich sage Ihnen noch etwas: Übrigens lange vor der WHO und der Bundesrepublik – das wird Sie jetzt ärgern –, schon 1970, hat die DDR ein Pandemiekonzept erforschen lassen. ({16}) – Ja! Da gab es ein Institut für Virologie in Berlin-Schöneweide. Das ist natürlich 1990 geschlossen worden, und natürlich sind die Virologen entlassen worden, und natürlich hat sich niemand für das Konzept interessiert. Manchmal ist die Arroganz der Bundesregierung bei der Einheit eben auch ein Fehler gewesen. Es wird höchste Zeit, es mal zuzugeben. ({17}) Die Behandlung Kranker, die Gesundheit der Menschen muss sich nicht rechnen, darf nicht vom Markt entschieden werden. Das ist das Entscheidende. Ein Krankenhaus muss sich nicht in erster Linie rechnen, sondern in erster Linie für Gesundheit zuständig sein. Es wird höchste Zeit, dass wir das mal begreifen. ({18}) Deshalb sage ich: Die öffentliche Daseinsvorsorge muss von der Politik gerade auch durch den Staat gerettet werden. Der Abbau der Grundrechte, den wir hier erlebt haben, muss so schnell und so vollständig wie möglich zurückgenommen werden. ({19}) Und dann müssen wir für mehr Grundrechte und mehr Demokratie streiten. Das ist die Aufgabe dieses Parlaments, auch wenn es eine Fraktion gibt, die daran null Interesse hat. ({20}) Aber Sie wissen, welche. Danke. ({21})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Margarete Bause, Bündnis 90/Die Grünen, hat als Nächste das Wort. ({0})

Margarete Bause (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004663, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Der katholische Pfarrer Martin Schlachtbauer lebt seit 20 Jahren in Ecuador, und wenn er von den verheerenden Auswirkungen der Coronapandemie in seiner Wahlheimat berichtet, wird er richtig zornig – Zitat –: Dieses lächerliche Gerede von der Menschenwürde. Es sind doch immer die Ärmsten, die jedes Unglück am meisten trifft. – Er bringt es damit auf den Punkt: Die Coronapandemie ist eine aktuelle globale Bedrohung, und doch verweist sie auf schon lange bestehende humanitäre Katastrophen und Krisen, auf Hunger und Armut, auf Gewalt und Menschenrechtsverletzungen, die schon vor dem Ausbruch kaum Aufmerksamkeit und noch weniger Konsequenzen erfahren haben. ({0}) Die Pandemie verschärft das Leid Unzähliger, die schon bisher nicht genug zu essen und kein sauberes Wasser hatten, die krank und ohne medizinische Versorgung sind, die kein Dach über dem Kopf haben und nicht in die Schule gehen können, die diskriminiert, ausgegrenzt und unterdrückt werden und deren Menschenrechte schon bisher massiv verletzt werden. Betroffene sind unzählige Kinder, Frauen, Männer in unzähligen Ländern wie Zentralafrika, Somalia, der Sahelzone, dem Südsudan oder Afghanistan, wo Krisen und Konflikte zum Dauerzustand geworden sind und wo insbesondere die Kinder am furchtbarsten leiden. Die Coronapandemie verschärft die Situation von Millionen von Menschen, die seit Jahren im Jemen, in Syrien, in Libyen schwersten Kriegsgräueln und ‑verbrechen ausgesetzt sind und für die jetzt der Zugang zu humanitärer Hilfe fast unmöglich geworden ist und die auch kaum mehr eine Chance haben, von dort zu fliehen oder Asyl zu beantragen, weil die Grenzen dicht und die Resettlement-Programme ausgesetzt sind. Angesichts der globalen Bedrohung brauchen wir globales Denken und eine globale Kraftanstrengung. ({1}) Nationalismus und Egoismus hatten schon in Vor-Corona-Zeiten katastrophale Auswirkungen – und jetzt umso mehr. Globale Solidarität und die Wahrung der Menschenrechte: Das muss unser Kompass in dieser Krise sein. ({2}) Kolleginnen und Kollegen, unter dem Vorwand der Pandemiebekämpfung leisten sich Populisten und Autokraten weltweit einen Überbietungswettbewerb bei Grundrechtseinschränkungen. Sie leugnen die Realität. Sie verbreiten Lügen und Verschwörungsmythen. Journalistinnen und Journalisten werden angegriffen, eingeschüchtert, festgenommen. Die Presse- und Meinungsfreiheit wird rücksichtsloser denn je unterdrückt – Beispiel Türkei, Beispiel Ungarn; man könnte die Liste noch sehr viel länger machen. Menschenrechtsverteidiger werden noch brutaler verfolgt, eingesperrt oder umgebracht, sei es in Brasilien, Kolumbien, Ägypten oder auf den Philippinen. Mit großangelegten strategischen Desinformationskampagnen versuchen insbesondere Russland und China, demokratische Gesellschaften zu unterwandern und zu destabilisieren. ({3}) Wir erwarten hier von der Bundesregierung, gerade was China angeht, eine klare öffentliche Benennung und Verurteilung dieser Zersetzungspraktiken und keine mutlose Leisetreterei. ({4}) Aber auch bei uns lenkt die Coronakrise den Scheinwerfer auf schon lange bekannte und ignorierte Missstände, sei es das erschreckende Ausmaß häuslicher Gewalt gegen Frauen oder die miese Bezahlung in hauptsächlich von Frauen ausgeübten Berufen, sei es die Situation in Alten- und Pflegeheimen, wo schon vor der Krise die Voraussetzungen für gute Pflege kaum gegeben waren, sei es die moderne Sklaverei in der Fleischindustrie oder sei es die schäbige Weigerung, Flüchtlingskinder von den griechischen Inseln aufzunehmen, aus Lagern, in denen die Menschenwürde buchstäblich im Dreck versinkt. ({5}) Kolleginnen und Kollegen, kein Leben ist weniger wert. Jedes Leben ist gleich viel wert; das ist der Imperativ der Menschenrechte. ({6}) Deshalb müssen Menschenrechte und Menschenwürde die Basis und der Maßstab, auch und gerade in der Pandemiebekämpfung, sein, auf internationaler Ebene, auf nationaler Ebene, in unserem Alltag. ({7}) Es geht um Respekt, es geht um Rücksichtnahme, und es geht um den Schutz der Schwächsten und der Verletzlichsten. ({8}) Wenn wir aus dieser Krise, die noch lange nicht zu Ende ist, etwas lernen wollen, dann dies: Erstens. Wir müssen gemeinsam solidarisch und vorausschauend handeln, aktiv werden, bevor es zu spät ist. Zweitens. Wir müssen bei der humanitären Hilfe klotzen und nicht kleckern. Drittens. Wir müssen diejenigen schützen und stärken, die die Menschenrechte und die Menschenwürde verteidigen, sei es bei uns in den Pflegeheimen, sei es im Amazonas bei der indigenen Bevölkerung. Viertens. Wir müssen die Widerstandsfähigkeit unserer Demokratie stärken gegen Zersetzungsstrategien von innen und außen. Fünftens. Wir müssen darauf achten, Konflikte gar nicht erst entstehen zu lassen, indem wir die zivile Krisenprävention in das Zentrum der deutschen Außenpolitik rücken. Dazu gehört auch, keine Waffen in Kriegs- und Krisenregionen zu liefern oder an Regime, die Menschenrechte mit Füßen treten. ({9}) Sechstens. Wir müssen sofort mit umfassenden und wirksamen Maßnahmen die Klimakrise bekämpfen; denn auch die Klimakrise ist eine massive Bedrohung für die Menschenrechte. Kolleginnen und Kollegen, das wäre das Sinnvollste, das wir aus dieser Krise mitnehmen können. Danke. ({10})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort der Kollege Frank Schwabe, SPD. ({0})

Frank Schwabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003846, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Ich bin sehr dankbar, dass wir diese Debatte heute so führen können; denn ich glaube, sie ist auch ein Stück weit ein Startschuss dazu, den Fokus wieder ein bisschen zu verändern. Sehr nachvollziehbar haben wir in den letzten Wochen und Monaten sehr stark über die innenpolitische Situation diskutiert, weil das uns alle täglich berührt, auch in unseren Wahlkreisen. Aber ich glaube, es ist notwendig, jetzt wieder stärker auf das zu schauen, was eigentlich außenpolitisch stattfindet, und ich fürchte, dass wir auch nicht umhinkommen werden, das zu tun, weil uns das Thema in den nächsten Monaten sehr stark beschäftigen wird, weil wir leider dramatische Situationen sehen werden, die ja von einigen hier bestritten werden. Das, was wir gerade erleben, was in der Welt so stattfindet, wird schon jetzt als ein tiefer Einschnitt wahrgenommen; aber ich glaube, auch historisch wird es irgendwann als ein tiefer Einschnitt wahrgenommen werden. Es ist wahrscheinlich der tiefste Einschnitt seit dem Zweiten Weltkrieg. Das ist dann die Möglichkeit, sich noch mal neu zu besinnen. Wenn wir überlegen: „Was war eigentlich nach dem Zweiten Weltkrieg?“, dann müssen wir sagen: Das war die Zeit, wo wir humanitäres Völkerrecht neu geschaffen haben, wo wir die Vereinten Nationen neu aufgestellt haben, wo wir angefangen haben, die Europäische Union so richtig zu organisieren. Ich glaube, wir haben jetzt wieder eine ähnliche Situation, wo wir uns am Ende entscheiden können und entscheiden müssen: Wollen wir in der Tat zurück aufs Nationale? Wollen wir uns auf den nationalen Blick besinnen, oder wollen wir eine stärkere internationale Zusammenarbeit haben? Wollen wir einen erweiterten und vertieften Multilateralismus? Wollen wir die Europäische Union weiterentwickeln, zum Beispiel auch in der Dimension der Gesundheit, wo die Europäische Union im Moment eben keine Kompetenz hat? Deutschland kann und muss ein solcher Akteur eines neuen Multilateralismus sein, und wir haben ja auch eine ganze Reihe von Initiativen auf den Weg gebracht. Der Bundesaußenminister berichtet immer wieder darüber. Wir haben die Verantwortung im UN-Sicherheitsrat. Wir haben die Verantwortung im UN-Menschenrechtsrat. Wir haben demnächst die Präsidentschaft in der Europäischen Union, und – der Kollege Heinrich hat schon darauf hingewiesen – wir übernehmen im November auch den Vorsitz im Ministerkomitee des Europarats, direkt anschließend an die Präsidentschaft in der Europäischen Union. Ich glaube, das muss man zusammendenken, auch in der Dimension des Vorgehens gegen autoritäre Tendenzen. Wir haben eben eine besondere Verantwortung im Bereich der humanitären Hilfe. Die haben wir uns hier in den letzten Jahren gemeinsam erarbeitet. Wir als Hohes Haus haben dafür gesorgt, dass ein Mittelaufwuchs in der humanitären Hilfe stattgefunden hat und dass wir mittlerweile der zweitgrößte Geber weltweit sind. ({0}) Wenn die Zahlen der Vereinten Nationen stimmen, dass wir in drei bis sechs Monaten wahrscheinlich leider den Höhepunkt der Coronakrise weltweit sehen, dann müssen wir uns entsprechend darauf vorbereiten. Dieser Platz im Ranking der humanitären Hilfe ist eine große Anerkennung, aber eben auch eine große Verpflichtung. Die Staaten werden genau schauen, was Deutschland macht und wie wir entsprechend vorangehen. Auch das ist gerade schon deutlich geworden: Wir haben den ersten Hilfeaufruf von 2 Milliarden Euro aufgrund der Coronasituation gehabt. Deutschland hat sich daran mit 300 Millionen Euro beteiligt. Wir haben jetzt einen Hilfeaufruf von 6,7 Milliarden Dollar. Da kann man sich schon in etwa vorstellen, wenn man den Rechenschieber mitnimmt, in welcher Dimension auch Deutschland gefordert ist. Das ist nämlich im Bereich des Zwei- bis Dreifachen dessen, was wir zugesichert haben. Ich denke, wir hier als Deutscher Bundestag müssen wiederum alles tun, um diese Mittel auch zur Verfügung zu stellen. ({1}) Ich will einen Punkt ansprechen, bei dem wir im Übrigen gar nichts zahlen müssen, sondern nur etwas wieder ermöglichen müssen: Ja, es ist schwierig unter Coronabedingungen, aber es ist so, dass weiterhin Menschen im Mittelmeer ertrinken. Es ertrinken nämlich nicht weniger Menschen, weil es Corona gibt. Ich finde, was überhaupt nicht sein kann, ist, dass im Moment auch die private Seenotrettung durch NGOs blockiert wird, und ich denke, wir müssen alles tun, damit Boote die Häfen verlassen können, damit sie wieder Menschen im Mittelmeer retten können. ({2}) Unter dem Vorwand von Corona sehen wir die Verstärkung von autoritären Entwicklungen, leider gerade auch in Europa. Wir sehen es in Russland, wir sehen es in der Türkei, in Aserbaidschan, in Ungarn und in Polen. In Russland haben wir jemanden wie Herrn Kadyrow, der in Tschetschenien denjenigen, die sich nicht an die entsprechenden Auflagen halten, mit der Todesstrafe droht. Da muss man klipp und klar sagen: Das ist nicht mit der Mitgliedschaft im Europarat vereinbar. Solche Gedankenspiele sollte man tunlichst unterlassen, ansonsten gefährdet Russland die Mitgliedschaft im Europarat, die es gerade wieder als Vollmitglied errungen hat. Wir haben die Situation in der Türkei, wo unter dem Vorwand von Corona Schwerkriminelle entlassen werden, während diejenigen, die politisch motiviert unter fadenscheinigen Begründungen im Gefängnis sitzen, weiterhin dort verbleiben, zum Beispiel jemand wie der ehemalige HDP-Chef Herr Demirtas. Aber auch meine beiden Patenkinder Hozan Cane und Gönül Örs will ich hier erwähnen, die im Moment unter diesen Bedingungen leiden und die eigentlich freigelassen und nicht als Schwerstkriminelle behandelt gehören. ({3}) Wir haben die Situation in Aserbaidschan, wo jede Kritik unter dem Vorwand der Coronabekämpfung unterdrückt wird, im Übrigen ein Land, wo wir letztens zur Wahlbeobachtung waren. Mitglieder der AfD – zum Glück nicht im Deutschen Bundestag, sondern in einem Länderparlament – haben die dortige Wahl als wunderbar demokratisch gepriesen. Es war das genaue Gegenteil davon. So viel zu der Frage, wie man eigentlich mit autoritären Entwicklungen umgeht. Ich mache gleich weiter mit Ihren Freunden aus Ungarn. Wer sich anschauen will, wie die Coronasituation missbraucht wird, um das Parlament auszuschalten, sollte sich Ungarn zuwenden; denn dieses Land ist leider das Paradebeispiel dafür. Wir müssen mit aller Kraft gemeinsam dagegen vorgehen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({4}) Ich will das Thema Polen ansprechen. Dort wird versucht, auch wiederum mit abstrusesten Verrenkungen eine Präsidentschaftswahl, die eigentlich gerade nicht möglich ist, möglich zu machen. Zusammenfassend: Covid-19 lässt manches klarer zutage treten, das Gute und das Schlechte im Inland, aber auch in der internationalen Kooperation. Jetzt ist die Frage: Wollen wir wieder abgleiten ins Nationale, in autoritäre Entwicklungen, oder wollen wir die Situation für einen neuen Aufbruch des Multilateralismus – auch der Europäischen Union – im Sinne unserer gemeinsamen Werte nutzen? Ich bin jedenfalls für Letzteres. Vielen herzlichen Dank. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Martin Patzelt, CDU/CSU. ({0})

Martin Patzelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004372, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Danke schön, Herr Präsident. – Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will zwei Dinge vorab sagen, weil ich weiß, dass meine Redezeit sehr knapp wird. Sie sind mir so wichtig, weil sie in der Debatte deutlich geworden sind. Erstens. Ich fühle mich heute so wohl und zu Hause hier und in Deutschland. Das, was die meisten von Ihnen gesagt haben, spricht mir aus dem Herzen. Das zeigt die große Verantwortung, die wir hier gemeinsam zu einem historischen Zeitpunkt übernehmen und die uns ein Stückchen adelt. Auf dem Weg müssen wir weitergehen. ({0}) Zweitens. Herr Braun, Sie haben in einer Bemerkung gesagt: Scheinregierung der Kanzlerin. ({1}) Diese Bemerkung macht deutlich, was schlimmer ist als das Coronavirus: dass man mit Halbwahrheiten, Unterstellungen und Diffamierung in keiner Weise für den Fortschritt, für die Zukunft unseres Landes wirbt. Wenn es eine Scheindemokratie wäre, säßen Sie nicht hier. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Patzelt, gestatten Sie dem Kollegen Braun eine Zwischenfrage?

Martin Patzelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004372, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, es geht nicht von meiner Redezeit ab. – Bitte, Herr Braun.

Jürgen Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004680, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Kollege Patzelt, ich schätze Sie menschlich sehr. Ich bitte Sie, doch zur Kenntnis zu nehmen, dass ich vielerlei Kritik an der Bundeskanzlerin Angela Merkel und auch vielerlei Kritik an der Bundesregierung habe, dass ich aber nicht von einer „Scheinregierung“ gesprochen habe. Das müssen Sie falsch gehört haben.

Martin Patzelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004372, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir beide werden das mit dem Protokoll vergleichen, und ich werde das gegebenenfalls gerne zurücknehmen. Ich habe aber öfter den Eindruck, dass durch solche Unterstellungen genau das in unserem Volk untergraben wird, was wir am dringendsten brauchen: Vertrauen. ({0}) Verschiedene Redner haben gesagt, dass insbesondere in dieser Krisensituation das Vertrauen der Menschen das Allerwichtigste ist. Wer die Ängste und die Wut der Menschen befördert, der schafft nicht Zukunft für unser Land, der schafft nicht Zukunft für unsere Welt. Ich fahre mit dem fort, was ich vorbereitet habe. Das sind die Zahlen von heute Morgen: Wir haben 303 000 Tote auf dieser Welt zu beklagen. Wir haben 4,5 Millionen Infizierte. Von denen sind 1,6 Millionen wieder genesen. Das ist der aktuelle Stand von heute Morgen. Am 12. März dieses Jahres hat die WHO den Covid-19-Ausbruch zur Pandemie erklärt. Die globale Ausbreitung dieses Virus auf der Welt provoziert den Vergleich, wie denn mit der Pandemie in den unterschiedlichen Ländern und in unterschiedlichsten Herrschaftssystemen umgegangen wird. Ein solcher Vergleich ist wichtig und hilfreich. Nicht, damit man zum Resultat kommt: Wir sind die Besseren; wir haben alles gut gemacht. – Wir haben es bisher in Deutschland verantwortungsvoll und gut gemacht. Aber das hängt mit unterschiedlichen Rahmenbedingungen, unterschiedlichen historischen Situationen und unterschiedlichen Abhängigkeiten zusammen. Aber wir wollen die besten Erkenntnisse aus den unterschiedlichen Ländern zu den Maßgaben für unser Handeln machen. Eine permanente kritische Betrachtung dessen, was in unserem Land und auf der Welt vorgeht, ist das Beste, was wir tun können; denn wir sind ein lernendes System, und wir müssen gerade in Krisensituationen ein lernendes System bleiben. Die Einschätzungen der Ausbreitung von Covid-19 lagen in vielen Ländern weit auseinander. Es gab ein schnelles und konsequentes Handeln mit den entsprechenden Maßnahmen. Es gab aber auch Repressionen, Vertuschung der Infizierungsfälle. Es gab Gewalt gegen Menschen. Es gab das Wegsperren von Menschen und die Unterdrückung der Pressefreiheit; das alles haben wir heute gehört. Die Gefahr der Ansteckung und der rasanten Verbreitung dieser neuen Krankheit wurde auch massiv unterschätzt. Der Staatsführung war die Kontrolle der öffentlichen Meinung in bestimmten Ländern prioritär. Zwangsmaßnahmen wie die Sperrung ganzer Städte mit rigider Isolation der Menschen gehören zu eindämmenden Maßnahmen genauso wie die sogenannte Health-Code-App, in der die Bürger in China ihre Gesundheitsdaten eingeben müssen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist eine Funktionalisierung des Menschen, wenn er eine Ampel bei sich trägt, die auf Grün, Gelb oder Rot schaltet aufgrund der Daten, die er eingeben muss, und wenn anhand dieser Daten dann seine Rechte als Mensch in einer Weise beschnitten werden, dass er nur noch ein funktionierendes Wesen ist, ohne die gleiche Würde und die gleichen Rechte zu haben. ({1}) China hat von Anfang an eine Informationssperre verhängt. Es hat ein Labor geschlossen. Es hat die Laboruntersuchungsergebnisse unter Verschluss genommen oder vernichten lassen. China hat einen Arzt, der frühzeitig auf die Ansteckungsgefahr hingewiesen hat, mundtot gemacht; er ist dann leider noch verstorben. Das zeigt, welche Gewalt ein Staatsapparat hat, wenn er sie sich nimmt und wenn er nicht demokratisch kontrolliert wird. Das ist bei uns – Gott sei Dank – anders. Vergleichen wir das mit der Situation im Iran. Im Iran gab es 112 725 Infizierte und 6 783 Todesfälle. Schon im März 2020 gehörte der Iran neben China, Südkorea und Italien zu den am stärksten betroffenen Staaten. Wie ist er mit dieser Situation umgegangen? Engpässe vor allen Dingen bei Medikamenten, Hunger und Nahrungsmangel lassen wütende Menschen auf die Straßen gehen. Gefangene brechen aus den Gefängnissen aus, weil sie sich vor einer Ansteckung fürchten, weil die Verhältnisse dort unzumutbar sind. Sie werden eingefangen und erschossen, ohne Gerichtsurteil, ohne irgendeine Verhandlung oder eine Diskussion. Das einzelne Menschenleben zählt auch in dieser Krise nicht. Der Machterhalt einer Regierung – hier der Mullah-Regierung – hat Priorität. Dagegen Taiwan, auch in Südostasien, mein Beobachtungsgebiet: Das Land hat bis heute nur knapp zwei Erkrankte pro 1 000 Einwohner. Es hat insgesamt sieben Todesfälle zu verzeichnen. Von 440 Infizierten sind 375 Menschen bereits genesen. Wie kann das sein? Durch die geografische Nähe zu China und durch die hohe Zahl von Pendlern – 1,5 Millionen arbeiten in China – hatte man eigentlich erwartet, dass sich die Pandemie auch in Taiwan sehr schnell ausbreitet. Dafür hat es jedenfalls die besten Voraussetzungen gegeben. Es gab in Taiwan keine Ausgangsbeschränkung. Universitäten, Schulen, Restaurants, Geschäfte und selbst Fitnessstudios blieben offen. Aber seit Beginn der Krise im Januar wurde intensiv getestet. Aus der SARS-Epidemie 2003/04 gelernt, hat sich das Land auf zukünftige Epidemien eingestellt. Systematische Katastrophenpläne lagen vor. Eine institutionelle Struktur von Gesundheitsämtern wurde errichtet. Bereits Mitte Januar machten zwei Virologen, die in Wuhan waren und nach Taiwan zurückkamen, die WHO aufmerksam, dass das Virus von Mensch zu Mensch übertragbar ist. Die taiwanische Regierung hat zusammen mit den Menschen alles getan, um die kleinen Brandherde – so wie wir es jetzt in Deutschland versuchen wollen – zu entdecken, zu definieren und die Beschränkungen zielgenau vorzunehmen. Am 25. Januar schloss Taiwan dann seine Grenzen für Besucher aus der Volksrepublik China, Hongkong und Macau. Gleichzeitig erarbeiteten die Behörden eine Datenbank, die die Informationen der Gesundheitsbehörde mit denen der Einwanderungs- und Zollbehörden zusammenfasste. So konnte man die Reiserouten, Kontaktwege und Krankheitssymptome jedes einzelnen Einreisenden verfolgen und zu einem sehr frühen Zeitpunkt durch strafbewehrte Quarantänemaßnahmen für Personen mit Ansteckungsverdacht die Infektionsketten frühzeitig unterbrechen. Eine umfassende und transparente Berichterstattung sorgte dafür, dass die Bevölkerung den Aufforderungen der Regierung nachkam, sie ernst genommen hat, auch ohne offiziellen Lockdown ihre Alltagsaktivitäten beschränkte. Der wirtschaftliche Schaden ist in diesem Land bisher bedeutend geringer als in den anderen südostasiatischen Staaten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, immer wieder muss betont werden: Nur der Schutz der Freiheit kann uns retten, auch in einer solchen Epidemie. Das klingt erst mal widersinnig, und manche waren der Verlockung ausgesetzt, den Diktaturen mit ihren rigiden Maßnahmen zu folgen, und sagten: Das hat die größere Wirkung. – Wir beobachten das weiter sehr interessiert. Ich glaube, die Freiheit des Denkens, der Wissenschaft, der Bewegung, der wirtschaftlichen Betätigung, die Freiheit der Medien, die Freiheit zum politischen Diskus und auch zu Demonstrationen ebenso die Freiheit der Diskussion über Tod und Leben in einer Form und Weise, die nicht diffamiert, die nicht unterstellt, die nicht populistisch ist, die nicht ihre eigenen Ziele und Absichten sucht, ein offener Diskurs, das hilft uns allen weiter. Die Bewältigung der Bedrohung durch Covid-19 zeigt auf, wie gefährlich das Zurückhalten von relevanten Informationen oder deren Manipulation ist.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege.

Martin Patzelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004372, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja. Jetzt bin ich so weit.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Sie haben es geahnt, nicht? ({0})

Martin Patzelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004372, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja. Ich sage noch meinen Schlusssatz; der ist mir wichtig. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir schauen immer viel auf unsere Regierung. Wir schauen viel auf die Medien. Wir alle sitzen hier zusammen. Wir alle haben Einfluss. Wir alle geben durch unser persönliches Zeugnis Anlass zum Nachdenken, und das sollten wir überall, wo wir auftreten, tun. Gegen alle Mythen, gegen alle Halbwahrheiten – Halbwahrheiten sind die schlimmsten Lügen –, gegen alle Verdächtigungen sollten wir offen, sachlich und transparent eintreten. Ich glaube, dann werden wir die Krise auch in Deutschland bewältigen. Ich wollte noch sagen: ({0}) Wir sitzen alle in einem Boot, und die Krise macht deutlich: Ökologisch und wirtschaftlich – denken wir das mal nur alles weiter – kommen wir nicht mehr umhin, global zu denken und zu fühlen. Wer das nicht tut, dem ist nicht zu helfen. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Peter Heidt, FDP. ({0})

Peter Heidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004948, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Beim Kollegen Gysi habe ich kurz gedacht: Jetzt fängt der gleich an und singt die Internationale. – Mit unserem Thema hatte das aber irgendwie nichts zu tun. Weltweit werden in vielen Ländern derzeit Notstandsgesetze erlassen, die die Menschen vor Covid-19 schützen sollen, ({0}) die jedoch zu Repression, Stigmatisierung von Minderheiten und Einschränkung von Meinungsfreiheit missbraucht werden. Wer nun glaubt, es handele sich bei diesen Ländern ohnehin nur um die autokratischen Staaten dieser Welt, der irrt. In zahlreichen europäischen Ländern werden die der Bekämpfung von Corona dienenden Bestimmungen gezielt gegen die Angehörigen der Roma-Minderheit genutzt. In Bulgarien etwa werden Roma zu Sündenböcken gemacht, ({1}) wird das Gerücht verbreitet, aus Westeuropa zurückgekehrte Roma hätten das Coronavirus eingeschleppt. Die Roma werden durch verschiedene Maßnahmen immer weiter an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Die Maßnahmen zielen auf die Verelendung ganzer Siedlungen ab und nehmen den Tod möglicherweise Tausender Menschen billigend in Kauf. Rassismus gegen Roma hat in diesen Zeiten Hochkonjunktur. Sollte hier nicht schnellstmöglich eingeschritten werden, droht eine humanitäre Katastrophe. ({2}) Die Bundesregierung ignoriert das: Ihr lägen keine Erkenntnisse über einen Anstieg von Hetzkampagnen und Gewalt gegen Roma in Ländern wie Bulgarien, Ungarn, Rumänien oder der Slowakei vor. Eine solche Antwort ist nicht nachvollziehbar. Herr Außenminister, wir Freien Demokraten fordern die Bundesregierung auf, Roma und Sinti vor einer Ethnisierung der Coronakrise und damit einhergehenden Maßnahmen und Übergriffen gerade innerhalb der EU zu schützen. ({3}) Ein Blick vor die eigene Haustür reicht also bereits aus, um zu wissen, dass es auch europäische Regierungen gibt, die die Coronakrise ausnutzen, um ihre eigene Macht zu festigen und Demokratie und Menschenrechte zu untergraben. In Ungarn, wohlgemerkt einem EU-Mitgliedstaat, regiert Präsident Orban per Dekret, zeitlich unbefristet. Das ungarische Parlament ist quasi entmachtet. Anlass zur Sorge besteht also vor allen Dingen dann, wenn Parlamente in Entscheidungen nicht mehr eingebunden sind. Wir müssen aufpassen, dass durch Corona keine Verschiebung der grundrechtlichen Blickwinkel eintritt. Covid-19 darf nicht als Ablenkung von Gesetzesmaßnahmen genutzt werden, die darauf abzielen, Menschenrechte und Meinungsfreiheit einzuschränken. ({4}) Menschenrechte, liebe Kolleginnen und Kollegen, werden heute weltweit mehr denn je offen infrage gestellt. Ohne Druck von außen wird sich daran auch nichts ändern. Die Bundesregierung muss im Rahmen der bevorstehenden EU-Ratspräsidentschaft – das haben schon einige gesagt – aber wirklich einen wirksamen Schutz der Menschenrechte fordern, auch und gerade hier in Europa. Es ist nicht hinnehmbar, dass sich Länder mitten in Europa ohne spürbare Konsequenzen zu einer Diktatur entwickeln. Das Auswärtige Amt sagte vorgestern in einer Sitzung des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe, die Bundesregierung sei im Dialog mit Ungarn. Okay. Es darf doch aber wirklich stark bezweifelt werden, dass hier ein Dialog noch ausreicht. Die Einhaltung von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit darf nicht nur eingefordert werden, sie muss auch durchgesetzt werden, notfalls eben mit Sanktionen und der Streichung sämtlicher Subventionen – im Interesse einer stabilen Demokratie in Europa, aber auch, weil wir sonst selbst jede Möglichkeit verspielen, uns in anderen Ländern glaubhaft für Demokratie und Menschenrechte einzusetzen. Vielen Dank. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Sebastian Brehm, CDU/CSU. ({0})

Sebastian Brehm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004682, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Dies ist die dunkelste Stunde der Menschheit in meiner Lebenszeit“, so sagte es die Generaldirektorin des Internationalen Währungsfonds, Kristalina Georgieva, im April dieses Jahres auf einer Pressekonferenz mit Vertretern der Weltgesundheitsorganisation, und sie blickte insbesondere auf die aktuelle humanitäre Lage in den Kriegsgebieten und in den Entwicklungs- und Schwellenländern. Natürlich – das merken wir in unserer politischen Arbeit täglich – sind die Industriestaaten von der Krise hart betroffen. Aber wenn man in die Entwicklungsländer und in die Schwellenländer blickt, dann erkennt man, dass die Coronapandemie dort nicht nur zu einer Krise, sondern auch zu einer humanitären Katastrophe führt. Die Gesundheitssysteme sind in der Regel zu schwach, um mit den gesundheitlichen Folgen der Pandemie zurechtzukommen; sie kollabieren. Es gibt keine ausreichende Strom- oder Wasserversorgung, keine Möglichkeiten für Hygienemaßnahmen. Es gibt Hunger und Elend, es gibt kein Sozialsystem, keine staatlichen Hilfen wie bei uns im Land. Die Ärmsten der Armen sind betroffen, und die aktuelle Situation trifft sie mit voller Wucht, ohne große Chancen. Hinzu kommen verantwortungslose Staatschefs, die die Krise zu nutzen versuchen, um ihre Macht auszubauen. Menschenrechte spielen dabei keine Rolle. Eines der traurigen Beispiele ist Venezuela. Laut Angaben der UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR hat die humanitäre Katastrophe schon vor Corona einen der größten Flüchtlingsströme der letzten zehn Jahre ausgelöst. Im erdölreichsten Land der Welt sind seit 2015 rund 4,5 Millionen Menschen durch Hunger und Armut in die Flucht getrieben worden. Bis Ende 2020 wird deren Zahl nach UN-Schätzungen auf rund 6,5 Millionen Menschen ansteigen. Gleich ob es vom Präsidenten ironisch oder ernst gemeint war, empfahl dieser seiner Bevölkerung, zu Hause zu bleiben und Netflix zu schauen, wohl wissend, dass große Teile des Landes überhaupt nicht über Strom verfügen, und wenn, dann nur über zwei oder drei Stunden pro Tag. Die regelmäßige Versorgung mit sauberem Wasser erreicht zum jetzigen Zeitpunkt 6 Prozent der Bevölkerung. 94 Prozent der Bevölkerung erhalten Trinkwasser nur ab und zu, in unregelmäßigen Abständen und in schlechter Qualität. Die Menschen stehen also vor der Frage, ob sie entweder zu Hause bleiben und verhungern oder ob sie zur Arbeit gehen und ungeschützt dem Coronavirus ausgeliefert sind, wenn sie überhaupt eine Arbeit haben. Dazu kommt die aktuelle Krise, was die Versorgung mit Benzin und damit auch den Transport von Lebensmitteln angeht. Die Hyperinflation leistet ihren Beitrag, dass Lebensmittel überhaupt nicht mehr erschwinglich sind, und das Gesundheitssystem ist fast komplett zusammengebrochen. Präsident Maduro herrscht weiter und tritt die Bevölkerung mit Füßen: kein Zugang zu medizinischer Versorgung, kein Zugang zu Wasser, keine faire Berichterstattung, Einschränkung der Pressefreiheit. Oder schauen wir nach Brasilien. Der brasilianische Präsident Bolsonaro lehnt entschlossen alle Warnungen der WHO ab. Brasilien wird zum Hotspot der Pandemie. Unvermindert geht in dieser Zeit aber die Abholzung des Regenwaldes weiter. Das ist nicht nur die Vernichtung eines lebensnotwendigen Ökosystems, sondern auch die Vertreibung der vielen indigenen Gruppen im Amazonas-Regenwaldgebiet. Übrigens, die Zahlen sind erschreckend: Im ersten Quartal 2020 wurden 800 Quadratkilometer Regenwald abgeholzt; das sind über 100 000 Fußballfelder. Aber auch in Ungarn, also bei uns vor der Haustür, in Europa, wird die Krise genutzt, um der Regierung von Viktor Orban unbegrenzte Macht zu verschaffen. Mit einem Gesetz wurde am 30. März 2020 in der ungarischen Nationalversammlung dem Präsidenten ermöglicht, ohne Zustimmung des Parlaments – bei uns undenkbar – per Dekret zu handeln, und die Pressefreiheit wurde eingeschränkt, indem jeder, der der Regierung nicht passende Meinungen darstellt, mit bis zu fünf Jahren Haft belegt werden kann. Liebe Kolleginnen und Kollegen, unser Auftrag ist es, auf diese Menschenrechtsverstöße und auf die prekäre humanitäre Situation in den Ländern immer wieder und unermüdlich hinzuweisen. ({0}) Und wir werden helfen. Wir sind ein starkes Land – trotz der Krise –, und wir müssen mit dieser Privilegierung und der damit verbundenen Verantwortung immer wieder umgehen und uns dieser auch bewusst werden. Deutschland kommt dieser Verantwortung nach. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Brehm.

Sebastian Brehm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004682, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte?

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Gestatten Sie eine Zwischenfrage aus der AfD?

Sebastian Brehm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004682, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön.

Thomas Ehrhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004707, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, Herr Kollege, für die Möglichkeit, hier diese Frage zu stellen. – Herr Kollege, in den letzten Tagen habe ich viele Reden im Zusammenhang mit der Coronakrise gehört, und in vielen lief es eigentlich immer auf denselben Tenor hinaus, nämlich darauf, dass wir in dieser Situation verpflichtet sind, solidarisch zu handeln, das heißt im Klartext, auch einen Teil der Schulden, die in Europa entstanden sind, mit zu bezahlen. Das, was ich jetzt hier in dieser Debatte höre, geht noch einen Schritt weiter: dass wir auch bezüglich der ganzen restlichen Welt solidarisch sein müssen. Das ist natürlich auch immer mit Geldzahlungen verbunden. Ich möchte Ihnen eine Frage stellen. Sie wissen ja, dass dem deutschen Steuerzahler von einem verdienten Euro nicht mal 48 Cent bleiben, weil wir nämlich Steuerzahlerweltmeister sind. Deswegen frage ich Sie, wo für Sie ganz persönlich vielleicht die Obergrenze der steuerlichen Belastung liegen würde, wo auch Sie sagen würden: Tut uns leid. Wir können unsere eigenen Leute nicht immer weiter belasten, auch wenn wir glauben, aus humanitären Gründen die Welt retten zu müssen. ({0}) Das ist eigentlich das Einzige, was ich von Ihnen gern wissen würde. Danke sehr.

Sebastian Brehm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004682, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Also, Herr Kollege, ich lade Sie gerne zu der nachmittäglichen Diskussion über das Corona-Steuerhilfegesetz ein, in deren Rahmen ich ja auch zu den steuerlichen Belastungen in unserem Land spreche. ({0}) Aber es ist schon ein Hohn, wenn Sie sagen, dass wir keine humanitäre Hilfe leisten sollen. ({1}) Denken Sie wirklich an die vielen armen Menschen in Venezuela. Die haben nichts zu essen, die haben keinen Strom. Die haben keine Chance, zu überleben. Wenn wir hier nicht einschreiten und hier als starkes Land, als Industrienation – wir sind mit unserem Status als Industrienation und unserer Stärke in der Welt privilegiert – nicht helfen, kommen wir der Verantwortung unseres Staates nicht nach. ({2}) Sie haben heute wieder gezeigt, dass Sie im eigenen Land nur Kritik und Hass schüren, um zu destabilisieren. Übrigens: Wenn wir nicht helfen, wachsen auch die Flüchtlingsströme an. Aber vielleicht ist das auch Ihr Wunsch, weil das in Ihrer politischen DNA liegt; ansonsten ist Ihr Auftrag im Bundestag nicht erfüllt. ({3}) Deswegen glaube ich: Wir müssen helfen, und wir werden helfen, und wir werden uns auch dafür einsetzen. Das ist unsere urchristliche Verantwortung in diesem Land, und der kommen wir auf jeden Fall nach. ({4}) Wir kommen dieser Verantwortung in einem ersten Schritt mit 300 Millionen Euro nach; davon sind allein 40 Millionen Euro für das Welternährungsprogramm vorgesehen. Das ist dringend notwendig. Dass diese Hilfe aber auch dort ankommt, wo sie ankommt, haben wir zahlreichen Helferinnen und Helfern zu verdanken, übrigens auch vielen Organisationen, die vor Ort wirken. Deswegen ist es an dieser Stelle angezeigt, dass wir diesen vielen Helferinnen und Helfern und diesen Organisationen – es sind ganz besondere Menschen – auch mal von Herzen Danke sagen. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland schaut nicht weg, Deutschland hilft. Und wir werden auch nicht wegschauen, wenn es zu Einschränkungen der Menschenrechte in der Welt kommt; denn die Menschenrechte sind Grundlage für Frieden, die Menschenrechte sind Grundlage für Wohlstand, für soziale und gesellschaftliche Teilhabe und für Gerechtigkeit. Wir müssen immer wieder darauf aufmerksam machen und daran mahnen. Deswegen danke ich dafür, dass es heute an dieser zentralen Stelle diese Diskussion gibt. Herzlichen Dank. ({6})

Wolfgang Wiehle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004933, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! 2 Millionen Führerscheine kassiert, 200 000 Existenzen zerstört – nein, ich spreche nicht von den Folgen des Shutdown. ({0}) Diese Zahlen gehören zu einer Petition, die in gut zwei Wochen fast 140 000 Menschen unterschrieben haben. Es geht um den neuen Bußgeldkatalog für den Straßenverkehr. ({1}) Den müssen wir hier im Bundestag endlich besprechen. Wie man in den Nachrichten hört, hat ja schon die Ankündigung dieser Debatte Wirkung erzielt. ({2}) Im Schatten von Corona, unter dem Druck aus dem Bundesrat und vielleicht auch im Überschwang der Regierungsmacht hat das Verkehrsministerium viele Bußen drastisch verschärft. ({3}) Ein Fahrverbot ist die angemessene Konsequenz für das Verhalten rücksichtsloser Raser. Seit Ende April gibt es das innerorts aber schon bei 21 km/h zu viel; vorher lag die Grenze bei 31 km/h. ({4}) Immer mehr Städte und Gemeinden ordnen auf breiten Hauptstraßen Tempo 30 an, je nach Wochentag und Uhrzeit. In so einer Tempofalle ist eine Überschreitung um 20 km/h schnell passiert. Ein Fehler beim Blick auf die Uhr, und der Schein ist weg. ({5}) Für den Handwerker mit seinem Transporter, für den Taxifahrer, für den Mitarbeiter im Außendienst heißt das schnell: Der Job ist weg. Alleinerziehende Mütter, die jeden Tag vor der Arbeit die Kinder zu Kita und Schule bringen, stehen ohne Auto schnell vor der Verzweiflung. ({6}) Diese Beispiele zeigen: Der neue Bußgeldkatalog ist lebensfremd und ganz bestimmt nicht verhältnismäßig. ({7}) Viele Betroffene werden vor Gericht Einspruch erheben. Mit etwas Glück entkommen sie dem Fahrverbot – um den Preis des doppelten oder dreifachen Bußgelds. Der Preis für die Amtsgerichte wird eine gewaltige Überlastung sein. Rechtsanwälte und Rechtsschutzversicherungen freuen sich über neue Geschäfte. Den Führerschein verlieren müsste aber, wer vorsätzlich mit seinem Auto eine Straße blockiert, etwa für eine Hochzeitsfeier. Warum wird das nicht geregelt? ({8}) Nein, es ist nicht alles falsch am neuen Bußgeldkatalog. Wer Rettungsgassen auf der Autobahn nicht bildet oder sie missbraucht, gehört hart bestraft. Wer beim Rechtsabbiegen mit dem Lkw zu schnell fährt und Radler und Fußgänger gefährdet, gehört bestraft. Die AfD-Fraktion beantragt: Der Rest des Katalogs muss aber revidiert werden. Dazu, meine Damen und Herren, soll dieses Hohe Haus die Regierung ausdrücklich auffordern und so auch ein klares Signal an den Bundesrat senden. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Gero Storjohann, CDU/CSU. ({0})

Gero Storjohann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003643, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Wir beraten heute im Lichte der Ankündigung des Ministers Andi Scheuer, den Bußgeldkatalog in Nuancen zu überarbeiten. Wir haben zwei Anträge vorliegen, einen von der AfD und einen von der FDP. Wir haben von Herrn Wiehle, der stellvertretendes Mitglied im Petitionsausschuss ist, gehört, dass er seine Aufgabe nicht so richtig wahrnimmt. Es gibt keine Petition dieser Größenordnung beim Deutschen Bundestag. Insofern sollten Sie da noch mal nachlesen. Das BMVI hat einen Entwurf erarbeitet mit umfassenden Maßnahmen, wie man den Bußgeldkatalog ändern kann. Dieser Entwurf wurde abgestimmt mit allen Ministerien. Dieser Entwurf ist dann in die Länder- und Verbändeanhörung gegangen, und diese gaben zu diesem Entwurf ihre Stellungnahmen ab. Dann reichte das BMVI diesen Entwurf beim Bundesrat ein. Bis dahin waren wir als Politiker der Koalition in so manche Debatte eingebunden. Wir haben uns nicht überall durchsetzen können, aber wir haben gesagt: Das ist in Ordnung. Die Fachausschüsse des Bundesrats nahmen zum Entwurf Stellung, erarbeiteten Änderungen. So wie ich gehört habe, gab es 162 Änderungsanträge in diesem Bereich. Es gab dann eine längere Debatte, die nicht abgeschlossen werden konnte. Es gab eine Verzögerung bis in den Februar hinein, um letzten Endes zu diskutieren: Akzeptieren wir dieses Änderungspaket, oder sammeln wir es in Gänze wieder ein? – Minister Andi Scheuer hat sich, da auch viele gute Ansätze in der Novelle enthalten gewesen seien, für die Veröffentlichung entschieden. Es ist im Bundesgesetzblatt veröffentlicht worden, nachdem alle anderen Ministerien hier zugestimmt haben. Die AfD hat jetzt einen Änderungsantrag gestellt, mit dem alle diese Maßnahmen wieder rückgängig gemacht werden sollen, bis auf zwei Punkte, und die FDP ist auch noch schnell aufgesprungen. Nun muss man wissen, dass die FDP im Bundesrat prominent vertreten ist. In zwei Länderkabinetten stellen Sie den Verkehrsminister: ({0}) in Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz. Die Novelle wurde in der Schlussabstimmung von allen Ländern einstimmig beschlossen. Jetzt wird festgestellt: Ogottogott, was haben wir da gemacht? ({1}) Hauptsächlich geht es um den Punkt, dass wir bei Fahrverboten bisher das Prinzip verfolgen: Der Wiederholungstäter muss damit rechnen, dass er ein Fahrverbot erhält, aber nicht beim erstmaligen Vergehen. – Außerdem sind die zulässigen Geschwindigkeiten reduziert worden. Wir als Verkehrspolitiker vertreten den Ansatz: Man hält sich gefälligst an Regeln! ({2}) Wenn man das nicht macht, gibt es eine Strafe. – In anderen europäischen Ländern ist die Strafe wesentlich höher. Hier geht es jetzt aber um das Fahrverbot. Man sollte bei diesem Punkt – ich kann damit leben – noch mal darüber nachdenken, ob das in dieser Form richtig vereinbart worden ist. Als fahrradpolitischer Sprecher meiner Fraktion bin ich froh, dass diese Reform auf den Weg gebracht wurde. ({3}) Viele Anpassungen sind vorgenommen worden, die nötig waren: Anhebung von Geldbußen zum Schutz von Radfahrenden, zum Schutz der Rettungsgasse, zu Parkverstößen auf privilegierten Parkplätzen von Schwerbehinderten, auf Carsharing-Parkplätzen und solchen für elektrisch betriebene Fahrzeuge. – Dabei ist das Ziel, mit erhöhten Geldbußen eine abschreckende Wirkung zu erzielen, es darf nicht so sein, dass es als Kavaliersdelikt gilt. Dabei ist immer die Frage: Was ist angemessen? – Dazu gab es meines Erachtens gute, angemessene Regelungen. Diese Regelungen sollen die schwächeren Verkehrsteilnehmer stärken. Auf die Politik wird immer wieder Druck ausgeübt, dafür zu sorgen, dass gerade vor Kindergärten langsam gefahren wird; es sollen Zebrastreifen angelegt werden und, und, und. – Trotzdem sehen wir alle, dass dort teilweise mit erhöhten Geschwindigkeiten passiert wird. Dann kommt die Forderung an die Polizei, sie möge kontrollieren. Das macht sie dann ein-, zweimal im Jahr; aber das verändert ja nicht das Verhalten. Deswegen: Über die Angemessenheit müssen wir reden. Meine lieben Kollegen der FDP, richten Sie Ihre Forderung bitte auch an diejenigen Landesregierungen, wo Sie mit Verantwortung tragen. ({4}) Denn nur dann, wenn der Bundesrat in seiner Mehrheit zu einer anderen Auffassung kommt, wird es eine Änderung geben. Es lag nicht am Verkehrsminister Andi Scheuer, dass diese Verschärfung so gekommen ist, die Sie jetzt beklagen. Außerdem brauche ich einen konkreten Hinweis, was Sie sonst noch alles anpassen wollen. Man kann nämlich nach oben und nach unten anpassen. Bisher hielt ich das alles für angemessen – bis auf das Fahrverbot, worüber man noch mal nachdenken sollte. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Oliver Luksic, FDP, hat als Nächster das Wort. ({0})

Oliver Luksic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004102, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben einen Antrag eingebracht, weil die Änderung der Straßenverkehrs-Ordnung in weiten Teil gut ist, aber ein ganz wichtiger Aspekt geändert werden muss: Wir wollen nicht, dass es gleich beim ersten Zu-schnell-Fahren zu einem längeren Fahrverbot kommt. Wir begrüßen ausdrücklich, dass Verkehrsminister Scheuer diese Initiative aufgegriffen hat. Er ist leider kurz vor meiner Rede gegangen. ({0}) – Das ist wahrscheinlich kein Zufall. – Ich möchte ihn trotzdem ausdrücklich loben. Er macht im Moment gute Arbeit. Ich habe ihn gelobt in der Coronakrise; dort hat er einen guten Job gemacht. Auch die Haltung in Sachen Lufthansa ist richtig, und richtig ist ebenso, dass er bereit ist, einen Fehler zu korrigieren, wenn die FDP ihn darauf aufmerksam macht. Das ist mutig und richtig, und dafür loben wir ihn ausdrücklich. Er macht derzeit in diesem Punkt eine gute Arbeit. ({1}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Straßenverkehrs-Ordnung wurde geändert. Darin sind eine Reihe richtiger Aspekte enthalten – die FDP hat dem ja auch zugestimmt –: ob das Thema Rettungsgasse, das angesprochen wurde, die Fahrradzone, rechtsabbiegende Lkws – es ist absolut richtig, das zu ändern. Aber es gibt einen ganz zentralen Punkt, der geändert werden muss – es wurde von den Vorrednern nicht ganz korrekt geschildert –: Eine Onlinepetition beim Deutschen Bundestag, bestimmte Änderungen in der Straßenverkehrs-Ordnung rückgängig zu machen, hat knapp 150 000 Unterstützer. Es ist also ein Thema, das die Menschen bewegt; denn Millionen Menschen sind in ihrer beruflichen Existenz getroffen. Es ist doch auch nicht gerecht, wenn derjenige, der 50 Jahre alt ist, der noch nicht ein einziges Mal zu schnell gefahren ist, genauso behandelt wird wie der 18-Jährige, der zum ersten Mal zu schnell fährt. ({2}) Deswegen muss das korrigiert werden. Diese Führerscheinfalle muss weg. Vor dem Hintergrund der erfolgreichen Onlinepetition haben wir unseren Antrag eingebracht, weil dieser Fehler, den auch die FDP mit beschlossen hat, korrigiert werden muss und soll. Insofern haben wir das ganz ruhig und sachlich aufgeschrieben. Ein weiterer Punkt, über den man diskutieren muss, ist die Verhältnismäßigkeit bei der Erhöhung der Bußgelder. Natürlich ist es richtig, Bußgelder zu erhöhen. Da gibt es eine ganze Reihe von Punkten, zum Beispiel „Falschparken in der Feuerwehrzufahrt“; das muss massiv und hart bestraft werden. Aber ist es denn richtig, wenn es zum Beispiel für das Halten in zweiter Reihe – das betrifft ungefähr 30 000 Kurier- und Expressdienste, die unsere Pakete ausliefern müssen – nicht nur eine Erhöhung der Geldstrafe um mehr als das Doppelte gibt, sondern sogar Punkte? Das passt auch nicht zur Flensburg-Reform. ({3}) Alle Fraktionen hier wollten ein Schild „Ladezonen“ einführen, um diesen Konflikt zu entschärfen. Das ist aber nicht passiert. Deswegen sagen wir: Ja, wir brauchen höhere Strafen; aber über die Verhältnismäßigkeit der Höhe wollen wir diskutieren. – Deswegen haben wir auch diesen Punkt angesprochen. ({4}) Es verwundert mich, dass die AfD das gleich alles abschaffen will. ({5}) – Doch. In Ihrem Antrag sind Sie dagegen, dass die Strafe für Falschparken in der Feuerwehrzufahrt geändert wird. Also, Recht und Ordnung sind bei Ihnen an der Stelle falsch aufgehoben. Sie haben sogar falsche Zahlen in Ihrem Antrag im Zusammenhang mit höheren Strafen für Fahrradfahrer. Die jetzigen Strafen für Fahrradfahrer halte übrigens auch ich für teilweise nicht verhältnismäßig. Zum Beispiel sind für das Benutzen der Gehwege massive Erhöhungen der Geldbußen vorgesehen – ich schaue es noch mal nach, damit ich es Ihnen nicht falsch sage –: unerlaubte Nutzung Gehwege: 55 Euro statt 15 Euro, mit Behinderung: 70 Euro statt 20 Euro. ({6}) In Ihrem Antrag haben Sie dazu aber falsche Zahlen genannt. Sie gehen von 25 Euro oder 35 Euro aus. Es ist ja nicht notwendig, die Zahlen bei den Radfahrern falsch darzustellen. Auch diese Strafen sollten korrigiert werden. ({7}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir freuen uns, dass der Ball, den wir dem Verkehrsminister in einem Brief zugespielt haben, dieses Verhandlungsangebot, jetzt aufgenommen werden soll. Es gibt wahrscheinlich einen kleinen Wermutstropfen: Gestern wurde sozusagen im Kleingedruckten etwas zum Thema „Parkraum in den Städten“ beschlossen; aber gut, so ist das. Wir begrüßen, dass der wichtige Aspekt im Zusammenhang mit den Führerscheinen aufgegriffen wurde. Wir freuen uns darüber, dass die ausgestreckte Hand in dem Punkt ergriffen wurde. Machen Sie alle mit bei dieser Änderung. Auch wenn der Antrag von der FDP kommt, werden Sie am Ende des Tages den Inhalt doch mittragen. Herzlichen Dank dafür, dass Sie unsere Anregung aufgreifen. Vielen Dank. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Bela Bach, SPD. ({0})

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Im vorliegenden Antrag fordern die Antragsteller, die am 28.04. in Kraft getretenen Änderungen des Bußgeldkatalogs im Rahmen der StVO-Novelle rückgängig zu machen. Die Antragstellerin von rechts außen fürchtet, dass durch die StVO-Novelle einzelne Gruppen gegeneinander ausgespielt werden, wenn bei Überschreiten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit um 21 km/h erhöhte Bußgelder verhängt werden. Denn das sei ja nur eine „ungewollte Nachlässigkeit“. Tatsache ist aber, dass es im Jahr 2018  3 275 Verkehrstote gab. Davon sind 1 061 gestorben, weil Fahrer zu schnell unterwegs waren. Das macht ein Drittel aller Verkehrstoten. Im Jahr 2018 gab es auch 42 146 Unfälle wegen unangepasster Geschwindigkeit, bei denen Personen zu Schaden gekommen sind. Bei diesen 42 146 Unfällen wegen unangepasster Geschwindigkeit wurde die zulässige Höchstgeschwindigkeit aber nur 2 465-mal überschritten. Wie kommt diese niedrige Zahl also zustande? Wenn wir von unangepasster Geschwindigkeit sprechen, dann ist damit nicht gleich die Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit gemeint. Im Raum steht dann die fehlende Anpassung der Geschwindigkeit an Straßenverhältnisse, an persönliche Fähigkeiten und an Wetterverhältnisse. Die niedrige Zahl von Unfällen wegen Überschreiten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit kann aber nicht bedeuten, dass alles so bleiben konnte, wie es war. Vielmehr war die Verschärfung längst überfällig; wie auch immer man sie dann konkret verhältnismäßig ausgestaltet. Verhältnismäßigkeit geht übrigens in zwei Richtungen: ({0}) Denn wenn das Gros der Unfälle schon wegen unangepasster Geschwindigkeit zustande kommt, dann zeugt das von der Gefährlichkeit zu schnellen Fahrens. Und erst recht muss das dann für das Überschreiten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit gelten; denn das ist im Verhältnis zur unangepassten Geschwindigkeit ein Mehr. Und dazu kommt, dass innerhalb dieser 42 146 Unfälle wegen unangepasster Geschwindigkeit die Dunkelziffer der Fälle, bei denen die Höchstgeschwindigkeit auch tatsächlich überschritten worden ist, groß ist.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hilse, AfD?

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, von der AfD nicht; sie hat schon genug Publikum. ({0}) – Garantiert nicht! – Die Dunkelziffer der Fälle bei Überschreiten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit ist also hoch; denn in den meisten Fällen ist eine detaillierte Ermittlung der Geschwindigkeit nur unter sehr großem Aufwand möglich und wird nicht durchgeführt. Mit der Erhöhung der Bußgelder wird also sehr bewusst die generalpräventive Abschreckung verfolgt. Es geht darum, Fälle der Geschwindigkeitsüberschreitung so gering wie möglich zu halten. Und ich behaupte: Jeder der 1 061 Verkehrstoten, der wegen unangepasster Geschwindigkeit gestorben ist, ist einer zu viel. Deswegen ist die Intention des Gesetzgebers richtig. ({1}) Es braucht ein gesellschaftliches Bewusstsein dafür, dass jeder, der mit über 21 km/h innerorts und 26 km/h außerorts zu schnell unterwegs ist, Leib und Leben seiner Mitmenschen gefährdet. Und solange es Verkehrstote gibt, meine sehr geehrten Damen und Herren, gilt es, daran zu arbeiten. ({2}) Das ist im Übrigen auch kein Abkassieren, wie die FDP-Fraktion es behauptet; denn es wird keiner gezwungen, zu schnell zu fahren und ein Bußgeld zu riskieren. ({3}) – Steht in Ihrem Antrag. – Das Gegenteil möchte man mit dieser Maßnahme ja gerade bewirken. ({4}) Blicken Sie auf das europäische Ausland, nach Österreich oder auch in die Schweiz, dann sehen Sie, dass die Höhe der Bußgelder auch bei uns immer noch verhältnismäßig ist und in meinen Augen übrigens auch noch viel zu niedrig. Denn sehen Sie sich die Rechtsgutsverletzungen an: Es geht um Leib und Leben anderer Menschen. ({5}) Und um auf das Ausspielen von Gruppen gegeneinander zurückzukommen: Ein umsichtiges Verhalten aller Verkehrsteilnehmer erfordert die besondere Rücksichtnahme auf die Schwächsten. Mit Ihrer Haltung für zu schnelles Fahren pervertieren Sie das Argument. Übrigens nennen wir das in einem anderen Kontext auch „Solidarität“; aber auch da ist Ihnen das ein Fremdwort. ({6}) Umso wichtiger ist es uns, mit der gesetzlichen Norm auch gesellschaftliche Normen zu verändern und für einen Bewusstseinswandel zu sorgen. Der Gesetzgeber hat sich bewusst dafür entschieden, zu schnelles Fahren stärker zu pönalisieren. Denn es ist uns ein wichtiges Anliegen, für mehr Sicherheit im Straßenverkehr zu sorgen. Vielen Dank. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Karsten Hilse, AfD.

Karsten Hilse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004752, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, Herr Präsident, dass sie die Kurzintervention zulassen. – Also, Sie können in Zukunft durchaus eine Zwischenfrage zulassen: Wir beißen nicht. ({0}) Ich war über 30 Jahre Polizist; ich habe Tausende Unfälle aufgenommen. Ich wollte Sie eigentlich nur darauf hinweisen: Für gewöhnlich wird der § 3 Absatz 1, also unangemessene Geschwindigkeit, so gut wie immer als Unfallursache angegeben. Unterhalten Sie sich bitte mit Polizisten, die Verkehrsunfälle für gewöhnlich aufnehmen. ({1}) Das wird so gut wie immer quasi mit reingeschrieben. Also diese Zahl, die Sie hier angeben, ist in diesem Zusammenhang nicht relevant. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Kollegin Bach, mögen Sie antworten?

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, ich möchte gerne antworten. – Es tut mir leid, aber da haben Sie mir nicht zugehört; denn exakt das habe ich ausgeführt, weshalb die Zahlen in diesem Zusammenhang durchaus relevant sind. Im Übrigen – ich weise gerne darauf hin – habe ich mich mit einer Kollegin unterhalten, die früher Verkehrspolizistin war. Da sind Sie vielleicht nicht ausreichend informiert. Danke. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Dann erteile ich das Wort der Kollegin Sabine Leidig, Die Linke. ({0})

Sabine Leidig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004089, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Guten Morgen, Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Mehr Gerechtigkeit im Straßenverkehr muss her! Für uns als Linke ist das völlig klar. Alle, die im Alltag zu Fuß, mit Rollator oder Rollstuhl, Kinderwagen oder Fahrrad unterwegs sind, kennen die zugeparkten Wege, die Angst vor Rasern, vor Lastwagen und bedrohlicher Enge. ({0}) Und sozial ungerecht geht es auch zu: Ärmere Menschen wohnen viel häufiger an vielbefahrenen Straßen, obwohl sie weniger Autos besitzen als der Durchschnitt. Wer in Quartieren ohne Grünanlagen, in kleinen Wohnungen ohne Garten lebt, bräuchte umso mehr Entspannung auf der Straße. Wer ohne Parkschein die Straße benutzt, um ein Auto abzustellen, kam bisher mit 15 Euro davon. Wer aber ohne Erlaubnis im Bus sitzt, um voranzukommen, berappt 60 Euro – nur mal so zum Vergleich. Nun hat die Bundesregierung einige überfällige Änderungen in Kraft gesetzt, Bußgelder angehoben und einen zeitweisen Führerscheinentzug für Raser eingeführt. Gerecht ist das alles in allem immer noch nicht, aber der AfD hier rechts außen geht das schon zu weit. Sie stehen an der Seite der Rücksichtslosen. Die FDP stößt ins gleiche Horn. Dass man einen Monat ohne Führerschein dasteht, wenn man beim Rasen erwischt wird, soll unzumutbar sein? Die Kollegin Bach hat gerade alles dazu gesagt. Weil es Todesopfer fordert, ist es zumutbar. Die FDP schreibt, dass die Menschen aus Versehen mit 70 km/h durchs Wohngebiet brettern. Ich bitte Sie! ({1}) Wer so etwas macht, hat zu viele PS unterm Hintern und ist mit Sicherheit kein armes Würstchen. ({2}) Wenn der Verkehrsminister jetzt einknickt, dann ist das wieder ein Kniefall vor der Autolobby. Ich sage Ihnen: Damit tun Sie den Menschen, die aufs Auto angewiesen sind, überhaupt keinen Gefallen. Die allermeisten fahren ja vernünftig, halten sich an die Verkehrsregeln, achten darauf, niemanden zu gefährden, und fast alle sind ja mal mit dem Auto, mal zu Fuß, mal mit dem Fahrrad unterwegs. Viele sorgen sich um die Sicherheit ihrer Kinder, ihrer Enkelkinder auf der Straße, wünschen sich mehr Ruhe, würden lieber mit Bus und Bahn zügig ans Ziel kommen. ({3}) Wir Linken wollen, dass die Nutzung der Straße von den Menschen her neu gedacht wird, damit es für alle angenehmer wird. Das ist jetzt in der Coronapandemie übrigens ganz besonders dringend. Damit sie gestoppt wird, müssen wir Abstand halten, und das geht nur, wenn genug Platz auf den Straßen vorhanden ist. Deshalb fordern wir jetzt sofort: Runter vom Gas! Tempo 30 als Basisgeschwindigkeit innerorts bringt schnell ein paar Vorteile, unter anderem wird der Verkehrsfluss gleichmäßiger und es braucht weniger Fahrbahnbreite. ({4}) Außerdem ist die Kommune einfach kein Abstellplatz für Autos. Damit Bewegungsfreiraum für alle entsteht, müssen Parkflächen jetzt unbürokratisch umgewandelt werden können in breitere Geh- und Radwege, in Flächen für Begegnung und für Spielplätze. Ich fordere die Bundesregierung auf, die nötigen Richtlinien jetzt schleunigst auf den Weg zu bringen. ({5}) Hier wäre mehr Geschwindigkeit ausnahmsweise gut für die Gesundheit. Danke. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Daniela Wagner, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Daniela Wagner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004184, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zwei Oppositionsfraktionen finden den Bußgeldkatalog der novellierten StVO zum Teil unverhältnismäßig. Angesichts von 300 000 Verkehrsunfällen mit Verletzten im Jahr, 3 000 Unfällen mit Todesfolge im Jahr frage ich Sie: Finden Sie das verhältnismäßig? Ich finde schon: Menschen, die ihre Mitmenschen auf der Straße durch rücksichtsloses, widerrechtliches, unachtsames Fahren oder Parken gefährden, müssen durchaus spüren, dass das so nicht geht. ({0}) Der § 1 der Straßenverkehrs-Ordnung, nach dem man sich grundsätzlich so zu verhalten hat, dass man niemanden belästigt, behindert oder gefährdet, scheint manch einem schon sehr schnell nach der Führerscheinprüfung komplett entfallen zu sein. Auch wir wollen keineswegs, dass Bürgerinnen und Bürger ihre Führerscheine verlieren oder Fahrverbote erhalten. Aber Laisser-faire kann die Lösung nicht sein. Wer verhindern will, dass ihm das Recht auf das Führen eines Fahrzeugs entzogen wird, kann sich ganz einfach an die Regeln halten; das steht ja jedem offen. ({1}) Die häufigsten Unfallursachen sind im Übrigen zu schnelles Fahren, Alkohol am Steuer, das Nichteinhalten von Mindestabständen zu anderen Fahrzeugen und Nötigung. Die meisten Unfälle könnten verhindert werden, wenn manche Menschen nicht derart rücksichtslos fahren würden. Das ist nun einmal die Realität. Dabei ist längst bekannt, dass bei notorischen Rasern und Dränglern und Ähnlichen Bußgelder nicht ausreichen. Dieser Personenkreis fühlt sich offensichtlich von den Bußgeldern, die in Deutschland für solche Fälle vorgesehen sind, überhaupt nicht betroffen, und zwar in dem Sinne, dass sie ihm finanziell nichts anhaben können. Da hilft auch kein populistisches Reden über die armen gebeutelten Autofahrer. Was hilft, ist vielmehr, dafür zu sorgen, dass sich Menschen auf der Straße verantwortungs- und rücksichtsvoll verhalten, die Sicherheit aller Verkehrsteilnehmer/-innen im Blick haben und auf keinen Fall Menschen gefährden. ({2}) Deutschland hängt, was die Durchsetzung von geltendem Recht und die Sicherheit auf den Straßen anbelangt, europaweit zurück. ({3}) Das hat natürlich seine Gründe. Schauen Sie mal, welche Bußgelder in Italien, in der Schweiz oder in Österreich für bestimmte Verkehrsvergehen zu zahlen sind. Bei uns ist das ja eine relativ preiswerte Angelegenheit. Angesichts der Fahrverbote, die nun für das Durchfahren einer Rettungsgasse verhängt werden können, wird sich so manch einer überlegen, ob er die Abkürzung via Rettungsgasse tatsächlich nimmt. Wenn jemand durch Blockieren der Rettungsgasse verhindert, dass Sanitäter rechtzeitig bei Unfallopfern ankommen, dann steht schließlich eine schwere Körperverletzung, möglicherweise mit Todesfolge, zur Diskussion. Meine Damen und Herren, das sind alles keine Petitessen! Das sind keine Kleinigkeiten! ({4}) Jeder Verletzte und jeder Verkehrstote ist einer zu viel. Deswegen war es vollkommen richtig, den Bußgeldkatalog nachhaltig anzugehen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Björn Simon, CDU/CSU. ({0})

Björn Simon (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004893, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zunächst noch einmal auf die Genese eingehen, die diese Novelle erfahren hat. Im Herbst 2019 hat Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer die Novelle der Straßenverkehrs-Ordnung vorgelegt. Anschließend hat eine Arbeitsgruppe, die von der Verkehrsministerkonferenz eingerichtet wurde, Vorschläge erarbeitet, welche einstimmig verabschiedet wurden. Am 14. Februar 2020 hat der Bundesrat eine Vielzahl an Änderungsanträgen diskutiert und der Novelle letztendlich mit umfassenden Änderungen zugestimmt. Vor gerade einmal zehn Tagen ist die Änderung der Straßenverkehrs-Ordnung in Kraft getreten. Die Neuerungen wurden im Rahmen der Verordnung zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften seitens der Bundesregierung und des Bundesrates beschlossen. Wie bei einer Rechtsverordnung üblich, wurde die Änderung dabei explizit nicht im förmlichen Gesetzgebungsverfahren vom Bundestag verabschiedet. Das ist den Kolleginnen und Kollegen der FDP und der AfD scheinbar nicht aufgefallen. Das ist auch gleich der erste Grund, warum wir die beiden vorliegenden Anträge kritisch sehen. Obwohl wir, der Bundestag, explizit nicht eingebunden waren, debattieren wir nun, wenige Tage nach dem Inkrafttreten der Novelle, an dieser Stelle Korrekturwünsche. Dabei hätten doch insbesondere die Kolleginnen und Kollegen der FDP-Fraktion ihre Kritik lange vor der Entscheidung im Bundesrat einbringen können. ({0}) In drei Bundesländern sind Sie in Regierungsverantwortung; das haben wir bereits gehört und auch, dass Sie den Verkehrsminister in Schleswig-Holstein und in Rheinland-Pfalz stellen. ({1}) Gleichwohl kritisieren Sie nun das einstimmige Ergebnis des Bundesrates – also mit Stimmen der FDP – und fordern die Bundesregierung auf, kritische Punkte gemeinsam mit dem Bundesrat – also auch wieder mit der FDP – zurückzunehmen oder abzuschwächen. ({2}) Ich weiß nicht, wie das auf Sie wirkt; aber eine klare politische Linie sieht anders aus. ({3}) Skizzieren wir doch mal das Szenario: Was wäre gewesen, hätte das BMVI nach Beschlussfassung des Bundesrats die Novelle gestoppt? ({4}) Die einzige Möglichkeit für den Verkehrsminister wäre gewesen, das komplette Paket abzulehnen und wieder ganz von vorn zu beginnen. ({5}) Wer will das? Kollege Storjohann hat bereits eindrucksvoll beschrieben, welch langen Weg die vorliegende Novelle durch alle Instanzen genommen hat. ({6}) Hätten wir noch länger auf die Errungenschaften im Bereich der Verkehrssicherheit warten sollen, die jetzt Einzug in die StVO erhalten haben? Gerade die Fahrradfahrer erhalten hier eine große Unterstützung. Die nun zu Recht durch die Autofahrer in Deutschland kritisierten Verschärfungen im Bereich des Bußgeldkatalogs stammen nicht aus der Feder des Bundesverkehrsministeriums, sondern wurden von den Ländern gefordert. Und genau hier, nämlich im Bundesrat, müssen diese Verschärfungen auch wieder zurückgenommen und die Verhältnismäßigkeit wiederhergestellt werden. ({7}) Der Minister hat dazu bereits Kontakt aufgenommen, wie man der Presse entnehmen kann. Sehr verwunderlich sind auch die Unterstellungen der AfD-Fraktion, die Änderungen der Straßenverkehrs-Ordnung seien ideologisch und es finde ein Kampf gegen das Automobil statt. – Die Novelle trägt dazu bei, die Konkurrenz im Verkehrsraum weiter aufzulösen und ein geordnetes Miteinander aller Verkehrsteilnehmer zu etablieren. Das wird im Übrigen auch dadurch deutlich, dass Fahrradfahrer nicht nur Unterstützung erhalten, sondern bei Fehlverhalten zukünftig auch stärker sanktioniert werden. So steigt beispielsweise – das haben wir auch schon gehört – das Bußgeld für die unerlaubte Nutzung des Gehweges von 15 Euro auf nun 55 Euro. Dabei geht es nicht darum, Radfahrer zu bestrafen, sondern wiederum ein Sicherheitsplus für die Fußgänger auf den Gehwegen herzustellen. ({8}) Völlig irreführend und daher auch geradezu gefährlich ist zudem die Behauptung, die ich beiden vorliegenden Anträgen entnehme, dass die Zahl der getöteten Verkehrsteilnehmer seit Jahren rückläufig sei. Das mag für die Gesamtzahl aller Unfallopfer gelten, aber eben nicht für Fahrradfahrer. ({9}) Die Zahl der Unfallopfer unter Radfahrern nimmt – im Gegenteil – zu. Dass diese Tatsache in Ihren Anträgen, die uns vorliegen, nicht thematisiert wird, ist für mich unbegreiflich. Nicht minder beschämend ist übrigens, dass sich die AfD in ihrem Antrag explizit dafür ausspricht, das Bußgeld für das Parken auf Behindertenparkplätzen wieder nach unten zu korrigieren. Für eine Erhöhung gebe es keinen Handlungsdruck, schreiben Sie in Ihrem Papier. ({10}) Ich teile die Meinung der Bundesregierung und der Bundesländer, die sehr wohl diesen Handlungsdruck sehen, wenn es um die Schwächsten in unserer Gesellschaft geht. Von daher ist die Erhöhung des Bußgeldes für das Parken auf Behindertenparkplätzen eine absolut richtige Entscheidung, die unsere volle Unterstützung findet. ({11}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Debatte in der heutigen Sitzung des Bundestages zu führen, halte ich für reine Schaufensterpolitik. ({12}) Führen wir die Diskussion wieder dahin, wo sie hingehört: in den Bundesrat! Unterstützen wir unseren Bundesverkehrsminister! Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({13})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Thomas Ehrhorn, AfD. ({0})

Thomas Ehrhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004707, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Und vor allen Dingen: Liebe Autofahrer! Im Schatten von Corona hat offenkundig noch ein anderes Virus den Weg in unsere Gesellschaft geschafft, nämlich die härteste Verschärfung des Bußgeldkatalogs, mit dem man jemals den deutschen Autofahrer versucht hat zu drangsalieren, und das in einer Zeit, in der seit Jahren die Verkehrsopferzahlen immer weiter zurückgehen. Im Jahr 2019 waren diese Zahlen so niedrig wie niemals zuvor seit Beginn der Aufzeichnungen. ({0}) Aber wenn es darum geht, dass grüne Ideologie die deutsche Politik dominiert, dann geht es auch um etwas ganz anderes. Es geht nicht um mehr Sicherheit, sondern es geht um den immerwährenden, nie enden wollenden Kampf gegen das Automobil. ({1}) Es geht darum, dass der deutsche Autofahrer, wenn er die Frechheit besitzt, sich trotzdem ans Steuer seines Fahrzeugs zu setzen, ({2}) immer die kleine Stimme im Hintergrund hören soll. Letzten Endes ist es die Stimme der kleinen verrückten Greta, die ihm ins Ohr säuselt: How dare you? Wie kannst du es wagen? ({3}) Offenkundig ist nicht nur deine Oma, offenkundig bist auch du eine Umweltsau, ({4}) und das werden wir dir niemals durchgehen lassen! Warte es ab: Wir kriegen dich! Wir kriegen dich vielleicht schon heute Abend auf dem Weg nach Hause auf der Landstraße, auf der gefühlte 20-mal hintereinander die Geschwindigkeit zwischen 70 und 100 km/h wechselt. ({5}) Ein Moment der Unaufmerksamkeit, und du siehst diesen kleinen roten Blitz. Dann weißt du, dass du für den nächsten Monat nicht mehr weißt, wie du zur Arbeit kommen sollst. ({6}) Und wenn wir dich da nicht kriegen, dann kriegen wir dich an der nächsten Ortseinfahrt, wenn du vielleicht gerade dem neusten Hit im Autoradio zuhörst, ein bisschen unaufmerksam ({7}) nicht gleich rechtzeitig abbremst, dann siehst du den kleinen roten Blitz und dann weißt du, dass sich in diesem Moment gerade der gesamte Nettoverdienst dieses Tages in deiner Tasche in Luft aufgelöst hat. ({8}) Und wenn auch das nicht reicht, dann haben wir noch ganz andere Möglichkeiten: Wir machen aus jeder verdammten grünen Welle in deiner Stadt eine rote Welle. Wir sorgen dafür, dass du innerhalb von 3 Kilometern 15-mal anhalten musst. ({9}) Wir haben noch einen ganz neuen Trick in der Westentasche: Wir sorgen nämlich dafür, dass die Tempo-30-Zonen gerade wie Pilze aus dem Boden sprießen. Und wenn das nicht reicht, dann wenden wir uns an die Deutsche Umwelthilfe, die sorgt dann nämlich dafür, dass euer fast neuwertiger Diesel innerhalb einer Nacht nur noch die Hälfte wert ist. Jawohl, so läuft das Spiel! ({10}) Wir werden sogar mittelfristig dafür sorgen, dass in Zukunft in Deutschland, in unserer Autofahrernation überhaupt kein vernünftiges Auto mit Verbrennungsmotor mehr gebaut werden kann. Und wenn dann die gesamte Autoindustrie den Bach runtergeht und die Zulieferindustrie gleich mit ({11}) und wenn das eure Arbeitsplätze und euren Wohlstand kostet: So what? Wen interessiert’s? ({12}) Nein, meine Damen und Herren, dann könnt ihr auch alle gerne auf die Straße rennen und irgendwas Sinnloses rufen wie: Wir sind das Volk! Wir sind das Volk! – Aber wir sind der Staat, und wir haben die Macht. Und wenn ihr nicht freiwillig ablasst vom Autofahren, dann werden wir euch zeigen, wo der grüne Hammer hängt! ({13}) Denn wir können mit euch alles machen: ({14}) Wir können euch drangsalieren, wir können euch schikanieren, wir können eure Führerscheine einbehalten, und wir können euch abkassieren. ({15}) Wir können aus freien Bürgern grüne Untertanen machen. ({16}) Liebe Autofahrer, freut euch schon mal auf die nächste grüne Regierungsbeteiligung! Vielen Dank. ({17})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Detlef Müller, SPD. ({0})

Detlef Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003816, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Straßenverkehrs-Ordnung und der Bußgeldkatalog werden novelliert; denn es kommt ein Sturm der Entrüstung – ein liebgewonnenes Ritual des deutschen Politikbetriebs: Bei der Reform des Punktesystems und der Neugestaltung des Verkehrszentralregisters 2013 war es die Absenkung der Fahrverbotspunktegrenze, die zur Aufregung führte. 2015 war es das Handyverbot am Steuer: 100 Euro Bußgeld, Punkte in Flensburg. – Wahnsinn! Unverhältnismäßig! Bringt nichts! Nicht zu kontrollieren! So weit, so normal auch die Aufregung. Jetzt also die aktuelle Novelle. Diesmal sieht sich die AfD mal wieder in ihrem Weltbild bestätigt: Der Kampf gegen das Auto hat begonnen. ({0}) Oder – um aus Ihrem Antrag mal zu zitieren –: Diese Verordnung „ist von einer unverhältnismäßigen und ideologischen Grundhaltung geprägt, die vor allem den … Kampf gegen das Automobil umsetzt.“ Wow! Eine Nummer kleiner haben Sie es ja meistens nicht. Die Regierung wolle also im Schatten von Corona den Autoverkehr abschaffen. ({1}) Ansonsten die üblichen Vorwürfe: Abzocke, Bereicherung, das Füllen klammer Kassen. Aber mal ganz nüchtern zu den Fakten: Die StVO-Novelle wurde zwischen Bundesregierung und Bundesrat bereits seit dem Spätherbst 2019 beraten, und auch dieses Hohe Haus wurde am 25. September 2019 im Rahmen einer öffentlichen Unterrichtung des Verkehrsausschusses in den Prozess einbezogen. Damals konnte man keinen lauten Aufschrei der AfD vernehmen. Ihnen geht es ja auch um etwas ganz anderes: ({2}) um das Immer-weiter-Drehen an der Empörungsschraube, um Einheizen und Skandalisieren, und zwar egal um welches Thema es eigentlich gerade geht. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, es wurde mehrfach gesagt: Sie sind an vier Landesregierungen beteiligt ({4}) und stellen in zwei Bundesländern die Verkehrsminister. Dennoch gab es meines Wissens von Ihrer Seite keine Einwände gegen die StVO-Novelle ({5}) und gegen den Bußgeldkatalog. Der von Ihnen jetzt so beklagte Bußgeldkatalog ist mit Ihnen und auch durch Sie im zuständigen Bundesrat 16 : 0 beschlossen worden. Sie hatten nahezu zehn Monate Zeit, um sich mit dem Thema zu befassen und die Novelle im Vorfeld zu beeinflussen. Da fragt man sich dann wirklich, ob bei Ihnen in Fragen der Verkehrspolitik die linke Bundeshand nicht weiß, was die rechte Länderhand wirklich tut. ({6}) Die inhaltlichen Änderungen der StVO-Novelle haben meine Vorredner bereits mehrfach dargestellt. Keine der jetzt getroffenen Regelungen trifft und belastet Verkehrsteilnehmer, die sich an die Verkehrsvorschriften, an Regeln also, halten. Sie schützen und helfen hingegen Fußgängern, Radfahrenden, also den gemeinhin schwächeren Verkehrsteilnehmern. Deutlich höhere, teilweise verdoppelte Bußgelder und Punkte im Zentralregister sind bei Geschwindigkeitsüberschreitungen absolut angemessen und zielgenau. Deswegen halte ich die jetzt angekündigte Rücknahme der angedrohten Fahrverbote ab 21 oder 26 km/h bei Geschwindigkeitsüberschreitungen – tut mir leid, Herr Minister – auch für falsch, vorauseilend und auch ängstlich. ({7}) Die AfD bezeichnet die Sanktionen als Kriminalisierung, als unverhältnismäßig für kleinste Unachtsamkeiten. Wir sagen dazu: Gefährdungen von Verkehrsteilnehmern, die es zu ahnden und sanktionieren gilt – wirksam! Ein Punkt, bei dem ich wirklich den Kopf schütteln musste – Herr Simon hat es angesprochen –: Für die AfD ist die Erhöhung des Bußgelds für das Parken auf Behindertenparkplätzen von 30 auf 55 Euro nicht hinnehmbar: kein Handlungsdruck, so behaupten Sie, bei einem der unsinnigsten und egoistischsten Verstöße gegen die StVO überhaupt, ({8}) bei dem es nur – nur! – um den eigenen Vorteil geht, und das zulasten einer der schwächsten Gruppen unserer Gesellschaft. ({9}) Ich zitiere zum Schluss Jürgen Kopp, den Vorsitzenden des Landesverbandes Bayerischer Fahrlehrer – Zitat –: Diese Verschärfungen sind in vielen Bereichen gerecht und notwendig … Gerade, weil unsere Bußgelder im europäischen Vergleich noch immer sehr gering sind. Ich denke, – so Herr Kopp weiter – das könnte eine lehrreiche Erfahrung sein, gerade für Raser und notorische Schnellfahrer. Vielen Dank. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Daniela Kluckert für die FDP-Fraktion. ({0})

Daniela Kluckert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004784, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Über Maß und Mitte, darüber haben wir in den vergangenen Wochen viel gesprochen. Maß und Mitte wurden bei dieser Reform der Straßenverkehrs-Ordnung verloren. Denn wo es auf der einen Seite richtig ist – und das haben wir als FDP auch immer wieder betont –, die Straßenverkehrs-Ordnung zu verstärken, wenn es beispielsweise um den Schutz von Fahrradfahrern geht oder darum, die Lebenswichtigkeit von Rettungsgassen in den Mittelpunkt zu stellen, da ist es eben genauso falsch, Autofahrern bei einmaliger Geschwindigkeitsüberschreitung den Führerschein zu entziehen oder Fahrradfahrern, die auf dem Gehweg fahren, gleich einen halben Hunderter abzuknöpfen. ({0}) Nehmen wir einmal die Situation in Berlin und die Realität in diesem Land: ein Wald von Verboten und Geboten in den Städten, quer durch alle Straßen ein ständiger Wechsel von 30 km/h und 50 km/h, dazu Kopfsteinpflaster in Wohngebieten, das ein sicheres Fahrradfahren auf den Straßen völlig unmöglich macht. Irgendwie scheint es eine unheilige Allianz gegeben zu haben, die schon einmal einen kleinen Ausblick darauf geben kann, was Schwarz-Grün so kann. ({1}) Auf der einen Seite die Grünen – und das sind sie –, die Verteurer und die Verbieter von Autos, und auf der anderen Seite eine beliebige Union, die immer noch glaubt, dass Fahrradfahren ein Freizeitspaß ist. Das ist es nicht. Minister Scheuer – das finden wir wirklich gut – hat auf unser Schreiben und unser Drängen reagiert, dass hier Veränderungen vorgenommen werden. An die Kollegen von den Grünen gerichtet: Frau Wagner, Sie wissen anscheinend noch nicht, dass Sie dem im Bundesrat zustimmen werden. Auch bei der Union konnte man noch gar nicht erkennen, dass sie sich wirklich hinter den Minister stellt. Zuerst muss die Infrastruktur in diesem Land stimmen, dann können auch die Regeln verschärft werden. Es geht zum Beispiel darum, dass man Asphaltstreifen auf Straßen macht. Es geht auch um logische Regeln bei den Geschwindigkeitsbegrenzungen in unseren Städten. Klar muss sein: Raser und Rücksichtslose müssen harte Strafen treffen. Gerade jetzt verändert sich aber durch die Pandemie so viel in unserem Land. Die Maßnahmen zur Eindämmung des Virus verändern unser Arbeiten, unser Leben und auch unsere Mobilität. Wir sind in der Mobilität stark eingeschränkt. Zugfahren ist kaum noch möglich, Flugreisen gar nicht mehr, und Öffis werden kaum noch genutzt. Die Menschen wenden sich dem Individualverkehr zu und suchen geradezu das eigene Auto, das eigene Fahrrad. Die Menschen wollen diese individuelle Mobilität auch, damit sie sich nicht anstecken. Dieses Bedürfnis dürfen wir doch in der Politik nicht außer Acht lassen. Deswegen ist es auch richtig, dass wir als FDP, die wir im Bundesrat zugestimmt haben, sagen: Nein, das war falsch. Verschärfungen in der Bußgeldordnung sind richtig, weil Sicherheit im Verkehr ein so hohes Gut ist und uns alle betrifft. Aber die Schraube wurde überdreht. Es gibt ein Sprichwort, das besagt: Nach zu ist dann eben auch ab. Es ist wichtig, dass wir für die Regeln, die wir schaffen, die Akzeptanz in der Bevölkerung haben. Das ist gerade in einer Demokratie unerlässlich. Es ist hier der Punkt erreicht, dass das nicht mehr der Fall ist. Es gibt die Onlinepetition, die 150 000 Unterschriften gesammelt hat. Deswegen müssen wir diese Novelle reformieren. Der Verkehrsminister hat den Schritt getan. Jetzt sollten alle hier im Bundestag auch den Mut haben, unserem richtigen Antrag zuzustimmen und auch hier den Weg dafür zu ebnen. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Thomas Lutze für die Fraktion Die Linke. ({0})

Thomas Lutze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004103, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Damen und Herren! Frau Präsidentin! Niemand zahlt gerne ein Bußgeld, egal ob 50 oder 150 Euro. Und erst recht bekommt niemand gern seinen Führerschein abgenommen, vor allem dann nicht, wenn man beruflich auf dieses Dokument angewiesen ist. Aber für Verstöße gegen Verkehrsregeln muss es Strafen und Sanktionen geben. Ohne diese Strafen sind die Regeln leider nur gutgemeinte Hinweise. Und trotz der Strafandrohung gibt es zahlreiche Verkehrsteilnehmer, die unterwegs sind und sich nicht an Tempolimits, Halteverbote oder Abstandsgebote halten. Hier muss es nach Auffassung der Linksfraktion eine angemessene und auch wirksame Bestrafung geben. ({0}) Die heutigen Antragsteller blenden vollkommen aus, dass es über 3 000 Verkehrstote pro Jahr gibt. Sie blenden auch aus, dass sich jährlich weit über 10 000 Menschen bei Verkehrsunfällen schwer verletzen und zum Teil für ihr Leben geschädigt sind. Das Nichteinhalten von Verkehrsregeln ist also kein Kavaliersdelikt, und Ordnungsstrafen bei Nichteinhaltung der Verkehrsregeln sind keine Schikane; sie sind leider dringend notwendig. Und wann ist eine Ordnungsstrafe oder ein Bußgeld tatsächlich wirksam? Der Idealfall wäre, wenn sich eine Ordnungswidrigkeit durch die Bestrafung des Verkehrsteilnehmers nicht mehr wiederholt. Diese abschreckende Wirkung einer Strafe funktioniert in der Regel aber nur sehr eingeschränkt. Auch eine Erhöhung der Strafen bzw. des Bußgeldes kann das Problem nur eingeschränkt lösen. Notwendig wäre also ein differenziertes und tatsächlich mehrstufiges Verfahren. Wird ein Verkehrssünder das erste Mal erwischt, müsste er anders bestraft werden, als wenn er sich mehrfach oder regelmäßig verkehrswidrig, vorschriftswidrig verhält. Genauso müssten die Bußgelder und Ordnungsstrafen vom Einkommen der Verkehrssünder abhängig gemacht werden. Als Bundestagsabgeordneter würde ich mich auch ärgern, wenn ich 50 Euro Strafe zahlen müsste. Aber jemand, der zwischen drei Teilzeitjobs hin- und herfährt und dabei nur den Mindestlohn erhält, hat vermutlich einen ganz anderen Umgang mit dem 50-Euro-Schein als wir hier im Raum. Ja, der Aufwand für die Bußgelderhöhung würde dadurch deutlich steigen. Möchten wir aber, dass Bußgelder tatsächlich eine erzieherische Maßnahme bewirken und damit die Anzahl der Verkehrsunfälle sinken würde, dann wäre es sehr lohnenswert, darüber nachzudenken. ({1}) Herr Scheuer, wenn in Ihrem Ministerium überlegt wird, wie Sie die Frage des Führerscheinentzugs wieder rückgängig machen wollen, dann setzen Sie bitte nicht alles auf null. Überlegen Sie doch einfach einmal, ob man nicht in der ersten Stufe der Tempoüberschreitung, also bei 21 bzw. 26 km/h, besser die Dauer des Entzuges von vier Wochen auf zwei Wochen reduziert. Die erzieherische Wirkung ist nämlich fast die gleiche. Menschen, die beruflich auf den Straßen unterwegs sein müssen, könnten vielleicht einfacher damit umgehen und verlieren nicht ihren Job. Fazit ist aber, dass wir in Deutschland endlich Tempolimits brauchen: höchstens 130 km/h auf Autobahnen, 80 km/h auf Landstraßen und 30 km/h innerorts. ({2}) Dann würde es eine Vielzahl von Geschwindigkeitsüberschreitungen erst gar nicht geben. Doch im Gegensatz zu der Welt da draußen gibt es hier im Bundestag immer noch eine ewig gestrige Meinung, die so viele Verkehrstote und Schwerverletzte billigend in Kauf nimmt. Das muss sich ändern. Vielen Dank. Glück auf! ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Stefan Gelbhaar für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Stefan Gelbhaar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004726, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sie, werte Kolleginnen und Kollegen von der FDP, wollen für gefährliche Rechtsbrüche – und das sind Geschwindigkeitsübertretungen – Rabatte einräumen. Da sind Sie jetzt im Boot mit den Verrückten von der AfD. ({0}) Wir hingegen sagen aber klar: Radfahren und Zufußgehen sollen keine Mutprobe mehr sein. Aber Ihr Antrag könnte uns völlig egal sein, wenn wir einen Verkehrsminister mit Kompass hätten. Leider wissen wir seit gestern Abend: Was wir haben, ist ein Fähnchen im Wind, mit einer mittleren Halbwertszeit von drei Wochen, bis Beschlüsse nicht mehr gelten sollen. Ich habe die SPD allerdings so verstanden, dass es kein Zurückdrehen dieser Novelle geben wird. ({1}) Stellen Sie das vielleicht noch einmal explizit klar, damit wir das alle genau wissen. ({2}) Die Antragsteller argumentieren jedenfalls, dass die Verkehrsunfälle zurückgegangen sind. Ja, Autoinsassen verunglücken seltener. Aber Fußgänger und Fußgängerinnen sowie Fahrradfahrer und Fahrradfahrerinnen verunglücken immer häufiger. Das muss in Ihr Weltbild einmal einfließen. Und wenn Sie ehrlich sind, dann sagen Sie von der AfD mit Ihrem Antrag, dass über 3 000 getötete und fast 400 000 verletzte Menschen pro Jahr halt hinzunehmen sind. Und hier sagen wir: Nein, das ist nicht hinnehmbar. ({3}) Deswegen ist und war die Bußgelderhöhung richtig und überfällig. Wir liegen jetzt im europäischen Mittelfeld; überzogen ist da gar nichts. ({4}) Geschwindigkeitsbegrenzungen sind keine Schikane; sie sollen Leben schützen. Ein Unterschied von 20 km/h kann die Differenz sein zwischen einem großen Schreck und einem getöteten Menschen. ({5}) Die Freiheit des einen kann nur so weit reichen, wie sie die Freiheit des anderen nicht beendet. Alle sollen sich frei und sicher im öffentlichen Raum bewegen können. Und diese Freiheit steht jedem und jeder zu, allen voran Kindern und alten Menschen, ob zu Fuß, im Rollstuhl oder auf dem Fahrrad. Ich sage aber auch: Diese Novelle war durchaus halbherzig; denn es fehlt einiges. Wir brauchen eine konsistente Novelle. Verkehrssicherheitszonen, wo nur Lkw mit Abbiegeassistenten einfahren: fehlt; Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit in den Städten – das würde Frau Kluckerts Problem mit dem Hin und Her bei den Tempo-30- und Tempo-50-Zonen lösen –: fehlt; mehr Beinfreiheit für die Kommunen bezüglich der Nutzung des Straßenraums: fehlt. Das alles zu ändern, wäre eine Ansage eines Verkehrsministers mit Ziel und Maß. Wir haben aber, wie gesagt, ein Fähnchen im Wind als Verkehrsminister. Und so bleibt mir nur, mit einem Zitat von Seneca zu schließen: „Wer den Hafen nicht kennt, in den er segeln will, für den ist kein Wind der richtige.“ Vielen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Christoph Ploß für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Christoph Ploß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004854, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Auch in dieser Debatte über die Straßenverkehrs-Ordnung merken wir eine gewisse Polarisierung zwischen zwei Denkschulen. Auf der einen Seite haben wir die von der AfD, die auch versucht, die Coronakrise zu nutzen, um den öffentlichen Nahverkehr zu schwächen, die erneut gegen Radfahrer wettert; und auf der anderen Seite haben wir die Grünen, die den Menschen das Autofahren verleiden wollen, die versuchen, Autofahrer im negativen Sinne des Wortes in den Fokus zu nehmen, ({0}) die aber nicht versuchen, die Interessen der verschiedenen Verkehrsteilnehmer miteinander zu kombinieren, sondern versuchen, von oben mit Gängelung und Verboten, Verkehrspolitik zu betreiben. ({1}) Ich möchte eines ganz klar sagen: Für uns als CDU/CSU-Fraktion ist beides kein Weg, weder der eine noch der andere. Politik muss Maß und Mitte bewahren. Eine moderne Verkehrspolitik kombiniert die Interessen der unterschiedlichen Verkehrsteilnehmer; denn die meisten von uns sind eben nicht nur Radfahrer oder nur Fußgänger oder nur Autofahrer oder nutzen nur die U-Bahn oder die S-Bahn. Jeder macht doch mal das eine und mal das andere. ({2}) Deshalb muss man das alles in einen guten Einklang bringen und versuchen, alle Interessen zu berücksichtigen und miteinander zu verbinden. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Ploß, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Gelbhaar?

Dr. Christoph Ploß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004854, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne. Dann möchte ich aber bitten, dass er das Seneca-Zitat auf Latein wiederholt.

Stefan Gelbhaar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004726, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nein, dafür werde ich meine Zeit jetzt nicht nutzen. – Ich möchte Ihren Begriff von „Maß und Mitte“ aufgreifen. Ich wollte Sie einmal fragen, ob Sie denn finden, dass die Regelungen in Österreich, in der Schweiz, in Schweden, in den Niederlanden, in Dänemark alle ohne Maß und Mitte sind, dass alle anderen Länder außer Deutschland da falsch liegen? Es interessiert mich, ob wir jetzt hier im Bundestag eine Belehrung von anderen Ländern erleben. Ich bin gespannt.

Dr. Christoph Ploß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004854, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herzlichen Dank, lieber Herr Kollege Gelbhaar. – Ich wollte gerade auf die Straßenverkehrs-Ordnung eingehen und auf das, was Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer initiiert hat, nämlich dass der Bußgeldkatalog überarbeitet wird und neue Regelungen eingeführt werden, die sich ja durchaus an den Regelungen in anderen europäischen Ländern orientieren. ({0}) Mein Wortbeitrag bezog sich eher auf Ihre Ausführungen, weil man auch daran erkannt hat, dass Sie leider versuchen, den Menschen das Autofahren zu verleiden, sie davon wegzubringen. Eines muss man in dem Zusammenhang erwähnen: In Berlin-Mitte oder in meiner Heimatstadt Hamburg – ich wohne auch relativ zentral – ist es sicherlich einfach, nur den öffentlichen Nahverkehr oder das Rad zu benutzen; damit kommt man an die meisten Ziele. Aber es gibt viele Menschen in Deutschland, die im ländlichen Raum leben, die nicht direkt eine Bahnstation vor der Tür haben. Auch an diese Menschen müssen wir hier im Deutschen Bundestag denken; ({1}) denn wir sind nicht nur für die Menschen in Berlin-Mitte verantwortlich. ({2}) Jetzt komme ich noch zu einem weiteren wichtigen Punkt – ich möchte wieder den Bogen zur Verkehrspolitik der CDU/CSU spannen und zu dem, was unser Verkehrsminister Andreas Scheuer wunderbar voranbringt –: Wir wollen nicht über Gängelung, über Verbote die Menschen dazu bringen, bestimmte Verkehrsmittel nicht zu benutzen, sondern wir wollen die Menschen über Anreize dazu bewegen, klimafreundliche Verkehrsmittel zu nutzen, zum Beispiel das Rad oder die U- oder S-Bahn. Deswegen haben wir – auf Initiative meines Kollegen Michael Donth – nicht nur die Mittel für den Ausbau der U- und S-Bahn-Systeme massiv erhöht – das werden wir in den nächsten Jahren vor allem in den Großstädten, in den Ballungsräumen Deutschlands merken –, sondern wir haben auch die Mittel für die Radschnellwege erhöht. Und wir sagen – das ist ein weiterer wichtiger Baustein –: Wir wollen die Sicherheit im Straßenverkehr für die Menschen erhöhen. – Denn diese Kombination wird am Ende dazu führen, dass noch mehr Menschen die U- und S-Bahn benutzen, auf die Bahn umsteigen und das Rad nehmen. Aber das ist ein völlig anderer Ansatz, als die Menschen von oben herab auf gewisse Verkehrsträger zu bringen. Deswegen ein herzliches Dankeschön an den Minister und an alle Kollegen der CDU/CSU-Fraktion, die das voranbringen und die zu Recht gesagt haben – da nehme ich noch mal Ihre Ausführungen von eben auf, lieber Herr Kollege Gelbhaar –, dass wir natürlich auch diejenigen Verkehrsteilnehmer schärfer sanktionieren müssen, die sich nicht an Regeln halten. Es kann nicht sein, dass einige Autofahrer einfach durch die Straßen rasen und das dann nur geringe Konsequenzen hat. Deswegen werden die entsprechenden Bußgelder ja auch erhöht. Das Gleiche muss aber übrigens auch für Radfahrer gelten, die durch Fußgängerzonen rasen, die sich auch nicht an die Regeln halten. ({3}) Das muss für Autofahrer gelten, die sich unerlaubterweise in die zweite Reihe stellen, damit für gefährliche Situationen im Verkehr sorgen und teilweise Unfälle herbeiführen. Deswegen ist es richtig, dass bei der Straßenverkehrs-Ordnung die unterschiedlichen Verkehrsteilnehmer ins Visier genommen wurden, die sich nicht an die Regeln halten. Die werden in Zukunft schärfer sanktioniert. Dafür ein herzliches Dankeschön! Das wird dazu führen, dass viele Verkehrsteilnehmer es sich zwei- oder dreimal überlegen, Regelverstöße zu begehen. Das wird den Verkehr insgesamt sicherer machen, weniger Verkehrstote bedeuten, die Zahlen, die ja sowieso schon runtergingen, weiter reduzieren und am Ende das Sicherheitsgefühl von vielen verbessern. Ich finde es auch absolut richtig, dass der Verkehrsminister schon im Vorwege der heutigen Debatte im Bundestag das Signal gesetzt hat, dass die Straßenverkehrs-Ordnung und auch die Bußgeldkataloge natürlich immer Maß und Mitte wahren müssen und wir die Verhältnismäßigkeit beachten müssen. Es kann nicht sein, dass einer, der vielleicht mal ein Schild übersehen hat beim Übergang von der 50er- in eine 30er-Zone und 21 km/h zu schnell gefahren ist, sofort seinen Führerschein verliert, obwohl er sich ansonsten immer konform verhalten hat. Das ist nicht verhältnismäßig, das würde viel Unmut hervorrufen – auch zu Recht. ({4}) Deswegen kann ich als Redner der CDU/CSU-Fraktion diese Initiative nur unterstützen. Ich hoffe, dass auch die FDP-Verkehrsminister im Bundesrat nachziehen und ihre Lehren ziehen. Dann wären wir auf einem guten Weg. Die neue Straßenverkehrs-Ordnung wird für mehr Sicherheit sorgen. Sie wird dafür sorgen, dass die Mobilität deutlich verbessert wird, dass wir mit weniger Fahrzeugen mehr Mobilität erreichen und am Ende die Verkehrsziele, aber auch die Klimaschutzziele, die wir uns vorgenommen haben, erreicht werden. Herzlichen Dank. Ich freue mich auf die weitere Debatte. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Kirsten Lühmann für die SPD-Fraktion. ({0})

Kirsten Lühmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004101, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Als ich mir den Antrag der AfD und die Begründung durchgelesen habe, da fühlte ich mich gleich wieder wie bei mir zu Hause während einer Verkehrskontrolle. Eine Stunde Verkehrskontrolle, und Sie haben alle Ausflüchte, die in diesem Antrag drinstehen wie beispielsweise „kleinste Unaufmerksamkeiten“, schon mal gehört: ({0}) „Frau Wachtmeister, das war doch gar nicht gefährlich“, „Sie wollen mich doch nur kriminalisieren und dann die klammen Kassen der Kommunen füllen“, „Kümmern Sie sich doch endlich mal um die richtigen Kriminellen!“ – Und heute kam in der Debatte noch dazu: Wir werden ja nur drangsaliert. Meine Redezeit nutze ich, um das zu hinterfragen. Was ist da eigentlich dran? Fangen wir mal an mit „keine Gefahr“. Herr Ehrhorn, Sie haben das auch gesagt. Sie sind Pilot. ({1}) Da haben Sie doch gewisse Kenntnisse der Physik; davon gehe ich jetzt mal aus. Dann wissen Sie auch, was ein Bremsweg ist. ({2}) Wenn Sie mit 50 km/h durch den Ort fahren und eine Alarmbremsung machen – nicht die normale Bremsung, sondern eine Alarmbremsung, weil ein Unfall droht –, dann brauchen Sie 27 Meter, bevor Ihr Fahrzeug steht. Wenn Sie 70 km/h fahren, brauchen Sie 45 Meter, das sind 18 Meter mehr. Wenn Sie 80 km/h fahren, verdoppelt sich sogar der Anhalteweg. – Keine Gefahr? Was bedeutet das? Ich gebe Ihnen ein kurzes Beispiel aus der Praxis: Ich habe einen Unfall aufgenommen, nachts, in einem Ort. Ein Fußgänger hatte eine Fahrbahn überquert. Er ist von einem Auto überfahren worden und war tot. Die Gutachter haben festgestellt: Das Auto fuhr mindestens 71 km/h, also keine 100 km/h, keine 130 km/h, sondern 71 km/h. Die Gutachter haben weiter festgestellt: Wenn dieses Auto 50 km/h gefahren wäre, hätte das den Aufprall nicht verhindern können, aber der Mann wäre nicht verstorben. – Ich weiß nicht, was die Witwe und die beiden Kinder dieses Mannes dazu sagen, wenn Sie von „kleiner Unaufmerksamkeit“ und „keine Gefahr“ sprechen; das ist zynisch, meine Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Stichwort „Kriminalisierung“. Das finde ich spannend: Eine Partei, die sonst sehr auf Regeleinhaltung erpicht ist und jegliche Erleichterungen im Strafverfahren ablehnt, sogar einen Antrag dazu gestellt hat, sagt hier, dass eine Geschwindigkeitsüberschreitung um 50 Prozent innerorts – die Toleranz eingerechnet, fahren Sie ja dann real 75 km/h – eine Kleinigkeit sei. Wenn wir das mal auf die Kriminalität ummünzen würden – ich weiß nicht, ob das in Ihr Weltbild reinpasst. Es gibt eine ganz einfache Möglichkeit, um nicht – aus Ihrer Sicht – kriminalisiert zu werden: Verhalten Sie sich regelkonform, dann müssen Sie nichts bezahlen und werden auch nicht kriminalisiert. ({4}) Zu der Frage, ob das Ganze zu streng sei, haben mehrere Redner gesagt, der Blick nach Europa zeige, dass wir hier noch immer im Mittelfeld liegen, und zwar auch nach einer Erhöhung. 17 europäische Länder nehmen deutlich höhere Bußgelder von bis zu 480 Euro bei 20 km/h zu viel. Wie kann man da von Abzocke reden? Ich weiß wirklich nicht, wie das geht. Als weiterer Punkt war zu hören, die Unfallzahlen würden doch sinken. Ja, aber es ist mitnichten so, dass sie jedes Jahr sinken. Pro Jahr haben wir seit dem Jahr 2013 konstant etwa 3 300 Verkehrstote – mal ein paar mehr, mal ein paar weniger – und seit dem Jahr 2009 etwa 67 000 Schwerverletzte. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das will ich nicht akzeptieren. Diese Zahlen müssen runter! ({5}) Jetzt haben wir einen Antrag der FDP vorliegen, in dem es heißt, die Verhängung eines Fahrverbotes sei zu viel. Ich sage Ihnen aber aus der Erfahrung: Eine bloße Geldbuße hilft nicht allein; denn sie wird locker bezahlt. Ich will daher eigentlich nicht, dass wir an das Fahrverbot herangehen. Jetzt gibt es hier einen Peak, der – das zeigen die Erfahrungen – auch wieder runtergeht, wenn die Leute sich an die neue Regelung gewöhnt haben. Dann fahren sie nämlich langsam. Aber wenn wir schon über eine Veränderung in Sachen Fahrverbot diskutieren, dann muss aus meiner Sicht die Zahl der Punkte deutlich angehoben werden. Ein reines Wegfallenlassen dieses wichtigen und wirksamen Mittels Fahrverbot finde ich im Sinne der Verkehrssicherheit sehr schwierig. Ich freue mich auf die Debatte. Ich glaube, die meisten von uns wollen keine Stammtischparolen vertreten, sondern haben das Ziel, den besten Weg für einen sicheren Straßenverkehr in Deutschland finden zu wollen. Herzlichen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Alois Rainer für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Alois Rainer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004384, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Straßenverkehrs-Ordnung ist, wie der Name schon sagt, kein Gesetz, sondern eine Verordnung. Der Bundesverkehrsminister macht hier einen Vorschlag, den das Kabinett zur Kenntnis nimmt, und dann entscheidet der Bundesrat, also die Länder. So sieht es das Straßenverkehrsgesetz vor. Der Deutsche Bundestag ist an diesem Prozess nicht beteiligt – und war es auch nicht. Ihre Kritik an der StVO-Novelle, liebe Kolleginnen und Kollegen, greift deshalb im Deutschen Bundestag ein Stück weit ins Leere. Aber nichtsdestotrotz ist es wichtig, dass wir über dieses Thema diskutieren; denn wir alle, denke ich, haben viele Zuschriften dazu bekommen. Von meinen Vorrednern ist schon einiges zum Inhalt der StVO gesagt worden. Auch ich teile die Zielrichtung dieser Novelle, insbesondere die schwächeren Verkehrsteilnehmer zu stärken. Das Radfahren wird mit den neuen Regeln sicherer und attraktiver gemacht. ({0}) Es gilt nun ein klarer Mindestabstand für Kraftfahrzeuge beim Überholen von Radfahrern, Lkw dürfen nur noch in Schrittgeschwindigkeit rechts abbiegen, auf Schutzstreifen für den Radfahrer gilt jetzt ein generelles Halteverbot, und analog zu den Tempo-30-Zonen können nun auch Fahrradzonen eingerichtet werden. Außerdem werden Vorteile für Carsharing-Fahrzeuge geschaffen, um diese Form der Mobilität besonders zu fördern. Dies sind nur ein paar Änderungen dieser StVO-Novelle. Und das sind gute Änderungen! Gut finde ich auch, dass das Bußgeld für unberechtigtes Parken auf einem Behindertenparkplatz von 35 auf 55 Euro angehoben wird. Ich habe überhaupt kein Verständnis dafür, dass gerade diese Erhöhung im Antrag der AfD explizit kritisiert wird. Wer auf einem Behindertenparkplatz parkt, der muss mit einem hohen und saftigen Bußgeld rechnen, meine Damen und Herren. Das geht gar nicht! ({1}) Aber natürlich gibt es auch Änderungen, die aus meiner Sicht und auch aus Sicht unserer Fraktion durchaus diskussionswürdig sind. Ich meine insbesondere die Neuregelungen bei den Geschwindigkeitsverstößen. Klar ist: Wer zu schnell fährt und damit andere gefährdet, der muss und soll auch bestraft werden. Aber, meine Damen und Herren, muss es ab einer Geschwindigkeitsüberschreitung von 21 km/h innerorts gleich ein Fahrverbot geben? ({2}) Vor allem bleibt die Strafe über die Spanne von 21 km/h bis 50 km/h Geschwindigkeitsüberschreitung die gleiche. Man bekommt also auch, wenn man um 50 km/h zu schnell ist, einen Monat Fahrverbot wegen Geschwindigkeitsüberschreitung. Die Kollegin Lühmann hatte gerade durch die Blume angekündigt, ja, man könne darüber diskutieren; eventuell könne man das Bußgeld und die Zahl der Punkte erhöhen. Ich freue mich, dass hier schon eine kleine Bewegung zu erkennen ist. Meine Damen und Herren, man darf nicht vergessen, dass bisher bei einem einmaligen Verstoß erst bei 31 km/h zu schnell der Führerschein entzogen wurde. Dies war aus meiner Sicht auch ausreichend. Wie gesagt: Es ist diskussionswürdig. ({3}) Meine Damen und Herren, diese Neuregelung hat aber nicht der Bundesverkehrsminister in die StVO-Novelle geschrieben, auch waren das nicht die CDU/CSU-Fraktion oder dieses Hohe Haus, nein, das waren die Bundesländer. Die Bundesländer haben der Novelle am 14. Februar im Bundesrat zugestimmt. Ich gestehe: auch mein eigenes Bundesland. Wir müssen daran arbeiten, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, dass wir unsere Leute dazu bringen, uns in diesem Punkt zu unterstützen. Es geht um eine von 40 Maßgaben. Nicht alle Maßgaben waren schlecht, das wissen wir. Bei vielen Maßgaben ist in meinen Augen das höhere Bußgeld zu vertreten – keine Frage. Ein höheres Bußgeld kann man bei vielen Vergehen vertreten, aber ein Führerscheinentzug ist schon ein großes Problem für denjenigen, den es erwischt hat. Natürlich teile ich die Meinung: Man darf innerorts nicht zu schnell fahren – keine Frage –, auch außerorts muss man aufpassen. Wenn man auf der Autobahn in einer Baustelle eine zu hohe Geschwindigkeit hat, muss das geahndet werden. Es gibt zu viele schwere Unfälle. Das ist überhaupt kein Thema. Ich finde es gut, dass sich die Länder auf Initiative unseres Bundesverkehrsministers Andreas Scheuer nochmals damit befassen; zumindest haben wir erste Signale gehört. Ich freue mich, dass hier eine neue Diskussionsrunde aufgemacht wird. Wir unterstützen unseren Minister in dieser Sache natürlich so gut es geht. Vielen herzlichen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache.

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bertolt Brecht, der große Dichter und Sozialkritiker des 20. Jahrhunderts, hat in seiner berühmten „Dreigroschenoper“ über die Gesellschaft geschrieben – ich zitiere mit Erlaubnis der Präsidentin –: Denn die einen sind im Dunkeln Und die andern sind im Licht. Und man siehet die im Lichte Die im Dunkeln sieht man nicht. ({0}) Das war vor 90 Jahren. Aber auch heute geht es um viele Menschen in unserer Gesellschaft, die oft nicht gesehen werden, die aber gesehen werden sollten. ({1}) Ich rede von denjenigen, die Tag für Tag hart arbeiten, dafür sorgen, dass der Laden läuft, dass auch unsere Wirtschaft läuft. Ich rede von Pflegehilfskräften, ich rede von Paketboten. Die Rede ist von Lkw-Fahrern, von Beschäftigten in Supermärkten und Kaufhallen. Ich rede auch von denen, die wir in den letzten Wochen schmerzhaft vermisst haben: von Friseurinnen und Friseuren, von Menschen, die in Küchen und als Servicekräfte in Restaurants und Lokalen arbeiten. Ja, alle diese Menschen stehen jetzt im Licht der Öffentlichkeit, weil viele in Deutschland erst jetzt merken, dass sie dafür da sind, dass dieses Land funktioniert. Für viele gelten sie jetzt als Helden des Alltags oder als Coronahelden. ({2}) Sie werden von einigen als systemrelevant beschrieben. Sie bekommen Zuspruch, sie bekommen Applaus – übrigens auch hier im Deutschen Bundestag vor einigen Wochen. Anerkennung ist wichtig. Aber diese Menschen haben mehr verdient als Anerkennung. Sie haben anständige Löhne und eine ordentliche Rente verdient. ({3}) Es ist eine Tatsache, dass in diesem Land viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer trotz eines langen Lebens voller Arbeit recht dürftige Renten haben. Sie bekommen dürftige Renten, obwohl sie ihr Leben lang gearbeitet haben, obwohl sie Kinder erzogen haben, obwohl sie Angehörige gepflegt haben. Bei uns ist es leider Gottes so, dass zum Beispiel eine Floristin im Ruhestand es als Luxus empfinden muss, wenn sie sich einen Blumenstrauß kauft. Bei uns ist es oft so – das finde ich beschämend –, dass Kellnerinnen, die in Rente sind, sich nicht oft einen Restaurantbesuch leisten können. Deshalb ist für die gesamte Bundesregierung die Einführung der Grundrente ein wesentliches Projekt in dieser Legislaturperiode. ({4}) Wir sorgen dafür, dass rund 1,3 Millionen Rentnerinnen und Rentner, die viel geleistet haben, spürbar mehr Geld in der Tasche haben, indem sie einen Zuschlag auf ihre Rente erhalten, und zwar ohne Anträge auszufüllen und ohne zum Amt zu müssen. Wer ein Leben lang gearbeitet hat, der hat sich im Ruhestand eine ordentliche Rente verdient. ({5}) Dieses Prinzip der Leistungsgerechtigkeit müssen wir in diesem Land erneuern. Dabei haben die Koalition und die Bundesregierung darauf geachtet, dass wir die Grundrente bürgerfreundlich und für die Menschen bürokratiearm organisieren, indem sie eben nicht mit tonnenweise Anträgen belästigt werden, sondern wir zwischen den Behörden, zwischen der Rentenversicherung und den Finanzbehörden, klären, wem die Grundrente zusteht. Anspruch auf die Rentenzuschläge hat, wer viele Jahre gearbeitet hat, aber wenig verdient hat, wer Kinder erzogen oder wer Angehörige gepflegt hat. Grob gesagt: Wer das mindestens 33 Jahre lang getan hat, kann mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit von der Grundrente profitieren. Dabei ist mir sehr, sehr wichtig, dass es vor allen Dingen um Frauen geht. Sie haben häufig – übrigens nicht immer freiwillig – Teilzeit gearbeitet. Sie arbeiten in Dienstleistungsberufen, die in der Regel schlechter bezahlt werden als industrielle Berufe, wo überproportional viele Männer arbeiten. Sie leisten vieles: in der Pflege, in der Erziehung, in der Gastronomie. Um ein Beispiel zu nennen: Kommen wir noch einmal auf die Floristin zurück. Eine Floristin, die 40 Jahre lang voll gearbeitet und das übliche Floristengehalt bekommen hat, kommt derzeit im Schnitt auf eine Rente von 530 Euro im Monat. ({6}) Das kann und darf nicht so bleiben. Mit der Grundrente hat sie 930 Euro. Das ist ein ordentlicher Zuschlag. ({7}) Es profitieren auch viele Menschen in den sogenannten neuen Ländern, im Osten der Republik. Denn zwischen Görlitz und Wismar waren die Gehälter über viele, viele Jahre viel zu schlecht. Das findet in den viel zu geringen Renten seinen Niederschlag. Auch das ist ungerecht; denn die Menschen in Ostdeutschland können persönlich nichts für die Strukturbrüche der 90er-Jahre. Sie waren und sind genauso fleißig wie ihre Kolleginnen und Kollegen in den gleichen Berufen im Westen. Sie hatten persönlich wenige Chancen auf ein höheres Einkommen. Auch diesen Menschen helfen wir nicht nur mit Anerkennung – das ist nach 30 Jahren höchst überfällig –, sondern auch mit harter Währung in der Grundrente. ({8}) Lassen Sie mich etwas zur aktuellen Debatte sagen. Viele fragen sich: Wie ist das mit der Finanzierung? Sie fragen dies zu Recht; denn die Grundrente ist ein finanzieller Kraftakt. Unter diesen Fragestellern befinden sich auch Lobbyisten und Interessenvertreter, die diesen Deutschen Bundestag gerade mit milliardenschweren Forderungen überziehen. Um nicht falsch verstanden zu werden: Ich finde die Wirtschaftshilfen, die wir leisten, richtig, um Arbeitsplätze zu sichern. Aber dieselben Interessenvertreter, die keine Grenze kennen und Milliarden von den Steuerzahlern wollen, gönnen anderen die Grundrente nicht. Deshalb sage ich: Die Frage ist nicht nur, ob wir uns die Grundrente leisten können, sondern die Frage ist auch, welches verheerende gesellschaftliche Signal in dieser Situation davon ausgeht, die Grundrente infrage zu stellen. ({9}) Dabei, in diesen Zeiten unsere Gesellschaft zusammenzuhalten – und wir wollen sie zusammenhalten –, geht es um Wirtschaftshilfen, keine Frage. Aber es geht auch darum, dass wir gerade jetzt das tun, was sozial geboten und übrigens auch wirtschaftlich vernünftig ist. Sozial geboten ist, dafür zu sorgen, dass die Heldinnen und Helden des Alltags eine ordentliche Rente bekommen. Wirtschaftlich vernünftig ist es übrigens auch, deren Kaufkraft zu stärken; denn das Geld geht nicht auf die hohe Kante, sondern fließt direkt in den Wirtschaftskreislauf. ({10}) Deshalb meine herzliche Bitte: Über die Einführung einer Grundrente wird seit über zehn Jahren in Deutschland diskutiert, schon in der Zeit von Ursula von der Leyen und in der Zeit von Andrea Nahles. Wir sind jetzt sehr weit gekommen. Das hier ist die erste Lesung. Meine Damen und Herren, Deutschland kann es sich nicht leisten, die Grundrente zum 1. Januar 2021 nicht einzuführen. Herzlichen Dank. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Abgeordnete Ulrike Schielke-Ziesing für die AfD-Fraktion. ({0})

Ulrike Schielke-Ziesing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004873, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Bürger! Lange haben wir Abgeordnete auf diesen Moment gewartet. Wir debattieren doch heute tatsächlich den Gesetzentwurf zur Grundrente. 14 Monate wurde sehr viel Energie in die Bewerbung der Grundrente investiert, mindestens ebenso viel Energie, um den Koalitionspartner endlich zu überzeugen. In der Vorlage heißt es, dass die Grundrente die Lebensleistung honorieren und vor Altersarmut schützen soll. An dieser Stelle ist es angebracht, zu fragen, warum Versicherte, die mindestens 33 Jahre lang gearbeitet und in die Rentenversicherung eingezahlt haben, letztendlich eine so niedrige Rente erhalten, die nun bezuschusst werden muss. Wie kommt so etwas zustande? Entscheidend für die erschreckend niedrigen Renten sind doch die Reformen der letzten Jahre, beispielsweise 1998 die Einführung des demografischen Faktors und allen voran 2001 die Schröder-Riester-Reform. Erinnert sei auch daran, dass sich erst mit einer SPD-geführten Regierung der Niedriglohnsektor in Deutschland so ausweiten konnte. Die Koalitionsparteien haben die geringen Renten zu verantworten und feiern sich jetzt dafür, dass sie durch die Grundrente ein wenig an den Zahlbeträgen schrauben. Großartig! Seit Monaten weisen Experten von der Bertelsmann-Stiftung bis hin zu den Arbeitgeberverbänden, von der Deutschen Rentenversicherung bis hin zur OECD auf gravierende Fehlstellen hin. Die Grundrente ist nicht zielgenau. Sie ist sozial ungerecht, viel zu teuer und dabei weitgehend wirkungslos. ({0}) Jeder weiß, dass diejenigen, die besonders auf Hilfe angewiesen sind, selten die vorgeschriebenen Versicherungsjahre erreichen. Die Grundrente ist verfassungsrechtlich bedenklich wegen der Missachtung des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes. Außerdem wird das Äquivalenzprinzip nicht eingehalten. ({1}) Wie erklären Sie, Herr Heil, dass Versicherte die gleiche Beitragssumme einzahlen, aber nicht die gleiche Leistung von der Rentenversicherung erhalten? Herr Heil, damit schaffen Sie doch neue Ungerechtigkeiten innerhalb der Versichertengemeinschaft. ({2}) Organisatorisch ist die Grundrente für die Rentenversicherung in dem Zeitrahmen nicht umsetzbar. Hierbei fehlt das nötige IT-System zur Einkommensabfrage bei den Finanzämtern. Es fehlt vor allem an Personal. Millionen von Akten müssen händisch geprüft werden. Die Rentenversicherung benötigt rund 3 400 zusätzliche Angestellte, um die Prüfung der Bestandsrenten zu bewältigen. Für den laufenden Betrieb, insbesondere wegen der regelmäßigen Einkommensprüfung, müssen über 1 600 Angestellte für die Grundrente abgestellt werden. Wo wollen Sie diese neuen Angestellten hernehmen? Die Rentenversicherung hat bereits signalisiert, dass ein Beginn der Grundrente zum 1. Januar 2021 technisch nicht umsetzbar sein wird – und das war noch vor Corona. Um zielgenau den wirklich armen Rentnern zu helfen, ist eine Freibetragslösung für die Rente bei der Anrechnung auf die Grundsicherung im Alter der bessere Ansatz. ({3}) Seit Februar 2019 liegt Ihnen dafür unser Antrag zur Umsetzung vor, den wir gestern hier abschließend im Plenum behandelt haben. Der Umsetzungsaufwand wäre weitaus geringer und der Nutzen gleich oder sogar noch größer als bei der Grundrente. ({4}) Ferner wäre diese Option verfassungskonform und wahrt noch das Äquivalenzprinzip in der gesetzlichen Rentenversicherung. ({5}) Herr Minister Heil, es ist äußerst lobenswert, dass Sie unseren Vorschlag teilweise mit in Ihren Gesetzentwurf aufgenommen haben. ({6}) Nur leider schränken Sie hier den Kreis der Berechtigten ein, indem Sie als Zugangsvoraussetzung 35 Versicherungsjahre definieren. ({7}) Alle anderen Rentner, auch die Erwerbsunfähigkeitsrentner, fallen wieder durch den Rost, und das ist nicht gerecht. ({8}) Kommen wir zu den Kosten der Grundrente. Wie man aktuell liest, wurde Herr Heil seitens der CDU daran erinnert, dass es keine zweite und dritte Lesung zur Grundrente geben wird, wenn die Finanzierung nicht geregelt ist, und das ist auch gut so. Der Finanzierungsbedarf wird im Jahr 2021 mit rund 1,3 Milliarden Euro angegeben. Positiv ist, dass klar geregelt wird, dass diese Kosten nicht von der Versichertengemeinschaft getragen werden, sondern aus Steuermitteln gezahlt werden sollen. Aber woher sollen diese Steuermittel kommen? Schon vor Corona stand die Finanzierung auf sehr wackeligen Füßen. Minister Scholz wollte eine Finanztransaktionsteuer, die anderen EU-Länder nicht. Wie sieht es jetzt in der Coronakrise aus? Um die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Krise abzufedern, haben wir als Parlament gerade einen Nachtragshaushalt in Höhe von rund 156 Milliarden Euro beschlossen. Die Bundesanstalt für Arbeit wird mit ihren Rücklagen nicht auskommen. Es ist sicher, dass ein weiterer Nachtragshaushalt kommen wird. Die Einnahmen des Staates werden in den nächsten Jahren weitaus geringer ausfallen als geplant. Allein dem Bund werden in diesem Jahr Steuereinnahmen in Höhe von rund 40 Milliarden Euro fehlen. Auch in der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung werden Einnahmen wegbrechen, die dann vom Bund bezuschusst werden müssen. ({9}) Wie soll denn bitte die Grundrente finanziert werden? Trotzdem setzen Sie, Herr Heil, alles daran, diese Grundrente durchzusetzen. Hier fragt man sich dann schon, warum Sie Ihre Prioritäten gerade so setzen. ({10}) Kann es etwa damit zu tun haben, dass im nächsten Jahr die Bundestagswahlen stattfinden und die Gruppe der Rentner eine nicht zu unterschätzende Wählergruppe ist? ({11}) Kurz vor Wahlen Wahlgeschenke zu verteilen, das machen alle Arbeitsminister gerne. In diesem Falle wird es für die Wähler jedoch eine Riesenenttäuschung werden, wenn sich die Grundrente im Portemonnaie nicht wirklich bemerkbar macht. ({12}) Gestern verkündete Minister Scholz das größte Steuerloch aller Zeiten. Bis 2024 soll sich die Summe der Steuerausfälle auf unfassbare 315,9 Milliarden Euro summieren, davon rund 171 Milliarden Euro beim Bund. Trotzdem soll laut Scholz kein einziges Projekt gekippt werden. Wo der Steuerzahlerbund mahnte, alle Staatsausgaben zu überprüfen, sagt Minister Scholz wörtlich: „Wir können uns das, was wir uns vorgenommen haben, weiter leisten.“ – Natürlich bezog er sich dabei auch auf die Grundrente. Es ist eigentlich nur noch unfassbar, wie hier Haushaltspolitik gemacht wird ({13}) und wie weit Anspruch und Wirklichkeit auseinandergehen. Bei der SPD sind Hopfen und Malz verloren. Ich möchte hier aber an die Vernunft der Abgeordneten der CDU/CSU-Fraktion appellieren. Stoppen Sie diese irrsinnige Grundrente! Lassen Sie hier keine weitere, zweite Lesung im Bundestag zu. Vielen Dank. ({14})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Hermann Gröhe für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Hermann Gröhe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002666, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Das Ziel, dass Menschen, die ihr Leben lang hart gearbeitet haben, oft bei einem nur geringen Entgelt – es ist darauf hingewiesen worden: das trifft überproportional Frauen und überproportional Menschen in den neuen Ländern –, in Zukunft eine bessere Rente erhalten, eint uns und ist ein gemeinsames Anliegen; ({0}) ich glaube übrigens nicht nur dieser Koalition, sondern auch darüber hinaus. ({1}) Dass dies zukünftig für rund 1,3 Millionen Menschen gilt und dass dazu beispielsweise auch die eben genannte Floristin gehören wird, die nach 40 Jahren Arbeit bei ungefähr 40 Prozent des Durchschnittslohnes und damit heute bei einer Rente von gut 500 Euro liegt, in Zukunft über 900 Euro bekommt, ({2}) ist eine gute Nachricht und eine verdiente Rente für harte Arbeit. ({3}) Dazu bekenne ich mich ausdrücklich. Ich will nicht verhehlen, dass wir auf dem Weg zur heutigen ersten Lesung natürlich um einen Kompromiss gerungen haben. ({4}) Über diesen Kompromiss sagt der Vorsitzende des Sozialbeirats der Bundesregierung, dieser Kompromiss sei eine vernünftige Lösung. Er bezieht sich ausdrücklich darauf, dass die Menschen in diesem Land Leistungsgerechtigkeit und Bedarfsgerechtigkeit wollten. Genau das war unser Anliegen als Union: Leistungsgerechtigkeit, Anerkennung von Lebensleistung bei gleichzeitigem Blick auf den realen Bedarf. ({5}) Es war Karl-Josef Laumann, der in diesem Zusammenhang sehr früh den Blick auf den Einkommensabgleich als das entscheidende Kriterium einer zielgenauen Grundrente gerichtet hat. Ja, Gießkanne ist immer unkompliziert. Gießkanne ist aber auch ungerecht. Sie ist am Ende auch unfinanzierbar. Deswegen haben wir nie einen Zweifel daran gelassen: Gießkanne ist mit uns nicht zu machen. ({6}) Wir wollen keine neuen Ungerechtigkeiten schaffen. Wir wollen bei bestimmten Einkünften die Rente aufwerten. Dies muss mit der Beitragsbezogenheit in Einklang gebracht werden, und deswegen sollen Bezieher hoher Einkommen keine Aufwertung ihrer Rente bekommen. Durch den Einkommensbezug und den Freibetrag vermeiden wir Ungerechtigkeiten, ({7}) und wir verhindern Unfinanzierbarkeit. Eine ja auch vorgeschlagene Grundrente ohne jede Zielgenauigkeit und Bedarfsprüfung würde mehr als 5 oder 6 Milliarden Euro im Jahr kosten. ({8}) Mit dem hier vorgelegten Gesetzentwurf reden wir über ungefähr 1,4 Milliarden Euro. Das heißt, diese Grundrente ist zielgenau und finanzierbar. Das ist wichtig; denn unser Rentensystem steht angesichts der demografischen Entwicklung vor großen Herausforderungen. Auch wünschenswerte Leistungsverbesserungen müssen sich deswegen am Kriterium der Zielgenauigkeit orientieren, meine Damen, meine Herren. ({9}) Ich will auf einen weiteren Punkt hinweisen, der uns sehr wichtig ist. Im Rahmen dieses Gesetzes wird in der Grundsicherung ein Freibetrag für langjährig Versicherte eingeführt. Das ist wichtig. Das stärkt die gesetzliche Rentenversicherung und die sozialversicherungspflichtige Arbeit als Beitrag zur Eigenvorsorge fürs Alter, die wir anerkennen. So, wie wir beim Betriebsrentenstärkungsgesetz gesagt haben: „Eine durch Betriebsrente oder private Altersvorsorge getätigte Eigenvorsorge muss durch Freibeträge in der Grundsicherung anerkannt werden“, so vollziehen wir dies hier für sozialversicherungspflichtige Tätigkeit und Beiträge in die gesetzliche Rentenversicherung nach. Dies ist ein wichtiger, ein guter Schritt. Meine Damen, meine Herren, es ist über Fragen der technischen Umsetzung gesprochen worden. Ja, es ist eine Herausforderung, Daten aus der Finanzverwaltung und der Rentenversicherung zusammenzuführen. Aber ich will ausdrücklich sagen, auch um einer Legendenbildung vorzubeugen: Die Rentenversicherung hat deutlich gemacht: Es ist die Erfassung der Grundrentenzeiten und nicht der Einkommensabgleich, die hinsichtlich der Umsetzung eine zeitliche und technische Herausforderung darstellt. Diese ist unabhängig von der Frage, welche Einkommensprüfung man will. Wir halten es für richtig, dass deswegen die Bundesregierung in einer Gegenäußerung zum Bundesrat deutlich gemacht hat: Es wird gerade für Bestandsrentner, bei denen wir natürlich auch eine Bedarfsfeststellung brauchen, was das Gesetz auch ausdrücklich vorsieht, so laufen, dass wir hier eine gestaffelte Einführung bekommen werden. Ich glaube, wir brauchen im Gesetzgebungsverfahren noch Schritte, um deutlich zu machen, was das heißt: für die Betroffenen Transparenz und Klarheit, aber auch Schutz der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Rentenversicherung im Hinblick auf das, was sie leisten können. Schließlich sei auch die Finanzierung angesprochen. Ja, Gewolltes, Wünschenswertes muss finanzierbar sein. Deswegen habe ich etwas zu der Zielgenauigkeit gesagt. Deswegen haben wir als Kompromiss der Koalition verabredet: Die Grundrente muss steuerfinanziert sein, nicht beitragsfinanziert; und das ist richtig. Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Der Finanzminister hat Einnahmen aus einer in Europa durch verstärkte Zusammenarbeit noch durchzusetzenden Finanztransaktionsteuer in Aussicht gestellt. Über deren Details werden wir noch reden. Das Finanzministerium hat in Aussicht gestellt, dass Ende Mai Klarheit darüber herrscht, dass und wie sie kommt. Wir wünschen da viel Erfolg. Wichtiger als kritische Nachfragen zur Finanzierung anzuempfehlen, wäre es, hier zu liefern. Wir vertrauen darauf, dass geliefert wird. Wir wollen die Grundrente zielgenau und solide finanziert. Ich freue mich auf die Beratungen. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Johannes Vogel für die FDP-Fraktion. ({0})

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass Sie nach über einem Jahr Streit in der Koalition nun dieses Modell in den Bundestag einbringen, das kritisieren auch wir scharf, aber nicht, weil wir gegen ein sinnvolles Modell zur zielgenauen Bekämpfung von Altersarmut wären. ({0}) Ganz im Gegenteil: Das ist seit vielen Jahren überfällig. ({1}) Nein, es sollte doch vielmehr in der Tat gerade jetzt selbstverständlich sein, erstens eine solide, nachhaltige Finanzierung und zweitens ein sinnvolles Modell zu haben. Liebe Koalition, leider haben Sie nichts davon. ({2}) Zur soliden Finanzierung. Gestern hat der Bundesfinanzminister gesagt: Ja, natürlich wird die Grundrente aus Steuermitteln finanziert. – Schaut man aber in die mittelfristige Finanzplanung des Bundesfinanzministers, findet man dazu: ({3}) nichts. Und weil Sie keinerlei Steuermittel eingeplant haben, haben Sie auf die EU-Finanztransaktionsteuer zur Finanzierung verwiesen, ({4}) also auf eine Steuer, die es gar nicht gibt. Aber eine Steuer, die die Staaten der Europäischen Union nicht einführen werden, kann man nicht zur Finanzierung verwenden, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition. ({5}) In den letzten Jahren ist, wenn Sie sich beim Thema Rente gestritten haben, immer eines passiert: Am Ende haben Sie doch in den Topf der Beitragszahler gegriffen, und das ging voll zulasten der jungen Generation. Deshalb sage ich mal zum sogenannten Wirtschaftsflügel der Union, der heute hier nicht sehr zahlreich vertreten ist: ({6}) Da darf man eben auch nicht immer nur den Mund spitzen, sondern muss auch mal pfeifen und für eine solide Finanzierung sorgen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({7}) Zum zielgenauen Modell, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD. Eine alleinerziehende Altenpflegerin, die 32 Jahre und 11 Monate in die Rentenkasse einzahlt und vielleicht im Alter wenig Geld hat, bekommt bei Ihrem Modell keinen Cent mehr als die Grundsicherung. Eine Friseurin, die vielleicht 20 Jahre einen Friseursalon betrieben hat, Menschen Arbeit gegeben hat, deren Unternehmen dann vielleicht gescheitert ist, die noch 20 Jahre beschäftigt war und im Alter womöglich auch wenig Geld hat, bekommt in Ihrem Modell keinen Cent mehr als die Grundsicherung. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, von den 500 000 Menschen, die Ansprüche aus der Rentenversicherung haben und heute im Alter auf die Grundsicherung angewiesen sind, haben drei Viertel nicht die notwendigen Beitragsjahre, um sich für Ihre Grundrente überhaupt zu qualifizieren. Das ist doch kein zielgenaues Modell. ({8}) Auf der anderen Seite: Von den Empfängern Ihres Grundrentenmodells sind über 90 Prozent gar nicht auf die Grundsicherung im Alter angewiesen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, das ist doch kein zielgenaues Modell. Wenn das nicht krass an den Bedürfnissen vorbeigeht, dann weiß ich es nicht. ({9}) Diese Grundrente hilft leider kaum gegen Altersarmut, liebe Koalition. Gleichzeitig schaffen Sie aber ganz viele neue Ungerechtigkeiten. Sie durchbrechen in der Tat den Grundsatz, dass bei uns in der Rente die Auszahlungen von den Einzahlungen abhängen. Sie stellen Wohngemeinschaften bei der Grundrente besser als Ehepaare. Sie sorgen dafür, dass jemand, der eine kleine Riester-Rente hat, keinen Anspruch auf die Grundrente hat, dass jemand, der eine identisch hohe kleine Lebensversicherung hat, womöglich aber Anspruch auf die Grundrente hat, usw. usf. ({10}) Diese Ungerechtigkeiten, die Sie durch dieses Modell schaffen, sind so krass, dass Franz Ruland, langjähriges SPD-Mitglied und langjähriger Vorsitzender der Deutschen Rentenversicherung, das sogar für verfassungswidrig hält, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD. Das ist doch kein überzeugendes Modell gegen Altersarmut – bei aller Liebe. ({11}) Schließlich ignorieren Sie komplett die Einwände der Deutschen Rentenversicherung. Da zitiere ich kurz aus der Stellungnahme der Rentenversicherung selbst: Die sozialpolitische Begründung der vorgesehenen Regelung ist „zum Teil widersprüchlich und in der Zielstellung nicht eindeutig“. Das Vorhaben sei eine „noch nie dagewesene Zäsur“ hinsichtlich der Umsetzbarkeit. Die Verwaltungskosten würden ein unglaubliches Viertel der Gesamtkosten ausmachen. ({12}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist vornehmes Verwaltungsdeutsch für: Ihr macht kompletten Mist! Deshalb: Kehrt um! ({13}) Wir haben euch ja ein anderes Modell vorgelegt. Unsere liberale Basisrente würde dafür sorgen, dass jede und jeder, die gearbeitet und eingezahlt haben, im Alter mehr haben als die Grundsicherung und mehr als die, die das nicht getan haben. Gleichzeitig muss im Alter niemand aufs Sozialamt gehen. Das ist ein faires und zielgenaues Modell. Ihre Grundrente ist das leider nicht, und ich würde mich wirklich freuen, wenn Sie dieses Modell noch mal überdenken. Es ist möglich, es besser zu machen. Vielen Dank. ({14})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Matthias W. Birkwald für die Fraktion Die Linke. ({0})

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich heute gleich mal mit der Kritik beginnen. ({0}) Der Name „Grundrente“ für Ihr Gesetz, liebe Koalition, ist grottenfalsch. ({1}) Eine Grundrente gibt es beispielsweise in den Niederlanden. Dort reicht es, 50 Jahre in den Niederlanden zu leben, um als Single im Alter eine echte Grundrente von aktuell 1 255 Euro netto zu erhalten, auch ohne Arbeit. Das ist eine Grundrente. ({2}) Damit hat Ihr Gesetzentwurf überhaupt nichts zu tun, und darum gaukeln Sie mit dem falschen Namen „Grundrente“ den Altenpflegerinnen und Altenpflegern, den Friseurinnen und Friseuren, den Kosmetikerinnen und Kosmetikern, den Kellnerinnen und Kellnern, den Zimmermädchen, den Kassiererinnen und Kassierern, den Masseurinnen und Masseuren, den Hilfskräften in den Schlachtbetrieben, den Taxifahrerinnen und Taxifahrern und vielen Millionen Menschen mit niedrigen Löhnen mehr vor, als Sie werden halten können. Viele von ihnen werden trotz Ihrer sogenannten Grundrente weiter zum Sozialamt gehen müssen, und das ist enttäuschend. ({3}) Ihre sogenannte Grundrente ist eine reformierte und verkomplizierte „Rente nach Mindestentgeltpunkten“. Die Rente nach Mindestentgeltpunkten ist eine wirksame und gute Rentenart für Menschen mit niedrigen Renten. Sie gilt aber nur für Rentenzeiten bis einschließlich 1991. Die Linke fordert seit Langem: Sie muss für die Zeit ab 1992 bis heute und in Zukunft gelten. ({4}) Das fordern auch Gewerkschaften und Sozialverbände. Denn Renten nach jahrzehntelanger Arbeit zu niedrigen Löhnen aufzuwerten, ist eine wichtige Aufgabe eines solidarischen Rentensystems. ({5}) In Deutschland wurde der gesetzliche Mindestlohn viel zu spät und mit einem viel zu niedrigen Startniveau von 8,50 Euro eingeführt, und darum ist ein Rentenzuschlag für kleine Renten dringend geboten. ({6}) Es sind übrigens zu 83 Prozent Frauen, die noch heute von der Rente nach Mindestentgeltpunkten mit durchschnittlich knapp 80 Euro profitieren, und das, liebe CDU-Kollegen Pfeiffer, Linnemann, Willsch oder von Stetten, völlig ohne jegliche Einkommens- oder Bedürftigkeitsprüfung. ({7}) Meine Damen und Herren, wir brauchen diesen Solidarausgleich. Denn im Kern ist das deutsche Rentenrecht gnadenlos. Wer viel verdient, erhält im Alter eine hohe Rente; wer zu niedrigen Löhnen arbeiten musste, erhält nur eine sehr kleine Rente. ({8}) Oft sind es nur wenige Hundert Euro. Das nennt man „Äquivalenzprinzip“. Nur wer 45 Jahre lang ein durchschnittliches oder ein sehr gutes Einkommen erzielt hat, kann in Deutschland eine armutsfeste oder eine gute Rente erwarten. 45 Jahre, das schaffen viele Männer nicht und viele Frauen erst recht nicht. Die Gewerkschaften und die Sozialverbände begrüßen darum einhellig, dass jetzt eine Nachfolgeregelung für die Rente nach Mindestentgeltpunkten auf dem Tisch liegt. Immerhin: Rund 1,3 Millionen Menschen könnten von dem Rentenzuschlag, der sogenannten Grundrente, in Höhe von durchschnittlich circa 80 Euro im Monat profitieren; im Einzelfall können es gut 400 Euro sein. Ihr Rentenzuschlag, Minister Heil, wird besonders Frauen und ostdeutschen Rentnerinnen und Rentnern nützen. Das begrüßen wir Linken ausdrücklich. ({9}) Die neuen Freibeträge beim Wohngeld und für die gesetzliche Rente bei der Grundsicherung, dem Rentner-Hartz IV, werden viele Betroffene im Geldbeutel spüren. Aber, liebe Koalition: Streichen Sie die 33 Jahre als Bedingung für den Freibetrag! Null Jahre sind genug. ({10}) Das fordern der Paritätische Wohlfahrtsverband, der Sozialverband VdK Deutschland, der Deutsche Gewerkschaftsbund und andere Sachverständige. Die Freibeträge für die Betriebsrente und für die Riester-Rente gibt es ja schließlich auch ohne Einschränkung. Ich sage: Die gesetzliche Rente muss hier gleichberechtigt werden. ({11}) Meine Damen und Herren, in der vorliegenden Fassung wird das eigentliche Ziel der sogenannten Grundrente, nach einem langen Erwerbsleben eine Rente zu erhalten, die über dem Sozialhilfeniveau liegt, für sehr viele Betroffene nicht mehr erreicht werden. Allerdings werden dies viele Menschen mit dem neuen Freibetrag in der Grundsicherung schaffen. Okay, aber im Kampf gegen die Altersarmut reicht das alles nicht. Wir brauchen eine wirksame Mindestrente. ({12}) Die fordert zum Beispiel auch der Paritätische Gesamtverband. Die Linke unterstützt das, und wir haben mit unserem Konzept einer einkommens- und vermögensgeprüften solidarischen Mindestrente einen Vorschlag dafür gemacht. Niemand soll im Alter von weniger als 1 050 Euro netto und im Einzelfall gegebenenfalls zusätzlichem Wohngeld leben müssen. ({13}) Liebe Koalition, so, wie Ihr Gesetzentwurf nun vorliegt, ist er nur noch so lala, und daran sind einzig und allein CDU und CSU schuld. ({14}) Alle, wirklich alle Verschlechterungen, die es nach dem Eckpunktepapier und dem ersten Referentenentwurf aus dem BMAS 2019 gab, gehen voll und ganz auf das Konto der Unionsfraktion. Ich finde das armenfeindlich, rentnerfeindlich und schäbig. ({15}) Zwei Beispiele: Erstens. Die sogenannte Grundrente soll immer und in jedem Fall pauschal um 12,5 Prozent gekürzt werden. Das ist willkürlich, durch nichts fachlich zu begründen, und das sollte unbedingt aus dem Gesetzentwurf gestrichen werden. ({16}) Zweitens: die Einkommensprüfung. Grundsätzlich ist gegen eine Einkommensprüfung bei armutsfesten Sozialleistungen nichts einzuwenden. ({17}) Sie muss aber verhältnismäßig sein. Für Menschen, die trotz der sogenannten Grundrente in der Grundsicherung verbleiben müssen, und für Menschen, die durch den Zuschlag häufig nur 10 bis 90 Euro mehr als die Grundsicherung erreichen werden, braucht es keine Einkommensprüfung. ({18}) So, wie sie nun gedacht ist, wird sie zu einem teuren Bürokratiemonster, und dafür ist einzig und allein die Union verantwortlich. Die Zuschläge der sogenannten Grundrente werden konstruktionsbedingt sehr häufig nicht zu einem armutsfesten Alterseinkommen führen. Darum braucht es weder eine Einkommens- noch eine Bedürftigkeitsprüfung. Also: Streichen Sie die Einkommensprüfung! ({19}) Liebe Unionskolleginnen und ‑kollegen, ein letzter Punkt: Warum nur müssen Menschen heute mindestens 1 013 Euro brutto verdienen, damit sie aus CDU-Sicht würdig sind, Ihre sogenannte Grundrente zu erhalten? Wer nur 700 oder 900 Euro Lohn erhält, hat sie doch später viel nötiger. Der Grund ist klar: Weil die CDU sozial kalt ist, und weil sie den Armen nicht das Schwarze unter den Fingernägeln gönnt. ({20}) Das ist unchristlich, das ist unsozial, und das ist unverschämt. ({21}) Kehren Sie um, tun Sie Buße, bringen Sie den Referentenentwurf des BMAS aus dem Januar 2019 ein! Daran hatten wir Linken zwar auch Kritik, aber dem würden wir zustimmen. Herzlichen Dank. ({22})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Markus Kurth für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Dieser ganze Gang zur Grundrente erinnert mich ein wenig an die Eroberung des Südpols; dafür brauchte es ja auch mehrere langjährige Anläufe. Um im Bild zu bleiben: So weit südlich wie die Expedition Heil ist keine der Vorgängerexpeditionen gekommen – weder Andrea Nahles noch Ursula von der Leyen. ({0}) Ich bin jetzt mal gespannt, ob es auch bis zum Ziel klappt. Vor Ihnen liegt ja noch das Sturmtief Ralph, das Sie umfahren müssen. Wir werden mal sehen! Aber immerhin! ({1}) Wir sind jetzt in der ersten Lesung, und ich sage: Das ist gut. Es ist gut, dass wir jetzt die Chance haben, darüber zu diskutieren und im größten Zweig der Sozialversicherung eine notwendige Neuerung zu entwickeln, nämlich eine Mindestversicherungsleistung. Das ist gut und wichtig, um die Legitimität und Akzeptanz der gesetzlichen Rentenversicherung zu erhalten. ({2}) Vom Grundsatz her – Johannes Vogel, da unterscheiden wir uns – wollen wir ein intaktes Rentenversicherungssystem. ({3}) Wenn wir dort eine Schwäche haben, dass auch langjährige Beitragszahlung und langjährige Zugehörigkeit zur Versicherung nicht zu einer Mindestleistung führen, dann unterhöhlt das die gesetzliche Rentenversicherung, die Akzeptanz der Pflichtversicherung, und das wollen Bündnis 90/Die Grünen nicht. ({4}) – Danke für den Applaus aus der SPD. – Und das möchten die Sozialdemokraten und der Sozialflügel der CDU auch nicht. Insoweit besteht in der Diskussion tatsächlich sogar eine gemeinsame Basis. Ich glaube auch, dass wir gerade in dieser Coronakrise gemeinsam das Signal senden sollten, dass die Systeme sozialer Sicherung entwicklungsfähig sind und dass das Parlament auch in der Lage und willens ist, darauf zu reagieren. ({5}) Jetzt kommt allerdings das Aber! ({6}) – Nein. – Es droht, dass Sie dort auch einiges in den Sand setzen. Zunächst einmal handeln Sie nach der Devise: Warum einfach, wenn es auch kompliziert geht? Es gibt einen wahnwitzig komplizierten Aufwertungs- und dann wieder Abschlagsmechanismus, ganz besondere spezifische Anrechnungsregeln für das Wohngeld, einen Freibetrag in der Grundsicherung, wenn trotzdem alles nicht reicht. Kein Mensch weiß, ob er oder sie die Grundrente bekommt und, wenn ja, wie viel. Das ist überhaupt nicht gut. Ich habe heute am späten Nachmittag einen Termin bei meiner Friseurin. Dem sehe ich schon seit Tagen erwartungsfroh entgegen. ({7}) Ich werde dann mal versuchen, das Grundrentenmodell der Koalition zu erklären, und dem stelle ich als Alternative dann die Garantierente von Bündnis 90/Die Grünen gegenüber. Die ist nämlich einfach, unkompliziert, handhabbar: 30 Versicherungsjahre, 30 Entgeltpunkte, und der Drops ist gelutscht. ({8}) Dann werden wir sehen, was einfacher, verständlicher und vertrauensstiftender in Bezug auf die gesetzliche Rentenversicherung ist. Das zweite Problem ist: Auch mit der Grundrente, wie Sie sie vorschlagen, bleiben viele leider mit einem Bein in der Sozialhilfe stecken; ({9}) denn durch Ihre Abschläge werden viele Personen trotzdem in der Grundsicherung bleiben und diesen Freibetrag in Anspruch nehmen müssen. Auch hier ist die Alternative die grüne Garantierente, eine Versicherungsleistung, die aus dem Bereich der Versicherung kommt und die Grundsicherung hinter sich lässt und überwindet, und das muss das Ziel sein, um die Rentenversicherung zu stärken. ({10}) Dann können wir jetzt kurz zu dem wüsten Verwaltungsaufwand kommen. Ich will das nicht zu sehr vertiefen, aber einfach einmal das Thema Kapitaleinkünfte ansprechen. Das war ja dem Wirtschaftsflügel der Union so unglaublich wichtig. Das hätten Sie aber einfach lösen können, meine Damen und Herren von der Union, indem Sie die Abgeltungsteuer abgeschafft hätten, ({11}) die ja Leute mit einem Spitzeneinkommen belohnt, weil sie weniger zahlen als durch die Einkommensteuer. Wenn die Kapitaleinkünfte nach Abschaffung der Abgeltungsteuer wieder in der Einkommensteuererklärung auftauchen würden, wäre ja alles kein Problem. Aber da wollten Sie natürlich nicht ran. Stattdessen haben Sie ein kompliziertes Prüfungsverfahren eingeführt, was den Verwaltungsaufwand erhöht, ({12}) und es ist ja wirklich ein Treppenwitz – das ist bizarr –, dass ich heute von Carsten Linnemann vom Wirtschaftsflügel lese, wegen des Verwaltungsaufwands, den er ja erst produziert hat, könne man das alles nicht umsetzen. ({13}) So was ist ja widersinnig! ({14}) Das passt allerdings sehr gut zu Ihrer Doppelzüngigkeit angesichts der Finanzierung; Hubertus Heil hat ja das Notwendige dazu gesagt. Meine Damen und Herren, ich glaube, dass wir bei diesem Gesetzgebungsverfahren aufpassen müssen – es gibt bessere Modelle –, dass wir nicht etwas hinkriegen, was in der nächsten Legislaturperiode verbesserungsfähig ist. Ansonsten, wenn Sie Hoffnungen und Erwartungen wecken, die dann nicht in Erfüllung gehen, wird die gesetzliche Rentenversicherung beschädigt. Wir dürfen gerade in diesen Zeiten der Unsicherheit, die auch noch lange anhalten werden, keine Enttäuschung produzieren. Darum hoffe ich, dass wir mit sehr großer Ernsthaftigkeit an dieses Verfahren herangehen und dass wir in der öffentlichen Debatte vor allen Dingen eines nicht vergessen: Die Grundrente ist eine Teilleistung, eine Mindestleistung. Ein insgesamt funktionierendes Altersversicherungssystem braucht aber drei Dinge, einen Dreiklang: Sie braucht ein angemessenes Rentenniveau – denn sie muss als Einkommensversicherung auch für die Mittelschicht funktionieren –, sie braucht die bereits angesprochene Mindestsicherung, und sie braucht ein breites Fundament, das heißt, wir brauchen endlich die Bürgerversicherung in der Rentenversicherung. ({15}) Dieser Dreiklang wird Vertrauen und Stabilität stärken. Das Gesetzgebungsverfahren, das uns bevorsteht, ist ein Baustein dafür, und wir werden es konstruktiv begleiten. Vielen Dank. ({16})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Katja Mast das Wort. ({0})

Katja Mast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Endlich diskutieren wir die Grundrente. Es geht um das Versprechen bei der Grundrente, dass sich Arbeit lohnt. Wer lange gearbeitet hat, soll am Ende mehr haben als Grundsicherung oder Sozialhilfe; darum geht es. Es geht um die Anerkennung von Lebensleistung, und zwar für 1,3 Millionen Menschen, ({0}) die ihr Leben lang zu kleinem Geld gearbeitet, Kinder erzogen oder Angehörige gepflegt haben. Vier von fünf Empfängern sind Frauen. Ja, die Mitbürgerinnen und Mitbürger in den östlichen Bundesländern werden mehr davon profitieren, weil sie weniger verdient haben und immer noch weniger verdienen. ({1}) – Richtig, weil sie weniger bekommen haben. Entschuldigung. Es geht aber auch gerade in den Zeiten, in denen wir uns befinden, um die stillen Heldinnen und Helden des Alltags, all jene, die auch in der Coronakrise täglich ihren Kopf hinhalten und ihren Job machen und vor denen wir uns alle verneigen und erst vor wenigen Wochen im Bundestag erhoben haben und für die wir applaudiert haben. ({2}) Es geht um die Pflegehilfskraft, die Kassiererin im Supermarkt, den Lagerarbeiter, den Paketboten. Sie alle verdienen unsere Anerkennung, und zwar nicht nur in Worten, sondern auch in Taten. Sie verdienen nach einem Leben voller Arbeit die Grundrente. ({3}) Seit über zehn Jahren diskutieren wir immer wieder darüber. Für uns von der SPD war immer wichtig, dass die Grundrente eine Rente ist, dass man also eigene Ansprüche durch Beitragsjahre erwirbt und dass es eben keine Fürsorgeleistung ist. ({4}) Denn bei eigenen Ansprüchen gibt es keine Bedürftigkeitsprüfung. Man bekommt sie. Es muss nicht jeder Hinzuverdienst offengelegt werden. Es muss nicht jeder Besitz bewertet und angegeben werden. Es ist auch keine Bedingung, zuerst in eine kleinere Wohnung zu ziehen, bevor man die Grundrente bekommt, sondern es ist ein Anspruch. Die Grundrente ist ein Anspruch. ({5}) Genau an dieser Stelle liegt auch der Unterschied in der Debatte. Andere Fraktionen sagen, ein Freibetragsmodell in der Grundsicherung reiche. Sie von der FDP wollen ein Freibetragsmodell. Auch die AfD will ein Freibetragsmodell. ({6}) Da reden wir nicht von Anspruch, also auch nicht davon, dass man mit eigenen Beitragsleistungen ein Erwerbsleben lang dazu beigetragen hat. Deshalb haben wir in der Koalition so lange gebraucht, das heute aufzusetzen. Ich bin froh, dass wir über die Grundrente reden und nicht über eine Grundsozialhilfe. ({7}) Klar ist: Die Grundrente muss zum 1. Januar 2021 kommen. Die Umsetzung der Grundrente stellt die Verwaltung und die Rentenversicherung vor große Herausforderungen. Es gibt noch eine lange Strecke. ({8}) Aber ich bin mir sicher – ich weiß, dass das auch viele Kolleginnen und Kollegen im Deutschen Bundestag teilen –: Die Rentenversicherung wird alles geben, das gut umzusetzen. ({9}) Aber damit sie das gut umsetzen kann, ist eine Verabschiedung der Grundrente in Bundestag und Bundesrat vor der Sommerpause notwendig. ({10}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Grundrente ist ohne Frage ein sozialpolitischer Meilenstein. Arbeit und lange Beitragszeiten müssen sich lohnen. Auf die Grundrente warten unsere Heldinnen und Helden des Alltags, die auch jetzt jeden Tag ihren Job machen. Ihnen zu dienen, das macht unser Land gerechter, und das ist die Aufgabe dieses Hauses. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Pascal Kober für die FDP-Fraktion. ({0})

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, sehr geehrter Herr Bundesminister, was auch immer Sie erreichen wollen mit der Grundrente: Sozialpolitisch bleibt sie ohne jeden Effekt. Denn fünf von sechs, die im Alter arm sind, werden es trotz Ihrer Grundrente auch in Zukunft bleiben. Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, das ist der falsche Weg. Wenn schon die Lebenswirklichkeit der Menschen im Land Sie nicht anrührt, dann sollte es Ihnen zumindest zu denken geben, wenn Sie immer wieder vonseiten der FDP in die sozialpolitische Verantwortung genommen werden müssen. Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, drehen Sie um, kehren Sie um! Machen Sie etwas für die Menschen! Orientieren Sie sich nicht an der Literatur, sondern an der Lebenswirklichkeit der Menschen! ({0}) Sie wissen doch, dass viele Menschen nicht 33 Jahre gearbeitet haben. Auch wer 30 oder 32 Jahre gearbeitet hat, kann Held des Alltags gewesen sein. Auch derjenige könnte altersarm sein und eine Anerkennung seiner Lebensleistung verdienen. Das erreichen Sie mit Ihrer Grundrente nicht. Dagegen würden wir mit unserer Basisrente wirklich etwas dazu beitragen, dass solche Menschen mehr haben als nur die Grundrente. ({1}) Fairer wäre es, wenn wir den Menschen von ihrem Anspruch auf die gesetzliche Rente etwas mehr in der Grundsicherung lassen würden. 20 Prozent schlagen wir vor. Damit wäre vielen Menschen geholfen. Wir würden sehr viel mehr Menschen Unterstützung bieten als Sie mit Ihrer Grundrente. Es tut mir leid, das sagen zu müssen: Mit der SPD an der Regierung wird die sozialpolitische Temperatur in diesem Land kälter. Immer mehr entfernen Sie sich von der Lebenswirklichkeit der Menschen. Das zeigt auch, wie hartnäckig Sie die Unterstützung der Menschen in der Grundsicherung im Alter in der Coronapandemie verweigern. ({2}) Wir von der FDP fordern hier eine kleine Unterstützung. Auch die Grünen fordern hier eine Unterstützung. Warum ist das so? Weil die Älteren zu den Risikogruppen gehören. Sie können nicht mehr Preisvergleiche in den Supermärkten anstellen, wie sie es vorher gemacht haben. Die Lebensmittelpreise steigen. Es wäre angebracht, befristet diesen Menschen ein Stück weit unter die Arme zu greifen. Aber da verweigern Sie sich hartnäckig. Sie versuchen, das Problem auszusitzen. Das ist nicht in Ordnung. Das zeigt, dass Sie sich überhaupt nicht mehr mit der Lebensrealität der Menschen in diesem Land auseinandersetzen. Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, das ist sozialpolitische Verantwortungslosigkeit. Das muss ich Ihnen hier vorhalten. ({3}) Nach dieser ersten Lesung haben Sie noch die Chance, umzudrehen, liebe Kolleginnen und Kollegen der Union. Lieber Herr Gröhe, ich spreche Sie ganz bewusst an. Kommen Sie an den Tisch mit der FDP. ({4}) Unser Modell der Basisrente ist der richtige Weg. Überzeugen Sie den Minister, dass er den falschen Weg eingeschlagen hat. Dann hätten wir tatsächlich etwas gegen Altersarmut in diesem Land erreicht. Das wäre der richtige Weg. Ich sehe, dass Sie eigentlich auch wissen, dass wir recht haben. Vielen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Max Straubinger für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte zeigt sehr deutlich, dass diese Koalition letztendlich für die großartige Sozialpolitik in dieser Republik steht. ({0}) Dass, Herr Kurth, die von den Grünen und von den FDP-Kollegen eingebrachten Vorschläge nicht so zielführend sind, hat man erkannt. Vor allen Dingen haben Sie die damit verbundenen Kosten verschwiegen und die Frage offen gelassen, ob damit überhaupt Leistungsgerechtigkeit erreicht wird. ({1}) Wir diskutieren heute in erster Lesung über den Vorschlag der Bundesregierung zur Einführung einer Grundrente, auf den sich die Koalition geeinigt hat. Da viele bemängelt haben, dass das etwas länger gedauert hat, möchte ich an den Koalitionsvertrag erinnern, in dem wir uns darauf geeinigt haben, dass diejenigen, die auf Grundsicherung angewiesen sind, mehr haben sollen, wenn sie langjährig in die Rentenversicherung eingezahlt haben. Das ist im Prinzip auch Konsens. Wir haben dies um den Vorschlag der Bundesregierung und insbesondere um das, was Bundesminister Heil vorschlägt, entsprechend erweitert. Es ist wichtig – ich glaube, darin sind wir uns alle einig –, dass diejenigen, die zwar Vollzeit gearbeitet haben, aber dann erleben müssen, dass sie aufgrund niedriger Löhne auf Grundsicherung im Alter angewiesen sind, bessergestellt werden. ({2}) Das ist unser sozialpolitischer Anspruch. Ich glaube, darin sind wir uns alle einig. Die Schwierigkeit liegt allerdings dann in der Umsetzung. Kollege Gröhe hat bereits von der Zielorientiertheit gesprochen. Ich möchte hier ausdrücklich feststellen, dass der Gesetzesvorschlag für Geringverdiener letztendlich richtig zielorientiert gestaltet ist: mit der Aufbesserung der Renten derer, die geringere Beiträge eingezahlt haben. Er ist auch unter dem Gesichtspunkt derer zielorientiert, die trotzdem auf Grundsicherung angewiesen sind; denn mit der Schaffung des Freibetrages der gesetzlichen Rentenversicherung, der Nichtanrechnung in der Grundsicherung, ist das eine starke Anhebung, die wir hier für Menschen erbringen, die zwar langjährig eingezahlt haben, aber dann trotzdem auf die Grundsicherung angewiesen sind, wobei langjährige Einzahlung ja noch nichts in Bezug auf die Höhe heißt. Sie, Herr Kollege Kurth, haben vorhin ausgeführt, dass bei Ihrem Modell nach 30 Jahren 30 Rentenpunkte zu verzeichnen sind. Dabei haben Sie leider vergessen, zu sagen, wie hoch der Verdienst des Einzahlenden sein muss. Der muss nämlich im Monat 3 400 Euro verdienen, um tatsächlich im Jahr einen Rentenpunkt zu erwirtschaften, ({3}) es sei denn, Sie wollen davon abweichen. Dann müssen wir aber über das Äquivalenzprinzip reden. Wollen wir uns vollends vom Äquivalenzprinzip ablösen ({4}) und wollen wir hier nur noch einfache Beitragszeiten gelten lassen? Ich habe ja schon einmal in einer Aktuellen Stunde ausgeführt, dass es doch nicht sein kann, im Rahmen einer Grundrente nur die Beitragszeiten hier letztendlich zugrunde zu legen, sodass Beiträge aus einem Minijob sozusagen dazu führen, dass hinterher eine große Rente rauskommt. ({5}) Das kann ja meines Erachtens auch nicht richtig sein. ({6}) Deshalb ist das jetzt auch in dem Vorschlag ausgeschlossen. ({7}) Aber es bedeutet auch, dass wir das Äquivalenzprinzip damit nicht zu weit ausdehnen sollten. Wir müssen in diesem Gesetzgebungsverfahren schon erklären, dass jemand, der 2 700 Euro im Monat verdient hat, somit bei 80 Prozent liegt, keine Aufstockung seiner Rente erfahren wird, während der, der 2 000 Euro verdient hat, also 50 Prozent, möglicherweise in einem Halbtagsjob, dann die gleiche Rente erhält wie der andere, der Vollzeit gearbeitet hat. ({8}) Es ist die Schwierigkeit, dies den Menschen zu erklären. Herr Bundesminister, da braucht man noch Nachhilfe, um es dann auch nach außen zu verdeutlichen. Genauso geht es in vielen anderen Fragen. Deshalb war es auch wichtig, eine Einkommensprüfung durchzuführen. Aber es kann nicht sein, dass Eheleute gegenüber nichtehelichen Lebensgemeinschaften benachteiligt werden; das muss man hier auch mit sehen. Also, auch an diese Frage müssten wir noch näher und stärker herangehen. Außerdem gibt es die Finanzierungsfrage. Kollege Gröhe hat ja bereits auf die Finanztransaktionsteuer hingewiesen, die mit eine Grundlage des Kompromisses ist. Aber gleichzeitig geht es auch darum, Herr Minister, dass die 400 Millionen Euro, die aus dem Haushalt des BMAS kommen sollen, auch spezifiziert werden. Das kann man nicht nur mit einer globalen Minderausgabe abtun. Deshalb erwarten wir schon, dass dies auch in den Gesetzgebungsverfahren und bei den zukünftigen Diskussionen geklärt wird. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD hat nun die Kollegin Kerstin Tack das Wort. ({0})

Kerstin Tack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004173, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Allererstes möchte ich denjenigen, die auf diese Grundrente warten, denjenigen, die heute schon häufig als Heldinnen und Helden des Alltags und als systemrelevant von uns hier mehrfach gelobt worden sind, sagen, dass diese Koalition gewillt ist, ihnen eine Grundrente zu verschaffen. ({0}) Nicht jeder versteht die Diskussion, wie sie hier geführt wird, um die einen oder anderen Details. Nicht jeder versteht, warum der Streit zwischen Rente und Fürsorgesystem nicht für jeden nachvollziehbar ist, und jeder hat Sorge, dass am Ende des Tages der Streit zulasten der Grundrente auf dem Rücken derer ausgetragen wird, die so dringend darauf warten. Deshalb ist richtig und klar, dass wir natürlich in der Sache die einen oder anderen Dinge noch ausgestalten werden. Aber diese Grundrente wird für diese Menschen kommen. ({1}) Gerade denjenigen, von denen wir in den letzten Tagen gehört haben, dass es in der heutigen Zeit ja mit den Finanzen, die wir zur Verfügung haben, so wahnsinnig schwierig ist, und insbesondere den Arbeitgebern in diesem Land möchte ich etwas sagen. Wenn man auf der einen Seite ruft: „Gebt uns Geld für unsere soziale Sicherung, für unsere Absicherung“, und auf der anderen Seite sagt: „Gebt denen kein Geld für deren Absicherung“, dann will ich verdeutlichen: Ich wünsche mir, dass genau diese Energie, die wir jetzt in diesem Rufen wahrnehmen, in die Mitgliedsunternehmen dieser Arbeitgeberverbände gelenkt wird, und zwar für gute Löhne, die dazu führen, dass in der Zukunft wenig Leute auf eine Grundrente angewiesen sind. ({2}) Dieses Engagement und diese Energie würde ich mir wünschen, und ich glaube, davon hätten wir alle mehr. Die Frage, ob und wie die Grundrente umgesetzt wird, ist eine administrative Herausforderung: Ja, die Geister, die ich rief. – Genau so ist das. Dadurch, dass wir in unserer Koalition die einen oder anderen Schwierigkeiten in den Detailfragen hatten, hat sich die Umsetzung nicht erleichtert, hat sich eher die Herausforderung vergrößert. Aber damit einhergeht nach wie vor die klare Ansage, dass auch diese Herausforderung zu lösen ist. ({3}) Natürlich wollen wir das und ist das nach wie vor unser Anliegen. Eines ist auch klar: Am Ende des Tages zählt für jedes Gesetzgebungsverfahren in diesem Haus der politische Wille zur Umsetzung. Da, wo der politische Wille bis zur zweiten und dritten Lesung trägt, wird es auch einen Weg zur Umsetzung geben. In diesem Sinne wünsche ich uns gute Beratung, den bestmöglichen Abschluss, zeitnah und für die Betroffenen gut nachvollziehbar und schnell. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Antje Lezius für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Antje Lezius (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004341, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer jahrzehntelang in die Rentenversicherung eingezahlt hat, muss im Alter auch etwas davon haben. Ich glaube, da sind wir uns alle einig. Der Gesetzentwurf zur Grundrente sieht vor, dass bisher niedrige Renten deutlich aufgewertet werden. Das ist gut und gerecht und im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD auch so vereinbart. Was sind die Kernpunkte dieses Gesetzentwurfs? Wer mindestens 33 Jahre gearbeitet, Kinder erzogen und Angehörige gepflegt, aber nur unterdurchschnittliche Verdienste erzielt hat, profitiert zukünftig von einer Grundrente. Das sind 1,3 Millionen Rentnerinnen und Rentner, darunter viele Frauen und Menschen in Ostdeutschland. Ob ein Anspruch auf Grundrente besteht, soll automatisch geprüft werden; ein Antrag soll nicht notwendig sein. Die Höhe der Grundrente kann bis zu 400 Euro betragen und damit zu einer deutlichen Verbesserung der Gesamtrente führen. Wo gibt es noch Klärungsbedarf? Finanziert werden soll die Grundrente durch die Anhebung des allgemeinen Bundeszuschusses zur Rentenversicherung. Damit soll die Grundrente vollständig aus Steuermitteln finanziert werden. Bundesarbeitsminister Heil und Bundesfinanzminister Scholz haben zugesichert, dass die Finanzierung sichergestellt wird; Stichwort „Finanztransaktionsteuer“. Wichtig ist, dass die Grundrente nicht zulasten der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler in der Rentenversicherung gehen darf. Ein weiterer wichtiger Punkt, der noch eine Klarstellung benötigt, ist die Prüfung des Bedarfs. Die Feststellung des Grundrentenbedarfs soll mittels einer Einkommensprüfung stattfinden. Ich bin jedoch weiterhin dafür, dass wir nach einer klugen Lösung suchen, wie auch Vermögen genauer berücksichtigt werden können. Auch wenn die große Mehrzahl der Empfänger die Grundrente völlig zu Recht erhalten wird, muss doch unser Anspruch sein, die Rente so passgenau wie nur irgendwie möglich zu konzipieren, damit diejenigen von den Neuerungen profitieren, die sie wirklich benötigen. Eine Bedarfsprüfung als falsch darzustellen, ist nicht gerecht – nicht gerecht gegenüber denjenigen, die mit ihrer Leistung, ihren Steuern die Finanzierung der Renten erst möglich machen, zumal es auch andere Renten gibt, bei denen der Anspruch nachgewiesen werden muss. ({0}) Ein weiterer Punkt, bei dem ich Verbesserungsbedarf sehe, ist die technische Umsetzung der Grundrente, die schon 2021 ausgezahlt werden soll. Die Deutsche Rentenversicherung braucht hierfür mehr Personal und neue digitale Lösungen, und das sehr schnell. Auch hier ist es also notwendig, nach klugen und pragmatischen Lösungen zu suchen. Dieses Ringen um den richtigen Weg sollte aber nicht – beabsichtigt oder unbeabsichtigt – als Ablehnung des Grundgedankens verstanden werden. Wir verdanken den älteren Mitbürgerinnen und Mitbürgern in Deutschland sehr viel. … Wer sein ganzes Leben gearbeitet hat, soll im Alter davon leben können. Das spiegelt unsere Überzeugung wider, und so stand es auch schon im Regierungsprogramm von CDU und CSU. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich noch einen letzten Punkt hinzufügen. Natürlich zeigt die Debatte über die Grundrente auch zwei der großen Herausforderungen, die wir im Arbeitsmarkt- und im Rentenbereich haben. Natürlich würden in einer idealen Welt alle so viel verdienen, dass sie keine weiteren Zuschüsse im Alter benötigen. Natürlich sollte unser Rentensystem sich möglichst über die Umlage finanzieren. Aber wir haben hier eine Realität vor uns, eine Schieflage, die auch durch gesellschaftliche und geschichtliche Umbrüche entstanden ist, ({1}) der Abhilfe geschaffen werden muss. Das Problem zu lindern, heißt ja nicht, die Ursachen aus dem Blick zu nehmen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, mit der Grundrente wird sich, auch wenn hier im parlamentarischen Verfahren noch Korrekturen und Klarstellungen erfolgen müssen, die Situation von über 1 Million Rentnerinnen und Rentnern in Deutschland verbessern. Es ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Vielen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Peter Weiß für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger! Zum Abschluss dieser Debatte, mit der die parlamentarischen Beratungen zur Grundrente erst beginnen, vielleicht noch mal zurück zu der Frage: Warum machen wir das Ganze? ({0}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich finde, es gibt seit vielen Jahrzehnten eine Schieflage, eine Ungerechtigkeit in unserem Land, und die lässt sich so zusammenfassen: Es kann doch nicht sein, dass Menschen, die ein Leben lang gearbeitet und in die Rente eingezahlt haben, die Kinder großgezogen haben, die gepflegt haben, am Ende ihres Berufslebens möglicherweise in einer Situation stehen, wo sie keinen Cent mehr bekommen als jemand, der überhaupt nie in dieses System eingezahlt hat. ({1}) So etwas untergräbt die Legitimation des Rentensystems und untergräbt auch die Bereitschaft, dort einzuzahlen. Deshalb haben wir schon in mehreren Legislaturperioden über Modelle unterschiedlichster Art diskutiert, um diesen Zustand zu beenden. Ich will für meine Fraktion sagen: Wir sind froh, dass wir jetzt auf dem Weg sind, diese Ungerechtigkeit auszubügeln. Wer ein Leben lang gearbeitet, gepflegt, Kinder großgezogen hat, der sollte an seinem Lebensabend mehr zur Verfügung haben als jemand, der diese Leistungen nicht erbracht hat. ({2}) Deswegen ist der erste Schritt, den wir mit diesem Gesetzentwurf machen, der, dass wir sagen: ({3}) Wer lange in die Rente eingezahlt hat und trotzdem wenig bekommt, weil er einen Job hatte, in dem er leider sehr wenig verdient hat, weil er zum Beispiel sein Arbeitsleben in den neuen Bundesländern zugebracht hat, in denen die Löhne sehr, sehr gering waren, dem sollte, wenn er am Schluss Grundsicherung im Alter beantragen muss, seine Rente nicht voll auf die Grundsicherung angerechnet werden müssen. Vielmehr regeln wir jetzt, dass bis zu 216 Euro monatlich obendrauf kommen. Das ist die klare Botschaft: Es hat sich gelohnt, dass du in die Rente eingezahlt hast. Du bekommst mehr, nämlich bis zu 216 Euro mehr als die Grundsicherung. ({4}) Das ist im Prinzip auch das, was wir im Koalitionsvertrag vereinbart hatten. ({5}) Nun kommt ein zweiter Punkt hinzu.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Weiß, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Birkwald? ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich hatte gedacht, er hat schon alles Pulver verschossen; aber bitte. ({0})

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Vielen Dank, Herr Kollege Weiß, dass Sie die Zwischenbemerkung respektive Zwischenfrage zulassen. Erstens – kurze Zwischenbemerkung –: Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass es die CDU/CSU war, die 1972 bei den Beratungen des Vorgängergesetzes „Rente nach Mindesteinkommen“ gefordert hatte, dass wegen der Situation der Frauen die notwendigen Rentenjahre auf 25 Jahre herabgesetzt werden sollten, und SPD und FDP dem gefolgt sind? Sind Sie weiter bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass es eine CDU-geführte Bundesregierung mit dem hochgeschätzten Rentenminister Norbert Blüm war, die die „Rente nach Mindestentgeltpunkten“ eingeführt hat, bei der es keinerlei Bedürftigkeits- und Einkommensprüfung gibt und von der heute noch 3,6 Millionen Menschen profitieren – Frauen im Westen durchschnittlich mit 79 Euro –, ({0}) wobei 2018 sogar 178 000 dazugekommen sind? Da würde ich Sie bitten, mir zu erklären, warum Sie das bei diesen beiden Regelungen in Ordnung finden und jetzt auf eine Einkommensprüfung bestehen. Zweite Frage. Heute hat mich ein offener Brief des Bündnisses gegen Altersarmut in Baden-Württemberg erreicht – Sie sind ja aus Baden-Württemberg –, dessen Vertreter auf die Frauen und auf die Heldinnen und Helden in der Coronakrise hinweisen und die sagen: Deshalb ist es wichtig, dass die parlamentarischen Beratungen beginnen und die „sogenannte Grundrente“ vor der Sommerpause im Bundestag verabschiedet wird. – Da gehören alle DGB-Gewerkschaften dazu, da gehört die Katholische Arbeitnehmer-Bewegung dazu, Frauenverbände, Sozialverbände, die Diakonie und auch die Caritas. Werden Sie dem Wunsch dieses breiten Bündnisses, dass die „sogenannte Grundrente“ vor der Sommerpause verabschiedet wird, nachkommen? ({1})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Birkwald, ich will, weil ich auch darüber damals schon mitverhandelt habe, freimütig bekennen: Ich hätte mir gewünscht, wir hätten uns bereits in der letzten Legislaturperiode nach langen Verhandlungen auf ein gemeinsames Modell einigen können. Ich hätte mir gewünscht, dass wir in der Zeit, in der Frau von der Leyen Bundesarbeitsministerin war, in der Zeit, in der wir zusammen mit der FDP lange über ein Modell verhandelt haben, zu einem Ergebnis gekommen wären. Deswegen bin ich, nachdem ich schon dreimal verhandelt habe, der Allererste, der sagt: Ich möchte, dass wir jetzt zum Erfolg kommen. Selbstverständlich! ({0}) Weil Sie die sogenannte Rente nach Mindestentgeltpunkten, auf die ich noch zu sprechen gekommen wäre, ansprechen, Herr Birkwald: Ja, es ist richtig: Wir haben in unserem Rentensystem eine tolle Regelung, die allerdings erst nachträglich eingeführt wurde, also nicht von vornherein bestand. 1992 hat der Deutsche Bundestag – damals war Norbert Blüm Arbeitsminister – beschlossen: Wir wollen niedrige Entgeltpunkte aus der Vergangenheit aufwerten. ({1}) Und bei der Antwort auf die Frage, warum man das für die Zukunft nicht fortgesetzt hat, stand im Mittelpunkt, dass leider auch dieses System nicht zielgenau ist. Wir möchten demjenigen helfen, der es nötig hat, seine Rente aufgewertet zu bekommen, aber nicht demjenigen, der sowieso schon ein gutes Einkommen hat; das ist nicht notwendig, Herr Birkwald. Das ist eine Frage der Gerechtigkeit, die bei einem solchen System mit bedacht werden muss. ({2}) Damit kann ich zu Punkt zwei überleiten. Der Bundesarbeitsminister und die SPD haben genau an dieses System der alten Rente nach Mindestentgeltpunkten anknüpfen wollen, indem künftig Folgendes geschieht: Wer trotz lebenslangen Einzahlens wenig Rente, also wenig sogenannte Entgeltpunkte, hat, dessen Rentenansprüche können aufgewertet werden.Das wird im Einzelfall dazu führen, dass jemand deutlich über der Grundsicherungsgrenze liegt, also des Freibetrages nicht bedarf. Es wird aber genauso zu vielen Fällen kommen, wo auch diese Aufwertung nicht dazu führt, dass man über dem Grundsicherungsbedarf liegt, ({3}) sondern wo man weiterhin auf die Freibetragsregelung, die ich vorgestellt habe, angewiesen ist. Das wird vor allen Dingen dort der Fall sein, wo jemand in Städten und Gemeinden lebt, in denen das Mietniveau sehr hoch ist. – Das zu sagen, gehört einfach zur Ehrlichkeit dazu mit Blick auf die vorliegende Konstruktion. ({4}) Der entscheidende Punkt, der für uns als Union dabei wichtig war, ist folgender: Wenn jemand aus anderen Quellen ein gutes Einkommen hat, zum Beispiel weil er Vermögen aufbauen konnte oder geerbt hat, dann ist er nicht zwingend darauf angewiesen, auch noch eine Aufstockung seiner Rente zu erfahren. Deswegen haben wir gemeinsam vereinbart, dafür klare Einkommensgrenzen zu setzen. Auch das ist ein Gebot der Fairness, der Gerechtigkeit. Es dient auch der Akzeptanz dieses Systems, ({5}) das denen gezielt hilft, die es nötig haben, und durch das diejenigen, die anderweitig gut gestellt sind, nicht auch noch zusätzlich eine Aufwertung von Rentenentgeltpunkten erfahren. Ich glaube, das ist eine richtige Lösung. Sie macht das System etwas komplizierter; das ist richtig. Aber, meine sehr geehrten Damen und Herren, Gerechtigkeit und Einfachheit – das ist manchmal ein Gegensatz. Deswegen werden wir versuchen, dafür einen vernünftigen Kompromiss zu finden. Darauf kommt es an. ({6}) Nun zur Frage: Wann tritt das in Kraft? ({7}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, schon der erste Debattenredner der Union, Hermann Gröhe, hat vorgetragen, was für uns wichtig ist. Das ist die Frage: Wie ist das finanziert? – Es geht dabei nicht um Verschiebungsdiskussionen, sondern es geht um was Wesentliches.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Weiß, Sie müssen zum Schluss kommen, damit wir in die parlamentarischen Beratungen eintreten können. ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Jawohl, sehr gut. ({0}) Wir haben den Bürgerinnen und Bürgern versprochen, dass wir die Mittel für diese Leistung nicht aus den Beiträgen der Rentenversicherung nehmen, sondern aus den Steuereinnahmen. Das ist auch richtig. Wir wollen gewährleistet haben, dass diese Finanzierung aus Steuern am Tag der Verabschiedung des Gesetzes endgültig feststeht. Darum geht es uns. Vielen Dank. Viel Spaß bei den parlamentarischen Beratungen! ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache.

Susanne Ferschl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004715, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir alle schauen täglich auf die Zahlen des Robert-Koch-Instituts. Aber was bislang kaum öffentlich wurde, ist: Über 11 000 Beschäftigte, die Covid-19-Patienten versorgen, haben sich mittlerweile selber infiziert, und 17 Beschäftigte sind daran verstorben. Alleine in den letzten sieben Tagen haben wir ein Plus von 1 100 Beschäftigten, die sich infiziert haben – völlig gegen den allgemeinen Trend. Statt diese Beschäftigten weiter zu belasten und zu überlasten, ist es dringend notwendig, die Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich auf sechs Stunden täglich zu reduzieren. ({0}) Warum? Erstens. Die Kolleginnen und Kollegen aus der Pflege berichten mir, dass es Schwerstarbeit ist, in diesen Schutzanzügen zu arbeiten. Man ist in kürzester Zeit durchgeschwitzt, und häufig fehlt dann auch noch das Material zum Wechseln. Zweitens. Die Erfahrungen in Wuhan haben eines deutlich gezeigt: Ab dem Moment, als die Schichten auf sechs Stunden reduziert wurden, starben weniger Patienten, und weniger Beschäftigte haben sich angesteckt. Erst diese konsequente Arbeitszeitverkürzung hat Patienten und Beschäftigte geschützt. ({1}) Bei uns findet genau das Gegenteil statt: Im Zuge der Pandemie kann per Verordnung in systemrelevanten Berufen die Arbeitszeit auf bis zu 12 Stunden täglich und 72 Stunden wöchentlich ausgeweitet werden. Schon allein aus Gründen des Arbeitsschutzes muss dieser Wahnsinn sofort beendet werden! ({2}) Deshalb sind die Pflegeberufe unverzüglich aus der Arbeitszeitverordnung herauszunehmen! ({3}) Aber die Arbeitszeit in der Pflege muss insgesamt reduziert werden. Ja, dafür benötigt man Personal. Das gewinnt man durch attraktive verbindliche Arbeitsbedingungen zurück. ({4}) Fast 400 000 Fachkräfte haben nämlich diesem schönen Beruf den Rücken gekehrt, und etliche haben sich in Teilzeit geflüchtet. Die Ursachen sind: schlechte Bezahlung, aber vor allem Überlastung. Um das zu ändern, reicht der Pflegebonus – der ist gut – nicht. Wir brauchen eine tarifliche Bezahlung, kürzere Arbeitszeiten und einen verbindlichen Personalschlüssel. ({5}) Die Arbeitszeit in der Intensivpflege muss also schnellstmöglich und für alle anderen bis nach Ende der Pandemie auf 30 Stunden pro Woche verkürzt werden. ({6}) Meine Damen und Herren, abschließend will ich Sie noch einmal daran erinnern: Das Arbeitszeitgesetz ist ein Schutzgesetz. Wenn Beschäftigte und Patienten in dem Maße gefährdet sind, dann muss der Staat eingreifen und diesen Schutz stärken. ({7}) Wir haben hier in diesem Hohen Haus – es ist noch gar nicht so lange her – den Pflegekräften stehend applaudiert. Aber das „Danke!“, das sich die Pflegekräfte von einem Parlament erwarten dürfen, sind gesetzgeberische Maßnahmen für bessere Arbeitsbedingungen. Vielen Dank. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Lothar Riebsamen für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Lothar Riebsamen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004135, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der Linken wendet sich gegen eine Verordnung, die auf der Grundlage der Änderung des Arbeitszeitgesetzes entstanden ist. Diese Verordnung beinhaltet, dass im Notstand, wenn Leben und Gesundheit von Patientinnen und Patienten in diesem Land in unseren Einrichtungen gefährdet sind, die Arbeitszeit ausgeweitet und die Ruhezeit verringert werden kann. Diese Regelung ist an sehr enge Bedingungen geknüpft: Es muss ein außergewöhnlicher Notfall vorliegen, oder die Funktionsfähigkeit des Gemeinwesens muss in Gefahr sein. Ja, in der Tat, das kann in diesen Coronazeiten vorkommen. Es kann vorkommen und kommt natürlich auch vor, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Gesundheitswesen selber in Quarantäne müssen, vielleicht Kinder betreuen müssen, weil der Kindergarten geschlossen ist, oder selber erkranken. Für solche Situationen brauchen wir diese Regelung. Ich kann nur sagen: Wenn es nicht eine der wichtigsten Aufgaben dieses Bundestags und der Bundesregierung ist, ({0}) in diesen Notzeiten zu handeln, dann weiß ich auch nicht. Wir haben unseren Eid darauf geschworen, Gefahren abzuwenden von unserer Bevölkerung, insbesondere natürlich von den Patientinnen und Patienten. So verstehen wir unsere Aufgabe in diesem Zusammenhang. ({1}) Was fordern die Linken? Sie wollen die Verordnung durchaus weitergelten lassen für alle anderen Berufe: für das ärztliche Personal, für das medizinisch-technische Personal, Physiotherapie usw., ({2}) nicht aber in der Pflege. In Ihrem Antrag fordern Sie auch noch die Bundesregierung auf, die Arbeitszeit um 25 Prozent auf 30 Stunden abzusenken; nach der Krise, ja. Wenn man den Antrag liest, ist man sich gar nicht mal so sicher, ob Sie das nicht gleich wollen; aber das haben Sie klargestellt: Das wollen Sie nach der Krise haben. ({3}) Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Das kann man wollen; aber jetzt, in dieser Situation, in der es eng wird in den Krankenhäusern und Pflegeheimen, ist der falsche Zeitpunkt. Ich bin sicher, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Pflege gerade jetzt, in der Not, helfen wollen; sie wollen nicht, dass die Ärzte und das andere Personal im Krankenhaus seine Arbeit macht und sie selber nicht. Das wollen sie nicht. ({4}) Sie wollen bessere Bedingungen; dazu komme ich noch, das ist auch richtig so. Aber in erster Linie wollen sie helfen. In Ihrem zweiten Antrag geht es darum, die Tarifparteien zu unterstützen, damit wir endlich zu Tarifverträgen in der Pflege kommen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Riebsamen, gestatten Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung des Kollegen Ernst?

Lothar Riebsamen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004135, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte erst mal fertig ausführen. – Zu Ihrem Antrag, in dem es um die Unterstützung der Forderung nach Tariflöhnen geht. Ja, da bin ich voll bei Ihnen. Wir haben am Mittwoch einen Antrag der Grünen beraten. Da habe ich auch schon gesagt, dass wir, dass unsere Fraktion voll dahinterstehen, dass Tarifverträge kommen. Wir haben im Koalitionsvertrag die Konzertierte Aktion Pflege ins Leben gerufen. Wir haben die Pflegekommission gestärkt. Ein wichtiges, wenn nicht sogar das wichtigste Ergebnis der Konzertierten Aktion Pflege ist, dass wir in der Pflege zu Tariflöhnen kommen. Deswegen haben wir letztes Jahr im November ein Gesetz für bessere Löhne in der Pflege vorgelegt und im Deutschen Bundestag beschlossen. Jetzt sage ich Ihnen mal, was Sie hätten tun können, damit es Tarifverträge gibt: Sie hätten diesem Gesetz zustimmen müssen. ({0}) Das wäre doch der richtige Weg gewesen, anstatt ein halbes Jahr später anzukommen und einen Antrag vorzulegen und zu fordern, man möge die Einführung von Tarifverträgen unterstützen. Ja, was soll das denn bedeuten? Ich habe wirklich den Eindruck, dass es Ihnen gar nicht um die Pflege geht; ({1}) sonst hätten Sie zugestimmt. Es geht Ihnen doch darum, sich jetzt, in dieser Situation, gegenüber den Beschäftigten in der Pflege zu profilieren. Das ist der einzige Grund, warum Sie diesen Antrag jetzt vorlegen. ({2}) Sonst hätten Sie dem Gesetz damals zugestimmt. ({3}) Ich möchte noch einen Satz zum Thema Mindestlohn sagen. Wir als Gesetzgeber können den Tarifvertrag nicht aushandeln; das wissen wir alle. Das müssen die Tarifpartner tun. Aber was wir machen konnten – das haben wir mit diesem Gesetz getan, zumindest mal als ersten Schritt –: Wir haben zum ersten Mal in der Geschichte einen gesetzlichen Mindestlohn für die voll ausgebildeten Pflegekräfte eingeführt, für diejenigen mit einer dreijährigen Ausbildung, und zwar in Höhe von 2 678 Euro im Monat bei einer 40-Stunden-Woche. Das entspricht in etwa dem Einstiegsgehalt einer Krankenschwester nach dem TVöD. Man kann sagen: Das hätte noch mehr sein können. ({4}) Ich bin froh, wenn der Tarifvertrag kommt und es mehr wird. Aber dass wir zum ersten Mal einen gesetzlichen Mindestlohn festgelegt haben, muss schon auch erwähnt sein. Im Rahmen dessen, was wir als Gesetzgeber auf die Schnelle machen können, hilft das zunächst einmal weiter. Zum Schluss sprechen Sie die Bürgerversicherung an. Und täglich grüßt das Murmeltier.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Riebsamen, Sie müssen den Schlusspunkt setzen.

Lothar Riebsamen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004135, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, ich komme zum Schluss. – Wir sind uns einig, dass wir ein gutes Gesundheitssystem haben, das sich in dieser Krise bewährt hat. Warum Sie dieses System ausgerechnet jetzt, nachdem es sich bewährt hat, abschaffen wollen, bleibt Ihr Geheimnis. Wir wollen das nicht. Herzlichen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich erteile dem Abgeordneten Klaus Ernst das Wort zu einer Kurzintervention.

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Riebsamen, ich muss noch mal nachhaken. Sie haben gesagt: Jetzt ist der falsche Zeitpunkt, die Arbeitszeiten in der Pflege deutlich zu verringern. – Meine Kollegin hat darauf hingewiesen, dass sich bei kürzeren Arbeitszeiten insbesondere die Zahl der Beschäftigten, die durch ihre Arbeit in der Pflege sterben, verringern würde. Man kann Ihrer Argumentation, zu sagen: „Jetzt geht es nicht“, möglicherweise folgen. Aber dann müssten Sie doch zumindest bereit sein, wenn die Krise vorbei ist, die Bedingungen in der Pflege so zu verändern, dass man Menschen, die diesen Beruf verlassen haben, weil sie es nicht mehr ertragen haben, wieder für diesen Beruf gewinnt. Ich habe mich selber davon überzeugt: Es gibt Beschäftigte, die in der Industrie arbeiten, die eigentlich Krankenschwester gelernt haben. Wenn Sie also sagen, das sei jetzt der falsche Zeitpunkt, dann müssen Sie sagen, wann für Sie der richtige Zeitpunkt ist. Das wäre eine interessante Frage. ({0}) Und, Herr Riebsamen, es wäre ganz wichtig, zu erfahren, ob es nicht sinnvoll wäre – wenn man diese Beschäftigten zurückgewinnen möchte –, jetzt ein Signal zu setzen im Hinblick auf die Bedingungen, die die Beschäftigten dann vorfinden: ob sie dann wieder vernünftig bezahlt werden und auch vernünftige Arbeitszeiten haben, in denen sie nicht der Gefahr ausgesetzt sind, selber bei der Pflege zu sterben. Dann müssen wir doch jetzt Anreize setzen, damit diese Beschäftigten wieder in den Pflegeberuf zurückkehren, anstatt so zu tun, als würde sich alles von selber regeln. Das alles machen Sie nicht. Deshalb sage ich: Diese Rede war vollkommen am Thema vorbei. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie haben das Wort zur Erwiderung.

Lothar Riebsamen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004135, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Ernst, entweder Sie haben mir nicht zugehört, oder Sie wollten mir nicht zuhören. ({0}) Ich habe Ihnen klar gesagt, dass wir einen Tarifvertrag in der Pflege wollen, dass wir dazu sogar ein Gesetz gemacht haben, damit dieser Tarifvertrag endlich kommt. Und ich habe Sie gefragt: Warum haben Sie diesem Gesetz nicht zugestimmt? Denn im Tarifvertrag regelt man genau die Dinge, die für die Pflege wichtig sind: Arbeitszeiten, Löhne. All das wollten Sie nicht. Sie haben, wie gesagt, dem Gesetz nicht zugestimmt. Ich gehe davon aus, dass wir alsbald zu einem Tarifvertrag kommen. Wir haben mit diesem Gesetz Druck ausgeübt. Wir üben Druck aus; Sie appellieren nur: Macht doch bitte einen Tarifvertrag. – Wir machen ein Gesetz, üben Druck aus und wollen diesen Tarifvertrag. Mit diesem Tarifvertrag werden wir auch die Dinge, die für die Pflege notwendig sind, erreichen. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Detlev Spangenberg für die AfD-Fraktion. ({0})

Detlev Spangenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004898, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! „Arbeitszeitverkürzung in der Pflege – Sechs-Stunden-Schichten retten Leben.“ Ja! Meine Damen und Herren, keiner in diesem Hohen Haus wird auch nur in Ansätzen die gewaltige Arbeit dieser von Ihnen benannten Berufsgruppe infrage stellen. Die Arbeitszeitverordnung legt in den §§ 3 und 6 die Erhöhung in besonderen Situationen fest. Früher waren es zehn Stunden, jetzt sind es zwölf; allerdings sind es bis zu 60 Stunden pro Woche; die 72 Stunden, die Sie erwähnt haben, sind ja noch mal eine besondere Situation. Das nur zur Korrektur. Die Verordnung zur Abweichung infolge der Covid-19-Epidemie erhöht das somit auf zwölf Stunden, § 1 Absatz 1 Satz 1. Im § 2 werden dann umfassend die Berufe aufgeführt und in Absatz 2 Nummer 2 die Pflege und Betreuung. Alles, wie gesagt, begrenzt auf die eben genannten Stunden. Das gilt für Energie, Landwirtschaft, Sicherheit, Ordnung, Apotheken, Medizinprodukte, Transport usw., usw. Meine Damen und Herren, das ist ein ganz klassischer Schaufensterantrag, ({0}) oder in Ihren Worten, meine Damen und Herren: Es ist ein populistischer Antrag. Sie benutzen doch immer so gerne das Wort „populistisch“. Sie fordern dazu auf, ungenutztes Potenzial in Deutschland für die Pflege zurückzugewinnen. Diese Forderung hat die AfD schon längst aufgestellt. Sie haben immer dagegengestimmt, weil Sie aus Ihrer Ideologie gar nicht herauskommen, meine Damen und Herren. ({1}) – Das sagt genau der Richtige, lieber Kollege. Sie haben doch gar keine Ahnung von dem Thema. ({2}) Sie stellen fest – hören Sie mal auf; jetzt will ich mal eine ganz weise Feststellung von Ihnen vortragen –, dass eine Schicht, die kürzer ist als zwölf Stunden, besser ist für das beschäftigte Personal – eine weise Feststellung. Da sind wir ja alle überrascht. Also, das ist eine ganz tolle Einsicht, meine Damen und Herren. Aber jetzt noch mal zurück: Diese Ausnahme gilt doch nur entsprechend der Covid-19-Verordnung vom 7. April, begrenzt für eine besondere Situation. Also, das ist eine Ausnahmeregelung für alle im § 1 aufgeführten Tätigkeiten. Das heißt, Ihr Antrag passt doch gar nicht zu der Regelung. Die Forderung, die Sie stellen, müssen Sie doch unabhängig davon stellen. Sie wollen doch eine generelle Arbeitszeitverkürzung und keine Arbeitszeitverkürzung in dieser besonderen Situation. Wir brauchen doch die Leute. Was wollen Sie denn machen, wenn die Situation eintritt, wenn zum Beispiel ein Unwetter oder Ähnliches kommt? Dann müssen die Leute doch ran. Das ist dann nun einmal eine Einschränkung für alle. So bringen Sie diesen Antrag aber nicht ein. Das hätten Sie zwar machen können, Sie wollen aber natürlich demonstrieren, dass Sie die große Fürsorgepartei sind. Was ist denn mit den anderen Berufsgruppen? Die interessieren Sie nicht! Das ist im Moment nicht aktuell. Das hat keine ideologische Wirkung. Deshalb nehmen Sie sich nur die Pflegekräfte heraus; ganz klar. Also: Wenn es eine Arbeitszeitverkürzung geben soll, dann muss diese unabhängig von der jetzigen Situation gelten. Wenn Sie hier allein die Berufsgruppe Pflegepersonal benennen, können sich andere Berufsgruppen natürlich hintangestellt fühlen. Ich frage Sie: Was ist mit den Kraftfahrern, die tagelang in ihren Kojen an den Grenzen festhängen? Was ist mit den Polizisten und den Beschäftigten in der Landwirtschaft? Die interessieren Sie nicht. Sie sind im Moment nicht Thema. Wenn Sie eine derartige Verkürzung der Regelarbeitszeit fordern, müssen Sie auch etwas zur Finanzierung sagen; denn Lohneinbußen dürften wohl kaum im Sinne der Beschäftigten sein und bei ihnen gut ankommen. In Ihrer Begründung fordern Sie die Umsetzung nach Beendigung der Coronakrise; das ist für mich der größte Widerspruch. In dieser Zeit sind sie doch gerade belastet; da müssten Sie doch sofort sagen: Jetzt muss es geändert werden; jetzt haben sie zwölf Stunden.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss!

Detlev Spangenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004898, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Das machen Sie aber nicht. Nach der Krise wollen Sie das machen. Das, was Sie in Ihrem Antrag fordern, ergibt doch gar keinen Sinn. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Spangenberg, kommen Sie zum Schluss, bitte!

Detlev Spangenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004898, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Also – letzter Satz –: Meine Damen und Herren, dieser Antrag ist zusammengeschustert, ohne finanzielle Absicherung, ohne Beachtung anderer Berufsgruppen, allein um Anerkennung zu erhalten. Wenn Sie wirklich etwas für diese Menschen tun wollen, hätten Sie das schon lange beantragen können oder die AfD unterstützen können. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Nächste Rednerin ist die Kollegin Heike Baehrens, SPD-Fraktion. ({0})

Heike Baehrens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Pflegebonus für alle in der Langzeitpflege ist hoch verdient und ein starkes Signal in Ausnahmezeiten; aber Pflege verdient mehr. ({0}) Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, freue ich mich sehr, dass Sie meine Rede, die ich hier in der letzten Woche an diesem Pult gehalten habe, sehr ernst genommen ({1}) und in Ihrem Antrag fast wortwörtlich aufgenommen haben. ({2}) Ich wiederhole es gerne: Ein Bonus ist gut, aber echte Anerkennung wird es erst geben, wenn sich alle auf eine gute tarifliche Bezahlung und bessere Arbeitsbedingungen verlassen können. ({3}) Denn die Leistung erbringen die Menschen, die in der Pflege tätig und auf die in diesen Coronazeiten alle Scheinwerfer gerichtet sind, immer – 24 Stunden am Tag, 7 Tage in der Woche, 365 Tage im Jahr. Es ist gut, dass diese Leistung jetzt auch wahrgenommen wird; denn sie wird mit viel Empathie, mit hoher Fachlichkeit, aber eben auch mit viel Druck im Kessel erbracht. Deshalb wollen wir die Pflege stärken; das haben wir vor Corona getan, und das werden wir in der nächsten Zeit genauso konsequent weiter verfolgen. ({4}) Sie fordern in Ihrem Antrag die Bundesregierung auf, die Tarifpartner zu unterstützen. Das hat die Bundesregierung schon getan, und wir haben es hier, in diesem Parlament, beschlossen. Herr Riebsamen hat es eben noch einmal dargelegt. Der Gesetzesrahmen, um eben tatsächlich zu ordentlichen Tarifverträgen in der Pflege zu kommen, ist von uns geschaffen worden. Jetzt sind die Tarifpartner gefragt, das auch umzusetzen. ({5}) Aber was die meisten Pflegekräfte sich am allermeisten wünschen, sind mehr Kolleginnen und Kollegen. Deshalb haben wir Fachleute beauftragt, uns Vorschläge zu machen. Das Gutachten von Professor Rothgang zu einem neuen Personalbemessungsinstrument liegt vor. Solche bedarfsgerechten Personalschlüssel müssen jetzt kommen; denn es sind wesentlich mehr Kräfte nötig. Das ist bei diesem Gutachten herausgekommen. Dass die politische Umsetzung schnell eingeleitet werden muss, werden wir auch in Coronazeiten nicht vergessen. Aber ich muss auch sagen: Ich habe hohen Respekt vor dem, was aktuell im Bundesgesundheitsministerium geleistet wird, und habe deshalb auch Verständnis, dass dieses Thema ein bisschen zurückgestellt wurde. Ich möchte aber heute an den Herrn Minister appellieren – ich hoffe, dass der Herr Staatssekretär das so mitnimmt –: Ja, wir müssen über die Ergebnisse dieses Gutachtens zeitnah reden; denn wir brauchen tatsächlich bessere Personalschlüssel in der stationären Pflege. ({6}) Sie haben in Ihrem Antrag das Thema „private Anbieter“ besonders herausgehoben. Ja, ich glaube, es ist wichtig, dass wir uns klarmachen: Wir müssen Unterschiede machen zwischen denen, die freigemeinnützig arbeiten und damit die Verpflichtung haben, Überschüsse, die sie erwirtschaften, wieder in die Pflege hineinzustecken und damit die Qualität der Pflege zu verbessern, und denen, die als private Anbieter tatsächlich auch Gewinne an Investoren ausschütten können. Letzteres sehen wir kritisch; denn Renditen dürfen nicht auf Kosten von Pflegebedürftigen oder Beschäftigten erwirtschaftet werden. Zu Ihren pauschalen Forderungen, die Sie hier geäußert haben, etwa dass sich alle Privaten an den Bonuszahlungen beteiligen sollten, muss ich Ihnen sagen: Das funktioniert so nicht. Das wäre nicht verfassungskonform und in dieser Form auch nicht gerechtfertigt. Denn viele kleine inhaberbetriebene Einrichtungen und vor allem auch ambulante Dienste, die mit viel Herzblut und oft unter Einsatz der ganzen Familie Pflege leisten, haben genauso wenig Rücklagen wie freigemeinnützige, und auch sie arbeiten aktuell unter enormer Belastung daran, die Versorgung pflegebedürftiger Menschen bei uns im Land aufrechtzuerhalten. Nein, sie können den Bonus nicht zusätzlich stemmen. Deshalb fordern wir von den Bundesländern, dass sie tatsächlich diese 500 Euro übernehmen. Bund und Land, Hand in Hand und steuerfinanziert – das ist richtig für diesen Pflegebonus. ({7}) Aber – das will ich auch noch sagen und damit an den Arbeitgeberverband des Bundesverbands privater Anbieter sozialer Dienste appellieren –: Große kapitalgetriebene Pflegeketten sollten, bevor sie Renditen an Anleger ausschütten, die Leistungen ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anständig honorieren – jetzt mit der Coronaprämie, aber danach endlich, indem sie anständige Löhne zahlen und Tarifverträge schließen, und zwar für alle Beschäftigten in der Pflege, nicht nur für die Pflegekräfte. ({8}) Ich komme zum Schluss. – Pflege ist ein wesentlicher Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge. Deshalb arbeiten wir als SPD mit aller Kraft an guten Tarifbedingungen: für mehr Personal und vor allem für gute Arbeitsbedingungen in der Pflege; denn das verdient die Pflege. Vielen Dank. ({9})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Wieland Schinnenburg, FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Wieland Schinnenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004874, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine Damen und Herren! In diesen Tagen kann man oft hören: Die Pflegekräfte sind die Helden der Coronapandemie. – Das stimmt. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Die Pflegekräfte sind schon seit Langem die Helden. Schon lange vor Corona haben sie eine tolle Arbeit geleistet. Im Namen der Freien Demokratischen Partei möchte ich mich ausdrücklich bei allen Menschen bedanken, die in der Pflege arbeiten. Sie machen eine tolle Arbeit und sind systemrelevant. Vielen Dank dafür. ({0}) Meine Damen und Herren, ich habe fünf Jahre als Zahnarzt in einem Pflegeheim Bewohner betreut. In dieser Zeit habe ich sehr genau kennengelernt, wie es dort zugeht. Dort wird sehr harte Arbeit geleistet, sowohl körperlich hart als auch seelisch hart, weil man mit Menschen zu tun hat, denen es nicht gut geht. Die Menschen, die dort arbeiten, werden von Bürokratie belastet. Immer mehr Energie wird nicht auf die Pflege verwendet, sondern aufs Häkchenmachen. Aber, meine Damen und Herren, ich habe festgestellt, dass man aus dem Pflegeberuf auch schöne Dinge ziehen kann. Ich persönlich habe es noch nie erlebt, dass mich ein Computer dankbar angelächelt hat. Ich habe aber schon oft erlebt, dass Menschen, denen es schlecht ging, mich dankbar angelächelt haben, nachdem ich ihnen geholfen habe. Deshalb, meine Damen und Herren: Lassen Sie uns den Beruf des Pflegers nicht schlechtmachen! Das ist ein toller Beruf, der unsere Unterstützung verdient. Das muss immer wieder deutlich gemacht werden. ({1}) Ansonsten müssen wir uns nicht wundern, wenn ihn keiner aufnimmt. Die FDP hat wiederholt, insbesondere durch die Kollegin Westig, hier und anderer Stelle Vorschläge gemacht, wie wir den Menschen in der Pflege konkret helfen können. Hier ist nicht die Zeit, noch mal alle aufzuführen. Lassen Sie mich daher nur drei Punkte nennen. Erstens. Der Bürokratieabbau. Menschen, die Pfleger werden wollten, haben das nicht deshalb entschieden, weil sie Formulare ausfüllen wollen, sondern weil sie Menschen helfen wollen. ({2}) Darauf müssen wir zurückkommen: dass die Menschen wieder das tun können, was sie eigentlich tun wollten. ({3}) Zweitens. Wir müssen den Personalmangel bekämpfen. Die FDP fordert seit Jahren ein echtes Einwanderungsgesetz. Das bezieht sich nicht nur auf die Pflege, sondern auf alle Berufe, aber eben auch auf die Pflege. Die Bundesregierung wartet. Bis heute ist sie nicht in der Lage. Wir brauchen endlich ein Einwanderungsgesetz. Dann helfen wir auch den Menschen in der Pflege. ({4}) Der dritte Punkt. Wir müssen die stationäre Pflege entlasten. Das können wir dadurch tun, dass Menschen länger zu Hause bleiben. Dazu brauchen wir entsprechende Technologie; aber vor allem brauchen wir eine verlässliche Kurzzeitpflege. Solange wir die nicht haben, werden wir Menschen viel zu früh in die stationäre Pflege geben und diese überlasten. Lassen Sie uns für eine vernünftige und verlässliche Kurzzeitpflege sorgen, meine Damen und Herren. ({5}) Dies sind alles vernünftige Vorschläge, und noch viele mehr gibt es. Dann kommt der Antrag der Linken, meine Damen und Herren. Ich bin bestürzt über das, was darin steht. ({6}) Sie fordern ernsthaft angesichts des Personalmangels eine Arbeitszeitreduzierung auf 30 Stunden, ({7}) natürlich mit vollem Lohnausgleich. Dass Sie nicht über Kosten reden, das kennen wir von Ihnen; das lasse ich einmal weg. Ich frage mich nur: Was ist die Folge einer 30-Stunden-Woche von Pflegekräften? Entweder eine enorme Arbeitsverdichtung für die Menschen, die dort arbeiten; das wollen wir doch nicht ernsthaft. Oder Patienten bleiben unversorgt. Meine Damen und Herren, wir als FDP lehnen beides ab. ({8}) Dann fordern Sie ernsthaft eine Gewinndeckelung für private Anbieter. Das ist absolut kontraproduktiv. Ich möchte erreichen, dass es interessant ist, Geld in Pflegeeinrichtungen zu investieren. Wenn Sie eine Gewinndeckelung einführen, geht das Geld woandershin. Die Folgen wollen Sie doch nicht ernsthaft, meine Damen und Herren. Das hört sich sozialistisch gut an, ist aber absolut kontraproduktiv.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Schinnenburg, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus der Fraktion Die Linke?

Dr. Wieland Schinnenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004874, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte schön. Von wem?

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin Ferschl.

Susanne Ferschl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004715, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Danke, Kollege Schinnenburg, dass Sie die Frage zulassen. Sie haben gerade darauf hingewiesen, dass Sie unseren Antrag insbesondere zum Thema Arbeitszeitverkürzung ablehnen. Ich möchte Folgendes fragen: Sie haben ja die Zahlen gehört und wahrgenommen, dass es eine Zunahme der Infektionen insbesondere im Pflegebereich gibt: Menschen, die Patientinnen und Patienten in der Intensivpflege, die an Corona erkrankt sind, pflegen, infizieren sich selber. Sie haben auch von den Erfahrungen in Wuhan gehört. Das sind übrigens keine neuen Erfahrungen, weil es auch schon andere Studien gibt, die belegen, dass sowohl die Gesundheit der Patienten profitiert als auch natürlich die Gesundheit der Pflegekräfte, wenn die Arbeitszeit sich reduziert. Dazu gibt es Erfahrungen in Schweden mit Modellprojekten; in Österreich wird über eine Arbeitszeitverkürzung diskutiert. Wenn Sie diese beiden Erkenntnisse haben, dass die längere Arbeitszeit zu mehr Infektionen beim Pflegepersonal führt, was ist denn dann Ihre Antwort darauf, wie Sie damit umgehen wollen? Da können Sie doch nicht tatenlos zusehen, wie die Arbeitszeit verlängert wird. Dann machen Sie bitte einen konkreten Vorschlag, wie Sie mit dieser Situation umgehen. ({0})

Dr. Wieland Schinnenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004874, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin, zunächst einmal bin ich sehr dafür, alle Maßnahmen zu ergreifen, die sowohl Patienten als auch Pflegepersonal schützen. Da gibt es eine ganze Menge Möglichkeiten. ({0}) Das ist der erste Punkt. Der zweite Punkt. Es wäre ja schön, die Arbeitszeit zu reduzieren, wenn wir 50 000 Pfleger auf der Straße stehen hätten, die wir einstellen könnten, um die Lücken zu schließen; dann können wir das vielleicht machen. Es gibt aber jetzt einen großen Personalmangel. Dann zu sagen: „Wir kürzen die Arbeitszeit der wenigen, die da sind“, das ist absolut kontraproduktiv und nützt übrigens auch nichts bei der Frage des Schutzes vor Infektionen. Das ist völlig falsch. ({1}) Meine Damen und Herren, der dritte Punkt, den ich erwähnen wollte: Sie kommen ernsthaft auf die Idee, eine Einheitsprämie, eine Coronaprämie, zu zahlen. Die vollzeitbeschäftigte Fachpflegekraft soll das Gleiche erhalten wie die teilzeitbeschäftigte Reinigungskraft. Ja, das gab es noch nicht einmal in der DDR, diese Einheitslöhne. Das ist doch absolut kontraproduktiv. Sagen Sie das einmal einer Fachkraft! Die werden Ihnen was dazu erzählen, wenn sie so gleichbehandelt werden sollen. Auch diesen Punkt lehnen wir ab. Ich fasse zusammen. Was die Menschen in der Pflege brauchen, sind konkrete Hilfen. Was sie nicht brauchen, sind linke Eiferer, die sie vor ihren Karren spannen wollen. ({2}) Um es kurz zu sagen: Die Menschen in der Pflege brauchen die FDP, aber nicht die Linken. Vielen Dank, meine Damen und Herren. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Das stimmt, das entscheiden die Wählerinnen und Wähler. Insofern ist diese Aussage in sich selbst konsistent. Die nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist die Kollegin Dr. Kirsten Kappert-Gonther. ({0})

Dr. Kirsten Kappert-Gonther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004773, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Hätten wir ahnen können, dass die Situation in der Pflege im Frühjahr 2020 so explodiert? Nein, weil die Coronakrise nicht vorhersehbar war? Falsch! Jede und jeder konnte wissen, dass die Pflege schon vorher an ihrem Limit war, oft über die Schmerzgrenze der Pflegenden hinaus, und das zulasten der Pflegenden und der zu Pflegenden. In der Woche des International Nurses Day, im WHO-Jahr der Pflegenden und der Hebammen, ist die Situation zugespitzter denn je. Das darf so nicht bleiben. ({0}) Ist denn jetzt überhaupt der richtige Zeitpunkt, um über die Arbeitsbedingungen zu sprechen? Ja, genau jetzt; ja, weil Arbeitsschutz Gesundheitsschutz ist; ({1}) ja, weil Pflegekräfte gerade alle Hände voll zu tun haben, aber ihre Arbeit so sein muss, dass sie nicht krank werden. Längeres Arbeiten, Kollege Schinnenburg, ist hier kontraproduktiv. Das gilt in der Pflege wie übrigens auch im Supermarkt. ({2}) Darum ist diese Arbeitszeitverordnung, die Pausen und Ruhezeiten reduziert, so schädlich. Sie gehört nicht nur ausgesetzt, wie Sie das von den Linken vorschlagen, sondern grundsätzlich gestrichen. Wir brauchen sie nicht! Jeder und jede, die schon einmal in einem Krankenhaus oder in einem Pflegeheim gearbeitet hat, weiß, dass die Pflegenden nicht einfach alles fallen lassen und weggehen, wenn da jemand in Not ist. Das aktuell geltende Arbeitszeitgesetz ist flexibel genug, um diese Notsituation abzudecken. Die Arbeitszeitverordnung brauchen wir aber nicht. Sie gehört grundsätzlich gestrichen. ({3}) Zudem müssen wir im Gesundheitswesen endlich dazu übergehen, auf Augenhöhe miteinander zu arbeiten. Die Expertise der professionellen Pflege muss stärker Gehör finden. Da möchte ich auf drei Dinge hinweisen, die in den Anträgen der Linken nicht adressiert sind, die aber entscheidend dafür sind, um die Pflege zu stärken. Das Erste ist das Thema Eigenverantwortung. Heilkundliche Aufgaben wie die Wundversorgung können und sollten Pflegefachpersonen eigenverantwortlich übernehmen. Es macht überhaupt keinen Sinn, da noch eine Ärztin zu fragen, die die Wunde möglicherweise gar nicht gesehen hat. Zweitens: Personalbemessung. Es ist hier schon angeklungen: Die Personalschlüssel in der Alten- und Krankenpflege müssen sich am tatsächlichen Pflegebedarf der Menschen ausrichten. ({4}) Drittens. Gestärkt wird die professionelle Pflege durch die Einrichtung einer Pflegekammer. Die professionelle Pflege braucht endlich eine starke Stimme der Interessenvertretung, gegenüber der Politik und in den Entscheidungsgremien des Gesundheitswesens. Da wünsche ich mir, dass Die Linke endlich diese Forderung mit unterstützt. ({5}) Die Grünenfraktion hat allein in dieser Legislatur 45 Anträge zur Pflege in den Bundestag eingebracht – viele Ideen, viele Konzepte. Die Verbesserungen müssen dauerhaft angelegt sein und weit über eine Einmalprämie hinausgehen; wobei wir bei der Forderung nach einer Einmalprämie gar nicht weit weg sind von den Linken: Auch wir fordern eine coronabezogene Prämie für das Personal, das besonderen Risiken im Kontakt mit Covid-19-Patientinnen und -Patienten ausgesetzt ist. Es ist wirklich ein Reinfall, dass die Bundesregierung nicht wenigstens den Coronabonus fair ausgestaltet hat. Nicht einmal die volle Höhe von 1 500 Euro ist gesichert; das ist deutlich zu wenig. ({6}) Das A und O aber ist, dass die Vergütung dauerhaft erhöht wird und die Arbeitsbedingungen dauerhaft verbessert werden. Es braucht endlich eine flächendeckende tarifliche Bezahlung in der Altenpflege und einen allgemeinverbindlichen Tarifvertrag. ({7}) Ich finde es beschämend, wenn hier immer noch die ganze Diskussion über Mindestlöhne geführt wird. Diese sind viel zu gering. Wir alle wissen, wenn wir über Mindestlöhne reden, dass das ganz leicht das ist, was dann auch wirklich bezahlt wird. Das geht so auch nicht weiter. ({8}) Bei der Frage der Arbeitszeit muss die Zeitsouveränität der Beschäftigten ganz oben auf der Agenda stehen. Die Regelarbeitszeit wollen wie Grüne im Übrigen in allen sozialen Berufen auf 35 Stunden als neue Vollzeit verkürzen. Damit Pflegekräfte nicht mehr wegen Überlastung ihren Beruf aufgeben, sondern im Gegenteil mehr junge Menschen Lust bekommen, die professionelle Pflege zu wählen, braucht es diese skizzierten Maßnahmen. 80 Prozent der Beschäftigten in Care-Berufen sind übrigens Frauen. Bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne sind also auch eine Frage der Gleichstellung und ein zutiefst feministisches Anliegen. ({9}) Die Bundesregierung muss endlich Butter bei die Fische geben: erstens bessere Bezahlung in der Pflege, zweitens kürzere Arbeitszeiten und mehr Zeitsouveränität, drittens mehr Pflegepersonen, stationär und ambulant, und viertens auf die Expertinnen hören. Pflegende müssen ihren Beruf selbst gestalten und mitbestimmen können. Wir freuen uns auf die Diskussion über Ihre Anträge im Ausschuss. Wir finden – ich habe es eben skizziert –: Da geht noch mehr. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit, auch im Namen meiner Kollegin Kordula Schulz-Asche, unserer wunderbaren pflegepolitischen Sprecherin. ({10})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Kappert-Gonther. – Nächster Redner ist der Kollege Erich Irlstorfer, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Erich Irlstorfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004311, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Antrag von den Linken zeigt, ({0}) dass wir grundsätzlich eine andere Ausrichtung haben. Sie haben in Ihrem Antrag die Verordnung zum Arbeitszeitgesetz angegriffen. Ich kann Ihnen nur sagen: Es ist in einer solchen Notsituation nicht richtig, eine Verordnung anzugreifen, die die Möglichkeit bietet, wenn es notwendig ist, wichtige Maßnahmen in die Praxis umzusetzen. ({1}) Wir sind uns doch alle einig, dass wir nicht über einen Dauerzustand sprechen. Die Verordnung wollen wir nicht auf Dauer. Das ist auch gar nicht das Thema. Wir haben jetzt die Aufgabe, die Krise ordentlich zu organisieren. Völlig klar ist: Auch wir wollen, dass die Mitarbeiter geschützt werden. Außerdem ist Mitarbeiterschutz gleichzeitig Patientenschutz. Keiner ist gegen Mitarbeiterschutz, auch wir nicht. Aber wir müssen an die Struktur heran. Diese Regierungskoalition hat schon einiges auf den Weg gebracht. Da Sie auf dem Tarifrecht und dergleichen herumreiten: Ich kann nur das wiederholen, was Lothar Riebsamen hier ausgeführt hat. Wir waren in dieser Regierung diejenigen, die den Druck erhöht und Fakten geschaffen haben, sodass jetzt verhandelt werden kann. Alles Weitere ist nicht mehr die Aufgabe der Politik. Wir haben die entsprechende Vorarbeit geleistet. Was wir auf den Weg gebracht haben, ist richtig. Viele von Ihnen wollen einen Systemwechsel. Sie, verehrte Kollegin von den Grünen, beschreiben immer nur Probleme, aber Sie bringen keine wahren Lösungen herbei. ({2}) Es führt zu keiner Lösung, zu sagen, was vielleicht sein könnte. Nein, wenn es um die Arbeitsbedingungen in der Pflege geht, müssen wir uns im Klaren darüber sein, dass der Teufel im Detail steckt, ob in der Kinderkrankenpflege, in der Altenpflege oder in den Krankenhäusern. Deshalb nützt es in meinen Augen nichts, herzugehen und das, was auf den Weg gebracht worden ist, einfach wegzuwischen und im Endeffekt Zustände anzuprangern und Forderungen aufzustellen, die nicht relevant sind. Ich finde es gut – das ist Gott sei Dank auch angeklungen –, dass wir im Bereich der Krankenhäuser durch höhere Kapazitäten in der Kurzzeitpflege, aber auch in der Tagespflege wirklich etwas bewegen können. Wir haben das auf dem Schirm. Es geht uns um die Mengen, weil wir wissen, dass die Pflege ein Zukunftsmarkt ist, da die Menschen Gott sei Dank immer älter werden. Dafür müssen wir ein Fundament schaffen, das tragfähig und ordentlich finanziert ist. Sie haben das Thema Mindestlöhne angesprochen. Wie der Begriff „Mindestlohn“ schon sagt: Das heißt nicht, dass ein Arbeitgeber seinem Arbeitnehmer nicht auch mehr bezahlen darf. Ich sehe es als Erfolg, dass wir in einem ersten Schritt die Ebene Mindestlohn eingezogen haben. Aber das heißt nicht, dass man das nicht fortschreibt und den Mindestlohn nicht kontinuierlich erhöht. Wir wissen, dass Menschen, die in der Pflege arbeiten, gesuchte Leute sind. Wir werden erleben, dass diejenigen, die ihren Betrieb aufrechterhalten wollen, mehr für Leistungen werden zahlen müssen. Wir werden auch erleben, dass diejenigen Betriebe, denen es im Endeffekt nicht gelingt, die entsprechenden Bedingungen zu schaffen, von den Menschen, die in diesem Beruf arbeiten, nicht so hoch frequentiert werden wie andere und ihren Laden schließen können. Wir wollen ordentliche Bedingungen; denn ordentliche Arbeitsverhältnisse zahlen sich in der Qualität der Leistungen aus. Ich bin mir sicher, dass wir mit den von uns gesteckten Rahmenbedingungen im Bereich Ausbildung und Weiterbildung auf dem richtigen Weg sind. Das passt, das ist gut, und das lassen wir uns nicht immer wieder schlechtreden oder zerschießen – zumindest wird der Versuch gemacht –, indem es heißt: Es ist alles schlecht; wir machen alles verkehrt. Das stimmt nicht. Wir sind hier auf dem richtigen Dampfer, und ich bin mir sicher, dass wir weiterhin Verbesserungen erzielen. Wir nehmen viel Geld in die Hand, aber Geld allein reicht nicht. Es ist schön, dass durch die Durchlässigkeit im System junge Menschen aus den verschiedensten Schultypen für die Pflege begeistert werden.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.

Erich Irlstorfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004311, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das ist unser Ziel und unsere Aufgabe. Herzlichen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Irlstorfer. – Nächster Redner ist der Kollege Martin Sichert, AfD-Fraktion. ({0})

Martin Sichert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004892, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir Bundestagsabgeordnete haben eine Vorbildfunktion und eine gewaltige Verantwortung gegenüber 83 Millionen Menschen in Deutschland. Je länger ich diesem Parlament angehöre, umso mehr habe ich das Gefühl, dass den meisten von Ihnen diese Verantwortung leider nicht bewusst ist. ({0}) Knapp 100 Milliarden Euro Steuereinnahmen fehlen allein in diesem Jahr durch die von der Regierung verursachte Wirtschaftskrise. Das sind über 2 000 Euro, die jeder Steuerzahler extra zahlen werden muss. Machen wir uns nichts vor. Es gibt nur zwei Lösungen: entweder noch höhere Steuern, wie es die SPD heute vorschlägt, oder eine Ausweitung der Geldmenge, bei der die Bürger durch Entwertung des Geldes in Form einer Inflation zahlen. So oder so sind immer die fleißigen Werktätigen die Dummen; denn jeder Cent, den wir hier ausgeben, muss von diesen erst erwirtschaftet werden. ({1}) Aber wir reden hier im Bundestag ständig darüber, wie man noch mehr Steuergeld ausgeben kann. Hier sind es nun die Linken, die, wie übrigens auch die Grünen und die Regierung, den Beschäftigten im Gesundheitswesen eine Einmalzahlung auf Kosten der Steuerzahler geben wollen. ({2}) Immer mehr Geld auszugeben, obwohl wir schon die höchste Steuer- und Abgabenlast weltweit – ich betone: weltweit – haben, ist absolut verantwortungslos. Wenn Sie die Leistungsträger noch mehr schröpfen, werden noch mehr das Land für immer verlassen und unser Wohlstand geht mit diesen Leistungsträgern. ({3}) Sie ruinieren mit Ihrer Politik Deutschland und stürzen Millionen in Armut. Das ist absolut verantwortungslos. ({4}) Genauso wie übrigens der Umgang mit den Pflegekräften. Sie reden hier alle von Schutz, von Respekt und von Würdigung, aber Ihr Verhalten ist absolut respektlos. Kaum ein Abgeordneter der Parteien, die den Menschen Mundschutz verordnen, trägt selbst einen, und den Mindestabstand hält auch kaum einer ein. ({5}) Gestern haben Sie es auf die Spitze getrieben. Zur ersten namentlichen Abstimmung haben Hunderte Abgeordnete Gruppenkuscheln in der Abgeordnetenlobby gespielt. Einen Mindestabstand hat da niemand eingehalten. Von den circa 300 Abgeordneten, die sich auf engem Raum drängten, trugen vielleicht zehn einen Mundschutz. ({6}) Es gibt für dieses Verhalten nur zwei mögliche Antworten: Entweder haben Sie überhaupt keinen Respekt vor den Pflegekräften, die am Ende die Mehrbelastung haben, wenn Sie erkranken, oder Sie verhöhnen die ganze Bevölkerung mit den Coronamaßnahmen, da Sie augenscheinlich der Auffassung sind, dass Corona völlig harmlos ist, wenn Sie sich zu Hunderten auf engem Raum ohne Abstand und ohne Mundschutz unterhalten. ({7}) Wollen Sie noch mehr Beispiele haben? Ich gebe Ihnen gerne noch mehr Beispiele: Während Sie die Existenz von Zehntausenden Gastwirten ruinieren, konnte man in den letzten Wochen in der Bundestagskantine ohne Mundschutz vor Ort essen. ({8}) In der Bundestagscafeteria hier im Reichstag tragen weder die Mitarbeiter noch die Abgeordneten Mundschutz. Jeder kann sich dort zu jedem gesellen und weniger als 1 Meter voneinander entfernt gegenüber am selben Tisch essen. ({9}) Wie abgehoben muss man eigentlich sein – dass Sie abgehoben sind, zeigen schon die ganzen Zwischenrufe hier –, um Verbote für Millionen von Menschen zu erlassen und sich selbst nicht daran zu halten? ({10}) Wer sich so verhält, der ist sicher nicht aus der Mitte der Gesellschaft, sondern der tritt die Leistungen der Pflegekräfte mit Füßen. ({11}) Den Gürtel enger schnallen, die Zügel locker lassen und selbst Vorbild sein – das müsste in der Krise die Aufgabe jedes Repräsentanten des Staates sein. ({12}) Absolut falsch hingegen ist die momentane Dekadenz. Es fehlt nur noch, dass die Bundeskanzlerin sagt: Wenn das Volk sich kein Brot leisten kann, dann soll es doch Kuchen essen. ({13})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Liebe Kolleginnen und Kollegen, angesichts der allgemeinen Unruhe, die eingetreten ist, sage ich noch einmal: Hier darf jeder Redner das sagen, was er für richtig hält, solange es keine Straftat beinhaltet. ({0}) Ich möchte auf Folgendes hinweisen – dazu bin ich als Präsident verpflichtet –: Zunächst, Herr Kollege, die einzige Fraktion, von der bekannt ist, dass sie Abstände nicht einhält und keinen Mundschutz trägt, ist die AfD-Fraktion, ({1}) die ihrerseits erklärt, die Krise sei zu Ende. Ich weise nachdrücklich darauf hin, dass, jedenfalls in den Liegenschaften des Deutschen Bundestages, soweit die Verwaltung damit beschäftigt ist, die Abstandsregeln und die Hygienevorschriften eingehalten werden. Insofern weise ich Ihre Behauptung zurück, dass in der Kantine beispielsweise die Abstandsregeln nicht eingehalten werden. Wir sorgen dafür, dass die Mitarbeiter den notwendigen Schutz erhalten. ({2}) Und was die „Rudelbildung“ angeht – Sie sehen das hier im Plenarsaal –, ist jedenfalls verschiedenen sitzungsleitenden Präsidenten aufgefallen, mir persönlich auch, dass Ihre Fraktion eher zur Rudelbildung neigt als andere. Insofern weise ich es zurück, dass die Abgeordneten ihrer Verantwortung nicht gerecht werden. ({3}) Ich kann Ihnen ein Video zeigen, das wahrscheinlich von Anhängern Ihrer Fraktion oder Ihrer Partei ins Netz gestellt worden ist. Da können Sie sehen, dass bei der Abstimmung in der Westlobby die Abgeordneten der AfD-Fraktion besonders aufgefallen sind dadurch, dass sie keinen Abstand eingehalten haben. ({4}) Ich bin gerne bereit, Ihnen das zu dokumentieren. Als nächste Rednerin hat für die SPD-Fraktion die Kollegin Gabriele Hiller-Ohm das Wort. ({5})

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich komme zum Thema zurück. ({0}) Meine Kollegin Heike Baehrens hat in ihrer Rede bereits sehr deutlich beschrieben, was wir in der Pflege schon alles verbessert haben. Vieles musste gegen heftige Widerstände durchgesetzt werden. Ich werde mich jetzt noch einmal auf die Arbeitsbedingungen in der Pflege in dieser besonderen Ausnahmesituation konzentrieren. Bisher, liebe Kolleginnen und Kollegen, mussten wir uns zum Glück noch nie den Herausforderungen einer weltweiten Pandemie stellen. In dieser Krise muss sich vor allem unser Gesundheitswesen beweisen. Haben wir genug Intensivbetten? Gibt es ausreichend Beatmungsgeräte? Was ist mit den Schutzausrüstungen? Und vor allem: Haben wir genug geschultes Personal in der Pflege, um Covid-19 die Stirn zu bieten? Die Pandemie zeigt sehr deutlich: Es reicht nicht. Deshalb müssen wir den Beschäftigten im Gesundheitswesen gerade jetzt, in der Coronakrise, viel abverlangen. Dabei dürfen wir die Arbeitsbedingungen und den Arbeitsschutz natürlich nicht aus den Augen verlieren; da gebe ich dem Antragsteller, der Linken, ausdrücklich recht. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, eines will ich hier klarstellen: Eine Verlängerung der täglichen Höchstarbeitszeit, die Verkürzung der Ruhezeit und die Möglichkeit, an Sonn- und Feiertagen zu arbeiten, sind mit meinen Vorstellungen von Arbeitsschutz nicht zu vereinbaren. Anfang März habe ich hier an dieser Stelle betont, wie wichtig uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten die Einhaltung der Arbeitszeit ist. Das gilt natürlich auch weiterhin. ({2}) Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben doch alle die Bilder aus Italien und New York vor Augen. Die Ausnahmen im Arbeitszeitgesetz sollen die „Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, des Gesundheitswesens und der pflegerischen Versorgung, der Daseinsvorsorge“ sowie der „Versorgung der Bevölkerung“ sicherstellen. So beschreibt es das Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Und das, liebe Kolleginnen und Kollegen, muss in einer lebensbedrohenden Krise auch so sein. ({3}) Insbesondere das Gesundheitswesen ist der wohl relevanteste Bereich in dieser Ausnahmesituation. Wie sonst sollen die vielen zusätzlichen Covid-19-Patientinnen und ‑Patienten versorgt werden? Hier galt es, Rechtssicherheit zu schaffen. Daher hat das Arbeitsministerium die Möglichkeit geschaffen, in absoluten Ausnahmefällen – und ich betone: in absoluten Ausnahmefällen – die Arbeitszeit auf bis zu zwölf Stunden zu verlängern bzw. Ruhezeiten um bis zu zwei Stunden zu verkürzen. Tarifverträge oder die Mitbestimmungsrechte der Betriebs- oder Personalräte werden dabei aber nicht angegriffen. Das alles ist klar befristet und wird zurückgenommen; so steht es in der Verordnung. Die normalen Arbeitszeitregeln werden dann wieder gelten. Etwas anderes ist mit mir und meiner Fraktion auch nicht zu machen. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bedaure sehr, dass wir dem Pflegepersonal diese zusätzlichen Belastungen zumuten müssen. Auch ich hätte mir gewünscht, dass gerade jetzt, unter den schweren Arbeitsbedingungen, mehr Personal und kürzere Arbeitszeiten möglich werden. Ich kann mir gut vorstellen, wie anstrengend es ist, in voller Schutzausrüstung zu arbeiten. Mir als Brillenträgerin bereitet ja bereits mein kleiner Mundschutz Beschwerden. Natürlich sind kürzere Arbeitszeiten des Pflegepersonals auch für die Patientinnen und Patienten besser; das ist überhaupt gar keine Frage. Ausgeruhte Menschen machen weniger Fehler und arbeiten konzentrierter und motivierter. Das wissen wir, und deshalb gibt es ja auch das Arbeitszeitgesetz. Aber ausgerechnet jetzt, mitten in der Coronakrise, Sechsstundenschichten zu fordern, ist an Populismus nicht zu überbieten, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken. ({5}) Wo, so frage ich Sie, sollen all die Pflegerinnen und Pfleger herkommen, die die zusätzlich anfallende Arbeitszeit auf einen Schlag übernehmen müssen? Und auch nach der Krise wird das nicht so schnell möglich sein; denn der Personalmangel ist doch das größte Problem in diesem Bereich. Dieses Personal gewinnen wir vor allem, indem wir die Arbeitsbedingungen in der Pflege konsequent verbessern, und das tun wir auch. Andere Arbeitsbedingungen und Strukturen, mehr Personal und eine verbesserte Bezahlung, das sind die Punkte, die sich ein Großteil der Pflegerinnen und Pfleger wünscht. Das gilt übrigens auch für die ausgebildeten Pflegekräfte, die sich eine Rückkehr in ihren alten Beruf vorstellen können. Deshalb arbeiten wir intensiv daran, den Beruf der Pflegerin und des Pflegers attraktiver zu gestalten; meine Kollegin Heike Baehrens hat bereits darauf hingewiesen. Mindestlöhne in der Pflege konnten wir als ersten Schritt durchsetzen. Unser Ziel bleibt es aber weiterhin, dass im Pflegebereich endlich ein allgemeinverbindlicher Tarifvertrag ausgehandelt wird. ({6}) Wohlfahrtsverbände, Caritas und auch das Rote Kreuz verhandeln bereits mit Verdi. Nun müssen sich endlich auch die privaten Pflegedienstleister bewegen; dann kommen wir einen Schritt weiter. ({7}) Ein flächendeckender Branchentarifvertrag würde nicht nur die Arbeitsbedingungen und die finanzielle Vergütung verbessern, sondern würde den Beruf für junge Menschen attraktiver machen. Auf diesem Weg können wir den aktuellen Fachkräftemangel abmildern. Hier sind unsere Positionen übrigens gar nicht so weit voneinander entfernt, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken. Unser Fokus muss also darauf liegen, die betriebliche Mitbestimmung zu stärken und starke Tarifverträge zu unterstützen. Darüber können wir dann auch kürzere Arbeitszeiten in der Pflege erreichen. Klatschen auf Balkonen verbessert keine Arbeitsbedingungen, ({8}) und Anträge, die fordern, was nicht umzusetzen ist, ebenfalls nicht. ({9}) Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab. ({10})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Hiller-Ohm. – Nächster Redner ist der Kollege Pascal Kober, FDP-Fraktion. ({0})

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr verehrter, lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin Frau Ferschl, Kollegen Linksfraktion, Politik – jetzt zitiere ich den ersten Fraktionsvorsitzenden der SPD, ({0}) Kurt Schumacher – beginnt mit der Betrachtung der Wirklichkeit. Ich sage Ihnen, liebe Frau Ferschl: Sie wussten ja auch schon vor der Krise, dass wir Personalmangel in der Pflege haben. Der Personalmangel lässt sich nicht auf Knopfdruck, von jetzt auf nachher, einfach so beseitigen. Sie kritisieren den Bundesarbeitsminister – das tue ich häufig genug auch, aber nicht in dieser Frage –, dass er vorübergehend, für die Zeit der Not, die Möglichkeit der Erhöhung der Arbeitszeit eingeführt hat. Sie sagen in Ihrem Antrag ganz klipp und klar, das sei eine falsche Entscheidung gewesen. Wissen Sie, was Sie damit sagen? Dass es Ihnen lieber gewesen wäre, wenn die Menschen unversorgt geblieben wären. ({1}) Und Sie gehen davon aus, dass Pflegekräfte nach Hause gegangen wären, mit der Folge, dass Leute keinen Zugang mehr zum Gesundheitssystem bekommen hätten. ({2}) Nein, die wären natürlich nicht nach Hause gegangen. Dass sie rechtssicher in der größten Not auch einmal länger arbeiten können, das hat der Arbeitsminister ermöglicht, und das war eine richtige Entscheidung, keine falsche Entscheidung. Die Triage mit der Stechuhr, das ist zynisch, liebe Kollegin Ferschl. ({3}) Wir müssen aus der Situation lernen. Es kann natürlich nicht zufriedenstellend sein, dass die Arbeitszeit in einer solchen Situation grundsätzlich erhöht werden muss. Wir müssen natürlich Lösungen finden, wie wir mehr Menschen für die Pflege gewinnen können. Das ist ein langfristiges Projekt, dem wir uns alle hier stellen werden. Wir werden auf jeden Fall dem Personalmangel nicht dadurch begegnen, dass wir einfach die Arbeitszeit verkürzen. Denn das würde voraussetzen, dass wir mit einem Schlag zusätzliche Pflegekräfte bekommen könnten. Jetzt haben Sie die vage Vermutung, dass die ausgebildeten Pflegekräfte, die im Moment nicht in der Pflege arbeiten, dann plötzlich alle zurückkommen würden. ({4}) Das kann eine Hoffnung sein – die Gewähr dafür haben Sie nicht. Natürlich ist es jedem freigestellt, auch wenig oder nicht in der Pflege zu arbeiten; das muss auch weiterhin möglich sein. Also müssen wir die Arbeitsbedingungen in der Pflege verbessern, ({5}) und da ist zunächst einmal und vor allen Dingen der richtige Ansatz, dass wir die Arbeit in der Pflege erleichtern. Ob ich sechs Stunden arbeite oder neun Stunden arbeite, jede Stunde Arbeit muss gut und leistbar sein; das ist die Herausforderung, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion. ({6}) Als die FDP den Bundesgesundheitsminister stellte, hat sie das Thema der Entbürokratisierung in Angriff genommen. Da ist tatsächlich die Frage zu stellen, liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, die Sie den Bundesgesundheitsminister stellen, ob Sie sich auf diesem Weg noch wirklich mit großem Nachdruck diesem Thema widmen. Denn das ist ein wesentlicher Treiber der Unzufriedenheit der Pflegekräfte: dass sie mit Bürokratie überlastet sind, statt dass sie, durch Digitalisierung beispielsweise, Vereinfachungen bekommen. ({7}) Meine Redezeit ist leider abgelaufen. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

So ist es.

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich sage: Arbeitsbedingungen verbessern, Zuwanderung in die Pflege ermöglichen, das sind zwei wesentliche Pfeiler für bessere Arbeitsbedingungen in der Pflege. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Kober. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion Die Linke die Kollegin Pia Zimmermann. ({0})

Pia Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004454, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn eine oder einer von uns hier redet, bekommen wir Beifall von der eigenen Fraktion, und manchmal klatschen auch andere. Das ist nett und manchmal auch Anerkennung. Aber das ersetzt natürlich nicht unsere Diäten. Warum also sollte bloßer Applaus der angemessene Lohn für eine gute, qualifizierte Fachkraft sein? Und woher kommt eigentlich die Vorstellung, mit einer einmaligen Coronaprämie jahrzehntelange miese Bezahlung, furchtbare Arbeitsbedingungen und eine schlechte Personalausstattung wettzumachen? ({0}) Woher kommt die Idee, es sei angemessen, Pflegekräfte im Krankenhaus noch länger schuften zu lassen? Sind uns die Pflegekräfte, die alles dafür tun, diese Krise zu meistern, wirklich so wenig wert? Liebe Kolleginnen und Kollegen, ehrlich gesagt, ich finde das richtig krass. Und die Debatte um wirkliche Wertschätzung ist noch lange nicht zu Ende, wie einige nach der Entscheidung über eine Prämie in der Altenpflege suggerieren, nein, sie hat gerade erst begonnen. ({1}) Meine Damen und Herren, 17 000 Pflegekräfte in der Altenpflege erhalten Grundsicherung, jede zehnte von ihnen muss das Gehalt aufstocken, trotz Vollzeit. Diese Pflegekräfte schuften sich krank. Trotzdem reicht es nicht, um der Armut zu entkommen. Und selbst bei der Coronaprämie sollen sie leer ausgehen; die wird nämlich auf die Grundsicherung angerechnet. Das ist unfassbar, meine Damen und Herren! ({2}) Wenn das die Wertschätzung ist, von der die Bundesregierung spricht, wird sich am Pflegenotstand gar nichts ändern. ({3}) Hinzu kommt: Die Einmalprämie ist nicht einmal wasserdicht refinanziert, und andere Gesundheitsberufe bleiben ausgeschlossen. Die Bundesregierung wollte sich mit dem Versprechen schmücken, dass Geld kommt. Aber wie es finanziert wird, das sagt man am Ende wirklich nicht richtig. Das ist meiner Meinung nach würdelos und peinlich. ({4}) Pflegekräfte brauchen einen allgemeinverbindlichen Tarifvertrag mit deutlich höheren Löhnen. Meine Damen und Herren, es kann doch wirklich nicht sein, dass private Heimbetreiber gesetzlich geschützt Renditen einfahren, während die Beschäftigten, die diese Renditen erwirtschaften, in die Altersarmut geschickt werden. Meistens sind das auch noch Frauen. Damit sie ihren Beruf ausüben können, den sie gelernt haben, brauchen wir bundesweit einheitliche, gute Arbeitsbedingungen. ({5}) Denn Pflegekräfte brauchen Zeit, Zeit für die Bezugspflege, Zeit, um sich von den psychischen und physischen Belastungen zu erholen, und sie brauchen planbare Zeit für sich selber und für ihre Familien. ({6}) Packen wir den Pflegenotstand endlich nachhaltig an! Sichern Sie kürzere Arbeitszeiten und höhere Löhne, die den Wert der Arbeit auch wirklich anerkennen! Wir brauchen den Sechsstundentag in der Pflege; denn Arbeitszeit ist eine entscheidende Bedingung für gute Pflege. Meine Damen und Herren von der Regierung, denken Sie darüber nach, dann läuft das auch. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Zimmermann. – Nächster Redner ist der Kollege Erwin Rüddel, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Erwin Rüddel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004139, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, wir sind uns weitestgehend in diesem Haus – nicht alle, aber weitestgehend – einig, dass die Pflegekräfte besser bezahlt werden müssen; das, denke ich, ist Konsens. Dann stellt sich aber die Frage: Wie finanzieren wir das – das ist die große Herausforderung, der wir uns in der zweiten Jahreshälfte stellen sollten –, über Eigenanteile, über Steuerzuschüsse oder über Sozialversicherungsbeiträge? Ich meine, diese Diskussion ist interessanter. Die andere, dass Pflegekräfte besser entlohnt werden sollen, ist geführt, da sind wir uns einig. Aber wir brauchen Lösungen, um das zu finanzieren. Wir müssen uns Gedanken machen, inwieweit wir über Vertrauen und Flexibilität bei Arbeitszeitmodellen eine bestimmte Optimierung der Arbeit in der Pflege hinbekommen. Ich glaube, dass wir noch genügend Fragen zu klären haben, wichtig ist aber: ohne Ideologie. Wir müssen praktisch an die Sache herangehen, weil nur Verbesserungen in der Praxis den Pflegekräften tatsächlich helfen. Es ist mehrfach angesprochen worden: Die 1 000-Euro-Sonderprämie ist ein wichtiger Schritt. Ich freue mich, dass der Finanzminister hier ist. ({0}) Das gibt uns auch Hoffnung, dass diese Sonderprämie refinanziert wird über Steuern. Ich hoffe, dass die Länder ihrer Verantwortung gerecht werden und die 1 000 Euro, 1 500 Euro steuer- und sozialversicherungsfrei bleiben. Ich habe erste Anzeichen wahrgenommen, dass Länder sich dieser Herausforderung stellen. Es würde mich freuen, wenn das eine generelle Aufgabe der Länder wird. Diese Sonderprämie für Pflegekräfte in der Altenpflege ist für uns ein besonderes Zeichen der Wertschätzung ihrer Arbeit. Wir haben die Pflegekräfte in der laufenden Legislaturperiode vielfach durch Maßnahmen gestärkt. Ich will nur das Pflegebudget im Krankenhaus erwähnen: Im Krankenhaus kann jede Pflegekraft eingestellt werden und jede Pflegekraft so entlohnt werden, wie das Krankenhaus das möchte. Das wird also refinanziert. Wir haben 13 000 zusätzliche Pflegekräfte in der Altenpflege, die über die Sozialversicherung, Krankenversicherung, finanziert werden. Wir haben, wie Lothar Riebsamen eben gesagt hat, den gesetzlichen Mindestlohn, und wir haben Personaluntergrenzen im Krankenhaus. Es sind also viele Dinge bereits auf den Weg gebracht worden. Aber uns ist bewusst: Das sind Zwischenschritte. Wenn nicht mehr zu tun wäre, hätten wir diese Personalsorgen in der Pflege nicht. Das ist uns absolut bewusst. Wir brauchen gute Gehälter und optimale Bedingungen für gute Arbeit. Wir brauchen eine attraktive Entlohnung in allen Regionen. Und wir brauchen zeitgemäße Arbeitsmodelle. Uns ist auch bewusst, dass für gute Pflege individuelle Arbeitszeitmodelle und gesicherte Erholungsphasen wichtig sind. Dafür ist es unerlässlich, dass wir mehr Menschen für die Pflege gewinnen. Und das bedeutet: Wir müssen eine gute Ausbildung sichern, wir brauchen gute Arbeitsbedingungen, verlässliche Dienstpläne. Es bedeutet auch, dass wir ausgeschiedene Mitarbeiter zurückgewinnen müssen und neue Kräfte aus anderen Berufen für die Pflege gewinnen müssen. Das sind wichtige Voraussetzungen für verlässliche Dienstpläne. Nicht zuletzt brauchen wir eine bedarfsgerechte Personalbemessung. Die haben wir auch für Krankenhaus und Altenpflege auf den Weg gebracht. Wichtig ist: Wir brauchen mehr Zeit für Pflege statt für Bürokratie. Wir müssen die Digitalisierung in der Pflege entsprechend auf den Weg bringen. Ich hoffe und wünsche mir, dass all diese Erkenntnisse uns dabei helfen, erfolgreich für bessere Arbeitsbedingungen, eine bessere Bezahlung und eine bessere Personalausstattung zu sorgen. Ich glaube, dass wir das gemeinsam schaffen werden. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Das letzte Wort in dieser Debatte hat jetzt die Kollegin Emmi Zeulner, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Emmi Zeulner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004452, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu Beginn möchte ich einfach sagen: Ich finde es wirklich unerträglich, wie der Kollege Sichert von der AfD, der in Bayern als Landesvorsitzender abgewählt wurde – heute hat man auch verstanden, warum –, hier vorne zum Thema der Pflege gesprochen hat. Er hat von Verantwortung, von Vorbild gesprochen und hat die Pflege so gut wie überhaupt nicht erwähnt. ({0}) Das ist nicht verantwortungsvoll, und das ist auch nicht vorbildhaft. Was mich grundsätzlich einfach nur wahnsinnig aufregt: Im Gesundheitsausschuss haben Ihre Kollegen von der AfD zu Beginn die Maßnahmen unseres Gesundheitsministers Spahn gelobt. Und dann hat es der Parteispitze nicht gepasst. Man hat dann die Position verändert. Aber Sie haben auch Kollegen bei sich in der AfD wie den Kollegen Professor Gehrke, der sich gerade eben bei Ihrer Rede in Grund und Boden geschämt hat, ({1}) weil er nämlich als Mediziner weiß, dass sie nicht der Pflege gerecht wurde. ({2}) Für mich geht es gerade heute darum, Ihnen, lieber Professor Gehrke, zu sagen: Ich spüre, Sie haben ein gutes Herz. ({3}) Wirklich, gehen Sie raus aus der AfD. ({4}) Sie haben da nichts verloren. ({5}) – Ja, es ist so. ({6}) – Nein, es ist mir ein großes Anliegen. ({7}) – Nein, es ist keine Unverschämtheit. ({8}) Er ist Humanmediziner, und – – ({9}) – Nein, es entscheiden die Personen selbst, wer in der AfD ist. ({10}) Es gibt die Möglichkeit, aus der AfD rauszugehen. ({11}) Deswegen, Herr Gehrke, überlegen Sie es sich. Sie passen wirklich nicht dazu. ({12}) Es ist natürlich so, dass es das Privileg der Opposition ist, Dinge zu fordern – wie es beispielsweise auch Die Linke gemacht hat –, die sie am Ende des Tages nicht umsetzen muss, ({13}) die von der Finanzierung her schwierig sind. Aber dieses Privileg haben die Regierungsparteien nicht. Wir müssen das, was wir versprechen, auch halten, wir müssen es umsetzen. Deswegen sind viele Dinge, die Sie in Ihrem Antrag entsprechend vorgebracht haben, sehr unrealistisch, an der Realität vorbei. ({14}) Die Kollegen haben es gerade angesprochen: Wir sind in einer Krisenzeit. Deswegen haben wir das mit den Arbeitszeiten gemacht – nicht weil wir wollen, dass die Pflege grundsätzlich, ständig an ihre Belastungsgrenze geht. Deswegen ist es auch ein Thema, das wieder ein Ende findet. ({15}) Mir ist es einfach ein Anliegen, auf das einzugehen, was Sie fordern, nämlich die Arbeitszeit einer Vollzeitkraft in der Pflege bei gleichem Gehalt dauerhaft auf 30 Stunden zu verkürzen und dies natürlich entsprechend zu finanzieren. Da kann ich eben nur sagen: In der jetzigen Zeit würde das bedeuten, dass wir eine zusätzliche, eine vierte Schicht bräuchten. Ich wüsste nicht, wie wir das organisieren sollen. Des Weiteren glaube ich, dass es unsere Kernaufgabe sein wird, nicht einfach eine tägliche Arbeitszeit von sechs Stunden festzuschreiben, sondern wirklich dafür zu sorgen – das ist die Aufgabe der nächsten Wochen und Monate –, dass die tägliche Arbeitszeit von beispielsweise acht Stunden eingehalten wird. ({16}) Denn klar ist: Es ist schwierig, dass Pflegekräfte aus dem Frei geholt werden. Es ist schwierig, dass Überstunden anfallen. Da müssen wir ran. Ich glaube, die Forderung nach einer Arbeitszeit von sechs Stunden hört sich schön an, ist aber überzogen. Und zur Finanzierung machen Sie sich gar keine Gedanken, geben keine Antworten. ({17}) Sie werfen der Bundesregierung vor, dass wir beim Bonussystem, das wir auf den Weg gebracht haben, die Bundesländer in Verantwortung nehmen. Ja, wir nehmen die Bundesländer in Verantwortung. Das nennt man nämlich „Föderalismus“. Und auch Sie als Linke haben Verantwortung in Bundesländern, beispielsweise in Thüringen. Dort gibt es bis jetzt keinen Pflegebonus. Deswegen kann ich Sie nur aufrufen, Ihre Arbeit in Thüringen zu machen und auf den Weg zu bringen, dass es beispielsweise für die Pflegekräfte in Thüringen einen Bonus von 500 Euro gibt. In Bayern machen wir das, und wir haben ihn auch ausgeweitet: Er wird nicht nur in der Altenpflege, sondern beispielsweise auch an Rettungssanitäter oder Pflegekräfte in den Krankenhäusern gezahlt. Dafür muss man kämpfen, und das haben wir auch getan. Insofern glaube ich, dass es entscheidender gewesen wäre, an anderer Stelle Ihre Aufgaben zu erledigen. ({18}) Es gäbe noch viele Dinge, die anzusprechen wären. Wir stehen dazu: Wir wollen einen Tarifvertrag für die Altenpflege, der für allgemeinverbindlich erklärt wird. Und wir glauben, dass es wirksame Maßnahmen sind, dass wir beispielsweise die Pflege aus dem System der Fallpauschalen herausgenommen haben und dass wir einen Schutzschirm für die Pflege gerade in den Krankenhäusern aufgespannt haben, indem wir dort ein eigenes Budget geschaffen haben.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss.

Emmi Zeulner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004452, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich glaube, dass das eine der Maßnahmen ist, um Menschen zurück in die Pflege zu bekommen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin.

Emmi Zeulner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004452, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir sagen nämlich ganz klar: Wir wollen, dass Pflegekräfte zukünftig nicht das Sparschwein der Krankenhäuser sind, sondern ihnen über das Budget eine auskömmliche Finanzierung zusteht, die nicht zweckentfremdet werden kann.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, bitte!

Emmi Zeulner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004452, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

In diesem Sinne freue ich mich auf die weiteren Beratungen und hoffe, dass wir als Gesellschaft in dieser schwierigen Zeit wirklich zusammenstehen und es alle hier ernst meinen, dass wir die Pflege stärken wollen, auch in Zukunft. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. Ich sehe, dass das Lämpchen mit der Aufschrift „Präsident“ tatsächlich blinkt. Und das heißt dann tatsächlich: Sie müssen jetzt wirklich zum Schluss kommen. – Ich wollte Ihnen jetzt nicht das Wort entziehen. Aber die Minute, die Sie jetzt drüber waren, Frau Kollegin, haben Sie mit der Herzfrage in Bezug auf die AfD-Fraktion verbracht. ({0}) – Eigentlich ist das nicht okay. Wenn die Fraktion der AfD eine Kurzintervention möchte, bin ich dazu bereit, ansonsten würde ich die Aussprache schließen. ({1}) – Ja, aber wenn er es möchte, lasse ich das jetzt zu. – Dann hören wir uns das jetzt an. ({2})

Kay Gottschalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004731, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Das ist schön. – Kommen wir mal zu den Fakten. Es sind nämlich überall die gleichen Fakten. Fangen Sie doch damit an, die Pflegekräfte – wie viele andere Berufe – erst mal von Bürokratie zu entlasten. Es kann doch nicht sein, dass heute teilweise ein Drittel der Arbeitszeit – auch bei Ärzten – damit draufgeht, entsprechende Unterlagen, Formulare und andere Dinge auszufüllen. – Da könnten Sie den ersten Schritt machen. Die Krokodilstränen von den Linken – Sie sitzen ja bei mir im Finanzausschuss – sind fehl am Platz. Wenn Sie die Prämien oder Gehaltserhöhungen durchreichen würden, dann würden Sie gemäß OECD-Studie bei vielen Einkommensklassen mal eben 50 Prozent dessen, was Sie generös geben, wieder wegsteuern. Die Menschen verdienen nicht zu wenig in Deutschland, sondern sie bekommen zu wenig ausgezahlt, weil dieser gierige Steuerstaat den Menschen das Geld vor der Nase wegnimmt, indem 50 Prozent wegbesteuert ({0}) und mit Abgaben für irrsinnige Projekte belegt werden; darauf werde ich gleich eingehen. Das ist ein Punkt. Wenn Sie hier an das Herz vieler appellieren, dann ist das, finde ich, eine Unverschämtheit. Viele meiner Kollegen haben Herz und setzen sich sozial ein, spenden, wie ich es zum Beispiel tue, damit Desinfektionsmittel zur Verfügung stehen. Deshalb finde ich das, gelinde gesagt, eine Unverschämtheit an dieser Stelle. Dagegen wehre ich mich. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin Zeulner, Sie haben das Recht, darauf zu antworten, auch wenn sich das wenig auf Ihren Redebeitrag bezog. Aber Sie haben das Recht, darauf zu antworten.

Emmi Zeulner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004452, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Kollege, ich habe Menschenkenntnis. Das ist das, was ich hier vorhin zum Ausdruck gebracht habe. Deswegen war es mir ein Anliegen, diesen Punkt anzusprechen. Es gibt verschiedenste Programme zur Reduzierung der Dokumentation. Eines davon nennt sich „ReduDok“ in Bayern. Das wird angewandt, das funktioniert hervorragend. Natürlich ist da noch Luft nach oben. Aber es funktioniert. Auf der anderen Seite hätte ich, wie gesagt, gerne von der AfD gewusst: Sind Sie jetzt für einen Pflegebonus bzw. einen Zuschlag, oder sind Sie es nicht? Ich konnte das der Rede des Kollegen Sichert nicht entnehmen. ({0}) Deswegen bin ich darauf eingegangen, weil ich auf diese Frage keine Antwort bekommen habe. Das war aber heute das Thema. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Damit ist jetzt die Aussprache endgültig beendet.

Olaf Scholz (Minister:in)

Politiker ID: 11003231

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sind mitten in einer Situation, die uns alle sehr beschäftigt. Wir diskutieren jeden Tag die gesundheitlichen Folgen, die aufgrund der Covid-19-Herausforderung auf uns zukommen, aber eben auch die wirtschaftlichen und sozialen Folgen. Von Anfang an haben wir mit einem sehr großen und sehr umfangreichen Programm dafür Sorge getragen, dass Wirtschaft und Arbeitsplätze geschützt werden, dass man gut durch diese Situation kommen kann. Wir haben einen Schutzschirm aufgebaut, der sehr gut funktioniert, der Einkommen gesichert hat. Wir haben viele, viele Dinge unternommen, aber wir wissen, dass das nicht das Letzte ist, was jetzt ansteht, sondern dass wir weitermachen müssen. Deshalb ist es auch am Tag nach der gestrigen Veröffentlichung der Steuerschätzung ganz besonders wichtig, dass wir uns fest vorgenommen haben: Wenn die meisten Entscheidungen, die mit dem Lockdown verbunden sind, auslaufen und die Lockerungen ausgeweitet werden, dann muss es auch mit der Konjunktur wieder aufwärts gehen, und wir brauchen ein Konjunkturprogramm. ({0}) Was wir aber auch brauchen, sind ganz konkrete und zahlreiche Hilfen für die verschiedenen Branchen und Bereiche, die Unterstützung brauchen. Das wird in diesem Konjunkturprogramm noch eine Rolle spielen. Da geht es dann um die Kunst, um die Kultur. Da geht es aber zum Beispiel auch um diejenigen, die Veranstaltungen machen. Da geht es um Schausteller. Da geht es ganz sicher um diejenigen, die Gastronomie oder Hotels betreiben. Deshalb ist es ein wichtiger erster Schritt, dass wir jetzt eine ganz wichtige Verbesserung für diese Branche, die mit am meisten unter den Auswirkungen des Lockdown zu leiden hatte, auf den Weg bringen und sagen: Wir wollen ermöglichen, dass mit einer auf ein Jahr befristeten Senkung der Mehrwertsteuer auf Speisen ein Weg gefunden wird, wie Geld, das verloren gegangen ist, dann, wenn es wieder losgeht, zurückverdient werden kann. Deshalb passt der Gesetzentwurf auch ganz genau in die Zeit, die wir jetzt haben. Wir haben exakt das gemacht, was man tun kann, damit es jetzt losgehen kann und damit dann diese Phase für Mehreinnahmen genutzt werden kann, für bessere Ausstattung in den einzelnen Unternehmen, damit alle gewissermaßen den Mut und die Kraft finden, um das gut voranzubringen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Minister, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus der FDP-Fraktion?

Olaf Scholz (Minister:in)

Politiker ID: 11003231

Ach ja. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Das verlängert auch Ihre Redezeit.

Dr. Marcel Klinge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004782, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Minister, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Ich bin in der FDP-Fraktion für das Thema Tourismus, also auch für das Thema Gastronomie, zuständig; darauf sind Sie ja gerade eingegangen. Ich habe zwei Fragen zu diesem Thema. Sie haben angesprochen, dass die Mehrwertsteuerreduzierung sich nur auf Speisen bezieht, nicht auf Getränke. Da würde ich gerne noch mal nachfragen, was denn der eigentliche Grund dafür ist. In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, dass der Bundesvorsitzende der SPD, Herr Walter-Borjans, an diesem Sonntag in der „Bild“-Zeitung etwas, wie ich finde, sehr Kluges gesagt hat – ausnahmsweise. ({0}) Ich würde gerne zitieren, wenn mir der Präsident das gestattet. Er sagte in der „Bild“-Zeitung: In meiner Heimat Köln gibt es an jeder Ecke eine Kneipe. Die leben vor allem vom Bierausschank und haben nichts davon, wenn sie für ihre Frikadellen eine Steuersenkung bekommen ... Was haben die von einer Umsatzsteuersenkung, wenn die gar keinen Umsatz machen, erst recht nicht mit Speisen. Deswegen würde ich gerne nachfragen: Nehmen Sie diesen sehr klugen Hinweis – erste Frage – jetzt im Gesetzgebungsverfahren auf, also die Umsatzsteuersenkung auch auf Getränke auszuweiten? Zweite Frage. Sie begrenzen das Ganze ja auf ein Jahr; das wird sicherlich finanzielle Gründe haben. Wenn man aber von dieser Maßnahme inhaltlich überzeugt ist, dann müsste man sie doch eigentlich länger laufen lassen, vor allem wenn man weiß, dass viele Gastronomiebetriebe in den nächsten Monaten aufgrund der Situation gar nicht oder aufgrund der Abstandsregelung nur in einem begrenzten Umfang aufmachen werden. Deswegen meine Frage: Wieso begrenzen Sie das, und warum haben Sie sich zumindest nicht an den fünf Jahren bei KfW-Krediten orientiert? Das hätte zumindest einen gewissen Sinn gemacht.

Olaf Scholz (Minister:in)

Politiker ID: 11003231

Schönen Dank für Ihre vielen Fragen. ({0}) Ganz besonders eines möchte ich an dieser Stelle sagen: Schönen Dank für das gute Lob für meinen Parteivorsitzenden. ({1}) Sie haben völlig recht: Er sagt immer kluge Dinge. ({2}) Ich wünschte mir ein wenig, dass Sie diesen Satz öfter wiederholen und auch bei anderen Gelegenheiten benutzen; ({3}) denn das würde dazu beitragen, dass die Perspektive für ein soziales Miteinander in Deutschland größer wird. Das ist unsere eigentliche Anstrengung. ({4}) Norbert Walter-Borjans und ich haben mit dem Fraktionsvorsitzenden der SPD und der Parteivorsitzenden zusammengesessen und mit unseren Koalitionspartnern darüber verhandelt, was wir machen können, um der Gastronomie ganz konkret zu helfen. Wir haben abgewogen, was wirtschaftlich möglich ist, was finanziell möglich ist, was jetzt in dieser Situation konkret hilft. Damit sind fast alle Ihre Fragen beantwortet. ({5}) Wir haben nämlich gesagt: Es muss jetzt helfen: Es geht um jetzt und nicht um irgendwann. Es geht darum, dass das etwas ist, das man richtig errechnen kann und das dann auch einen Beitrag für die Gastwirte leistet. Ich will gerne noch einen Satz hinzufügen, der aus meiner Sicht von großer Bedeutung ist: Wir haben keineswegs vor, es dabei bewenden zu lassen, sondern wenn wir uns jetzt an das Konjunkturprogramm machen, dann werden wir sehr konkret für diese Branche, aber auch andere Branchen diskutieren, wie man das, was jetzt in der genau erkannten Situation notwendig ist, auch umsetzen kann. Dabei geht es darum, dass man das immer zur richtigen Zeit macht, wie sich das für Konjunkturprogramme gehört, dass man es zeitlich befristet macht, wie es sich Konjunkturprogramme gehört, und dass man es so zielgerichtet macht, dass wir nicht das Geld mit der Gießkanne verteilen, sondern dass es genau da hilft, wo es gebraucht wird. Dieses Prinzip werden wir auch weiter bewahren. ({6}) Deshalb noch mal: Das, was wir hier auf den Weg bringen, ist eine Maßnahme unter vielen, vielen anderen, die dazu beitragen, dass alle in dieser wirtschaftlich schwierigen Situation zurechtkommen können und dass nicht diejenigen, die für ihre schwierige Lage nichts können, alleingelassen werden. Das soll auch die Schlussbemerkung sein, die ich hier gerne machen möchte. Wir haben richtige, notwendige Entscheidungen hier miteinander getroffen. Ich habe es zum Beispiel auch bei den Entscheidungen, die wir hier mit großer Mehrheit gefunden haben, um zum Beispiel eine Ausnahme von der Schuldenregel zu vereinbaren und einen großen Nachtragshaushalt auf den Weg zu bringen, sehr gut gefunden, dass alle ein Gefühl für den Ernst der Situation hatten. Denn dass wir vielen vieles zumuten, das ist doch offensichtlich: den Familien zum Beispiel, die jetzt mit der Betreuung der Kinder und ihren beruflichen Herausforderungen und dem Homeoffice dastehen, den Älteren, die vielleicht allein sind im Pflegeheim und ihre Verwandten nicht sehen können, die sie gern besuchen wollen, aber auch Männern und Frauen, die sich ein Geschäft aufgebaut haben und jetzt sehen, wie die wirtschaftlichen Herausforderungen sie vor beinahe unlösbare Probleme stellen. Es ist unsere Aufgabe, dass wir sie dabei nicht alleinlassen, und das ist exakt das, was wir mit diesem Gesetzentwurf tun. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Minister, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Motschmann, CDU/CSU-Fraktion?

Olaf Scholz (Minister:in)

Politiker ID: 11003231

Ja.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin Motschmann, der Minister gestattet das. Ich auch.

Elisabeth Motschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004357, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Minister, vielen Dank, dass Sie auch die Kultur erwähnt haben und übrigens auch die Schausteller; früher hießen die „Gaukler“ und „Komödianten“ und gehörten zum Kulturbereich. Ich würde Sie gerne fragen, ob Sie mit mir der Meinung sind, dass die Gruppe der Künstlerinnen und Künstler – übrigens auch die Schausteller – am härtesten betroffen ist. Sie waren die ersten, die rausgingen, und sind die letzten, die – vielleicht – auf die großen Bühnen zurückkehren. Ist es möglich – was ich total positiv finde, und da möchte ich Sie sehr unterstützen; ich kann selten einen SPD-Minister so loben –, dass Sie auch für die Kultur ein Konjunkturprogramm planen? Können Sie da schon Konkreteres sagen?

Olaf Scholz (Minister:in)

Politiker ID: 11003231

Schönen Dank für diese Frage. – Die Antwort ist: könnte ich. Ich will aber dazusagen, dass wir uns schon etwas vorgenommen haben miteinander, nämlich all die verschiedenen guten Vorschläge jetzt so zusammenzufassen, dass sie Teil eines Konjunkturprogramms werden. Das wollen wir, wie Sie wissen, Anfang Juni im Kabinett beschließen und dann mit dem Deutschen Bundestag und mit den Ländern sorgfältig diskutieren. Eins ist ganz klar: Die Gruppen, die Sie jetzt benannt haben und die in der Tat ganz besonders zu kämpfen haben, müssen unbedingt dazugehören. Ich weiß, was für großartige Leistungen die Männer und Frauen zustande bringen, die als Schausteller in Deutschland unterwegs sind und irgendwie dazu beitragen, dass eine sehr alte kulturelle Erfahrung, die wir in Deutschland haben, auch in Zukunft noch funktioniert. Ich möchte unbedingt, dass alle diese Schaustellerinnen und Schausteller, wenn es wieder losgeht, noch dabei sind und dass sie das, was ihre Familien seit vielen, vielen Generationen machen, auch weitermachen können. Deshalb muss und wird das Teil des Programms sein. ({0}) Das gilt auch für die Künstlerinnen und Künstler und – das will ich dazusagen – die Kultureinrichtungen. Da, glaube ich, werden wir noch viele, viele ganz konkrete Überlegungen anstellen müssen, und zwar nicht nur dazu, wie wir jetzt möglich machen, dass man wirtschaftlich durch diese Situation kommt, sondern auch dazu, wie Kreativität und kulturelles Engagement fortgesetzt werden können, selbst wenn große Versammlungen und große Zusammenkünfte, die ja nun mal Teil der kulturellen Lebenspraxis sind, die wir miteinander haben, noch nicht möglich sein werden. Das wird nicht nur – aber eben auch – zum Beispiel verbunden sein müssen mit einem Digitalisierungsschub, der vielleicht anders ist als das, was wir heute schon kennen. Es wird aber auch damit verbunden sein, dass wir möglich machen, dass noch was geschaffen werden kann trotz der Tatsache, dass die Spielorte nicht so genutzt werden können, wie das bisher der Fall war. Das, glaube ich, ist unsere gemeinsame Herausforderung, und wir sollten daraus etwas machen, was nicht nur eine Pflichterfüllung von uns allen hier ist, sondern was ein bisschen mehr ist. Denn wir alle wissen, dass Kunst und Kultur für unsere Identität, für unser Zusammenleben, für die Art und Weise, wie wir die Gesellschaft betrachten, von allergrößter Bedeutung sind und dafür, dass wir uns zurechtfinden in der Welt, wichtig sind. Wir müssen sicherstellen, dass die, die das machen, das auch in Zukunft gut weitermachen können. Schönen Dank. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Ich wollte gerade darauf hinweisen: Frau Motschmann, solange Sie stehen bleiben, hat der Minister das Gefühl, er beantwortet noch eine Frage. ({0}) Dann verdreifacht sich die Redezeit. Aber er war dann mit der Beantwortung auch fertig. Der nächste Redner ist der Kollege Kay Gottschalk, AfD-Fraktion. ({1})

Kay Gottschalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004731, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kollegen und Zuschauer! Heute sprechen wir also in erster Beratung über das Corona-Steuerhilfegesetz. Wir als AfD haben aus gutem Grund hier einen eigenen Antrag dazu eingebracht. Die Bundesregierung möchte also – Sie haben es eben kurz angesprochen – den Umsatzsteuersatz für erbrachte Restaurant- und Verpflegungsdienstleistungen mit Ausnahme der Abgabe von Getränken – die Zwischenfrage ging ja in die Richtung – nach dem 30. Juni für ein Jahr von 19 auf 7 Prozent absenken. Meine Damen und Herren, das ist ein eigentlich richtiger, aber viel zu zaghafter und zögerlicher Schritt. Wir als AfD hingegen wollen den Umsatzsteuersatz für Speisen in der Gastronomie dauerhaft auf 7 Prozent senken. Ja, Sie haben richtig gehört: dauerhaft. ({0}) Liebe Linken, das klingt hier ja immer an: Wir brauchen keine Steuererhöhung wegen der Coronakrise. Fangen Sie endlich wie die gute schwäbische Hausfrau an, zu sparen! Europa bietet da ein großes Spielfeld. Darüber hinaus wollen wir die Maßnahme – anders als viele andere hier im Parlament – nach Ablauf von fünf Jahren evaluieren und dadurch die Wirkung auf die Bürokratiekosten in den Unternehmen sowie die Kosten der Verwaltung, insbesondere durch weniger Umsatzsteuerprüfungen, feststellen. Verehrte Gastwirte da draußen, um Sie geht es. Wir von der AfD sind uns natürlich im Klaren darüber, dass eine solche Maßnahme nur greifen wird, wenn Sie endlich wieder vernünftige Umsätze erzielen. Und darum hoffe ich inständig, sehr geehrte Damen und Herren von der Regierung, dass Sie den Coronawahnsinn beenden und die Gaststätten in Deutschland endlich wieder vollständig öffnen können. ({1}) Ich selbst bin nicht nur in meiner Funktion als Abgeordneter – das kennen Sie auch –, sondern auch privat gerne in Gaststätten. Für mich ist das ein Ort von Geselligkeit und natürlich auch guten Essens. Gaststätten oder Kneipen sind, ähnlich wie die Schausteller, ein integraler Bestandteil unserer deutschen Gesellschaft und Kultur. Schauen Sie nach Köln, schauen Sie nach Düsseldorf, hier nach Berlin oder in kleine Städte: Die kleine Kneipe, das Lokal um die Ecke gehört zur Identität eines Ortes oder einer Stadt dazu. ({2}) Darum bin ich schockiert, wenn ich höre, dass laut DEHOGA ein Drittel der Betriebe im Gastgewerbe – das sind rund 70 000 Betriebe – kurz vor der Insolvenz stehen. Wir sprechen hier über mehr als 1 Million Arbeitsplätze und die Schicksale, die dort dranhängen. Es ist unsere verdammte Pflicht, die zumeist inhaber- und familiengeführten Betriebe zu unterstützen, vor allem dann, wenn sie durch Maßnahmen einer verfehlten Coronapolitik in eine solche Lage geraten sind, meine Damen und Herren. Sie haben mit Coronakanonen auf Spatzen geschossen und dabei fast die deutsche Wirtschaft versenkt. Das ist Ihre Schuld, meine Damen und Herren. ({3}) Wir begrüßen daher schon lange und ausdrücklich die geforderte Absenkung auf 7 Prozent. Und wussten Sie eigentlich, Herr Scholz, dass mehrheitlich in den 27 EU-Staaten ein abgesenkter Steuersatz auf Lebensmittel gilt? Das wäre mal eine soziale Leistung, wenn Sie dafür tatsächlich sorgten. ({4}) Ich fand die Erkenntnis daraus auch sehr spannend. Denn unsere Regierung scheint mal wieder einen Sonderweg zu gehen; das kennen wir ja auch schon von der Flüchtlingsfrage und anderen Dingen. Aber, meine Damen und Herren, ich will untermauern, dass wir diese neuen 7 Prozent dauerhaft brauchen. Hier gibt es ein schönes Beispiel, das die Absurdität des deutschen Steuerrechts zeigt. Ich möchte den Kabarettisten Django Asül paraphrasieren, der den Begriff des Offshoreschnitzels geprägt hat. Meine Damen und Herren, spitzen Sie die Ohren! Die Absurdität im deutschen Steuerrecht: Aktuell wird der Verzehr eines Schnitzels in der Gaststätte mit 19 Prozent versteuert. Bestelle ich das Schnitzel zum Mitnehmen und esse es außerhalb der Gaststätte, mit 7 Prozent. Bestelle ich das Schnitzel im Restaurant und esse im Außenbereich, dann werden wieder 19 Prozent fällig. Ja, und bestelle ich nun ein Schnitzel, das mein Hund essen soll, dann bin ich mit 7 Prozent dabei. Gönne ich es ihm nun aber nicht, weil ich sage: „Das sieht verdammt lecker aus“, wären eigentlich wieder 19 Prozent fällig. Ich wäre also ein Steuerhinterzieher – und mein Hund wahrscheinlich der Beihilfe schuldig. Meine Damen und Herren, das sogenannte Offshoreschnitzel ist geboren. Ein Wahnsinn! Finden Sie nicht auch? Deshalb sagen wir als AfD: Schluss mit dem Unsinn, und zwar dauerhaft! Wir stimmen der Überweisung zu, werden konstruktiv diskutieren, und die FDP als Serviceopposition ist herzlich eingeladen, bei diesem Gesetz endlich mitzuziehen und es nicht danach zu beurteilen, von welcher Fraktion es kommt, sondern danach, wie viel Logik es hat und wie es den Menschen dort draußen hilft. Wir freuen uns auf Ihre Zustimmung. Danke. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Nächste Rednerin ist die Kollegin Antje Tillmann, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Antje Tillmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003646, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer! Wir beraten heute das Gesetz zur Umsetzung steuerlicher Hilfsmaßnahmen. Darin kommen auch Schnitzel vor, aber nicht ausschließlich. – Und, Herr Gottschalk, bitte füttern Sie Ihren Hund nicht mit Schnitzeln! Das darf der gar nicht fressen. ({0}) Über die Mehrwertsteuer ist jetzt schon eine ganze Menge gesagt worden, und ja, ich weiß, dass es weiter gehende Wünsche gibt, aber wir stellen sicher, dass die Gastronomie ab dem 1. Juli 2020 unterstützt wird, indem wir für Speisen einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz in Rechnung stellen. Lieber Herr Kollege Klinge, wenn Sie nicht wissen, wie Sie Ihre Kneipe in Köln unterstützen sollen, dann gehen Sie doch einfach hin und essen die Frikadellen. Die können Sie auch einer ganzen Reihe Ihrer Freunde mitbringen. Das hilft dann auch da. ({1}) Auch in Nordrhein-Westfalen hat die Gastronomie wieder geöffnet. Jedes Mal wird gemeckert, dass Maßnahmen nichts nützen. Ich glaube, wir sollten es erst mal versuchen. Dass wir die Speisen ermäßigt besteuern, hilft der Gastronomie sehr wohl. Ganz zu kurz gekommen ist bisher allerdings, dass wir auch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unterstützen, was auch im Gesetzentwurf steht. Wir haben gestern das Kurzarbeitergeld für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erhöht und werden heute die Steuerfreiheit für Zuschüsse beschließen. Der Arbeitgeber kann das Kurzarbeitergeld auf bis zu 80 Prozent aufstocken, was wir ja wollen. Wir möchten, dass die Arbeitgeber das Kurzarbeitergeld idealerweise aufstocken. Das können sie auf bis zu 80 Prozent steuerfrei tun. Ob es dabei zu Überförderungen kommt, müssen wir im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens mal diskutieren. Auf jeden Fall ist das aber gut, weil wir den Arbeitgebern damit zeigen, dass wir ihr soziales Verhalten anerkennen. Für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die nicht das Glück haben, dass ihr Arbeitgeber so zahlungsfähig ist, haben wir die Voraussetzungen für die Grundsicherung verbessert. Wir haben die Wohnungsgröße und für die ersten sechs Monate auch die Vermögen aus der Prüfung herausgenommen, sodass auch diese Gruppe, die keine Aufstockung erhält, über die Grundsicherung abgesichert ist. Daneben gibt es in dem Gesetzentwurf auch mehr technische Themen, wie zum Beispiel zu § 2b Umsatzsteuergesetz. Wir wollen, dass sich die Kommunen im Moment mit dieser Krise befassen können, um die Auswirkungen zu minimieren. Deshalb wollen wir die Übergangsfrist für § 2b Umsatzsteuergesetz verlängern. Ähnliches machen wir beim Umwandlungssteuergesetz. Meiner Fraktion sind diese Maßnahmen, die wir begrüßen und unterstützen, aber noch nicht genug. Wir glauben, dass das erst mit einem Gesetz zur Umsetzung mancher steuerlicher Maßnahmen der Fall wäre. Um ein richtiges Steuergesetz daraus zu machen, fallen uns eine ganze Reihe erforderlicher Maßnahmen ein, die auch gar nicht zwingend mit Geld zu tun haben. Schon seit längerer Zeit diskutieren wir, dass wir die Frist für den Investitionsabzugsbetrag nach § 7g Einkommensteuergesetz verlängern müssen. Die Unternehmen sind nicht in der Lage, 2020 die Reinvestitionen zu tätigen, weil sie die finanziellen Mittel dazu nicht zur Verfügung haben. Diese Frist wollen wir verlängern. Das kostet überhaupt kein Geld, hilft aber den Unternehmen. ({2}) Wir begrüßen, dass das Finanzministerium abgestimmt mit den Ländern einen Teil der Verluste des Jahres 2020 auf 2019 rücktragsfähig macht – pauschal 15 Prozent. Aus unserer Sicht reicht das aber nicht aus, und ich freue mich hier über den Antrag der Grünen. Vielleicht finden wir da ja im Laufe der Gesetzgebungsdiskussion zueinander. Auch wir glauben, dass die Rücktragsfähigkeit verbessert werden und ein Rücktrag auf mehrere Jahre möglich sein muss. Wir könnten uns auch bei der Zahl eine andere Größenordnung vorstellen. Auf jeden Fall brauchen wir aber eine gesetzliche Grundlage für die Rücklage; denn mit der Steuererklärung 2020 muss sie in der Bilanz ausgewiesen werden können, weil es sonst auch Überschuldungsprobleme geben wird. Auch das ist ein Thema, das wir in den kommenden 14 Tagen noch in den Gesetzentwurf hineinverhandeln wollen. Wir müssen auf jeden Fall eine gesetzliche Grundlage für den steuerfreien Zuschuss von Arbeitgebern an ihre Mitarbeiter bis 1 500 Euro schaffen. Im Schrifttum – insbesondere im steuerlichen Schrifttum – wird sehr infrage gestellt, ob das BMF-Schreiben dafür ausreicht. Viele Arbeitgeber trauen sich nicht, zu zahlen, weil sie sonst für die Lohnsteuer haften, wenn diese Steuerfreiheit vor Gericht hinterher tatsächlich nicht standhalten sollte. Wir wollen die Gelegenheit dieses Gesetzgebungsverfahrens nutzen, das gesetzlich zu regeln. ({3}) Ein Thema, das, wie ich weiß, beim Koalitionspartner nicht zur Freude führt, aber einfach angesprochen werden muss, ist die technische Umsetzung der Kassenpflicht. Es geht überhaupt nicht um die Frage, ob wir Steuerhinterziehung befördern wollen oder nicht, sondern es geht darum, dass wir Vorschriften erlassen, die von Unternehmen de facto nicht umzusetzen sind. Es ist Stand heute so, dass noch keine Einrichtung cloudmäßig funktioniert und zertifiziert worden ist. Wir können die Frist für die Anschaffung von elektronischen Kassen mit zertifiziertem Sicherheitsmodul bis zum 30. September 2020 deswegen auf gar keinen Fall einhalten. ({4}) Deshalb ist es völlig absurd, dass wir zum Beispiel Gastronomen über das Solo-Selbstständigenprogramm 9 000 Euro zugestehen, aber sagen: „Mindestens 2 000 Euro davon musst du für eine neue Kasse ausgeben“, die sie im Moment sowieso nicht gebrauchen können. ({5}) Wir bitten wirklich, noch mal darüber nachzudenken. Das muss keine lange Verlängerung der Frist sein, aber es muss machbar sein. Solange die Programme nicht zertifiziert sind, können wir die Unternehmen auch nicht dazu verpflichten, eine solche Zertifizierung umzusetzen. Ein weiteres Stichwort ist die Verbesserung der Thesaurierungsbegünstigung. Das würde die Unternehmen in die Lage versetzen, unabhängig von der Gesellschaftsform Entscheidungen zu treffen. Für das Konjunkturpaket kündigen wir jetzt schon mal eine Erhöhung der anrechenbaren Gewerbesteuer an. Auf bessere Abschreibungsmöglichkeiten für digitale Wirtschaftsgüter haben wir uns schon verständigt. Aber – und das sage ich abschließend – auch der Umweltaspekt, der vor Corona ja unser wichtigstes Thema war, darf beim Konjunkturpaket nicht zu kurz kommen. Deshalb wollen wir verbesserte Abschreibungsmöglichkeiten für Umweltwirtschaftsgüter. All diese Maßnahmen können wir in den nächsten zwei Wochen noch schaffen. Ich wäre froh, wenn wir dieses Gesetz dann tatsächlich zu einem Steuergesetz für Coronahilfsmaßnahmen machen könnten. Ein erster Schritt ist gemacht; den unterstützen wir auch. Zu den nächsten fordern wir Sie herzlich auf, und wir freuen uns, dann noch bessere Maßnahmen zu verabschieden. Danke schön. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Tillmann. – Nächster Redner ist für die FDP-Fraktion der Kollege Dr. Florian Toncar. ({0})

Dr. Florian Toncar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003856, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Viele Selbstständige und viele Unternehmen sind in existenzieller Not, und ich darf auch noch mal auf die vielen Demonstrationen und Aktionen hinweisen – von Künstlern, Musikern, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Reisebüros und Busunternehmen, stellvertretend für viele andere Branchen, die in einer ähnlich bedrohlichen Lage sind –, die diese Woche hier in Berlin gezeigt haben, wie die Lage im Lande ist. Diese Selbstständigen, diese Unternehmer haben unserem Staat jahrelang treu und mit erheblichen Steuerzahlungen zur Seite gestanden – verlässlich und immer wieder. Es ist eine Frage der Fairness, dass diese Menschen heute einmal umgekehrt Unterstützung von uns allen bekommen, wenn sie selbst in Not sind. ({0}) Ganz nebenbei: Diese staatliche Unterstützung ist nicht nur ein Gebot der Fairness, sondern auch der Klugheit; denn sie trägt zum Erhalt von Arbeitsplätzen und künftigen Steuereinnahmen bei. Deswegen, Herr Minister Scholz, hat die Bundesregierung die Unterstützung der Freien Demokraten bei allem, was hilft, die Existenznot von Unternehmen zu lindern und Arbeitsplätze zu sichern. Natürlich ist die Absenkung der Mehrwertsteuer in der Gastronomie auf 7 Prozent im nächsten Jahr ein Schritt in die richtige Richtung. Wir haben ihn als Fraktion auch selbst immer wieder gefordert. Doch es bleiben natürlich Fragen offen: Erstens. 7 Prozent auf nichts ist auch nicht besser als 19 Prozent auf nichts. Deswegen brauchen wir zusätzlich intelligente Konzepte dafür, dass die Gastronomie auch wirklich wieder Umsatz machen kann. ({1}) Zweitens. Wenn der Gedanke ist, dass wir Unternehmen, die aufgrund von fehlenden Umsätzen, die man nicht mehr nachholen kann, Verluste gemacht haben, steuerlich einen Ausgleich gewähren wollen, dann muss man doch die Frage beantworten – das hat der Minister, auch wenn er sich gerade beim Tourismusbeauftragten informiert, auch in dieser Debatte nicht getan –, wie man eigentlich zu der Ungleichbehandlung von Speisen und Getränken kommt. Und noch viel grundsätzlicher: Es gibt viele andere Branchen, die genau dasselbe Problem wie die Gastronomie haben. Ich nenne als Beispiel nur mal die Friseure, die Künstler, die Fitnessstudios, die Veranstaltungsbranche. Auch die haben doch die Frage, warum die einen eine Begünstigung bekommen und die anderen nicht. Genau dazu haben Sie in Ihrer Redezeit, Herr Minister Scholz, gar nichts gesagt. ({2}) Die eigentliche Schwäche dieses Gesetzentwurfs ist aber nicht das, was drinsteht, sondern das, was nicht drinsteht. Deshalb drei Vorschläge von den Freien Demokraten, die wir übrigens auch schon parlamentarisch eingebracht haben: Erstens. Eine negative Gewinnsteuer, eine nachträglich wirkende Steuersenkung, indem Verluste aus dem Jahr 2020 mit Gewinnen aus den Vorjahren verrechnet werden können. Das verbliebe im Unternehmen und könnte dort verwendet werden. Ich habe heute von Ihnen, Frau Kollegin Tillmann, gehört, dass Sie zumindest in diese Richtung denken, und zwar schon im Zusammenhang mit diesem Gesetz. An dieser Ankündigung werden wir Sie natürlich auch messen. Ich wünsche mir, dass wir in der jetzigen Lage nicht nur Handlungsbedarf identifizieren, sondern auch politisch dafür kämpfen, dass das auch kommt. ({3}) Zweitens. Investitionen belohnen durch bessere Abschreibungsbedingungen bzw. eine degressive Abschreibung, damit diejenigen, die den Zug wieder anschieben wollen, etwas davon haben. Drittens. Verluste besteuern geht jetzt gar nicht. Sie haben zu Jahresbeginn Gesetze gemacht, die dazu führen, dass Verluste aus Termingeschäften und Kapitalanlagen faktisch besteuert werden. Das trifft gerade jetzt in der Krise viele. Nehmen Sie das zurück! Seien Sie fair zu den Steuerzahlern! Das alles sind Dinge, die wir in diesem Gesetzgebungsverfahren noch thematisieren und einbringen möchten. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Toncar. – Nächster Redner ist der Kollege Jörg Cezanne für die Fraktion Die Linke. ({0})

Jörg Cezanne (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004693, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gaststätten sind wie Hotels von der Coronapandemie besonders hart betroffen. Es drohen massenweise Insolvenzen, insbesondere bei kleinen Gaststätten und Kneipen. Schnelle Hilfe tut also not. ({0}) Von den 50 Milliarden Euro Soforthilfen des Bundes für Solo-Selbstständige und kleine Unternehmen wurde bis Ende April rund ein Fünftel ausgezahlt. Es besteht also noch Luft. Aus diesem Topf könnte als Sofortmaßnahme ein weiterer einmaliger Zuschuss von 9 000 Euro gezahlt werden, der auch die Lebenshaltungskosten bei coronabedingten Einnahmeausfällen ausgleichen sollte. ({1}) Für größere Betriebe stehen andere Mittel zur Verfügung. Pachtzahlungen müssen gestundet werden können. Die Rückzahlung der KfW-Kredite könnte an die Höhe des Unternehmensgewinns gekoppelt werden. Im Notfall müssten solche Kredite auch in Zuschüsse umgewandelt werden können. ({2}) Stattdessen meint die Bundesregierung jetzt, mit einer Senkung der Mehrwertsteuer helfen zu können. Der ermäßigte Satz von 7 Prozent, der heute schon für außer Haus verkaufte Speisen gilt, soll auch auf Essen angewendet werden, das in der Gaststätte verzehrt wird, befristet für ein Jahr. Drei Argumente, warum das nichts bringt – da bin ich jetzt vielleicht näher bei Ihrem Parteivorsitzenden als Sie, Herr Minister, mit Ihrem Vorschlag –: Gastronomiebetriebe, die nach zweimonatigem Einnahmeausfall kurz vor der Insolvenz stehen, hilft diese Absenkung gar nichts. Sie brauchen jetzt finanzielle Unterstützung. ({3}) Schon jetzt verkaufen viele Restaurantbetriebe ihre Speisen außer Haus; da gilt der ermäßigte Umsatzsteuersatz sowieso schon. Kneipen, Bars und Klubs, die ausschließlich oder überwiegend Getränke anbieten, werden von einer Steuerentlastung für Speisen sowieso nicht profitieren. Auch nix! „Eine Stimulierung der Nachfrage und eine Belebung der Konjunktur“, wie die Bundesregierung behauptet, sind auch nicht zu erwarten. Allein die notwendigen Abstandsregeln werden es vielen Gaststättenbetreibern praktisch unmöglich machen, einen Umsatz zu erzielen, der auch nur die Kosten deckt. Fangen wir mal anders an. Die errechneten Steuerausfälle betragen 2,73 Milliarden Euro. Rechnen Sie selbst mit: Würde man diese 2,73 Milliarden Euro den rund 70 000 Restaurantbetrieben in Deutschland direkt zur Verfügung stellen, sind das pro Betrieb circa 38 000 Euro. Ich glaube, die Mehrheit der Gaststättenbetreiber würde diese direkte Hilfe sehr viel lieber in Anspruch nehmen. Vielen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner ist der Kollege Danyal Bayaz, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Danyal Bayaz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004664, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Ehrlicherweise: Wir können nicht bei jeder wirtschaftlichen Maßnahme, die wir gerade treffen, immer wissen, ob sie die Richtige ist. Wir entscheiden unter einem hohen Grad an Unsicherheit. Vor diesem Hintergrund können wir dem Vorschlag einer zeitlich befristeten Senkung der Mehrwertsteuer in der Gastronomie durchaus etwas abgewinnen. Es ist ja eine Branche, die besonders stark von den Einschränkungen durch die Coronapandemie betroffen ist. Aber es gehört auch zur Wahrheit dazu, Herr Minister: Anders als es im Gesetzentwurf steht, geht es hier nicht um zusätzliche Konsum- oder Konjunktureffekte. Keiner isst zwei Pizzen, nur weil die Mehrwertsteuer gesunken ist. Vielmehr handelt es sich um eine Subvention für Gastronomen, um nicht getätigte Umsätze in den letzten Wochen zu kompensieren. Das ist auch richtig so. Aber man muss es dann an dieser Stelle auch so sagen, meine Damen und Herren. ({0}) Viele Unternehmen – nicht nur Gastronomen – werden dieses Jahr viel Verlust erleiden, obwohl sie eigentlich profitable Geschäftsmodelle haben. Wir wollen verhindern, dass gesunde Unternehmen dazu gezwungen werden, Arbeitsplätze abzubauen oder Investitionen abzublasen. Deswegen schlagen wir in unserem Antrag vor, dass Unternehmen Verluste aus diesem Jahr noch breiter steuerlich nutzen können, und zwar durch einen ausgeweiteten Verlustrücktrag über die letzten vier Jahre. Ich habe wohlwollend zur Kenntnis genommen, Frau Tillmann, dass es bei Ihnen eine gewisse Offenheit für diesen Vorschlag gibt. Ich bitte sie alle, die Sie Verantwortung haben, im weiteren Gesetzgebungsverfahren diesen Vorschlag sehr ernsthaft zu prüfen. Seine Umsetzung würde einfach dafür sorgen, dass zusätzliche Liquidität bei den Unternehmen ankommt, ohne dass weitere Kredite aufgenommen werden müssten. Gerade Mittelständler und Handwerker würden davon profitieren. Es würde der Erholung unserer Wirtschaft nutzen. Genau das ist doch unser aller Anliegen, meine Damen und Herren. ({1}) Wir haben nicht nur über Steuern gesprochen, sondern auch etwas zur Idee eines Konjunkturprogramms gehört. Ich finde das wichtig und richtig; denn diese Krise ist unvergleichlich. Wir müssen behutsam und klug vorgehen, um erstens unsere Wirtschaft wieder auf Vordermann zu bringen und zweitens ein anderes Ziel zu erreichen, nämlich Umwelt und Wirtschaft zusammenzubringen. Wir können nicht vor der einen Krise die Augen verschließen, um die andere zu lösen. Unsere Aufgabe in der Politik ist es, mehrere Krisen gleichzeitig zu händeln. Ich habe in Ihrer Rede, Frau Tillmann, auch wohlwollend vernommen, dass Sie dieses Ziel teilen. Gleichzeitig habe ich aber in dieser Woche gerade aus der Unionsfraktion wieder mal Stimmen wahrgenommen, die den Green Deal infrage stellen. Damit wenden Sie sich ja nicht nur gegen die Kanzlerin oder gegen die EU-Kommissionspräsidentin, sondern Sie wenden sich auch gegen eine Vielzahl von Unternehmen in Deutschland, die quasi im Wochentakt Appelle unterschreiben, in denen sie ein ökologisches Konjunkturprogramm fordern. Sie stellen sich auch gegen die Empfehlung eines breiten Bündnisses aus Ökonominnen und Ökonomen, die in eine ähnliche Richtung argumentieren. Sie raten uns nämlich zu mehr Investitionen in öffentliche Infrastruktur, in Qualifizierung, in Bildung, in Forschung, in unsere digitale Infrastruktur und, ja, auch in die ökologische Modernisierung unserer Industrie. Herr Minister, Sie sprachen das Konjunkturprogramm an und sagten: Da kommt noch was. – Genau an diesen Vorschlägen werden wir Sie messen. Diese Krise lehrt uns, dass unsere Wirtschaft resilienter werden muss, dass sie robuster werden muss, dass sie anpassungsfähiger werden muss, dass sie unabhängiger werden muss. Das erreichen wir, indem wir unserer sozialen Marktwirtschaft ein ökologisches und ein digitales Update verpassen. Über die Maßnahmen können und werden wir in diesem Haus sicherlich noch streiten; das ist unstrittig.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte jetzt zum Schluss.

Dr. Danyal Bayaz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004664, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Aber das Ziel sollten wir nicht infrage stellen. Ich bitte Sie alle, das sehr ernst zu nehmen, damit wir nicht von der einen Krise in die nächste stolpern. Herzlichen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Lothar Binding, SPD-Fraktion. ({0})

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde, das alles passt im Moment sehr gut zusammen: das, was Danyal Bayaz und Antje Tillmann gesagt haben, und die Ankündigung von Olaf Scholz, dass ein Konjunkturprogramm kommt. Das alles kulminiert in einem Punkt: der großen sozialökologischen Transformation. Wir alle wissen, dass wir das machen müssen. ({0}) Wir brauchen eine fossilfreie Welt. Wir brauchen eine Beschäftigungswelt, die möglichst ohne prekäre Beschäftigung auskommt. Dann haben wir schon Ziele für das Konjunkturprogramm definiert. Antje Tillmann, die Dinge, die du vorgetragen hast, unterstützen wir ja im Wesentlichen, zum Beispiel den Investitionsabzugsbetrag nach § 7g EStG. Das wollen wir machen. Eine gute Idee für das Konjunkturprogramm! Zu den Verlustrücktragmöglichkeiten gibt es einen genialen Vorschlag aus dem Haus von Olaf Scholz. Danach sollen die Verluste, die in diesem Jahr geschätzt entstehen, auf die Steuervorauszahlung des letzten Jahres pauschal angerechnet werden – das ist wirklich gut –, mit einer gewissen Begrenzung. Aber man kann da nicht uferlos und maßlos werden. ({1}) Die Idee ist genial. Über die 15 Prozent als Begrenzung kann man reden. Darüber kann man auch jetzt schon hinausgehen; das wäre sehr gut. Ob der grüne Vorschlag, den Verlustrücktrag bis 2016 zu ermöglichen, so gut ist, weiß ich nicht. Viele Steuerfälle sind schließlich schon abgeschlossen. Das ist eine andere Sache. Zur Kassenpflicht müssen noch separate Überlegungen angestellt werden. Die Interessengemeinschaft der Hersteller von zukunftsweisenden Kassensystemen bestreitet, dass es Schwierigkeiten gibt; das sei alles da. Wer sich ein bisschen umschaut, sieht auch, dass im Moment die Zertifizierungen abgeschlossen werden. Es kann alles implementiert werden. Es gibt keinen Grund, das zu verschieben. Es sind auch noch fünf Monate Zeit, sodass wir bestimmte Abschreibungsmöglichkeiten verbessern können. Auch dazu besteht Einigkeit, ebenso bei der Thesaurierung. Ich glaube, das wird alles in diesem Konjunkturprogramm kommen. Das sind sehr gute Voraussetzungen für die künftige Gesetzgebung, die die Zukunft nach der Krise, nach dem Shutdown in den Blick nimmt. ({2}) Mit dem, was wir heute machen, flankieren wir Verbesserungen für das Kurzarbeitergeld. Das Kurzarbeitergeld betrug ursprünglich 60 Prozent. Wir wollten das gerne auf 80 Prozent erhöhen. Jetzt liegt es bei 60 Prozent, nach drei Monaten wird es bei 70 Prozent liegen, nach sechs Monaten bei 80 Prozent. Offen gestanden, das haben nicht alle in der Koalition gewollt. Dafür, dass das nicht alle gewollt haben, war ein Preis zu zahlen. Dieses Gesetz enthält auch einen Preis dafür, dass wir diesen Menschen, die mit 60 Prozent nicht zurechtkommen, helfen wollen. Man muss sich vorstellen: Wer plötzlich mit nur noch 60 Prozent, also 40 Prozent weniger, auskommen muss, der hat ein echtes Problem. Wir nennen das vornehm „zur Vermeidung von sozialen Härten“. Olaf Scholz ist darauf eingegangen, was im Moment in Familien los ist, die isoliert sind, die mit ihren Kindern allein sind, mit ihnen lernen müssen und die weniger Geld haben. Sie haben ein richtig dickes Problem zu Hause, und dieses Problem lösen wir, indem wir die Arbeitgeber motivieren, ihren Zuschuss zu verbessern oder ihn überhaupt erst mal in Angriff zu nehmen, indem wir sagen: Auch der Zuschuss ist steuerfrei. – Parallel dazu verbessern wir natürlich die Einnahmemöglichkeiten der Leute, die wenig haben. Jetzt sind die drei Minuten Redezeit herum, und ich möchte keine Rüge einstreichen. Deshalb bedanke ich mich für Ihre Aufmerksamkeit. Alles Gute! ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Binding. – Solange ich Sie nicht auffordere, zum Schluss zu kommen, können Sie reden. ({0}) Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Kollege Sebastian Brehm, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. ({1})

Sebastian Brehm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004682, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Coronapandemie stellt sowohl die Industrie, aber vor allem auch den deutschen Mittelstand vor erhebliche Herausforderungen. Deshalb war es richtig, in einem ersten Schritt mit den Soforthilfeprogrammen, mit der Möglichkeit der Steuerstundung, mit der Rückerstattung der Umsatzsteuer, den Regelungen zu Sondervorauszahlungen und mit der Möglichkeit der Aufnahme von KfW-Krediten die Unternehmerinnen und Unternehmer zu unterstützen. Das Wichtigste, was in der gegenwärtigen Zeit erforderlich war und ist, besteht darin, Liquidität in die Unternehmen zu bringen. Jetzt geht es um einen zweiten Schritt. Es geht darum, die Möglichkeit für die Unternehmerinnen und Unternehmer zu schaffen, aus eigener Kraft wieder Gewinne zu erwirtschaften und ihre Wettbewerbsfähigkeit herzustellen, indem wir eben die steuerlichen Voraussetzungen schaffen. Das tun wir heute mit der Einbringung dieses Gesetzes durch die CDU/CSU-Fraktion und die SPD-Fraktion. Hierbei gibt es drei Kernelemente, die im Koalitionsausschuss am 22. April beschlossen wurden: erstens die Verlängerung der Fristen im Umwandlungssteuerrecht, aber auch der Fristen der Umsatzsteuerpflicht für Kommunen, zweitens die Steuerfreistellung der Aufstockung des Kurzarbeitergeldes bis 80 Prozent des Nettolohns und drittens eine Absenkung der Mehrwertsteuer für Speisen einheitlich auf 7 Prozent, zunächst befristet bis 30. Juni 2021. Gerade bei diesen 7 Prozent sage ich ein herzliches Dankeschön für den hartnäckigen Einsatz meines Parteivorsitzenden und Ministerpräsidenten Markus Söder. ({0}) Das ist ein deutliches Zeichen, und das wird der Branche helfen. Wenn wir die Betriebe aus eigener Kraft heraus stärken wollen, dann müssen wir aber weitere Anstrengungen unternehmen. Hier gibt es Prüfaufträge des Bundesrates, die übrigens von Bayern unterstützt werden, und insbesondere sehr wertvolle Vorschläge der CDU/CSU-Fraktion: ({1}) die Erweiterung des Verlustrücktrages – auch die Grünen haben ja heute einen Antrag dazu gestellt –, die Einführung einer Coronarücklage und die Verlängerung der Reinvestitionsfristen beim Investitionsabzugsbetrag. Lieber Herr Kollege Binding, wenn Sie all die Vorschläge gut finden, die wir eingebracht haben, dann lassen Sie sie uns doch gleich in dieses Gesetz mit aufnehmen. Wir haben jetzt zwei Wochen Zeit, das textlich zu verarbeiten, und dann können wir es miteinander beschließen. Wir unterstützen auch die 1 500 Euro steuerfreien Zuschuss sehr. Aber wir bitten schon, dies ebenfalls in diesem Gesetz zu verankern. Ich glaube, es reicht verwaltungsseitig nicht aus, das allein über ein BMF-Schreiben anzuordnen, weil es rechtlich angreifbar ist. Deswegen wäre wichtig, wenn wir diesen Punkt in dieses Gesetz einbringen, sodass wir 1 500 Euro steuerfrei an die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auszahlen können. Das wäre, glaube ich, auch das richtige Signal. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es sei mir ein letzter Punkt gestattet, gerade als Berichterstatter für die Kassensicherungsverordnung und für die Kassenfragen. Ich glaube, wir müssen dringend die Frist zur Einführung der TSE-Module und der TSE-Kassen um ein Jahr verschieben. Ich will das auch begründen – nicht dass ich falsch verstanden werde –: Wir stehen hinter der Regelung zu einer Sicherung der Speicherdaten bei den Kassen; dazu stehen wir. Aber eine Einführung im jetzigen Moment ist gar nicht möglich. Wir dürfen den Unternehmerinnen und Unternehmern jetzt keine Belastungen aufbürden, die sie gar nicht erfüllen können, selbst wenn sie es wollten. Wir können es ja auch gar nicht erfüllen – ich gehe dann gleich noch darauf ein –; wir können es in der aktuellen Situation gar nicht umsetzen. Erstens. Derzeit stehen noch nicht ausreichend TSE-Module, zertifiziert für klassische Kassen, zur Verfügung, übrigens auch nicht für Cloud-basierte Kassen, die gerade im Einzelhandel über Tablets oder Smartphones funktionieren. Im kleineren Einzelhandel gibt es überhaupt noch keine TSE-Zertifizierung. Der Zertifizierungsprozess erfolgt beim Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik. Wann das abgeschlossen sein wird, wissen wir heute noch nicht. Zweitens sind aufgrund von Corona eine Liefermöglichkeit und eine Einbaumöglichkeit noch gar nicht garantiert, selbst wenn die Zertifizierung bis dahin abgeschlossen sein sollte. Also, die Unternehmer haben überhaupt gar keine Möglichkeit, ein solches Kassensystem bei sich einzubauen, auch wenn sie das wollen. Drittens, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben doch der Gastronom, der Einzelhändler, der Friseur jetzt ganz andere Fragestellungen zu bewältigen, als bis zum 30. September 2020 eine neue Kasse anzuschaffen. Die finanziellen Mittel fehlen, die zeitlichen und personellen Ressourcen fehlen. Sie müssen sich doch jetzt erst mal darauf konzentrieren, wieder Geld einzunehmen, um dann in einem zweiten oder dritten Schritt das Geld auch wieder investieren zu können. Deswegen: Lassen Sie uns da wirklich noch mal eine Verlängerung der Frist vornehmen. ({3}) Es kommt dann mit Sicherheit – ja, der Einwand kommt; das habe ich erwartet – auch die Möglichkeit, dass man nach § 148 Abgabenordnung eine Ausnahmeregelung einräumen kann. Meine Kollegin Antje Tillmann und ich haben zahlreiche Schreiben von Finanzämtern aus ganz Deutschland bekommen – ich könnte hier Berge vorlegen –, in denen persönliche Härten dargestellt werden und die dennoch zum Ausdruck bringen, man könne eine Ausnahmeregelung leider gar nicht bearbeiten, man müsse sie sogar ablehnen. Dann bleibt doch eigentlich nur noch die Möglichkeit einer gesetzlichen Verschiebung. Und deswegen bitte ich Sie ganz herzlich, dass wir diese Diskussion aufnehmen und in diesem Gesetz umsetzen. Das ist ein wichtiges Signal für die Unternehmerinnen und Unternehmer. Wenn wir es nicht umsetzen können, können wir es den Unternehmern auch nicht aufbürden. Deswegen lassen Sie uns das umsetzen. Herzlichen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Brehm. – Damit schließe ich die Aussprache.

Roman Müller-Böhm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004833, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Beschäftigte und Unternehmerinnen und Unternehmer der deutschen Reisewirtschaft! Es geht hier heute nicht, wie vielleicht allzu oft, um das Klein-Klein der Parteipolitik, sondern es geht hier heute um 3 Millionen Jobs, es geht um 3 Millionen Menschen, denen die Bundesregierung leider nur Heuchelei vorspiegelt, und es geht um 3 Millionen Schicksale, die von dieser Bundesregierung ignoriert werden. ({0}) Eine noch nie dagewesene Pleitewelle droht dem Tourismus in Deutschland nachhaltig zu schaden, und das Einzige, was die Bundesregierung getan hat, bestand darin, Zeit zu verplempern, indem sie im Rahmen einer achtwöchigen Brieffreundschaft mit der EU-Kommission nichts erreicht hat, absolut rein gar nichts. Sie verstehen einfach nicht, dass für eine Branche, die so vielfältig ist, mehr als nur eine Lösung angeraten ist, mehr, als nur Gutscheine durchzusetzen. Sie schmeißen einfach alles in einen Topf, von Reisebüros über Reiseveranstalter, Busbetriebe, Airlines bis zu Hotellerie und Gastronomie. Das sind nur einige wenige Beispiele, die diese Branche ausmachen. Dann setzen Sie sich diese Insellösung mit den Gutscheinen in den Kopf und scheitern auch noch. Ich sage Ihnen ganz deutlich: Das ist wirklich der neue Tiefpunkt der Wirtschaftspolitik dieser Bundesregierung. ({1}) Es wurde also dringend Zeit, dass von uns Freien Demokraten dieses wichtige Thema hier endlich auf die Tagesordnung gesetzt und auch im Deutschen Bundestag beraten wird. Es gibt nämlich keine Zeit mehr zu verlieren. Für die Reisewirtschaft ist es bereits kurz nach zwölf. Die Hilfsmaßnahmen, die bisher beschlossen wurden, laufen leider weitgehend am Tourismus vorbei. 16 Länder – 16 unterschiedliche Konzepte, wie die Hilfspakete zu beantragen sind. Es gibt Länder, in denen bereits Gelder ausgezahlt wurden, da gab es beispielsweise hier in Berlin noch nicht mal einen Antrag, den man überhaupt hätte stellen können, um Geld zu erhalten. Das Ganze ist Bürgerinnen und Bürgern nicht zu vermitteln, und deswegen wollen wir sicherstellen, dass über die Finanzierungsinstrumente eines erweiterten Wirtschaftsstabilisierungsfonds die touristischen Betriebe in unserem Land mit Liquidität versorgt werden. ({2}) Damit das möglich ist, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wir hier im Deutschen Bundestag einfach nur den bereits errichteten Wirtschaftsstabilisierungsfonds auch für kleine Unternehmen zugänglich machen. Das alles kann aber nur ein Teil der Lösung sein. Wir können hier als Deutscher Bundestag ein Hilfspaket nach dem anderen beschließen: Wenn die Unternehmen am Ende des Tages nicht in der Lage sind, ihre Arbeit wieder aufzunehmen und wieder selbstständig Geld zu verdienen, wird das alles nichts bringen. ({3}) Es gilt, dass insbesondere durch die Verlängerung der Reisewarnung durch den Außenminister am 29. April zusätzliches Chaos geschaffen wurde. Es ist absolut nicht einsehbar, warum für ein Ferienhaus, das sich in einer verhältnismäßigen sicheren Lage befindet, genau die gleichen Regeln gelten sollen wie beispielsweise für ein Hotel in einem Corona-Hotspot. Das ist nicht zu begreifen. Da müssen Sie dringend mal was machen. ({4}) Wir brauchen nun eine Arbeitsgruppe bestehend aus Vertretern der Regierung, des Parlaments, der touristischen Betriebe und auch der Wissenschaft, die schnell ein gemeinsames Konzept vorlegen, wie wir in den Bundesländern wirklich einheitlich handeln können. Diese Arbeitsgruppe verdient es dann aber auch – das sage ich ganz deutlich, weil er heute nicht hier ist –, vom Minister geführt zu werden. ({5}) Denn alles andere unterhalb der Ministerebene wäre wirklich eine Beleidigung für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dieser Branche. ({6}) Zum Schluss richten sich meine Worte an all die tollen touristischen Betriebe in unserem Land. Ich kann sehr gut verstehen, dass sie wütend sind – ich bin es bei diesem Thema auch –; denn sie durchleben gerade die schlimmste wirtschaftliche Krise ihres Lebens. Diese Regierung schenkt diesem Umstand nicht auch nur einen Funken von Aufmerksamkeit, ganz im Gegenteil. Das war beispielsweise am letzten Mittwoch im Tourismusausschuss gut zu sehen, als wir Herrn Altmaier gebeten haben, sich zu dem Thema zu äußern. ({7}) Da waren die Koalitionsfraktionen der Meinung, dass dem Minister zu viel zugemutet würde, wenn er in einer Videokonferenz erscheinen muss. ({8}) Ich appelliere also an die Bundesregierung, an die Koalitionsfraktionen: Lassen Sie uns die Zukunft des Tourismus jetzt retten! Herzlichen Dank. ({9})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Müller-Böhm. – Nächster Redner ist Paul Lehrieder, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Zunächst, Herr Kollege Müller-Böhm: Nach Ihrer leidenschaftlichen Rede gilt für die Große Koalition: Lieber gut regieren als nicht regieren. ({0}) Meine Damen und Herren, wir stellen uns unserer Verantwortung. Ihr seid am 19. November 2017 in die Büsche geflüchtet, und heute kommt ihr wieder mit einem Antrag, wie es besser gehen sollte. ({1}) Von daher: Wir stehen immer noch zu unserer Verantwortung. An diesem Rednerpult hat vor genau drei Wochen Ihr Zampano Christian Lindner ausgeführt: Die Zusammenarbeit in Sachen Corona ist hiermit beendet. – Nein, wir wollen auch weiterhin die Zusammenarbeit mit Ihnen in Sachen Corona, weil die Branche es verdient hat. Die Branche leidet – da stimme ich Ihnen sogar zu, Herr Müller-Böhm – am extremsten; die ist als Erste reingekommen und kommt wahrscheinlich als Letzte raus. Deshalb arbeiten wir auch an Sonderprogrammen für die Branchen, die natürlich besonders lange unter Corona leiden. ({2}) Noch etwas: Ihr Antrag hat ja nicht nur schlechte Seiten; er hat auch etwas Gutes. Sie überschreiben den Antrag mit „Coronahilfen für die Reisewirtschaft“, also Mehrzahl. Genau daran arbeiten wir in der Großen Koalition. ({3}) – Bitte stellen Sie eine Frage; dann habe ich mehr Zeit. – Wir diskutieren einmal über die Möglichkeit einer verpflichtenden Gutscheinlösung. Die haben wir vorgestern für die Konzert-, für die Veranstaltungs- und für die Sportbranche auf den Weg gebracht. Das geht im Reiserecht, europarechtlich hingegen nicht; das wissen Sie. Sie selbst schreiben in Ihrem Antrag im Übrigen noch: Es erscheint daher kurzfristig sinnvoll, die bestehenden Regelungen des § 651h BGB anzupassen, um – passen Sie gut auf! - das Anbieten von Gutscheinen über den bereits gezahlten oder angezahlten Reisepreis bei Rücktritten von Reiseverträgen rechtssicher zu ermöglichen. ({4}) Sie fordern doch also auch verpflichtende Gutscheine in Ihrem Antrag. ({5}) Ein paar Zeilen weiter schreiben Sie: So schaffen wir der Reisebranche wieder Luft zum Atmen. Allerdings begegnet dieses Vorhaben europarechtlichen Bedenken. ({6}) Ich habe geschaut, von wann der Antrag datiert: vom 12. Mai 2020. Am 13. Mai hat Brüssel gesagt: Das kommt so nicht infrage; der Kunde muss zwischen Cash und einem Gutschein wählen können. Den Gutschein könnt ihr aufpeppen; da könnt ihr noch ein paar Prozent drauflegen, damit der Kunde aus Loyalität zu seinem Reisebüro vielleicht einen freiwilligen Gutschein nimmt. Es gibt jetzt insgesamt drei Möglichkeiten, Herr Müller-Böhm – da sollten Sie mal aufpassen –, um im Interesse der Reisebüros konstruktiv an dieser Sache zu arbeiten, deren Vertreter am Mittwoch hier in Berlin waren. Wir waren am Brandenburger Tor ({7}) und haben mit denen gesprochen. Denen stehen die Tränen in den Augen, aus verständlichen Gründen. ({8}) Die Ersten gehen schon pleite. Darum arbeiten wir daran. Schauen Sie sich den Staatssekretär an – hey, Thomas; kann die Kamera mal auf sein Gesicht schwenken? –: ({9}) Was er für tiefe Furchen auf der Stirn hat, weil er versucht, hier eine vernünftige Lösung hinzubekommen! ({10}) Also: Punkt eins. Verpflichtende Gutscheine gehen nicht. Wie gesagt, freiwillige Gutscheine gingen. Punkt zwei. Freiwillige Gutscheine werden wahrscheinlich nicht von allen Kunden akzeptiert. Machen wir uns nichts vor: Ein Reisekunde, der 3 500 Euro beim Reisebüro angezahlt hat, um nächstes Jahr an Weihnachten irgendwo in die Karibik zu fliegen, der ist vielleicht nicht bereit, dieses Geld ein halbes oder ein Dreivierteljahr im Reisebüro liegen zu lassen. Der sagt: Nur Bares ist Wahres. Ich möchte mein Geld in Cash wiederhaben. – Der wird es also zurückfordern. Das heißt, wenn wir diese Freiwilliger-Gutschein-Lösung anbieten, habe ich die große Sorge, dass gleichwohl eine Vielzahl von Kunden auf einer Barauszahlung beharrt, was zur Insolvenz von Reisebüros führen wird. ({11}) Auf der anderen Seite befinden wir uns in der Situation, dass wir die europäische Insolvenzabsicherung bisher nicht in ausreichendem Umfange umgesetzt haben; das hat uns die Pleite von Thomas Cook im letzten halben Jahr leidvoll gelehrt. Da müssten wir was entwickeln. Wir diskutieren jetzt ganz leidenschaftlich und intensiv – da kann sich die Opposition auf uns verlassen – in der Koalition mit den Juristen, mit den Wirtschaftspolitikern, mit den Tourismuspolitikern über die Frage: Wie können wir hier eine vernünftige, eine tragfähige Lösung für die Branche hinbekommen? Da glühen die Drähte. ({12}) – Hey, Herr Müller-Böhm, passen Sie auf! Jetzt hier schwätzen, und danach wissen Sie nicht, worum es geht. ({13}) Von daher: Da glühen die Drähte. Wir arbeiten an der Möglichkeit einer sogenannten Fondslösung, die wir für sinnvoll halten. Die Kollegin Lemke hat mich gebeten, auch noch etwas zu den Jugendherbergen zu sagen. Ja, wir arbeiten auch daran. Ich bin auch dankbar, dass der Finanzminister vorhin sehr deutlich gesagt hat, dass ein weiteres Programm für die Unternehmen aufgelegt wird, die besonders lange unter der Krise leiden. ({14}) – Jetzt müssen Sie ruhig sein. Jetzt beantworte ich hier Ihre Frage, die Sie mir vorhin mit auf den Weg gegeben haben. ({15}) Wir wollen auch, dass die Jugendherbergen, die Branchen, die ganz besonders lange unter der Krise gelitten haben, die Krise gut überstehen. Das betrifft die Schausteller, das betrifft die Kongressbetreiber, das betrifft die Caterer. Ich könnte ein halbes Dutzend Branchen nennen, deren Vertreter hier genauso Tränen in den Augen haben, die nicht wissen, wie es weitergeht. Bei den Jugendherbergen ist das Problem: Sie sind gemeinnützig ausgelegt. Das heißt, es sind keine auf dem Markt befindlichen Betriebe mit Gewinnabsicht. ({16}) Da müssen wir schauen, wie wir eine Lösung finden. In Bayern haben wir eine Lösung gefunden. Ich wünsche mir eine solche Lösung auch für ganz Deutschland. Sie dürfen versichert sein: Zusammen mit dem Staatssekretär und dem Wirtschaftsminister werden wir – auch wenn er nicht im Ausschuss ist; der muss ja auch im Ministerium etwas dafür tun, dass die Branche gerettet wird – eine Lösung dafür finden. ({17}) Herr Kollege Tressel, ich habe Ihren Antrag vorhin angesprochen. Wir sind verglichen mit dem Antrag, den Sie heute zur Abstimmung stellen wollten, ({18}) glaube ich, schon ein Stückchen weiter, wie Sie sich vorstellen können. Verlassen Sie sich auf die Große Koalition. Lieber gut regieren als nicht regieren! Herzlichen Dank. ({19})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Lehrieder. – Es scheint, jedenfalls was den bayerischen Anteil der CDU/CSU-Fraktion angeht, doch rau und herzlich bei Ihnen zuzugehen. ({0}) – Bei uns geht es nur rau zu. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, als nächster Redner hat der Kollege Sebastian Münzenmaier, AfD-Fraktion, das Wort. ({2})

Sebastian Münzenmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004836, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! „Coronahilfen für die Reisewirtschaft“: Als ich den Titel Ihres Antrags gelesen habe, war ich gespannt auf die innovativen Lösungen, die Sie ja immer versprechen. Ich war sehr gespannt – und dann habe ich Ihren Antrag gelesen. ({0}) Aber betrachten wir zuerst mal die Ausgangslage. Sie haben vollkommen recht: Die deutsche Reisewirtschaft liegt am Boden. Laut dem Bundesverband der Deutschen Tourismuswirtschaft sind durch die Coronakrise rund 1 Million Beschäftigte im Reise- und Gastgewerbe akut von Arbeitslosigkeit bedroht. 70 Prozent der Beschäftigten sind jetzt schon in Kurzarbeit. Nach einer Umfrage des Deutschen Reiseverbandes stehen zwei Drittel aller Unternehmen der deutschen Reisewirtschaft unmittelbar vor der Insolvenz. Ich gebe Ihnen auch recht: Ja, diese Menschen brauchen jetzt unsere Hilfe. Und: Ja, die Bundesregierung hat hier versagt. Auch das ist unzweifelhaft; ich gebe Ihnen vollkommen recht. Aber wir diskutieren heute ja nicht das Versagen der Bundesregierung, sondern wir diskutieren Ihren konkreten Antrag. Deswegen: Schauen wir uns mal an, was Sie konkret fordern. Sie fordern zum Beispiel, dass die Regierung Unternehmen und Verbraucher über geplante Hilfsmaßnahmen aufklärt. Es ist, ehrlich gesagt, eine absolute Binsenweisheit, dass eine Regierung über die eigenen Maßnahmen aufklärt. Für diese Erkenntnis hätte es die FDP nicht gebraucht. Das kriegen vielleicht sogar noch die Koryphäen auf der Regierungsbank halbwegs hin. ({1}) Der Punkt des Antrags war schon mal nichts, Herr Dr. Klinge. Aber vielleicht landen Sie ja beim nächsten Punkt Ihres Antrags einen Treffer. Thema Reisegutscheine. Wir alle wissen es, und viele Menschen draußen haben es in den Nachrichten mitverfolgt: Die Bundesregierung wollte den Reiseveranstaltern erlauben, Urlaubern, deren Reise wegen des Coronavirus storniert wurde, statt der Reisepreiserstattung nur einen Gutschein in die Hand zu drücken, und sie dann auch noch darauf verpflichten, diesen anzunehmen. Das hat die EU-Kommission nicht mitgemacht und der Bundesregierung mitgeteilt, dass diese Zwangsgutscheine gegen europäisches Recht verstoßen. ({2}) – Das sieht auch die FDP-Fraktion so; Herr Müller-Böhm nickt. Sie haben es ja auch im Ausschuss betont. – Ich zitiere, mit Erlaubnis des Präsidenten, auch noch mal den EU-Justizkommissar, der gesagt hat: Nach EU-Recht haben Verbraucher die Wahl, ob sie einen Gutschein akzeptieren oder eine Rückerstattung bevorzugen. Die Rechtslage ist also vollkommen klar, und die Bundesregierung hat auch hier versagt. Aber jetzt die Frage an die FDP-Fraktion – erklären Sie mir das bitte mal! –: Wieso will Ihre papierlose Fraktion, worauf Sie ja immer so stolz sind, hier einen Riesenbürokratieaufwand betreiben und ein neues Gesetz verabschieden – das fordern Sie in Ihrem Antrag –, das exakt das erlaubt, was heute schon Rechtslage ist und erlaubt ist? ({3}) Das ist, ehrlich gesagt, absoluter Quatsch, meine Damen und Herren. ({4}) Ich fasse noch mal zusammen: In einem Punkt fordern Sie de facto gar nichts, und in den zwei anderen Punkten, die ich gerade angesprochen habe, fordern Sie Dinge, die sowieso schon Rechtslage sind. – Wenn ich jetzt wohlwollend wäre, könnte ich sagen: Sie machen zumindest nichts kaputt; da ist die Bundesregierung schlimmer. Aber weiterhelfen tun Sie als FDP-Fraktion auch keinem. ({5}) Einen Punkt, den Sie eben auch angesprochen haben, habe ich noch vergessen: Sie fordern eine „Arbeitsgruppe Tourismuskonzept Corona“. Herzlichen Glückwunsch! Wenn man nicht mehr weiterweiß, gründet man einen Arbeitskreis. ({6}) Und auch für Sie noch mal als Nachhilfe: Diese Forderung ist natürlich insbesondere dann sinnvoll, wenn es genau diesen Arbeitskreis schon gibt, in dem die Branche, in dem die Politik und die Wissenschaft zusammenarbeiten. Der heißt zwar nicht „Arbeitsgruppe Tourismuskonzept Corona“, sondern nennt sich Tourismusbeirat, und den gibt es schon, meine Damen und Herren. Also auch diesen Punkt Ihres Antrags können wir leider getrost streichen. Das heißt, werte, geschätzte Kollegen der FDP-Fraktion – Sie merken es ja selbst; ich sehe es in Ihren Gesichtern –: ({7}) Dieser Antrag war wohl nichts. ({8}) Aber wir wollen ja gemeinsam in die Zukunft schauen. Deshalb lassen Sie uns doch darüber sprechen, was die deutsche Reisewirtschaft wirklich braucht. ({9}) Die deutsche Reisewirtschaft braucht Umsatz. Und wie sorgt man für Umsatz? Im Auslandstourismus sorgt man dafür, indem man die pauschale weltweite Reisewarnung jetzt aufhebt und im Einzelfall danach entscheidet, wie sich die Situation in den jeweiligen Reiseländern darstellt. So würde man der Reisewirtschaft helfen. Sie haben es kurz angesprochen; in Ihrem Antrag steht davon leider wieder nichts. ({10}) Wie sorge ich im Inland für Umsatz? Indem man endlich diesen Shutdown komplett beendet, indem man Hotels, Restaurants und andere Tourismusangebote wieder öffnet, und zwar komplett öffnet. Wir haben das am 7. April als Erste gefordert. Am 23. April habe ich hier an dieser Stelle Sie alle dazu aufgefordert, den Menschen ihre Freiheit und ihre berufliche Perspektive wieder zurückzugeben. Auch Sie als FDP-Fraktion haben das abgelehnt. Stattdessen wollen Sie also einen Arbeitskreis gründen und die gültige Rechtslage noch mal feststellen. Ehrlich gesagt, das ist ein bisschen schwach, aber ich bin mir sicher: Diesen Nonsens wird Ihnen die deutsche Reisewirtschaft nicht vergessen und es bei der nächsten Wahl bedenken. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Gabriele Hiller-Ohm für die SPD-Fraktion. ({0})

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Uns allen ist die dramatische Situation in der Reisebranche bewusst. Sie wurde als erster Wirtschaftsbereich von der Coronakrise mit voller Wucht getroffen. Daraufhin haben die Bundesregierung und das Parlament, also wir alle gemeinsam, sehr schnell auf diese existenzbedrohende Situation für die Unternehmen reagiert und ein bisher – das müssen wir uns auch immer vor Augen halten – nie dagewesenes Hilfspaket geschnürt. Das hat der Tourismusbranche und rund 1 Million von akuter Arbeitslosigkeit bedrohten Beschäftigten gerade zu Beginn des Lockdowns sehr geholfen. Denn beim Lockdown mussten von heute auf morgen sämtliche Hotels, Restaurants, Freizeitparks und praktisch alle touristischen Einrichtungen schließen. Die Einnahmen brachen weg, die Kosten blieben. 90 Prozent der Betriebe im Reisebereich haben Kurzarbeit angemeldet, etwa 70 Prozent der Beschäftigten im Bereich Tourismus erhalten Kurzarbeitergeld. Gott sei Dank, sage ich; denn dadurch werden Kündigungen und Entlassungen vermieden. Auch die Direkthilfen, die nicht zurückgezahlt werden müssen, und die Sofortkredite wurden in sehr großem Umfang in Anspruch genommen. Jetzt kann der Tourismus in Deutschland und demnächst auch in Europa wieder hochfahren. Aber wir alle wissen: Das ist mit vielen Auflagen und damit auch mit vielen finanziellen Einbußen für die Branche verbunden, die viele Betriebe in die Verlustzone katapultieren und zum Aufgeben zwingen werden. Etwa zwei Drittel der Reiseunternehmen – wir haben es schon gehört – stehen bereits vor der Insolvenz. Deshalb ist es, liebe Kolleginnen und Kollegen, ganz wichtig, dass weitere Hilfsmaßnahmen folgen. Die Vorschläge der FDP werden die Branche jedoch aus meiner Sicht nicht retten. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, Sie fordern, dass der geplante Wirtschaftsstabilisierungsfonds auch für kleine und mittelständische Unternehmen geöffnet werden soll. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Hiller-Ohm, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung?

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, dann kriege ich meinen Zug nicht mehr. Nächstes Mal. Tut mir leid. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich habe die Uhr angehalten, kleinen Moment. – Das gibt mir die Gelegenheit zu dem geschäftsleitenden Hinweis – Sie alle sind natürlich frei, Ihre Rechte hier auszuüben –: Wir sind im Moment bei einem Sitzungsende von circa 18.30 Uhr. Bloß, damit alle Bescheid wissen. ({0})

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Vorschläge der FDP werden die Branche aus meiner Sicht und aus Sicht vieler hier nicht retten. Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, Sie fordern, dass der geplante Wirtschaftsstabilisierungsfonds auch für kleine und mittelständische Unternehmen geöffnet werden soll. Dieser Fonds ist allerdings das falsche Instrument. Er soll Großunternehmen mit Krediten unter die Arme greifen und muss auch erst noch von der EU genehmigt werden. ({0}) Und wir alle wissen: Das kann dauern. – Eine zügige Aufstockung der Direkthilfen für die Reisebranche wäre da bestimmt der bessere Weg. Sie fordern weiter Planungssicherheit und Transparenz. Diese Forderung hat sich inzwischen überholt. Tourismus ist in Deutschland wieder möglich. Die Länder bestimmen, wie das umgesetzt wird. Das nennt man Föderalismus. ({1}) Ihre Forderung nach einer Taskforce Corona hat sich ebenfalls erledigt. Der Tourismusbeauftragte hat meinen Vorschlag, den Tourismusbeirat dafür einzusetzen, bereits aufgegriffen. Danke schön dafür. Meine Damen und Herren, Sie sehen, der Antrag der FDP bringt nichts Neues. Ja, wir müssen der Branche helfen, aber nicht mit solchen Nebelkerzen, wie sie die FDP zünden will. Meine Kollegin Frau Yüksel wird gleich auch noch etwas zu den Reisegutscheinen sagen. Danke schön. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Während hier vorne das Pult vorbereitet wird, wofür ich mich sehr bedanke, gebe ich Ihnen den Hinweis: Natürlich sind Sie frei, Fragen zu stellen oder Bemerkungen zu machen, wenn die Rednerin oder der Redner das auf Nachfrage zulässt. Ich werde aber im weiteren Sitzungsverlauf – und ich bleibe bis zum Schluss hier bei Ihnen – keine Kurzinterventionen mehr zulassen. ({0}) Das Wort hat die Kollegin Kerstin Kassner für die Fraktion Die Linke. ({1})

Kerstin Kassner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004324, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung hat eine starke Sichtfeldeinschränkung auf dem Auge, das sie angeblich so fürsorglich und vorsorglich und förderlich über die Tourismusbranche kreisen lässt. Ich kann Ihnen das aufgrund der Redezeit nur an ein paar ausgewählten Beispielen beweisen. Das eine sind die schon genannten Reisebüros. 11 000 gibt es in dieser Republik. 11 000! All das ist mit persönlichen Schicksalen der Inhaber, der Mitarbeiter, aber auch der Auszubildenden verbunden. Ich habe gerade heute mit einer jungen Auszubildenden im zweiten Lehrjahr – nennen wir sie Frau D. – aus Hessen gesprochen. Sie ist beunruhigt. Sie möchte gerne ihre Ausbildung als Tourismuskauffrau zu Ende bringen, und das steht jetzt in den Sternen. Nicht nur ihr geht es so, sondern auch vielen anderen jungen Leuten, weil einfach die Unternehmen in ihrer Existenz bedroht sind. Diese Existenzbedrohung macht es wirklich sehr schwer, in die Zukunft zu gucken. Es ist nicht möglich, von Krediten profitieren zu können, weil diese Kredite zurückgezahlt werden müssen. Was passiert denn jetzt in den Reisebüros? Nichts, gar nichts. Im Gegenteil: Die Inhaber müssen noch ihre Provisionen zurückzahlen. – Ja, mein liebes bisschen, was sollen sie denn noch machen, um diese Kredite zu bedienen? Das ist schlichtweg unmöglich. ({0}) Hier braucht es andere Lösungen. Dass die Gutscheinlösung ein Weg in die falsche Richtung gewesen ist, haben wir in dieser Woche von der Europäischen Union bescheinigt bekommen. Die Gutscheinlösung ist falsch; damit geht es nicht. Außerdem, sage ich mal, haben viele Reisende jetzt auch andere Sorgen als zu der Zeit, als sie ihre Reisen gebucht haben, und brauchen ihr Geld cash zurück, um andere Löcher zu stopfen. Ein zweites Beispiel sind die gemeinnützigen Träger der Reisewirtschaft. Hier machen sich ganz viele große Sorgen: um die Jugendherbergen, um die Kinder- und Jugendzentren, um die Schullandheime. All das wurde mit riesigem Engagement aufgebaut und mit ganz viel zusätzlichem ehrenamtlichem Engagement am Leben gehalten. Das steht jetzt infrage. Deshalb sage ich ganz deutlich: Hier muss die Bundesregierung ressortübergreifend einfach mehr tun. ({1}) Deshalb möchte ich mich dem Appell des Bundesverbandes der Deutschen Tourismuswirtschaft anschließen: Wir brauchen einen Tourismusgipfel. Ich finde, den sollte unsere Kanzlerin leiten. Sie kommt aus einem Wahlkreis – aus dem komme ich übrigens auch –, in dem die Menschen ganz besonders vom Tourismus abhängen. Warum sollte sie nicht ihre Kraft in die Waagschale legen, um dieser wichtigen Branche einen Weg in die Zukunft zu ebnen? Da sind wir alle gefordert, und sie ganz besonders. Vielen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Markus Tressel für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Markus Tressel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004178, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit über zwei Monaten liegt die Tourismuswirtschaft weltweit brach, und genauso lange wartet die Reisewirtschaft in Deutschland in ihrer gesamten Breite nicht nur auf passgenaue konkrete Hilfe, sie wartet auch auf ein Zeichen des Verständnisses und der Wertschätzung. Der französische Premierminister Édouard Philippe hat gestern ein Hilfsprogramm für die französische Tourismuswirtschaft in Höhe von rund 18 Milliarden Euro angekündigt. Die Rettung der Tourismuswirtschaft habe nationale Priorität. Und in Deutschland? Während die Automobilindustrie einen Gipfel bei der Kanzlerin abhält, nimmt eine Branche mit über 3 Millionen Beschäftigten maximal am Katzentisch dieser Bundesregierung Platz. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das hat nichts mit Priorität und Rettungsplan zu tun. Abwarten ist hier die Maxime dieser Bundesregierung. Aber die Reisewirtschaft hat keine Zeit mehr, zu warten, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Das ist eine existenzbedrohliche Situation für einen ganzen Wirtschaftszweig mit Millionen Beschäftigten, und deshalb brauchen wir endlich eine Strategie dieser Bundesregierung zur Unterstützung der Tourismuswirtschaft. Sie ist wichtig für den Wirtschaftsstandort Deutschland, und sie ist auch wichtig für Hunderttausende Arbeitsplätze. Die Betroffenen haben am Mittwoch, auch vor dem Brandenburger Tor, nicht aus Jux und Tollerei demonstriert. Acht Wochen sind Sie dieser Gutscheinlösung nachgelaufen, wohl wissend, dass das mit EU-Recht nicht kompatibel ist. Sie haben in einer Situation, in der jeder Tag zählt, acht lange Wochen keine Strategie, keinen Fonds, kein Programm entwickelt, das jetzt zeitnah an den Start gehen kann, mit dem wir den Menschen in der Tourismuswirtschaft eine Perspektive geben können. Und wenn der eine oder andere es immer noch verwechselt: Tourismus ist ja mehr als Großkonzerne wie TUI oder die Lufthansa; über die wird ja wenigstens gesprochen. Aber der Großteil dieser Branche besteht aus kleinen und mittelständischen Unternehmen, aus Familienunternehmen, aber auch aus den Jugendherbergen, den Schullandheimen; Kerstin Kassner hat das angesprochen. Und die sind oft unterhalb des Wahrnehmungsradars. Diese Branche, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist auch immens wichtig für die Prosperität vieler Regionen in Deutschland, und sie braucht jetzt einen Rettungsfonds, und sie braucht auch einen Kundengeldabsicherungsfonds für die Pauschalreise, damit wir Liquidität im System halten und künftig auch eine Insolvenzsicherung aufbauen können, die diesen Namen endlich verdient. Aber dafür müssen Sie diesen Fonds endlich schnell aufsetzen, ohne Wenn und Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Und wir brauchen auch mehr tourismuspolitische Koordination, in Europa und in Deutschland. Was geht in den kommenden Monaten touristisch und was nicht? Da braucht es Klarheit und kein Kommunikationschaos. Doch genau das haben wir in den vergangenen Tagen erlebt, auch innerhalb dieser Bundesregierung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben einen Antrag vorgelegt, in dem wir Lösungsvorschläge machen. Ich glaube, das wäre für alle ein gangbarer Weg. Diesen Antrag hat die Koalition am Mittwoch im Ausschuss nicht mal abstimmen wollen, weil es noch Beratungsbedarf in der Koalition gibt. Was müssen Sie denn nach acht Wochen Krise noch eruieren? Die Optionen liegen auf dem Tisch, liebe Kolleginnen und Kollegen! ({2}) Wenn Sie unseren Antrag hier und heute schon nicht debattieren wollen, dann legen Sie doch endlich irgendetwas Eigenes vor, ({3}) und bitte, bitte, lassen Sie sich nicht wieder acht Wochen Zeit. Die Tourismuswirtschaft braucht eine Zukunft, und der Bund muss jetzt endlich handeln. Wir haben keine Zeit mehr. Herzlichen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Klaus-Peter Schulze für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Klaus Peter Schulze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004406, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich auf das eigentliche Thema zu sprechen komme, möchte ich noch eine Bemerkung zu dem machen, Herr Münzenmaier, was Sie zum Schluss gefordert haben: sofortige Beendigung aller Maßnahmen. ({0}) Ich weiß nicht, ob Sie mal das, was uns Wissenschaftler sagen, lesen. Ich bin sehr stolz darauf, dass wir in der Bundesrepublik in den letzten Jahren bzw. Jahrzehnten viel Geld investiert haben, um auf diesem Gebiet forschen zu können und jetzt entsprechend gut aufgestellt sind. ({1}) Und wenn unsere Bundesregierung wissenschaftsbasierte Entscheidungen trifft, ist das meiner Meinung nach richtig, und deshalb kann ich diese Äußerung von Ihnen an dieser Stelle nicht verstehen. ({2}) Ja, meine Damen und Herren, darauf, wie ernst die Situation in der Branche ist, haben viele Kolleginnen und Kollegen vor mir hingewiesen. Das verhält sich in der Tat so. Die Gespräche, die ich zum Beispiel im schönen Spreewald, in Burg, geführt habe, haben gezeigt, dass es für viele Unternehmer in diesem Bereich eigentlich schon fünf vor zwölf ist, wenn nicht gar schon zu spät.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Schulze, gestatten Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung aus der AfD-Fraktion?

Dr. Klaus Peter Schulze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004406, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, wir wollten doch hintereinander durchziehen, ({0}) und ich möchte, dass Sie pünktlich Feierabend machen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Also, ich wiederhole noch mal die Regel für den Rest des heutigen Beratungstages – die Uhr ist im Moment angehalten –: Wenn Fragen und Bemerkungen angemeldet werden, frage ich den Redner bzw. die Rednerin natürlich, ob sie das zulassen. Aber ich werde heute keinerlei Kurzinterventionen mehr zulassen. ({0})

Dr. Klaus Peter Schulze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004406, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Also, dass die Situation sehr schwierig ist, darüber sind wir uns ja wohl alle im Klaren. Noch eine kleine Nebenbemerkung: In der Diskussion zum Strukturwandel in den letzten Jahren wurde gefordert, wir sollten auf Tourismus setzen. Jetzt kann ich in meiner Region sehen, was da zurzeit an Arbeitsplätzen brachliegt. Die Aussage einiger Kollegen aus der Opposition, dass die Bundesregierung nichts getan hat, ist ja nicht richtig. ({0}) Es ist einiges getan worden; ob das nun schon völlig ausreichend ist, ist eine ganz andere Frage. Aber es gehört einfach dazu, zu sagen, dass alleine das Gastgewerbe über 1,2 Milliarden Euro Soforthilfe bis Ende letzten Monats erhalten hat und Reiseveranstalter und Reisebüros laut KfW 134 Millionen Euro Liquiditätshilfe aufgenommen haben. Dass das nicht ausreicht, ist klar. Von daher nehme ich auch sehr ernst, was der Bundeswirtschaftsminister, Herrn Altmaier, am vergangenen Montag in einer Diskussionsrunde gesagt hat: Es wird einen weiteren Rettungsschirm geben, und es wird noch mal Direkthilfen geben. – Ich denke, da steht er jetzt in der Pflicht, das in den nächsten Wochen und Monaten umzusetzen. Das ist für die Branche aus meiner Sicht dringend notwendig. Ein Schritt – da schaue ich auf die Gastronomie; das ist ja gerade im vorangegangenen Tagesordnungspunkt diskutiert worden – ist die Mehrwertsteuerreduzierung ab 1. Juli für ein Jahr. Mir wäre es allerdings lieber, wenn sie dauerhaft umgesetzt werden könnte. Dafür sollten wir kämpfen. ({1}) Zum Tourismusgipfel will ich nur so viel sagen: Am kommenden Montag wird eine Videokonferenz stattfinden, in der DEHOGA und BTW mit der Kanzlerin ins Gespräch kommen. Es werden auch andere Wirtschaftsverbände dabei sein. Ich denke, damit ist der Forderung der FDP Genüge getan. Sehr schwierig ist alles, was mit dem Thema Pauschalreisen zu tun hat. Die Reisebranche – das ist ja gestern auf der Demo noch einmal deutlich geworden – steht in der Tat mit dem Rücken zur Wand. Die Fondslösung, die auch mein Kollege Lehrieder angesprochen hat, ist sicherlich ein Weg. Bevor man ihn konsequent geht, muss man aber schauen, ob sie umsetzbar ist. Zugleich sage ich, meine sehr verehrten Damen und Herren: Uns erwarten in diesem Jahr Steuerausfälle in Höhe von 60 Milliarden Euro. Wir müssen also abwarten, wie sich die Gesamtsituation des Bundeshaushalts und der Haushalte der Länder und der Kommunen entwickelt. Geld steht hier also nicht unendlich zur Verfügung. Bei den Diskussionen, die über Reisebüros geführt werden, kommt manches zur Sprache, zu dem ich sage: Das kann doch nicht sein. – Man hört hier und da: Lasst doch! Wir brauchen die Reisebüros nicht. Wir können unsere Reisen alle digital buchen. – Ja, meine Damen und Herren, das ist natürlich nicht der Fall. Ich möchte dazu nur zwei Zahlen nennen: Die Reisebüros haben im vorvergangenen Jahr einen Umsatz von 26 Milliarden Euro und im letzten Jahr einen Umsatz von 27 Milliarden Euro gemacht. Wenn man jetzt sagt: „Die brauchen wir nicht mehr; das Geld können wir uns sparen“, ist das aus meiner Sicht falsch. Die Reisebüros müssen unterstützt werden. Damit komme ich zum Schluss und will nur noch eines sagen: Wir können alle selbst einen kleinen Beitrag leisten. Planen Sie Ihren nächsten Urlaub nicht selbst, sondern suchen Sie sich einen Dienstleister, zum Beispiel ein Reisebüro, das das gerne für Sie macht. Ein schönes Wochenende! ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Yüksel das Wort. ({0})

Gülistan Yüksel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004448, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Wer Angst hat, soll eben zu Hause bleiben“ – mit dieser unsolidarischen, ja gefährlichen Aussage kommentierte der stellvertretende FDP-Vorsitzende jüngst die Maßnahmen für den Gesundheitsschutz der Bevölkerung. Ich bin froh, dass die FDP in ihrem aktuellen Antrag zumindest die Reisebranche nicht alleinlässt. Hier haben nämlich viele Menschen berechtigte Angst um ihren Arbeitsplatz – gerade in kleinen und mittelständischen Unternehmen. Statt unsolidarischer Sprüche wünscht sich die FDP in ihrem Antrag eine solidarische Lösung, die die Interessen der Reisenden und Reisewirtschaft vereint. Dazu kann ich nur sagen: Diesen Wunsch erfüllen wir gerne. In der Regierung ermöglichen wir gerade solche solidarischen Lösungen – ob beim Gesundheitsschutz oder bei den hier diskutierten Hilfen für die Reisewirtschaft. Und weil wir das schon tun, können wir Ihren Antrag guten Gewissens ablehnen. ({0}) Meine Kollegin Gabriele Hiller-Ohm ist bereits auf die Wirtschaftshilfen eingegangen, von denen auch die Reisebranche profitieren wird. ({1}) Angesichts der aktuellen Stornierungswelle diskutieren wir auch über eine Gutscheinlösung für die Erstattung der vorausgezahlten Reisekosten. Nach den Verbraucherschutzvorgaben der EU darf niemand gezwungen werden, statt der Erstattung als Geldwert einen Gutschein für die ausgefallene Pauschalreise anzunehmen. ({2}) Ein Gutschein auf freiwilliger Basis ist eine verbraucherfreundlichere Alternative. Diese wird von den Reiseveranstaltern und Fluggesellschaften bereits angeboten. So kann jede und jeder Einzelne helfen, mögliche Insolvenzen von Reiseveranstaltern zu verhindern. Um zur Annahme eines Gutscheins weiter zu ermutigen, prüft die Regierung auch, wie Gutscheine rechts- und insolvenzsicher gemacht werden können. Liebe Kolleginnen und Kollegen, neben einer Krisenlösung braucht es auch eine grundsätzliche Lösung für die nachhaltige Insolvenzabsicherung von Pauschalreisen. ({3}) Auch hier ist unser Ziel eine rechtssichere und solidarische Lösung. Es wäre nicht solidarisch, wenn das Geld der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler leichtfertig zur Absicherung von Luxusreisen verschleudert wird. ({4}) Sehr wohl solidarisch ist es, wenn große Reiseveranstalter entsprechend ihrem Umsatz mehr in eine Insolvenzabsicherung einzahlen als kleine Veranstalter. Die Eckpunkte eines Gesetzes hierzu werden in den nächsten Wochen vorliegen. ({5}) Die Änderung des Pauschalreiserechts soll somit rechtzeitig zum Herbst in Kraft treten. Wir werden in dieser Sache also gemeinsam noch vieles zu diskutieren haben, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({6}) Bis dahin gilt: Solidarisch sein – gerade mit jenen, die zu Recht Angst haben! Und: Abstand halten – auch wenn Sie keine Angst haben! Herzlichen Dank. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache.

Annegret Kramp-Karrenbauer (Minister:in)

Politiker ID: 11003023

Frau Präsidentin! Verehrte Abgeordnete! Ende Dezember des vergangenen Jahres haben wir mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland einen Staatsvertrag geschlossen. Das ist der Rahmen, der die Seelsorge für die jüdischen Menschen in der Bundeswehr organisiert, genauso wie das bei der christlichen Militärseelsorge der Fall ist. Diesen Staatsvertrag wollen wir jetzt umsetzen. Dafür bedarf es des Gesetzes über die jüdische Militärseelsorge, und darum geht es heute. Was in so nüchternen Worten daherkommt, ist ein wahrlich historischer Schritt; denn mit diesem Staatsvertrag und diesem Gesetz räumen wir jüdischem Leben und der Unterstützung der Religionsausübung in der Bundeswehr wieder den Raum und den Platz ein, den es verdient hat. ({0}) In der Bundeswehr, meine sehr geehrten Damen und Herren, dienen die unterschiedlichsten Männer und Frauen – unabhängig von der Frage, welches Geschlecht sie haben, welche sexuelle Orientierung, welche Hautfarbe, was sie glauben. Und das ist gut so. Sie alle stehen auf dem Boden des Grundgesetzes und sind getragen von einem Wunsch, nämlich Deutschland und den Menschen in Deutschland zu dienen. Und das ist ein nicht immer einfacher Dienst. Das ist ein Dienst, der viele von ihnen, gerade in den Einsätzen, auch in existenzielle Fragestellungen führt. Deswegen ist es richtig, dass wir uns mit Blick auf die Soldatinnen und Soldaten in der Bundeswehr eben nicht nur über die Fragen der materiellen Einsatzbereitschaft ihrer Ausrüstung unterhalten, sondern dass wir ihnen auch das zugestehen, was ihnen gesetzlich zugesichert ist, nämlich die entsprechende Seelsorge. Das tun wir seit vielen Jahren und Jahrzehnten im Sinne der katholischen und der evangelischen Militärseelsorge, die im Übrigen auch bisher schon allen Männern und Frauen in der Bundeswehr offenstand. Deswegen darf ich mich an dieser Stelle auch bei allen Seelsorgerinnen und Seelsorgern, die das bisher geleistet haben, ganz herzlich bedanken. Das war über die Religionsgemeinschaften und über die Konfessionen hinweg immer ein sehr, sehr guter Dienst, und dies wird auch weiter so bleiben. ({1}) Aber, meine sehr geehrten Damen und Herren, wir haben eben auch zunehmend sehr unterschiedliche Gruppen in der Bundeswehr. Wir haben eine zunehmend größere Gruppe von orthodoxen Christinnen und Christen. Wir haben eine zunehmend größere Gruppe von Muslimen in der Bundeswehr, und auch für die – das will ich an dieser Stelle deutlich sagen – wollen wir für die Zukunft entsprechende Angebote machen, wobei wir wissen, dass gerade die Debatte um die Einführung einer muslimischen Seelsorge eben auch kompliziert ist, weil es den einen Ansprechpartner so nicht gibt. Aber wir werden diesen Weg weitergehen. Und trotzdem – gerade mit Blick auf unsere Geschichte – ist die jüdische Militärseelsorge von einer herausragenden Bedeutung. Deswegen bin ich stolz, dass wir es geschafft haben – in schwierigen Verhandlungen –, dass noch im Laufe dieses Jahres ein Militärrabbinat in Berlin eingerichtet wird und dass die ersten Militärrabbiner und ‑rabbinerinnen eingestellt werden. Ihre Tür steht allen Angehörigen der Bundeswehr offen. Sie werden Trost spenden, Kraft geben, Wege aufzeigen, Verständnis schaffen, zum Beispiel mit gemeinsamen Gebeten und Gottesdiensten oder im vertrauten und vertraulichen Gespräch, aber auch im Rahmen von Aus- und Fortbildungen des Lebenskundlichen Unterrichtes. Meine sehr geehrten Damen und Herren, damit werden sie auch einen praktischen Beitrag zum Kampf gegen Antisemitismus leisten. Ich will auch aus aktuellem Anlass an dieser Stelle noch einmal sagen, dass wir es nicht dulden werden, dass ich es nicht dulden werde, dass die Bundeswehr und dass die überragende Anzahl von Männern und Frauen, die dort auf dem Boden des Grundgesetzes und im Übrigen auch mit einem hohen Respekt gerade vor Jüdinnen und Juden ihren Dienst verrichten, von denjenigen, die nicht auf dem Boden des Grundgesetzes stehen, die radikal auffallen, die antisemitisch auffallen, in Mitleidenschaft gezogen werden. Deswegen setzen wir ein klares Zeichen gegen Rechtsradikalismus, gegen Antisemitismus in der Bundeswehr. Menschen mit jüdischem Leben, mit dem jüdischen Glauben vertraut zu machen, auch in der Bundeswehr, ist ein weiterer Beitrag dazu. In diesem Sinne bitte ich Sie herzlich um Unterstützung dieses Gesetzentwurfes. Vielen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Jan Nolte für die AfD-Fraktion. ({0})

Jan Ralf Nolte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004842, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Juden sind immer schon Teil deutscher Armeen gewesen. Sie halfen 1815 dabei, Napoleons Herrschaft bei Waterloo zu brechen, kämpften im Deutsch-Französischen Krieg, der schließlich in die Reichsgründung 1871 mündete, und warfen sich mit in die Materialschlachten des Ersten Weltkrieges. Und selbst als sich das verbrecherische Regime der Nationalsozialisten des deutschen Staates bemächtigt hatte, ein Regime, das sich auf grausame Weise an den Juden versündigte, kämpften etwa 150 000 von ihnen in der Wehrmacht, viele davon, um ein schlimmeres Schicksal von sich selbst abzuwenden. Aber auch vorher gab es schon Antisemitismus; das ist klar. Er war eine sehr lange Zeit in Europa in einem Maße gesellschaftsfähig, das man sich heute kaum vorstellen kann. Es ist deshalb gut, dass wir heute in Deutschland 180 000 mutige Männer und Frauen in der Bundeswehr haben – und etwa 300 davon sind Juden –, die unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung verteidigen und die für ein Deutschland stehen, in dem niemand mehr wegen seiner Religion oder seines Glaubens verfolgt werden darf. ({0}) Dass in der Infrastrukturplanung des Militärrabbinates allerdings auch schusssichere Verglasung berücksichtigt werden muss, zeigt, dass wir auch heute in Deutschland noch nicht da sind, wo wir mal hinmüssen. Deswegen ist die Rückkehr der Militärrabbiner nach rund hundert Jahren auch ein wichtiges Signal. Dem Antisemitismus wird die klare Botschaft entgegengestellt, dass die Juden in Deutschland unseren Rückhalt haben, dass sie fester Bestandteil von Streitkräften und Gesellschaft sind und dass wir Angriffe auf sie nicht dulden. ({1}) – Ich höre hier Kommentare. Es kann gerne jemand eine Frage stellen, wenn er Hilfe braucht; das ist kein Problem. ({2}) Es darf aber bei solchen Signalen nicht bleiben. In Debatten wie diesen muss denn auch gesagt werden, dass die Ursachen für Antisemitismus aus Gründen der Political Correctness leider oftmals nicht vollständig angesprochen werden. Selbstverständlich gibt es rechtsextreme Antisemiten, übrigens auch linksextreme, und es ist vollkommen klar, dass dagegen vorgegangen werden muss. Aber Fakt ist doch, dass 81 Prozent der Opfer von Antisemitismus angeben, dass die Täter Muslime seien, und darüber spricht man nicht so gerne. ({3}) In muslimischen Gesellschaften herrscht oft ein tief verwurzelter Judenhass, und wenn wir es ernst meinen mit dem Kampf gegen Antisemitismus und wirklich helfen wollen, dann müssen wir vorher mal den Mut haben, auch das ganze Problem zu benennen und nicht nur einen Bruchteil davon. ({4}) Dass auch unseren jüdischen Soldaten jetzt eine religiöse Militärseelsorge zur Verfügung steht, ist eine richtige und wichtige Sache. Die extremen Erfahrungen, die ein Soldat während seiner Dienstzeit machen kann, erfordern es, dass man nicht nur seinen Körper, sondern auch seine Seele vor Verwundung schützt. Der Soldat braucht jemanden, dem er sich anvertrauen kann und der ihm ein Ratgeber ist, wenn er sich – und auch das gehört zur Wirklichkeit des Soldatseins – mit der Möglichkeit des eigenen Todes auseinandersetzt. Die letzten Sätze meiner Rede widme ich dem Hauptgefreiten Sergej Motz, dessen Todestag sich vor Kurzem zum elften Mal gejährt hat. Hauptgefreiter Motz ist der erste deutsche Gefallene seit dem Zweiten Weltkrieg; er fiel in Afghanistan und gehörte der orthodoxen Kirche an. Ich möchte in dem Zusammenhang einen Appell an Sie richten, Frau Ministerin – es klang so, als würde ich offene Türen einrennen –: dass wir vielleicht eine so gute Lösung, wie sie hier jetzt vorliegt für die jüdischen Soldaten, auch für die orthodoxen Soldaten finden. Die AfD wird diesem Gesetzentwurf in den Ausschüssen zustimmen. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Katrin Budde das Wort. ({0})

Katrin Budde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004686, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist ungefähr hundert Jahre her, dass die letzten Militärrabbiner Dienst in den deutschen Streitkräften leisteten, und es ist gut, dass es heute so weit ist, dass wir über die jüdische Militärseelsorge in der Bundeswehr reden, dass es einen Vertrag gibt und dass das gesetzlich untersetzt wird. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir eine sehr große Mehrheit in diesem Parlament finden, die diesen Gesetzentwurf verabschieden wird. Ich freue mich auch, dass wir gerade in diesem Jahr, 75 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg und 75 Jahre nach dem Holocaust, diesen Vertrag endlich haben und auch gesetzlich unterlegen können. Ich will mich da auf keinen Fachstreit einlassen; aber ich glaube, dass die Jüdinnen und Juden als wehrunwürdig erachtet wurden während des Zweiten Weltkrieges, dass sie eben nicht dienen durften ({0}) und dass sie auch gar keine Staatsbürgerschaft mehr hatten. Ich glaube eher, dass es schwierig ist, das Lob hier zu hören von Ihrer Seite, von einer Fraktion, einer Partei, die den Nationalsozialismus als „Fliegenschiss“ in der deutschen Geschichte bezeichnet ({1}) und den Holocaust leugnet. ({2}) Ich finde das wirklich schwierig. Ich nenne das janusköpfig; „janusköpfig“ ist, glaube ich, dabei die richtige Aussage.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Budde, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Katrin Budde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004686, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, danke. ({0}) Denn nach dem Holocaust und 75 Jahre nach dem fast vollständigen Auslöschen des jüdischen Lebens in Deutschland ist es gut, dass wir wieder das Vertrauen der jüdischen Gemeinschaft haben, der Jüdinnen und Juden. Momentan sind es, glaube ich, ungefähr 300 jüdische Soldatinnen und Soldaten, die in der Bundeswehr dienen. Und eigentlich müssen wir Danke sagen; wir müssen Danke sagen, dass das Vertrauen wieder da ist und dass auch die jüdische Gemeinschaft den Schritt gegangen ist, diesen Staatsvertrag mit uns zu unterzeichnen, gerade in Anbetracht unserer Geschichte. ({1}) Diese jüdischen Soldatinnen und Soldaten – wie alle anderen auch – dienen Deutschland. Sie beschützen Deutschland, sie riskieren ihr Leben für Deutschland, und deshalb haben sie auch ein Anrecht auf Militärseelsorge, genauso wie alle anderen Soldatinnen und Soldaten. Für die evangelischen und katholischen Soldaten ist es geregelt. Es gibt für Konfessionslose eine Anlaufstelle, und es gibt auch für Soldatinnen und Soldaten anderen Glaubens eine Anlaufstelle in Koblenz, in der sie Unterstützung und Rat finden. Ich glaube, dass wir es aber eben auch für Musliminnen und Muslime – auch wenn ich selber weiß, wie schwierig das ist, weil es dort nicht den zentralen Ansprechpartner/die zentrale Ansprechpartnerin gibt – werden regeln müssen. ({2}) Ich glaube im Übrigen nicht, dass irgendeine jüdische Soldatin oder ein jüdischer Soldat damit ein Problem haben wird. Ich finde es richtig, dass alle das Anrecht auf Militärseelsorge haben; das ist auch gesetzlich verbrieft. Im § 36 des Soldatengesetzes heißt es: Der Soldat – es muss jetzt natürlich heißen „Die Soldatin“; vielleicht sollten wir das mal ändern – hat einen Anspruch auf Seelsorge und ungestörte Religionsausübung. Die Teilnahme am Gottesdienst ist freiwillig. In dieser Kombination ist das wirklich super. Genau so soll es sein. Dafür müssen wir jetzt die Möglichkeiten schaffen. Wir wissen, dass Soldatinnen und Soldaten insbesondere in Auslandseinsätzen in schwierigen Lebenssituationen sind. Sie sind weit weg von der Familie. Es gibt Freunde und Kameradinnen und Kameraden, aber oft ist es auch der geistliche Beistand, der hilft, wenn man jeden Tag das Leid vor Augen hat, wenn man in schwierigen Situationen ist oder wenn man Angst hat, nicht wieder nach Hause zu kommen. Es ist übrigens nicht nur ein Beistand für die Soldatinnen und Soldaten im Einsatz oder am Standort, sondern auch für ihre Familienangehörigen, die genauso Beistand brauchen. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht: Mir ist es jedenfalls schon oft im Leben so gegangen, insbesondere in schwierigen Lebenssituationen, dass man, selbst wenn man nicht jeden Sonntag in die Kirche geht, auch geistlichen Beistand sucht. Das ist wichtig als Ergänzung zu Familie und Freunden. Deshalb bin ich froh, Frau Ministerin, dass es den Staatsvertrag gibt und dass wir die gesetzliche Grundlage dafür schaffen können. In diesem Sinne sage ich Danke für die Vorarbeiten. Ich freue mich auf die sicherlich schnellen, zügigen und sehr komplikationslosen Beratungen und auf den Beschluss hier im Bundestag. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Marcus Faber für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Marcus Faber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004712, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Nächstes Jahr feiern wir 1 700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland. Nicht nur als Vizepräsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft freue ich mich darüber, dass wir dieses Fest gemeinsam feiern können. Selbstverständlich ist es nicht. Es gab gute und schöne Episoden in dieser Geschichte, und ich zähle auch den vorliegenden Gesetzentwurf ausdrücklich dazu. Als Liberaler denke ich beispielsweise an den jüdischen Feldrabbiner Leo Baeck, der schon im Ersten Weltkrieg seinen Dienst tat. Rabbiner Baeck war einer der bedeutendsten Vertreter des liberalen deutschen Judentums. An seinem Beispiel lassen sich die unfassbaren Gräuel beschreiben, die Deutsche ihren jüdischen Mitbürgern angetan haben. Er wurde 1943 im Konzentrationslager Theresienstadt inhaftiert – ein Mann, der sich für sein Land eingesetzt hat, ein Mann, der Seite an Seite mit seinen Kameraden aller Konfessionen gedient hat. Auch ihn hat man nur wenige Jahre später verfolgt und inhaftiert, allein aufgrund seines Glaubens. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das darf nie wieder passieren. ({0}) Die Wiedereinführung der jüdischen Militärseelsorge ist dafür ein richtiger und wichtiger Schritt. Heute, nachdem Nazideutschland vor 75 Jahren glücklicherweise besiegt wurde – wir haben letzte Woche daran erinnert –, haben wir damit ein Zeichen gesetzt: Jüdische Deutsche sollen sich überall zu Hause fühlen, auch in der Bundeswehr. Jüdisches Leben gehört in jeden Bereich unserer Gesellschaft, auch in unsere Truppe. Derzeit gibt es rund 300 jüdische Soldaten. Wir können uns glücklich schätzen, dass nach der Shoah heute Jüdinnen und Juden als Staatsbürger in Uniform in unserem Land ihren Dienst tun. Die Einführung der jüdischen Militärseelsorge ist ein Zeichen des Respekts genau für diesen Dienst. Meine Damen und Herren, die Militärseelsorge ist grundsätzlich ein wichtiger Bestandteil der Truppenbetreuung. Sie geht aber weit über religiöse Belange hinaus. Zukünftig wird es auch nichtjüdischen Soldaten möglich sein, mehr über lebendiges Judentum zu erfahren. Die jüdischen Militärrabbiner betreuen alle Soldaten, wie es ihre christlichen Kollegen auch tun. Als Teil der Inneren Führung wird bereits Lebenskundlicher Unterricht von Militärseelsorgern übernommen. Daran wird zukünftig auch das Judentum teilhaben. Bildung über das Judentum und die jüdische Geschichte ist besonders in Deutschland elementar. Wir haben hier eine besondere Verantwortung. Jüdische Militärrabbiner können helfen, Vorurteile in der Gesellschaft abzubauen und diese durch Wissen ersetzen. Sie können helfen, dass das Interesse von Jüdinnen und Juden an der Bundeswehr steigt. Sie können Brückenbauer sein. So einfach ist das. Ich habe die Hoffnung, dass zukünftig in unseren Kasernen neben dem Weihnachtsbaum auch die Chanukkia leuchtet. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Abgeordnete Christine Buchholz für die Fraktion Die Linke. ({0})

Christine Buchholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004022, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute behandeln wir in erster Lesung den Gesetzentwurf zur Einführung der jüdischen Militärseelsorge. Das Gesetz soll – Zitat – „das Grundrecht der freien religiösen Betätigung der jüdischen Soldatinnen und Soldaten und ihren Anspruch auf Seelsorge“ gewährleisten. Das begrüßt Die Linke ausdrücklich. ({0}) Es ist überfällig, dass die jüdischen Religionsgemeinschaften nun Seelsorge in der Bundeswehr anbieten können und damit dieselben Rechte bekommen wie die christlichen Kirchen. Das ist ein wichtiges Signal, insbesondere angesichts von Antisemitismus und Geschichtsrelativierung in der Gesellschaft, aber auch in der Bundeswehr. ({1}) Das Prinzip der Gleichberechtigung in allen Lebensbereichen unterstützt Die Linke aus tiefster Überzeugung und von ganzem Herzen. ({2}) Doch auch wenn wir aus genannten Gründen dem Gesetzentwurf zustimmen, möchte ich eines deutlich machen: Die Linke findet es wichtig, dass es in der Bundeswehr eine individuelle Seelsorge gibt. Allerdings kritisieren wir die institutionelle Verschränkung von Militär und Religionsgemeinschaften, wie sie sich in der Finanzierung von Strukturen und der Verbeamtung von Militärseelsorgern ausdrückt. Damit sind wir übrigens in guter Gesellschaft: Prominente Protestanten wie Martin Niemöller oder der frühere Bundespräsident Gustav Heinemann haben zeitlebens diese – Zitat – „Militärkirche“, so heißt es im Militärseelsorgevertrag, der 1957 geschlossen wurde, kritisiert. Nach der Wiedervereinigung weigerten sich die ostdeutschen Kirchen wegen der Staatsnähe der Militärseelsorge, den westdeutschen Militärseelsorgestaatsvertrag zu übernehmen. Wir finden, dass diese Debatten weiter aktuell sind, gerade angesichts einer immer stärkeren Vermischung von Zivilem und Militärischen. ({3}) Deswegen wollen wir mittelfristig eine vom Militär institutionell unabhängige Soldatenseelsorge für alle Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften, die nicht finanziell vom Staat getragen und auch nicht in militärische Strukturen eingebettet sein darf. Weil die Bundesverteidigungsministerin heute so voller Selbstlob ist: Die Diskriminierung anderer Religions-, aber auch Weltanschauungsgemeinschaften hält leider an. Vor allem betrifft das die rund 3 000 muslimischen Bundeswehrangehörigen; denn eine Initiative für eine vergleichbare muslimische Seelsorge fehlt. Auch für Muslime gilt das Grundrecht der freien religiösen Betätigung und der Anspruch auf Seelsorge. ({4}) Wenn Sie in diesem Zusammenhang darauf verweisen, es gebe keinen einheitlichen Ansprechpartner, dann glaube ich, dass es mehr am politischen Willen fehlt; denn natürlich wären die Muslime bereit, eine Lösung zu finden. Auch in dem jüdischen Staatsvertrag ist es gelungen, dass einerseits der Zentralrat der Juden diesen Vertrag gemacht hat, es aber andererseits Absprachen mit orthodoxen und liberalen Juden gibt und somit alle Strömungen in der Praxis berücksichtigt sind. Deshalb fordert Die Linke: Muslimische Religions- und humanistische Weltanschauungsgemeinschaften müssen, wenn sie es denn wollen, die gleichen Rechte wie die christlichen Kirchen erhalten. Es darf keine Lösung zweiter Klasse geben. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Tobias Lindner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Tobias Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004217, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, dass wir hier und heute über diesen Staatsvertrag – ich will sagen: endlich – beraten können. Nach fast 100 Jahren – das Datum ist genannt worden – besteht wieder die Möglichkeit einer jüdischen Militärseelsorge in der Bundeswehr. Wenn wir uns darüber hinaus vergegenwärtigen, dass wir in der vergangenen Woche den 75. Jahrestag der Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus begangen haben und wir diese Woche daran erinnern, dass Deutschland und Israel vor 55 Jahren wieder diplomatische Beziehungen miteinander aufgenommen haben, dann macht so eine Debatte durchaus auch dankbar und demütig, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Hier ist schon auf den Stellenwert der Militärseelsorge eingegangen worden. Auch ich kann das unterstreichen: Militärseelsorge ist nicht nur ein Aspekt der Fürsorge. Es ist extrem wichtig, dass Soldatinnen und Soldaten, wenn sie ihren Dienst leisten, Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner haben, dass gläubige Soldatinnen und Soldaten die Möglichkeit haben, auch in Einsatzländern Gottesdienste zu besuchen. Das sind wichtige und zentrale Stützen, wenn wir es mit Fürsorge wirklich ernst meinen, wenn Debatten wie diese keine Schaufensterdebatten bleiben sollen. Militärseelsorge ist genauso im Zusammenhang mit dem Konzept der Inneren Führung wichtig. Natürlich ist es für das innere Gefüge wichtig, dass Soldatinnen und Soldaten, die gläubig sind, auch in ihrer Religion eine Ansprechpartnerin oder einen Ansprechpartner vor Ort, bei der Truppe haben. Ich will aber eines unterstreichen – Frau Kollegin Buchholz hat schon darauf hingewiesen –: Wir dürfen bei diesem Schritt nicht stehen bleiben. Wir haben eine signifikante Anzahl von Soldatinnen und Soldaten, die unserem Land dienen und die muslimischen Glaubens sind. Ich wünsche mir, dass wir eine schnelle, eine unbürokratische und eine pragmatische Lösung finden, damit auch muslimische Soldatinnen und Soldaten Ansprechpartner innerhalb der Bundeswehr haben. Ich wünsche mir, dass das im Vordergrund unserer Debatte steht und nicht irgendein bürokratischer Verfahrensstreit darüber, warum das nicht geht. Lassen Sie uns darüber debattieren, wie wir es schnell und pragmatisch möglich machen können, dass wir auch eine muslimische Militärseelsorge haben. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, man kann über ein solches Thema an diesem Pult keine Rede halten, ohne darauf einzugehen, dass vor zwei Tagen bei einem Angehörigen des Kommandos Spezialkräfte der Bundeswehr Waffen, Munition und Sprengstoff gefunden worden sind. Das ist eine neue Qualität! Es ist – leider – eine neue Qualität, wenn wir darüber reden, dass Rechtsextremisten versuchen, unsere Sicherheitsbehörden zu unterwandern. Wenn wir hier heute über jüdische Militärseelsorge reden und damit auch über die Bundeswehr als Vorbild für religiösen Pluralismus, dann müssen wir auch darüber debattieren, wie wir gegen die Feinde im Innern der Bundeswehr, die sich gegen Pluralismus engagieren, die sich im Sinne einer gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit engagieren, mit aller Härte und Entschiedenheit vorgehen. Unsere Demokratie ist es wert, dass wir diesen Kampf führen; und die Soldatinnen und Soldaten, die auf dem Boden des Grundgesetzes tagtäglich treu ihren Dienst leisten, sind es genauso wert. Herzlichen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Markus Grübel für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Markus Grübel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003542, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor 75 Jahren sind durch die Gänge unseres Reichstagsgebäudes Rotarmisten gelaufen. Vor 75 Jahren hätte sich wohl kaum jemand vorstellen könnten, dass Deutschland jemals wieder über deutsche Streitkräfte verfügt. Und vor 75 Jahren war es sicher unvorstellbar, dass jüdische Soldatinnen und Soldaten in einer deutschen Armee dienen. Es erfüllt mich mit großer Freude, dass jüdische Soldatinnen und Soldaten heute in der Bundeswehr dienen. ({0}) Um was geht es heute? Es geht um Religionsfreiheit, es geht um Toleranz, ja, es geht um mehr als Toleranz, nämlich um Respekt vor Menschen mit anderer Religion oder Weltanschauung. Toleranz sagt: Ich ertrage es, ich erdulde es, dass es Menschen anderer Religion oder Weltanschauung gibt. Respekt sagt: Ich achte es, ich schätze es wert, dass es Menschen mit anderer Religion oder Weltanschauung gibt. Diese Religionsfreiheit ist ein fundamentales Menschenrecht, in Artikel 18 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte niedergeschrieben. Das gilt weltweit. Auf nationaler Ebene haben wir dieses Recht in Artikel 4 Grundgesetz festgeschrieben. Und in Artikel 140 Grundgesetz stellen wir über Verweisung auf Artikel 137 der Weimarer Reichsverfassung unter anderem klar, dass wir keine Staatsreligion in Deutschland haben. Es geht also nicht um das Ob, nicht darum, ob es eine jüdische oder auch muslimische Militärseelsorge geben soll. Diese Frage ist schnell mit Ja beantwortet, Frau Buchholz. Es geht um das Wie. Wie können wir eine jüdische oder muslimische Militärseelsorge ausgestalten? Und hier liegt das Problem, und zwar nicht nur im Detail. Wir haben ähnliche Probleme beim Religionsunterricht oder bei der Gefängnisseelsorge. Zusammen mit dem Zentralrat der Juden ist es Gott sei Dank gelungen, nun für die jüdischen Soldatinnen und Soldaten eine Lösung zu finden. Als Abgeordneter, aber auch als Beauftragter der Bundesregierung für Religionsfreiheit ist es mir ein Anliegen, auch diesen Soldaten Seelsorge zur Seite zu stellen; denn die Soldatinnen und Soldaten stehen unter hoher seelischer Belastung. An sie werden ganz besondere Anforderungen gestellt. Sie setzen ihr Leben, ihre Gesundheit ein, vor allem im Auslandseinsatz. Für Soldatinnen und Soldaten stellen sich daher ganz besondere Sinnfragen. Katholische und evangelische Militärseelsorger halten Gottesdienste. Sie betreuen gerade im Einsatz alle Soldaten seelsorgerisch, unabhängig von deren Religion, wenn die Soldaten dies wünschen; das gilt auch für die Familien daheim. Dies wird künftig auch für die Militärrabbiner gelten. Das fördert den interreligiösen Dialog. Vielen wird dadurch bewusst werden, wie eng die monotheistischen Religionen verwandt sind. Das kann auch Zerrbilder und Vorurteile abbauen. Das fördert aber auch den intrareligiösen Dialog, zum Beispiel zwischen orthodoxen und liberalen Juden. Nach über 100 Jahren gibt es wieder jüdische Militärgeistliche in den deutschen Streitkräften. Das ist sehr gut. Vielen Dank an alle, die dies ermöglicht haben. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Abgeordnete Christian Schmidt für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, es ist gut 25 Jahre her, dass ein Rabbiner anlässlich eines Gesprächs mir gegenüber den Wunsch äußerte, mit dem damaligen Verteidigungsminister Volker Rühe sprechen zu dürfen, weil er der Meinung war, er würde einen guten Militärrabbiner für die Bundeswehr abgeben. Dieses Gespräch fand statt. So etwas war schon damals aus vielerlei Gründen intendiert, dieser Vorschlag wurde gerne aufgenommen, aber die Umsetzbarkeit war schwierig. Dass es bis zur Umsetzung noch 25 Jahre gedauert hat, ist ein Zeichen dafür, dass in der Tat sehr vieles bedacht werden musste. Es wurde nun aber auch dringend Zeit. Herzlichen Dank an die Bundesverteidigungsministerin, dass sie diesen Vertrag jetzt abgeschlossen hat und damit eine Grundlage gelegt hat. Dieser Vertrag ist aber nicht mehr als eine Grundlage; denn dieser Vertrag wird nur dann wirklich wirken, wenn er mit Leben erfüllt ist, mit geistigem und geistlichem Leben. Diese Aufgabe können natürlich nicht allein die Bundeswehrsoldatinnen und ‑soldaten, die jüdischen Glaubens sind, leisten, wie viele es auch immer genau sind. Es gibt eine entsprechende Organisation, den Bund jüdischer Soldaten, der sich geistig orientiert am Reichsbund jüdischer Frontsoldaten. Das waren übrigens diejenigen, die sich ganz bewusst und ganz dezidiert auf die kaiserliche Wehrmacht bezogen hatten und dann – es wurde bereits genannt – so elend und schlimm von diesem verbrecherischen Regime behandelt wurden. Es zählte nicht, welche Werte sie vertraten, sondern sie wurden hinauskomplimentiert, sie landeten in den Konzentrationslagern. – Jetzt ist ein neuer Anfang gemacht. Bei dieser Gelegenheit will ich dem ersten jüdischen Wehrpflichtigen der Bundeswehr, Michael Fürst, dem heutigen Vorsitzenden des Landesverbandes der jüdischen Gemeinden von Niedersachsen, Hauptmann Berger, Oberst Römer-Hillebrecht, Oberstleutnant Hoffmann und auch unserem Oberstleutnant der Reserve Rabbiner Homolka für ihre Initiativen danken, die jetzt endlich zu diesem Ergebnis geführt haben. Damit wird eigentlich alles – so will ich es fast sagen –, was die Werteorientierung der Bundeswehr, die Himmeroder Denkschrift und das Prinzip der Inneren Führung ausmacht, umgesetzt. Eines brauchen wir aber: Über die Gruppe der jüdischen Soldaten hinaus muss die ZDv 66/2 – dort stand es früher; ich glaube, jetzt ist die Bezeichnung anders und länger –, also der Lebenskundliche Unterricht, genutzt werden, um Verständnis zu wecken, um miteinander zu sprechen, auch um Unterschiede im gegenseitigen Respekt festzuhalten und festzustellen. Ich erinnere mich an die Präsentation eines Gebetbuches für Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, das die drei monotheistischen Religionen – das Christentum, das Judentum und den Islam – mit Gebeten zu vereinen versucht hat. Ich gebe zu, dass da mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten – jedenfalls zwischen der muslimischen Religion und den beiden anderen Religionen – festzustellen waren; und doch war es gut und wichtig. Ich freue mich, dass das nun gelungen ist, und ich wünsche nicht nur den jüdischen Soldatinnen und Soldaten in der Bundeswehr, dass daraus neues gemeinsames Verständnis und Leben erwächst, das auch auf uns in der gesamten Gesellschaft ausstrahlt – wir haben es nämlich bitter nötig. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache.

Josephine Ortleb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004844, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir alle waschen uns aktuell dauernd die Hände. Schnell zum Waschbecken, Wasser an, Seife drauf und 30 Sekunden gründlich waschen: Im Kampf gegen das neuartige Coronavirus kann diese Selbstverständlichkeit entscheidend sein. Was für uns selbstverständlich ist, bleibt mehr als der Hälfte der Weltbevölkerung verwehrt. Etwa 4,2 Milliarden Menschen haben keinen Zugang zu einer sicheren sanitären Versorgung. Für sie ist der nächste Wasserhahn nicht bloß ein paar Meter entfernt – obwohl Wasser ein elementarer Bestandteil des Lebens und der Zugang dazu ein Menschenrecht ist. Uns wird derzeit bewusst, welche gesundheitlichen Folgen es hat, wenn sich von dem Menschenrecht in der Realität recht wenig zeigt und einem der Zugang zu Wasser verwehrt bleibt. Wasserknappheit trifft häufig die gesamte Gesellschaft, jedoch nicht immer im gleichen Ausmaß – in der Regel sind es Kinder und Frauen, die am stärksten betroffen sind und unter den Folgen leiden. Dies macht der vorliegende Antrag der Koalitionsfraktionen unmissverständlich klar. Frauen leiden zum Beispiel unter gesundheitlichen Beeinträchtigungen durch die Strapazen des Wassertragens; dafür sind sie oft allein verantwortlich. Sie werden häufiger Opfer sexueller Gewalt außerhalb der Partnerschaft, wenn keine Toilette im Haus existiert. Ihnen fehlt der notwendige Schutzraum in diesem intimen Moment. Geschützt sind sie auch nicht während ihrer Periode. Keine Toilette und kein Wasser zu haben, bedeutet nämlich auch, dass es keinen Raum gibt, um sich zu säubern oder Menstruationsprodukte zu entsorgen. Und die häufig fehlenden Sanitärausstattungen in Schulen, in Universitäten und anderen öffentlichen Einrichtungen verhindern die soziale Teilhabe von Mädchen und Frauen. Sauberes Trinkwasser, eine sichere Sanitärversorgung und gute Hygienepraktiken sind unabdingbare Voraussetzungen für ein Leben in Gesundheit und damit in Würde, gerade für Frauen und Mädchen. ({0}) Mit dem vorliegenden Antrag fordern wir die Bundesregierung zu umfangreichen Maßnahmen auf, um zumindest mittelbar den Zugang zu Wasser und sanitärer Versorgung für alle nachhaltig zu gewährleisten. Der Nutzung von innovativen Ansätzen zur lokalen Versorgung mit Trinkwasser kommt dabei eine besondere Rolle zu. Ein Beispiel für einen solchen innovativen Ansatz ist das BlueFuture Project aus meinem Wahlkreis, das von zwei jungen Saarbrückern gestartet wurde. Das BlueFuture Project stattet Menschen in ländlichen Gebieten Tansanias mit einem Nanofilter und einem Verkaufsstand aus. Mit diesen Wasserstationen schaffen sie die Möglichkeit, dass verunreinigtes Wasser aus einer lokalen kontaminierten Quelle entnommen und mit dem Filter gereinigt werden kann. Das entstandene saubere Trinkwasser kann dann bis zu achtmal günstiger als bei allen anderen Alternativen in Tansania an die Gemeindemitglieder verkauft werden. Diese Strategie sichert einerseits nachhaltige Wasserversorgung und schafft andererseits Arbeitsplätze und Chancen für die Menschen vor Ort. Private Initiativen zeigen, dass im Kleinen viel möglich ist, staatliches Handeln ersetzt dies jedoch nicht. An dieser Stelle sind Deutschland, Europa und die Weltgemeinschaft gefragt. ({1}) Denn klar ist: Wasser ist von großer Bedeutung für alle Dimensionen unseres Zusammenlebens und der nachhaltigen Entwicklung einer gesamten Gesellschaft. Auf die in diesem Antrag geschriebenen Worte müssen nun auch Taten folgen. In diesem Sinne wünsche ich mir, dass wir alle ab jetzt jedes Mal, wenn wir uns die Hände wie selbstverständlich waschen, an die Menschen denken, denen dies wegen fehlender Möglichkeiten verwehrt bleibt; denn unsere Selbstverständlichkeiten sind global nicht selbstverständlich. Vielen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Heiko Wildberg für die AfD-Fraktion. ({0})

Dr. Heiko Wildberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004935, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir sind uns sicherlich fraktionsübergreifend einig, dass eine ausreichende Versorgung mit Trinkwasser und eine Sanitärinfrastruktur gegeben sein müssen für ein menschenwürdiges Leben; da werden wir uns alle wohl nicht unterscheiden. Unterscheiden werden wir uns aber in den Ansichten über die Maßnahmen, mit denen wir dieses Ziel erreichen können. Wir betreiben seit Jahrzehnten Entwicklungshilfe – ein Politikbereich, dem nachgesagt wird, dass er vielfach von einer Aneinanderreihung von Fehlschlägen, Verschwendung und Erfolglosigkeit gekennzeichnet ist. In den Anträgen von Bündnis 90/Die Grünen und der Regierungskoalition kommt dies selbst deutlich zum Tragen: fast 800 Millionen Menschen ohne Trinkwasserversorgung, 2,2 Milliarden Menschen ohne sauberes Trinkwasser, die Hälfte der Menschheit ohne sichere Sanitärversorgung, viele Krankheiten, Durchfallerkrankungen usw. Meine Damen und Herren, das ist eine wirklich deprimierende Bilanz ({0}) nach Jahrzehnten der Entwicklungshilfe und milliardenschwerer Bemühungen der Industrieländer. Wie werden wir hier in Zukunft besser? Dass es zu langsam geht und wir daher immer noch solche Zustände auf unserem Globus haben, geht auch indirekt aus den Anträgen hervor, die die Koalitionsfraktionen und Bündnis 90/Die Grünen eingebracht haben. Ich bin einmal die einzelnen Punkte – es sind insgesamt, ich glaube, 44 an der Zahl; in der Größenordnung jedenfalls – durchgegangen nach dem Kriterium: Welcher Punkt führt dazu, dass diese Entwicklungshilfe den Menschen vor Ort schnell zukommt und die Projektrealisierung schneller vonstattengeht? Ich habe in Ihren Anträgen nicht einen einzigen Punkt gefunden. Ihre Anträge sind natürlich auf der anderen Seite dazu da, eine riesige Bürokratie am Leben zu erhalten und zu fördern. Vorgespannt ist ein riesiger bürokratischer Moloch, der Zeit und auch viel, viel Geld kostet, das dann hinterher bei den Projekten gar nicht mehr zur Verfügung steht. Das ist sicherlich keine vollständige Analyse, ({1}) warum es noch solche Zustände auf unserem Globus gibt, aber sicherlich mal ein Ansatz dafür, zu hinterfragen, ob die bisherige Entwicklungshilfe – die Entwicklungshilfe der letzten Jahrzehnte – ein geeignetes Instrument ist, solche Probleme zu lösen. Ich denke mal, das ist sie nicht. ({2}) Dann habe ich die einzelnen Punkte mal nach einem anderen Kriterium durchgeforstet, insbesondere die Punkte der Großen Koalition. ({3}) Jeder dieser Punkte ist überhaupt nicht entscheidungsrelevant. Ob Sie jetzt die Regierung damit beauftragen oder nicht – die Regierung könnte das jetzt auch schon tun, ohne dass irgendein Punkt entschieden wird. ({4}) Der Zustand gegenüber der Regierung ändert sich also jetzt nicht und hinterher nicht. Das ist ein deutliches Zeichen dafür, dass dieser Antrag eigentlich überflüssig ist. ({5}) Wenn ich mir zusätzlich den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen ansehe, dann finde ich einige Punkte, aus denen hervorgeht, dass es nicht nur einfach eine Hilfe für die Menschen vor Ort sein soll, die dringend Wasserversorgung und Sanitärversorgung brauchen, sondern dass das auch noch an eine merkwürdige Bedingung geknüpft werden soll, nämlich an die Bedingung der Gendergerechtigkeit, ({6}) die Bedingung einer „gendersensiblen“ Wasserversorgung. ({7}) Die Leute vor Ort brauchen Wasser, Trinkwasser; aber die Vermischung mit ihrer Genderideologie ist, ehrlich gesagt, wenig hilfreich und trägt eher dazu bei, ({8}) dass es noch schwerer wird, solche Projekte zu realisieren, als es ohnehin schon ist. (Beifall bei der AfD – Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Das ist menschenverachtend! – Timon Gremmels [SPD]: Schämen Sie sich! Da Ihre Reaktion, meine Damen und Herren, so heftig ausfällt, wie ich es jetzt gerade höre, scheine ich da ganz offensichtlich einen wunden Punkt getroffen zu haben. ({9}) Das ist natürlich erfreulich.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Achten Sie bitte auf die Redezeit.

Dr. Heiko Wildberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004935, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielleicht können Sie ja aus diesen paar Worten, die ich heute gesagt habe, etwas lernen. ({0}) Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Frank Heinrich für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Frank Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004054, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wasser ist was Herrliches. Selbstverständlich, wie meine Kollegin Ortleb gesagt hat, haben wir es draußen vor der Tür, halten wir es hier in der Hand, klar und frisch und jederzeit verfügbar. „Wasser- und Sanitätsversorgung für alle nachhaltig gewährleisten“ – so heißt unser Antrag. „Für alle“? Da haben wir schon ein Problem. Der Antrag beginnt mit den Worten: „Ohne Wasser kein Leben. Ohne Sanitärversorgung keine Würde.“ Ich bin dankbar, dass wir das Thema heute Nachmittag hier im Plenum behandeln dürfen. Das Thema Wasser ist nicht nur grundlegend wichtig, wie es jeder bildlich und ganz praktisch weiß. Es hat auch die unterschiedlichsten Facetten, die sich in vielen der ehemaligen MDGs und jetzigen SDGs niederschlagen: Verwirklichung des Rechts auf Nahrung, Beseitigung der Armut, Recht auf Gesundheit – Wasser hat unabdingbar mit den ganzen Themen zu tun –, Recht auf Leben, Stärkung der Frauen, Sicherheit – auch auf dem Weg zum Wasserholen oder zurück bzw. zur Toilette und zurück –, Schulbesuch insbesondere für Mädchen, damit die eben nicht mehr diese schweren Kanister tragen müssen und in der Zeit in die Schule gehen können, um nur einige zu nennen. ({0}) Bei der Beschreibung des Status quo – das muss ich sagen – haben Sie, Herr Kollege Wildberg, wirklich danebengegriffen. Als wir vor zehn Jahren hier debattiert haben – mein Kollege und ich können sich gut erinnern –, waren die Zahlen noch ganz andere. Und obwohl die Weltbevölkerung gestiegen ist, ist die Trinkwasserversorgung besser geworden, aber es reicht noch nicht. Deshalb müssen wir weitergehen. 10 Prozent der Weltbevölkerung haben keine Trinkwasserbasisversorgung, 30 Prozent kein sauberes Trinkwasser, die Hälfte der Weltbevölkerung keine sichere Sanitärversorgung, und 673 Millionen Menschen müssen draußen kacken. Entschuldigen Sie das Wort; aber wir müssen das Thema aus der Ecke des Zurückschreckens herausholen; unsere frühere Kollegin Eid hat es mal so genannt. Wir müssen es beim Namen nennen. ({1}) Wir haben aus dem Status quo die Notwendigkeiten abgeleitet. In Bezug auf Infrastruktur, Investitionen, Landwirtschaft, grenzübergreifende Konflikte – möglicherweise Kriege – gibt es eine besondere Dringlichkeit. Es geht auch um Enttabuisierung. Es geht nämlich nicht nur um das Wasser, das jetzt viel besser geworden ist, sondern auch um die sanitäre Seite, eben um die Scheiße, um Abwasser, Fäkalschlämme, Menstruationshygiene. Und da müssen wir tatsächlich investieren. Deshalb danke ich der Bundesregierung, dass wir an der Stelle tatsächlich in den letzten zehn Jahren besser geworden sind: das langfristige Engagement auf internationaler Ebene, die Anstrengungen im Forschungs- und Entwicklungsbereich, auch die G-20-Agrarministererklärung, bei der Deutschland im Jahr 2017 ein wichtiger Akteur war, vertreten damals durch unseren Minister Schmidt. Darauf aufbauend haben wir Bitten formuliert, die sich im Antrag niederschlagen. Wir sagen nicht einfach nur „Weiter so!“ – die Richtung stimmt –, sondern bitten darum, das Thema dringlicher, kohärenter und konsequenter als bisher zu verfolgen. Einen der Punkte möchte ich da herausnehmen – er hängt mit dem gerade unansprechbaren Thema zusammen – : Wir fordern, den Sektor der Sanitärversorgung zu fördern und das Thema zu enttabuisieren. Also nennen Sie – noch mal – den Scheiß beim Namen, und setzen Sie sich auf allen Ebenen, wie auch gerade hier im Plenum passiert, für einen bewussteren Umgang mit Wasser und für nachhaltige Wassernutzung ein. Covid-19 steht aktuell im Mittelpunkt der entwicklungspolitischen Diskussionen, und uns drohen Rückschritte in all diesen Bereichen. Im Vordergrund steht natürlich die Bekämpfung von Hungersnot – das ist alles wichtig und richtig –, doch wir riskieren, die nachhaltige Prävention von Krankheiten zu vernachlässigen. Ich komme zum Schluss. Gerade in Ländern, die kein Gesundheitssystem haben, das leistungsstark genug ist, sind eine sichere Wasser- und Sanitärversorgung und Hygiene bei der Pandemiebekämpfung und Prävention von Krankheiten essenziell. Jede vierte Gesundheitsstation verfügt nach Angabe der WHO über keine Basiswasserversorgung, und jede dritte Schule hat keine Schultoilette. Da müssen wir ansetzen, darauf müssen wir unsere Investitionen fokussieren: auf armutsorientierte Basisversorgung. Ein schönes Wochenende! Danke. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für alle, die sich gefragt haben, wie ich jetzt mit dieser populären Übersetzung des Anliegens des Antrags umgehe: Ich sehe es genau als das an, gehe aber davon aus, dass in den Vorlagen andere Begriffe verwendet werden, ({0}) die aber natürlich genau das meinen, was Sie uns hier gerade nahegebracht haben. Das Wort hat Dr. Christoph Hoffmann für die FDP-Fraktion. ({1})

Dr. Christoph Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004757, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bin sehr dankbar für die Korrektur, dass wir heute über Sanitärversorgung und nicht über Sanitätsversorgung sprechen. Ein kleiner Buchstabe macht den Unterschied. Es ist ein sehr wichtiges Thema: Wasser, Trinkwasser. 2 Milliarden Menschen sind ohne Zugang zu frischem Trinkwasser. Ich glaube, das kann uns nicht egal sein. Aber die Weltgemeinschaft hat sich das Ziel gesetzt, bis 2030 Trinkwasser für alle und eine entsprechende sanitäre Versorgung zu ermöglichen. Aber ich befürchte, wir werden es nicht schaffen, wenn wir uns nicht mehr anstrengen als bisher. Die Technik für sauberes Wasser ist da, die Mittel sind da. Warum scheitert es denn trotzdem? Erster Punkt: schlechte Regierungsführung. Ich will Ihnen nur ein Beispiel nennen. Denken Sie zum Beispiel an Kongo, ein wasserreiches Land: An Wasser mangelt es nicht; an Rohstoffen, an Reichtum mangelt es auch nicht. Aber es gibt eine schlechte Regierungsführung, eine Regierung, die sich wenig Gedanken um die eigene Bevölkerung macht. Daran müssen wir arbeiten, und dabei sind Maßnahmen im Bereich der Bildung und der Korruptionsbekämpfung sowie der Förderung einer guten Regierungsführung das Mittel der Wahl. ({0}) Der zweite Punkt ist: Der Wasserbedarf steigt; er steigt mit einer exponentiell wachsenden Weltbevölkerung – einmal, weil sie mehr Trinkwasser braucht, und andererseits, weil sie auch mehr Nahrung braucht. Denken Sie an das ganze Wasser, das für die Bewässerung von Feldern gebraucht wird. In vielen semiariden Staaten sind die Wasservorkommen aufgebraucht. Die unterirdischen Grundwasserseen aus vergangenen Geschichtsepochen werden langsam aufgebraucht. Damit haben wir uns bisher ein bisschen beholfen, aber das wird nicht reichen. Nehmen wir zum Beispiel Gaza. In Gaza wohnen 2 Millionen Menschen, 5 000 Einwohner pro Quadratkilometer. Das ist eine immense Zahl. Und die Bevölkerung wächst. In 20 Jahren wird sie sich verdoppelt haben. Das Grundwasser ist aber komplett erschöpft durch Tausende illegaler Brunnen, die das Grundwasser sozusagen nach oben gesogen haben, ein Vakuum haben entstehen lassen. Und das salzige Mittelmeerwasser drückt nun in das Grundwasser hinein, sodass es eigentlich nicht mehr nutzbar ist. Es fehlt eine Entsalzungsanlage im Gaza. Das wäre ein konkreter Vorschlag. Eine Entsalzungsanlage würde Gaza Trinkwasser bringen. Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit hatte dort einen Erfolg zu verbuchen: Für das Abwasser, die Kloake, die bisher in das Grundwasser versickert oder einfach ins Mittelmeer weitergeleitet worden ist, gibt es jetzt eine neue Kläranlage, die hoffentlich nach jahrelangen Verzögerungen in Betrieb gehen wird, finanziert durch die deutsche Entwicklungszusammenarbeit und durch die KfW. Der dritte Punkt, den ich ansprechen muss, ist fehlendes Management bei der Benutzung von Wasserquellen. Ich glaube, hier kann Deutschland viel zur Verbesserung beitragen. Trinkwassersperren sind nicht umsonst. Auch Entsalzungsanlagen sind nicht umsonst. Einer muss sie bezahlen. Deshalb ist die Idee, Wasser gratis abzugeben, keine gute. Wasser braucht einen Preis, weil Wasser ein knappes Gut ist. Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass es auch in den Ländern im globalen Süden möglich wird, dass die Leute sich das Wasser leisten können. Das können sie nur dann, wenn es Arbeit und Einkommen gibt. Dafür müssen wir sorgen: dass eben in diesen Ländern diese Möglichkeiten geschaffen werden und nicht die Globalisierungsgewinne, die wir einst hatten, jetzt durch den Shutdown aufgrund von Corona verloren gehen. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Kollege Hoffmann, achten Sie bitte auf die Redezeit und kommen zum Schluss.

Dr. Christoph Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004757, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bei der Abstimmung über den Antrag der Koalition werden wir uns enthalten, weil die Aufarbeitung des Konflikts zwischen Auswärtigem Amt und BMZ fehlt. Bei dem Antrag der Grünen werden wir dagegenstimmen. Vielleicht ein Hinweis an die Grünen: Es gibt auch Naturkatastrophen, nicht nur menschengemachte Katastrophen. Lesen Sie in der Bibel nach. Dort steht der Satz: Ihm folgte eine lange Dürre. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Es scheint immer noch den Irrtum zu geben, dass hier die Mindestredezeit angezeigt wird, aber wir zeigen hier konkret die Redezeit an, die vereinbart wurde. ({0}) Wenn ein Minus vor der Angabe der Redezeit erscheint, dann sind Sie über Ihre Zeit. Ich bitte wirklich alle folgenden Rednerinnen und Redner darum, sich daran zu halten. ({1}) Das Wort hat die Kollegin Zaklin Nastic für die Fraktion Die Linke. ({2})

Zaklin Nastic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004837, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ja, bald könnten weitere Millionen von Menschen um ein Glas Wasser betteln oder gar verdursten. Laut UN-Weltwasserbericht könnte bis 2050 etwa die Hälfte der Weltbevölkerung unter einem Mangel an sauberem Wasser leiden. Viele Staaten der Welt kommen ihrer Verpflichtung, sich um den Zugang zu sauberem Wasser und Sanitärversorgung zu kümmern – das ist ein Menschenrecht –, nicht nach – auch Deutschland nicht. Derzeit haben etwa 785 Millionen Menschen keinen Zugang zu Trinkwasser. Kein Lebensmittel ist so unverzichtbar wie Wasser. Mit keinem Lebensmittel werden so dreckige Profite wie mit Wasser gemacht. Die Privatisierungen des Wassersektors sowie Freihandels- und Investitionsabkommen haben es den Wasserbaronen von Nestlé, Coca-Cola und Pepsi-Cola ermöglicht, Wasser zur Luxusware zu machen. Während 3,4 Millionen Menschen an Krankheiten durch verunreinigtes Wasser sterben, hat alleine der Konzern Nestlé einen Jahresgewinn von 12,9 Milliarden Schweizer Franken gemacht. Wenn Sie es also mit dem Menschenrecht auf Wasser wirklich ernst meinen, müssten Sie doch endlich Nestlé und Co das Handwerk legen. ({0}) Private Unternehmen produzieren nicht etwa besseres oder günstigeres Wasser als die öffentliche Hand. In Manila auf den Philippinen ist zum Beispiel der Preis von Wasser nach einer Privatisierung innerhalb von zehn Jahren um 700 Prozent gestiegen. Und in Deutschland? Hier in Berlin ist der Preis nach einer Teilprivatisierung durch CDU und SPD um 35 Prozent gestiegen. Sie sehen, man braucht gar nicht allzu weit zu schauen, sondern nur vor die eigene Haustür. Die Bundesregierung schiebt die Verantwortung für das Wasserproblem und die Wasserknappheit in Deutschland, auch in einer Antwort auf meine Kleine Anfrage vom vergangenen Oktober nachzulesen, auf die Kommunen ab, insbesondere technische und infrastrukturelle Beschränkungen. Aber da Sie schon vor der Coronapandemie das Gesundheitswesen durch schwarze Null, durch Schuldenbremse und Sparpolitik kaputtgemacht haben, haben Sie auch für Wasserknappheit und teure Preise für die Menschen gesorgt. Deswegen darf die Schuldenbremse nie wieder zurückkommen. Deswegen gehört sie endlich aus dem Grundgesetz gestrichen. ({1}) Gerade jetzt in der Coronapandemie trifft es erneut die Ärmsten der Armen, auch hier in Deutschland. Die ohnehin viel zu wenigen Trinkgelegenheiten und Sanitäreinrichtungen für viele Obdachlose wurden zum Teil ganz geschlossen oder eingeschränkt. Deswegen bin ich auch froh, dass zum Beispiel das St.-Pauli-Bad in Hamburg seine Sanitäreinrichtungen für Obdachlose geöffnet hat. Das ist nämlich ein Beitrag praktischer Solidarität. Dafür danke ich auch im Namen der Linken. ({2}) Aber verantwortungslos ist immer noch, dass in einem der reichsten Länder der Welt immer noch nicht jeder Zugang zu Wasser und sanitären Einrichtungen hat. Meine Damen und Herren, Wasser ist Leben, Wasser ist Menschenrecht. Deswegen sollte jeder einen Zugang zu Wasser haben. Deswegen gehört Wasser in die öffentliche Hand. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Ottmar von Holtz für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Ottmar Holtz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004762, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wassermangel kenne ich tatsächlich. Namibia war schon immer ein besonders trockenes Land mit viel Wasserknappheit. Heutzutage tritt noch ein weiteres Phänomen hinzu, mit dem auch viele andere Länder zu kämpfen haben: der Zuzug in die Städte. Jahr für Jahr entstehen am Nordrand Windhuks Wellblechhütten ohne Wasseranschluss. Die GEZ fördert dort immerhin ein Projekt, mit dem die Stadt versucht, dagegen anzukämpfen. Doch es ist ein Kampf gegen Windmühlen. Wasser – das wurde hier schon gesagt – ist Grundlage von Leben, sauberes Wasser übrigens die Grundlage für ein gesundes Leben. Trotzdem hat nach wie vor noch ein Viertel aller Menschen auf der Erde keinen Zugang zu sauberem Wasser. Nicht erst durch Covid-19, wogegen, wie wir wissen, regelmäßiges Händewaschen am besten hilft, ist das ein riesiges Problem. ({0}) An die Menschen von der sogenannten AfD: Das ist eben doch ein Problem, vor allem der Frauen. Sie sind es nämlich, die tagtäglich kilometerweit gehen, um schwere Wassereimer zu ihren Wohnungen zu schleppen. Jede Wette, dass Sie mit diesen Eimern keine 200 Meter weit kommen. Es braucht vor allem einen bezahlbaren, sicheren Zugang zu sauberem Wasser für alle Menschen. Wasser ist keine Ware. Wasser und Sanitärversorgung für alle ist eine Kernaufgabe der öffentlichen Daseinsvorsorge. Als solche sollten wir sie auch behandeln. ({1}) Aber noch schlimmer sieht es beim Abwasser aus. Weit mehr als die Hälfte aller Menschen haben keine würdige Sanitärversorgung. Selbst in reicheren Ländern, sagt man, werden 40 Prozent der Abwässer nicht angemessen behandelt. Es gibt drei Dinge, die für eine gelingende Entwicklungszusammenarbeit elementar sind: Das sind Bildung, Gesundheit und Wasser. Selbst der so außerordentlich wichtige Frieden ist davon abhängig. Der Druck auf die Ressource Wasser – der Kollege Hoffmann hat das schon gesagt – nimmt noch zu: durch Bevölkerungswachstum, durch zunehmend intensivere Landwirtschaft, durch Energieerzeugung, durch zunehmende Produktion und durch die Klimakrise. Wasser- und Sanitärversorgung müssen deshalb zu einem prominenten Schwerpunkt in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit aufgewertet werden, Herr Staatssekretär. ({2}) Aber Wasserversorgung geht nicht ohne Sanitärversorgung und Abwasseraufbereitung. Leider wird die Sanitärversorgung oft vernachlässigt, weil sie eben sehr kostenintensiv ist. Ein Hinweis oder ein paar Worte noch zu Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen. Ihr Antrag ist voll des Lobes für die Arbeit der Bundesregierung. Aber zur Wahrheit gehört auch: Trotz des Aufwuchses des BMZ-Haushalts in den letzten Jahren stagnieren die Fördergelder im Wasserbereich. Hatten wir 2016 noch knapp 10 Prozent des BMZ-Haushalts für Wasser, sind es jetzt nicht mal mehr 7 Prozent; kein Mittelaufwuchs. Schlimm finde ich vor allem aber, dass in den Plänen des BMZ Wasser als Schwerpunkt in der bilateralen EZ mit immer weniger Ländern eine Rolle spielt. Herr Staatssekretär, lösen Sie die Sonderinitiativen auf! Beenden Sie die Migrationsbekämpfung, und setzen Sie das Geld lieber massiv für mehr kleine kommunale Wasserprojekte ein. Damit wäre allen viel mehr geholfen. Danke. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Sebastian Brehm für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Sebastian Brehm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004682, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jeden Tag sterben 800 Kinder an vermeidbaren Krankheiten durch verunreinigtes Wasser oder mangelnde Hygiene. Allein in unserer Debattenzeit von 30 Minuten sind das umgerechnet 17 Kinder. 2,2 Milliarden Menschen, also jeder dritte Mensch auf der Erde, haben keinen regelmäßigen Zugang zu sauberem Wasser. 785 Millionen Menschen haben nicht einmal die Grundversorgung mit Trinkwasser. Es wurde schon erwähnt: 673 Millionen Menschen verfügen nicht über eine einfache Toilette. Und eine letzte Zahl, die das noch unterstreicht: Über 80 Prozent des Abwassers in der Welt wird unbehandelt abgeleitet. Was das für Belastungen für die Umwelt und auch für andere Dinge mit sich bringt, liegt auf der Hand. Nicht nur die Zahlen, sondern auch die Berichte in den einzelnen Ländern zeigen es deutlich: Die aktuelle Lage zu diesem Thema ist alarmierend, weltweit. Nicht zu Unrecht sieht übrigens auch – und schon seit dem Weltwirtschaftsforum 2015 – die Wirtschaft in Anbetracht ihrer gesellschaftlichen Auswirkungen das Thema Wasser als globales Risiko Nummer eins. Die Zahl der Menschen, die an Wassermangel leiden, steigt. Hochwasser, Dürrekatastrophen, Verschlechterung der Ökosysteme und nicht zuletzt vor allem auch die politischen Spannungen in wasserarmen Gebieten sind die Folge davon. Das Thema Wasser bekommt trotz der Berichte der Organisationen WHO oder UNICEF in vielen Ländern noch nicht die ernsthafte Beachtung, die notwendig wäre. Bei uns ist das anders. Wir müssen hier schon aus unserer Verantwortung als starkes Land und als Industrienation heraus, aber auch aus unserem christlichen Glauben heraus helfen, und das tun wir auch. Im Rahmen der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung wurde 2015 durch die Vereinten Nationen ein umfassendes sechstes globales Wasserziel festgesetzt. Dieses beinhaltet die Gewährleistung der Verfügbarkeit von nachhaltiger Bewirtschaftung von Wasser- und Sanitärversorgung bis 2030 für alle. Im Rahmen des G-20-Vorsitzes von Deutschland haben vor allem der damalige Landwirtschaftsminister Christian Schmidt und der damalige Gesundheitsminister Hermann Gröhe mit entsprechenden Beschlüssen Zeichen gesetzt, insbesondere im Bereich der Vermeidung von Antibiotikaresistenz. Deutschland ist einer der drei größten Geldgeber zur Erreichung dieses Wasserziels der Agenda 2030 mit durchschnittlich jährlich 660 Millionen Euro. Es werden zahlreiche Forschungs- und Entwicklungsvorhaben in diesem Bereich unterstützt, und sie zeigen Wirkung. Es gibt inzwischen nennenswerte Innovationen: Wassergewinnung in der Wüste, Entsalzungsanlagen für Meerwasser, technische Möglichkeiten für den weltweiten Ausbau und die Aufbereitung von Abwasser und natürlich für den Bereich Antibiotikaresistenz. Wir wollen mit unserem Know-how helfen, und deswegen wollen wir mit diesem Antrag heute das wichtige Engagement Deutschlands unterstreichen und weiter voranbringen. Wir wollen aber auch weltweit aufrufen, hier noch mehr zu tun. Wenn wir nicht handeln, liebe Kolleginnen und Kollegen, wird 2040 jedes vierte Kind in einem Gebiet leben, das von extremer Trockenheit betroffen ist. Was das für die Fragen der weltweiten Bildung, Gleichberechtigung von Mädchen und Jungen sowie Migration bedeutet, ist klar. Wir müssen helfen, wir wollen helfen, und wir werden weiter helfen. Herzlichen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Abgeordnete Heike Baehrens für die SPD-Fraktion. ({0})

Heike Baehrens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Hälfte der Durchfallerkrankungen bei Kindern ließe sich allein durch regelmäßiges Händewaschen mit Seife verhindern. Stattdessen sterben heute, wie an jedem anderen Tag in diesem Jahr, 1 000 Kinder unter fünf Jahren, weil sie keinen Zugang zu sauberem Wasser haben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ohne WASH, also dem Dreiklang aus sauberem Wasser, Wissen über Hygiene und Sanitärversorgung, ist ein gesundes Leben kaum möglich. Dies gilt und galt nicht nur in Zeiten von Covid-19. Die Weltgesundheitsorganisation wertet Defizite im WASH-Bereich als einen der wichtigsten globalen Risikofaktoren für Krankheiten. Auch darauf wollen wir mit unserem heutigen Antrag aufmerksam machen. Fast unbemerkt, vor den Augen der Welt, leiden fast 2 Milliarden Menschen weltweit an vernachlässigten Tropenkrankheiten. Diese Gruppe von 20 armutsbedingten Erkrankungen wird häufig durch Überträger wie Mücken, Würmer oder Parasiten verursacht, und viele dieser Krankheiten lassen sich auf den engen Kontakt zwischen Mensch und Tier zurückführen. Nicht erst seit Ebola wissen wir, wie wichtig es ist, die systemischen Zusammenhänge zwischen Mensch, Tiergesundheit und Umwelt zu beachten. Ich bin froh, dass diese Erkenntnis immer stärker berücksichtigt wird. Wenn wir nachhaltig etwas verändern wollen, müssen wir diesen One-Health-Ansatz und die Bereiche WASH, Bildung und Ernährungssicherung zusammendenken. ({0}) Nur so kann der Armutskreislauf durchbrochen werden. Sanitärversorgung und Hygiene müssen also wichtig genommen werden, um allen Menschen ein Leben in Würde und Gesundheit zu ermöglichen. Denn richtig behandelt stellen menschliche Ausscheidungen oder häusliche Abwasser sogar eine wichtige Ressource in der Landwirtschaft dar. Aber nicht behandelt sind sie eine Gefahr für Leib und Leben, so wie das Beispiel der vielen Kinder zeigt, die nicht an Durchfallerkrankungen sterben müssten. Es ist darum gut, dass die Bundesregierung sich als einer der größten Geber weltweit für das Recht auf sauberes Trinkwasser und Sanitärversorgung engagiert. Denn wir haben nicht mehr viel Zeit. Das Bestreben, die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen zu erreichen, und jeder zusätzliche Dollar und Euro, der in den WASH-Bereich investiert wird, zahlen sich hier doppelt und dreifach aus und eröffnen Lebensperspektiven. Dafür werden wir weiter eintreten. Vielen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Peter Stein für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Peter Stein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004416, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kein anderes Grundnahrungsmittel steht so vielen Menschen nicht zur Verfügung wie – eigentlich ein Grundrecht – sauberes und gesundes Trinkwasser. Mindestens 2,5 Milliarden Menschen auf dieser Erde betrifft das. Das hat so unendlich viele unterschiedliche Gründe. Es ergibt daher, glaube ich, viel mehr Sinn, an wirklichen Lösungen und Projekten zu arbeiten, als immer nur diese Gründe aufzuzählen. Deshalb will ich auf einen speziellen Lösungs- und Projektansatz eingehen – der Kollege Ottmar von Holtz hat ihn mit dem letzten Halbsatz auch schon angesprochen –, der mir als Entwicklungspolitiker seit Langem am Herzen liegt. Das sind die kommunalen Partnerschaften. Wasser- und Abwasserversorgung funktionieren am besten, wenn sie möglichst subsidiär organisiert sind. Deutschland kann dabei sicherlich ein sehr gutes Beispiel liefern. Unsere Versorgung ist dezentral organisiert und weist einen gesunden Mix aus öffentlicher Hand und Privatwirtschaft auf. Unser Schwerpunkt liegt dabei natürlich auf den kommunalen Versorgern. Hier schlummert ein kommunalgebündeltes Wissen, das man am unmittelbarsten und am ehesten auf Augenhöhe weitergeben kann. Deutsche Kommunen gehen mit Kommunen in weniger entwickelten Ländern Partnerschaften ein, und die Initiative „Servicestelle Kommunen in der Einen Welt“ des BMZ hat hier in den letzten Jahren einen sehr guten Schub geliefert. Auf dieser Ebene kann auch auf regionale Besonderheiten der Partner eingegangen werden. Wissen wird quasi unter Kollegen vermittelt. Ich betone nach allen Erfahrungen, die ich auch vor Ort machen konnte mit solchen Projekten: Das geht in beide Richtungen. Und weil kommunale Partnerschaften selten nur ein einziges Themengebiet umfassen, kann das Engagement auf weitere Sektoren ausgeweitet werden oder auch Synergien mit weiteren Kooperationsbereichen erzeugen. Ich habe in meiner bisherigen Arbeit als Entwicklungspolitiker mit dieser Art von Vermittlungskonzepten sehr gute Erfahrungen gemacht. Überall dort, wo Wasser-, Abwasser- oder Abfallwirtschaft funktioniert, da funktioniert auch kommunale Verwaltung; da ist die Stadt sauberer, und die Menschen sind gesünder. Noch etwas anderes sehr Wichtiges lässt sich über kommunale Partnerschaften vermitteln. Das sind Bildungspartnerschaften. Gerade im Bildungssystem ist mangelnde Hygiene ein Problem; einige meiner Vorredner haben darauf hingewiesen. Besonders Mädchen können zeitweilig nicht am Unterricht teilnehmen, wenn Hygiene nicht möglich ist und separate Toiletten nicht verfügbar sind. Auch Grundzüge der Hygiene werden an Schulen vermittelt. Vielleicht gibt es dort sogar das einzige Stück Seife am Tag. Schließen möchte ich hier mit einem Blick auf die Rede des Kollegen von der AfD mit einer Erzählung: Wir haben eine Delegationsreise nach Jordanien gemacht. Jordanien ist eines der trockensten Länder dieser Erde, und doch schaffen sie es mit 60 Litern Pro-Kopf-Verbrauch am Tag sogar, Millionen von Flüchtlingen fair und ehrlich mitzuversorgen in einem System, was durch Unterstützung auch von außen gut aufgebaut worden ist. Es ist ein positiver Erfolg. Ich kann nur sagen: Ihr Kollege Friedhoff war auf der Reise dabei, und er sollte eigentlich auch ein paar Tropfen der Erkenntnis in Ihre Fraktion gebracht haben. ({0}) Aber die große Dürre, die bei Ihnen herrscht, zeigt eigentlich nur die Entmenschlichung Ihrer Entwicklungspolitik. Ganz herzlichen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache.

Katja Keul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004067, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich über die Gelegenheit, heute über Familienrecht debattieren zu können, und möchte Ihnen in der Kürze die Schwerpunkte unserer insgesamt drei Anträge vorstellen. Wir wollen neben der Fortbildungspflicht auch ein Fortbildungsrecht im Richtergesetz verankern, und zwar für alle Richterinnen und Richter. Die Richterschaft in unserem Land ist gut ausgebildet und extrem flexibel, wenn es darum geht, sich jederzeit in ein neues Rechtsgebiet einzuarbeiten. Es sollte aber auch die Pflicht des Dienstherrn sein, die zeitlichen und finanziellen Ressourcen und Anreize für Fortbildungen zu gewährleisten und richterliche Qualität nicht immer nur an hohen Erledigungszahlen zu messen. ({0}) Außerdem kann die Flexibilität von Volljuristen auch an Grenzen stoßen, wenn eine Materie wie das Familienrecht in der Ausbildung quasi gar nicht vorkommt und umfangreiche fachfremde Kenntnisse über beispielsweise Rentenberechnungen oder psychologische Gutachten vorausgesetzt werden. Seit Jahren besteht daher ein breiter Konsens unter den Fachexperten – auch hier im Bundestag –, dass beim Familiengericht nicht nur Fortbildungen, sondern auch Eingangsqualifikationen verbessert werden müssen, bevor jemand von null auf hundert ein Familiendezernat übernimmt. Leider hat das Justizministerium trotz einer Absichtserklärung im Koalitionsvertrag bislang nichts dazu vorgelegt. Ein weiteres Anliegen ist uns die Gleichbehandlung des familiengerichtlichen Verfahrens mit den sonstigen Zivilverfahren im Hinblick auf die möglichen Rechtsbehelfe und den Weg zum Bundesgerichtshof. Es ist überhaupt nicht einzusehen, warum man einen Streit über die Höhe einer Mietminderung immer bis zum BGH führen kann, aber gegen existenzielle Entscheidungen über das Schicksal eines Kindes keinerlei Nichtzulassungsbeschwerden möglich sind. ({1}) Das reine Kapazitätsargument ist nicht geeignet, diese unterschiedliche Behandlung zu rechtfertigen. Es wäre nicht mal zwangsläufig ein zweiter Familiensenat nötig, wenn man den bestehenden Familiensenat von sonstigen aufwendigen Zuständigkeiten, wie den Unterbringungsverfahren, entlasten würde. Einige Experten gehen auch noch weiter und plädieren für eine eigene Familiengerichtsbarkeit. Damit würden sowohl der Wissenstransfer und die Qualifikation gewährleistet als auch der Weg zu einem eigenen obersten Bundesgericht geebnet. Auch dieser Vorschlag verdient eine ernsthafte Befassung. ({2}) Nun zum Versorgungsausgleich, einem Thema, das noch mal verdeutlicht, wie viele fachfremde Kenntnisse sich Juristen im Familienrecht aneignen müssen. Seit der Einführung der internen Teilung von Rentenanwartschaften gibt es ein gravierendes Problem mit dem Halbteilungsgrundsatz im Bereich der betrieblichen Anwartschaften. § 17 Versorgungsausgleichsgesetz erlaubt es nämlich, dass Unternehmen den geschiedenen Ehegatten ihres Arbeitnehmers aus der Altersversorgung auszahlen, also einen externen Ausgleich durchführen können. Der auszuzahlende Kapitalbetrag liegt aber aufgrund der langanhaltenden Niedrigzinsphase weit unter dem, was nötig wäre, damit sich jemand eine gleichwertige Rentenanwartschaft aufbauen kann. Auf der anderen Seite werden die Unternehmen von teuren Pensionsansprüchen entlastet, was aber nicht Sinn und Zweck des Versorgungsausgleichs ist. Am Ende sind es häufig die weniger verdienenden Ehefrauen, die hier um die hälftigen Rentenanwartschaften gebracht werden. Die Ausnahme des § 17 Versorgungsausgleichsgesetz gehört daher gestrichen. In Kürze steht hierzu die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts an. ({3}) Weil der gesamte Versorgungsausgleich zum Zeitpunkt der Ehescheidung ohnehin immer eine Art Prognose für die weitere Entwicklung der Anwartschaften ist und weil diese weder von der Anwaltschaft noch von der Richterschaft abschließend überprüft werden kann, schlagen wir vor, die Teilung der Anwartschaften künftig gleich auf den Zeitpunkt des Renteneintritts zu verschieben. Das Familiengericht hätte dann zum Zeitpunkt der Scheidung nur noch über mögliche Ausschlussgründe, über die maßgebliche Ehedauer und über das Bestehen von Anwartschaften dem Grunde nach zu entscheiden. Die Bewertung und die Teilung der Anwartschaften könnten dann von der Rentenversicherung automatisch beim ersten Renteneintritt vorgenommen werden. Viele Abänderungsverfahren oder schlicht unrichtige Teilungsentscheidungen würden sich dadurch erübrigen. ({4}) Man denke nur an die Gesetzesänderung für die Mütterrente, wodurch Tausende von Versorgungsausgleichen neu berechnet werden müssen. Es bräuchte auch keine Rückabwicklung der Teilung mehr, wenn der Berechtigte vorzeitig verstirbt. Selbst das Problem des § 17 Versorgungsausgleichsgesetz wäre gelöst, da es auf die Zinsentwicklung zwischen Ehescheidung und Renteneintritt nicht mehr ankäme. Fazit: Im Familienrecht gibt es viel zu bereden.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Keul, kommen Sie bitte zum Schluss.

Katja Keul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004067, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Genau. – Es wird Zeit, dass hier endlich umgesetzt wird, was schon lange liegen geblieben ist. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Paul Lehrieder für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Sehr geehrte Frau Kollegin Keul, wenn Sie alles richtig ausgeführt hätten, dann hätte ich auf meine Rede verzichten können. Nun muss ich doch ein paar Sätze an Sie richten. ({0}) Liebe Grüne, wenn der Himmel voller Geigen hängt, denkt kaum jemand an die oft herben finanziellen Folgen einer ehelichen Trennung oder gar daran, wie fortgebildet der Familienrichter sein wird, der die Ehe scheidet oder die Kinder in einem Sorgerechtsverfahren anhört. Dafür, dass diese Zäsur im Leben von Männern und Frauen trotz der vielen persönlichen Frustrationen für alle Beteiligten fair und auf Augenhöhe stattfindet, sind wir Rechts- und Familienpolitiker zuständig. Das war schon in der Großen Koalition 2009 so, als die Strukturreform des Versorgungsausgleichs beschlossen wurde, die – Sie sagen es in Ihrem Antrag selbst zu Recht – sich bewährt hat, und das ist auch in der aktuellen Großen Koalition so. Allerdings, Frau Kollegin Keul, frage ich mich, warum Sie genau elf Tage vor der höchstrichterlichen Entscheidung in Karlsruhe in dem Verfahren 1 BvL 5/18 in Sachen „Versorgungsausgleich bei Ehescheidungen“ das Thema heute hier thematisieren. Wir haben als Politiker großen Respekt auch vor dem Wissensgewinn durch das Bundesverfassungsgericht, ({1}) insbesondere seitdem der behandelnde Senat von unserem ehemaligen rechtspolitischen Sprecher Stephan Harbarth geleitet wird. Das heißt, wir halten es für sinnvoll, die klugen Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts in eine mögliche Änderung des Gesetzes mit einzubeziehen und dann zu gucken, was zu machen ist, liebe Frau Kollegin Keul. ({2}) So machen wir den zweiten Schritt nach dem ersten, und dann kommen wir auch nicht so leicht ins Stolpern. In diesem Sinne wäre es also, wie gesagt, eleganter gewesen, wenn Sie diese elf Tage noch hätten warten können. Aber junge Pferde sind ein bisschen vorpreschend. ({3}) Es geht in diesem Verfahren konkret um die Frage, ob die sogenannte externe Teilung von Versorgungsansprüchen bei Betriebsrenten verfassungskonform ist. Diese sollte – das ist völlig unstrittig – nach dem Halbteilungsprinzip erfolgen. Sie haben bereits darauf hingewiesen, Frau Kollegin Keul: Das Problem ist – und das macht sich auch zum Nachteil von vielen Frauen bemerkbar; da haben Sie völlig recht –, dass tatsächlich die niedrige Zinslage zu diesen unterschiedlichen wirtschaftlichen Entwicklungen bei dem Aufsplitten der Betriebsrenten führt. Der Versorgungsträger, der die Anrechte abgibt, ermittelt den Kapitalwert mit einem Zinssatz, der für Handelsbilanzen maßgeblich ist. Bei Betriebsrenten ist aber der vergleichsweise hohe durchschnittliche Zinssatz der vergangenen sieben Geschäftsjahre maßgeblich. Der Träger, der die Anrechte übernimmt, orientiert sich dagegen am aktuell niedrigen Marktzins. Durch die Übertragung geht Geld verloren, und der Rentenanteil sinkt. Hier ist sicher zu schauen, wo Handlungsbedarf besteht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie wollen das vermeintliche Problem einfach dadurch lösen, dass Sie § 17 des Versorgungsausgleichsgesetzes streichen. Ganz so einfach, liebe Grüne, ist es leider nicht. Gut gemeint, aber schlecht gemacht! Mehr kann ich Ihrem Entwurf nicht abgewinnen. Ich nenne Ihnen zwei Punkte; darüber sollten Sie sich die nächsten elf Tage noch einmal Gedanken machen. Erstens ist es womöglich gar kein Problem, bei dem ein bestimmtes Geschlecht strukturell benachteiligt wird, sondern es ist eher der gegenwärtigen und andauernden Niedrigzinslage geschuldet – ich habe schon versucht, das auszuführen –, die eine Partei benachteiligen kann, nämlich die, die geringere Anwartschaften besitzt. Zweitens würden Sie mit einer Streichung zusätzlich neue Probleme dort kreieren, wo es durch die Coronakrise bedingt momentan noch schwerer ist als sonst. Streichen Sie die externe Teilung, dann käme es bei kleinen und mittleren Unternehmen zu einem Eingriff in die unternehmerische Freiheit, was insgesamt eine Gefahr für die betriebliche Altersvorsorge darstellen würde. Sie müssten zusätzlich unternehmensfremde Anspruchsinhaber zwangsverwalten. Meine Bitte deshalb: Gedulden wir uns gemeinsam noch die elf Tage, und dann schauen wir, was zu tun ist. Dann können Sie uns konstruktiv begleiten. Darauf freue ich mich. Herzlichen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Jens Maier für die AfD-Fraktion. ({0})

Jens Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004811, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eigentlich könnte ich hier auf meinen Vorredner verweisen und mich wieder hinsetzen. ({0}) Aber ich will doch noch ein paar Worte sagen. Es ist erst einmal gut, dass wir uns hier mit der Situation an den Familiengerichten befassen. Allerdings bekommt dies, wenn die Grünen das tun, wieder einen gewissen Einschlag. Die Lösungsvorschläge der Grünen gehen dann in die grüne Richtung. Dass man festgestellte oder behauptete Mängel an den Familiengerichten meint mit höheren Qualifikationsanforderungen und Qualifizierungsmaßnahmen bei der Richterschaft begegnen zu müssen, verwundert bei den Grünen, einer Umerziehungspartei, wenig. Ich glaube nicht, dass man der Situation an den Familiengerichten gerecht wird, wenn man die Familienrichter pauschal als fortbildungsbedürftig abqualifiziert. ({1}) Die Familienrichter machen einen harten Job und auch einen guten Job. Da gerät man schnell an die Belastungsgrenze. Warum einiges nicht rundläuft, hat vor allem in der allgemeinen Belastungssituation die Ursache und nicht darin, dass die Familienrichter unfähig oder nicht genügend qualifiziert wären. Von uns, der AfD, wurde im Rechtsausschuss schon mehrfach gesagt, dass wir die Forderung der Grünen, die Nichtzulassungsbeschwerde auch im familiengerichtlichen Verfahren zuzulassen, für sinnvoll halten und unterstützen werden. Ebenso ist es keine schlechte Idee, in den Fällen schwieriger Sorgerechtsentscheidung nicht einen Richter allein, sondern eine Kammer, also drei Richter, entscheiden zu lassen. Die Frage aber ist: Wie soll das alles realisiert werden? Woher will man das Personal nehmen? Da sehe ich große Probleme. Im Gesetzentwurf der Grünen geht es um die Rechtsfolgen beim Versorgungsausgleich. Lassen sich zwei Ehepartner scheiden, kann der Versorgungsträger der ausgleichspflichtigen Person nach § 14 des Versorgungsausgleichsgesetzes ohne Vereinbarung mit der ausgleichsberechtigten Person eine externe Teilung des Versorgungsausgleichs nur in sehr engen Grenzen verlangen. Im Jahr 2017 lag der höchste Kapitalwert, den ein Ausgleichswert am Ende der Ehezeit hierzu haben durfte, bei 7 140 Euro. Ergibt sich der Ausgleichswert aus Anwartschaften aus einer Unterstützungskasse wie einer Betriebsrentenversicherung, darf der Versorgungsträger die externe Teilung des Versorgungsausgleichs auch bei einem deutlich höheren Kapitalwert der Rentenanwartschaft verlangen. Wir reden hier von einem Kapitalwert von bis zu 76 200 Euro im Jahr 2017. Ja, hier besteht ein rechtliches Problem. Die Frage, wie man damit umgeht, ist absolut berechtigt; denn das Zusammenspiel zwischen den §§ 14 und 17 des Versorgungsausgleichsgesetzes führt zu merkwürdigen Ergebnissen. Darum hat auch der 10. Senat für Familiensachen am OLG Hamm das Verfahren ausgesetzt und die Sache dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt; Herr Dr. Lehrieder hat gerade darauf hingewiesen. ({2}) Der Gesetzentwurf der Grünen will nun dem Bundesverfassungsgericht dazwischengrätschen. ({3}) Das halten wir für nicht sachgerecht; denn es gibt zu diesem Rechtsproblem eine sehr kontroverse Diskussion in Literatur und Rechtsprechung. Nach unserem Dafürhalten sollte man erst einmal die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts abwarten und dann prüfen, ob überhaupt noch gesetzgeberischer Bedarf besteht. ({4}) Den abschließenden Versorgungsausgleich erst bei Eintritt in das Rentenalter durchzuführen, darüber kann man reden. Aber was natürlich nicht sein darf, ist: Wenn sich zum Beispiel ein 37-Jähriger scheiden lässt, darf es 20 oder 30 Jahre später nicht wieder Streit geben; das muss nicht sein. Ob das durch diese Regelung vermieden werden kann, weiß ich nicht. Jedenfalls halten wir das, so wie die Grünen hier vorgegangen sind, für nicht zustimmungsfähig. Vielen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun Sonja Amalie Steffen das Wort. ({0})

Sonja Steffen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004164, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn Menschen heiraten, dann denken sie in der Regel hoffentlich an Liebe, an Glück, an Gemeinsamkeit, vielleicht manchmal auch an materielle Vorteile – hoffentlich nicht zu oft –, aber sehr selten an die juristischen Folgen, die sie mit so einer Ehe eingehen. Wenn es dann dazu kommt, dass die Ehe geschieden wird, dann beginnt für viele das böse Erwachen. Und in der Tat ist es so, dass gerade der Versorgungsausgleich vielen Eheleuten fast nahezu unbekannt ist. Dabei ist es ein außerordentliches wichtiges Instrument, das einen sozialen Ausgleich im Alter herstellt, übrigens ein Instrument aus dem Jahre 1976, das unter Kanzler Helmut Schmidt in der sozialliberalen Koalition entstanden ist. – Da kann man auch mal klatschen. ({0}) Jetzt geht es um den Antrag der Grünen zu § 17 des Versorgungsausgleichsgesetzes. Ich muss jetzt mal die Ehre der Grünen retten, obwohl sie das nicht nötig haben; aber ich tue es trotzdem. Der Antrag besteht schon mindestens seit dem Jahr 2014; schon damals habe ich zu diesem Antrag geredet. Also, es ist beileibe nicht so, dass das den Grünen jetzt gerade einfällt, elf Tage vor der zu erwartenden Verfassungsgerichtsentscheidung. Zumindest alle Juristinnen und Juristen hier wissen: Diese Vorschrift ist tatsächlich sehr umstritten. Ich bin sehr gespannt auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Wir werden in den Beratungen dann auf das Ergebnis zurückgreifen können; das ist ja auch gar nicht so verkehrt. Zum Thema Verschiebung. Ich habe am Anfang gedacht, dass das charmant ist. Sie haben ja recht mit Ihren Bedenken; Stichwort „Kindererziehungszeiten“. Ständig kommt etwas Neues. Auch die Grundrente wird Neues bringen. Dann muss das alles aufgerollt werden. Aber stellen wir uns vor: Wir verschieben das Thema Versorgungsausgleich auf den Sankt-Nimmerleins-Tag. Normalerweise soll bei einer Ehescheidung eine endgültige Klärung für die Parteien herbeigeführt werden; das ist wichtig. Insofern halte ich eine Verschiebung in die Zukunft für problematisch. Abgesehen davon habe ich nicht verstanden, weshalb Sie das beim Sozialgericht anhängig machen wollen; dahin gehört es wirklich nicht. Man sollte familiengerichtliche Verfahren nicht zerfleddern. Zum Thema Richterfortbildung. Wir stehen dem positiv gegenüber. Gerade im Versorgungsausgleich – Sie haben das schon gesagt – haben wir es mit einer sehr komplizierten Materie zu tun. Es ist vielleicht ganz gut, wenn wir den Ländern da eine gewisse Einheitlichkeit vorschreiben. Ich will aber zum Schluss noch eines sagen: Wir könnten das gesamte Problem Versorgungsausgleich wirklich lösen, indem wir gleich bei der Eheschließung zwei Konten bilden, und zwar für sämtliche Anwartschaften. Die Ehepartner bekommen die Hälfte der Anwartschaften des jeweils anderen. Dann brauchen wir gar keinen Versorgungsausgleich mehr, wenn die Ehe scheitern sollte. Im Übrigen hätten wir auch die Probleme bei der Witwenrente gelöst. Vielleicht ist das ja ein Thema für die nächste sozialdemokratische Reform des Versorgungsausgleichs. Herzlichen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Abgeordnete Katrin Helling-Plahr für die FDP-Fraktion. ({0})

Katrin Helling-Plahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004742, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen! Sie legen uns heute drei Anträge vor, die das Familienrecht betreffen. Die Anträge sind ein wahres Sammelsurium an Einzelforderungen. Alle mehr oder minder sinnvoll, dafür aber sehr juristisch-technisch. Mit einem Antrag begehren Sie die Abschaffung des § 17 Versorgungsausgleichsgesetz, der besondere Fälle der Teilung von Betriebsrenten regelt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, warum reden wir heute über dieses Thema? Das Bundesverfassungsgericht wird, wie ja schon angeklungen ist, übernächsten Dienstag über dieses Thema entscheiden, darüber entscheiden, ob § 17 Versorgungsausgleichsgesetz überhaupt verfassungsgemäß ist. Sie hatten auch in dieser Wahlperiode zweieinhalb Jahre Zeit, das Thema noch mal auf die Agenda zu bringen. Jetzt sollten wir wirklich das Urteil abwarten. Vielleicht hatten Sie Sorge, dass sich Ihr Antrag erübrigt? ({0}) Zweitens möchten Sie die Idee prüfen, ob es Sinn macht, den Versorgungsausgleich erst bei Renteneintritt durchzuführen, um die Zahl der Abänderungsverfahren zu reduzieren. Prüfen kann man, aber es gibt einen entscheidenden Nachteil, wenn die Rentenanrechte nicht mit der Scheidung, sondern erst viel später geteilt werden. Wenn noch nicht alles, das mit der Scheidung in Verbindung steht, grundsätzlich erst einmal erledigt ist, schaffen Sie keinen Rechtsfrieden, keinen Trennungsfrieden. ({1}) Schließlich zu Ihrem dritten Antrag. Selbstverständlich brauchen wir dringend bestmöglich aus- und fortgebildete Richter und hochqualifizierte Verfahrensbeistände. Die Einführung eines Kammerprinzips in Kindschaftssachen ist eine wirklich hochspannende Idee, und natürlich muss sichergestellt werden, dass Kinder, auch kleine Kinder, unter kindgerechten Bedingungen angehört werden. Die Schaffung der Möglichkeit von Nichtzulassungsbeschwerden auch in Familiensachen haben wir als FDP-Fraktion selbst schon beantragt und ist selbstverständlich wichtig. Ob wir hingegen Ombudsstellen und weitere Netzwerke brauchen – da bin ich etwas skeptisch. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, drei Bäume machen zwar keinen Wald, aber offenbar haben Sie es dennoch geschafft, den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen. ({2}) Denn das Wichtigste wäre zuallererst eine umfassende Reform des Sorge- und Umgangsrechts. Sie ist dringend überfällig. Wir haben mit unserem Antrag, das Wechselmodell als gesetzliches Leitbild einzuführen, bereits 2017 ein Konzept vorgelegt. Von Ihnen habe ich da bis heute nicht viel gehört. Aber Sie sind in guter Gesellschaft. Das Bundesjustizministerium hatte ja für 2020 vollmundig eine Reform des Sorge- und Umgangsrechts angekündigt. ({3}) Wieder einmal ein leeres Versprechen? Ich lasse mich sehr gerne vom Gegenteil überzeugen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin Gökay Akbulut das Wort. ({0})

Gökay Akbulut (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004653, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute, wie meine Vorrednerinnen bereits erwähnten, zwei wichtige Initiativen, zum einen den Gesetzentwurf der Grünen zum Versorgungsausgleich nach Scheidung von Ehen und den Zusatzantrag dazu und zum anderen den Antrag zur Fortbildung von Richterinnen und Richtern in familiengerichtlichen Verfahren. Beides sind wichtige und richtige Reformen, die wir als Linke unterstützen. Die Streichung des § 17 des Versorgungsausgleichsgesetzes wäre ein wichtiger Schritt; denn damit würde die Justiz entlastet werden. Aber viel wichtiger ist, dass durch die externe Teilung die ausgleichsberechtigte Person meist deutlich weniger erhält als die Hälfte des in der Ehezeit erworbenen Versorgungsanspruchs. Das ist im Ergebnis ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz und trifft in der überwiegenden Zahl der Fälle Frauen. Das ist absolut untragbar. ({0}) Deshalb ist hier auch schnelles Handeln geboten. Nicht ohne Grund prüft das Bundesverfassungsgericht gerade die Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung. Es wäre besser, wenn die Durchführung des Versorgungsausgleichs erst bei Eintritt ins Rentenalter geprüft wird, so wie die Grünen es auch fordern. Zu dem Antrag zur Fortbildung von Richterinnen und Richtern sowie zur Qualitätssicherung in familiengerichtlichen Verfahren muss man zuerst sagen, dass es ein sehr, sehr sensibler Bereich ist. Hier geht es um die Entwicklung der betroffenen Kinder und um Auswirkungen auf ihr weiteres Leben. Allein juristische Kenntnisse reichen nicht aus, um zielführende Gespräche mit den betroffenen Kindern und Familien zu führen. Erforderlich sind Kompetenzen beispielsweise in der Entwicklungspsychologie. Das ist in Fachkreisen und auch in der Praxis unbestritten. Dass hier noch nichts passiert ist, ist im Grunde genommen ein Unding, obwohl es vor vier Jahren schon beschlossene Sache war. ({1}) Die Bundesregierung ist hier vier Jahre lang untätig geblieben, und die Leidtragenden sind die betroffenen Kinder und Familien. Das ist für uns schlichtweg nicht hinnehmbar. ({2}) Unsere Justiz muss den zunehmenden qualitativen Anforderungen und den gesellschaftlichen Veränderungen gerecht werden. Dazu gehört vor allem die größere Bedeutung der Rechte von Kindern, was ich ausdrücklich begrüße. Aber auch die unterschiedlichen Familienkonstellationen, wie Patchworkfamilien oder Regenbogenfamilien etc., müssen differenzierter betrachtet werden, und es müssen entscheidende Kenntnisse hierüber auch bei Richterinnen und Richtern vorliegen. Deshalb stimmen wir dem Antrag der Grünen auch zu. ({3}) In den öffentlichen Anhörungen zu diesem Antrag haben die geladenen Sachverständigen mehrheitlich auch diesen Reformbedarf bestätigt. Das zeigt erneut, dass eine Verbesserung der Qualität von familiengerichtlichen Verfahren längst überfällig ist. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Axel Müller für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Axel Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004829, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren über drei Vorlagen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Thema Familienrecht. Ich beschränke mich dabei auf den Antrag zu Richterfortbildung und Qualitätssicherung in familiengerichtlichen Verfahren und beschränke mich dabei auch auf vier Punkte. Punkt eins. Die Grünen fordern eine verpflichtende Fortbildung von Richtern und Richterinnen. Mit Blick auf die grundgesetzlich verbriefte richterliche Unabhängigkeit ist dies kaum zulässig. Demgemäß haben Sie in Ihrem Antrag zwar gesagt, ({0}) dass Sie entsprechende beamtenrechtliche Vorschriften für unübertragbar halten, wollen aber genau das dann im Richtergesetz festschreiben. Das ist für mich ein unauflösbarer Widerspruch. Im Koalitionsvertrag von CDU und CSU sowie SPD steht deshalb auch wohlweislich nicht „verpflichtende Fortbildung“, sondern wir erwarten eine „kontinuierliche Fortbildung“. Die zwei wichtigsten Voraussetzungen dafür hat die GroKo bereits geschaffen. Die erste davon ist: Mit dem Pakt für den Rechtsstaat haben wir 2 000 neue Stellen unter anderem für die Richterschaft geschaffen, eine praktische Hilfe für fortbildungswillige Richter und Richterinnen. Wer auf Fortbildung geht, dem droht nämlich nach der Rückkehr in der Regel, dass er fast von der Arbeit erschlagen wird, die liegen geblieben ist, weil er keine ausreichende Vertretung hat. Jede zusätzliche Stelle in der Justiz schafft und erleichtert damit die Möglichkeit zur Fortbildung. ({1}) Zur zweiten Voraussetzung. Fortbildungen für die Richterschaft werden schon immer kostenfrei in Kursen mit Unterbringung in Fortbildungsstätten der Deutschen Richterakademie angeboten, in Trier wie in Wustrau. In meiner aktiven Dienstzeit als Richter war ich dort häufiger. Der Fortbestand der Deutschen Richterakademie, meine Damen und Herren, wurde in dieser Legislaturperiode von der Großen Koalition sichergestellt, die wichtigste Fortbildungseinrichtung für die deutsche Richterschaft finanziell abgesichert. ({2}) Die Akademie bietet hervorragende, gut nachgefragte Fortbildung, insbesondere für alle familiengerichtlichen Bereiche bis hin zur Mediation, die Sie dort bei wirklich anerkannten Fachleuten erlernen können, selbstverständlich auch Fortbildung im Bereich der Kindesanhörung. Punkt zwei. Sie wollen festschreiben, dass nur Familienrichter werden soll, wer zum Richter auf Lebenszeit ernannt worden ist. In der Regel geschieht das nach drei Jahren. Das galt schon so vor der Wiedervereinigung. Im Zuge des Aufbaus der Justiz der neuen Länder wurde diese Dienstzeit abgesenkt, weil es viele Personallücken gab. Im 30. Jahr der Wiedervereinigung, denke ich, kann man darüber ernsthaft reden. Allerdings muss ich hinzufügen, dass wir in Baden-Württemberg schon immer grundsätzlich darauf geachtet haben, dass derjenige oder diejenige, die ein Familienrichterreferat übernimmt, zunächst einmal eine familienrechtliche Schulung bekommt. ({3}) Mit der Ihnen hierbei vorschwebenden Idealvorstellung eines Familienrichters mit der Zusatzqualifikation – so haben Sie es doch im Antrag formuliert – als Sozialpädagoge überspannen Sie den Bogen dann doch deutlich. Das könnte beispielsweise bei der Arzthaftungskammer dann nur noch ein Richter machen, der eine medizinische Vorbildung hätte. Mit der generalistischen Ausbildung hat das doch nichts zu tun. Punkt drei. Sie fordern zur Qualitätssteigerung ein Sechsaugenprinzip im Familienrecht, ein Kammerverfahren in Kinderschutzsachen, so wie es bei der Großen Strafkammer der Fall ist. Dort hat man allerdings entgegen dem Gerichtsverfassungsgesetz gesagt –

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Müller, Sie können selbstverständlich weitersprechen; das geht dann aber auf Kosten Ihrer Kollegen. Ich bitte Sie, einen Punkt zu setzen.

Axel Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004829, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

– ich mache es ganz kurz –: Es entspricht nicht mehr dem Kindeswohl, wenn sich ein Kind drei Berufsrichtern gegenübergestellt sieht. Der vierte Punkt – in der Tat der letzte Punkt –: ({0}) Einen Verfahrenspfleger soll das Kind künftig ablehnen können. Das Kind soll das selber entscheiden können, nicht mehr das unabhängige Gericht. Zum Schluss Versöhnliches. Über die Nichtzulassungsbeschwerde können wir selbstverständlich reden; das erachte ich auch für sachgemäß. Vielen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Viel Spaß beim innerfraktionellen Austausch gleich. ({0}) Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Leni Breymaier das Wort. ({1})

Leni Breymaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004683, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Schönen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Abschaffung des Schuldprinzips bei der Scheidung und die Einführung des Versorgungsausgleichs vor 43 Jahren war ein Riesenschritt auf dem Weg zur Gleichberechtigung. Ist ein Paar zehn Jahre verheiratet und hat er in den zehn Jahren 400 Euro Rente erworben und sie 200 Euro, zählt man das zusammen und teilt es durch zwei. In unserem Beispiel gehen dann beide mit jeweils 300 Euro Rentenanspruch bzw. den entsprechenden Rentenpunkten auf dem Konto ihrer weiteren Wege. Für die gleiche Regelung kann man sich auch im Nachhinein entscheiden: für den Fall des Ablebens des Partners oder der Partnerin. Dann heißt der Vorgang Rentensplitting. Das muss nicht vorher verabredet werden. Rentensplitting finden wir Diplomfeministinnen toll. ({0}) Praktisch findet das keine große Akzeptanz, weil die Witwenrente in aller Regel höher ist. Das sollten wir als Regelmodell dann festlegen, wenn die anderen Hausaufgaben gemacht sind, zum Beispiel wenn das Ehegattensplitting in der Mülltonne der Geschichte gelandet ist. ({1}) Zu den Anträgen. Ich verstehe, was Sie meinen. Ich glaube aber, das im Antrag hauptsächlich beklagte Problem, dass die Familiengerichte und die Anwaltschaft mit der komplexen und fachfremden Materie des Rentenrechts überfordert werden, wird nicht gelöst. Durch die Verschiebung der Durchführung des Versorgungsausgleichs auf das Renteneintrittsalter bleiben die Rechtsverhältnisse gegenüber dem Status quo über eine lange Zeit in der Schwebe. Bis zu diesem Zeitpunkt wissen die Beteiligten nicht verbindlich, wie sich ihre Rentenanwartschaften gestalten werden. Das heißt, alle Rentenauskünfte und die damit zusammenhängenden Folgeentscheidungen könnten nur unter dem Vorbehalt der noch ausstehenden Entscheidung des Familiengerichts getroffen werden. Im Übrigen ist das zentrale Problem, das die Grünen benennen – die Überforderung der Familiengerichte durch eine für sie komplexe und fachfremde Materie –, überhaupt nicht gelöst, sondern würde nur auf später verschoben. ({2}) Sie bleiben unverändert die letzte Instanz, nur mit der Konsequenz, dass die oft ja recht dreckige Wäsche, die im Scheidungsverfahren gewaschen wird, jetzt durch mehr Spülgänge – also: Auskunft des Versorgungsträgers, Widerspruchsverfahren, Sozialgerichtsverfahren – muss und sich alle Beteiligten kurz vor Renteneintritt nochmals im Gerichtssaal wiedersehen. Das stelle ich mir bei Konstellationen wie bei Joschka Fischer oder Oskar Lafontaine dann schon etwas aufwendig vor. ({3}) Mein Fazit deshalb: Gut gemeint. Lassen Sie uns einfach mal hören, was das Bundesverfassungsgericht in zwei Wochen dazu sagt; das Aktenzeichen wurde ja genannt. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun die Kollegin Bettina Wiesmann das Wort. ({0})

Bettina Margarethe Wiesmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004934, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Familienpolitikerin habe ich, wie Sie wissen, vor anderthalb Jahren eine Stellungnahme der Kinderkommission zur Qualitätssicherung in Kindschaftsverfahren zur einstimmigen Verabschiedung gebracht. ({0}) In einigen Punkten stimmt diese Stellungnahme auch mit Ihrem Antrag, dem dritten, mit dem ich mich jetzt beschäftigen möchte, überein. Was ist der Hintergrund? Kindschaftsverfahren – so drückte sich auch ein Anzuhörender, Professor Ernst, in der Anhörung etwas drastisch aus – würden in der deutschen Justiz etwa so behandelt wie Verfahren, bei denen es um einen Streitwert von 5 000 Euro geht, vor allen Dingen durch geringere personelle Ausstattung und eingeschränktes Widerspruchsrecht. Das ist aus Sicht der Familienpolitiker nicht befriedigend, jedenfalls nicht aus meiner. ({1}) Denn sehr häufig geht es um lebenswichtige Entscheidungen, von deren Güte das Leben eines Kindes doch maßgeblich beeinträchtigt sein kann – eben wenn sie nicht gut sind. Diese Entscheidungen sollten anders bewertet werden. Besonders schmerzlich – darüber haben wir damals in der KiKo auch mit Fachleuten, Sachverständigen diskutiert –: Es gibt zu oft Entscheidungen, die die am meisten Betroffenen, nämlich die Kinder und Jugendlichen, nicht akzeptieren können, weil sie ihnen nicht oder nicht genügend erklärt, nicht nachvollziehbar begründet werden und weil man ihnen oft auch gar nicht zuhört. Die Kinderkommission hat gefolgert: Richter und andere Verfahrensbeteiligte müssen vor Antritt ihres Amtes als Familienrichter, Gutachter oder Sachverständige wichtige Zusatzqualifikationen besitzen. Die Richter müssen Gutachten und Äußerungen der Verfahrensbeistände wie auch der Erwachsenen und Kinder bewerten können. Sie müssen mit Familien, in denen die Konstellationen heute komplizierter sind, in schwierigen Lagen umgehen können. Ein ungutes Omen dabei ist übrigens, dass nun auch Bayern die Anforderungen im Familienrecht für das Staatsexamen zurückfahren will. Ich meine: Das ist nicht unbedingt der richtige Weg; denn Kinder und Familien brauchen gut qualifizierte Richter mit mehr Berufserfahrung. ({2}) Im Ziel sind wir uns also gar nicht so uneinig; es geht um den Weg. Ich will auch darauf hinweisen, dass einige Fortschritte zu verzeichnen sind. Es wurde in der Anhörung zuletzt gesagt, die Richter nähmen deutlich mehr Fortbildungen zu Kindschaftssachen und zu Fragen der Kindeswohlgefährdung in Anspruch. Auch hat eine Arbeitsgruppe des Familiengerichtstags im letzten August die Mindestanforderungen an Sachverständigengutachten im Kindschaftsrecht angehoben. Also: Es geschehen Dinge, und das ist gut. Vor allem aber gibt es Bewegung zwischen Bund und Ländern. So hat – es ist angesprochen worden – die Bundesregierung im Pakt für den Rechtsstaat mit den Ländern mehr Qualitätssicherung in der Rechtspflege vereinbart. Zur Umsetzung soll Mitte des kommenden Jahres berichtet werden. Ich erwarte mir davon weitere Fortschritte, wenn es darum geht, entsprechend der Vereinbarung im Koalitionsvertrag verbindliche Regelungen für Richterfortbildungen mit den Ländern anzustreben. ({3}) Die Länder könnten den Beispielen Nordrhein-Westfalen, zuletzt Hamburg oder auch Baden-Württemberg folgen und eine Fortbildungspflicht etablieren, die auch materiell abgesichert ist. Der Bund sollte auch Anhörungen von jüngeren Kindern einschließlich Dokumentation verpflichtend machen, was auch Anforderungen an die Räumlichkeiten stellt, für die ja wiederum die Länder zuständig sind. Zweitens und letztens. Erwartungen haben wir auch an das Familienministerium bei der Berücksichtigung problematischer Kinderschutzverläufe in der Reform des Jugendhilferechts. Auch hier geht es um Rechte der Kinder und um Personalqualifikation. Ihre Forderung nach Ombudsstellen halte ich für berechtigt. Zusammenfassend. Wir stimmen im Ziel der Erreichung höchster Qualität im familiengerichtlichen Verfahren überein und haben entsprechende Erwartungen an die Bundesregierung und die Länder, in denen Sie, liebe Grüne, ja auch vielfach mitregieren und mitgestalten können. Es muss mehr geschehen, aber das geht nur zusammen. Deshalb können wir als Familienpolitiker –

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Wiesmann.

Bettina Margarethe Wiesmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004934, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

– Ihrem auch in dieser Hinsicht ungeduldigen Antrag heute nicht zustimmen. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache.

Armin Paulus Hampel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004735, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! „Es begann mit einer Lüge“ war der Titel einer Dokumentation über den völkerrechtswidrigen Einsatz deutscher Streitkräfte in Ex-Jugoslawien. Es begann mit einer Lüge bezüglich eines der an sich größten Skandale dieser Tage in unserem Lande, nämlich dass ein Oberregierungsrat, ein stellvertretender Referatsleiter im Innenministerium, nichts anderes als seine Pflicht getan hat, indem er einen über 80-seitigen Bericht erstellt hat, der es in sich hat. Er hat diesen Bericht sämtlichen Abteilungen, seinen Vorgesetzten und seinem zuständigen Minister zugesandt. Die Lüge lag darin, dass das Ministerium sofort antwortete, er hätte das an die Presse durchgestochen. Meine Damen und Herren, das hat der Mann nicht. Es war ein anständiger Beamter, wie man ihn selten nur noch trifft. ({0}) – Ihnen wird das Lachen noch vergehen. Anständig, wie man ihn selten nur noch trifft, ({1}) weil er nämlich für diejenigen in den Ministerien noch steht, die sich als Staatsdiener und nicht als Parteidiener verstehen. Und das nimmt zunehmend zu in allen unseren Häusern. ({2}) Es nimmt zu, weil Sie von den etablierten Parteien über Jahre hinweg genau diese Mentalität in den Häusern erzeugt haben: kuscheln statt widersprechen, der Partei dienen, statt dem Staat dienen. ({3}) Das ist der Ausfluss dieser Krise, die der Oberregierungsrat Kohn hervorragend in 80 Seiten zusammengeschrieben hat. Ich zitiere aus seinem Schreiben an seinen Minister, auf den er sich verlassen hat, dessen Wort er ernst genommen hat, als er bei seiner Antrittsrede sagte, er wolle ihre eigene Meinung – die der Beschäftigten –, das sei gewollt, ihre Erfahrungen für seine Entscheidungen. Er bat nicht nur um die eigene Meinung, er bat sogar um Widerspruch, und er versicherte, das hätte keine negativen Konsequenzen für denjenigen, der so etwas tut. – Der Herr ist inzwischen subito beurlaubt worden. Eine weitere Karriere im Innenministerium wird es für ihn mit Sicherheit nicht geben. Dabei, meine Damen und Herren, birgt diese Studie eine ungeheure Sprengkraft. ({4}) Das hat er nicht alleine in seinem Kämmerchen geschrieben, sondern er hat sämtliche Abteilungen seines Hauses, die mit „KM“, also Krisenmanagement, zu tun haben, eingebunden. Er hat sich Expertise geholt. ({5}) Und er kommt zu dem für Sie natürlich erschreckenden Resultat, dass das, was der Innenminister, was der Gesundheitsminister und was die Bundeskanzlerin seit Wochen dem deutschen Volke vorerzählen und vorlügen, ein Fehlalarm gewesen ist. ({6}) Und er warnt vor den Konsequenzen einer Desinformation der Bevölkerung. ({7}) Die Bundesregierung produziert Fake News. ({8}) Was kann es für eine Bundesregierung Schlimmeres geben, als von den eigenen Mitarbeitern aus dem eigenen Hause einen solchen ungeheuren Vorwurf zu erhalten? ({9}) Es heißt da: Durch vermeintliche Schutzmaßnahmen – hören Sie gut zu, Herr Kollege – entstehen im Moment jeden Tag weitere schwere Schäden, ({10}) materielle und gesundheitliche bis hin zu einer großen Zahl von vermeidbaren Todesfällen. – Wollen Sie immer noch widersprechen? ({11}) Diese Todesfälle werden durch das Agieren des Krisenmanagements, also durch den Bundesinnenminister, ({12}) ausgelöst und sind von diesem zu verantworten. Eine größere Bankrotterklärung hat es aus dem Hause eines deutschen Ministeriums in dieser Republik noch nicht gegeben, meine Damen und Herren. ({13}) 80 Seiten – lesen Sie sie sich durch –, ({14}) 100 Seiten Quellenangaben. Jeder einzelne Stab hat es lesen können und hat dem Inhalt nicht ein einziges Mal, Herr Kollege, widersprochen. Es gibt keinen Widerspruch aus dem Hause. ({15}) Es wird nur dargestellt, er hätte den Dienstweg nicht eingehalten. Das ist alles, was Ihnen dazu einfällt. Umso erschütternder: Die Medien sekundieren das auch noch, weil sie Ihnen im Mainstream verbunden sind. Wissen Sie was, Frau Kollegin? Ich kann Ihnen eines sagen: Ich war Chef vom Dienst im ARD-Hauptstadtstudio. ({16}) Ich hätte daraus aber sofort einen „Brennpunkt“ gemacht und mehrere Sendungen zum Thema. ({17}) Nun war es eine Nebenmeldung in der „Tagesschau“; das war es. ({18}) Das ist heute Journalismus in diesem Lande, den Sie mit zu verantworten haben. So ist es! „Kuscheljournalismus“ nennt man so was. ({19}) Und diesen Beamten, meine Damen und Herren, hat der Bundesinnenminister in die Wüste geschickt. Ich kann nur sagen: weil er es auf Dienstpapier geschrieben hat. – Ja, hätte er es auf dem Blümchenpapier seines Poesiealbums schreiben sollen? ({20}) Der Mann kommt aus diesem Amt, und da verwendet man Dienstpapier. ({21}) Der Skandal ist so ungeheuer, und wir werden Sie da nicht rauslassen. Wir werden jeden einzelnen Punkt überprüfen und Ihnen vorwerfen. ({22}) Und wenn ein Mensch wie Herr Seehofer nur einen Funken Anstand in sich hat, dann wäre der sofortige Rücktritt nach so einer Studie alles, was man von ihm erwarten kann. ({23}) Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren. ({24})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Thorsten Frei das Wort. ({0})

Thorsten Frei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004276, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist ein Skandal, was von der AfD in dieser Aktuellen Stunde skandalisiert wird. ({0}) Denn der Sachverhalt, um den es geht, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist relativ schnell beschrieben. ({1}) – Herr Hampel, hören Sie doch jetzt erst mal zu. ({2}) Es ist relativ schnell beschrieben, worum es geht: Jeder bei uns in Deutschland darf seine Meinung frei sagen. ({3}) Auch jeder Mitarbeiter der öffentlichen Verwaltung, auch der Regierung darf seine Meinung frei sagen, solange sie auf der Grundlage der freiheitlich-demokratischen Grundordnung ist. ({4}) Was nicht geht, Herr Kollege Hampel, ist, dass jemand, der Mitarbeiter in einem Ministerium ist, in einem Bereich, für den er überhaupt nicht zuständig ist, ({5}) auf offiziellem Briefpapier, die offiziellen Kommunikationskanäle nutzend, den Eindruck erweckt, ({6}) das wäre eine konsolidierte Stellungnahme eines Ministeriums oder gar der Bundesregierung. Das geht nicht! ({7}) Deswegen ist es richtig, dass das Bundesinnenministerium sehr schnell und sehr konsequent gehandelt hat, daraus die Konsequenzen gezogen hat und deutlich gemacht hat, wofür dieses Ministerium und wofür diese Bundesregierung steht. Das war richtig, und darauf setzen die Menschen in unserem Land. Nicht darauf, dass Fake News in die Welt gesetzt werden, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({8}) Dass Sie dann hingehen – das ist die eigentliche Kritik an der AfD – und jemanden, der die Bundesregierung als Fake-News-Fabrik bezeichnet, mal geschwind zum Whistleblower adeln, geht nun wirklich überhaupt gar nicht. ({9}) Denn Sie wissen ganz genau, dass derjenige, um den es geht, nicht Teil des Krisenstabes der Bundesregierung ist, dass er noch nicht einmal in einem Referat arbeitet, ({10}) das für die Coronabekämpfung zuständig ist, dass er aufgrund seiner Ausbildung und aufgrund seiner Tätigkeit ({11}) über keinerlei Insidererkenntnisse oder sonstige Qualifikationen verfügt. ({12}) Sie nennen das „Dossier“ oder „Studie“. Auf welcher Grundlage denn? Herr Hampel, wenn Sie 190 Seiten zur Bekämpfung der Coronapandemie ({13}) zusammenschreiben würden, glauben Sie, ich würde diese 190 Seiten lesen? ({14}) Nein, ganz sicher nicht. ({15}) Dafür nehmen wir lieber Leute, die dafür ausgebildet sind, die das können und die damit beauftragt sind, solche Aufgaben zu erledigen. Darum geht es. ({16}) Die Wahrheit ist doch relativ übersichtlich. Wenn die Umfragewerte zurückgehen, dann klammert man sich an genau solche Strohhalme. Das geht letztlich nicht. ({17}) – Ich kann Ihnen schon auch etwas zum Inhalt sagen; das ist überhaupt kein Problem. – Man sieht doch wirklich, dass Sie solche Proteste kapern für Ihr parteipolitisches Süppchen. ({18}) Dem braucht man nicht auf den Leim gehen; das wäre wirklich der Ehre zu viel. ({19}) Im Grunde genommen ist das doch das Gleiche, wenn Sie beispielsweise die aktuellen Demonstrationen gegen die Coronaeinschränkungen für Ihre Belange instrumentalisieren. ({20}) Da geht es im Grund um genau das Gleiche. Auch demonstrieren kann selbstverständlich jeder. Aber wenn man das so tut, dass man Infektionsschutzbestimmungen umgeht, dass man Abstandsgebote nicht einhält, dann ist es genau das: Man setzt eben nicht auf Eigenverantwortung und Freiheit, sondern bringt andere damit in Gefahr. ({21}) Herr Hampel, im Grunde genommen ist es doch so, wie wenn man einem Ochsen ins Horn pfetzt: Es nützt einfach nichts. Schauen Sie sich doch einmal die Bilanz in Deutschland an, schauen Sie sich einmal die Bilanz in anderen Ländern an. Man muss sagen: Wir sind bislang besser durch diese Krise gekommen als andere. ({22}) 80 Prozent der Menschen in Deutschland sehen das genauso. Dann müssten Sie doch eigentlich einmal darüber nachdenken, woran das liegen könnte. Jedenfalls nicht an dem, was Sie insinuieren. Bei allem Respekt vor Ihrer beruflichen Leistung: Es wird eben doch deutlich, dass Sie ganz offensichtlich nie eine Behörde oder ein Unternehmen geführt haben. Wo kämen wir hin, wenn dort jeder einfach das machen würde, worauf er gerade Lust hat, anstatt das, wofür er bezahlt wird? Das geht doch nicht! ({23}) Eines ist ganz klar: Bei allem Recht auf Meinungsfreiheit, bei allem Recht auf Demonstrationsfreiheit muss man schon darauf achten, dass man nicht Verschwörungstheorien produziert. ({24}) – Nein, das machen Sie. Das war eine einzige Verschwörungstheorie, die Sie hier entsponnen haben, lieber Herr Hampel, Ihnen überhaupt nicht würdig und auch diesem Hause nicht würdig. ({25}) Letztlich geht es darum, dass wir ordentlich arbeiten. Was Sie machen, ist plump; ({26}) das hat mit ernsthafter und seriöser Politik nichts zu tun. Das ist allerdings auch offensichtlich. Vielen Dank. ({27})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Abgeordnete Christine Aschenberg-Dugnus für die FDP-Fraktion. ({0})

Christine Aschenberg-Dugnus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004003, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Rechtsanwältin bin ich gewohnt, Fakten zu beurteilen. Es wäre doch schön, wenn wir jetzt in medias res gehen und einfach einmal die Fakten auf den Tisch legen, anstatt uns hier gegenseitig anzubrüllen. ({0}) Zum Sachverhalt. Ein Mitarbeiter des BMI hat einen Bericht geschrieben, ({1}) und in seiner Analyse werden Maßnahmen als überzogen dargestellt. Ein Mitarbeiter kann privat tun und lassen, was er will, ({2}) aber – jetzt kommt es – seinen Text als ein Schriftstück des BMI auszugeben, ohne eine diesbezügliche Anweisung erhalten zu haben, ist schlichtweg ein Dienstvergehen. Da können Sie sagen, was Sie wollen. ({3}) Deswegen war es ein ganz logischer Schritt, ihn von seinen Pflichten zu entbinden. ({4}) Das ist ganz normal. Da ist nichts Verschwörungstheoretisches dabei. ({5}) Weiter im Sachverhalt. Der Autor, Herr Kohn, bezieht sich in seinem Schriftstück auf vermeintlich hochrangige Wissenschaftler. ({6}) Schauen wir mal, was wir davon halten. Komisch ist, dass sich Institute wie etwa die Leopoldina jetzt ganz explizit von diesen angeblichen Experten distanzieren und sogar angeben, dass sie zu keiner Zeit Mitglied der Arbeitsgruppe gewesen sind; also – ganz konkret – hat der hier genannte Experte Schirmacher nicht an der Stellungnahme der Leopoldina zur Coronapandemie mitgearbeitet. Er zählt somit auch nicht zu den Beratern der Bundesregierung in der Krise, wie es oftmals behauptet wird. Das stimmt also alles nicht. Neben den Wissenschaftlern bezieht sich der Autor in seinem Text ausschließlich auf öffentlich zugängliche Quellen, also zum Beispiel wissenschaftliche Publikationen, Artikel etablierter Medien, aber auch YouTube-Interviews von Vertretern der sogenannten alternativen Medien. Häufig ist auch völlig unklar – ich habe das Ganze zumindest bis Seite 80 gelesen; dann war mir so schlecht, dass es nicht weiterging –, ({7}) auf welche Quellen er sich bezieht; er benennt sie überhaupt nicht. Da muss ich Ihnen wirklich sagen: Von einem Mitarbeiter des BMI hätte ich, ehrlich gesagt, mehr erwartet: dass er zumindest weiß, wie man wissenschaftliche Literatur zitiert und kennzeichnet. ({8}) Die fehlenden Zitate und nicht belegten Formulierungen verdeutlichen doch ganz klar, dass es sich eben nicht um eine glaubhafte, wissenschaftlich fundierte Analyse handelt, sondern … ({9}) Ich sage jetzt nicht, was ich darüber denke; Sie können es sich denken: Es ist einfach Quatsch. ({10}) Des Weiteren spricht der besagte Herr von einem „Fehlalarm“. Schauen wir – ich bin Gesundheitspolitikerin – doch einmal in unsere Nachbarländer. Wenn wir uns die Zustände in Spanien und Italien ({11}) vor Augen halten, ist es gerade zu beschämend, finde ich, hier von einem „Fehlalarm“ zu reden. ({12}) Das ist doch unglaublich! „Fehlalarm“ heißt: Da war nichts. – Das ist doch völlig absurd. ({13}) Das sagt doch schon alles darüber, wes Geistes Kind dieser Mensch ist. ({14}) Machen wir weiter. Meine Damen und Herren, was ich auch überaus peinlich finde – das wurde eben schon angesprochen –, ist, dass dieser Herr Kohn als „Whistleblower“ bezeichnet wird. Also, ein Whistleblower ist eine Person, die für die Allgemeinheit wichtige Informationen aus einem geheimen geschützten Zusammenhang in die Öffentlichkeit bringt. ({15}) Stephan Kohn hat aber kein Fehlverhalten des BMI bzw. der Bundesregierung aufgedeckt; ({16}) vielmehr hat er, basierend auf seinen eigenen Ideen, ein neues Narrativ erstellt – nicht mehr und nicht weniger. Damit seine Meinung Gehör findet, hat er sich ungerechtfertigterweise am Briefkopf des Ministeriums bedient. ({17}) Kurzum: Für mich ist er kein Whistleblower, sondern einfach ein durchgeknallter Typ, ({18}) der die Öffentlichkeit sucht und der – das muss ich den Kolleginnen und Kollegen der SPD leider sagen – das nächste Mal, wenn er wieder versucht, für den SPD-Vorsitz zu kandidieren, eine größere Öffentlichkeit haben will. Das ist wahrscheinlich der Hintergrund dieser ganzen Aktion. ({19}) Jetzt kommt noch ein kleiner Hinweis, eine kleine Spitze. Sie tun mir im Moment ein bisschen leid: auf der einen Seite der Herr Kohn, der von Fehlalarm spricht, und auf der andere Seite der gute Karl Lauterbach, der von Talkshow zu Talkshow tingelt und mit seiner Aussage, man müsse möglicherweise mit 50 000 Toten rechnen, die Menschen leider auch zu sehr erschreckt. Also, weder die eine Seite noch die andere Seite ist gut. Für mich ist beides Unsinn. Das muss ich hier einmal ganz klar sagen. Meine Damen und Herren, in der Krise kann man anderer Meinung sein. Man muss in einer Demokratie auch kontrovers diskutieren; aber man muss immer sachlich bleiben. Auch wir sehen das zweite Gesetz zum Bevölkerungsschutz, das wir gestern nicht mit verabschiedet haben, kritisch. Unsere Gründe basieren nicht auf irgendwelchen Verschwörungstheorien; vielmehr haben wir frühzeitig darauf hingewiesen, dass es auch gesundheitliche und wirtschaftliche Schäden jenseits von Covid-19 gibt, auch darauf, dass grundrechtseinschränkende Maßnahmen geeignet, erforderlich und verhältnismäßig sein müssen; denn ansonsten sind sie verfassungswidrig. Meine Damen und Herren, wir haben Covid-19 deswegen so gut gehändelt, weil wir ein gutes Gesundheitssystem haben, genug Krankenhausbetten, genug Beatmungsplätze, genug Testlabore. ({20}) Aber vor allem ist das Händeln unserer Krise ein Verdienst unserer Ärztinnen und Ärzte, die ambulant und stationär arbeiten, der Pflegekräfte und des gesamten Gesundheitspersonals, und ihnen danke ich hiermit ganz herzlich. Vielen Dank. ({21})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Sabine Dittmar für die SPD-Fraktion. ({0})

Sabine Dittmar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004261, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Ausführungen der AfD beweisen erneut, wie gut es für unser Land ist, dass die AfD keinerlei Verantwortung hat. ({0}) Denn im Gegensatz zu Ihnen ist das Handeln der Bundesregierung in der Coronapandemie von medizinethischen Werten geleitet. Es geht hier nicht um Polemik. Es geht um die Gesundheit, das Wohlergehen und die Fürsorge für die Menschen in unserem Land. Auch das Bundesverfassungsgericht hat in dieser Woche erneut klargestellt, dass der Staat nicht nur die Aufgabe, sondern sogar die Pflicht hat, sich schützend und fördernd vor das Leben des Einzelnen zu stellen. Es ist seine Aufgabe, Schutz zu bieten vor Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit und der Gesundheit. Mich überrascht es nicht, dass diese grundlegenden Werte in der AfD-Fraktion keine große Rolle spielen. Meine sehr verehrten Damen und Herren der AfD, Sie fordern in Ihrem Antrag, dass wir über Fakten aufklären und diese ernst nehmen. ({1}) Dann lassen Sie uns das tun, und hören Sie gut zu! Fakt ist, dass wir es mit einem hochinfektiösen Virus zu tun haben, das sich in kürzester Zeit weltweit verbreitet hat und zwischenzeitlich 4 Millionen Menschen infiziert hat. Fakt ist, dass wir das Virus bisher nicht kannten und von Tag zu Tag und Woche zu Woche Neues hinzulernen. Fakt ist, dass es keine Schutzimpfung gibt. Fakt ist, dass die Infektion bislang nicht behandelbar ist und im schlimmsten Fall zu einem qualvollen Tod durch Lungenversagen führt. Fakt ist, dass zwischenzeitlich über eine Viertelmillion Menschen weltweit daran verstorben sind, und das ist kein Fehlalarm, das ist bittere Realität. ({2}) Fakt ist, dass wir es durch frühzeitige und wissenschaftlich fundierte Entscheidungen geschafft haben, die Verbreitung des Virus zu verlangsamen. Unser Gesundheitssystem wurde nicht überfordert. Wir haben es geschafft, die Dynamik aus dem Infektionsgeschehen zu nehmen. Wohin das Gegenteil führt, sehen wir in den USA oder in Großbritannien. Es war deshalb richtig, die Intensiv- und Beatmungskapazitäten auszubauen und planbare Eingriffe zu verschieben. Eine dramatische Notlage wie in Italien, wo Intensivstationen komplett überlastet waren, wo es zu wenig Intensivbetten und Beatmungsgeräte gab, wo medizinisches und pflegerisches Personal über den Rand der Erschöpfung hinausgehen musste, wo wir eine hohe Sterberate zu verzeichnen haben, all das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist uns erspart geblieben. ({3}) Im Gegenteil: Deutschland konnte hier sogar noch helfen. Fakt ist, dass in Deutschland kein Arzt und keine Ärztin die Entscheidung treffen musste, welcher Patient eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit hat und somit beatmet wird und wer aus Mangel an Beatmungskapazitäten dem Tod geweiht ist. Natürlich können wir nicht wissen, wie sich die Dinge in Deutschland entwickelt hätten, wenn Entscheidungen nicht oder anders getroffen worden wären; aber Fakt ist auch, dass unser Krisenmanagement international hohe Anerkennung erfährt. ({4}) Natürlich beunruhigen mich, als Ärztin, die Meldungen über mögliche Schäden und Todesfolgen aufgrund von verschobenen planbaren Eingriffen. Die Datenlage ist noch nicht sehr valide, ({5}) aber wir behalten sie natürlich im Blick und nehmen diese ernst. Der klare Appell an die Patientinnen und Patienten ist: Wenn Sie Beschwerden haben, wenn Sie Fragen haben, konsultieren Sie Ihren Arzt oder Ihre Ärztin! Trotz Corona ist man in unseren Praxen und Krankenhäusern gut aufgehoben. ({6}) Meine Damen und Herren, im Verlauf der Pandemie wurden die notwendigen Schritte und Maßnahmen sehr sorgfältig abgewogen, die Beschlüsse zwischen Bund und Ländern abgestimmt, und die breite Mehrheit der Bevölkerung trägt diese Herangehensweise auch mit. Fakt ist aber auch, dass wir aus der Pandemie viel lernen. Selbstverständlich werden wir uns mit der Frage befassen, wie wir uns für künftige pandemische Ereignisse an der einen oder anderen Stelle besser wappnen können. Aber Corona als Fehlalarm zu bezeichnen, ist in Anbetracht der teils verheerenden Auswirkungen vollkommen unangemessen, ({7}) und es ist eine Schande in Anbetracht der persönlichen Tragödien, die sich hinter den nackten statistischen Zahlen verbergen. ({8}) Wenn wir das Infektionsgeschehen derzeit gut im Griff haben, so ist das keineswegs ein Zeichen dafür, dass es ein Fehlalarm war. Im Gegenteil: Wir verdanken es einzig und allein den konsequenten Schutzmaßnahmen und der Disziplin der Bürgerinnen und Bürger. Dafür ein herzliches Dankeschön. ({9}) Gleichzeitig mein Appell: Bleiben Sie weiter achtsam! Halten Sie die Abstands- und Hygieneregeln ein. Es liegt in unser aller Verantwortung, das Erreichte zu bewahren. Die Fraktion der AfD fordere ich auf, die Faktenlage endlich anzuerkennen. ({10}) Hören Sie auf, krude Fehlinformationen und Verschwörungstheorien zu verbreiten! Hören Sie auf, Ängste und Unsicherheit zu schüren! Hören Sie auf, die Bevölkerung mit ihrem blanken Populismus für dumm zu verkaufen! ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Doris Achelwilm für der Fraktion die Linke. ({0})

Doris Achelwilm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004651, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die AfD ist ja seit Beginn der Coronakrise im Umfragetief und entsprechend ratlos auf der Suche ({0}) nach ihrer Rolle in dieser Zeit. ({1}) Weil sie inhaltlich nichts anzubieten hat, vertritt sie heute dies und morgen jenes und lotet aus, welche Stimmungen und Resonanzräume am AfD-dienlichsten sind. Am Anfang der Pandemiebekämpfung gingen Ihnen die Schutzmaßnahmen nicht weit genug. Herr Hess forderte mehr effektives Handeln gegen die Virusausbreitung. Herr Gauland kritisierte, wie alle, den Mangel an Masken und Einweghandschuhen. ({2}) Doch weil das die Aufmerksamkeit nicht auf die AfD oder für sie nützliche Welterklärungen lenkte, muss es nun wieder das Abwegige mit dem hohen Spaltungspotenzial sein: eine Aktuelle Stunde zu einem vermeintlichen Whistleblower-Papier, das in rechten Kreisen als Beweis für eine Coronaverschwörung der Bundesregierung herumgereicht wird. ({3}) Dabei ist die ganze Story schon ausreichend aufgedeckt und geht in etwa so: Im Bundesministerium des Innern gibt es einen eifrigen Oberregierungsrat, der mal Höheres, nämlich ein großer SPD-Parteivorsitzender, werden wollte. Doch daraus wurde nichts. ({4}) Es hat sich dann so ergeben, dass er mit seinem Geltungswillen sich hinsetzte und 80 Seiten voller Coronaleugnereien niederschrieb wie die, die Pandemie sei ein Fehlalarm, oder sie basiere auf Fake News. Er hat keine internen Papiere des Bundesinnenministeriums herausgegeben, sondern seine Privattheorien in Briefvorlage des BMI gesetzt, damit sie nach etwas aussehen, was mehr als ein Kettenbrief ist. ({5}) Er hat nichts durchgestochen, der Aufsatz ist kein Leak, er beruht nicht auf internen Quellen. Deshalb geht es hier auch nicht um einen Whistleblower, der vor Repressalien geschützt werden muss, sondern ganz offenbar um einen Wichtigtuer, der jetzt bei vollen Bezügen spazieren geht. ({6}) Dieser Referent wird nun auf sogenannten Hygienedemos gefeiert, die samstags teils sehr gedrängt und unter plakativer Mundschutzverweigerung auf Plätzen und Straßen stattfinden. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich kann jeden Menschen verstehen, der gerade unter Existenzangst oder Extremsituationen zu Hause leidet und sich wünscht, dass diese schwer zu fassende Situation bald vorbei ist. Aber ich habe kein Verständnis, dafür über alle Erkenntnisse und Warnungen hinwegzugehen, an Verschwörungstheorien zu stricken, auf Demos aggressiv gegen Schutzmaßnahmen, Presse und Gebote der Solidarität vorzugehen und sich als alleinige Verteidiger des Grundgesetzes zu inszenieren, während man gerade nicht nur die eigene Gesundheit, sondern auch die von anderen bedenkenlos gefährdet. ({8}) Der AfD gefällt das ganz offenbar. Sie hat selbst keinerlei Strategie ({9}) und keine Perspektive für den Schutz der Menschen, die am meisten unter der Krise leiden. Es interessiert sie offenbar auch nicht. Stattdessen wird der Aluhut aufgesetzt und wahlweise behauptet, die globale Pandemie sei nur eine Grippe oder ein finsterer Plan verschwörerischer Mächte. ({10}) Statt sich Gedanken um die Menschen zu machen, die in dieser Krise am verwundbarsten sind, sei es gesundheitlich oder sozial, erklärt die AfD sich und gefährliche irrationale Coronaleugner zum Opfer der Meinungsfreiheit. Aber das sind Sie genauso wenig, wie unser Papierschreiber ein Held der Aufklärung ist. ({11}) Ich komme zum Schluss. Diese Zeit verlangt allen Menschen viel ab. Tatsächlich ist eine Aktuelle Stunde wie die von Ihnen verlangte eine Missachtung dieser Situation, die hier strikt zurückgewiesen gehört. Wir haben genug reale Probleme. Die drängendsten Aufgaben sind: Die Pflegekräfte, die mit Dank bedacht werden, müssen tatsächlich dauerhaft mehr Lohn bekommen. ({12}) Die Krankenhäuser und Heime müssen bedarfsgerecht Personal erhalten. Die Kosten der Krise dürfen nicht nach unten durchgereicht werden. Es braucht endlich gerechte Steuermodelle und Vermögensabgaben. ({13}) Die Weltgesundheitsorganisation sollte nicht von reichen Spendern abhängen, sondern öffentlich finanziert werden. ({14}) Es gibt auf Grundlage klar erkennbarer Handlungsbedarfe und Versäumnisse genug zu tun und auch zu kontrollieren und zu kritisieren. ({15}) Was es nicht braucht, ist, sich irgendwelchen Unsinn auszudenken, der von den zentralen Fragen nur ablenkt, wie Sie von der AfD es allein zum Selbsterhalt tun. Vielen Dank. ({16})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Manuela Rottmann für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Manuela Rottmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004866, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist weniger als fünf Monate her, dass das SARS-CoV-2-Virus erstmals beim Menschen nachgewiesen wurde. Es trifft auf eine Weltbevölkerung ohne Grundimmunisierung. Auf absehbare Zeit wird kein Impfstoff zur Verfügung stehen. Wir beobachten schwere Krankheitsverläufe. Und wir lernen erst jetzt, dass auch andere Organe als die Lunge betroffen sein können und dass wir auch mit schweren Folgeschäden zu rechnen haben. Sicher ist in einer Situation wie dieser nur eines: Wir wissen immer noch nur einen Bruchteil dessen, was wir wissen müssten, um alles richtig zu machen. Vertrauen verdienen in einer solchen Situation gerade nicht diejenigen, die sicheres Wissen vorgaukeln, sondern diejenigen, die versuchen, Lücken zu schließen, aber die Unsicherheit auch offenlegen und ihre Empfehlungen und Entscheidungen danach ausrichten. ({0}) Das hat aber in der schlichten Welt der AfD keinen Platz. Wer schon in normalen Zeiten seine eigene Weltsicht für den Volkswillen hält und damit verwechselt, der ist jetzt erst recht überfordert. Die AfD braucht es einfach. ({1}) Sie muss daher scheitern; denn die Welt ist nicht einfach, und im Ernstfall erweist sich die AfD als Ausfall. ({2}) Auf diese Überforderung reagiert sie immer mit derselben Methode: Es wird ein Pseudoskandal gebastelt und zur Aktuellen Stunde aufgeblasen. Es wird allmählich wirklich langweilig. Nach der EU-Hinweisgeberrichtlinie sind diejenigen vor Sanktionen zu schützen, die Rechtsverstöße und Rechtsmissbräuche melden, die der Öffentlichkeit sonst nicht bekannt würden. Worüber reden wir hier? Über den Text eines nicht zuständigen Beamten von der Qualität einer gutgemeinten Schülerarbeit auf dem Niveau der zehnten Klasse. ({3}) Es geht in weiten Teilen um Selbstverständlichkeiten, Entscheidungsabwägungen, die in der Öffentlichkeit längst diskutiert werden. ({4}) Es geht um ein Sammelsurium willkürlich zusammengestellter bekannter Einzelansichten über die möglichen Auswirkungen des Virus. ({5}) Das Resümee: Der Verfasser ist der Ansicht, die Mittel zur Eindämmung des Virus richteten mehr Schaden an als das Virus selbst. Was ist das? Ein Faktum? Ist es der Hinweis auf einen unentdeckten Rechtsverstoß oder Rechtsmissbrauch? Nein. Es ist nicht mehr als die private Einschätzung eines unzuständigen Beamten. ({6}) Diese Einschätzung ist ihm unbenommen. Wir sind ein freies Land. Problematisch ist daran alleine, ({7}) dass der Verfasser sich offenbar für den besseren Bundesinnenminister hält und deshalb beim Vertrieb seines Erzeugnisses den Anschein einer offiziellen Stellungnahme aus dem Ministerium erweckt. Nur diese Täuschung hat diesem wenig lesenswerten Elaborat überhaupt Aufmerksamkeit verschafft. Ich teile die Einschätzung, dass Horst Seehofer sich nicht als Idealbesetzung im Bundesinnenministerium erweist. Aber in einer parlamentarischen Demokratie bestimmt die aus einer freien Wahl hervorgegangene parlamentarische Mehrheit, wer Bundesinnenminister wird und für das Ministerium abwägt, entscheidet und spricht; und das ist eben nicht jeder, der Zugriff auf das Briefpapier des Ministeriums hat. ({8}) Wenn das Bundesinnenministerium also jemandem, der diese Grundsätze der parlamentarischen Demokratie und des Berufsbeamtentums nicht versteht, den Schlüssel zum Briefpapier wegnimmt, dann ist das die gebotene Konsequenz. Mit Whistleblowing haben das Papier und die Reaktion darauf nicht das Geringste zu tun. ({9}) Der Herr aus dem Bundesinnenministerium ist so wenig ein Whistleblower wie Experten, die Sie oft anführen, Lungenfachärzte sind. Da ist kein großer Unterschied. Den Schutz von Menschen, die tatsächlich Rechtsverstöße aufdecken, lehnen Sie ab. Solche Menschen nennen Sie Denunzianten. Diese Menschen aber brauchen Schutz. ({10}) Wir müssen Schluss damit machen, dass Unternehmen und Organisationen auf die Einschüchterung ihrer Mitarbeiter setzen, um illegal wirtschaften zu können. Aus der Debatte um diese Frage haben Sie sich längst verabschiedet. Whistleblowing wird bei Ihnen interessant, wenn Ihr Senf geadelt werden soll. ({11}) Ihre Methode der frei erfundenen Pseudoskandale nutzt sich allerdings ab. Die Bürgerinnen und Bürger haben derzeit wirklich andere Sorgen, die Mehrheit dieses Hauses auch. Also bringen wir diese Aktuelle Stunde als Luftnummer einfach hinter uns. Wir brauchen unsere Zeit, unsere Kraft und unsere Aufmerksamkeit für etwas anderes. ({12})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Abgeordnete Alexander Krauß hat nun für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Alexander Krauß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004793, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vor zwei Jahren führte hier die AfD eine Debatte. Dabei ging es Ihnen darum, den um sich greifenden Englischwahn zu geißeln. Jetzt haben Sie selber das Wort „Whistleblower“ in den Mund genommen, sodass man darüber sprechen muss. ({0}) Deswegen ist es doch ganz gut, auch einmal auf die Definition einzugehen. Was ist ein Whistleblower? Eine Person, die eine für die Allgemeinheit wichtige Information aus einem geheimen oder geschützten Zusammenhang an die Öffentlichkeit bringt. Also, was man schon einmal sagen kann, ist, dass überhaupt keine geheimen Informationen irgendwie bekannt geworden sind; sondern was er gemacht hat, war, seriöse und weniger seriöse Quellen irgendwie zusammenzurühren, daraus einen Brei zu machen und den vorzustellen. Aber mit Aufklärung hat das überhaupt nichts zu tun. Jetzt sagen Sie, Sie wollen Fakten aufklären. Herr Hampel, ich hätte mir von Ihnen gewünscht, dass Sie ein bisschen mehr von Sprache verstehen: Man kann einen Sachverhalt aufklären; Fakten kann man benennen. Sie wollen einen Sachverhalt aufklären. Ich finde, es gibt wirklich Sachverhalte aufzuklären, wenn es darum geht, die Verschwörungstheorien der AfD einmal zu betrachten. Da gibt es einen Kollegen bei Ihnen, Hansjörg Müller; ich zitiere ihn: 88 Prozent der Corona-Toten, die aus Italien gemeldet sind, sind keine Corona-Toten. Da werden andere Tote untergeschoben, um die Statistik nach oben zu jubeln. Oder ich lese Ihnen jetzt vor, was der AfD-Kreisverband Leipziger Land gepostet hat: Politik, Medien, Pharma, NGOs – wieder so ein Anglizismus; können Sie den einmal weitersagen? –: Corona wurde geplant! – Eine klassische Verschwörungstheorie. Da können wir nur sagen: Klären Sie auf! Klären Sie einmal in der eigenen Welt auf, und hören Sie auf, so herumzuschwadronieren! ({1}) Was Sie in der letzten Woche auch schön verbreitet haben, war das Gerücht, dass es eine Impfpflicht geben soll – auch absoluter Blödsinn. Absoluter Blödsinn! Es gibt noch nicht einmal einen Impfstoff; da kann es keine Impfpflicht geben. ({2}) Außerdem ist die vollkommen unnötig, weil die Leute ohnehin freiwillig bereit sind, sich impfen zu lassen. Aber kommen wir jetzt zum eigentlichen Kern der Debatte. Warum waren die getroffenen Maßnahmen richtig? Sie haben ja als AfD zuerst gesagt: „Es wird viel zu wenig gemacht“, und jetzt sagen Sie: „Es wird viel zu viel gemacht.“ Das passt nicht zusammen. ({3}) Aber ich glaube, wir haben das richtige Maß getroffen; denn wir wollten italienische Verhältnisse vermeiden. Wir wollten vermeiden, dass ein Arzt darüber entscheiden muss: Bekommt ein Mensch die Chance, durch Beatmung zu überleben, oder nicht? Das ist uns gelungen. Das kann man auch ganz deutlich sagen. ({4}) Wir haben frühzeitig gehandelt. ({5}) Wir wussten, wer der „Patient Null“ ist, also, wo die Infektionen losgingen; im Gegensatz zu Italien, wo erst eine sechsstellige Zahl von Menschen erkrankt war und man dann erst mitgekriegt hat: Hier gibt es ein Problem. – Wir haben viel getestet. Wir haben fitte Labormediziner; und ja, wir haben im weltweiten Vergleich ein leistungsfähiges Gesundheitswesen mit entsprechend vielen Beatmungsplätzen. Ich finde ja spannend, dass die Debatte darüber, was wir für ein schlechtes und schlimmes Gesundheitswesen haben, in den letzten Wochen vollkommen ermattet ist. Die gibt es gar nicht mehr. Jetzt wird es als selbstverständlich vorausgesetzt, dass wir ein ganz tolles und das beste Gesundheitswesen der Welt haben, ({6}) was man mit denen in irgendwelchen anderen Ländern auf der Welt sozusagen gar nicht mehr vergleichen kann. Nein, aber richtig ist – es ist auch schön, wenn dieser Punkt bei der Debatte jetzt in den letzten zwei Monaten herausgekommen ist –: Wir haben ein sehr leistungsfähiges, gutes Gesundheitswesen, auf das wir stolz sein können und das diese Krise wunderbar gemeistert hat. ({7}) Der zweite Punkt ist, dass gesagt wird: Ja, so was, was in Italien passiert ist, in den USA passiert ist, in Spanien passiert ist, auf der Welt passiert ist, das kann uns in Deutschland nicht passieren. ({8}) Auch das ist falsch. Wir haben mit Heinsberg einen Hotspot gehabt, in dem 15 Prozent der Bevölkerung erkrankt sind, wo es so gewesen ist, dass wir Patienten wegverlegen mussten, und wo wir auch sehen mussten, dass Ärzte dazugekommen sind. Also, auch uns hätte das ganz normal passieren können, wenn das flächendeckend der Fall gewesen wäre. Wir hatten Glück, dass das bei uns nicht der Fall war. ({9}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn wir uns die Maßnahmen einmal anschauen, dann sind wir kein Land, das irgendwo übertreibt. Ich wohne 30 Kilometer von der tschechischen Grenze entfernt. Dort herrscht derzeit der Ausnahmezustand. Um Russland zu zitieren, was ein Lieblingsland von Ihnen ist: ({10}) In Moskau darf man 100 Meter aus der Haustür rausgehen und mit seinem Hund Gassi gehen. Da sind andere Länder wesentlich straffer unterwegs, um dieses Virus einzudämmen. Wir haben es mit Sicherheit mit den Maßnahmen nicht übertrieben. Dann wird noch angeführt: Ja, guckt mal an, es gibt ja so wenig Tote, also kann es ja gar nicht so schlimm gewesen sein. – Ja, Entschuldigung: Das war doch unser Ziel, dass die Leute nicht sterben! Deswegen haben wir uns doch die Mühe gemacht! ({11}) Um das noch zusammenzufassen: Wir haben bei Corona einen komplett neuen, hochinfektiösen Krankheitserreger, der sich binnen sechs Wochen über die ganze Welt ausgebreitet hat; bei dem wir kein Medikament haben, das dagegen anschlägt und uns bekannt ist, und bei dem wir noch keinen Impfstoff haben. Das zeigt, wie gefährlich das ist. Deswegen war es richtig, als wir dieses Neuland betreten haben, ({12}) dass wir vorsichtig und achtsam und richtig agiert haben. Vielen Dank. ({13})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Detlev Spangenberg für die AfD-Fraktion. ({0})

Detlev Spangenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004898, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Das Thema haben Sie offensichtlich nicht begriffen. Ich versuche, es noch einmal zu erläutern. ({0}) Die AfD hat als einzige Fraktion versucht, die Coronaproblematik mit Augenmaß anzugehen. ({1}) – Sehen Sie, ich bin genau richtig. Nun kommt aus dem Hause des BMI eine Analyse, ({2}) ein Bericht, der quasi einen Paukenschlag betreffend die Sichtweise auf das Problem bedeutet. ({3}) Die Unstimmigkeit darüber, verehrter Kollege Frei, wie diese Analyse zusammengekommen ist, ist nicht mein Thema. ({4}) Das ist eine ganz andere Sache. Das ist nicht entscheidend, weil das ein anderer Bereich ist. Das verstehen Sie aber nicht. ({5}) Entscheidend ist, dass neun prominente, anerkannte Wissenschaftler die Ergebnisse der Analyse teilen, unterstützen und deren Bedeutung kommentieren. ({6}) Das haben Sie nicht begriffen. ({7}) Alle hier im Hause vertretenen Parteien außer der AfD scheinen Panik, Schikanen, Furcht und Abschottung förmlich zu genießen. Was anderes haben Sie doch nicht im Kopf. ({8}) Eine Vorgehensweise, die bisher nur von drüben kam, haben Sie alle übernommen. Aber Sie könnten sogar in eine Einheitspartei gehen. ({9}) Meine Damen und Herren, die Analyse aus dem Bundesministerium des Innern ist eine Schande für den Anspruch einer Regierung, ({10}) zum Wohle der Bevölkerung alle Erkenntnisse einzubeziehen, die zur Bewältigung einer Krise angeboten werden. Wir fragen Sie: Welchen volkswirtschaftlichen Nutzen hat eine hochqualifizierte Wissenschaft, wenn sie nicht gehört wird, ({11}) wenn diese den Beweis einer jahrelangen wissenschaftlichen Erfahrung nicht einbringen kann? ({12}) Welchen Nutzen hat ein Industriestaat, wenn er ungeheure Mengen an Volksvermögen in die Ausbildung hochqualifizierter Wissenschaftler steckt, aber diese nicht an den Lösungen beteiligt? Dies frage ich Sie, meine Damen und Herren. ({13}) In der gemeinsamen Pressemitteilung vom 11. Mai bestätigen die unterzeichnenden Wissenschaftler ({14}) das Engagement des Mitarbeiters des Bundesministeriums des Innern und geben eine klare Einschätzung aller Probleme, die mit den Maßnahmen verbunden sind. ({15}) – Die Wissenschaftler kann ich Ihnen gerne gleich nennen. ({16}) Die Unterzeichner stellen fest, dass der Mitarbeiter seine Einschätzung anhand der ihren, der Wissenschaftler, vorgenommen hat. ({17}) Es geht um den Nutzen, um Schadenanalyse und um die getroffenen Maßnahmen. ({18}) Es ist bedauerlich, dass das Bundesministerium des Innern und die Bundeskanzlerin die Analyse nicht berücksichtigen wollen. Meine Damen und Herren, der Kernsatz der Analyse ist, dass therapeutische und präventive Maßnahmen niemals schädlicher sein dürfen als die Erkrankung selbst. ({19}) Das ist der Grundsatz. Aber das ist Ihnen fremd. Ich weiß nicht, ob Sie den Spruch von Adenauer kennen: Er war ungerecht, der liebe Gott, er hat die Intelligenz begrenzt, die Dummheit nicht. – Das soll er gesagt haben. ({20}) Die unterzeichnenden Wissenschaftler fordern, dass für eine künftige systematische Erfassung mindestens die folgenden medizinischen Disziplinen einzubeziehen sind. Ich trage sie Ihnen vor, vielleicht kennen Sie einige davon: Mikrobiologie, Allgemeinmedizin, Sozialwissenschaft, experimentelle Pharmakologie, Toxikologie, Dermatologie, evidenzbasierte Medizin, Gastroenterologie und Psychologie. ({21}) Alle diese Wissenschaftler stehen hinter diesem Bericht und möchten eingebunden werden. ({22}) – Was brüllen Sie denn immer rum? Ich verstehe kein Wort. ({23}) Statistisch betrachtet wurden 2,5 Millionen Patienten infolge der Maßnahmen nicht operiert, obwohl nötig. Nehmen Sie das zur Kenntnis. ({24}) Dass dadurch Todesfälle zu beklagen sind, hat eine relativ große Spannweite von 5 000 bis 125 000 Fällen. ({25}) Aber das ist für Sie uninteressant. Sie sind ja nicht betroffen. ({26}) Es war ungenügend definiert, aber eine Wahrscheinlichkeit ist vorhanden. Das heißt weiter, dass diese in den verschobenen oder unterbrochenen Behandlungen im Bereich Krebsvorsorge, Schlaganfall, Herzinfarkt usw. zu begründen sind. Der Blickwinkel geht auch von der Zunahme von Suiziden aus, die logischerweise mit der Ausweglosigkeit zu begründen sind, die sich aufgrund der Situation ergibt. Für Sie etwas Fremdes. Das kann ich mir vorstellen. Vernichten von Existenzen, ({27}) Todesfälle durch Herzinfarkte und Schlaganfall, verursacht durch übertriebene öffentliche Wahrnehmung – jetzt hören Sie zu –, dass Corona gefährlicher ist als Herzinfarkt und Schlaganfall. Das war die Definition. ({28}) Somit werden Warnzeichen unterdrückt bei diesen Patienten, ({29}) und die Folgen sind eingetreten. ({30}) Die psychologischen Folgen der durch die reduzierten Kontakte einer ganzen Gruppe von Menschen, meist Ältere und Pflegebedürftige, sind besonders problematisch, da gerade hier die psychologische Wirkung des Lebenswillens und somit die Abwehrkräfte beeinträchtigt werden. ({31}) – Das ist nicht von mir, das haben die Wissenschaftler gesagt. Ich gebe Ihnen das dann. ({32}) Das Thema „häusliche Gewalt“, Ihr Lieblingsthema, haben wir schon erörtert. Das lasse ich mal weg. Die Wissenschaft geht auch auf die Lebenserwartung ein, die aufgrund der Gesamtentwicklung – ich hoffe nicht, dass Sie jetzt protestieren – immer höher geworden ist. Wollen Sie sich auch darüber aufregen? Durch die psychischen Folgen ist aber nun ein negativer Trend zu erwarten. Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit sind Dinge, die Sie nie erlebt haben, weil Sie vermutlich nie gearbeitet haben. ({33}) Die Berichterstattung des RKI wird ebenfalls kritisch beäugt: –

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Abgeordneter, ich mache Sie darauf aufmerksam, dass Sie zum Schluss kommen müssen.

Detlev Spangenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004898, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

– keine Trennung von Infizierten und allgemein erkrankten Infizierten. Wir haben im Ausschuss darüber gesprochen. ({0}) Die Auswirkung auf die Letalität im Verhältnis zu den Kennzahlen haben Sie auch nicht bedacht. So, wir sind gleich am Ende. Auch wird die einseitige Beratung der Regierung kritisiert. ({1}) Das besondere geringe Risiko von Kindern und Jugendlichen wurde auch nicht analysiert. Wir kommen zum Hauptsatz. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Nein, da kommen wir jetzt nicht mehr hin.

Detlev Spangenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004898, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Aber jetzt wird es doch spannend.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Also, ich habe Sie jetzt zweimal aufgefordert, zum Schluss zu kommen.

Detlev Spangenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004898, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Einen Satz noch.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Bei der dritten Aufforderung schalte ich das Mikrofon ab.

Detlev Spangenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004898, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Also habe ich den Satz noch oder nicht? – Gut.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Setzen Sie den Punkt! ({0})

Detlev Spangenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004898, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Die gebe ich Ihnen schriftlich. Ich habe sie hier! ({0}) Besonders problematisch ist es, dass die offiziellen Unterzeichner von einer offiziellen Anfrage aus dem BMI ausgegangen sind. Die haben gedacht, die Anfrage kommt aus dem Ministerium. Und weil auf einmal festgestellt wurde, dass es nicht so ist, haben einige sogar ängstlich zurückgezogen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

So, jetzt ist gut.

Detlev Spangenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004898, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Das ist ein Ergebnis Ihrer Politik der Unterdrückung und der Antidemokratie in diesem Haus. Danke! ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Helge Lindh kann sich schon auf den Weg machen. Er erhält jetzt das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich wage es und fasse das Pult an. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Vorredner war einmal, wenn ich recht informiert bin, aktiv in einer Wählerinitiative unter dem Slogan „Sachsenmut stoppt Moslemflut“. Das war eben von Ihnen ein Beitrag aus der Reihe „Spangenberg ist Logikzwerg“. Herzlichen Glückwunsch! ({0}) Abgesehen davon haben wir es heute mit Paradoxien zu tun, unter anderem mit dem Präventionsparadox, was deutlich macht, warum der Kohn-Bericht nicht wirklich schlüssig ist. Wir haben es aber auch mit dem AfD-Paradox zu tun, das nahezu deckungsgleich ist mit dem Verschwörungsparadox. Denn dieses Paradox besteht schlechthin darin, dass es diese Aktuelle Stunde, Sie selbst, diesen Bericht und die Freiheit der Meinungsäußerung im BMI gar nicht geben dürfte nach Ihrer Logik. Es gibt aber diese Aktuelle Stunde, Sie sitzen im Parlament, es gibt das BMI, und man darf frei denken im BMI. Sie sind im permanenten Selbstwiderspruch. Sie haben es nicht geschafft, das aufzulösen. Aber das passt zu meiner These mit dem Logikzwerg. Herzlichen Glückwunsch auch dazu! ({1}) Darüber hinaus kann man ergänzen: Wenn das Denken Ihrer Freunde von „Widerstand 2020“, das Sie verbreiten, ({2}) zur Staatsräson werden würde, dann hätten wir in der Tat keine freie Presse mehr. Dann könnten Fraktionen wie Ihre nicht in einem freien Parlament sprechen, und dann gäbe es kein BMI, in dem Mitarbeiter frei denken könnten. ({3}) All das gäbe es dann nicht. Aber Gott sei Dank und dank der Demokratie wird uns das nicht ereilen. ({4}) Kommen wir aber weiter zu dem von Ihnen wunderbar geistesfrei analysierten Fall. ({5}) Erster Aspekt. Es ist einfach eine Frage des Dienstrechtes und des Disziplinarrechtes, und das wird sachlich und nüchtern geklärt werden. Es gibt so etwas wie eine Treuepflicht, und der muss ein Beamter nachkommen. Wenn er sie verletzt, gibt es Verfahren, dies zu klären. Das wird geschehen und ehrlich gesagt – manchmal streite ich mich durchaus mit Herrn Seehofer und seinem Ministerium – sehe ich keine Anzeichen, dass dort in Form einer Verschwörung Denken untersagt sei. Im Gegenteil: Frei meinen und denken ist erlaubt, aber es gibt Regeln, an die man sich zu halten hat. ({6}) Deshalb wird geklärt werden, was geschehen ist, wer Bescheid wusste, wie das Ganze an „Tichys Einblick“ geraten ist usw. usf. Es wird sicher auch über die Abteilung KM und das Referat KM 4 noch gesprochen werden. All das sind geregelte Verfahren. Kommen wir zum zweiten Teil, zu den inhaltlichen Ausführungen. Ich will gar nicht ins Detail gehen, das lohnt sich gar nicht; aber auf zwei Punkte weise ich hin. Erster Punkt. Sie haben eben wieder wortreich und geistesarm erklärt, dass Wissenschaftler das unterstützen würden. Wenn man gezielt über jemanden in der einschlägig bekannten „Achse des Guten“ zehn Wissenschaftler anspricht, die einschlägig dafür bekannt sind, dass sie fundamental die Position der Regierung ablehnen, dann ist das Ergebnis nicht Wissenschaft, sondern die Addition zehn renitenter Wissenschaftler; denn Wissenschaft lebt davon, dass es freien Diskurs, Meinungsunterschiedlichkeit, Debatten, Wissen, Erkenntnis gibt. ({7}) All das ist nicht gegeben, und deshalb sprechen wir nicht von Wissenschaft. Zweiter Punkt. In der von Ihnen so beschworenen Pseudostudie, diesem Bericht, ist immer von Kollateralschäden die Rede. In meinem Wahlkreis habe ich unter anderem ein Altenstift, in dem über 20 Menschen gestorben sind, infolge von Corona. ({8}) Was meinen Sie, wie sich die Kinder und Enkel der Verstorbenen fühlen, wenn man ihnen sagen würde: Das sind Kollateralschäden. – Nein, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, wir sind konkret verantwortlich für das Leben von Menschen und nicht für gegeneinander verrechnete statistische Größen. Das ist unsere Aufgabe. ({9}) Kommen wir jetzt zum dritten Punkt – ich bekomme ja ein bisschen mehr Zeit; Sie haben ja gnadenlos überzogen, jetzt muss entsprechend gekontert werden –: ({10}) Mich interessiert gar nicht, ob jedes Detail in diesem Text verschwörungstheoretisch ist oder nicht, wie weit da Fake News, Pseudofakten, Angelesenes drin sind; es kommt doch auf das Setting an: ({11}) Der Berichtschreiber – das passt wunderbar zu Ihrem Auftreten – mutmaßt, dass die Leitmedien in diesem Lande nur Überträger – man höre das Wort: Überträger – der Regierungsmeinung seien. Klassisch verschwörungserzählerisch! Und darüber hinaus seien die Daten manipuliert. Und da wird der Befund ernst; denn all dies gerät in die Maschine der Instrumentalisierung, der AfD-Verwurstung. Das zeigt sich an dem, was Sie beschreiben. Ich bin es aber müde, diesen Mechanismus zu erleben – dafür ist der Herr im BMI, über den wir heute reden, nur ein Beispiel; aber er steht beispielhaft für das, was Sie vorbringen –: Immer wieder beobachte ich Männer im Mittelalter – gelegentlich stecken Sie übrigens leider auch Frauen im Mittelalter an –, die in einer Form unerträglicher Jammerlapperitis und einem furchtbaren Hysteriewahn ({12}) mit einer selbst ernannten Dirty-Harryfizierung auftreten und meinen, sie müssten den Mainstream bekämpfen. Das ist alles eine lächerliche, peinliche Pseudopose, die Sie sich da aneignen. Das ist ein Zerrbild, eine Karikatur unseres Landes, die nichts mit der Realität zu tun hat. Deshalb empfehle ich Ihnen, weniger jammerlappig aufzutreten, weniger selbstmitleidig, sondern mal selbstbewusst in den Spiegel zu blicken und zu erkennen: Alles, was wir getan haben, ist dumm; wir gehen auf die Seite des Guten und verlassen die Achse des Bösen, die sich „Achse des Guten“ nennt. ({13}) Das wäre ein konkreter Beitrag.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Lindh, Sie schauen jetzt bitte auf die Uhr und setzen den Punkt.

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich setze den Punkt. – In dieser Woche überlebte eine 100-jährige Russin, Frau Pojarkowa, Corona im Krankenhaus. Als sie gefragt wurde – das hören Sie und all Ihre Verschwörungsfreunde und alle, die auf der Seite des Rechtspopulismus stehen, sich bitte an –, warum sie das geschafft habe, warum Sie so lange lebt – –

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Lindh, meines Wissens ist das gestern Abend in der „Tagesschau“ gesendet worden. Sie setzen jetzt den Punkt. ({0})

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Es kommt noch die Pointe.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ihre Fraktion hat noch einmal exakt fünf Minuten Redezeit.

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie sagte: Einfach nicht böse sein. – Diesen Slogan „Einfach nicht böse sein“ nehmen Sie sich bitte als Motto, und alles wird gut. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Michael Kuffer das Wort. ({0})

Michael Kuffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004795, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Herr Hampel, Sie haben allen Ernstes gesagt – Sie haben das auch nicht zitiert, Sie haben sich das zu eigen gemacht, ({0}) Sie haben es wiederholt, das ist wirklich Teil Ihrer Aussagen –, Corona wäre Fake News, Corona sei ein Fehlalarm. Sie haben dann noch eins draufgesetzt und gesagt: Der Bundesinnenminister gefährdet Menschenleben. ({1}) Also, ganz ehrlich, darunter ging es wohl nicht, oder? ({2}) Es ist mir völlig klar, dass Sie in Not geraten sind. Weil Sie in der aktuellen Debatte nicht mehr vorkommen, suchen Sie krampfhaft nach Standpunkten, die Sie über ihren YouTube-Kanal oder sonst wo im Netz irgendwie an den Mann bringen können. Dass Sie sich wieder die allerdümmsten Argumente und Meinungen ausgesucht haben, war eigentlich zu erwarten. Das war nicht überraschend, aber es ist für die Debatte trotzdem wieder einmal verheerend. ({3}) Festzuhalten ist: Der besagte Mitarbeiter aus dem BMI hat außerhalb seiner fachlichen Zuständigkeit gehandelt, und er hat damit außerhalb seiner Befähigung gehandelt. Wenn man sich das Papier jenseits der formalen Fragen inhaltlich anguckt, kann man zu keinem anderen Ergebnis kommen. Eine saubere und ordentliche Auseinandersetzung mit der Lage hätte das Gegenteil erfordert, ({4}) nämlich eine faktenbasierte, nicht auf YouTube und anderen zweifelhaften Quellen basierende präzise Analyse. Insofern ist das, was da vorgelegt worden ist, weder eine Analyse noch eine Studie noch sonst irgendetwas, was sich für Whistleblowing eignet, sondern schlicht und ergreifend ein Elaborat, mit dem wir in dieser Krise nicht seriös arbeiten können. Dass wir die einschneidenden Maßnahmen, die die Coronakrise erforderlich gemacht hat, diskutieren, dass wir sie zunehmend auch kontrovers diskutieren, ist richtig und auch notwendig. Aber ich bitte darum, dass wir das weiterhin situationsangemessen tun und dass wir uns dabei auch darüber im Klaren sind, dass wir es weiterhin mit einer Gefährdung und mit einer Herausforderung zu tun haben, die weiterhin Strukturen und Arbeitsweisen des Krisenmanagements erfordert. Ich sage Ihnen ganz deutlich: Wir sind noch nicht wieder in der Normalität. Das ist auch bedeutend für die Auseinandersetzung mit dem Thema. Drei Dinge sind aus meiner Sicht in diesem Zusammenhang inakzeptabel und der Sache in keiner Weise angemessen: Erstens: der Vorwurf, die Maßnahmen seien übertrieben. Es ist sogar noch schlimmer, weil er verbunden wird mit aberwitzigen Theorien über angebliche Motive, die mit der Virusbekämpfung gar nichts zu tun haben; so, als habe die Politik, als habe die Bundeskanzlerin, als hätten die Ministerpräsidenten monatelang nur auf eine Gelegenheit gewartet, endlich das Land herunterfahren zu können, endlich die persönlichen Freiheiten beschränken zu können und endlich die Wirtschaft schädigen zu können. ({5}) Also, ganz ehrlich: Glauben Sie das denn wirklich? – Es ist einfach traurig. ({6}) Ich sage es Ihnen als jemand, der andere Meinungen wirklich schätzt, ganz offen und ehrlich: Etwas Dümmeres kann man nicht von sich geben. ({7}) Zum Zweiten. Inakzeptabel sind Überhöhungen, die die Abschaffung von Grundrechten und jeder persönlichen Freiheit beklagen. Besonders „herausragend und intelligent“ ist es – das war in den letzten Tagen leider nicht selten zu hören –, wenn man sich auch noch dazu versteigt, Parallelen zu 1933 zu ziehen. Also, ganz ehrlich, die Meinungsfreiheit schützt auch ungewöhnliche Meinungen. Aber ich sage Ihnen ganz ehrlich: Es gibt eine Grenze dessen, was wir noch ernst nehmen müssen, und die ist in diesen Fällen eindeutig überschritten. Ich will Ihnen gerade mit Blick auf die Demonstrationsfreiheit, aber auch mit Blick auf andere Freiheitsgrundrechte Folgendes sagen: Die Freiheitsgrundrechte sind ein hohes Gut unserer Verfassung; aber das Grundrecht auf Leben und Unversehrtheit der Gesundheit ist es ebenso. Deshalb sage ich Ihnen: Demonstrationen, die so ablaufen, dass Schutzmaßnahmen missachtet, Mindestabstände verletzt und am Ende auch noch zum Ablegen des Mund-Nase-Schutzes aufgefordert wird, kann es so nicht geben. ({8}) Drittens. Geradezu grotesk ist es doch, wenn aus dem Umstand, dass die Maßnahmen, die wir zur Prävention ergriffen haben, gewirkt haben, wir beispielsweise erhebliche freie Behandlungs- und Intensivkapazitäten haben, schlussgefolgert wird, dass die Maßnahmen nicht erforderlich gewesen seien. Der Begriff des Präventionsparadoxon, der hier in den letzten Tagen öfter zu hören war, ist meines Erachtens wirklich noch zurückhaltend und freundlich. Ich nenne eine solche Argumentation schlicht „Quatsch“. Ich frage mich ganz ehrlich, wie kurz das Gedächtnis an dieser Stelle ist. Manche scheinen die Bilder aus Italien vergessen zu haben. Mit Erlaubnis des Präsidenten zitiere ich kurz ({9}) aus der „Neuen Zürcher Zeitung“ vom 18. März 2020 zur Lage in Norditalien: „… die Bestatter kommen nicht nach mit der Arbeit … Die Särge stauen sich in den Spitälern, die Leichenhallen sind voll, und man nutzt Kirchen als Zwischenlager. Das Krematorium arbeitet rund um die Uhr, aber die Kapazität reicht nicht aus“, usw. Zehn Seiten in der Zeitung nur Todesanzeigen, an einem einzigen Tag. Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Mitbürger draußen im Land, Deutschland ist bisher besser und sicherer durch die Krise gekommen als die meisten Länder. Es gibt viele, die in dieser Lage gerne mit uns tauschen würden, und das liegt nicht daran, dass sich das Virus auf deutschem Boden anders oder freundlicher verhalten hat als anderswo. Es liegt schlicht und ergreifend daran, dass wir schnell und entschlossen gehandelt haben, dass wir auf gefährliche Experimente verzichtet haben, dass wir ein leistungsfähiges Gesundheitswesen haben und dass wir – von wirklich ganz wenigen Ausnahmen abgesehen – eine umsichtige, disziplinierte und solidarische Gesellschaft haben.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Kuffer, auch Sie müssen zum Schluss kommen.

Michael Kuffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004795, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin, ich komme damit auch zum Schluss. – Dafür danke ich allen Menschen in unserem Land und besonders denen, die jeden Tag den Laden hier am Laufen halten. Das kann uns ein bisschen stolz machen, aber vor allem sollte es uns Mut machen. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete René Röspel für die SPD-Fraktion. ({0})

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! „Wow!“, dachte ich, „ein Whistleblowerpaper diskutieren, das macht richtig Spaß, geleakt“ – und dann habe ich diese 83 Seiten gelesen und fand ein wirklich so schlechtes Papier vor, das gerne veröffentlicht werden kann, weil es eine Aneinanderreihung von Behauptungen ist, die nicht belegt werden in dem Papier. Deswegen: Wenn das ein Naturwissenschaftler geschrieben hat, soll er das Diplom zurückgeben. Das ist wirklich eine schlechte Arbeit. An einem Punkt aber ist der Satz richtig: wenn da geschrieben wird: Auf Basis unvollständiger Informationen kann keine Gefahrenabschätzung stattfinden. – Stimmt! Das ist aber nichts Neues, das ist genau das Problem. Als wir Ende letzten Jahres, Anfang dieses Jahres aus China hörten: „Es gibt da auf einmal dramatische Krankheitsverläufe, es gibt Todesfälle, es gibt Überforderungen des Gesundheitssystems, wahrscheinlich Coronavirus“ – normalerweise macht das Erkältung und dann hat man es einigermaßen gut überstanden –, wussten wir tatsächlich nicht: Was sind die Informationen? Ist das eine neue Variante von Corona? Wahrscheinlich. Wie wird das ablaufen? Verläuft das so wie die Schweinegrippe vor zehn Jahren etwa? H1N1, weltweit etwa 150 000 bis 500 000 Tote, in Deutschland nur 250, wahrscheinlich glimpflich an uns vorbeigegangen. Verläuft das so wie die Influenzawelle 2017/2018? Weltweit 1,5 Millionen Tote, in Deutschland 25 000 Tote. Keine Chance, es einigermaßen einzuschätzen – außer in Deutschland tatsächlich. Wir haben glücklicherweise eine Reihe von Forscherinnen und Forschern, die das seit Jahren betreiben, die da aktiv sind. Und tatsächlich diskutiert in Deutschland und weltweit die Wissenschaft, Herr Spangenberg, also Hunderte und Tausende von Wissenschaftlern – und nicht nur neun oder zehn –, darüber, was das ist, wie das einzuordnen ist und welche Maßnahmen zu ergreifen sind. Und natürlich mussten wir erst einmal Informationen beschaffen: Wie sind die Übertragungswege? Wie infektiös ist das? Wir wissen immer noch nicht viel: Sind Kinder eigentlich weniger gut infizierbar, oder sind die schneller immun? Was bedeutet es, wenn das Virus weiterhin mutiert? Wird dieser Vorteil wieder vorbei sein? Also, wir müssen auch ständig gucken: Wie ist die Letalität des Virus? Wie ist die Inkubationszeit? Geht das nach zwei Tagen los, nach vierzehn Tagen? Wann können wir sicher sein? Gibt es eine Immunität? Alles unwägbar. In der gleichen Zeit – im Februar der erste Todesfall in Frankreich, im März in Thüringen – kam es zu uns, und die Bilder aus Italien zeigten ein überfordertes Gesundheitssystem. Dann kann man „Alternative für Deutschland“ machen und sagen: ignorieren, verharmlosen, Fake News; wir machen nichts. – Oder wir sagen: „Wir sind in der Verantwortung“, und stellen unser Gesundheitssystem so auf, dass wir nicht solche Bilder wie aus Italien haben, dass wir keine Überforderung haben, dass wir Menschen tatsächlich schützen, dass wir nicht einfach sagen: „Kollateralschaden ist, wenn der Opa tot ist“; das würde ich meinen Eltern zu Hause nicht sagen, das würde keiner sagen wollen. Deswegen haben wir richtig gehandelt – auf der Basis möglicher Informationen; das kann auch durchaus falsch sein. Und dann kommen in diesem Bericht, in den 83 Seiten, solche Behauptungen, damit würden Millionen Lebensjahre von Deutschen vernichtet. An welcher Stelle ist das denn belegt? Das wird einfach nur behauptet. Und dann hat er noch die gewagte These, dieses Virus sei nicht gefährlicher als die meisten anderen Viren, und führt die Influenzaepidemie 2017/2018 an. Das kann man sich genau angucken: 1,5 Millionen Tote weltweit, in Deutschland 25 000 Tote bei der Influenza 2017 – in der kalten Jahreszeit. Das weiß jeder, auch Ihre Oma und Sie: Das ist die Erkältungszeit, das ist die Grippezeit, das ist die Infektionszeit, weil die Voraussetzungen gut sind. Und das führt zu 25 000 Toten in Deutschland. Wir haben Corona jetzt gerade in einer Phase, wo eigentlich die Kaltzeit aufhört. Wir hatten den wärmsten und trockensten April seit 140 Jahren, also für die Verbreitung des Virus ungünstige Bedingungen. Und – das ist noch ein wichtiger Unterschied – wir haben – nicht nur wir, sondern viele Länder – das öffentliche Leben heruntergefahren, die Infektionsketten unterbrochen. Trotzdem haben wir 8 000 Tote in Deutschland und weltweit 300 000 Tote. Daraus zu folgern: „300 000 Tote bei Corona, 1,5 Millionen Tote bei Influenza – Corona kann also nicht so gefährlich sein“, das ist doch abstrus. Man muss doch sehen: Wir ergreifen Maßnahmen, damit die Zahl der Toten nicht größer wird. Der Umkehrschluss wäre eigentlich: Wollen wir nicht versuchen, bei der nächsten Influenzapandemie die Zahlen auch zu reduzieren, ({0}) indem wir vielleicht eine Maskenpflicht einführen, um diese Toten zu vermeiden? Also: Das Papier ist eine Katastrophe, will ich sagen, kann jeder lesen, ({1}) es ist mittlerweile frei zugänglich. Ich kann es nicht empfehlen. Aber da ist wirklich nichts, was geleakt werden müsste. Bei dem Vorwurf, das sei ein Fehlalarm, da muss ich sagen: Wer die Feuerwehr beschimpft, dass sie bei einem Fehlalarm ausgefahren ist und nur einen kleinen Brand gelöscht hat, der ist schlicht und einfach ein Idiot. ({2}) Denn auch ein Fehlalarm kann hilfreich sein: weil er den Alarm eben sicher macht, der dann künftig kommt. Vielen Dank. Schönes Wochenende. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde ist der Kollege Rudolf Henke für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Rudolf Henke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich möchte gerne aus einer Kleinen Anfrage zitieren, die die Abgeordneten Martin Sichert, Detlev Spangenberg, Dr. Robby Schlund, weitere Abgeordnete und die gesamte Fraktion der AfD an die Bundesregierung gerichtet haben – Sie auch, Herr Hampel –, eine Kleine Anfrage, wo Sie als Ihren Erkenntnisstand den 3. März 2020 angeben. Das ist die Drucksache 19/18337 – kein Leak, kann jeder lesen, kein Whistleblowing. ({0}) Darin nehmen Sie Bezug auf die Bundestagsdrucksache 17/12051 aus dem Jahr 2012, die hier schon mehrfach zur Sprache gekommen ist, wo ein hypothetischer Erreger skizziert wurde in der Gefahrenabwehrstrategie aus der Bundesregierung und wo damals hypothetisch gerechnet worden ist, dass ein Erreger genannt Modi-SARS zur Erkrankung von 29 Millionen Menschen im Bundesgebiet in der ersten Welle und zum Tod von mindestens 7,5 Millionen Menschen in Deutschland führt. Damit leiten Sie ein, dass Sie dann der Bundesregierung folgende Ausführungen vortragen – ich zitiere jetzt ({1}) Sichert, Spangenberg, Schlund, weitere Abgeordnete, Hampel, Fraktion der AfD –: ({2}) Obwohl zum Virus COVID-19 bisher noch viele Ungewissheiten bestehen, sind nach jetzigem Stand (3. März 2020) nach Ansicht der Fragesteller – also Martin Sichert, Detlev Spangenberg, Dr. Robby Schlund, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der AfD, einschließlich Ihnen, Herr Hampel – ({3}) fast alle Eigenschaften aus dem hypothetischen „Modi-SARS“-Virus erfüllt. ({4}) Dies – so fahren Sie fort – betrifft sowohl das Auftreten des Virus … seine Ausbreitung … seine Herkunft … den Verlauf der Krankheit, die Prophylaxemöglichkeiten, die Heilmöglichkeiten, die Letalität usw. Das heißt, Sie haben nach Ihrer eigenen Schilderung am 3. März das Virus so eingeschätzt, ({5}) dass es zu einer Zahl von mindestens 7,5 Millionen Toten in Deutschland führen könne. Das war damals Ihre Frage an die Bundesregierung. ({6}) Sie haben damals dem Minister Spahn vorgeworfen, ({7}) dass er mit seiner Aussage wir seien aufmerksam, wir seien gut vorbereitet, die Leute gewissermaßen in Trance lullen würde; das war damals Ihr Vorwurf. ({8}) Sie gehen ganz nach Belieben vor: Dann, wenn Sie glauben, Sie können jemanden dafür kritisieren, dass er Gefahren nicht ausreichend erkennt, dann stellen Sie diese Gefahren in der schärfsten Farbe dar, die Ihnen zur Verfügung steht. ({9}) Und dann, wenn das nicht mehr verfängt, dann machen Sie das genaue Gegenteil, dann nehmen Sie sich eine zur Whistleblower-Studie aufgeblasene Textzusammensetzung und leiten daraus ab, es handele sich alles um Fehlalarm. Also: Wenn es sich um Fehlalarm gehandelt hätte, dann wären Sie jedenfalls die alleräußersten Fehlalarmisten, ({10}) Sie wären die lautstärksten Fehlalarmisten. Dazu passt es ja auch, dass Sie uns in Deutschland empfohlen haben – in einem Antrag, den Sie Mitte Februar in das Plenum eingebracht haben –, Ankommende mithilfe einer Wärmebildkamera auf Fieber zu untersuchen. Sie haben sich darauf berufen, dass das so wäre wie in den USA und in Großbritannien. – Genau dort hat diese Strategie nicht funktioniert, sondern das hat in den USA und in Großbritannien zu einem der größten und schlimmsten Ausbrüche in der Welt geführt. Gut, dass wir Ihren Ratschlägen nicht gefolgt sind, ({11}) obwohl ich es – wenn man sich ansieht, wie Sie sich heute mit jedem Impfskeptiker ins Bett legen – gut finde, dass Sie in dem Antrag, den ich gerade zitiert habe, damals dafür geworben haben, dass „alle Einrichtungen des Bundes die Entwicklung eines Impfstoffes gegen den neuen Coronavirus … bestmöglich unterstützen und jetzt schon dafür Sorge tragen, dass dieser sofort nach Einführung für die ganze Bevölkerung in Deutschland zur Verfügung steht“. – Das war die AfD Mitte Februar. ({12}) Und heute stellen Sie sich mit den Impfskeptikern auf die Plätze und hetzen die Leute auf. ({13}) Das nehme ich Ihnen auch persönlich übel, weil ich nicht vergesse, dass Ihr Fraktionskollege Stephan Protschka am 25. April einen Ausschnitt aus einer Rede von mir auf Facebook ins Netz gestellt hat: Nachdem ich als Gegner einer Zwangsimpfung gesprochen habe, nachdem ich mit dafür gesorgt habe, dass im deutschen Masernschutzgesetz keine Zwangsimpfung drinsteht, und ich hier dargelegt habe, was ich unter einer Zwangsimpfung verstehe und warum ich sie ablehne, hat der einen Ausschnitt gepostet, wo meine Darstellung, was ich unter einer Zwangsimpfung verstehe, dazu führte, dass ich, ohne dass er es gestrichen hätte, auf Protschkas Seite dann folgende Kommentare lesen durfte.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie müssen es kurz machen.

Rudolf Henke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Kommentare lauteten: Ich würde dir persönlich den Schädel spalten. – Geh nicht im Dunkeln raus. – Und danach würde ich Amok laufen. - ({0}) Den würde ich gerne auf der Straße impfen. – Solche Leute sollten gleich entmachtet und enteignet werden. – Das ist ein Nazi. Hat die SS das nicht so ähnlich gemacht? – Fahr zur Hölle, du Hurensohn. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Henke.

Rudolf Henke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

So was lösen Sie aus mit der Art, wie Sie Politik gegenüber Andersdenkenden betreiben. ({0}) Und deswegen nehme ich Ihnen das übel. Herzlichen Dank fürs Zuhören. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Aktuelle Stunde ist beendet.