Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir gehen jetzt zwar in eine neue Phase der Lockerungen, aber das Virus ist natürlich nicht verschwunden. Die Lockerungen können deshalb nur dann Bestand haben, wenn der Gesundheitsschutz sichergestellt ist und die Weiterverbreitung unter Kontrolle bleibt.
Und da ist der ÖGD, unser Öffentlicher Gesundheitsdienst, der zentrale Schlüssel, um das Infektionsgeschehen zu überwachen, das heißt, die Infizierten zu finden, zu isolieren und fortlaufend auch regionale Schutzmaßnahmen – das ist ganz wichtig – zu überprüfen. Wir investieren zum Beispiel 50 Millionen Euro in die digitale Ausstattung von jedem der 375 Gesundheitsämter, um den Informationsfluss zeitnah zu verbessern, zu vereinfachen, zu beschleunigen. Meldeumfang und ‑fristen werden so angepasst, dass innerhalb von 24 Stunden verlässliche Informationen vorliegen müssen.
Teil unserer Strategie ist auch die Ausweitung der Testungen; nicht zuletzt haben wir die Laborkapazitäten auf 1,1 Millionen Proben pro Woche erhöht. Die Tests werden zukünftig auch dann über die gesetzlichen Krankenkassen abgerechnet, wenn sie nicht Teil der Krankenbehandlung sind, wenn keine Symptome für eine Erkrankung feststellbar sind, und auch dann, wenn sie vom Öffentlichen Gesundheitsdienst angeordnet werden. Mit dem Rückgriff auf die flächendeckenden Versorgungsstrukturen der gesetzlichen Kassen wird die schnelle und effektive Handhabung im Alltag, zum Beispiel wenn in Pflegeeinrichtungen getestet wird, deutlich besser sichergestellt. Wir haben uns im Ausschuss ausführlich darüber unterhalten: Wenn es sich nicht um originäre Kassenleistungen handelt, werden solche versicherungsfremden Leistungen am Ende aus den Mitteln des Bundeshaushalts finanziert. Die Vertreter der Kassen, die sich bei Ihnen und bei mir gemeldet haben, dürfen uns da natürlich beim Wort nehmen.
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Wir sorgen aber auch dafür, dass die Reserven beispielsweise bei den Grippeimpfstoffen erhöht werden, nicht nur, um Engpässe zu verhindern, sondern auch, um die zusätzlichen Belastungen während der nächsten Grippesaison so gering wie möglich zu halten; denn wir können nicht garantieren, dass Covid-19 bis dahin flächendeckend mit einem Impfstoff begegnet werden kann.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, für die Beschäftigten in den Pflegeeinrichtungen und in der ambulanten Pflege – auch das ist ein wichtiger Punkt unseres Gesetzentwurfes – sehen wir eine sogenannte Coronaprämie vor. Dort wurde in den vergangenen Monaten von ihnen, wie wir feststellen konnten, unter den besonderen Bedingungen von Kontakt- und Besuchsverbot Außergewöhnliches geleistet. Wir wollen Wertschätzung ausdrücken, und zwar ohne dass wir Versicherte, Pflegebedürftige und deren Familien belasten.
Stichwort „Familie“: In der Krise hat sich besonders die Situation für viele pflegende Angehörige nochmals zugespitzt. Sie alle wissen um die aktuell fehlende Unterstützung aus dem Ausland durch die ausländischen Pflegekräfte, um die Engpässe in der Kurzzeitpflege, in der Tagespflege. Deshalb verlängern wir mit diesem Gesetz zum Beispiel für Angehörige, die in Akutsituationen Pflege organisieren müssen, die Bezugsdauer von Pflegeunterstützungsgeld von 10 auf 20 Tage. Angehörige, die selber plötzlich pflegen müssen – aus dieser Situation heraus –, dürfen während der Krise, wenn es keine anderen Möglichkeiten gibt, bis zu 20 Arbeitstage ihrer Arbeit fernbleiben.
Ein letzter Punkt, der mir persönlich am Herzen liegt, ist, dass die Strukturen in den sozialpädiatrischen Zentren und den medizinischen Zentren für Erwachsene mit Behinderung auch nach der Pandemie weiterbestehen und dass deren wichtige Arbeit gesichert wird. Wir haben deswegen die Verpflichtung aufgenommen, dass die Krankenkassen mit den Zentren in Verhandlungen über bessere Ausstattung, bessere Vergütung gehen müssen. Ich finde es ehrlich gesagt schade, dass wir das gesetzlich anordnen müssen. Es hätte allen gutgetan, wenn darauf jemand von selbst gekommen wäre.
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Meine Damen und Herren, wir waren in der ersten Stufe der Bewältigung von Corona erfolgreich. Gott sei Dank! Mit diesem Gesetz nehmen wir unsere Verantwortung für die neue Freiheit wahr und setzen hoffentlich diesen erfolgreichen Weg weiter fort.
Herzlichen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Dr. Robby Schlund, AfD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kollegen! Sie kennen seit einigen Tagen sicherlich den Coronahotspot Greiz. Das ist mein Wahlkreis. Dort sind regionalbedingt aufgrund des Uranbergbaus Lungenerkrankungen ab dem 50. Lebensjahr sehr verbreitet. Mit den neuen Richtlinien des RKI vom 6. Mai treiben Sie die regionale Reproduktionszahl in die Höhe und erzeugen bei den Menschen vor Ort Panik, Verzweiflung und Perspektivlosigkeit.
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Glauben Sie mir: Ein erneuter Lockdown wird in meiner Heimat mehr Opfer fordern als Ihre vermeintliche Coronakrise, befeuert durch Massenarbeitslosigkeit und Landflucht.
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Genau zu diesem Zeitpunkt bringen Sie den Entwurf eines zweiten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung ein. Aber schützen Sie die Bevölkerung durch solch ein Gesetz wirklich? Wir meinen, nein. Das Gesetz billigt dem Gesundheitsminister unter dem Deckmantel einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite eine Reihe von gravierenden Befugnissen zu. Der Katalog dieser Befugnisse wird immer länger und länger. Wer weiß, was bei einem dritten Gesetz zum Schutz der Bevölkerung noch folgen wird? Es suggeriert uns eine permanente Krise, die es gar nicht gibt, und lässt uns im Krisenmodus verharren.
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Wissen Sie, was Sie damit den Bürgern dieses Landes antun? Sie erzeugen Angst, Hysterie und Depression, die in einer eskalierenden Lebensmüdigkeit enden werden.
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Viel zu wenig wird sowieso von den psychologischen Folgen Ihrer verfehlten Krisenpolitik gesprochen. Bereits am 12. Februar habe ich an genau dieser Stelle sechs Basismaßnahmen gefordert, unter anderem mithilfe von Wärmebildkameras Infektionsfälle zu identifizieren und die Abhängigkeit von Medizinprodukten und Arzneimitteln aus Fernost zu verringern. Hätten Sie alle dies damals nicht abgelehnt, hätten Sie sich den Kollaps eines Shutdowns ersparen können.
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Mit den neuen AfD-Anträgen setzen wir auf die Basis genau dieses Rastermanagements und – unter Schutz der Bürgerrechte – auf drei Säulen auf:
Erstens: Umsetzung der digitalen Innovationspotenziale im Gesundheitswesen.
Zweitens: schnelle Einführung technischer Verfahren und Monitoringsysteme.
Drittens: regelmäßige wissenschaftliche Analyse und Bewertung von epidemiologischen Daten.
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Was Sie in unseren Anträgen nicht finden können, ist der Versuch, unser Grundgesetz teilweise auszuhebeln.
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Sie demontieren mit Ihrem Entwurf nämlich die Parlaments- und Bürgerrechte wie Demokratieprinzip und Rechtsstaatprinzip. Sie können uns nicht einmal darlegen, was die Voraussetzungen für eine epidemische Lage von nationaler Tragweite überhaupt sind.
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Wir appellieren an Sie, dieses und das erste Gesetz durch eine angemessene Lösung zu ersetzen, auch im Namen unzähliger besorgter Bürger und Verbände.
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Verlassen Sie sich lieber auf den gesunden Menschenverstand und auf ein professionelles Management bei der Normalisierung des öffentlichen und gesellschaftlichen Lebens.
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Das ist, wie wir in der Anhörung gehört haben, keine Frage von rechts oder links, sondern einfach nur eine Frage der Selbstachtung und Selbstverantwortung.
Die AfD lehnt diesen Gesetzentwurf ab.
Vielen Dank.
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Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Sabine Dittmar, SPD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich zum Gesetzentwurf komme, lassen Sie mich einige Anmerkungen machen. In den Debatten der letzten Tage und auch heute hier wird immer wieder der Eindruck erweckt, als hätten wir Corona schon fast überstanden. Es ist richtig, dass es uns bislang gelungen ist, das Infektionsgeschehen in Schach zu halten. Das ist ein Etappensieg. Aber wir befinden uns immer noch mitten in der Pandemie.
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Die stagnierenden Infektionszahlen und die teilweise schweren regionalen Ausbrüche führen uns die enorme Gefahr dieses Virus vor Augen.
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Als Ärztin appelliere ich an Sie: Nehmen Sie Corona nicht auf die leichte Schulter. Achten Sie auf sich und Ihre Mitmenschen,
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und widersprechen Sie den obskuren Verschwörungstheorien konsequent.
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Täglich lernen wir Neues über das Virus und seine Verbreitung. Das ist gut so. Das verdanken wir einer exzellenten Forschung und exzellenten Wissenschaftlern.
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Aber Tag für Tag müssen wir aufs Neue die richtige Balance zwischen möglichen Lockerungen und notwendigen Schutzmaßnahmen finden.
Deshalb ist es wichtig – damit komme ich zum Gesetzentwurf –, die Meldepflichten hinsichtlich SARS-CoV-2 auszuweiten und den öffentlichen Gesundheitsdienst zu stärken. Wir stärken ihn zum einen finanziell bei der technischen Modernisierung. Zum anderen stärken wir ihn personell, indem wir beim RKI Kontaktstellen für die kommunalen Gesundheitsämter einrichten und Unterstützungsteams für die Kontaktnachverfolgung zur Verfügung stellen.
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Wichtig ist auch: Wir schaffen die Rechtsgrundlage für die Ausweitung der Coronatests. Testen, testen, testen – das ist das Gebot der Stunde,
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symptomunabhängig und regelmäßig, vor allem im Umfeld besonders gefährdeter Personengruppen.
Klar ist auch: Diese Kosten sind nicht kalkulierbar. Was wir jetzt aber nicht brauchen, ist eine Debatte darüber, welcher Kostenträger welchen Test wann finanziert. Deshalb ist es sinnvoll, dass die gesetzliche Krankenversicherung mit ihren bewährten Versorgungsstrukturen die Kosten für die Tests übernimmt. Klar ist: Diese Tests sind versicherungsfremde Leistungen. Insofern vertraue ich nicht nur darauf, sondern erwarte ich auch, dass spätestens im Herbst über einen Bundeszuschuss für den Ausgleich dieser Aufwendungen entschieden wird.
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Meine Damen und Herren, wir beschließen mit dem Gesetz eine ganze Menge weiterer Regelungen: von der Coronasonderprämie für Beschäftigte in ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen bis zur rückwirkenden Erhöhung des Leistungsbetrags für Kurzzeitpflege in Rehabilitationseinrichtungen. Froh ist die SPD-Fraktion, dass es uns im parlamentarischen Verfahren gelungen ist, die Existenz von sozialpädiatrischen Zentren und medizinischen Behandlungszentren für Erwachsene mit Beeinträchtigungen sicherzustellen.
Corona stellt unsere Gesellschaft auf eine harte Probe. Wir alle sind betroffen, aber insbesondere Familien mit Kindern oder mit pflegebedürftigen Angehörigen bekommen dies wie unter einem Brennglas zu spüren. Wie soll man Familie und Beruf unter einen Hut bringen, wenn bewährte Versorgungs- und Betreuungsstrukturen wegbrechen? Was soll man tun, wenn die Tagespflege schließt und die Pflegeeinrichtung einen Aufnahmestopp verordnet? Deshalb ist es gut – ich bin dankbar dafür –, dass wir im parlamentarischen Verfahren noch einmal diese besondere Situation der pflegenden Angehörigen in den Blick genommen haben. Wir flexibilisieren das Pflegezeit- und das Familienpflegezeitgesetz, sodass die Leistungen kurzfristig und einfacher in Anspruch genommen werden können. Wichtig ist dabei vor allem die befristete Verlängerung der Gewährung des Pflegeunterstützungsgeldes auf 20 Arbeitstage.
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Insgesamt beinhaltet dieses Gesetzespaket ein Bündel von Maßnahmen, um unsere Gesellschaft besser vor der Pandemie und ihren Folgen zu schützen. Deshalb bitte ich um Zustimmung.
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Christine Aschenberg-Dugnus, FDP, hat als Nächste das Wort.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bereits beim ersten Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage vor acht Wochen hatten wir als FDP-Bundestagsfraktion große Bauchschmerzen wegen der weitreichenden Verordnungsermächtigungen und vor allen Dingen der grundrechtseinschränkenden Maßnahmen. Im Ergebnis haben wir aus staatsrechtlicher Verantwortung heraus zugestimmt.
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Nun sind einige Wochen vergangen, und wir haben eine veränderte Lage. Ich sage ausdrücklich: Das heißt nicht, dass wir die Epidemie überstanden haben. – Das sage ich ganz ausdrücklich. Aber, meine Damen und Herren, wir wissen mehr über Covid-19, und wir wissen auch mehr über die gesundheitlichen und gesellschaftlichen Folgen jenseits von Covid-19. Als Bundestagsfraktion fragen wir uns schon, ob die auch in diesem Gesetz vorgesehenen Blankoermächtigungen für das Bundesministerium für Gesundheit noch verhältnismäßig sind.
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Es ist auch sehr wichtig, ob die Regelungen datenschutzrechtlich mit unserem Grundgesetz vereinbar sind.
Meine Damen und Herren, die öffentliche Anhörung am Montag hat gezeigt, dass die geplanten Handlungsmöglichkeiten des Gesundheitsministeriums verfassungsrechtlich äußerst bedenklich sind;
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denn der Bund will sich hier erhebliche Kompetenzen für den Fall einer epidemischen Notlage sichern. Meine Damen und Herren, die Beteiligungs- und Kontrollrechte des Parlaments bleiben hier eindeutig auf der Strecke und sind nicht hinreichend gewürdigt.
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Durch das vorliegende Gesetz wollen Sie Rechtsverordnungen ohne Zustimmung des Bundesrates erlassen können. Einer der Sachverständigen hat sehr treffend formuliert – ich zitiere –: Außergewöhnliche Lagen sind nicht nur die Stunde der Exekutive, sondern in der parlamentarischen Demokratie auch die des Parlaments.
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Diese Erkenntnis spiegelt sich im Gesetz leider nicht wider.
Meine Damen und Herren, wir haben auch drei eigene Anträge in den Bundestag eingebracht.
Erstens brauchen wir endlich eine verlässliche Datengrundlage zur Covid-19-Ausbreitung, damit wir mögliche Schutzmaßnahmen oder vor allen Dingen auch deren Rücknahme besser bewerten können.
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Deshalb fordern wir regelmäßige und repräsentative Tests der Bevölkerung.
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Meine Damen und Herren, Infektionsschutz und Freiheitsrechte können mit intelligenten Strategien in Einklang gebracht werden. Das ist unser Wunsch.
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Zweitens müssen für pflegende Angehörige unbürokratische und kurzfristige Angebote geschaffen werden; ein ganz wichtiger Punkt.
Drittens ist jetzt schon klar, dass das nicht die letzte Pandemie sein wird. Deswegen müssen wir gut vorbereitet sein. Auch da haben wir konkrete Vorschläge unterbreitet.
Was wir ebenfalls ganz, ganz dringend brauchen, ist eine verlässliche Corona-Tracing-App, meine Damen und Herren. Neben Abstandsregeln, Hygienemaßnahmen, Mund-Nase-Schutz müssen wir die Infektionsketten wirksam verfolgen können. Unser Nachbar Österreich hat so eine App längst. Uns wird sie seit Wochen und Monaten versprochen. Hoffentlich kriegen wir sie bald.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Wir werden dem Gesetz nicht zustimmen.
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Jetzt erteile ich dem Kollegen Harald Weinberg, Die Linke, das Wort.
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Ja, vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir befinden uns zweifelsfrei in einer neuen Etappe der Pandemie. Da gibt es keinen Grund zur Entwarnung. Es ist mit Sicherheit noch nicht vorbei. Es gibt auch keinen Grund, irgendwie einen Lockerungswettbewerb zu machen.
Aber es gibt Gründe für eine Veränderung der Zuständigkeiten und der Grundlagen. Das gilt für die föderale Verfasstheit unseres Landes und damit die eingeleitete stärkere Verantwortung der Zuständigkeit der Länder, Landkreise und Kommunen für die Eindämmung und Kontrolle der Pandemie. Das gilt aber auch bei der Wiederherstellung der Gewaltenteilung zwischen Regierung, Gesetzgebung und Rechtsprechung.
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In der ersten Phase der epidemischen Lage von nationaler Tragweite war es richtig und wichtig, besonders schnell und entschlossen zu reagieren. Dazu sieht unser Grundgesetz in Artikel 80 die Möglichkeit vor, dass der Gesetzgeber die Regierung ermächtigt, Maßnahmen per Rechtsverordnung zu treffen, die notwendig sind oder notwendig erscheinen, um eine Pandemie einzudämmen. Dazu muss das ermächtigende Gesetz Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung bestimmen.
Das war beim ersten Bevölkerungsschutzgesetz bereits schwierig. Die Einschränkung der Grundrechte hat ja beispielsweise bei der Frage der Demonstrationsfreiheit bei dem einen oder anderen Gericht durchaus dafür gesorgt, dass die Demonstrationsfreiheit dann doch durchgesetzt werden konnte. Es ist aber bei dem zweiten Gesetz nicht nachvollziehbar, warum es dem Bundesgesundheitsminister erneut eine weithin unbestimmte Verordnungsermächtigung geben soll, die in ihrer Reichweite und in der Relativierung parlamentarischer Kontrolle problematisch ist.
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Dabei sollen offenbar auch Sachverhalte per Verordnung geregelt werden, die keinen unmittelbaren Zusammenhang zur aktuellen Pandemie aufweisen. Das halten wir ebenfalls für äußerst problematisch.
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Wenn man die einzelnen Regelungssachverhalte bilanziert, ergeben sich sicher auch einige positive Punkte. Am Ende überwiegen jedoch die negativen Aspekte und einige ungedeckte Schecks. Meine Redezeit ist zu kurz, um alle Punkte durchzugehen. Ich will nur einige wesentliche nennen.
Das Erste ist die Coronaprämie für Pflegekräfte: eigentlich eine gute Sache. Aber es stellt sich natürlich sofort die Frage, warum diese Prämie nicht auf alle Beschäftigten ausgeweitet wird, die mit Covid-19-Patienten in der Altenpflege und im Krankenhaus zu tun haben.
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Zweitens. Die Ausweitung der Tests ist eigentlich eine vernünftige Sache, weil es darum geht, auch regional ein Frühwarnsystem etabliert zu haben, um reagieren zu können. Dass das allerdings von den Kosten her zulasten der Versichertengemeinschaft geht, ist aus unserer Sicht inakzeptabel.
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Zur Aussage in der Gesetzesbegründung, dass es dann in Verhandlungen zwischen Bundesgesundheitsministerium und Bundesfinanzministerium zu einem Ausgleich im Herbst kommen soll – das ist ja dann eine Frage der Haushaltspolitik –: Na ja, ich höre die Kunde, aber mir fehlt an dieser Stelle, ehrlich gesagt, der Glaube.
Das Dritte ist das Thema Krankenhausfinanzierung. Der Vorschlag, den es am Anfang von Deutscher Krankenhausgesellschaft und AOK-Bundesverband gab, die DRG-Finanzierung auszusetzen, ist ja vom Minister verworfen worden. Da ist ganz offensichtlich die DRG-Finanzierung systemrelevanter gewesen als die Krankenhäuser selber.
Die eingeführte Pauschale von 560 Euro pro bereitgestelltem Intensivbett erweist sich als zu grob. Es soll jetzt eine Differenzierung kommen. Dazu ist ein Beirat gegründet worden. Ich bin mal gespannt, was dann dabei herauskommt; ich bin aber nicht sehr zuversichtlich. Am Ende entscheidet ohnehin wieder das Bundesgesundheitsministerium auf der Grundlage einer weitreichenden Verordnungsermächtigung.
Herr Kollege.
Ich komme jetzt zum Schluss.
Bitte.
Das Problem falscher Anreize in der Krankenhausfinanzierung löst sich nicht dadurch, dass man den Fallpauschalen jetzt noch eine Bettenpauschale an die Seite stellt. Wir brauchen Krankenhäuser in öffentlicher Hand, gemeinwohlorientiert finanziert.
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Herr Kollege, jetzt müssen Sie Ihre Rede wirklich beenden.
Aus den genannten Gründen werden wir dem Gesetz nicht zustimmen; wir werden ablehnen.
Danke.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Bundesminister für Gesundheit, Jens Spahn.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben gemeinsam viel erreicht. Es ist uns in der Phase Anfang/Mitte März, in der es eine sehr dynamische Entwicklung bei den Infektionszahlen gegeben hat, in der es in anderen Ländern in Europa zu einer Überforderung des Gesundheitswesens gekommen ist, in der die Frage sich stellte, ob noch alle intensivmedizinisch behandelt werden können oder nicht, gemeinsam gelungen, diese Dynamik zu brechen, die Infektionszahlen wieder in eine für das Gesundheitswesen und für uns als Gesellschaft händelbare Größenordnung zu bringen. Das macht uns demütig, nicht übermütig. Aber es macht uns auch ein Stück stolz: als Gesellschaft, als Gemeinschaft, als Nation.
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Dieses Erreichte wollen wir sichern. Wissen Sie, wenn Sie mein Wahlkreisabgeordneter wären, Herr Schlund, dann würde ich mir eigentlich angesichts dessen, was Sie hier gerade geäußert haben, Sorgen machen.
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Was passiert denn gerade in Greiz? In Greiz wird ganz gezielt dort getestet, wo es einen Ausbruch gibt, nämlich in Pflegeeinrichtungen. Das ist doch genau das, was passieren muss: dass dort, wo es zu einer Verbreitung des Virus kommt, insbesondere da, wo es etwa für Höchstbetagte, für Pflegebedürftige besonders gefährlich ist, umfassend getestet wird. Und ja, das führt dazu, dass die Zahlen vielleicht höher sind, aber das ist doch kein Vorwurf. Das ist Anlass dafür, dass wir in Greiz gemeinsam mithelfen, dieses Virus unter Kontrolle zu bringen.
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Ein Virus wie dieses bekämpft man doch nicht, indem man es leugnet. Was ist denn da die Logik? Wenn wir nicht testen, dann gibt es auch keine Viren? Wie soll denn das funktionieren?
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Deswegen machen wir genau das, was jetzt in dieser Phase notwendig ist: Wir weiten die Möglichkeit noch weiter aus, zulasten der Krankenversicherung in Pflegeeinrichtungen, in Krankenhäusern zu testen, auch mit Blick darauf, den Öffentlichen Gesundheitsdienst vor Ort zu stärken.
Wir sehen gerade in fleischverarbeitenden Betrieben, in Schlachthöfen in Coesfeld, in Steinburg, wie schnell dieses Virus sich ausbreiten kann, wenn wir es ihm zu leicht machen, weil auf zu engem Raum, ohne Abstand und ohne die notwendigen Hygieneregeln gearbeitet wird. Deswegen stärken wir mit diesem Gesetz genau diesen Öffentlichen Gesundheitsdienst vor Ort, der eben dort tätig ist und weiterhin auch tätig sein muss.
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Ich bin auch gerade etwas überrascht gewesen, Herr Dr. Schlund. Wissen Sie, ich habe Sie gestern im Gesundheitsausschuss – ich war ja zur Diskussion da – erlebt: besonnen, konstruktiv. Sie waren kritisch in der Sache, aber verbindlich im Ton.
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Kaum ist die Kamera an, kaum besteht die Chance, dass das, was Sie hier sagen, dann von Ihrer Fraktion bei Facebook gepostet wird, kaum geht es darum, anschließend das Schulterklopfen der Kollegen abzuholen, werden Sie laut und undifferenziert. Das wird doch dem Thema nicht gerecht, und das wissen Sie doch eigentlich auch.
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Ich will dabei ausdrücklich sagen, dass dies alles eine kontroverse Debatte verdient – unbedingt. Ich wäre eher beunruhigt, wenn es in unserer freiheitlichen Demokratie keine kontroverse Debatte gäbe über Verhältnismäßigkeit, darüber, dass dies natürlich die größten Einschränkungen der Freiheit der Bürgerinnen und Bürger in der Geschichte der Bundesrepublik waren, über die Frage, was wann warum entschieden worden ist. Natürlich muss es diese Debatten geben, weil nur dadurch auch Akzeptanz, Nachvollziehbarkeit und Transparenz entstehen können.
Die entscheidende Frage ist nur, wie wir diese Debatten führen. Wir haben zu Beginn dieser Pandemie ein ganz neues Wirgefühl erlebt – nach Monaten von Aggressivität und Polarisierung –, wo wir zusammengestanden haben, wo man sich unterstützt hat beim Einkaufen, wo alle gesagt haben: Wir wollen einander achten, wir wollen aufeinander achten, wir wollen uns und andere schützen. – Ich finde es sehr wichtig, dass wir diese Debatten – auch die kontroversen – so führen, dass wir dabei zusammenbleiben, dass wir den Ausgleich, die Balance suchen, dass wir sie nicht so führen, dass wir spalten und polarisieren. Denn das macht uns nicht stärker. Stärker werden wir dann, wenn wir gute Debatten führen, die am Ende zusammenführen. Das ist Ziel dieses Gesetzes, und das ist Ziel unserer Regierungspolitik.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Kirsten Kappert-Gonther, Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Methode Spahn hat wieder zugeschlagen: ambitioniert, lautstark, aber leider ohne das richtige Maß, wie Kinder, die Kochen spielen und dabei den guten Safran ebenso in der Suppe versenken wie eine im Garten gefundene Nacktschnecke. Diese Suppe müssen die Akteure des Gesundheitswesens jetzt auslöffeln.
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Es finden sich, Kollege, eine Reihe guter Zutaten in diesem zweiten Bevölkerungsschutzgesetz, die klar dem Gesundheitsschutz dienen, und das ist gut und richtig. Aber: Einige Regelungen verderben den ganzen Brei. In unserem grünen Entschließungsantrag können Sie sie nachlesen. Es ist beispielsweise nicht hinnehmbar, dass die Ermächtigung des BMG derart ausgeweitet wird und wichtige Entscheidungen an Bundestag und Bundesrat vorbei getroffen werden.
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Sie haben es ja gerade gesagt, Herr Minister, und auch ich finde, dass es richtig und wichtig ist, dass wir zusammenbleiben. Dann tun Sie es doch auch! Die pandemische Krise darf nicht zu einer Demokratiekrise werden.
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Es ist auch nicht zielführend, die Leistungen der Gesundheitsvorsorge jetzt zu reduzieren. Wenn Corona uns eines zeigt, dann, dass Gesundheit weit mehr ist als ein individuelles Geschehen, dann, dass Prävention – und das schließt klassische Gesundheitsförderung genauso ein wie weniger Feinstaub im Straßenverkehr und Naturschutz zur Vorbeugung von Zoonosen – dass diese Prävention sich auszahlt.
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Wir brauchen den finanziellen Schutzschirm für die Gesundheitsberufe. Warum aber schützen Sie nur einen Teil, und die anderen bleiben im Regen stehen? Die freiberuflichen Hebammen haben, wenn man das gesamte Leistungsspektrum von Schwangerschaftskursen bis Hausgeburten einbezieht, einen Verdienstausfall von 40 Prozent. Nehmen Sie die Hebammen, nehmen Sie die psychiatrische Pflege, die zurzeit massiv unter Druck ist, die zusätzliche Arbeit hat, aber sie wegen der Abstandsregelungen nicht so machen kann, wie es eigentlich notwendig wäre, nehmen Sie die Suchthilfe, nehmen Sie all diese Gesundheitsakteure endlich mit unter den Schutzschirm!
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Ihr Gesetz ist an mehreren Stellen nicht zu Ende gedacht. Sie hätten klarstellen müssen, dass der HIV-Status von Beschäftigten Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber rein gar nichts angeht.
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All diese Punkte wurden auch in der Anhörung von Expertinnen und Experten angesprochen. Da hätten Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, deutlicher nachbessern müssen und nicht nur halbherzig. Das, was im vorliegenden Gesetz gut und richtig ist wie die europäische Solidarität und – endlich – die Stärkung des öffentlichen Gesundheitsdienstes, bleibt auf halber Strecke stehen. Es sind einfach zu viele Kröten in der Suppe – leider.
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Darum werden wir Grüne uns enthalten. Guten Appetit!
Vielen Dank.
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Martina Stamm-Fibich, SPD, hat als Nächste das Wort.
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Verehrter Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich zum Inhaltlichen komme, möchte ich noch eine Anmerkung zum Beratungsprozess dieses Gesetzes machen. Als Mitglieder des Deutschen Bundestages sind wir in der Pflicht, alles dafür zu tun, die Bevölkerung in Krisen und Ausnahmesituationen zu schützen. Dieses Parlament hat es mit einer solchen Ausnahmesituation zu tun. Diese Pandemie ist eine Ausnahmesituation. Glauben Sie mir: Meine Fraktion und ich, wir nehmen diese Aufgabe sehr ernst.
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Es gibt aktuell viel schrille Kritik an den Maßnahmen und am Politikstil der Bundesregierung. Gleichzeitig steht der Vorwurf im Raum, dass der Deutsche Bundestag der Regierung zu viel Spielraum lässt und seine Kontrollpflichten vernachlässigt. Dazu kann ich nur sagen, dass ich diese Kritik für überzogen halte. Denn zum einen sind die Maßnahmen zeitlich klar befristet, und zum anderen hätte auch ich mir gerne mehr Zeit für die Beratung dieses vorliegenden Entwurfs genommen. Es ist aber leider so, dass diese Pandemie und die dramatischen Folgen nicht auf uns warten. In der aktuellen Situation muss man handeln.
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Viele der Änderungen, die wir heute beschließen, sind dringend notwendig und können nicht eine Sekunde aufgeschoben werden. Das sind die Tests, das sind die Regelungen für den Öffentlichen Gesundheitsdienst, und das sind die Regelungen für die Flexibilität, die wir für die Auszubildenden und Studierenden im Gesundheitswesen brauchen. Und ich bin wirklich aufgeregt; denn ich kann nicht ertragen, wie diese Rechten da drüben über diese Pandemie sprechen
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und wie sie auch die erschwerten Bedingungen, die wir alle hier im Umfeld haben, auch bei unserer Arbeit, missachten und teilweise die Regelungen, die wir in diesem Haus haben, mit Füßen treten. Das macht mich ärgerlich.
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– Sie können nach Hause gehen; es hindert Sie keiner daran.
Die Einrichtungen, die aktuell finanziell massiv von der Krise betroffen sind, müssen wir jetzt unterstützen. Die Änderungen, die wir im SGB V für unter anderem die sozialpädiatrischen Zentren, für die medizinischen Einrichtungen, für Menschen mit einer Beeinträchtigung, für Kinder und Jugendliche gerade planen, sind ganz dringend und wichtig.
Kollegin Maag, Sie haben darauf hingewiesen: Wir können die Strukturen, die wir mühsam aufgebaut haben in unserem System, nicht einfach zerstören. Deswegen müssen wir handeln. Dieses Gesetz muss sehr schnell beschlossen werden. Wir haben nicht die Zeit, wochenlang zu diskutieren. Ich finde, es muss in diesem Hohen Haus Anerkennung finden, dass man in so einer Situation so arbeitet und so schnell zu Gesetzen kommt.
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Wir haben viele Zeichen der Solidarität gesendet. Ich möchte zum Abschluss noch sagen: Dass wir hier in diesem Haus heute beschließen, dass wir die Kosten für die Behandlung von europäischen Patienten, die bei uns in Deutschland erfolgt, übernehmen werden, finde ich großartig. Ich hoffe, es findet den Anklang, den es finden muss.
Vielen Dank.
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Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Stephan Pilsinger, CDU/CSU.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am 25. März 2020 hat der Deutsche Bundestag in einem bisher beispiellosen Eilverfahren das Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite verabschiedet. Damit konnten wir rechtzeitig geeignete Maßnahmen ergreifen, um das Infektionsgeschehen unter Kontrolle zu bringen und unser Gesundheitssystem vor einer Überlastung zu schützen.
Was ich allerdings in den letzten Wochen, insbesondere am letzten Wochenende, bei den Demonstrationen vor dem Reichstag und heute auch hier im Bundestag von der AfD wahrgenommen habe, hat mich zutiefst schockiert. Da wird behauptet, die ergriffenen Schutzmaßnahmen würden gegen unsere Verfassung verstoßen und die Coronapandemie diene nur dazu, die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes ihrer Grundrechte zu berauben.
Dabei ist unser Grundgesetz durchdrungen vom Geist des Christentums und von dem Denken der Aufklärung. In seinem Urteil zum Luftsicherheitsgesetz vom Februar 2006 sagt das Bundesverfassungsgericht deutlich und unmissverständlich – ich zitiere –:
Menschliches Leben und menschliche Würde genießen ohne Rücksicht auf die Dauer der physischen Existenz des einzelnen Menschen gleichen verfassungsrechtlichen Schutz …
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Ich finde, das macht sehr deutlich, dass nicht diejenigen, die Leib und Leben schützen wollen, gegen unsere Verfassung verstoßen, sondern diejenigen, die das Leben anderer leichtfertig gefährden.
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Das Leben von chronisch kranken und älteren Menschen darf in Deutschland auch in Zukunft nicht nach seiner Nützlichkeit oder seiner möglichen Dauer bewertet werden. Es ist von seinem Beginn an bis zu seinem Ende, egal ob es noch Jahre oder Tage dauert, grundsätzlich schützenswert.
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Heute, meine Damen und Herren, entscheiden wir über das Zweite Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite. Besonders hervorheben möchte ich an dieser Stelle, dass wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf nicht nur wichtige Regelungen zur weiteren Bekämpfung der Pandemie treffen, sondern auch pflegende Angehörige gezielt unterstützen, indem wir den Zugang zum Pflegeunterstützungsgeld erleichtern und die Regelungen zur kurzfristigen, coronabedingten Arbeitsverhinderung ausweiten.
Wir wollen aber auch den Öffentlichen Gesundheitsdienst, also die Gesundheitsämter vor Ort, finanziell stärken und die Digitalisierung in diesem Bereich voranbringen. Dafür soll das im Infektionsschutzgesetz vorgesehene elektronische Melde- und Informationssystem künftig auch die bestehende Telematikinfrastruktur nutzen. So können wir Meldewege nicht nur digitaler, sondern vor allem auch schneller machen.
Durch dieses Gesetz verbessern wir den Gesundheitsschutz in Deutschland deutlich. Deshalb bitte ich um Zustimmung.
Vielen Dank.
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Damit schließe ich die Aussprache.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Unser starker Sozialstaat ist es, der uns gerade durch diese Krise trägt. Wir haben riesige Rettungsschirme für Betriebe, für Unternehmen, für Menschen, für Beschäftigte aufgelegt. Dieser Sozialstaat ist gefordert wie nie zuvor. Aber er hält dieser Belastungsprobe stand. Wenn es nicht ausreicht – das ist in diesen Zeiten fast täglich immer der Fall –, dann bessern wir nach. Wir haben das mit dem Sozialschutz-Paket I getan. Wir machen das heute mit dem Sozialschutz-Paket II. Dieses, Kolleginnen und Kollegen, ist ein bunter Strauß aus Einzelmaßnahmen. Meine Kollegin Daniela Kolbe wird in ihrer Rede auf das Bildungs- und Teilhabepaket, auf das Arbeitslosengeld, auf das Sozialdienstleister-Einsatzgesetz und auf noch mehr Themen eingehen.
Ich möchte an dieser Stelle sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wir sorgen jetzt mit diesem Paket dafür, dass die Arbeitsgerichte, die Sozialgerichte auch in der Coronapandemie arbeitsfähig bleiben, ohne die Gesundheit der Beteiligten aufs Spiel zu setzen. Wir setzen stärker auf Videokonferenzen. Wir sagen aber auch deutlich: Die mündlichen Verhandlungen müssen weiterhin möglich sein. Denn wir alle wissen doch aus unseren vielen Videokonferenzen: Das ist ein wunderbares Instrument, aber man bekommt einfach weniger mit. Man spürt die Stimmung im Raum nicht. Man sieht und versteht die nonverbalen Signale nicht so stark wie dann, wenn man sich in einer Präsenzsitzung zusammensetzt. Von daher haben wir den Weg hier gut bereitet.
Das Kernstück dieses Gesetzes ist aber die Erhöhung des Kurzarbeitergeldes. Das Kurzarbeitergeld hat uns 2008 geholfen. Das hilft uns auch jetzt in dieser Krise gewaltig.
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750 000 Unternehmen haben für über 10 Millionen Menschen Kurzarbeit angemeldet. Das ist eine Rekordzahl. Wenn wir genau heute in die USA schauen: Dort werden die Zahlen der durch die Coronapandemie Arbeitslosen veröffentlicht. Über 40 Millionen Menschen haben in den USA ihren Job verloren. Damit wir so etwas bei uns weitestgehend möglichst verhindern, ist dieses Kurzarbeitergeld ein wichtiges Instrument. Wir stärken das heute noch mal. Die Beschäftigten in den Agenturen für Arbeit managen das alles; die machen einen klasse Job. Vielen Dank an dieser Stelle allen Beschäftigten in den Agenturen für Arbeit!
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Wir wissen, dass die Luft, wenn man länger, stärker und mehr in Kurzarbeit ist, nur noch wenige Stunden beschäftigt ist, immer dünner wird. Deswegen ist es wichtig und sozial geboten, dass wir ab dem vierten Monat das Kurzarbeitergeld auf 70 bzw. auf 77 Prozent, wenn Kinder vorhanden sind, erhöhen, ab dem siebten Monat auf 80 Prozent bzw. 87 Prozent, wenn Kinder vorhanden sind. Wir haben auch geregelt, dass man mehr hinzuverdienen kann – bis zur Höhe des bisherigen Monatseinkommens –, und das nicht nur, wie es im Sozialschutz-Paket I der Fall war, in systemrelevanten Berufen. Jetzt kann in jedem Job hinzuverdient werden. Das ist wichtig; das ist notwendig. Wenn es nicht reicht, dann machen wir irgendwann ein Sozialschutz-Paket III.
Vielen Dank.
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Das Rednerpult ist gerichtet für den Kollegen Martin Sichert, AfD.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die aktuelle Wirtschaftskrise ist die größte Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Bereits im April haben mehr als die Hälfte der Betriebe in Gastronomie und Hotelgewerbe Arbeitsplätze abgebaut, 43 Prozent bei Reisebüros und immerhin 39 Prozent in der Automobilbranche. Bis auf die Arzneimittelhersteller wurden in nahezu allen Branchen bereits jetzt Arbeitsplätze abgebaut. Millionen Mitbürger werden arbeitslos. Ein Wirtschaftswunder ist nicht in Sicht;
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denn die soziale Marktwirtschaft wurde durch immer mehr Sozialismus und überbordende Bürokratie ersetzt.
In diesem Tagesordnungspunkt hier wird wunderbar deutlich, welche Rolle die verschiedenen Parteien dabei spielen. Das sind die Parteien der sozialen Ungerechtigkeit und der Umverteilung von Deutschen zu Ausländern, Linke und Grüne.
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Beide wollen Grundleistungen und Asylbewerberleistungen um 100 bzw. 200 Euro monatlich aufstocken. Damit erhalten dann Asylbewerber und Langzeitarbeitslose mehr als Arbeitnehmer mit Mindestlohn.
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Zudem soll ein Teil der Arbeitnehmer nach Vorstellung von Grünen und Linken Kurzarbeitergeld in Höhe von 100 Prozent erhalten. Damit bekämen jene, die zu Hause bleiben, mehr als jene, die arbeiten gehen und Fahrtkosten und andere Kosten haben.
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Wer fleißig ist und arbeiten geht, ist bei den Linken und den Grünen der Dumme.
Die Linken wollen obendrein noch Unternehmen ein Jahr nach der Kurzarbeit betriebsbedingte Kündigungen verbieten. Da kaum ein Unternehmen für die Zeit nach der Krise verlässlich planen kann, würden dann statt Kurzarbeit massenhaft Kündigungen erfolgen. Die Linke etabliert so „hire and fire“ durch die Hintertür in Deutschland; Karl Marx rotiert im Grab.
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Union und SPD agieren planlos und werfen mit Steuergeld um sich. Obwohl die Regierung sich schon seit 2012 auf eine Coronapandemie vorbereiten konnte, werden jetzt lauter Gesetze mit heißer Nadel gestrickt. Man hat das Gefühl, die Regierung testet der Reihe nach die Beschränkung aller Grundrechte, und wo der Widerstand zu groß wird, da wird eilig zurückgerudert: Minister Spahn musste den Immunitätsausweis zurückziehen, und aus dem hier vorliegenden Gesetzentwurf musste unter anderem eine vorgesehene Einschränkung der Öffentlichkeit bei Gerichtsverfahren gestrichen werden.
Mein Dank geht an dieser Stelle ausdrücklich an all die Bürger, die sich für die Wahrung der Grundrechte einsetzen und friedlich auf der Straße sowie durch Schreiben an die Abgeordneten Druck erzeugen, um Grundrechtsverletzungen zu verhindern.
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Ihr, liebe aufrechte Demokraten, seid die Helden dieser Stunde. Wehrt euch weiterhin gegen jede willkürliche Beschränkung der Grundrechte, und macht den Vertretern der Regierung, die ein Grundrecht nach dem anderen angreifen, gehörig Dampf! Wir von der AfD werden weiter als parlamentarische Vertreter der demokratischen, rechtsstaatlichen und freiheitlichen Kräfte in Deutschland
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schonungslos jeden Angriff auf Grundrechte aufklären und anprangern.
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Mittels Erhöhungen von Sozialleistungen und Sonderprämien für einzelne Berufsgruppen geben Union und SPD immer mehr Geld aus, obwohl völlig unklar ist, wie das alles finanziert werden soll. Deutschland ist bereits jetzt weltweiter Spitzenreiter bei der Steuer- und Abgabenlast. Was Deutschland braucht, um nach der Krise wieder auf die Beine zu kommen, ist eine funktionierende soziale Marktwirtschaft wie zur Zeit Ludwig Erhards. Dafür müssten Steuern gesenkt, der Ökowahn beendet und zahllose bürokratische Vorschriften beerdigt werden. Dazu müsste die Regierung ab sofort aufhören, mit dem Füllhorn durchs Land zu rennen und jede Lobbygruppe zu bedienen, sondern endlich anfangen, vernünftig zu planen.
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Meine Damen und Herren, die aktuelle Wirtschaftskrise ist die größte Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Es ist höchste Zeit, weg von immer mehr Umverteilung hin zu einer funktionierenden sozialen Marktwirtschaft zu kommen.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Peter Weiß, CDU/CSU.
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Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger! Die Coronakrise fordert uns alle über die Maßen, und sie fordert vor allen Dingen unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger, die auch mit vielen Sorgen ihrem derzeitigen Alltag entgegensehen. Darauf geben wir heute Morgen als Parlament eine Antwort.
Mit dem gerade beratenen zweiten Pandemieschutzgesetz und dem jetzt zu Diskussion und Abstimmung stehenden Sozialschutz-Paket II machen wir klar: Wir errichten in dieser Krise für unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger einen sozialen Schutzschirm, so stark, wie es noch nie einen in Deutschland gab. Das ist eine tolle Leistung unseres Landes, unserer Sozialversicherungen und der Solidarität der Bürgerinnen und Bürger untereinander. Darum geht es.
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Wer in diesem Zusammenhang über soziale Marktwirtschaft sprechen will, der sollte auch etwas vom Thema Soziales in der sozialen Marktwirtschaft verstehen; denn das machen wir heute.
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Wir erhöhen das Kurzarbeitergeld, ein bewährtes und gutes Krisenbekämpfungsinstrument, das wir kennen. Wir verlängern das Arbeitslosengeld I, weil wir zurzeit auch keine Vermittlungen in großem Umfang vornehmen können.
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Wir haben schon den Zugang zum Arbeitslosengeld II vereinfacht. Wir vereinfachen und ermöglichen denen, die Kurzarbeit haben, dass sie in den Bereichen hinzuverdienen können, in denen ihre Arbeitskraft dringend benötigt wird.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir können das deswegen machen, weil wir in den letzten zehn Jahren in unserem Land gut gewirtschaftet haben, weil wir bei der Bundesagentur für Arbeit eine Rücklage von 26 Milliarden Euro aufgebaut haben, die wir jetzt zur Krisenbekämpfung einsetzen.
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Ich will aber auch gerne sagen: Die derzeitigen Perspektiven sind so, dass wir diese Rücklage wahrscheinlich gegen Ende des Jahres aufgebraucht haben werden und nach den derzeitigen Berechnungen der Bundesagentur für Arbeit bei einem zusätzlichen Mittelbedarf von rund 5 Milliarden Euro landen werden. Aber, meine sehr geehrten Damen und Herren, das Geld, das wir in die Kurzarbeit geben, ist gut investiertes Geld; denn die Kurzarbeit ist die Basis dafür, dass man mit seiner Stammbelegschaft anschließend wieder schnell aus der Krise herauskommen kann. Das ist unsere Zuversicht.
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Ein Zweites ist: Für alle Menschen, die der Hilfe, der Unterstützung, der Beratung und der Begleitung bedürfen, ist es wichtig, dass wir die ausgefächerte soziale Infrastruktur in unserem Land erhalten. Deswegen haben wir etwas vollkommen Neues erfunden, was es bisher nicht gab, nämlich das Sozialdienstleister-Einsatzgesetz. Wir verbessern mit dem Sozialschutz-Paket II noch einmal dieses neue Gesetz, damit möglichst alle Dienste und Einrichtungen, die wir auch in Zukunft brauchen, zum Beispiel für Menschen mit Behinderungen, für Langzeitarbeitslose, für die Beratung von jungen Leuten, Familien sowie Seniorinnen und Senioren, für Weiterbildung und Fortbildung, jetzt in der Krise nicht in die Knie gehen, sondern wir sie erhalten und sie auch in Zukunft leistungsfähig sind.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, es gibt verschiedene Anträge der Opposition. Wenn ich sie durchlese, habe ich den Eindruck: Es ist irgendwie ein Rückschritt ins Mittelalter: Geldverteilen als Hilfe in der Krise. Ja, Almosen verteilen, das war Sozialpolitik des Mittelalters, sofern man das „Sozialpolitik“ nennen kann. Eine moderne Sozialpolitik ist zuerst einmal, soziale Infrastruktur zu schaffen, zu erhalten, zu bewahren und auszubauen. Mit unserem Sozialdienstleister-Einsatzgesetz machen wir eines: Wir stärken und unterstützen die soziale Infrastruktur in unserem Land; moderne Sozialpolitik für die Zukunft.
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Herr Kollege Weiß, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus den Reihen von Bündnis 90/Die Grünen?
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Gerne.
Herr Kollege Weiß, vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Sie haben eben die Anträge der Opposition kritisiert. Da gibt es unter anderem zwei, drei Anträge von uns, von Bündnis 90/Die Grünen. Wir machen in diesen Anträgen halt Lücken deutlich, die es in dem Sozialschutz-Paket gibt. Beim Kurzarbeitergeld ist es so, dass Ihre Regelung bei denen, die es am meisten nötig haben, bei denen mit geringem Einkommen, gar nicht ausreicht. Da reichen auch 70 oder 80 Prozent nicht aus. In mittleren Einkommen kommt die Unterstützung zu spät. Die haben trotzdem ein Kurzarbeitergeld, das unter dem Existenzminimum liegt. Da setzt unser Antrag an, wo wir vorschlagen, zielgenau untere und mittlere Einkommen zu unterstützen und nicht flächendeckend überall auf 70 oder 80 Prozent zu erhöhen. Das ist der erste Punkt.
Der zweite Punkt, auf den wir aufmerksam machen: Eine Gruppe, die besonders vulnerabel ist, sind die Obdachlosen. Auch da muss die Bundesregierung endlich einmal Verantwortung übernehmen und dafür sorgen, dass die Obdachlosen in diesem Land besser geschützt sind.
Es ist jetzt also nicht so, dass wir sagen: „Der Weltuntergang findet statt; wir wollen nur mehr, mehr, mehr“, sondern wir machen gezielt darauf aufmerksam, wo man punktgenau etwas besser machen kann. Das ist der Sinn unserer Anträge.
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Verehrter Herr Kollege Strengmann-Kuhn, ja, in der Tat sind Menschen, die gar keinen Anspruch auf Leistungen aus der Sozialversicherung haben und die deswegen überhaupt kein Kurzarbeitergeld bekommen können, zum Beispiel die Selbstständigen, oder Menschen, die schon bisher ein sehr geringes Einkommen hatten, bei einem Kurzarbeitergeld in Höhe von 60 Prozent eventuell in einer Situation, in der sie auf zusätzliche staatliche Unterstützung angewiesen sind.
Genau deswegen haben wir etwas Außergewöhnliches gemacht: Wir haben den Zugang zum Arbeitslosengeld II in der Form erleichtert, dass weder nach der Wohnsituation noch nach eventuell vorhandenem Vermögen gefragt wird. Das ist eine große Veränderung jetzt in der Krisenzeit, um Menschen, die darauf angewiesen sind, einen schnellen und einfachen Zugang zum Arbeitslosengeld II zu gewähren. Ich finde, das ist eine großartige Leistung unseres Sozialstaates, und ich wundere mich, dass Sie die so infrage stellen, indem Sie thematisieren, was Sie jetzt gerade thematisieren. Unsere Antwort ist ein einfacherer und schnellerer Zugang zu Arbeitslosengeld II.
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Weil Sie Obdachlose als eine besonders betroffene Gruppe ansprechen: Mit der Änderung des Sozialdienstleister-Einsatzgesetzes schaffen wir ja gerade eine Regelung, damit all die Einrichtungen, die Obdachlosen – oder Wohnungslosen, wie man heute sagt – mit ihren Angeboten helfen und unterstützen, nicht zusammenbrechen, sondern ihre Angebote für die Zukunft aufrechterhalten können. Das ist doch das Wichtigste. Wir erhalten die soziale Infrastruktur mit den Leistungen, die wir ins Gesetz schreiben, und wir machen das sehr intelligent, wie ich finde, nämlich indem wir sagen: Zuallererst sollen diese Einrichtungen und Dienste schauen: Was können wir mit unseren Leuten, mit unseren Kapazitäten, mit unseren Kompetenzen zur Bekämpfung der Coronakrise beitragen? – Wir aktivieren also zunächst diese Einrichtungen, und erst als Zweites können sie Leistungen nach dem Sozialdienstleister-Einsatzgesetz in Anspruch nehmen.
Wir machen noch etwas Zusätzliches: Beide Koalitionsfraktionen haben die Bundesregierung aufgefordert, gerade auch für die gemeinnützigen Träger von Diensten und Einrichtungen die Möglichkeit zu schaffen, staatsverbürgte Kredite in Anspruch zu nehmen. Ich möchte mich bei den beteiligten Bundesministerien herzlich bedanken, dass sie sehr konstruktiv an diesem Thema arbeiten und wir vielleicht schon nächste Woche ein gutes Ergebnis dazu bekommen werden. Vielen Dank an die beteiligten Bundesministerien!
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Weil ich gerade über Gruppen spreche, die es besonders nötig haben: Mit der Änderung des Sozialdienstleister-Einsatzgesetzes sichern wir auch die Frühförderung von Kindern mit Behinderungen zusätzlich ab. Das ist ein gutes Beispiel dafür, wie wir das Sozialdienstleister-Einsatzgesetz in seiner Wirkung ausweiten. Oder – ein anderes Beispiel –: Wir ermöglichen den Einrichtungen, über einen erweiterten Datenaustausch Hilfe besser zu gewähren. Auch das ist ein wichtiger Punkt, den wir in diesem Gesetz neu regeln.
Herr Kollege Weiß, bedenken Sie, dass Ihre Redezeit abgelaufen ist.
Ich wollte gerade zu meinem fulminanten Schlusssatz ansetzen, Herr Präsident.
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Dann tun Sie es – wenn es ein Satz ist.
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Also, liebe Kolleginnen und Kollegen: Das Sozialschutz-Paket II ist etwas, dem Sie zustimmen sollten. Denn es bedeutet konkret: Wir lassen die Menschen in der Coronakrise nicht allein. Wir schaffen Sicherheit und Solidarität. Das ist unser Auftrag.
Vielen Dank.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, eigentlich geht jetzt die Zeit für die namentliche Abstimmung zu Ende. Aber da ich informiert worden bin, dass es doch noch eine Reihe von Kollegen gibt, die auf dem Weg zu den Urnen sind, schlage ich vor bzw. entscheide ich, dass wir die Zeit für die namentliche Abstimmung um zehn Minuten verlängern, sodass noch bis 10.25 Uhr Stimmkarten eingeworfen werden können.
Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Johannes Vogel, FDP.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In Krisenzeiten muss man zusammenhalten. Deshalb ist es gut, dass die weit überwiegende Zahl der Hilfsmaßnahmen in den letzten Wochen hier in großer Einigkeit verabschiedet wurde. In Krisenzeiten muss man aber auch seine finanziellen Mittel zusammenhalten, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition. Deshalb haben wir schon in der letzten Sitzungswoche gesagt: Eine pauschale Erhöhung des Kurzarbeitergelds würde nur dazu führen, dass die finanziellen Mittel der Bundesagentur für Arbeit schmelzen wie Schnee in der Sonne, und das wäre der falsche Weg, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Deshalb ist es richtig, dass Sie hier entgegen den ursprünglichen Plänen des Bundesarbeitsministers keine pauschale, sondern – auch auf unsere Anregung hin – eine differenzierte Erhöhung des Kurzarbeitergeldes vornehmen. Denn ich habe in der letzten Sitzungswoche ebenfalls gesagt: Mit Blick auf die besondere Natur dieser Krise gezielt da zu helfen, wo 100 Prozent Kurzarbeit und niedrige Löhne zusammenkommen, das ist unser aller Verantwortung in dieser Krise, und das ist der richtige Weg, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Man muss aber auch sagen: Dann differenzieren Sie doch bitte wirklich zielgenau. Sie nehmen hier eine Differenzierung nach der Bezugsdauer des Kurzarbeitergeldes vor, anstatt darauf zu schauen, wo die Menschen wenig Geld haben. In der Anhörung am Montag hat uns die Bundesagentur für Arbeit klar gesagt, man schaue sich sowieso jeden einzelnen Fall an; man müsse sowieso auf die Einkommensdaten jedes einzelnen und jeder einzelnen Betroffenen schauen. Es gibt also keinen Grund, dass Sie hier ohne jede Begründung nur die zweitbeste Lösung wählen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition. Das macht keinen Sinn, und deshalb werden wir uns bei der Abstimmung über diesen Gesetzentwurf enthalten.
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Langsam wirklich skandalös ist allerdings, was diese Regierung weiterhin gar nicht tut, nämlich für faire Gleichbehandlung von Freelancern und Selbstständigen zu sorgen. Das geht langsam wirklich so nicht mehr weiter.
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Um das klar zu sagen, damit keine Missverständnisse entstehen: Es ist völlig richtig, dass nach den üblichen Regeln der Sozialversicherung natürlich auch nur denen Leistungen zur Verfügung stehen, die in die Sozialversicherung einzahlen. Das tun Selbstständige nicht. Aber es geht hier eben nicht um die üblichen Regeln, sondern Sie von der Koalition ändern aus guten Gründen die Regeln der Sozialversicherung in dieser Krise mit der folgenden wörtlichen Begründung: „um den Bezug von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende zu vermeiden“, also im Klartext, damit der Weg zum Jobcenter in dieser Krise vermieden wird. Gleichzeitig stellen Sie sich aber hin und sagen den Freelancern und Selbstständigen in diesem Land: Wenn sie zu wenig Geld zum Leben haben, dann sollen sie aufs Jobcenter gehen. – Das ist eine skandalöse Ungleichbehandlung, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition. Das muss sich ändern; das kann so nicht bleiben.
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Seit Wochen rennen alle Landesregierungen – alle Landesregierungen! – der Bundesregierung die Tür ein und sagen: Lasst doch bitte zu, dass das Hilfspaket für Freelancer und Selbstständige auch für die Deckung der Ausgaben zum Lebensunterhalt verwendet wird. – Denn es ist eben das Wesen moderner Selbstständigkeit, dass heutzutage nicht mehr alle Selbstständigen Miete für ein Ladenlokal aufbringen müssen,
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sondern ihre Betriebskosten sie selbst sind, das, was sie im Kopf haben, ihre Lebenshaltungskosten. Sich hier stur zu stellen und Selbstständige als Erwerbstätige zweiter Klasse zu behandeln, geht so nicht weiter, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition.
Ein letzter Satz dazu. Lieber Hubertus Heil, am 22. April habe ich dich ganz persönlich bzw. Sie, Herr Arbeitsminister, im Ausschuss für Arbeit und Soziales auf diese Ungleichbehandlung angesprochen. Ihre Antwort war: Ja, ich werde darüber das Gespräch mit dem Bundesminister für Wirtschaft und dem Bundesminister für Finanzen suchen. – Auf eine Antwort warten wir jetzt seit über drei Wochen. Langsam tickt aber die Uhr, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wenn wir keine Pleitewelle von selbstständigen Existenzen in diesem Land hinnehmen wollen – das sind Menschen, die wir für Innovation und Gründergeist in diesem Land dringend brauchen –, dann wird es Zeit, dass die Bundesregierung ihre Haltung hier anpasst –
Herr Kollege Vogel.
– und Selbstständige endlich nicht länger als Erwerbstätige zweiter Klasse behandelt.
Vielen Dank.
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Die Uhr hat wirklich getickt. – Katja Kipping, Die Linke, ist die nächste Rednerin.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Armutspolitisch ist dieser Gesetzentwurf der Regierungsfraktionen eine Enttäuschung. – Dieser Einschätzung des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes kann ich mich voll und ganz anschließen. Die Coronakrise hat auch die Alltagskosten für die Ärmsten erhöht; ein breites Bündnis von Sozialverbänden fordert deswegen einen Zuschlag auf die Sozialleistungen. Doch CDU/CSU und SPD versäumen es erneut, etwas für die Ärmsten in diesem Land zu tun. Das ist beschämend.
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Höhere Sozialleistungen wären auch ein Impuls für die Binnenkaufkraft.
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Wir wissen doch: Wenn Menschen mit mittleren und niedrigen Einkommen mehr Geld haben, fließt das direkt in den Konsum und kurbelt so die Wirtschaft an. Diesen Impuls für die Kaufkraft könnten die krisengebeutelten Händler gerade wirklich gut gebrauchen. Doch diese Regierung verweigert sich sogar ökonomischen Argumenten. Hauptsache, die Hartz-IV-Betroffenen bekommen keinen Euro mehr aufs Konto. Das muss sich ändern, und dafür brauchen wir andere Mehrheiten.
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Wir als Linke fordern in unserem Antrag auch, dass die Kommunen vom Bund unterstützt werden müssen, damit sie den Wohnungslosen besser helfen können. Es ist doch offensichtlich: Wo viele Menschen auf engem Raum zusammen untergebracht sind, steigt die Infektionsgefahr. Das betrifft Flüchtlingsunterkünfte genauso wie Notunterkünfte für Wohnungslose. Die gute Nachricht ist: Es gibt gerade genügend leerstehende Jugendherbergen, Ferienwohnungen. Die könnten die Kommunen anmieten, um diese Sammelunterkünfte durch eine dezentrale Unterbringung zu ersetzen. Sie bräuchten nur finanzielle Unterstützung.
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Das ist nicht nur ein Gebot der Menschlichkeit; das ist auch im Sinne des Infektionsschutzes. Indem wir den Wohnungslosen helfen, helfen wir uns allen.
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Die Regierung plant, das Kurzarbeitergeld zu erhöhen; das geht in die richtige Richtung. Leider hat die Union der SPD einen Kompromiss abgerungen: eine bürokratische Staffelung, die den Prüfaufwand bei der Bundesagentur enorm erhöht. Wenn die CDU/CSU soziale Verbesserungen blockiert, dann kommt halt Murks heraus. Wir als Linke beantragen heute, das Kurzarbeitergeld bei 90 Prozent und für Niedrigverdienende bei 100 Prozent anzusetzen.
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Immerhin: Einige Vorschläge aus der Gesellschaft wurden aufgegriffen. Es lohnt sich also, Druck zu machen. Lasst uns das nicht vergessen; denn uns stehen knallharte Verteilungskämpfe bevor, und zwar um die Kosten der Krise. Ich meine, die Kosten der Krise dürfen weder auf denen abgeladen werden, die mit ihrer Arbeit gerade den Laden am Laufen halten, noch auf den Ärmsten.
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Für diese Verteilungskämpfe sollten sich alle sozialen Akteure couragiert aufstellen und Allianzen des Gemeinsamen bilden.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Sven Lehmann, Bündnis 90/Die Grünen.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Coronakrise trifft uns in der Tat alle; aber sie trifft uns eben nicht alle gleich hart. Menschen, die schon vor der Krise arm waren, drohen jetzt noch weiter abgehängt zu werden. Damit das nicht passiert, muss deutlich mehr kommen als das Gesetz, das heute hier vorliegt, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Ja, einige Regelungen im Sozialschutz-Paket II sind richtig. Das Gesetz weist aber wieder eine klaffende Leerstelle auf, und das ist die Sicherheit und der Schutz für Menschen mit wenig Einkommen. Diese Leerstelle können wir uns in dieser Krise nicht erlauben.
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Es ist gut, dass Sie beim Kurzarbeitergeld nachlegen, ja. Aber – Kollege Strengmann-Kuhn hat es gesagt –: Die zeitlich gestaffelte Anhebung kommt für viele Beschäftigte zu spät, und für Geringverdienende reichen 80 Prozent eben nicht aus. – Deswegen stellen wir Grüne heute unser Modell zur Abstimmung: das Kurzarbeitergeld Plus, eine zielgenaue Absicherung für untere und mittlere Einkommen, und zwar sofort, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Auch ist richtig, dass Sie bei den sozialen Diensten nachbessern. Aber auch hier muss mehr kommen. Die Menschen in der sozialen Arbeit leisten Großartiges; sie sind systemrelevant für unseren Sozialstaat. Deswegen muss diese Arbeit unbedingt und dauerhaft gesichert werden, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Eine riesige Scheinlösung in dem Gesetz ist aber die Lieferung von Mittagessen an Kinder in Armut. Ich frage mich wirklich: Warum belasten Sie gerade jetzt zusätzlich die Kommunen und die Verwaltung mit der Organisation von Lieferdiensten vor Ort? Ich finde, über dieser Regelung liegt ein Hauch von Misstrauen, und zwar Misstrauen, dass arme Familien nicht selber gut für ihre Kinder sorgen können, und das ist erwiesenermaßen falsch, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Es geht einfacher, es geht besser, es geht würdevoller. Zahlen wir einen Krisenaufschlag auf die Grundsicherung! Unser Antrag dazu steht heute zur Abstimmung: 60 Euro pro Monat mehr für Kinder, 100 Euro für Erwachsene. – Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist ja wohl das Mindeste.
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Denn Armut verschärft sich gerade. Lebensmittel werden teurer, vor allem frische Lebensmittel; das ist erwiesen. Viele Hilfsangebote fallen aus. Es fallen Zusatzkosten an für Masken, für Desinfektionsmittel. Wenn dieser Bundestag es schafft, milliardenschwere Hilfen aufzulegen und weitere Hilfen für Lufthansa, für die Autoindustrie zu diskutieren, wie will man einer armen Rentnerin erklären, dass für sie aber keine 100 Euro im Monat drin sind? Ich finde, das können wir nicht erklären. Diesen Aufschlag müssen wir hier und heute beschließen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Wenn Sie nicht auf die Grünen hören wollen, dann hören Sie bitte auf den DGB,
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auf den Paritätischen, auf die Diakonie, auf die AWO, auf den Kinderschutzbund, auf ein ganz breites Bündnis in der Gesellschaft, das sagt: Die Ärmsten dürfen in dieser Krise nicht noch ärmer werden. – Ich finde, sie haben recht.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zurück zum Tagesordnungspunkt 8 a. Die Zeit für die namentliche Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist jetzt abgelaufen. Ich frage, ob noch ein Mitglied des Hauses anwesend ist, das seine Stimme nicht abgegeben hat? – Das ist offenbar nicht der Fall. Damit schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen nach Tagesordnungspunkt 10 bekannt gegeben.
Dann erteile ich das Wort in der Aussprache zu Tagesordnungspunkt 9 der Kollegin Daniela Kolbe, SPD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Ja, das Sozialschutz-Paket II wirkt fast ein bisschen klein neben dem Sozialschutz-Paket I. Das liegt aber nicht am Sozialschutz-Paket II, sondern an der schieren Größe der Maßnahmen, die wir im Sozialschutz-Paket I vorgenommen haben.
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Ich sage Ihnen ganz klar: Das Sozialschutz-Paket II wirkt dort, wo die Hilfe gerade am nötigsten gebraucht wird: bei denjenigen, die lange in Kurzarbeit sind und bei denen die Lohneinbußen drücken, bei denjenigen, die im Bezug von Arbeitslosengeld sind und die jetzt Sorgen haben, dass sie keinen Job finden und deswegen zum Beispiel in Hartz IV abrutschen. Und es hilft eben auch bei den Familien, die im Bezug von SGB-II-Leistungen, Kinderzuschlag, Wohngeld und Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz sind, die gerade kein kostenloses warmes Mittagessen für ihre Kinder bekommen, weil die Kitas und Schulen geschlossen sind. Ich sage Ihnen ganz klar: Bei diesen Familien wollen wir kein Geld sparen, weil das Geld nicht abfließt.
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Deswegen haben wir eine ganz pragmatische, weitgehende und flexible Lösung gefunden, mit der die Kosten auch zukünftig übernommen werden, wenn das Essen ausgeliefert oder abgeholt wird. Es werden alle zusätzlichen Kosten erstattet, auch die der Lieferung. Ich appelliere an die Kommunen: Machen Sie was daraus! Machen Sie wirklich was aus den Möglichkeiten, die sich hier bieten. Machen Sie lebenspraktische Lösungen, damit die Familien in dieser schwierigen Zeit die Unterstützung bekommen, die sie brauchen.
Natürlich braucht es da noch mehr. Der Koalitionsausschuss hat 500 Millionen Euro für mobile Endgeräte beschlossen. Ich sage Ihnen: Das muss jetzt langsam in die Puschen kommen,
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damit die betroffenen Familien das Geld auch bekommen und die Teilhabe im Bildungssystem ermöglicht wird. Weitere Maßnahmen kann man aus meiner Sicht gerne diskutieren, auch weil sie volkswirtschaftlich sinnvoll sind. Aber wir machen hier einen ersten guten Schritt.
Das Arbeitslosengeld I ist mir noch ein bisschen zu kurz gekommen; deswegen will ich es erwähnen. Drei Monate länger bekommen diejenigen Arbeitslosengeld I, bei denen der Anspruch zwischen Mai und Dezember jetzt ausläuft.
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Das entspannt sehr viele Menschen in einer extrem angespannten Situation.
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Das ist das Gesetz Numero zwei. Ich gehe davon aus, dass es womöglich ein Gesetz Numero drei geben muss. Ich sage Ihnen zu, dass wir von der Sozialdemokratie – ich denke, auch der zuständige Minister Hubertus Heil – gemeinsam in der Koalition alles in unserer Macht Stehende dafür tun werden, dass es im Zweifel auch ein gutes Gesetz Numero drei geben wird.
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Zum Schluss noch eine persönliche Bemerkung. Ich persönlich empfand die Situation bei der Abstimmung eben als geradezu beklemmend.
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Ich möchte an uns alle appellieren, dass wir aus gesundheitlichen Gründen und weil wir ein Vorbild sein wollen für die Menschen in diesem Land, auch in schwierigen Situationen versuchen, das Abstandsgebot einzuhalten.
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Wenn ich den Wunsch äußern darf, dann würde ich darum bitten, dass noch einmal geprüft wird, ob das Prozedere nicht dahin gehend geändert werden kann, dass es uns allen ein bisschen leichter gemacht wird, die Abstandsregeln einzuhalten. Immerhin haben wir heute noch einige Abstimmungen vor uns.
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Ich finde, von uns muss das Signal ausgehen: Wir wollen diese Pandemie eindämmen, und wir tun unseren Teil dazu.
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Der Präsident ist zu großer Zurückhaltung bei der Kommentierung von Redebeiträgen verpflichtet; aber diesen letzten Appell möchte ich ausdrücklich unterstreichen. Es liegt heute ein ziemlich anspruchsvolles Verfahren mit mehreren namentlichen Abstimmungen und unterschiedlichen Beratungen zu unterschiedlichen Tagesordnungspunkten vor uns. Ich darf wirklich an alle noch einmal appellieren: Hören Sie auf das, was der jeweils sitzungsleitende Präsident sagt. Halten Sie sich daran, und halten Sie sich an das Abstandsgebot.
Jetzt hat als voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte zu Tagesordnungspunkt 9 der Kollege Stephan Stracke, CDU/CSU, das Wort.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Coronakrise hat weltweit massive Auswirkungen. Um die wirtschaftlichen Folgen so gering wie möglich zu halten, haben wir in den letzten Wochen – sowohl im Umfang als auch bei der Geschwindigkeit der Umsetzung – mit einem beispiellosen Schutzschirm von deutlich über 1 Billion Euro dagegengehalten. Auch mit dem vorliegenden Gesetzespaket wollen wir nicht spalten, sondern zusammenführen. Das ist das Ziel dieses Paketes: Wir wollen die Substanz unserer Wirtschaft erhalten und unsere Unternehmen, unsere Beschäftigten sicher durch die Krise führen. Mit dem Kurzarbeitergeld haben wir eine starke und stabile Brücke, um Arbeitsplätze zu sichern und Betriebe zu entlasten. Mit dem Kurzarbeitergeld versuchen wir, Millionen von Arbeitsplätzen zu retten; dabei greifen wir den Betroffenen finanziell unter die Arme.
Deutschland – das zeigt sich auch bei diesem Sozialpaket wieder – hat einen starken und leistungsfähigen Sozialstaat. In den letzten Wochen haben wir das Kurzarbeitergeld deutlich ausgebaut. Ich denke beispielsweise an die Verlängerung der Bezugsdauer, die Erstattung von Sozialbeiträgen für die Arbeitgeber; das hilft, Liquidität zu sichern. Wir haben die Zuverdienstmöglichkeiten schrittweise ausgebaut und verbessert und auch Anreize gesetzt, um Zeiten der Kurzarbeit für Qualifizierung zu verwenden.
Mit dem heutigen Gesetz stocken wir das Kurzarbeitergeld weiter auf. Ich bin froh darüber, dass wir in der Koalition eine vernünftige Verständigung gefunden haben. Wir konzentrieren uns dabei auf die Menschen, die lange in Kurzarbeit sind und ihre Arbeitszeit um mindestens 50 Prozent reduzieren; das ist richtig so. Gerade in den Dienstleistungsbereichen erleben wir, dass die Betriebe sehr stark herunterfahren mussten; der Entgeltausfall der Betroffenen ist deutlich höher als beispielsweise in der Finanzkrise vor zehn Jahren. Der Verlust der Einkommen wirkt umso stärker, je länger man in Kurzarbeit ist. Deshalb haben wir uns auf eine gestaffelte Erhöhung des Kurzarbeitergeldes verständigt; mit anderen Worten: Wir wollen gezielt den Beschäftigten helfen, die besonders stark und besonders lange von Kurzarbeit betroffen sind.
Jetzt gibt es eine Reihe von Anträgen, wie beispielsweise die der Linken, die pauschal eine hohe Anhebung des Kurzarbeitergeldes fordern. Das ist allerdings sehr kostenträchtig, und es gefährdet im Übrigen auch die innerbetriebliche Balance, wenn die Beschäftigten in einem Betrieb bei Nichtarbeit nahezu so gut gestellt sind wie die Beschäftigten, die regulär arbeiten. Wer arbeitet, darf sicherlich auch nicht der Dumme sein; deswegen gilt für uns hier das Lohnabstandsgebot.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, eine Konzentration auf Geringverdiener, so wie es die Grünen fordern, mag politisch verlockend klingen. Wir nehmen mit unserer stufenweisen Erhöhung natürlich auch die Geringverdiener in den Blick. Sie hat gerade den Zweck, diejenigen zu unterstützen, die einen hohen Arbeitsausfall haben, und nutzt natürlich auch den Geringverdienern. Bei einem Ausfall von beispielsweise 50 Prozent – das ist im Schnitt deutlich mehr als in der Finanzkrise 2008 und 2009 – erhält ein Beschäftigter mit Mindestlohn in den ersten drei Monaten über 83 Prozent seines Nettoeinkommens und ab dem siebten Monat sogar fast 94 Prozent. Ich kann hier keine soziale Schieflage erkennen, zumal es auch noch die Möglichkeit gibt, anrechnungsfrei hinzuzuverdienen.
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Kurzarbeit ist immer eine Versicherungsleistung. Aufgabe des Kurzarbeitergeldes ist, den vorübergehenden Verlust des Erwerbseinkommens abzusichern. Kurzarbeit kennt keine Bedürftigkeitsprüfung, setzt keine voraus und dient auch gerade nicht der Armutsvermeidung. Deshalb halte ich es schon für problematisch, die Höhe des Kurzarbeitergeldes von der Höhe des Verdienstes abhängig machen zu wollen. Das tun wir beim Arbeitslosengeld im Übrigen auch nicht. Eine solche Differenzierung wäre auch fragwürdig wegen der Beitragsbezogenheit der Arbeitslosenversicherung. Dann müsste man sich konsequenterweise Steuermittel bedienen, wenn man eine solche Idee wie die der Grünen umsetzen möchte.
In Notlagen greift die zielgenaue und wirkungsvolle Grundsicherung, die wir gerade in Krisenzeiten nochmals besser aufgestellt haben: Die Angemessenheit der Wohnung – es wurde bereits darauf hingewiesen – wird nicht geprüft; es gibt auch keine Vermögensprüfung. Es gibt überhaupt keinen Anlass, dieses gute Instrument hier in irgendeiner Weise zu diskreditieren. Natürlich sehen wir den Verwaltungsaufwand – das wurde auch in der Sachverständigenanhörung deutlich –; aber letztlich geht es darum, mehr Aufwand und beherrschbare Ausgaben zu haben und nicht weniger Aufwand und immense Mehrkosten.
Es ist ein insgesamt abgewogenes Sozialpaket. Ich bitte um Zustimmung.
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Damit schließe ich die Aussprache.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte ... Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten ... gemeinsam ...
Es ist kein Zufall, dass diese Zeilen am Beginn des Vertrages über die Europäische Union stehen, letztlich deshalb, weil sie den Kern des vereinten Europas ausmachen. Deshalb reicht es nicht, sich nur rhetorisch zu diesen Werten zu bekennen. Diese Werte müssen gelebt werden; sie müssen täglich angewendet werden. Dort, wo das nicht der Fall ist, muss dem in aller Form widersprochen werden.
Leider erleben wir weltweit, aber eben auch in Teilen Europas das, was der „Economist“ treffend als die „Pandemie der Machtergreifung“ bezeichnet hat. Alle Maßnahmen zur Bewältigung der Covid-Pandemie müssen rechtsstaatlich sein, das heißt: geeignet, verhältnismäßig und vorübergehend. Wer dagegen die Pandemie als Deckmantel nutzt, um rechtsstaatliche Prinzipien dauerhaft auszuhebeln, sollte damit nicht ungeschoren davonkommen.
Widerspruch, meine sehr verehrten Damen und Herren, verdienen auch die, die zurzeit versuchen, ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das ausdrücklich den Vorrang europäischen Rechts vor nationalem Recht anerkannt hat, für ihre Zwecke zu missbrauchen. Deshalb sage ich es noch einmal ganz deutlich: Das Bundesverfassungsgericht hat den Vorrang europäischen Rechts nicht in Abrede gestellt, sondern den Grundsatz bestätigt. Auch den Vorwurf der Kläger, die Ankaufprogramme der EZB in der Finanzkrise seien monetäre Staatsfinanzierungen gewesen, hat das Bundesverfassungsgericht klar widerlegt.
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Damit stärkt es die EZB in der Coronakrise sogar. Alle anderen Interpretationen führen in die Irre.
Meine Damen und Herren, eine Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit kann und wird die Europäische Union nicht zulassen. Defizite, die es unbestreitbar gibt, werden auch eine der Prioritäten in unserer Ratspräsidentschaft sein, die in wenigen Wochen beginnt. Wir werden die Kommission und das Europäische Parlament in den Artikel-7-Verfahren unterstützen, die sie mit Blick auf Polen und Ungarn eingeleitet haben. Auch Vertragsverletzungsverfahren dürfen kein Tabu sein, wenn es um den Schutz europäischer Grundwerte und damit auch der Rechtsstaatlichkeitsprinzipien geht.
Schließlich wird die Bundesregierung sich auch dafür einsetzen, dass die Auszahlung von EU-Mitteln künftig stärker an die Erfüllung rechtsstaatlicher Grundsätze geknüpft wird. Das wird auch bei den anstehenden Verhandlungen über den mehrjährigen Finanzrahmen eine wichtige Rolle spielen. Wer sich den rechtsstaatlichen Prinzipien der EU, auf die wir uns alle verpflichtet haben, in eklatanter und dauerhafter Weise entzieht, muss damit rechnen, dass er das auch finanziell zu spüren bekommt.
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Meine Damen und Herren, wir wissen aber gleichzeitig auch, dass diese Korrektiv- und Sanktionsinstrumente uns nicht immer ans Ziel bringen, zumal – das ist ein Problem – sie erst dann greifen, wenn es in einzelnen Mitgliedstaaten bereits zu klaren Verletzungen dieser Grundwerte gekommen ist. Was wir deshalb schaffen wollen, und zwar in unserer Ratspräsidentschaft, ist ein präventives Instrument, das einen offenen und konstruktiven Dialog über Rechtsstaatlichkeit möglich macht, und zwar in einer Art und Weise, wie es ihn bisher noch nicht gegeben hat. Dafür wollen wir in unserer Ratspräsidentschaft einen Mechanismus in Gang setzen, bei dem sich alle Teilnehmer gegenseitig einer Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit unterziehen.
Die Grundlage wird der erste jährliche Bericht der Kommission über die Rechtsstaatlichkeit in der EU sein, der im September erscheinen soll. Wir werden ihn zudem zum Anlass für regelmäßige, offene und auch kritische Diskussionen im Rat nehmen. Sowohl eine Aussprache zu gesamteuropäischen Entwicklungen als auch zu Länderkapiteln: Das ist ein Novum; aber das ist notwendig.
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Meine Damen und Herren, die Botschaft dabei ist klar: Rechtsstaatlichkeit ist und darf auch vor allen Dingen keine Nebensache sein, nicht nur ein Nice-to-have, sondern sie ist die Garantie der Garantien und das Fundament der europäischen Rechtsgemeinschaft.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich mache mir keine Illusionen: Diese Neuerungen werden nicht überall auf Gegenliebe stoßen; das tun sie auch jetzt schon nicht. Deshalb appelliere ich an die Bereitschaft all unserer Partner in Europa – und die überragende Mehrheit der Partner und Mitgliedstaaten der Europäischen Union trägt diese Initiative mit, bei der wir voneinander lernen, um so die Rechtsstaatlichkeit in all unseren Ländern zu stärken.
Kurz gesagt: Wir sollten die Rechtsstaatlichkeit wieder zu dem machen, was sie eigentlich sein sollte: etwas, was Europa nicht spaltet, sondern alle Europäer verbindet.
Herzlichen Dank.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Corinna Miazga, AfD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Damen und Herren des Kollegiums! Jetzt befassen wir uns hier zum zweiten Mal mit den Anträgen von den Grünen und der FDP zum Thema „Grundwerte in der EU“. Aber ich fürchte: Der Mehrwert dieser Diskussion bleibt übersichtlich.
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Ich habe mich in meiner letzten Rede schon stark auf den Antrag der Grünen fokussiert mit ihren Ideen zur Schaffung einer sogenannten Rechtsstaatskommission, was im Grunde nichts anderes ist als die Etablierung einer Rechtsaufsicht auf EU-Ebene zur Überwachung der Politik der EU-Mitgliedstaaten, für welche es in den Europäischen Verträgen keine Rechtsgrundlage gibt, und das ist auch gut so.
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Artikel 7 EUV birgt zudem mehr als ausreichend Möglichkeiten für die Sanktionierung von Verstößen gegen die Werte des Artikel 2, freilich in einem rechtsstaatlich höchst bedenklichen Verfahren. Auch wenn die FDP es in ihrem Antrag anders formuliert: Sie beide, Grüne und FDP, wollen unterm Strich dasselbe: die Überwachung der EU-Mitgliedstaaten und neue Instrumente zur Bestrafung ebendieser.
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Und genau hier liegt der Hund begraben: bei der Diskussion über die Werte. Lassen Sie uns doch mal über Werte reden, wie bestimmt diese sind, wie weitgehend verbindlich im Sinne eines Rechtsprinzips und vor allem wer sich eigentlich alles in der Europäischen Union selbst nicht dran hält.
Fangen wir mit der EU selbst an. Vielleicht sollte diese selbst zuerst demokratisch werden. Denken Sie allein an das Prinzip „One man, one vote“, bevor Sie sich um die Demokratiedefizite in den Mitgliedstaaten kümmern.
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Die EU ist nämlich nicht demokratisch, und das ist ihr seit ihrer Gründung immanent.
Ihr sogenanntes Parlament legitimiert nicht, und der EuGH hat nicht einmal Spurenelemente demokratischer Legitimation, obwohl ein Verfassungsgericht im höchsten Maße demokratisch legitimiert sein muss.
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Denn jedes Land entsendet einen Richter, der nur von seinem eigenen Staat legitimiert ist, soll aber entscheiden über Rechtsfragen, die alle Mitgliedstaaten betreffen, und das ist absurd.
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Die aktuelle Groteske um den EuGH ist das angedachte Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland wegen des EZB-Urteils unseres Bundesverfassungsgerichts. Ich sage es Ihnen noch einmal klar und deutlich: Das letzte Wort in Sachen des Rechts zu haben, ist Kern der Souveränität eines Volkes. Das hat das Bundesverfassungsgericht jetzt endlich im Rahmen der europäischen Integration zum ersten Mal in Anspruch genommen, und jetzt soll ein Vertragsverletzungsverfahren angestrengt werden.
Souveränität und Selbstbestimmungsrecht sind die Grundpfeiler des Völkerrechts. Davon scheint der EuGH keinen blassen Schimmer zu haben. Und die Tatsache, dass er sich öffentlich über das Urteil aus Deutschland beschwert, spricht Bände. Es ist höchste Zeit, sich diesem Spruchkörper zu entziehen; denn es ist unfassbar, was hier vorgeht.
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Sie führen hier das große Wort über die Einhaltung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Lassen Sie uns doch auch mal über Deutschland reden und Rechtsstaatlichkeit in Deutschland. Die Gesetzlichkeit der Verwaltung ist Wesensgehalt der Rechtsstaatlichkeit. Und was passiert in Deutschland seit 2015? Die Regierung hält sich nicht mehr an unsere Gesetze und verletzt seither nicht nur Dublin III, sondern auch unser Grundgesetz jeden Tag mit dem Durchwinken von illegalen Migranten.
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Und wenn es nach den Grünen geht, dann ist Ihnen das ja noch nicht gut genug. Es darf ja immer noch ein bisschen mehr sein. Und Sie von der FDP haben in der Asylkrise ja auch als Opposition, als „Serviceopposition“, versagt. Wen wollen Sie hier eigentlich für dumm verkaufen?
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Denn eines sage ich Ihnen: Die Interpretation des Wortes „Solidarität“ aus Artikel 2, die Solidarität, die Sie immer so gern heraufbeschwören, das ist eben nicht die Finanzierung von fremden Staaten durch das Geld unserer Steuerzahler. Das ist Sozialismus, und das ist demokratiewidrig.
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Und diesen Sozialismus interpretieren Sie ständig in jeden dieser Werte aus den Europäischen Verträgen hinein.
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Das ist egalitärer Moralismus, und wenn Moralismus die Rechtsstaatlichkeit überlagert, kommen wir vom Weg ab und laufen in einen Unrechtsstaat.
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Solidarisch in diesem Sinne ist gegenwärtig sowieso nur eine Partei. Das ist die SPD mit ihrem ausrangierten Personal, unsere „Selbstversorgungspartei Deutschlands“. Ständig wird dieses Land, vor allem die Bundeswehr, mit untauglichen Leuten bestückt mit dem Qualitätsausweis „Zu nichts in der Lage, aber zu allem fähig“.
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Sie beide, Ihre beiden Fraktionen verurteilen den Umgang der ungarischen Regierung mit den Oppositionsparteien.
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Und was machen Sie denn alle hier jeden Tag? Wollen wir zählen, wie viele Anläufe wir in diesem Hohen Hause in den letzten 2,5 Jahren hatten, damit wir als Fraktion zu unseren Rechten kommen?
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Sie blockieren bis heute unsere Kandidaten für das Amt des Bundestagsvizepräsidenten und zahlreiche Gremien,
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und Sie wagen es tatsächlich, hier den Mund aufzumachen und über die Fehler unserer europäischen Nachbarn zu schimpfen. Was für ein seltsames Verständnis von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit haben Sie? Sie wollen doch nur von Ihren eigenen Fehlern ablenken, Sie Pharisäer!
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Und dann kommen Sie von der FDP noch mit dem zweiten Antrag her zur Pressefreiheit und Meinungsfreiheit. Also, ich sage Ihnen: Wenn Journalisten körperlich attackiert werden, dann ist das selbstverständlich zu verurteilen. Darüber hinaus ist die Staatsanwaltschaft dafür zuständig; denn das ist kriminell. Und wir von der AfD können nun wirklich ein Lied über Attacken von Linksextremisten singen, mehr als Sie alle zusammen.
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Was wir ganz sicher nicht brauchen, ist ausgerechnet ein Vorschlag der FDP, wie man den demokratischen Diskurs schützt durch teure Werbekampagnen. Wenn Sie sich wahrhaftig für Meinungsfreiheit einsetzen wollen, dann leben Sie diesen Wert doch einfach durch einen angemessenen Umgang mit uns von der AfD,
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und hören Sie auf, uns auszugrenzen. Sie sind es doch selbst, die Sie gerade Ihrem Parteikollegen Kemmerich empfohlen haben, aus der FDP auszutreten, weil er auf der falschen Demo war und sich nicht ausreichend von der AfD distanziert hat.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Gunther Krichbaum, CDU/CSU.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zurück zum Thema und zur Sachlichkeit.
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Es ist sehr gut, dass wir uns heute mit den Themen Grundwerte und Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union auseinandersetzen. Das Bekenntnis aller Mitgliedstaaten hierzu müsste eigentlich eine pure Selbstverständlichkeit sein. Schließlich verlangen wir dies vor dem Beitritt in die EU, nicht zuletzt in den Kopenhagener Kriterien. Damit ist ein jeder Staat in der EU auch ein Vorbild gegenüber den Staaten, die den Beitritt in die EU erst begehren.
Der Webfehler unserer Europäischen Verträge liegt aber darin, dass wir nie davon ausgegangen waren, dass ein Staat nach seinem Beitritt exakt die Prinzipien infrage stellt, die den Beitritt erst ermöglichten. Das erklärt, warum der Instrumentenkasten in unseren Verträgen so leer ist. Es gibt das sogenannte Artikel-7-Verfahren, das auf einen Stimmrechtsentzug hinausläuft. Das heißt, der entsprechende Staat sitzt nur noch vorne am Katzentisch. Aber das Problem liegt bei der erforderlichen Einstimmigkeit bei der Feststellung einer Verletzung. Damit sind die Hürden sehr hoch und das Verfahren sehr sperrig. Wir haben natürlich noch die Möglichkeit sogenannter Vertragsverletzungsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof; aber das war es dann auch schon.
Fakt ist, dass die Grundwerte das Fundament – das haben Sie, Herr Außenminister Maas, schon angesprochen – unseres vertrauensvollen Zusammenlebens in der Europäischen Union sind. Es geht um Frieden, um Freiheit, um Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Solidarität.
Gerade die Rechtsstaatlichkeit setzt Gewaltenteilung voraus: zwischen Legislative, Exekutive und Judikative. Checks and Balances: der Respekt der Gewalten voreinander und untereinander. Genau dies erscheint aber in manchen Ländern unter die Räder zu geraten.
In Polen beispielsweise: Hier ist die Unabhängigkeit der Justiz nicht mehr gewährleistet, wenn das Verfassungsgericht nur noch mit regierungstreuen Richtern besetzt ist.
In Ungarn beispielsweise, wenn, wie kürzlich geschehen, der Premierminister sich sozusagen unter dem Label der Coronapandemiebekämpfung alle Vollmachten geben lässt, und zwar unbegrenzt, unlimitiert und noch dazu garniert mit einem Gesetz, das unter Strafe stellt, wer Falschnachrichten verbreitet oder die Bevölkerung durch „schlechte Nachrichten“ beunruhigt. Das ist ein Damoklesschwert für alle Journalisten, aber natürlich auch für die Opposition.
In Malta beispielsweise: Dort wurde 2017 die Journalistin Caruana Galizia durch ein Bombenattentat ermordet. Im November 2019 wurde dann bekannt, dass die Täter 150 000 Euro aus Regierungskreisen erhielten.
In der Slowakei beispielsweise: Dort wurde am 21. Februar 2018 Jan Kuciak ermordet. Er recherchierte über Verfilzungen zwischen Politik und Geschäftemachern.
Beispielsweise lange Zeit in Rumänien, wo eine mittlerweile abgewählte Regierung in Korruptionsvorwürfen erstickte. Hunderttausende vorwiegend junge Menschen demonstrierten auf den Straßen und in den Straßen; so im Übrigen auch in der Slowakei. Das ist ermutigend und wäre vielleicht ohne eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union gar nicht möglich gewesen. Aber das reicht nicht aus. Europa braucht hier stärkere Einwirkungsmöglichkeiten, bessere Instrumente, stärkere Hebel.
Um es vorneweg klar zu sagen: Dabei handelt es sich nicht um die Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates. Im Gegenteil: Vielmehr geht es um die Garantie von Grundrechten und Grundwerten; denn die Menschen sind nicht nur Bürger des betroffenen Staates; sie sind auch Bürger der Europäischen Union. Deshalb muss die Kommission einschreiten können und auch einschreiten. Andernfalls werden die Bürger um die Früchte einer EU-Zugehörigkeit gebracht, aber auch um das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union.
Im Europaausschuss haben wir das Thema „Grundwerte und Rechtsstaatlichkeit“ immer wieder aufgegriffen und diskutiert, zuletzt – noch vor Corona – in Brüssel mit dem zuständigen Justizkommissar Didier Reynders. Dabei habe ich nochmals unterstrichen, wie wichtig es ist, zukünftige Mittelzuweisungen aus dem Haushalt und damit aus dem mehrjährigen Finanzrahmen an die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien zu knüpfen. Das muss eine Conditio sine qua non werden.
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Zu den Anträgen. Es sind gute Ansätze, aber die Anträge sind anderthalb Jahre alt. Der Antrag der FDP beispielsweise ist vom 29. Januar 2019 datiert. Es wäre deswegen angezeigt gewesen, diese Anträge zu überarbeiten, zu aktualisieren. Welche Rolle bei der Begleitung des ganzen Prozesses unsere politischen Stiftungen übernehmen können, habe ich in den Anträgen im Übrigen nicht entdecken können.
Gerade der Antrag der FDP beleuchtet mir aber auch die Rolle der Medien viel zu kurz. Dort heißt es: Ferner brachte das Europäische Parlament seine Bedenken insbesondere angesichts der Entwicklungen in den Bereichen öffentlich-rechtlicher Medien zum Ausdruck. – Das ist mir zu wenig.
Das Europäische Parlament findet in dem Antrag der FDP 15-mal Erwähnung, sogar das Freedom House zweimal, Guido Westerwelle dagegen kein einziges Mal. Er war es aber, der am 22. April 2013 erstmals zusammen mit seinem damaligen Kollegen Frans Timmermans aus den Niederlanden sowie seinen Kollegen aus Dänemark und Finnland die Rechtsstaatsinitiative überhaupt aus der Taufe hob. Er hätte in Ihrem Antrag eine Erwähnung verdient gehabt.
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Konstantin Kuhle für die FDP-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am gestrigen Tag ist in Ungarn ein Mitglied der liberalen Oppositionspartei Momentum verhaftet worden.
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Die Rechtsgrundlage für diese Verhaftung war eines der neuen Coronagesetze der Regierung Orban, mit denen angeblich gegen Fake News gekämpft werden soll. Tatsächlich hatte das Mitglied der liberalen Oppositionspartei Momentum nichts anderes getan, als eine gesundheitspolitische Maßnahme der Regierung zu kritisieren.
Das zeigt, dass dieses Gesetz in Ungarn sich in eine ganz bedrohliche Tendenz einreiht, die wir in verschiedenen Mitgliedstaaten der Europäischen Union schon seit einiger Zeit beobachten können. Ob die Justizreform in Polen, die Wahlrechtsreform in Polen, die Beschneidung der Oppositionsrechte in Ungarn, die Beschneidung der Pressefreiheit in Ungarn – es droht, dass in der Coronakrise diese Tendenz noch zunimmt. Deswegen ist es richtig, dass wir hier im Deutschen Bundestag mit dieser Debatte ein Zeichen setzen für eine europäische Grundwerteinitiative und auch für einen Rettungsschirm, der nicht nur die Wirtschaft umfasst, sondern auch den Rechtsstaat, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Aber warum muss sich eigentlich das Parlament eines Mitgliedstaates mit den Entscheidungen der Parlamente anderer Mitgliedstaaten auseinandersetzen? Ist es nicht das souveräne Recht des polnischen und des ungarischen Parlaments, zu entscheiden, was es möchte, und entsprechende Gesetze auf den Weg zu bringen? Haben wir in der Coronakrise nichts Wichtigeres zu tun, als uns mit Polen und Ungarn zu beschäftigen? Natürlich sind auch andere Fragen von Relevanz. Aber wer so argumentiert, der verkennt völlig, dass die Europäische Union eine Rechts- und Wertegemeinschaft ist und dass Verträge innerhalb der Europäischen Union abgeschlossen worden sind, mit denen Demokratie und Rechtsstaat für alle Bürgerinnen und Bürger gelten. Wenn die Grundrechte von polnischen und ungarischen Bürgerinnen und Bürgern beschnitten werden, dann werden nicht nur deren Grundrechte beschnitten, sondern dann werden gleichermaßen die Grundrechte europäischer Bürgerinnen und Bürger beschnitten.
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Deswegen müssen wir hier darüber sprechen, dass das auch eine Frage der Grundwerte unserer gemeinsamen Europäischen Union ist. Denn der Rechtsstaat umfasst als eine gemeinsame Vereinbarung die Werte der Europäischen Menschenrechtskonvention, die Werte der Grundrechtecharta – darauf haben wir uns verständigt –, er umfasst den Wert Demokratie. Das heißt gerade mit Blick auf Viktor Orban und Herrn Kaczynski, dass aus einer Minderheit in Polen und in Ungarn auch wieder eine Mehrheit werden kann. Wer das verhindern will, der verübt einen Anschlag auf die europäische Demokratie. Deswegen müssen wir uns auch an die Seite der mutigen Zivilgesellschaft in Polen und in Ungarn stellen, die ihrerseits ein Zeichen setzen gegen diese Tendenzen des Autoritarismus mitten in der Europäischen Union.
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Meine Damen und Herren, sowohl der Antrag der Grünen als auch der Antrag der Freien Demokraten enthalten einige ganz konkrete Vorschläge, über die wir hier miteinander diskutieren wollen. Ich will Ihnen drei Vorschläge ganz besonders ans Herz legen.
Als Allererstes wäre es ein großer Segen, wenn die Unionsfraktionen und die CDU in Europa sich endlich dafür einsetzen würden, ihren Parteifreund Viktor Orban endlich aus der EVP zu schmeißen. Es ist längst überfällig,
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dass ein solcher Schritt erfolgt. Es ist überhaupt nicht zu verstehen, dass dieser Typ immer noch von Ihnen als Parteifreund akzeptiert wird. Es gibt ja konservative Regierungschefs und Parteichefs, die das längst auf den Weg bringen. Ich habe hier die Unterschrift von Frau Kramp-Karrenbauer vermisst und hoffe, dass diejenigen, die sich jetzt um den CDU-Parteivorsitz bewerben, auch mal sagen, wo sie stehen.
Meine Damen und Herren, wir sollten als zweiten Schritt darüber diskutieren, wie wir die bestehenden Verfahren, die es gibt – Vorabentscheidungen, die jetzt in der Frage der polnischen Justizreform eine besondere Rolle gespielt haben, Fragen des Vertragsverletzungsverfahrens, Fragen des Artikel-7-Verfahrens –, effizienter gestalten können. Gerade mit Blick auf die Vertragsverletzungsverfahren schlagen wir vor, dass man das zu systemischen Vertragsverletzungsverfahren bündeln kann, um den dahinterliegenden Wertungen auf die Spur zu kommen.
Meine Damen und Herren, ein weiterer Punkt ist schon genannt worden. Wir wollen als dritten Schritt, dass die deutsche EU-Ratspräsidentschaft einen besonderen Fokus auf das Thema EU-Rechtsstaatlichkeit legt und sich dafür einsetzt, dass im Rahmen des mehrjährigen Finanzrahmens eine Kopplung an den Rechtsstaat stattfindet. Wer europäische Werte mit Füßen tritt, der darf nicht auch noch mit europäischen finanziellen Mitteln nach Hause gehen. Deswegen muss das ein Schwerpunkt der deutschen EU-Ratspräsidentschaft werden.
Vielen Dank.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich mache darauf aufmerksam, dass die Urnen zur namentlichen Abstimmung noch geöffnet sind. Wir haben noch vier Minuten Zeit für die Abstimmung. Ich bitte um ein Zeichen, falls sich eine Kollegin oder ein Kollege gehindert sieht, an der Abstimmung teilzunehmen; dann könnten wir die Zeit noch einmal verlängern.
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– Okay. – Also, dann bitte ich um ein Zeichen der Rednerinnen und Redner, ob sie schon abgestimmt haben, und bitte, das nach ihrem Beitrag unverzüglich vorzunehmen.
Das Wort hat jetzt der Kollege Andrej Hunko für die Fraktion Die Linke.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Von allen Gesetzen, die im Zuge der Coronakrise in den einzelnen Staaten verabschiedet wurden, ist das ungarische Notstandsgesetz mit Abstand das repressivste. Es ist unbefristet, das Parlament ist entmachtet, und nur die Regierung, nur Orban selbst, kann dieses Gesetz wieder aufheben. Ich denke, wir müssen diesen Weg, diesen Missbrauch der Pandemie sehr deutlich verurteilen.
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Es ist schon angesprochen worden: In den letzten Tagen sind in Ungarn diverse Menschen verhaftet worden. Sie haben zu Hause Besuch von der Polizei bekommen, weil sie angeblich gegen ein sogenanntes Fake-News-Gesetz, ein Fehlinformationsgesetz, verstoßen haben, indem sie auf Facebook irgendeine kritische Bemerkung gemacht haben, zum Beispiel der Kollege in der Stadt Gyula, der geschrieben hat, dass es ein Problem ist, dass sehr viele pflegebedürftige Menschen aus den Krankenhäusern entlassen worden sind, damit dort möglicherweise Menschen, die sich mit Corona infiziert haben, aufgenommen werden können. Dieser Umgang ist eindeutig inakzeptabel. Das will ich noch mal ganz klar sagen.
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Und natürlich muss darauf reagiert werden.
Ich will aber sehr deutlich sagen: Es ist die Partei Orbans, die gemeinsam mit der CDU/CSU-Gruppe in der EVP-Fraktion des Europäischen Parlaments sitzt.
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Und es waren die CDU/CSU und die EVP, die verhindert haben, dass im Europarat ein Monitoringverfahren gegen Ungarn eingeleitet wird. Das ist wirklich ein bisschen eine Doppelmoral. Es ist ein politisches Problem. Man muss sich von der Fidesz-Partei trennen und nicht nur darauf warten, dass es neue Sanktionsinstrumente gibt.
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Aber eins will ich auch sagen: Für die AfD, die hier sitzt und sich gegenwärtig in Deutschland als Grundrechtepartei aufspielt, ist ja Orban das Vorbild.
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Das ist wirklich eine unerträgliche Doppelmoral.
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Dort gilt das schlimmste Gesetz, und hier tun Sie so, als ob Sie eine Grundrechtepartei wären. Diese Doppelmoral ist unerträglich.
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Wir diskutieren hier über die Anträge von FDP und Grünen. Nach meiner Auffassung sind die Instrumente, die da vorgeschlagen worden sind, problematisch. Dass sie juristisch problematisch sind, sagt jedenfalls der Juristische Dienst des Europäischen Rates. Sie sind auch politisch problematisch. Deswegen können wir ihnen nicht zustimmen.
Ich begrüße, dass wenigstens im Antrag der FDP der Beitritt der EU zur EMRK, zur Europäischen Menschenrechtskonvention, gefordert wird. Ich bitte die Bundesregierung und Außenminister Heiko Maas – Sie haben im zweiten Halbjahr den Vorsitz im Rat der Europäischen Union und ab November den Vorsitz im Ministerkomitee des Europarats –, sich dafür einzusetzen, dass wenigstens der Beitritt der EU zur Europäischen Menschenrechtskonvention umgesetzt wird .
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Das wäre doch auch eine Aufgabe, der man sich jetzt stellen könnte.
Vielen Dank.
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Das Wort hat Dr. Franziska Brantner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Coronakrise ist für vieles in unseren Gesellschaften ein Test, aber sie ist eben auch ein Test für die Demokratie. Die Coronakrise ist auch ein Wettbewerb zwischen autoritären Regimen mit populistischen Regierungschefs auf der einen Seite und Demokratien auf der anderen Seite. Wir als Demokraten
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müssen beweisen, dass wir besser durch diese Krise kommen als die autoritären Staaten, als jene, die Grundrechte abschaffen wollen, wie es Orban gerade tut.
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Es ist richtig, dass wir überall massive Einschränkungen der Grundrechte haben, auch bei uns; das ist ja nicht abzustreiten. Und es ist nun die Pflicht der Regierung, alles dafür zu tun, damit diese Grundrechtseinschränkungen so schnell wie möglich wieder aufgehoben werden können. Die ersten Schritte wurden ja auch schon getan.
Aber es ist eben ein riesiger Unterschied, ob man in dieser Krise Parlamentsrechte beschneidet, ob sich Parlamente de facto selber unbefristet entmachten oder ob es weiterhin die Kontrolle der Regierung gibt, ob die Maßnahmen zeitlich begrenzt sind, ob sie verhältnismäßig sind oder ob in dieser Krise Oppositionspolitiker verhaftet werden, wie das eben jetzt in Ungarn bei Momentum der Fall ist.
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Das sind die Unterschiede, die ausmachen, ob wir am Ende als Demokratien aus dieser Krise hervorgehen oder eben Grundrechte abgeschafft haben.
Diese Tendenzen, diese Kräfte, die antidemokratischen, antiliberalen Kräfte, sind ja nicht neu; die gab es vor Corona, aber die werden jetzt in dieser Krise leider gestärkt. Sie zeigen nun noch deutlicher, dass wir einen stärkeren Rechtsstaatsmechanismus innerhalb der Europäischen Union brauchen. Deswegen sind unsere Anträge nicht hinfällig, sondern sie sind umso nötiger, damit wir endlich solche Verfahren in der Europäischen Union einführen können.
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Wir als Grüne schlagen eine europäische Rechtsstaatskommission vor. Der Vorschlag ist, dass alle Länder der Europäischen Union einmal im Jahr wirklich gecheckt werden, ob sie die Prinzipien der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einhalten – alle Länder, damit nicht immer wieder der Vorwurf kommt: nur auf die kleinen, nur auf den Osten.
Die Idee ist, dass diese Rechtsstaatskommission mit unabhängigen Verfassungsexpertinnen und ‑experten besetzt wird, die die nationalen Parlamente zusammen mit dem Europäischen Parlament ernennen, damit wir auch eine Grundlage haben, eine Legitimation über die nationalen Parlamente. Das erscheint mir wichtig, damit Herr Orban nicht sagen kann: Das sind ja nur Technokraten aus Brüssel.
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Mit diesem Mechanismus würde es dann auch Empfehlungen für Sanktionen geben. Wir schlagen auch finanzielle Sanktionen vor. Wie der Kollege Kuhle richtig gesagt hat: Es kann ja wohl nicht sein, dass jene, die die Demokratie abschaffen, dann auch noch mit unserem Steuergeld ihre Klientelpolitik finanzieren. – Das muss dringend ein Ende haben.
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Wir sind aber der festen Überzeugung, dass es keinen Sinn macht, die Bürgerinnen und Bürger des jeweiligen Landes zu bestrafen. Was haben wir denn davon, wenn der ungarische Student aus Budapest nicht mehr in Tübingen oder in Stuttgart oder in Köln oder wo auch immer studieren kann? Das ist ja nicht in unserem Interesse. Deswegen ist unser Vorschlag: Wir entziehen Herrn Orban die Vergabemacht über die Gelder, und eine unabhängige Stelle kann die Gelder weiter verteilen. – Das wäre für uns ein wesentlich gangbarerer Weg, als einfach zu sagen: Ungarn an sich kriegt keine Gelder mehr. – Dann hat man ja nur den Effekt, dass die Ungarn sich zusammen gegen die Europäische Union auflehnen, anstatt sich gegen jene aufzurichten, die dafür verantwortlich sind, dass die Gelder dann eben limitiert sind.
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Herr Maas, Sie haben ja vorhin von der Ratspräsidentschaft und Ihrer Rolle gesprochen. Beim nächsten mehrjährigen Haushalt brauchen wir eine effektive Konditionalisierung im Hinblick auf Rechtsstaatlichkeit und Demokratie.
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Der Kompromiss, den Herr Michel im Februar vorgeschlagen hat, sah leider vor, dass man eine qualifizierte Mehrheit braucht, um den Rechtsstaatsmechanismus auszulösen. Das ist nicht der eigentliche Vorschlag von Didier Reynders. Der hatte nämlich vorgesehen, dass es eine qualifizierte Mehrheit braucht, um den Mechanismus aufzuhalten. Das ist ein massiver Unterschied. Ich bin wirklich der Überzeugung, dass wir dem Michel-Vorschlag nicht zustimmen sollten und dass Sie, Herr Maas, einem mehrjährigen Finanzrahmen bitte nur dann zustimmen sollten, wenn er den Didier-Reynders-Vorschlag enthält, also einen effektiven Rechtsstaatsmechanismus und keinen Papiertiger.
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Wir wollten eigentlich heute hier auch den Antrag zu dem Grundrecht auf Personenfreizügigkeit in der EU dazustellen. Es ist schade, dass die Große Koalition verhindert hat, dass dieser Antrag hier heute als Teil der Grundrechtedebatte diskutiert wird. Es ist nämlich ein Grundrecht von EU-Bürgerinnen und -Bürgern, dass sie sich in der Europäischen Union frei bewegen können.
Ich bin ja froh, dass jetzt endlich die Grenzschließungen, die wir überall massiv hatten, aufgehoben werden. Aber bei den Kontrollen gibt es noch Einschränkungen, die nicht mehr zu erklären sind: Immer noch – auch zwei Monate später – wird die Definition von Familie nur am Trauschein festgemacht. Das ist einfach 19. und nicht 21. Jahrhundert. Und wenn Sie dann sagen, es komme irgendwann die Regelung als Glaubhaftmachung, dann muss ich ganz ehrlich sagen: Die armen Bundespolizisten, die vor Ort entscheiden müssen, ob das jetzt eine Beziehung ist oder nicht, tun mir leid.
Ich finde es unverantwortlich, den Bundespolizisten diese Entscheidung aufzudrücken. Da braucht es andere Wege.
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Sie könnten den Weg gehen, dass die Menschen eine eidesstattliche Erklärung abgeben müssen, von mir aus mit hohen Strafen bewehrt, wenn es am Ende nicht stimmt. Wir verschieben gerade Tausende von Euro auf der Grundlage von eidesstattlichen Erklärungen. Das wäre ein wesentlich sauberer Weg. Er würde die Bundespolizisten nicht überfordern. Der Weg, den Sie da vorhaben, ist, finde ich, nicht gangbar. Sie haben ja noch Zeit. Ändern Sie das, damit es wenigstens im letzten Monat nicht mehr diese Beeinträchtigungen für die Familien gibt! Machen Sie was daraus!
Ich danke Ihnen.
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Ich komme zurück zum Tagesordnungspunkt 9 b. Die Zeit für die namentliche Abstimmung ist gleich vorbei. Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgeben konnte? – Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.
Wir fahren in der Debatte fort. Das Wort hat der Kollege Johannes Schraps für die SPD.
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Verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es gibt viele Themen, die mit Beginn der Coronasituation in der öffentlichen Wahrnehmung ziemlich in den Hintergrund getreten sind. Alles, was nicht direkt mit Corona zu tun hatte, ist im Prinzip vollkommen von der Bildfläche verschwunden. Bei manchen Themen war das gar nicht so schlimm. Manch wichtiges Thema – wie die Grundrente oder auch die Situation der Geflüchteten auf den griechischen Inseln – muss sich erst mühsam in die öffentliche Debatte zurückkämpfen.
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Es gibt aber auch Themen, die vorher schon wichtig waren und deren Bedeutung uns in den letzten Wochen – das ist auch bei einigen Vorrednern schon deutlich geworden – gerade mit Blick auf die Coronanotstandsmaßnahmen einiger nationaler Regierungen in Europa noch einmal besonders deutlich vor Augen geführt geworden ist. Dazu gehört ganz eindeutig das Thema Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union.
Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind die Grundlagen für alle staatlichen Handlungen in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Das gilt in „normalen“ Zeiten, und das gilt – das haben die letzten Wochen gezeigt – in Krisenzeiten ganz besonders.
Die NGO Freedom House beschäftigt sich bereits seit den 1970er-Jahren mit dem Grad der Demokratieentwicklung und der Pressefreiheit in den Ländern der Erde und hat sich mit ihren jährlichen Berichten einen Namen gemacht. Freedom House hat in der vergangenen Woche ihren „Nations in Transit“-Bericht vorgelegt. Diesem Bericht zufolge ist Ungarn nicht mehr als Demokratie zu bezeichnen und Polen auf dem besten Weg dorthin. Und gleichzeitig betont der Bericht, dass die Institutionen der Europäischen Union nicht genug gegen diese Entwicklung tun.
Ehrlicherweise kommen beide Thesen für uns nicht wirklich überraschend. Und das ist das eigentlich Erschreckende daran. Denn sie drücken aus, was wir alle sehen und was mit den Coronanotstandsmaßnahmen nur noch deutlicher geworden ist. Schließlich haben die Regierungen in Budapest und Warschau in den vergangenen Jahren und Monaten zahlreiche Entscheidungen getroffen, die mit Rechtsstaatlichkeitskriterien aus unserer Sicht schwer vereinbar sind.
Auch die Diskussionen, wie wir nun damit umgehen sollen, werden schon seit vielen Jahren geführt – mit wenigen Ergebnissen. Denn politisch gibt es in der Europäischen Union immer wieder Stimmen, die eine konkrete Umsetzung von Maßnahmen zum Schutz von Rechtsstaatlichkeit verhindern, trotz zahlreicher Vorschläge. Meist waren deshalb die Urteile des Europäischen Gerichtshofs der stärkste Gegenpol gegen die Aushöhlung rechtsstaatlicher Entwicklungen. Das muss dieser Tage ganz offensichtlich noch mal besonders erwähnt werden.
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Den richtigen politischen Pfad hat uns Europa-Staatsminister Michael Roth im vergangenen Jahr zusammen mit dem damaligen belgischen Außen- und Europaminister Didier Reynders aufgezeigt. Und Reynders ist ja nun auch als EU-Kommissar für diese Thematik zuständig. Das von den beiden vorgeschlagene Periodic Peer Review of the Rule of Law ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung, weil es damit eine Intensivierung des Rechtsstaatsdialogs zwischen den EU-Mitgliedstaaten geben wird, mit gegenseitiger Überprüfung und gemeinsamen Definitionen. Dabei geht es nicht um Bestrafung oder Sanktionen; es geht um Diskussionen auf Augenhöhe und um die gemeinsame Suche nach Lösungen.
Doch nun, liebe Kolleginnen und Kollegen, braucht es weitere Schritte, Schritte, mit denen wir nicht nur den Dialog, sondern endlich auch klare Regeln auf europäischer Ebene etablieren. Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr – das ist schon angesprochen worden – sollten wir deshalb unbedingt für Fortschritte nutzen. Das können wir tun, indem wir beispielsweise dafür sorgen, dass die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien eindeutig im neuen mehrjährigen Finanzrahmen verankert wird.
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Es ist sehr zu begrüßen, dass sich unser Außenminister Heiko Maas hier gerade ganz deutlich dazu bekannt hat.
Die Bundesregierung mit der Kanzlerin an der Spitze muss sich aber bei den Verhandlungen auf europäischer Ebene deutlich dafür einsetzen, dass mit dem nächsten europäischen Finanzrahmen ab 2021 EU-Mittel in substanziellem Maße einbehalten werden, wenn Mängel bei der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten vorliegen. So sieht das übrigens auch der Vorschlag des ehemaligen Haushaltskommissar Günther Oettinger vor.
Ob uns Corona für die Notwendigkeit dieser Maßnahmen endgültig die Augen geöffnet hat, das können wir während unserer deutschen EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr zeigen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat der Abgeordnete Norbert Kleinwächter für die AfD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie es mich sehr deutlich sagen: Diese Anträge der FDP und der Grünen zu Grundwerten und Grundrechten in der Europäischen Union
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sind nichts anderes als ein Misstrauensvotum gegen unsere Nachbarländer und ein Misstrauensvotum gegen die Demokratie.
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Sie beobachten, dass in unseren Nachbarländern die Bürger zu demokratischen Wahlen gehen, Parteien wählen, deren Meinung Sie nicht teilen, und deren Vertreter dann Beschlüsse fassen, die Sie nicht gut finden. Und weil – ich sage das jetzt mal sehr salopp – für Sie die Leute in unseren europäischen Nachbarländern offensichtlich zu doof zum Wählen sind, fordern Sie EU-Sanktionen gegen die Länder, die nicht spuren, so wie Sie sich das einbilden.
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Sie von den Grünen wollen dann eben die entsprechenden Mitgliedsländer finanziell austrocknen, nicht wahr, und das Geld lieber willfährigen NGOs zuteilwerden lassen. Die FDP will lieber den Europäischen Gerichtshof, der sich jetzt schon als Master oft the Universe aufspielt, allgegenwärtig und allmächtig machen und außerdem Länder, die Ihnen nicht passen, vom Stimmrecht ausnehmen.
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Dieser Ideologieimperialismus ist nicht nur despektierlich, er ist auch gefährlich; denn er legt die Axt an die Grundfeste unserer Demokratie – und das ist die nationale Souveränität.
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Vor allem aber – und das werfe ich Ihnen wirklich vor – ist es ignorant. Sie schwächen damit nämlich auch die Institution, die wirklich Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verteidigt, und das ist der Europarat.
Zu Island über Aserbaidschan bis zur Russischen Föderation werden dort Evaluationen vorgenommen. Es gibt Debatten; es gibt entsprechende Berichte. Und wenn Ihre Vertreter in der Parlamentarischen Versammlung, insbesondere die der FDP, diese Versammlung nicht ständig schwänzen würden, dann wüssten Sie das auch.
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Dann wüssten Sie, dass es der Europarat war und nicht die Europäische Union, die Macron verurteilt hat, weil er mit Gummigeschossen auf Gelbwestendemonstranten hat schießen lassen, und dass das nicht in Ordnung war. Dann wüssten Sie, dass es der Omtzigt-Bericht war, der den maltesischen Präsidenten Muscat zum Sturz gebracht hat wegen des Mordes an Daphne Caruana Galizia. Dann wüssten Sie das alles.
Es bringt überhaupt nichts, diesen Europarat zu schwächen mit parallelen Pseudoinstitutionen, die Sie hier im Begriff sind aufzuziehen. Wenn Sie die europäische Demokratie und die Demokratien in Europa wirklich schätzen, dann wäre es ein Beginn, diese Demokratien zu stärken und sich nicht ständig despektierlich über unsere Mitgliedsländer zu äußern.
Vielen herzlichen Dank.
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Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Graf Lambsdorff das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Ich will nicht unwidersprochen hier stehen lassen, dass die Mitglieder meiner Fraktion die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarats nicht wahrnehmen würden. Hinter mir sitzt der Kollege Kuhle. Er ist regelmäßig dort und ist übrigens auch Berichterstatter zu dem interessanten Thema der russischen Einmischung in Wahlprozesse in anderen Mitgliedstaaten des Europarats. Interessanterweise sitzen die Kollegen der AfD dort ja ganz nah mit unseren russischen Kollegen unter der Führung eines Herrn Kalaschnikow zusammen. Also, vielleicht kann Herr Kleinwächter diese Behauptung zurücknehmen und erklären, was er mit Herrn Kalaschnikow im Europarat so tut.
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Sie haben das Wort zur Erwiderung.
Geehrter Herr Lambsdorff, also da merkt man mal wieder, dass Sie nicht mitbekommen, was in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates läuft. Die Russen sind nämlich nicht Mitglied der EC/DA-Fraktion, deren Mitglied wir sind. Die Russen sind dort nicht Mitglied.
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Also, ich weiß nicht, wie Sie darauf kommen, dass ich irgendwas mit Herrn Kalaschnikow zu tun habe. Aber das zeigt, dass Herr Kuhle, den Sie gerade erwähnt haben und den ich übrigens im Kulturausschuss schon mehrfach vertreten musste – weil er eben immer abwesend ist –, auch nicht besonders aufpasst, was dort passiert.
Also, bevor Sie sich hinstellen und die AfD angreifen, weil sie angeblich nicht die Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit in diesem Gremium verteidigt – beides halte ich für außerordentlich wichtig, und dies hält auch meine Fraktion für außerordentlich wichtig –, studieren Sie lieber mal die Drucksache, die eindeutig aufzeigt, dass die AfD-Mitglieder die aktivsten Mitglieder der deutschen Delegation in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats sind.
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Das Wort hat der Kollege Philipp Amthor für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist doch eine schöne Sache an diesem Tag, dass wir uns jetzt nach diesen schlechten Schauspielnummern der AfD wieder dem Ernst der Lage zuwenden können.
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Ich finde, wenn wir uns diese Debatte und die Anträge anschauen, dann muss man auch mal etwas lobend sagen: Es ist gut, dass es in der Opposition im Deutschen Bundestag noch Fraktionen gibt, die ordentlich und konstruktiv mitarbeiten. Ich will sogar ohne große Pointe sagen: FDP und Grüne haben hier schon deutlich schlechtere Anträge vorgelegt.
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Gleichzeitig ist es aber so, dass die Debatte eines sehr, sehr deutlich zeigt: Wir alle reden immer viel und häufig über die Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union. Wir reden aber viel zu selten darüber, was dieser Rechtsstaatlichkeitsbegriff eigentlich meint oder was er nicht meint. Ich will sagen: Es ist eine zentrale Herausforderung, dass wir einen unionsrechtlichen Rechtsstaatlichkeitsbegriff näher elaborieren.
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Der Rechtsstaat ist zuallererst kein Schönwetterthema, sondern er ist gerade auch jetzt ein Krisenthema. Der Rechtsstaat ist kein abstraktes Thema, sondern er ist immer ein für die Lebenswelt ganz konkretes Thema. Aber der Rechtsstaat ist eben auch kein politisches „Wünsch dir was“. Deswegen sollten wir vermeiden, den Rechtsstaat als einen politischen Begriff zu verwenden.
Ich sage das insbesondere vor dem Hintergrund der Diskussionen über die aktuelle Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Rolle der EZB. Diese Entscheidung hat natürlich für verschiedene Diskussionen gesorgt; der Außenminister hat darauf hingewiesen. Ich habe diesbezüglich zweierlei Sorge:
Einerseits sorge ich mich, wie EU-Skeptiker dieses Urteil interpretieren. Ich meine, Frau Miazga, der Auftritt, den Sie hier hingelegt haben, genügt in allem Ernst in keiner Hinsicht den fachlichen Ansprüchen, die man an ein Mitglied des Deutschen Bundestages stellen kann.
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Herr Kleinwächter, Sie reden davon, Demokratie und Rechtsstaat müssten verteidigt werden. Sie fänden es schlimm, es wäre übergriffig hinsichtlich der Demokratie in den Mitgliedstaaten, über den Rechtsstaat zu reden. Da kann ich Ihnen nur sagen: Augen auf bei der Frage der Auseinandersetzung mit Geschichte. Gerade Sie sollten doch wissen, dass Demokratie nicht immer gleich Rechtsstaatlichkeit bedeutet.
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Das haben wir in Deutschland schmerzlich gelernt. Eine demokratische Wahl führt noch nicht zu rechtsstaatlichen Inhalten. Deswegen müssen wir dort differenzieren.
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Gleichzeitig will ich auch sagen: Ich habe etwas Sorge bezüglich der Interpretation der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts durch große EU-Befürworter. Denn mancher hat interpretiert, die Karlsruher Entscheidung sei ein Angriff auf die Unionsrechte gewesen. Oder man hat gesagt, es würde dazu führen, dass sich falsche Freunde darüber freuen würden – Polen, Ungarn, die AfD vielleicht. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten diskutieren, dann müssen wir sagen: Was falsche Freunde denken, ist zuallererst ein politisches Argument, aber kein rechtsstaatliches Argument.
Deswegen will ich ausdrücklich sagen: Auf dem Hintergrund, dass die Mitgliedstaaten natürlich der wesentliche Träger des Staatenverbundes Europäische Union sind, muss für uns auch klar sein: Die nationalen Verfassungsgerichte haben nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, das Handeln ihrer mitgliedstaatlichen Organe in der Europäischen Union zu kontrollieren, die Übertragung von Hoheitsrechten zu kontrollieren. Deswegen müssen wir in dieser Situation sagen: Die Ultra-vires-Kontrolle und die Identitätskontrolle, wie sie das Bundesverfassungsgericht vornimmt, sind kein Angriff auf die rechtsstaatliche Ordnung der Europäischen Union, sondern dies sichert die rechtsstaatliche Ordnung in der Europäischen Union ab. Darauf sollten wir hinweisen.
Im Übrigen will ich noch etwas sagen.
Kollege Amthor, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Sarrazin?
Gerne.
Herr Kollege Amthor, Sie haben gerade gesagt, dass in der Frage der Interpretation des Verfassungsgerichtsurteils die politischen Folgewirkungen irrelevant seien. Jetzt sind wir Grüne sehr große Freunde des Verfassungsgerichts
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und akzeptieren sowieso alle Entscheidungen. Wir haben ja auch unsere Parlamentsrechte in Europafragen schon einmal vor Gericht durchgesetzt.
Dennoch möchte ich sagen: Das Verfassungsgericht Deutschlands hat sich in der Vergangenheit über die Entmachtung der unabhängigen Justiz in Polen explizit besorgt gezeigt und hat dies auch mit Briefen nach Polen belegt. Ich finde, dass man von denselben Richtern erwarten kann, dass sie in ihre Entscheidung die mögliche Reaktion der Architekten der polnischen Justizreform auf dieses Urteil einberechnen, die nämlich ihre Linie bestätigt sehen, dass der EuGH keine Prüfungskompetenz darüber hätte, ob das Richterdisziplinierungsgesetz, das die PiS verabschiedet hat, überhaupt Geltung haben kann oder nicht.
Ich denke, dass wir, ohne das Gericht zu kritisieren, unserem Verfassungsgericht schon zumuten können, diese Folgewirkungen bei seinem Agieren – gerade vor dem Hintergrund seiner überwältigenden Relevanz für uns und auch für Europa – mit einzubeziehen. Sehen Sie das nicht auch so?
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Herr Kollege Sarrazin, ich will Ihnen ausdrücklich sagen: Natürlich! – Ich habe nie gesagt, dass dieses Urteil nicht ohne politische Relevanz wäre. Aber wir sollten sehen, welche Orte zur Diskussion von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit wo sind. Der Ort der politischen Debatte ist der Deutsche Bundestag. Der Gerichtssaal in Karlsruhe ist der Ort der Erörterung von Verfassungsrecht. Auf diesem Hintergrund finde ich die Karlsruher Entscheidung überzeugend und konsequent. Ich sehe sie eher noch als Aufforderung an uns, das, was Sie gesagt haben, noch selbstbewusster zu tun, nämlich unserer Mitwirkung im europäischen Diskurs auch über Rechtsstaatlichkeit nachzukommen.
Deswegen ist die Karlsruher Entscheidung aus rechtsstaatlichen Gesichtspunkten nicht zu beanstanden. Aber sie ist auch ein Appell an uns für politische Mitwirkung. Ich will deutlich sagen: In der Art und Weise und in der Tonlage, wie mancher das Bundesverfassungsgericht kritisiert hat, sollten wir alle vielleicht mal einen Schritt zurückgehen und klarstellen: Es gibt für die Rechtsstaatlichkeit in Europa größere Gefahren als das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Bei der Frage, wie wir mit diesen Gefahren umgehen – das habe ich schon gesagt –, werden in den Anträgen der Grünen und der FDP gute und konstruktive Vorschläge gemacht. Einen permanenten Peer-Review-Mechanismus und die Idee der Venedig-Kommission, also ein Expertengremium, auch auf den Diskurs des europäischen Verfassungsrechts und auf eine europäische Institution zu übertragen, das finde ich sinnvoll.
Deswegen ist es auch richtig, Herr Minister Maas, dass wir darauf hingewiesen haben, dass dieses Thema natürlich auch im Rahmen unserer Ratspräsidentschaft eine große und herausragende Rolle spielen sollte. Genau in dem Geiste der Europapolitik, wie wir sie betreiben sollten, ist es auch unsere Verantwortung als Parlament, diese neuen funktionierenden Rechtsstaatsmechanismen einzufordern. Da stehen wir an der Spitze der Bewegung. Das wird uns als Parlament weiter beschäftigen. Wir werden dafür arbeiten in einem klugen Prozess, in dem die verschiedenen Interpreten des Verfassungsrechts, des Rechtsstaates gefordert sind, sich einzubringen. Genau das bringen wir als Regierungskoalition voran. Das ist unsere Aufgabe, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Herzlichen Dank.
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Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Thomas Hacker das Wort.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu den grundlegenden Werten unseres Grundgesetzes gehören die Freiheitsrechte: die Meinungsfreiheit, die Gewissensfreiheit, die Versammlungsfreiheit, die Kunstfreiheit, die Religionsfreiheit, aber eben auch und vor allem die Informations- und Pressefreiheit.
Auch die Europäische Union gründet sich auf genau diese Freiheitsrechte. Wie schmerzlich für jeden Einzelnen die Einschränkungen dieser Freiheiten sind, erleben wir seit Wochen. Umso mehr ist es unsere Aufgabe, die Freiheit jeden Tag neu zu verteidigen und neu zu erkämpfen. In der Welt, aber auch in Europa erleben wir, dass die Presse- und Informationsfreiheit und dadurch die Meinungsfreiheit beeinträchtigt werden. Durch Monopolisierung und Gleichschaltung der Medien nutzen Regierungen und andere ihre Macht, um Meinungen zu beeinflussen und Informationen zu filtern. Immer wieder werden Journalisten bedroht, angegriffen oder ermordet. Das sind keine beschämenden Einzelfälle. Sie sind fast alltäglich in Europa; Gunther Krichbaum hat ja auf die gravierendsten Fälle hingewiesen.
Dabei müssen wir nicht nur nach Ungarn, Malta oder in die Slowakei schauen, um unseren Kontinent als ein gefährliches Schlachtfeld für die Pressefreiheit und die freie Meinungsäußerung zu erleben, wie die „Plattform für den Schutz und die Sicherheit von Journalisten“ des Europarats erst kürzlich feststellte.
Die letzten Tage haben uns ganz klar gezeigt: Auch in unserem Land ist die freie Ausübung des Journalistenberufs keine Selbstverständlichkeit. 1. Mai 2020, Berlin: Ein ZDF-Team der „heute-show“ wird nach einem Dreh von einer Gruppe von 25 vermummten Personen angegriffen. Wieder 1. Mai, wieder Berlin: Einer Journalistin wird bei einer Demonstration ins Gesicht geschlagen. Sie verliert mehrere Zähne. Ermittelt wird gegen einen Polizisten. 6. Mai, erneut Berlin: Vor diesem Hohen Haus, vor dem Deutschen Bundestag, wird ein Team der ARD während einer Coronademonstration attackiert. Die Polizei kann gerade noch Schlimmeres verhindern. 9. Mai, dieses Mal in Dortmund: Ein WDR-Journalist wird von mutmaßlich Rechtsextremen beschimpft. Man schlägt ihm die Kamera aus der Hand.
Meine Damen und Herren, wenn Medienvertreter zu Freiwild erklärt werden,
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wenn Berichterstattung nur noch mit Personenschutz möglich ist und Sender aus Angst vor Angriffen überhaupt nichts mehr berichten, dann ist das ein fundamentaler Angriff auf unsere demokratische Grundordnung.
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Gemäß einer aktuellen Studie sind 60 Prozent der befragten Journalisten in den vergangenen zwölf Monaten Opfer von Drohungen und Angriffen gewesen. Nur wenige Journalisten thematisieren diese Vorfälle, um nicht zusätzliche Angriffsflächen zu bieten oder dieser widerlichen Gewalt zu ihrer Wirkung zu verhelfen. Es ist unsere Aufgabe, diese Angriffe auf Journalisten zu verurteilen. Wir müssen vor allem auch die Bedeutung der Journalisten für unsere Freiheit und die Funktionsweise unserer Demokratie sichtbar machen und uns dazu immer wieder bekennen.
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Unser großer Dank geht an die Journalistinnen und Journalisten, Pressevertreter und Medienteams, die sich jeden Tag unerschrocken für die freie Meinung einsetzen.
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Erst ihre Arbeit schafft den Raum für Meinungsvielfalt. Sie sind der Garant für unsere Demokratie. Jeder Angriff auf sie ist ein Angriff auf unsere Freiheit. Jeder Angriff auf sie ist ein Angriff auf uns alle.
Vielen Dank.
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Das Wort hat Dr. Diether Dehm für die Fraktion Die Linke.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin dem Kollegen Amthor dankbar, dass er als Erster die Venedig-Kommission, eine hochanerkannte, von 61 Staaten getragene Kommission, erwähnt hat. Es ordnet nicht alles immer nur die EU-Kommission. Darum stehen sowohl der Antrag der FDP als auch der der Grünen leider auf rechtlich nicht sehr festem Boden,
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wenn auch die Grundintention sehr überzeugend dargelegt ist und, Kollege Kuhle, von uns geteilt wird. Aber das Rechtsgutachten des Juristischen Dienstes des Rates besagt nun einmal, dass die Kompetenzen hier sachlich-spezifisch überschritten würden, wenn auf bestimmte Entwicklungen in Mitgliedstaaten mit Haushaltssanktionen geantwortet würde.
Ich denke, wir sollten nicht dafür sorgen, dass die Arroganz von Orban und die Arroganz von Kaczynski, die ja nach dem Motto „Haltet den Dieb!“ die Arroganz von EU-Eliten als Rechtsüberschreitungen anführen – da würde mit zweierlei Maß gemessen – und gegen zivilisierte Werte vorgehen wollen, hier Vorschub geleistet bekommen. Aus diesem Grund sind wir bei dem Antrag der Grünen sehr skeptisch. Bei dem Antrag der FDP ist sympathisch, dass in ihm der Beitritt zur Menschenrechtskonvention gefordert wird. Deswegen enthalten wir uns hier.
Aber ich will noch mal ganz deutlich sagen: Wir müssen höllisch aufpassen, dass wir nicht das bedienen, was die Rechten in Europa wollen. Sie kämpfen längst nicht mehr gegen Europa. Sie kämpfen um Europa, und zwar für ihre rechten Werte. Eine Rechtsverschiebung der Werte, das ist das, was von rechts, von Orban, von AfD und von Kaczynski, gewollt wird.
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Was die AfD damit meint, hat sie an diesem Pult hinlänglich oft gesagt: Verständnis für Steuerhinterzieher.
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– Ja, natürlich.
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Hier hat doch im Dezember 2017 ihr Kollege gestanden und gesagt, er habe Verständnis für die armen Superreichen, die – das ging aus den Panama-Papieren hervor – ihr Geld in Briefkastenfirmen anlegen. – Das ist schäbig. Das hat doch mit europäischen Werten, mit Solidarität und Sozialstaat nichts zu tun.
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– Das ist hier so gesagt worden.
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– Das zeige ich Ihnen sehr, sehr gerne, und ich zeige es vor allen Dingen auch den Medien.
Sie haben hier für Steuerhinterziehung und gegen den Sozialstaat Stellung bezogen. Das sind ihre Werte. So wollen sie mit den Menschen umgehen.
Was wir wollen, ist, dass in Europa beim Streiten um demokratische Werte Gewerkschaften, die sogenannten kleinen Leute, prekär Beschäftigte, in Insolvenz Geratene mitgenommen werden. Ohne ihre Überzeugung ist der Kampf für Demokratie nicht zu gewinnen.
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Aber gekämpft werden darf niemals mit den Werten von rechts, sondern immer mit den Werten, die im Zentrum dessen stehen, was die Französische Revolution und andere Revolutionen in Europa begründet haben: Sozialstaat, Rechtsstaat, Gewaltenteilung und Demokratie. Das zusammen gedacht sind die Werte, bei denen wir die Menschen mitnehmen und für die wir sie gewinnen können.
Danke schön.
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Das Wort hat Dr. Volker Ullrich für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Europatag, den wir vor Kurzem begangen haben, verweist auf zwei historische Ereignisse: auf den 9. Mai 1950 mit der Schuman-Erklärung, der Initialzündung für die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Aber er verweist auch auf den 5. Mai 1950 und damit auf die Proklamierung der Europäischen Menschenrechtskonvention und auf die Gründung des Europarats.
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Insofern muss man sagen, dass beide Ereignisse zu den Gründungspfeilern Europas gehören: zum einen die wirtschaftliche Integration, die Überwindung von Handels- und Zollhemmnissen, zum anderen aber von Anfang an, jedoch in einer anderen Organisation, die Geltung von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit. Das lehrt uns heute, dass Europa nur mit diesen beiden Pfeilern gesehen werden kann.
Das bedeutet auch, dass für die Europäische Union, die im Bereich der wirtschaftlichen Integration mittlerweile natürlich eine wesentlich höhere Bedeutung und mehr Integrationstiefe hat, die Frage der Rechtsstaatlichkeit, der Demokratie und der Menschenrechte eine ganz zentrale Rolle spielen muss. Deswegen ist es richtig, dass wir auf diese Umstände in den Europäischen Verträgen besonders hinweisen, die eine europäische Grundrechtsinitiative einfordern, verbunden mit der Aussage: Eine Europäische Union kann und darf ohne Rechtsstaatlichkeit nicht existieren.
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Das bedeutet, dass wir alle Initiativen stärken müssen, dass wir die Rechtsstaatlichkeit nicht nur auf europäischer Ebene, sondern auch auf der Ebene der Mitgliedstaaten stärken und unterstreichen müssen. Eine Europäische Union, die auf europäischer Ebene Rechtsstaatlichkeit einfordert, aber nicht gewillt ist, sie auch auf mitgliedstaatlicher Ebene einzufordern, versagt bei diesem wichtigen Punkt. Deswegen sind Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten und auf europäischer Ebene untrennbar miteinander verbunden.
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Da haben wir Sorgenfalten: In einigen europäischen Staaten sind autoritäre Tendenzen auf dem Vormarsch – nicht mit einem großen Knall oder mit lauter Musik, sondern schleichend: durch eine Änderung des Justizsystems, durch Änderungen beim Wahlrecht, durch Änderungen der Medienverfassung auf nationalstaatlicher Ebene. Da müssen wir deutlich sagen und auch deutlich machen, dass sich jeder, der Mitglied der Europäischen Union ist, an diesen Grundkonsens von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit zu halten hat. Das steht nicht zur nationalen Disposition, sondern das sind europäische Werte, die von uns stets eingefordert werden können.
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Dafür brauchen wir eine klare europäische Antwort.
Im EU-Vertrag ist das sogenannte Artikel-7-Verfahren angelegt, mit dem das Stimmrecht im Rat bei groben Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit entzogen werden kann. Aber das muss einstimmig passieren; das ist eine Alles-oder-nichts-Entscheidung. Das macht dieses Instrumentarium in der Praxis so schwerfällig. Deswegen brauchen wir weitere Instrumente, weitere Methoden der Achtsamkeit, um Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auf europäischer Ebene einzufordern.
Es ist sicherlich nicht unanständig, dass bei der Frage der Verteilung europäischer Mittel der Respekt vor rechtsstaatlichen Normen und der demokratischen Verfasstheit auf alle Fälle Berücksichtigung finden muss. Deswegen ist unsere Forderung, dass die Koppelung von europäischen Mitteln an die Einhaltung rechtsstaatlicher Standards im kommenden mehrjährigen Finanzrahmen wesentlich deutlicher zum Ausdruck kommen muss.
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Wir wollen auch, dass es eine stärkere Beobachtung der Frage der Rechtsstaatlichkeit gibt.
Hier komme ich wieder zum Anfang zurück, nämlich zur Verzahnung von Europäischer Union und Europarat. Die Venedig-Kommission des Europarats ist eine hochanerkannte Kommission, die die Frage der Rechtsstaatlichkeit klar und deutlich beurteilen kann. Lassen Sie uns doch in dem Zusammenhang die Rolle der Venedig-Kommission stärken.
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Machen wir alles, dass die Europäische Union, wie es auch in den Verträgen angelegt ist, der Europäischen Menschenrechtskonvention des Europarats beitritt, sodass sich insgesamt in Europa sowohl im Raum der Europäischen Union als auch im Raum des Europarats grundlegende Regeln von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit abbilden und wir sie einhalten. Denn das ist es, was die Gründungsväter von Europa wollten: einen Raum von Frieden, Freiheit, aber auch des Rechts.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Axel Schäfer für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir stehen vor der deutschen Ratspräsidentschaft. Es ist richtig, dass FDP und Bündnis 90/Die Grünen hier Anträge vorlegen. Ich appelliere auch an unsere Bundesregierung, Essentials davon in ihr Programm und in die Diskussion darüber aufzunehmen. Ich tue das vor allen Dingen, weil ich mich daran erinnere, dass bei der deutschen Ratspräsidentschaft 1999 durch Gerhard Schröder und Joschka Fischer mit der Grundrechtecharta eine zentrale Grundrechteinitiative erfolgreich ergriffen worden ist.
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Damals hat Rot-Grün einen prominenten CDU-Politiker, den ehemaligen Verfassungsgerichtspräsidenten, das ehemalige Staatsoberhaupt Roman Herzog, als deutschen Vertreter in diesen Konvent geschickt. Auf dieser Basis sollten wir in diesem Parlament die Diskussion zwischen Union, Grünen, FDP, Linken und SPD führen und zu einem gemeinsamen Ergebnis nach unserem europäischen Verständnis kommen, nämlich dass die europäische Einigung eine zentrale Aufgabe deutschen Anliegens ist.
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Auch deshalb wird es wichtig sein, dass in dieser Ratspräsidentschaft die Konferenz zur Zukunft Europas vorangebracht wird. Da werden wir viele Kolleginnen und Kollegen aus anderen Ländern, von der Kommission und vom Rat, treffen und genau dieses Thema, dass wir eine Werte- und Rechtsgemeinschaft sind, voranbringen.
Wir tun das aber immer auch auf einem Hintergrund, und wir tun es aktuell bezogen auf eine Debatte. In diese Debatte sollte und muss sich der Bundestag einmischen. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Mai – ausgerechnet am Gründungstag des Europarates – hat deutlich gemacht, dass eine Diskussion notwendig ist, weil es Unterschiede gibt. Der Deutsche Bundestag ist in seiner großen Mehrheit für Europa: Ja zu Europa! – Deshalb gehen wir weiter.
Das Bundesverfassungsgericht ist in seiner großen Mehrheit der Auffassung: Ja zu Europa; aber wir haben Einwände. – Ich sage das nicht allein aufgrund meiner Interpretation dieses Urteils. Ich war seit 2002 bei sechs Verfahren in Karlsruhe. Ich habe die Diskussionen und die Entscheidungen, die da getroffen worden sind, alle miterlebt. Ich sage Ihnen hier ganz offen: Zwei Entscheidungen gegen europäische Institutionen haben mich sehr geschmerzt, und deshalb müssen wir sie diskutieren. Die eine war gegen das Europäische Parlament und die andere gegen die Europäische Zentralbank und den Europäischen Gerichtshof. Die Haltung des Bundestages ist aus meiner Sicht: Europa – ja. – Eine konkrete Schlussfolgerung daraus sollte sein: Deshalb sind ein Europäisches Parlament, ein untadeliger Europäischer Gerichtshof und eine unabhängige Europäische Zentralbank unabdingbar.
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Dass wir als Deutsche ganz praktische Erfahrungen damit gemacht haben, daran muss man erinnern. Es hätte diese Geschwindigkeit in der deutschen Einheit, in der Wiedervereinigung innerhalb der EU niemals gegeben, wenn das Europäische Parlament nicht außergewöhnlich gearbeitet hätte, um das Ganze zügig und nicht in einem langjährigen Beitrittsverfahren durchzuführen.
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Ohne einen starken Rechtsrahmen hätten wir es niemals geschafft, diese Gemeinschaft zusammenzuhalten. Vor allen Dingen: Wir hätten diese Währung niemals ohne eine Europäische Zentralbank erhalten. „Whatever it takes“; Sie können sich an die Krise erinnern.
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Es wird für uns darauf ankommen, noch mal deutlich zu machen: Es gilt nicht, was Tucholsky gesagt hat: „Die Nation ist das achte Sakrament -! Gott segne diesen Kontinent.“ Nein, es gilt unser Grundgesetz, was bedeutet, dass wir Deutsche gleichberechtigt in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt dienen wollen. So sollten wir es halten.
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Das Wort hat Dr. Christoph Ploß für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Bei dieser Debatte, aber auch bei vielen anderen europapolitischen Debatten hier im Deutschen Bundestag ist eines ganz deutlich geworden, nämlich dass wir bei den großen Themen noch stärker auf europäischer Ebene zusammenarbeiten und kooperieren müssen. Da kann man zum Beispiel die Klimaschutzpolitik, die Außen- und Sicherheitspolitik und die Entwicklungspolitik nennen. Wir haben europäische Grundwerte, mit denen wir uns auch in weltpolitisch relevante Debatten einbringen müssen, wenn wir das Ganze nicht autoritären Regimen überlassen wollen. Aber natürlich müssen wir auch innerhalb Europas unsere Debatten auf der Grundlage wichtiger Grundwerte führen.
Meine Damen und Herren, wenn man es sich auch geschichtlich anschaut, sieht man, dass die Europäische Union und ein geeintes Europa eine einzigartige Erfolgsgeschichte sind: Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, Toleranz, die Menschenwürde in den Mittelpunkt zu rücken, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, diese Werte haben über Kommunismus und Nationssozialismus triumphiert und dafür gesorgt, dass wir in Freiheit leben können und überall in Europa mehr oder weniger Staaten haben, die in Wohlstand leben können und prosperierende Perspektiven haben.
Deswegen ist es auch so wichtig, dass wir diese europäischen Grundwerte weiter stärken. Hätten wir uns hier vor 10, 15 Jahren in einer Debatte getroffen, dann hätten wir wahrscheinlich alle gesagt: Wir müssen diese europäischen Grundwerte vor allem nach außen verteidigen, gegen autoritäre oder diktatorische Staaten wie China, wie Russland oder vielleicht andere Staaten in dieser Welt.
Aber das Ganze hat sich mittlerweile geändert. Es ist nach wie vor wichtig, dass wir unsere Werte nach außen verteidigen, vielleicht wichtiger denn je. Aber eines haben viele Debatten – sogar hier im Deutschen Bundestag – deutlich gemacht: Wir müssen unsere europäischen Grundwerte auch nach innen verteidigen. Das kann man hier an einigen Debatten sehen. Wir haben Vertreter der Linkspartei, die mit dem Diktator in Venezuela flirten und diesen auch noch unterstützen wollen und das auf ihren Parteitagen auch offen zeigen.
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Wir haben Vertreter der AfD, die die russischen Völkerrechtsbrüche gutheißen und die sich teilweise mit Vertretern Assads treffen. All das kann niemand tolerieren, der eine Politik basierend auf europäischen Grundwerten möchte.
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Meine Damen und Herren, deswegen wird es so wichtig sein, dass auch vom Deutschen Bundestag Initiativen ergriffen werden.
Aber wenn man sich in Europa umschaut, sieht man, dass es da teilweise noch viel gravierender ist. Vor allem auf Polen und Ungarn wurde in dieser Debatte verwiesen. Da wird teilweise die Gerichtsbarkeit ausgehöhlt, und demokratische Grundsätze scheinen nicht mehr zu gelten. In Ungarn wird das Parlament faktisch entmachtet. All das können wir nicht hinnehmen, wenn wir in Zukunft ein starkes Europa haben wollen, und vor allem nicht, wenn wir unsere europäischen Werte – Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, soziale Marktwirtschaft – auch in andere Teile der Welt exportieren wollen. Meine Damen und Herren, deswegen bin ich den Kollegen von FDP und Grünen auch durchaus dankbar dafür, dass sie mit ihren Initiativen das Thema hier auf die Tagesordnung gesetzt haben.
Einige Punkte, die Sie benennen, sind auch richtig. Sie werden uns als CDU/CSU-Fraktion immer an Ihrer Seite haben, wenn es um den Einsatz für Pressefreiheit, für Meinungsfreiheit, für Toleranz usw. geht. Aber wir werden am Ende Ungarn, Polen oder andere Staaten, die demokratische Prinzipien aushöhlen wollen, nicht dazu bringen, wenn wir darauf setzen, zum Beispiel die Verträge zu ändern oder Einstimmigkeit festzuschreiben, wie Sie das in Ihren Anträgen teilweise vorschlagen;
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denn diese Staaten werden dem – das liegt ja fast in der Natur der Sache – nicht zustimmen.
Deswegen sage ich: Das Ganze mag schön und gut klingen, wenn zum Beispiel die Grünen vorschlagen, NGOs und internationale Organisationen zu stärken und darüber auch die Pressefreiheit zu fördern, aber da stellt sich die Frage: Nach welchen Kriterien sollen diese internationalen Organisationen denn unterstützt werden? All das ist vage und offen und kann schnell missbraucht werden.
Deshalb ist folgender Ansatz viel besser: Nachdem der mehrjährige Finanzrahmen verabschiedet worden ist – hoffentlich so schnell wie möglich – und der EU-Haushalt steht, ist die Vergabe der Mittel an rechtsstaatliche Kriterien zu knüpfen und die entsprechende Überprüfung ist über das Mehrheitsprinzip, zum Beispiel im Rat, zu ermöglichen. Dafür brauchen wir nicht die Einstimmigkeit. Das ist ein Ansatz, der im besten Sinne des Wortes Druck auf Länder wie Polen und Ungarn ausübt. Diesen Weg sollten wir gehen. Diesen Weg haben auch schon viele Vertreter der CDU/CSU vorgeschlagen. Das werden wir im Jahr der deutschen EU-Ratspräsidentschaft noch weiter forcieren; denn die Europäische Union ist als Rechtsgemeinschaft gegründet worden – das soll sie auch bleiben – und nicht als Selbstbedienungsladen.
Herzlichen Dank.
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Ich schließe die Aussprache und erteile dem Abgeordneten Dr. Diether Dehm das Wort zur Erklärung zur Aussprache nach § 30 unserer Geschäftsordnung.
Ja, meine Damen und Herren, zu meiner Rede eben kam aus den Reihen der AfD der Zuruf „Lügner“, als ich gesagt habe, dass die AfD der Steuerhinterziehung das Wort redet. Ich bezog mich in meiner Aussage auf die Diskussion am 13. Dezember 2017 und auf die Rede von Leif-Erik Holm, AfD, und zitiere aus dem Protokoll. Nachdem unsere Fraktion eine scharfe Kritik an den Paradise Papers eingebracht hatte, also an den Briefkastenfirmen, die nun mal identisch mit der Steuerhinterziehung sind, sagte Herr Holm – ich zitiere –: „Hier liegt das Problem“, – nämlich in der zu hohen Steuerbelastung für Superreiche in Deutschland – „und nicht woanders“.
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Ich zitiere weiter: „Wir brauchen … Paradise Papers auch für Otto Normalbürger und Otto Normalunternehmer …“ Daraufhin gibt es den Zwischenruf von Herrn Zimmermann von der SPD „Wir können nicht alle in die Schweiz ziehen!“ und den Zwischenruf von Herrn Hofreiter: Die kleinen Leute hinterziehen keine Steuern. – Dem schließe ich mich an. Deswegen habe ich Ihnen das gesagt, und davon kommen Sie nicht los.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir erleben heute alle die Auswirkung der großen Pandemie, die weltweit mit dem Coronavirus verbunden ist. Was wir bei dieser Gelegenheit immer wieder neu verstehen: Wir hängen als Menschen dieses Planeten alle voneinander ab. Niemand kann das als eine Angelegenheit begreifen, die nur auf nationaler Ebene gelöst werden kann. Wir sind eine Menschheit, und deshalb müssen wir auch eine gemeinsame globale Strategie in dieser Frage entwickeln.
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Für diejenigen, die so etwas nicht glauben, sind ja die jüngsten Ereignisse – auch in Deutschland – ein ganz sichtbares Zeichen. Wenn jetzt einige Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Betrieben in diesem Lande schlecht behandelt werden, dann hat das unmittelbar Auswirkung auf uns alle, auf die Möglichkeit, in bestimmten Landkreisen das Leben wieder normal zu praktizieren. Deshalb ist das die letzte Mahnung an all diejenigen, die das nicht wissen wollen: Wir haben eine gemeinsame Verantwortung, und wir müssen zusammenstehen. Das ist die Botschaft dieser Krise.
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Das gilt natürlich auch für Europa. Wir sind als global vernetzte Volkswirtschaft, als Volkswirtschaft, die sehr davon profitiert, dass Europa stark ist, unmittelbar darauf angewiesen, dass wir die Dinge, die jetzt zu tun sind, nicht nur in diesem Lande auf den Weg bringen, sondern dass das überall in Europa gleichermaßen geschehen kann und dass überall die Möglichkeit besteht, das Richtige, das Notwendige zu tun, um die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger zu schützen, aber eben auch, um die Wirtschaft zu stabilisieren und, wenn es so weit ist, auch wieder anzukurbeln.
Die Möglichkeiten sind sehr unterschiedlich – das wissen wir alle –, und sie sind nicht nur deshalb unterschiedlich, weil die Stände der Staatsverschuldung in all den Ländern sehr verschieden sind. Deutschland hat es in den letzten Jahren geschafft, seine Verschuldung auf unter 60 Prozent der Wirtschaftsleistung zu reduzieren. Deshalb sind wir jetzt in der Lage, all das zu finanzieren, was wir auf den Weg gebracht haben, und wir werden sehen, dass auch unsere Schulden steigen: mindestens auf 75 Prozent der Wirtschaftsleistung, wahrscheinlich etwas mehr. Aber das ist eine ganz andere Herausforderung, wenn der Sockel über 100 Prozent liegt. Deshalb ist es für uns notwendig, dass wir hier europäische Solidarität praktizieren und auf den Weg bringen. Genau das ist das, worum ich Sie heute bitte und worüber der Bundestag beraten muss.
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Die europäischen Finanzminister haben in der Euro-Gruppe und all den anderen Strukturen einen Vorschlag gemacht für ein über 500 Milliarden Euro umfassendes Paket, das dazu beitragen soll, dass überall in Europa das Notwendige geschehen kann. Es hat drei Elemente, die jetzt alle Stück für Stück auf den Weg gebracht werden.
Das erste Element ist die Stärkung der Möglichkeiten der Europäischen Investitionsbank. Sie soll bis zu 200 Milliarden Euro an kleine und mittlere Unternehmen überall in Europa direkt vergeben können. Das ist eine wichtige Unterstützung, und es ist – auch das soll hier gesagt werden – etwas ganz Besonderes; denn diese Kredite belasten die Staatsfinanzierung der Länder, in denen das für Unternehmen konkret wirksam wird, überhaupt nicht. Das ist etwas, was wir als gemeinsamen Akt der Solidarität zustande bringen wollen. Ich will an dieser Stelle nur sagen: Aus meiner Sicht geht es wirklich um kleine und mittlere Unternehmen, und das sollte auch die Perspektive sein, wenn wir uns da schließlich geeinigt haben.
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Das Zweite ist das Programm SURE. Wir sorgen also dafür, dass überall in Europa so etwas gemacht werden kann wie das, was wir in Deutschland tun mit unserer Arbeitslosenversicherung und dem Kurzarbeitergeld, das sie für die Betriebe und zugunsten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer finanziert. Das gibt es anderswo nicht. Einige Länder werden auch nicht in der Lage sein, das jetzt schnell zu konstruieren und zu finanzieren. Damit das gelingt, hat die Europäische Union einen Vorschlag gemacht, solche Programme der Kurzarbeitergeldfinanzierung zu etablieren. Ich hoffe, dass noch diese Woche die notwendigen Schlusseinigungen zustande kommen. Dann werden wir diesen Bundestag bitten, mit einem entsprechenden Gesetz das auch zu unterstützen.
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Das Dritte ist das, worum es heute geht, nämlich das besondere Programm, das wir im Rahmen des Europäischen Stabilitätsmechanismus auf den Weg bringen und mit dem wir sicherstellen wollen, dass die Staaten tatsächlich in der Lage sind, die notwendigen Finanzierungsaktivitäten zu entfalten. Bis zu 2 Prozent der Wirtschaftsleistung der einzelnen Länder sollen als Kreditlinie beim Europäischen Stabilitätsmechanismus in Anspruch genommen werden können. Es hat darüber im Vorfeld eine sehr breite Debatte gegeben, und man hat gemerkt, wo die Bedenken bei einigen Ländern waren, die schon wussten, dass das gut und nützlich ist.
Die Bedenken hatten etwas damit zu tun, dass man Bilder von der letzten Schuldenkrise vor zehn Jahren in Erinnerung hatte, wo es um Troika ging und große Debatten über die Rentenpolitik, die Arbeitsmarktpolitik, die Steuerpolitik, das Rechtssystem dieser Länder. Das ist jetzt, wo es um die Bekämpfung einer gesundheitlichen Krise geht, die uns als Menschheit insgesamt bedroht, vielleicht wirklich keine gute Idee.
Deshalb ist es richtig, dass wir einen anderen Weg gehen und jetzt möglich machen, dass gewissermaßen vorab geklärt ist, unter welchen Bedingungen solche Kreditlinien in Anspruch genommen werden, wie die Kreditbedingungen sind, und – auch das steht schon fest – dass die Europäische Union für alle Länder der Euro-Zone klargestellt hat, dass sie in der Lage sein werden, ihre Kredite auch wieder zu bedienen und zurückzuzahlen, dass sie also das bewerkstelligen können. Das alles ist schon der Fall, und deshalb sage ich mal vorher: Wenn das Programm dann etabliert werden kann, weil der Bundestag mir genehmigt, am morgigen Freitag die notwendigen Entscheidungen im ESM zu treffen, dann wird es so sein, dass das auch in Anspruch genommen wird.
Lassen Sie mich noch einen Ausblick wagen. Zu den Dingen, die wir als Finanzminister in Europa diskutiert haben und die auch die Regierungschefs auf ihre Agenda gesetzt haben, gehört auch noch, dass wir einen Recovery Fund in Europa auf den Weg bringen wollen.
({5})
Den halte ich auch für notwendig. Neben die ersten 500 Milliarden Euro muss eine weitere Maßnahme treten, die in der Lage ist – etwa genauso wie das mit diesen 500 Milliarden Euro der Fall ist –, dafür Sorge zu tragen, dass jetzt, in diesem Jahr, im nächsten und im übernächsten Jahr die notwendigen Aktivitäten überall in Europa unternommen werden können. Und ganz klar: Da geht es nicht nur um Kreditprogramme. Es muss auch möglich sein, dass die Staaten in der Lage sind, ihre Aufgaben tatsächlich zu finanzieren. Es geht natürlich nicht um Budgetfinanzierung, sondern um die Frage: Wie kriegt man das eigentlich hin, dass ganz konkrete, identifizierbare Aufwendungen, die etwas mit Recovery, mit Wiederaufbau, in Europa zu tun haben, davon auch bezahlt werden können? Das zu formulieren und als einen Beitrag europäischer Solidarität auf den Weg zu bringen, das ist jetzt unsere Aufgabe.
Aber weil es uns als Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch diejenigen, die uns dort in Europa vertreten, in einem ersten Schritt gelungen ist, zu formulieren, wie ein Konsens in Europa aussehen könnte, und nicht eine der Parteien an der einen oder anderen Front zu sein, muss es jetzt, sage ich, auch unser Ehrgeiz sein, einen solchen europäischen Recovery Fund zu konzipieren, der auf den Konsens aller sehr unterschiedlich aufgestellten Mitgliedstaaten Europas stößt und in der Lage ist, dort zu helfen, wo das notwendig ist. Ich bin sehr zuversichtlich und hoffe dann, wenn wir damit zurückkommen, auf Ihre Zustimmung.
Schönen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete Peter Boehringer für die AfD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung bringt heute schon wieder eine neue Milliardenmaßnahme der EU in den Bundestag, ein Pandemic-Crisis-Instrument über 240 Milliarden Euro. Man hat es ja! Die deutsche Bonität gibt diese Kredite für Euro-Südland noch immer her. Doch vieles wird dem deutschen Steuerbürger bzw. ‑bürgen dabei wieder einmal nicht gesagt.
Zunächst einmal zum Thema Solidität; der Minister hat es eben ja auch betont. Diese Solidität, die hier ex ante von allen südeuropäischen Staaten angenommen wird, ist ein politischer Befehl. Es ist ein Befehl! Minister Scholz und die EU wissen heute schon mehr, als die Märkte zu diesen Ländern in drei Jahren wissen werden. Das ist schon eine Leistung, echte Hybris, ja. Aber gut.
Erstens. Kredite an wirtschaftlich angeblich noch solide Staaten widersprechen der Gründungsbehauptung des ESM, wonach die Staatengemeinschaft lediglich in Notsituationen einspringt. Zwar ist eine Notsituation für den Euro tatsächlich gegeben, und zwar permanent seit 2010; denn die Finanzkrise der Euro-Südzone war ja nie beendet. Corona ist heute aber nur der Anlass, um ein weiteres Transfervehikel für deutsches Geld einzuführen.
Zweitens. Die akute Coronaphase ist beendet. Am Montag dieser Woche gab es in ganz Berlin noch zwei Neuinfektionen. Und nein, die Seuche wurde nicht durch den verfügten Stillstand des Landes beendet. Als der Shutdown Ende März befohlen wurde, war das Virus in Deutschland bereits am Ende oder fast am Ende seiner saisonalen Ausbreitung.
({0})
– Wir wissen das inzwischen sicher, auch wenn die Bundesregierung uns diese Informationen zum Teil bis heute vorenthält.
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– Ja, es war schon klar, dass das kommt.
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Der Reprofaktor von Corona liegt seit März konstant im ungefährlichen Bereich. Inzwischen entsteht ein größerer medizinischer Schaden – –
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– Hören Sie zu; dann lernen Sie noch was, Herr Schneider.
Inzwischen entsteht ein größerer medizinischer Schaden durch die Corona-Shutdown-Maßnahmen als durch Corona selbst. Verschobene OPs werden Tausende Opfer fordern,
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fehlende Bewegung und Sozialkontakte ebenfalls.
({5})
Nur ein Zitat aus dem – na ja, nennen wir es so – Non-Paper der Krisenabteilung des Innenministeriums: Die Coronagefahr ist offenkundig nicht größer als die vieler anderer Viren. – Herr Seehofer feuerte den Verfasser solcher Wahrheit einfach, getreu dem Idi-Amin-Prinzip der Meinungsfreiheit: Ja, ich gewähre Freiheit der Rede, aber keine Freiheit nach der Rede.
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Der Shutdown müsste schon seit sechs Wochen beendet sein. Der volkswirtschaftliche Schaden Deutschlands alleine nur durch diese unnötige Verzögerung liegt bereits jetzt bei über 200 Milliarden Euro.
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Drittens. Corona stellt einen symmetrischen Schock dar, für alle Länder der EU gleich. Das Virus kann darum keine asymmetrischen Geldtransfers zulasten Deutschlands begründen. Und trotz des nominal hohen Volumens, des riesigen Volumens von ECCL wäre ECCL noch nicht mal ein besonders wichtiger Topf. Die EZB-Programme werden noch viel wichtiger sein: 1,5 Billionen und mehr. Aber man will offenbar heute nicht die gesamte EU-Rettung über die EZB machen, da deren Anti-Corona-Programm die vom Bundesverfassungsgericht ja dummerweise eben erst definierten Kriterien für verbotene monetäre Staatsfinanzierung klar erfüllt.
({8})
Viertens. ECCL steht in direkter Haushaltskonkurrenz zu nationalen Coronawirtschaftsprogrammen, die wir leider in gewaltigem Umfang benötigen werden, um die völlig unnötigen Wirtschaftsschäden in Deutschland zu kompensieren: 20 bis 30 Milliarden Euro pro Woche des anhaltenden Stillstands. Just heute – heute! – kommt die neue Steuerschätzung heraus. Es ist schon klar: Es fehlen nach nur sechs Wochen Coronastillstand 120 Milliarden Euro in der Staatskasse. Sogar ohne Coronaprogramme ist ein weiterer deutscher Nachtragshaushalt auf Pump schon heute absolut sicher.
Die AfD spricht sich in dieser Konfliktsituation um Mittel ganz klar für die Rettung der deutschen Arbeitnehmer und Unternehmen aus und lehnt alle Hilfsansätze über EU-ropäische Institutionen ab.
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Aus diesem Grunde werden wir natürlich auch den Entschließungsantrag der FDP ablehnen, der unverständlicherweise ebenfalls noch mehr deutsche Gelder über den Umweg EU nach ganz EU-ropa – außer Deutschland natürlich – transferieren will.
Fünftens. ECCL stellt ein fast bedingungsloses Kreditprogramm dar. Der ESM verlangt keinerlei Nachweise der Verwendung der Gelder. Die Mittel dürfen etwa auch nur zu sehr vage definierten Zwecken der Vorsorge verwendet werden. Das ist ein weiter Begriff. Gesundheitliche Vorsorgemaßnahmen können damit ebenso gemeint sein wie eben Haushaltsvorsorge von Griechenland, Spanien, Frankreich.
Sechstens. PCSI verlangt im Gegensatz zu allen bisherigen ESM-Programmen keinerlei strukturelle Anpassungen von den Nehmerländern. Auch das widerspricht völlig den Forderungen und Versprechungen des originären ESM-Vertrages, den wir ja heute – ich erinnere daran – im Wortlaut überhaupt nicht verändern.
Der im FDP-Entschließungsantrag naiv-optimistisch von den Nehmerländern verlangte jahrelange Primärüberschuss ist darum niemals zu erreichen. Ohne wirtschaftliche Strukturanpassungen können die Euro-Südländer niemals nachhaltige Primärüberschüsse erzielen – und genau das verlangen Sie in Ihrem Entschließungsantrag. Letztlich haben diese Länder die Chance erst wieder, wenn sie das seit 1999 bestehende unselige Euro-Korsett abstreifen und so ihren Realwirtschaften endlich wieder Wettbewerbsfähigkeit verleihen.
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Das ist der tabuisierte rosarote Elefant im Raum. Jeder weiß um ihn, aber keiner spricht diese Ursache der Euro-Krise an, die lange vor Corona existiert hat und die kein ECCL-Programm lösen kann.
Siebtens und letztens muss man noch daran erinnern, warum eigentlich 2012 der ESM überhaupt eingerichtet wurde. Angeblich waren die Euro-Südländer damals nicht mehr kapitalmarktfähig, was per se schon mal eine falsche Aussage ist. Das geht gar nicht. Inzwischen haben sie trotz Corona und trotz Dauerrezession dank EZB eindeutig wieder Zugang zum Kapitalmarkt, sogar zu echten Traumkonditionen von 0, 0,5 bis 2,2 Prozent Jahreszins. Das sind Traumkonditionen; das ist nichts. Und es kommt noch besser: Aufgrund der Voodoo-Ökonomie der EZB-Nullzinspolitik wären alle Euro-Südländer heute in der Lage, die ESM-Kredite am regulären Kapitalmarkt mit nur minimalen Zusatzkosten umzuschulden. Damit ist der einzige Grund entfallen, weswegen der ESM 2012 etabliert wurde. Der ESM kann somit aufgelöst werden. Wir haben genau das heute beantragt. Es geht; die EZB-Zinsplanwirtschaft macht dieses Wunder möglich.
Bringen Sie den deutschen Steuerzahler endlich aus der Haftung! Die Transferprogramme von deutschem Geld und deutscher Bonität an internationale Gläubigerbanken Süd-EU-ropas waren schon vor Corona illegal und grundfalsch. Sie werden keinesfalls durch Corona legitimer und sinnvoller.
Herzlichen Dank.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen Kollegen! Deutschland ist solidarisch und sich seiner Verantwortung für ein vereintes Europa bewusst. Kollege Boehringer, Deutschlands Wohlstand, Millionen Arbeitsplätze in Deutschland
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hängen von Europa ab.
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60 Prozent unseres Exportes gehen in den Euro-Raum.
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Deswegen: Wenn Sie sich in einer antieuropäischen, nationalistischen Art und Weise für deutsche Arbeitsplätze einsetzen,
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dann sage ich Ihnen: Das Fundament in der Zukunft für Hunderttausende, für Millionen Arbeitsplätze in Deutschland ist Solidarität, ist Zusammenhalt in Europa.
({4})
Deutschland hat Solidarität bewiesen, und auch die Mechanismen des letzten Jahrzehnts haben dazu geführt, dass Länder wie Griechenland, Irland, Portugal, Spanien und Zypern wieder auf einen wirtschaftlichen Wachstumspfad kommen konnten; teilweise war das Wachstum höher als in Deutschland.
Wir haben jetzt eine Krise. Sie ist symmetrisch und nicht von den Mitgliedstaaten verschuldet worden. Aber anders als vor zehn Jahren wird kein Staat Probleme mit der Schuldentragfähigkeit haben. Wir müssen sehen – ich glaube, das gilt es auch einmal zu würdigen –: Das ist auch Ergebnis unserer europäischen Solidarität. Die Marktzinsen sind auch dank der guten deutschen Bonität überall in Europa niedrig. Deutschland ist der Ankeremittent von Staatsanleihen. Der Euro ist auch wegen der Stärke der deutschen Volkswirtschaft eine stabile und harte Währung. Deutschland ist mit rund 27 Prozent am Kapital des ESM sowie mit 18 Prozent am Kapital der EIB beteiligt, und Deutschlands Anteil am EU-Haushalt beträgt nach dem Brexit 25 Prozent.
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Kollege Rehberg, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung aus der AfD-Fraktion?
Nein. Ich habe Prinzipien, liebe Kolleginnen und Kollegen; deshalb schlichtweg: Nein.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie sich den AfD-Antrag mal in Ruhe durchlesen, stellen Sie fest: Die AfD will die Rettungsschirme ESM und EFSF abschaffen. Wissen Sie, was Sie damit bewirken? Eine Kernschmelze in Europa! Und Sie bewirken damit, dass gerade die Länder, die es schwerer haben als Deutschland, noch tiefer in die Krise geraten. Ich habe zu Beginn schon deutlich gemacht, was das bedeutet. Mich lassen die Zehntausenden Toten in Italien nicht ruhig zuschauen. Was Sie provozieren, wenn wir den ESM und den EFSF einstellen würden, ist, dass diese Staaten förmlich implodieren würden.
({1})
Die Bilder, die Sie damit produzieren wollen, Ihre antieuropäische Haltung – das sage ich, glaube ich, für alle anderen Fraktionen im Deutschen Bundestag –, das ist nicht der Geist, der in Deutschland zu Europa herrscht.
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Bundesfinanzminister Scholz hat es ausgeführt: Wir haben drei Teile: SURE – also das Kurzarbeitergeld –, 200 Milliarden Euro bereitgestellt durch die Europäische Investitionsbank und die Möglichkeit – das kann jeder Staat selber entscheiden –, das ESM-Instrument der ECCL in Anspruch zu nehmen.
Erste Bemerkung. Der Deutsche Bundestag ist beteiligt. Wir entscheiden heute im Grundsatz, dass der deutsche Vertreter diesem Programm morgen zustimmen kann. Über Anträge jedes einzelnen Landes, das dies in Anspruch nehmen will, werden wir im Deutschen Bundestag entscheiden, und wir werden danach als Haushaltsausschuss in Abständen zu den entsprechenden Kontrollen der europäischen Institutionen Stellung nehmen oder nicht und das sogar möglicherweise im Deutschen Bundestag, wenn notwendig, behandeln.
Es gibt da eine Konditionalität, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich rate nur jedem, sich die Anlage 7a und den Mustervertrag durchzulesen. Ich halte es persönlich für sehr richtig, dass die Konditionierung jetzt auf die Überwindung der Coronakrise ausgerichtet ist. Ich glaube, das ist in dieser Stunde das Entscheidende. Und, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir hier dem Bundesfinanzminister Prokura geben, morgen im ESM-Gouverneursrat zuzustimmen, so glaube ich, ist das der richtige Weg.
Lassen Sie mich zum Schluss noch eine zweite Bemerkung machen, zum EU-Haushalt und zum Recovery Fund. Ja, ich glaube, es ist richtig und wichtig, dass wir hier schnellstmöglich eine Entscheidung über den mittelfristigen Finanzrahmen herbeiführen. Ich weise aber – und ich mache das nicht zum ersten Mal – an dieser Stelle darauf hin, dass auch die Europäische Kommission mit ihren Strukturen gefordert ist. Herr Minister Scholz, es kann nicht sein, dass wir in dieser Förderperiode fast 1 Billion Euro im EU-Haushalt haben, dass – Stand heute – fast 300 Milliarden Euro der Mittel gebunden, aber nicht umgesetzt sind. Ich finde: Das ist im letzten Jahr der Förderperiode nicht akzeptabel.
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Was den Recovery Fund angeht, bin ich völlig bei Ihnen: angekoppelt an den EU-Haushalt und konditioniert. Aber bitte sorgen Sie dann dafür, dass das Geld auch umgesetzt wird. Geld, das irgendwo in Brüssel rumliegt, hilft weder in Italien, Spanien, Frankreich, Portugal noch sonst wo. Deswegen wird es darauf ankommen, nicht nur Geld ins Schaufenster zu stellen, sondern auch Mechanismen der Umsetzung zu beachten.
Herzlichen Dank.
({4})
Ich erteile dem Abgeordneten Hollnagel das Wort zu einer Kurzintervention.
Vielen Dank für das Wort. – Sehr geehrter Herr Rehberg, ich weiß nicht, wie Sie Solidarität definieren. Ich definiere Solidarität dahin gehend, dass der Reichere dem Ärmeren unter die Arme greift.
({0})
In diesem Zusammenhang habe ich eine Frage:
({1})
Ist Ihnen bekannt, dass das Medianvermögen in Deutschland Ende 2019 35 313 Euro betrug, dass das Medianvermögen der Italiener 91 889 Euro betrug und das der Franzosen 101 000 Euro betrug? Wäre es dann nicht vielleicht überlegenswert, dass die Reicheren, nämlich die Italiener und die Franzosen, den Deutschen gegenüber mal etwas Solidarität zeigen?
({2})
Möchten Sie erwidern? – Dann haben Sie jetzt das Wort.
Herr Kollege, ich definiere Solidarität anders.
({0})
Für mich ist solidarisch, wenn wir anderen, denen es offenkundig nicht so gut geht wie uns – da ist der Parameter, den Sie genannt haben, überhaupt nicht zielführend –,
({1})
Hilfe zur Selbsthilfe geben. Das ist mein Ansatz von Solidarität, sowohl in Deutschland als auch in Europa und generell.
Wissen Sie, mit dem, was Sie und auch der Kollege Boehringer hier aufgeführt haben, versuchen Sie, eine Stimmung zu generieren und aufzunehmen, um die Menschen gegen Europa aufzubringen.
({2})
Ich sage Ihnen: Wir hatten gerade den 75. Jahrestag des 8. Mai 1945.
({3})
– Ja, ja.
({4})
Ich sage Ihnen erstens: Ich bin sehr glücklich, dass wir 75 Jahre Frieden in Europa hatten. Und ich sage Ihnen zweitens als Ostdeutscher – es ist das Jahr 30 der deutschen Einheit –, dass ich glücklich bin, dass der Eiserne Vorhang 1990 gefallen ist.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Otto Fricke für die FDP-Fraktion.
({0})
Geschätzte Frau Vizepräsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, wir müssen mal eines klarmachen – es war in der Debatte vorher doch auch klar –: Europa ist eine Rechts- und eine Wertegemeinschaft. Zu den Werten, die an vielen Stellen christlich basiert sind, gehört nicht nur das Wort „Solidarität“, dazu gehört auch das Wort „Nächstenliebe“.
Was heißt Nächstenliebe? Es geht dabei nicht um die Frage: „Bin ich reich, oder bin ich arm?“,
({0})
sondern es geht um die Frage: Bin ich in einem Moment schwach, oder – wenn es um meine Verantwortung geht – bin ich in einem Moment stark? Das ist das, worum es heute und worum es bei der Frage „Wie helfen wir einander in Europa?“ geht.
({1})
Es geht nicht um reich, um arm, sondern es geht um stark, um schwach, um denjenigen, der Hilfe braucht, und denjenigen, der Hilfe leisten kann.
Meine Damen und Herren, wir können Hilfe leisten; das ist heute hier wenig erwähnt worden. Ich weiß: Besonders auf einer Seite des Hauses wird das ungerne gehört. Warum ist Deutschland in der Lage, seiner Verantwortung gerecht zu werden? Weil wir in den vergangenen Jahren – Herr Minister, man hätte es besser machen können – gespart haben. Wir haben in der Zeit gespart und können jetzt in der Not Hilfe leisten, nicht nur für uns, sondern – und das gehört sich so in einer europäischen Familie –
({2})
wir können auch denen helfen, die sich im Moment nicht in dem Maße helfen können, wie es normal notwendig wäre.
({3})
Worüber wir aber reden müssen – das ist der Grund, warum meine Fraktion am Ende mit Enthaltung votieren wird –, ist die Frage des richtigen Weges der Hilfe. Wie gestalte ich es so, dass ich dauerhaft helfen kann? Und wie gestalte ich es auch gleichzeitig so, dass derjenige, dem ich helfen will und muss und kann, am Ende nicht wieder in dieselbe Situation hineinkommt? Denn das ist doch die Aufgabe von uns als Politikern, von Parlamenten: zu verhindern, dass dieselben Fehler noch mal passieren, dass es zu Situationen und Bildern kommt, die wir alle nicht noch einmal sehen wollen.
({4})
Deswegen gibt es von uns eine ausdrückliche Unterstützung für das Programm der EIB. Es gibt auch für SURE eine Unterstützung. Aber ich frage Sie, Herr Minister: Warum haben wir denn so eine starke Leistungsfähigkeit beim Kurzarbeitergeld? Weil Arbeitgeber und Arbeitnehmer diese Leistungen erbracht haben.
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Ich erwarte von Ihnen, sich in Europa dafür einzusetzen, dass die anderen Länder in Zukunft auch eine Absicherung schaffen, die Arbeitgeber und Arbeitnehmer so aufbauen, dass sie in der nächsten Krise – denn Krisen kommen immer wieder – entsprechend reagieren können.
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Das ist die Hilfe, die wir geben, damit andere auf Dauer helfen können.
Zu der Frage des ESM. Ich muss dem Kollegen Rehberg und anderen widersprechen: Das ist eben nicht der richtige und präzise Weg. Ja, es ist ein Weg; aber es ist nicht der richtige und nicht der präzise. Kollege Rehberg, ich darf zum Thema, was der ESM ist, den berühmten Abgeordneten Wolfgang Schäuble zitieren. Er hat nämlich gesagt:
Es gibt Unterstützung
– über den ESM –
nur unter den Voraussetzungen der Konditionalität, also klare Auflagen, klares Sanierungsprogramm und immer nur dann, wenn es zur Aufrechterhaltung der Stabilität der Eurozone insgesamt unerlässlich ist …
Das war immer die Ultima Ratio, die wir mit dem ESM machen wollten. Und diesen Pfad – da verstehe ich meine christlich-demokratischen Freunde nicht ‑verlässt die Bundesregierung jetzt hier mit diesem Antrag. Das halten wir für nicht richtig.
({7})
Denn – das will ich zum Schluss noch deutlich sagen, Herr Kollege Rehberg – in der Anlage 7 a, die Sie zitiert haben, die man sich anschauen sollte, steht nur, was auch in der Anlage 2 a steht: „Die einzige“ – ich betone: die einzige! – „Voraussetzung für den Zugang zur Kreditlinie wird darin bestehen, dass die Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets, die die Hilfe beantragen, sich verpflichten, die Kreditlinie“ für Dinge zu nehmen, die direkt oder indirekt mit Gesundheitsversorgung, Heilung oder Prävention zu tun haben. Damit – das wissen Sie – ist Tür und Tor für alles geöffnet.
({8})
Meine Damen und Herren, ich will zum Schluss ganz klar sagen: Wir enthalten uns heute. Wir sehen, dass dieser Beschluss gefasst worden ist. Wir sehen auch, dass auf europäischer Ebene hier nichts Neues kommen wird. Wir werden uns deswegen – ich war überrascht, Herr Minister, dass Sie die Anträge der anderen Länder heute in Ihrer Rede angekündigt haben – diese Anträge ganz genau angucken und werden dann sehen, wo wir in der Verpflichtung stehen, zu helfen; denn Hilfe ist ein Teil dieses wunderbaren Kontinentes.
Herzlichen Dank.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich mache Sie darauf aufmerksam, dass in sechs Minuten die Zeit für die namentliche Abstimmung erschöpft ist. Das heißt, wenn Sie noch nicht Gelegenheit hatten, an ebendieser Abstimmung teilzunehmen, dann sollten Sie sich jetzt bitte auf den Weg machen.
Das Wort hat der Kollege Fabio De Masi für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Europa befindet sich in der tiefsten wirtschaftlichen und gesundheitlichen Krise seit der großen Depression. Europa beweist sich eben nicht in Sonntagsreden oder durch das Schwingen von EU-Fähnchen, sondern Europa beweist sich in der Not.
({0})
Die Situation in Italien und Spanien war dramatisch. Ich empfinde es als eine große Katastrophe für Europa, dass wir, als Italien den Höhepunkt dieser Pandemie erlebte, keine Schutzmasken, kein medizinisches Gerät unmittelbar liefern konnten, auch weil wir selbst nicht in der Lage waren, uns zu helfen. Ich stelle für meine Fraktion fest: Die Privatisierung von Krankenhäusern und das Staatsversagen beim Katastrophenschutz – dieser Unsinn muss endlich der Vergangenheit angehören!
({1})
Für Italien war diese Erfahrung traumatisch. Wir hatten eine Situation, dass das Militär Leichensäcke aus Bergamo abtransportieren musste, weil es nicht genug Platz auf den Friedhöfen gab. Die Mehrheit der Italiener spricht sich mittlerweile in einer Umfrage für einen EU-Austritt aus. China ist das beliebteste Land, Deutschland eines der unbeliebtesten. Ja, das ist doch eine Katastrophe historischen Ausmaßes.
({2})
Ich sage das auch als deutsch-italienischer Bundestagsabgeordneter, dessen Großvater in Erdlöchern übernachtet hat, damit Damen und Herren wie hier auf der rechten Seite des Hauses nie wieder an die Macht kommen.
({3})
Er stand meinem deutschen Großvater im Krieg gegenüber. Solange ich hier einen Atemzug abgebe, ist es meine Verantwortung, dass wir eine solche Katastrophe in Europa nicht mehr erleben.
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Deswegen will ich auch sagen, dass Sie hier Fake News verbreiten. Meine Fraktion ist sehr dafür, die Reichen – auch in Italien, auch die Ferreros oder die Agnellis – in die Pflicht zu nehmen. Aber es ist wohlfeil, hier in Deutschland Steuergerechtigkeit abzulehnen, Briefkästen in der Schweiz zu haben, wie im Fall Ihrer Fraktion, und gleichzeitig über die Besteuerung der Reichen zu schwätzen.
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Denn es ist doch so, dass dieser Vergleich mit dem Medianvermögen überhaupt nicht trägt. Meine Urgroßmutter in Italien hatte einen Ziegenstall; das war ihre Behausung. Auch das geht mit in das Vermögen der Italiener ein, weil in Italien mehr Menschen in den eigenen vier Wänden leben, weil es dort ein anderes System der Altersvorsorge gibt.
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Ich will hier auch noch einmal sagen: Es gibt in der öffentlichen Debatte über die Situation Europas einige Verwirrung. Italien hat einen Leistungsbilanzüberschuss. Italien hat seit 25 Jahren einen Primärüberschuss, einen Haushaltsüberschuss vor Zinsen. Aber sie kommen trotzdem aus den Schulden nicht raus; denn wenn man kürzt, bis man im Koma liegt und eine Depression herrscht, dann kann man den Schuldenstand nicht verringern. Daran sollte man sich auch in Deutschland erinnern. Wir kennen doch die Geschichte Europas; wir kennen die Geschichte von Versailles. Wir wissen, dass man Ausgaben nicht bis ins Koma kürzen kann, wenn man Schulden verringern möchte.
({7})
Es ist richtig, dass es in Italien zum Beispiel Korruption und Vetternwirtschaft und vieles andere gibt. Aber man erreicht den Strukturwandel nicht, wenn man nicht mehr öffentliche Mittel investiert und einer verlorenen Generation wieder Hoffnung gibt.
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Ich sage deswegen: Es ist gut, wenn nun auf Kürzungsauflagen beim ESM verzichtet wird, wenn es darum geht, das Gesundheitswesen zu verbessern. Aber das ist doch ein Tropfen auf den heißen Stein. Es geht um 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in einer Krise historischen Ausmaßes.
63-mal hat die EU-Kommission seit 2011 EU-Mitgliedstaaten aufgefordert, bei den Gesundheitsausgaben zu kürzen. Das macht die Krise doch jetzt teurer und tödlicher als nötig; denn es ist doch für jeden, auch vor den Fernsehbildschirmen, ersichtlich: Wir können die Wirtschaft auch deswegen nicht mehr so schnell hochfahren, weil unser Gesundheitswesen sonst überlastet ist. Deswegen macht Kürzen bis in die Krise hinein die Krise teurer und tödlicher als nötig.
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Ich will von daher auch noch einmal sagen: Die Debatte, die wir hier in Deutschland über Coronabonds geführt haben, ist wirklich absurd. Würde die Europäische Zentralbank einen solchen Bond kaufen, gäbe es null Zins- oder Haftungsrisiko für Deutschland; denn eine Zentralbank kann nie in eigener Währung pleitegehen. Es gibt keinen Währungsraum in der Welt, in dem das denkbar wäre. Großbritannien – darauf bezieht sich die AfD ja immer gerne – finanziert ihre Regierung sogar direkt über die Zentralbank. Es ist zum Beispiel nicht denkbar, dass die US-Zentralbank eine US-Staatsanleihe nicht mehr akzeptiert. Solange wir dieses künstliche Insolvenzrisiko in der Euro-Zone haben, weil wir sagen: „Die Staaten dürfen sich kein Geld bei der EZB leihen, sondern nur bei den Banken“, so lange werden wir niemals aus diesem Krisenmodus herauskommen.
({10})
Ich will auch noch ein paar Sätze zu dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes sagen: Ja, Zentralbanken sind mächtige Institutionen; man muss sie eben auch durch Parlamente kontrollieren. Aber es ist ein Problem, wenn sich die Verfassungsrichter nur vom Bundesverband deutscher Banken und ein paar ordoliberalen Ökonomen beraten lassen.
({11})
Es geht nicht, dass man jahrelang die Unabhängigkeit der Zentralbank predigt wie die katholische Kirche die unbefleckte Empfängnis und dann bei jeder geldpolitischen Entscheidung einen Stuhlkreis gründen möchte. Man muss sich entscheiden, was man will. Ja, wir wollen die demokratische Kontrolle der Zentralbank. Aber was nicht geht, ist, hier jahrelang zu verhindern, dass die EZB ihren Job machen kann, und dann den Aufstand zu proben, verehrte Damen und Herren.
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Deswegen sage ich: Wer diesen Grundkonflikt lösen möchte, muss das Mandat der Europäischen Zentralbank in den Blick nehmen. Wenn man den Euro haben will, dann muss man sich entscheiden: Entweder wir haben in Europa eine gemeinsame Finanzpolitik oder wir verbieten der Zentralbank, Staatsfinanzierung zu betreiben. Wenn man aber beides nicht will – keine gemeinsame Finanzpolitik und keine monetäre Staatsfinanzierung –, dann muss man sich irgendwann vom Euro verabschieden
({13})
und dann muss man der deutschen Bevölkerung erklären, dass die Krise noch teurer wird und wir nicht mehr aus dieser Depression herauskommen.
Vielen Dank.
({14})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Zeit für die namentliche Abstimmung ist vorbei. Ich stelle die Frage: Gibt es noch ein Mitglied des Hauses, welches seine Stimme nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall.
Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.
Wir fahren in der Debatte fort. Das Wort hat der Kollege Sven-Christian Kindler für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das vorliegende Programm für eine Kreditlinie des ESM zur Finanzierung von Gesundheitskosten in dieser Coronakrise ist sinnvoll; deswegen werden wir Grüne heute zustimmen.
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Aber klar ist auch, Herr Minister: Das reicht in dieser schweren Finanz- und Wirtschaftskrise nicht aus. Das ist die schwerste Wirtschaftskrise für Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Herr Minister, Sie haben hier von einem Programm gesprochen, das bis zu 500 Milliarden Euro umfasst. Das klingt erst mal viel; aber ich finde, man sollte es auch nicht schönrechnen. Konkret zu den Zahlen:
Erstens soll die Europäische Investitionsbank mit diesem Programm – wir unterstützen das – mit Garantien von 25 Milliarden Euro weitere Gelder mobilisieren mit dem Hebelfaktor 8, um so auf ein Volumen von 200 Milliarden Euro zu kommen. Das ist ein sinnvoller Vorschlag. Aber ich frage mich, ob dieser Hebelfaktor 8 wirklich realistisch ist. Es gibt einen Hebelfaktor; aber es ist doch sehr zweifelhaft, ob man diesen jetzt zugrunde legen kann. Gerade in Deutschland kommuniziert die Bundesregierung bei den staatlichen Garantien, bei den staatlichen Kreditmaßnahmen der KfW keinen Hebelfaktor, sondern reale Summen. Ich finde, man darf hier nichts schönrechnen, sondern muss ehrlich kommunizieren und darf nicht mit zweierlei Maß messen.
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Zweitens. Herr Minister, diese Rechnung beinhaltet auch 240 Milliarden Euro der ESM-Kreditlinie, über die wir heute diskutieren. Diese können theoretisch alle Mitgliedsländer des Euro-Raums in Anspruch nehmen. Viele Länder haben aber auch schon gesagt – Deutschland, Finnland, die Niederlande –, dass sie es gar nicht in Anspruch nehmen werden. Bisher liegt noch kein konkreter Wunsch von Ländern vor. Von daher – wenn man mal ehrlich rechnet – wird von den behaupteten bis zu 500 Milliarden Euro wahrscheinlich nur die Hälfte abgerufen. Das ist jetzt nicht nichts. Aber das wird in dieser schweren Krise bei Weitem nicht ausreichen, um Europa aus der Krise zu führen.
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Warum ist das so? Das ist unter anderem so, weil das Arbeitslosenprogramm SURE – Sie haben es angesprochen; auch das ist sinnvoll –, aber auch die ESM-Kreditlinie – wenn sie in Anspruch genommen wird – alles Kreditmaßnahmen sind. Aber Kreditmaßnahmen allein werden vielen Ländern nicht helfen. Diese Coronapandemie – das wurde auch schon gesagt – trifft alle Staaten; sie haben allerdings sehr unterschiedliche Voraussetzungen, eine sehr unterschiedliche Wirtschaftskraft, unterschiedliche Schuldenstände und damit auch sehr unterschiedliche Finanzierungsmöglichkeiten.
Die Europäische Kommission hat jetzt noch mal klar gesagt: Von den Finanzmaßnahmen, die die Länder in Europa bisher zur wirtschaftlichen Abfederung dieser Krise beschlossen haben, werden 52 Prozent alleine in Deutschland durchgeführt; das ist die Hälfte aller Maßnahmen in Europa. Das zeigt doch, dass es zu einer massiven Verschärfung und Wettbewerbsverzerrung in Europa kommen wird. Wenn das in der aktuellen Krise und darüber hinaus so weitergeht, dann wird der Euro-Raum sozial und ökonomisch zerreißen. Das müssen wir mit allen Mitteln verhindern.
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Ich sage nicht, dass Deutschland jetzt weniger machen soll; das ist nicht mein Punkt. Im Gegenteil: Ich finde es gerade richtig, Herr Kollege Fricke, dass Deutschland aktiv handelt und Unternehmen und Beschäftigte schützt. Aber die Frage ist doch: Wie kommen wir in Europa so durch die Krise, dass nicht nur Deutschland, sondern auch ganz viele andere Länder in Europa, am besten alle Länder Europas, dazu in der Lage sind? Das ist die treibende Frage, über die wir hier im Deutschen Bundestag reden und entscheiden müssen.
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Zum Recovery Fund, den wir jetzt als große fiskalische Antwort für Europa brauchen. Dabei ist zentral, dass es eben nicht nur um Kreditmaßnahmen geht, sondern auch EU-Förderprogramme und Zuschüsse, also Grants, gewährt werden, und zwar überwiegend. Ich habe gehört, dass sich der Bundesfinanzminister auch dafür ausgesprochen hat, dass es nicht nur um Kreditmaßnahmen geht. Ich begrüße das ausdrücklich; aber ich habe das bisher noch nicht von der Bundeskanzlerin gehört. Ich bin mir auch nicht sicher, wie dazu die gemeinsame Haltung der Bundesregierung und der Unionsfraktion ist. Und außerdem, Herr Minister, stellt sich die Frage, wie groß das Volumen dieses Recovery Fund sein soll. Das ist die entscheidende Frage. Es muss makroökonomisch relevant sein.
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Wir sagen: Das muss mindestens 1 Billion Euro sein, damit es makroökonomisch relevant ist und auch wirkt. Das Europäische Parlament hat sich interfraktionell jetzt auf eine Resolution verständigt: Konservative, Sozialdemokraten, Liberale und Grüne reden von einem Volumen von bis zu 2 Billionen Euro. Ich finde, das beschreibt die Größenordnung, über die wir hier reden müssen. Wir müssen gemeinsam – europäisch, solidarisch – mit großen Hilfsmaßnahmen aus dieser Krise kommen. Ich finde, die Bundesregierung muss sich endlich dazu bekennen, darf sich nicht weiter verstecken und muss ihre Haltung sehr deutlich zum Ausdruck bringen.
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Ich finde es auch deswegen wichtig, weil wir nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts jetzt endlich über große fiskalische Antworten aus Deutschland für Europa reden müssen. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts wird der Bundestag jetzt klug und besonnen seiner Verantwortung nachkommen. Aus meiner Sicht stellen sich aber schon ökonomische, rechtliche und europapolitische Fragen, die wir hier diskutieren müssen: Welche Konsequenzen hat es für die europäische Rechtsordnung, wenn jetzt alle nationalen Verfassungsgerichtshöfe auf einmal ihre Parlamente, ihre Regierung auffordern, auf Entscheidungen der EZB hinzuwirken, so wie es jetzt der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung machen sollen? Was heißt das gerade für die in Deutschland immer hochgehaltene Unabhängigkeit der Zentralbank? Man muss sich auch die Frage stellen: Was wäre passiert, wenn die EZB in der Euro-Krise im Rahmen ihres Mandates geldpolitisch nicht gehandelt hätte, um den Zerfall des Euros zu verhindern? Man muss in Deutschland die Wahrheit doch mal klar aussprechen: dass ohne die EZB der Euro schon längst nicht mehr existieren würde. Das ist die harte Wahrheit, über die man reden muss.
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Man kann nicht immer die EZB die Kohlen aus dem Feuer holen lassen und dann große fiskalische Maßnahmen verweigern. Das ist der eigentliche Moral Hazard in der Euro-Zone: dass die Mitgliedstaaten zu wenig handeln. Das darf sich jetzt in der Coronakrise nicht wiederholen. Wir brauchen jetzt große fiskalische Antworten; dafür muss sich die Bundesregierung einsetzen. Das ist die Aufgabe in den nächsten Wochen.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Dennis Rohde für die SPD-Fraktion.
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Geschätzte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei all dem, was wir in dieser Debatte, aber auch in der Debatte davor hören mussten, finde ich, muss man eines an dieser Stelle noch mal deutlich machen: Man kann nicht negieren, dass das Virus Europa mit voller Härte getroffen hat. Man kann die Bilder aus der Lombardei, aus dem Elsass oder aus dem Großraum Madrid nicht negieren. Wir waren zum Handeln aufgefordert, und diejenigen, die das leugnen, schließen sich Verschwörungstheoretikern an, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Wir alle mussten erhebliche Einschränkungen für unser tägliches Leben in Kauf nehmen. Europaweit wurden harte Maßnahmen ergriffen, die uns auch wirtschaftlich getroffen haben. Aber Stand heute: Es ist uns in Deutschland gelungen, unser Gesundheitssystem nicht an die Belastungsgrenze zu führen. Das ist zunächst einmal ein Erfolg jeder Bürgerin und jedes Bürgers dieses Landes, all derer, die sich an die Regeln gehalten haben.
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Und doch ist uns klar: Die wirtschaftlichen Folgen dieser Pandemie sind immens. Bundesregierung, Bundestag, die Länder – wir alle haben früh und entschlossen gehandelt, und dieses Handeln hat viele Existenzen gesichert. Es hat Familien Perspektiven gegeben, und es hat Arbeitsplätze vor dem Abbau geschützt.
Aber die Herausforderungen, vor denen wir stehen, sind nicht national. Wir als Bundesrepublik Deutschland haben auch eine europäische Aufgabe und stehen vor einer europäischen Herausforderung. Diese Pandemie, für die keiner etwas kann, ist auch ein Testfall für die Solidarität und für die Entschlossenheit der europäischen Gemeinschaft.
({2})
Wir erreichen heute einen Meilenstein – einen Meilenstein einer gemeinsamen europäischen und solidarischen Antwort auf die Coronakrise. Wir nutzen – es ist mehrfach gesagt worden – die vorhandenen Möglichkeiten, die uns der ESM bietet, um Staaten gezielt ein Angebot zur Finanzierung ihrer vielfältigen Herausforderungen im Gesundheitsbereich zu machen. Die Hilfen sind nicht grenzenlos. Sie sind begrenzt auf 2 Prozent des jeweiligen Bruttoinlandsprodukts. Das sind auch für angeschlagene Länder zweistellige Milliardenbeträge, über die wir hier reden.
Die Vorteile, die der Weg über den ESM bietet, liegen doch auf der Hand. Es ist ein Instrumentarium, das schnell einsetzbar und effektiv ist. Wir brauchen keinen umfangreichen zusätzlichen Ratifizierungsprozess. Wir sparen Zeit – Zeit, die wir in der Krise auch nicht haben. Und der ESM sichert uns Mitspracherechte; die parlamentarischen Rechte sind gewahrt. Wenn wir über konkrete Maßnahmen sprechen, wird der Deutsche Bundestag wieder beteiligt werden.
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Dass wir heute über ein konkretes Ergebnis diskutieren, dass wir heute über eine konkrete Maßnahme reden können, ist, finde ich, angesichts der Debatte in den letzten Wochen ja auch keine Selbstverständlichkeit. Wenn man sieht, mit welch teilweise grob unterschiedlichen Vorstellungen die einzelnen Mitgliedstaaten in diese Debatte gegangen sind, dann, finde ich, darf man an dieser Stelle auch mal den Bundesfinanzminister loben, dem es gelungen ist, die Fäden in der Hand zu halten und die divergierenden Interessen zusammenzuführen. Ich finde, das ist eine beachtenswerte Leistung, die man hier auch mal herausstellen kann.
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Nun ist das Programm über den ESM nicht der einzige Pfeiler. Wir helfen kleinen und mittleren Unternehmen über die Europäische Investitionsbank. Wir hoffen, Herr Minister, dass es schnell eine Einigung zum europäischen Kurzarbeitergeld geben wird, damit dieses Instrument, das wir in Deutschland als erfolgreiches Instrument kennen, auch anderen Staaten in dieser Krise helfen kann und helfen wird.
Für uns ist klar: Danach darf nicht einfach Schluss sein. Wir müssen den europäischen Wiederaufbau genauso konsequent vorantreiben wie ein deutsches Konjunkturpaket, und zwar ausdrücklich aus Solidarität, damit Arbeitsplätze erhalten werden und Familien ihre Existenz gesichert wissen, aber natürlich auch aus eigenem Interesse. Kollege Rehberg hat es gesagt: 60 Prozent unserer Exporte gehen in den europäischen Binnenmarkt. – Unsere Industrie ist in großem Maße auch auf Zulieferer, zum Beispiel aus Norditalien, angewiesen. Andere europäische Industrien sind wiederum auf unsere Industrie als Zulieferer angewiesen. Diese vernetzte Wirtschaft Europas werden wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, nur dann wieder genesen lassen können, wenn Europa in Gänze wieder auf die Beine kommt, und das ist die Aufgabe, vor der wir stehen.
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Deshalb ist im nächsten Debatten-Step ein europäisches Konjunkturpaket in vielerlei Hinsicht notwendig. Es ist für uns Sozialdemokraten ausdrücklich wünschenswert. Die SPD-Fraktion wird in den kommenden Wochen in Unterstützung ihres Ministers mit Entschlossenheit dafür eintreten.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, lieber Kollege Rohde. – Der nächste Redner ist für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Dr. André Berghegger.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Mit dem hier vorliegenden Antrag des Bundesfinanzministers machen wir den grundsätzlichen Weg frei für eine besondere Kreditlinie des Europäischen Stabilitätsmechanismus. Es ist einer von mehreren Bausteinen einer europäischen Strategie. Finanziert werden sollen gesundheitspolitische Maßnahmen im Rahmen der Coronapandemie in den Mitgliedstaaten. Ich glaube, dieser Antrag, wenn wir ihn denn beschließen, ist ein weiteres Zeichen von gelebter Solidarität hier in Deutschland. Deutschland ist der größte Kapital- und Garantiegeber für den ESM, ohne den ESM in dem Umfang oder überhaupt zu nutzen. Deutschland ist und bleibt solidarisch mit seinen Nachbarn – und das jederzeit.
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Das Ziel ist: Wir wollen natürlich kurzfristig Mittel bereitstellen, kurzfristig den Mitgliedstaaten helfen. Nach meinem Kenntnisstand soll diese Kreditlinie am 1. Juni einsatzfähig sein; das ist gar nicht mehr weit hin. Aber das geht nur – das sage ich aus voller Überzeugung – mit den vorhandenen Institutionen und mit den vorhandenen Instrumenten. Der ESM wird weiterentwickelt, ja, auf diese Krise, auf diese Pandemie angepasst; das haben wir schon mehrfach gehört.
Teile der Opposition hingegen haben im Laufe der Debatten immer wieder über neue Instrumente geredet oder diese vorgeschlagen. Aber Sie wissen auch, dass das zum Teil rechtlich gar nicht möglich wäre und sehr viel Zeit in Anspruch nehmen würde. Es dauert teilweise Jahre, bis die EU-Verträge unter Berücksichtigung der Mitwirkungsvorschriften in den Mitgliedstaaten angepasst werden können – und das müssten sie –, und es dauert auch sehr, sehr lange, um neue Finanzprodukte zu entwickeln und zum Einsatz zu bringen. Dessen müssen Sie sich immer auch bewusst sein.
Die Euro-Gruppe und die Institutionen, insbesondere beim ESM, haben die Mitgliedstaaten hinsichtlich der Zugangskriterien für diese Kreditlinie geprüft und haben befunden, dass alle Mitgliedstaaten diese Zugangskriterien erfüllen. Das beruhigt die Märkte. Das ist ein wichtiges Signal; denn es zeigt: Wenn ein Mitgliedstaat diese zusätzlichen Mittel tatsächlich in Anspruch nehmen müsste, dann sind die Mittel da, dann stehen sie bereit. Und das ist, glaube ich, im Gesamtpaket ein deutliches Signal an alle.
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Der Vorteil, der hier aus meiner Sicht immer wieder erwähnt werden kann, ist, dass durch dieses System, durch diese Kreditlinie, die wir hier auf den Weg bringen, die Einbindung und die Begleitung durch die EZB möglich ist, durch welche Funktionen auch immer. Die EZB kann durch ihre Staatsanleihen oder durch die Ankaufprogramme für Unternehmensanleihen natürlich mit ins Rad greifen. Diese Programme kann man kritisieren – das haben wir hier auch lebendig getan; wir haben darüber mehrfach diskutiert und werden es auch in Zukunft tun –, aber diese Programme sind da; es gibt sie nun mal. Sie dienen im Gesamtpaket der Finanzierung von nationalen Maßnahmen, sodass viele Mittel zur Verfügung stehen, um in dieser Situation in jedem Mitgliedstaat handeln zu können. Wenn ein Mitgliedstaat diese Mittel tatsächlich in Anspruch nehmen möchte, werden wir uns hier im Bundestag natürlich mit dem Einzelantrag befassen, und das ist auch gut so, um die Beteiligungsrechte dieses Hohen Hauses zu wahren.
Kritik hört man ab und zu über die Höhe dieses Programms. 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts können für den einzelnen Mitgliedstaat zur Verfügung gestellt werden. Das sind auf Italien heruntergerechnet rund 36 Milliarden Euro. Da sagen manche: Das ist viel zu wenig. – Zwei Anmerkungen dazu: Erstens. Wenn dieses Programm maximal ausgeschöpft wird, ist der ESM immer noch komplett handlungsfähig aufgrund seiner großen Reserven und Vorhalte, die er noch hat – ganz wichtig für diese Institution. Zweitens. Diese Kreditlinie ist natürlich nur ein Baustein von mehreren Bausteinen der europäischen Strategie.
Deshalb, sehr geehrter Finanzminister – es wurde schon mehrfach gesagt, aber ich möchte es noch mal unterstreichen –: Ich finde es sehr, sehr wichtig, dass die weiteren Projekte zügig in Gang kommen können, dass also das Kurzarbeitergeld SURE nicht erst im Sommer, sondern vielleicht schon in der nächsten oder übernächsten Sitzungswoche so weit vorangeschritten ist, dass wir hier unsere Entscheidung darüber treffen können, dass die EIB zügig Geld in größerem Volumen an die kleinen und mittleren Unternehmen ausleihen kann, sodass wir da vorankommen, und dass wir mittelfristig – das ist die größte Position – das Wiederanfahren der europäischen Wirtschaft klug verhandeln – Stichwort „Recovery Fund“. Mit „klug“ meine ich die Einbeziehung in den europäischen Haushalt, in den mittelfristigen Finanzrahmen, aber natürlich unter Setzung von Prioritäten auf Zukunftsinvestitionen, sodass wir die Chance haben, aus dieser schwierigen Situation und Krise auch insoweit gestärkt herauszukommen, und optimistisch nach vorne schauen können.
In der Summe glaube ich, dass dieses gesamte Paket auf einem schlüssigen Konzept beruht, ein schlüssiges Paket von Hilfen ist, auch auf der europäischen Ebene. Aber ich mahne, dass wir nach der Krise den Pfad der finanzpolitischen Tugend wiederfinden, wieder erreichen oder noch einhalten müssen, wie auch immer man das formuliert. Denn alle Summen, die wir zur Verfügung stellen, müssen wir auch zurückzahlen; wir müssen sie uns leisten können.
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Jetzt haben wir den Stabilitäts- und Wachstumspakt aufgrund der schwierigen Situation ausnahmsweise ausgesetzt. Aber wir müssen von der Ausnahme wieder zur Regel kommen, zur soliden Haushaltspolitik, und solide Haushaltspolitik eröffnet Handlungsoptionen. Das sehen wir, glaube ich, an unserem Beispiel in Deutschland in den letzten Jahren. Deswegen werbe ich um Zustimmung zu diesem Antrag.
Vielen Dank fürs freundliche Zuhören.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Einrichtung des ESM 2012 hatte zur Bedingung, dass die Länder eine Schuldenbremse in ihrer Verfassung verankern. Man wollte mit der Schuldenvergemeinschaftung, die mit dem ESM zwangsläufig einherging, gleichzeitig die fiskalische Disziplin der Mitgliedstaaten hin zu einem ausgeglichenen Haushalt erreichen. Der Fiskalpakt und der ESM waren zwei Seiten der gleichen Medaille.
Acht Jahre nach Inkrafttreten des ESM kann man die Schuldenstände anschauen. Die Euro-Zone war im letzten Jahr mit 84 Prozent der Wirtschaftsleistung noch nie so hoch verschuldet. Frankreich ist mit 99 Prozent, Italien mit 133 Prozent und Griechenland mit 177 Prozent verschuldet. Jetzt ist die Coronakrise da, und diese Staaten gehen mit einem höheren Schuldenstand als 2012 in die Krise.
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Und die Antwort darauf ist: noch mehr Schulden, noch niedrigere Zinsen.
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Weil die Schuldenbremse nicht befolgt wurde – da muss man fragen: wo war eigentlich unsere Bundesregierung, um das einzuklagen? –, werden jetzt mit der vorsorglichen Kreditlinie beim ESM die Zugangskriterien beseitigt. Nicht mehr die Stabilität des Währungsraumes als Ganzes oder strenge Auflagen sind der Maßstab für Gelder aus dem ESM, sondern faktisch bekommen jetzt alle Geld.
Das Ziel ist hier nicht, Italien zu helfen. Italien kann sich ja derzeit ohne Probleme am Kapitalmarkt refinanzieren,
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sogar zu günstigeren Bedingungen als 2012. Es geht eigentlich um etwas ganz anderes, nämlich darum, den Zugang zu ESM-Geldern ohne Auflagen zu ermöglichen.
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Es soll selbstverständlich aussehen, wenn jedes Land Geld aus dem ESM bekommt. Das Ziel ist, die Schulden weiter zu erhöhen. Das ist nur möglich, wenn die Lasten umverteilt werden, entweder über die EZB, indem sie durch ihre Anleihekäufe die Zinsen drückt, oder eben durch den leichteren Zugang zu ESM-Krediten. Denn die 36 Milliarden Euro, die Italien jetzt maximal aus dem ESM bekommt, die reichen Italien natürlich vorne und hinten nicht. Italien hat in diesem Jahr einen Finanzierungsbedarf von mindestens 200 Milliarden Euro. Das heißt, das ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein.
Die Folgen dieser Politik werden aber sein, dass die Sparer in Deutschland weiter enteignet werden.
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Seit der Finanzkrise 2010 haben die Sparer 360 Milliarden Euro verloren, und diese Politik wird jetzt fortgesetzt.
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Letztendlich ist das eine Zerstörung des Zinses, die hier stattfindet, und eine Zerstörung des Zinses ist letztendlich eine Zerstörung der Marktwirtschaft.
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Und all diejenigen, die heute für diese Linie stimmen, –
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende.
– versündigen sich an der Marktwirtschaft in diesem Land.
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Deshalb bitte ich, diesem Projekt nicht zuzustimmen.
Vielen Dank.
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Der nächste Redner ist für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Florian Oßner.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die erschreckenden Bilder und Berichte der vergangenen Wochen, die uns aus Ländern wie Italien und Spanien erreicht haben, werden wir wohl so schnell nicht aus unseren Köpfen bekommen. Auch die finanziellen und wirtschaftlichen Auswirkungen dieser Pandemie sind ungewiss und werden uns noch lange beschäftigen.
Gewiss ist aber eines: Für uns als CDU/CSU-Fraktion sind die Einheit Europas und der Zusammenhalt mit unseren europäischen Partnern tief in unserer DNA verwurzelt. Wir lassen uns deshalb nicht einreden – wie es so oft manchen Medien zu entnehmen ist –, dass wir nicht solidarisch zu unseren Nachbarn stehen. Ganz im Gegenteil: Wir setzen wirksame Instrumente zur Überbrückung der Krise ein, stellen jedoch keine Freifahrtscheine aus. Das ist Markenkern von CDU und CSU.
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Die Finanzminister der Euro-Gruppe haben sich nach langen Verhandlungen auf verschiedene Maßnahmen zur Bewältigung der Coronapandemie geeinigt. Kurz gesagt: Es sind drei große Hilfspfeiler; meine Vorredner haben es angesprochen.
Der jüngste Pfeiler ist das von unserer Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vorgeschlagene neue Instrument zur Unterstützung von Kurzarbeit in Europa, genannt SURE, als befristete Hilfe in einer Notsituation. Hierfür geht der Dank in Richtung Kommission für ihr beherztes Handeln.
Der zweite Pfeiler ist ein neuer Garantiefonds der Europäischen Investitionsbank direkt für kleine und mittlere Unternehmen, der die Wirtschaft stützt, aber – wie der Herr Bundesfinanzminister schon gesagt hat – nicht die Staatshaushalte belastet.
Heute befassen wir uns mit der dritten Maßnahme, den Finanzhilfen im Rahmen einer vorsorglichen Kreditlinie, der sogenannten Enhanced Conditions Credit Line – kurz: ECCL – des Rettungsschirms ESM, der ja bereits 2012 zur Bewältigung der europäischen Staatsschuldenkrise ins Leben gerufen wurde.
Hinter dem mehr als sperrigen Titel verbirgt sich eine durchaus einfache Lösung: Jedem Mitgliedstaat des ESM wird eine konditionierte Kreditlinie bis zu 2 Prozent seines Bruttoninlandsprodukts in Aussicht gestellt; insgesamt wären dies bis zu 240 Milliarden Euro. Als Bedingung – es ist heute schon angesprochen worden – müssen die Staaten die gezogenen Kredite zur Finanzierung von gesundheitspolitischen Maßnahmen zur Eindämmung der Folgen der Covid-19-Pandemie verwenden. Also, es ist klar konditionalisiert. Dabei sind übrigens auch die Vorgaben des ESM-Vertrags strikt einzuhalten. Dies alles sind entscheidende Kriterien für eine vernünftige Vertragsgestaltung, welche ich sehr begrüße und was in den Märkten Vertrauen schafft. Gerade für uns als Exportnation ist dies ein entscheidender Punkt.
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Damit verbunden ist – und das möchte ich dick unterstreichen –, dass wir im Gegenzug Instrumente wie Euro- oder Coronabonds strikt – ich unterstreiche es noch mal: strikt – ablehnen, wie sie immer wieder von Teilen der Opposition, auch vom Grünenvorsitzenden Habeck, gefordert werden, aber keine Rechtsgrundlage haben. In dieser schwierigen Zeit wäre es das völlig falsche Signal an all diejenigen Länder, welche in den vergangenen Jahren große Anstrengungen unternommen haben, ihre Finanzen in Ordnung zu bringen, so wie wir es als Große Koalition hier in Berlin für Deutschland geschafft haben.
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Deswegen meine eindringliche Bitte an die Kollegen aus Teilen der Grünen und Linken: Anstatt dass wir viel wertvolle Zeit verlieren und monatelang über die kontraproduktive Vergemeinschaftung von Schulden diskutieren, ist es jetzt an der Zeit, im Rahmen der verfügbaren und rechtssicheren Instrumente zu handeln, wie wir es heute machen. Da sage ich allen Unterstützern ein herzliches Dankeschön!
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht heute um eine möglichst rasche Umsetzung der Maßnahmen, damit die Hilfe schnell bei den Betroffenen ankommt und Stabilität in den Finanzmärkten geschaffen wird. Uns als CDU/CSU-Fraktion ist dabei klar, dass wir in Europa in der schwersten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg nun wirklich alle Kräfte bündeln müssen. Wir sind bereit, dafür Verantwortung zu übernehmen, und deshalb werbe ich ausdrücklich um Zustimmung für den vorliegenden Antrag der Bundesregierung.
Herzliches „Vergelts Gott!“ fürs Zuhören!
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Vielen Dank, Herr Kollege Oßner. – Die letzte Rednerin zum Tagesordnungspunkt 11 ist für die CDU/CSU-Fraktion die Kollegin Dr. Katja Leikert.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor 70 Jahren hat Robert Schuman mit seinem Plan zur Zusammenlegung der deutschen und französischen Kohle- und Stahlproduktion den Grundstein für ein stabiles Europa geschaffen. Mehr als 30 Jahre später hat Helmut Kohl entscheidende Weichen zur Einführung des Euro und damit zur finanzpolitischen Stabilität in Europa gestellt.
Heute erleben wir, wie diese Stabilität herausgefordert wird. Die gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise sind in ganz Europa spürbar. Es wurde hier schon geschildert. Wir stehen vor einer tiefen Rezession in Europa. So dürfte die Wirtschaft in der Europäischen Union in diesem Jahr um 7,4 Prozent schrumpfen. Dies sind sogar 3 Prozentpunkte mehr als damals nach der Weltfinanzkrise. Anders als nach der Weltfinanzkrise trifft die Rezession die Mitgliedstaaten unverschuldet und ungleichmäßig.
Während die Kommission für Italien und Spanien einen Rückgang von 10 Prozent erwartet, sind es in Deutschland 6,5 Prozent und in den osteuropäischen Staaten 4 Prozent. Diese Unterschiede werden sich natürlich auch auf die wirtschaftliche Entwicklung auswirken. Einige Länder werden sich früher erholen; bei anderen wird es länger dauern. Es ist genau diese Ungleichmäßigkeit, die die Stabilität in der Europäischen Union in ganz besonderer Weise herausfordert. Es ist nicht nur in Großbritannien so, sondern auch einige andere Staaten stellen die Mitgliedschaft infrage. Auch die Italiener – das wurde auch schon erwähnt – haben aktuell mehr Vertrauen in die USA, in China und in Russland als in Deutschland. Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Stimmung muss ein Warnschuss für uns alle sein. Wir brauchen mehr Solidarität in Europa.
({0})
Wichtige Grundsteine dafür sind in den letzten Wochen gelegt worden. Die Staats- und Regierungschefs haben ein Rettungspaket in Höhe von 540 Milliarden Euro verabschiedet. Eine zentrale Säule dieses Pakets ist der Europäische Stabilitätsmechanismus, der ESM. Damit können Länder der Euro-Zone eine vorsorgliche Kreditlinie bis zu einem Volumen von 2 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts beantragen. Es ist nicht unkonditioniert, wie es von FDP und vonseiten der AfD gesagt wurde.
({1})
– Die Bedingungen sind, dass diese Mittel in die Beseitigung von Schäden im Gesundheitsbereich investiert werden, die durch die Coronapandemie entstanden sind. Das steht ganz klar in den Statuten.
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Den Rechtspopulisten in diesem Hause, in der italienischen Abgeordnetenkammer oder der Assemblée nationale möchte ich hier eine klare Absage erteilen. Der ESM ist gerade kein Knechtmittel aus Brüssel. Es ist keine Troika vor Ort, anders als Sie es geschildert haben. Die Kreditvergabe wird ganz transparent ablaufen.
Klar ist aber auch: Der ESM wird zur Bewältigung der Krise in der Europäischen Union nicht ausreichen. Deswegen verstehe ich Ihre Enthaltung an dieser Stelle nicht.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unsere Solidarität darf nicht beim ESM enden. Die Coronapandemie wird beispiellose asymmetrische Schäden in Wirtschaft und Gesellschaft verursachen. Daher muss die Reaktion der EU über das bisher bekannte Maß hinausgehen.
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Ich begrüße daher die Überlegungen der Europäischen Kommission zur Schaffung eines europäischen Wiederaufbauinstruments. Auch darüber wurde in den letzten Wochen viel diskutiert. Es ist gut, dass wir hier um die verschiedenen Konzepte ringen.
Dabei setzen wir uns erstens für die Anknüpfung des Instruments an den EU-Haushalt ein; denn nur dadurch ist der EU-Wiederaufbaufonds gerade eben kein Trojanisches Pferd für Euro-Bonds. Diese wollen wir nicht, wie es die AfD und insbesondere Frau Weidel immer wieder meinen. Und Herr Boehringer, der vorhin hier ein Statement abgegeben oder eine Rede gehalten hat – wie man es auch immer sehen will – mit den immer gleichen Vorwürfen gegenüber EZB und dem Euro-Raum: Der Euro hat dazu geführt, dass wir in Deutschland das höchste Bruttoinlandsprodukt,
({5})
die niedrigste Inflationsrate und die niedrigste Arbeitslosenquote haben.
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Dieser europäische Wiederaufbaufonds muss zweitens dazu führen, dass die Ungleichgewichte zwischen den Mitgliedstaaten kleiner werden und nicht größer. Deswegen brauchen wir hier ein angemessenes Verhältnis zwischen Darlehen und Zuschüssen. Auch hier müssen wir noch über die Details reden.
Drittens müssen wir Europa nachhaltig krisenfest machen. Wir brauchen daher diesen Wiederaufbaufonds, um den Wiederaufbau mit dem Green Deal zu verknüpfen, mit Investitionen in nachhaltige Infrastruktur, Digitalisierung und moderne industrielle Wertschöpfung.
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Wenn uns das gelingt, werden wir bald zu einem solidarischen und stabilen Europa zurückkehren, wie es die großen Europäer Schuman und Kohl vor Augen hatten: solidarisch füreinander miteinander und mit Maß eintreten. Wir als CDU/CSU sind dazu bereit.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Leikert. – Ich schließe die Aussprache zu Tagesordnungspunkt 11.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Seit circa zwei Monaten ist für die Kinder in unserem Land nichts mehr normal. Mit den Kita- und Schulschließungen, den weitgehenden Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen ist für sie ein großer Teil ihres Alltags einfach weg. Freunde, Großeltern, Spielplatz, Sportverein, Jugendklub, Kino – weg. In dieser Situation brauchen die Kinder unsere ganz besondere Aufmerksamkeit.
({0})
Die Einschränkung der Rechte von Kindern und Jugendlichen ist so viel größer, als vielen Älteren und vor allem ganz offensichtlich auch vielen politischen Entscheidungsträgern bewusst ist. Besonders problematisch finde ich: Noch immer ist die Situation der Kinder nicht zur Chefinnensache geworden; weder bei der Familienministerin und bei der Kanzlerin schon gar nicht. Das darf nicht so bleiben, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen. Die Kinder, ihre Rechte und ihre Bedürfnisse müssen endlich in den Mittelpunkt unseres Handelns gerückt werden.
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In der Bevölkerung gibt es ein gutes Gespür für die Auswirkungen der Krise. Die Deutschen sorgen sich laut „DeutschlandTrend“ am allermeisten um die Entwicklung der Kinder – zu Recht. Und ich verstehe nicht, dass die Bundeskanzlerin die Autobosse zum Krisengipfel einlädt, nicht aber die Kinderschutzverbände,
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und das, obwohl wir alarmierende Anzeichen für zunehmende Gewalt gegen Kinder, zunehmende Vernachlässigung durch in der Krisensituation manchmal eben besonders herausgeforderte Familien haben. Wir fordern, dass die Bundesregierung sich endlich für den Schutz von Kindern engagiert, durch einen Krisenfonds zur Stärkung von Notrufnummern, von Beratungseinrichtungen und Anlaufstellen für von Gewalt und Missbrauch betroffene Kinder und Jugendliche.
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Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, Kinder brauchen Kinder. Wenn wir auf die Kitas schauen, heißt das: Kinder brauchen eine zeitnahe Öffnung und Ausweitung der Betreuungsangebote, selbstverständlich unter Berücksichtigung des Gesundheitsschutzes. Wir müssen flexibel und auch innovativ sein. Wir schlagen beispielsweise vor, dass Familien die Betreuung im kleinen Kreis auch selbst organisieren dürfen, damit Kinder schnell ein Mindestmaß an Kontakten zu anderen Kindern haben können.
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Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wir können Kindern ihren Alltag nicht sofort zurückgeben; aber wir können und wir müssen diese Situation möglichst kindgerecht gestalten. Die Ausweitung der Betreuungsangebote einerseits und die Einführung eines Coronaelterngeldes andererseits wäre eine sehr kluge Mischung, um den Druck aus den Familien zu nehmen.
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Denn dieser Druck, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist genau das, was Kindern schadet.
Es reicht eben nicht, die Entschädigungsregelungen nach dem Infektionsschutzgesetz zu verlängern, weil sie eben keinen Anspruch der Eltern auf Teilzeit beinhalten und weil sie ausdrücklich vorsehen, dass Homeoffice als eine Betreuungsoption gewertet wird. Und das muss einfach mal ganz klar sein: Homeoffice ist keine Betreuungsmöglichkeit.
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Das können wir den Eltern nicht länger zumuten. Ich muss sagen: Eine Familienministerin, die meint, Homeoffice mit Kinderbetreuung sei zwar anstrengend, aber möglich, weiß offensichtlich nicht, wovon sie spricht.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen ein Coronaelterngeld, und wir brauchen es schnell.
Frau Kollegin, bitte kommen Sie zum Ende.
Ich komme zum Schluss. – Abschließend möchte ich auf den besonderen Unterstützungsbedarf von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf hinweisen.
Frau Kollegin, bitte.
Auch sie brauchen eine besondere Unterstützung. Wir müssen sicherstellen, dass die Integrationshelferinnen und ‑helfer weiter vor Ort sein können.
Bitte setzen Sie sich mit uns gemeinsam dafür ein, die Rechte der Kinder in dieser besonderen Situation zu wahren, und gehen Sie konstruktiv mit unserem Antrag um.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Frau Kollegin.
Bevor ich die nächste Rednerin aufrufe, müssen wir noch mal zu Tagesordnungspunkt 11 sowie Zusatzpunkt 13 zurückkommen. Die Fraktion der FDP hat mich nämlich darauf hingewiesen, dass sie dazu auch einen Entschließungsantrag vorgelegt hat, den Sie auf Drucksache 19/19181 finden. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Die FDP-Fraktion. Das ist nicht überraschend. Wer stimmt dagegen? – Das sind alle übrigen Fraktionen des Hauses. Enthaltungen? – Keine. Der Entschließungsantrag ist damit leider abgelehnt.
Ich rufe jetzt in unserer laufenden Debatte die nächste Rednerin auf: Nadine Schön für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Krise sind viele im Licht der Öffentlichkeit: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Politikerinnen und Politiker, Pflegekräfte. Und gerade Letztere sind ja zu Recht endlich im Licht der Öffentlichkeit. Aber die Kinder waren in den letzten Wochen viel zu selten im Blick der Gesellschaft und der Öffentlichkeit. Dabei haben auch sie wirklich viele Herausforderungen zu meistern. Seit acht Wochen – Katja Dörner hat es gesagt – ist für sie nichts mehr, wie es war. Sie müssen mit einer völlig neuen Situation klarkommen, können ihre Freunde und Großeltern nicht treffen. Und viele Familien berichten, dass die Kinder nicht selten zwischen Homeoffice, Homeschooling und Kinderbetreuung zu kurz kommen. In einigen Familien – und das ist besonders schlimm – kommt es auch zu Gewalt und Missbrauch.
Wir müssen uns also fragen: Was macht die Krise mit unseren Kindern, und wie können wir bei der Rückkehr zur Normalität, die wir ja gerade gestalten, die Kinder besser in den Blick nehmen? Was die Gewalt gegen Kinder und den Missbrauch angeht, brauchen wir eine Kultur des Hinschauens. Hier kann und hier muss jeder helfen, Familien unterstützen und bei Anzeichen von Gewalt oder Missbrauch auch einschreiten, Anzeige erstatten, die Polizei oder das Jugendamt informieren.
Kommunen bemühen sich, die Familienhilfe, so gut es geht, auch in Krisenzeiten aufrechtzuerhalten. Frau Dörner, Sie haben gesagt, wir müssten die Hilfetelefone stärken. Wir haben dafür gesorgt, dass die Hilfetelefone trotz Krise uneingeschränkt funktionsfähig waren. Sie haben funktioniert. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Hilfetelefone haben alles gegeben, damit die Beratungsangebote weiterhin zur Verfügung stehen. Das gilt für das Hilfetelefon „Sexueller Missbrauch“, für das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“, für die Nummer gegen Kummer. Deshalb an dieser Stelle ein herzliches Dankeschön an diejenigen, die diese Infrastruktur aufrechterhalten haben und den Familien geholfen haben, die es besonders schwer haben.
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Wir brauchen beim Wiedereinstieg einen stärkeren Blick auf Kinder. Das heißt etwa, dass es beim Anspruch auf Notbetreuung, die jetzt ausgeweitet wird, nicht nur darum gehen kann, wer wieder arbeiten gehen muss. Vielmehr müssen wir auch soziale und pädagogische Aspekte in den Blick nehmen. Glücklicherweise wird das ja auch in den meisten Ländern so gemacht.
Das heißt aber auch, dass die Notbetreuung selbst kindgerecht gestaltet werden muss. Abstandsregeln im Kindergarten – das ist völlig illusorisch. Auch hier gilt es, die Kinder in den Blick zu nehmen und ihnen eine möglichst unbeschwerte Zeit zu ermöglichen.
Beim Neustart in den Schulen kann es nicht nur darum gehen, dass jetzt ganz schnell der Unterrichtsstoff wieder aufgeholt wird. Es muss auch möglich sein, mit den Kindern diese Krisenzeit aufzuarbeiten und zu besprechen, was das psychologisch mit ihnen gemacht hat, wie sie die Zeit erlebt haben, was sie erfahren haben, wie sie sich die Krise und wie sie sich Corona vorstellen. Denn ehrlicherweise ist die Komplexität für uns Erwachsene ja schon kaum zu verstehen. Die virologischen, die ökonomischen, die gesellschaftlichen Zusammenhänge sind so komplex – wie muss das für Kinder sein? Deshalb brauchen wir in Schulen auch die Zeit und die Hinwendung, um uns auf diesen Ebenen mit den Kindern zu beschäftigen.
Vor allem – und das ist mir besonders wichtig – müssen wir, wenn wir jetzt darüber nachdenken, was wir denn tun, damit unser Land wieder auf die Beine kommt, auch die Sicht der Kinder berücksichtigen. Die Frage, die wir uns stellen müssen, ist: Was sind die Maßnahmen, die wir ergreifen müssen, damit unser Land gestärkt aus dieser Krise hervorgeht? Dann kann es nicht allein damit getan sein, dass wir kurzfristige Kaufanreize schaffen und kurzfristig die Konjunktur ankurbeln. Nein, wir müssen dafür sorgen, dass unser Land mittelfristig und langfristig besser wird, dass wir den innovativen Kräften, die wir in unserem Land haben, helfen, zur Geltung zu kommen, dass wir innovativen Start-ups helfen, ihre Geschäftsmodelle zu verwirklichen. Wir müssen die eigenen staatlichen Strukturen anpacken; denn wir haben gesehen, dass wir hier viel zu komplex, viel zu bürokratisch und viel zu langsam sind.
Wenn wir uns im weltweiten Spiel der Kräfte zwischen USA und China bewegen, dann sehen wir doch, dass in unserem Land ganz vieles geändert werden muss, wenn wir wollen, dass auch unsere Kinder hier noch in dem Wohlstand leben, in dem wir zurzeit leben und der es uns ermöglicht hat, die Krise so gut zu bewerkstelligen. Deshalb ist mein Appell, dass wir nicht nur auf das Hier und Jetzt schauen, sondern uns vor allem anschauen: Was ist unsere Verantwortung? Was müssen wir jetzt tatsächlich ändern, damit es den Kindern in 10, 15, 20, 30 Jahren, dann, wenn sie groß und berufstätig sind, gut geht und sie in einem Land voller Wohlstand leben?
Ich will, dass meine Kinder, die jetzt vier und fünf Jahre alt sind, wenn sie in einigen Jahren auf das zurückschauen, was wir jetzt gemacht haben, sagen: Ihr habt nicht nur kurzfristig agiert, sondern ihr habt nach der Krise, als plötzlich alles anders war, innegehalten und überlegt, was man tun kann, um das Land nachhaltig zu gestalten und zu verbessern. – Ich will, dass ihre Bilanz ist: Ihr habt die richtigen Entscheidungen getroffen.
Das ist Politik aus Sicht der Kinder, jetzt beim Wiedereinstieg, aber auch lang- und mittelfristig. Deshalb ist es gut, dass wir heute eine ganze Stunde genau darüber diskutieren, dass wir die Kinder in den Blick nehmen, dass wir ihre Perspektive einnehmen. Das sollte uns in den nächsten Wochen bei unseren Entscheidungen tragen.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Schön. – Der nächste Redner ist der Kollege Martin Reichardt für die AfD-Fraktion.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Grünen bringen heute einen Antrag zu Rechten von Kindern in der Coronakrise ein. Es ist ein bunter Strauß an Forderungen. Auch die Traumvorstellung einer Entrechtung von Eltern durch Kinderrechte im Grundgesetz fehlt nicht. Es ist schon eine gewisse Dreistigkeit, dass Sie als Grüne überhaupt von Kinderrechten sprechen.
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In zehn Bundesländern sind Sie in Regierungsverantwortung. Sie stellen einen Ministerpräsidenten. Aus keinem dieser Länder habe ich einen Aufschrei oder irgendetwas Nennenswertes gehört, als im Rahmen der Coronakrise die Kinder großer Teile ihrer Rechte beraubt worden sind.
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Gestern haben Sie darüber hinaus dem Antrag der Linken zugestimmt, die Beratungspflicht für Abtreibungen auszusetzen. Sie faseln hier von Kinderrechten, wollen aber die Tötung ungeborener Kinder im Schnellverfahren durchsetzen.
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Ich sage Ihnen das eine: Ihr Antrag zeugt von der Tradition Ihrer Partei, menschenfeindliche Politik durch pseudohumanistische Phrasen und Versatzstückchen zu tarnen.
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Und deshalb, meine Damen und Herren, vergessen Sie auch gerne, dass es Ihre Partei war, die im Rahmen von Rot-Grün die Kinderarmut durch Hartz IV erst ermöglicht und beschlossen hat, und dass es Joschka Fischer war, der unser Land in den ersten Krieg nach 1945 hineingetrieben hat. Das ist Ihre Politik!
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Verschonen Sie uns doch endlich mit Ihrer ganzen Heuchelei.
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Heute geben Sie wieder vor, für Kinderrechte ins Feld zu ziehen.
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Aber Sie sind die Partei, die die traditionelle Familie in ein Sammelsurium irgendwelcher Partnerschaftsformen auflösen will.
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Vater, Mutter und Kinder sind aber die natürliche Grundlage unseres Menschseins. Das werden auch Sie als Grüne nicht abschaffen können.
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Das Bedürfnis von Kindern und Eltern nach Nähe und Zeit diffamieren Sie als hinterwäldlerisch.
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Sie von den Grünen bringen jeder Biene mehr Respekt entgegen als einer Mutter, die von ganzem Herzen Mutter sein möchte.
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Zurzeit reden Sie viel von frühkindlicher Bildung. Sie wollen den Menschen im Land einreden, ihre Kinder würden verblöden, wenn sie nicht in staatliche Betreuung kämen. Aber ich will Ihnen eines sagen: Kinder brauchen kein grünes Bildungsprogramm. Sie brauchen Wärme und Nähe.
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Solche Leute wie Sie braucht kein Kind!
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Über 25 Prozent der Kinder in Deutschland sind arm, eine Armut, die Sie – und ich wiederhole mich da – als Grüne durch Hartz IV erst geschaffen haben.
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Sie können gar nicht von Kindern und Familien aus denken – Frau Göring-Eckardt, da können Sie keifen, wie Sie wollen; davon wird es nicht besser –, weil Sie den Begriff der Familie im Sinne der Väter unseres Grundgesetzes zutiefst verachten.
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Das kommt dabei heraus, wenn verbitterte, familienfeindliche Emanzen die Familienpolitik vergewaltigen wollen, meine Damen und Herren!
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Ich mag es mir gar nicht ausmalen, wenn die Grünen über das Wohl von Kindern in unserem Land bestimmen. 2013 wollte ihr Parteifreund Ströbele den Inzestparagrafen aufweichen, weil er die sexuelle Selbstbestimmung behindere.
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Jetzt komme ich zu einem der ekelhaftesten Kapitel: 1985 haben Ihre grünen Pädophilie-Befürworter sechs- bis achtjährige Kinder auf die Bühne eines Parteitages getrieben und sie dort Verse aufsagen lassen wie „Liebe mit Papa ist herrlich“ und ähnliche Widerlichkeiten. Ihre damaligen Genossen haben da geschwiegen und das pädophile Treiben in Ihrer Partei ungestört gelassen. Und noch lange nachdem diese ganzen Dinge bekannt waren, hat die heutige Antragstellerin Frau Dörner die Existenz entsprechender Beschlüsse bei den Grünen geleugnet.
Ich komme zum Schluss.
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Nur unter dem massiven Druck der Öffentlichkeit distanzieren Sie sich heute von der Pädophilie, um sie im Rahmen der Frühsexualisierung wieder in Kitas und Schulen einzuspeisen. Die Rechte von Kindern gehören nicht in die Hand des Staates und schon gar nicht in die Hand von Ihnen als Grüne; sie gehören in Familienhände!
Vielen Dank.
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Für die Fraktion der SPD hat als Nächstes das Wort die Kollegin Susann Rüthrich.
({0})
So, dann kommen wir mal wieder zur Sache.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir die Rechte von Kindern gerade in der Krise nicht beachten, dann brauchen wir auch an Sonntagen nicht mehr darüber zu reden. Kinderrechte, wie im Übrigen alle Rechte, gelten doch nicht nur dann, wenn es gerade passt oder bei gutem Wetter, sondern auch dann, wenn es stürmt. Unzweifelhaft sind wir gerade in stürmischen Zeiten. Den antragstellenden Fraktionen danke ich daher, dass sie Kinderrechte zum Thema machen und deutlich machen, welche Rechte Kinder haben.
Was mich allerdings ein bisschen wundert, ist der Grundton der Anträge: als würden die Landesregierungen, die Bundesregierung und wir alle hier es nicht gemeinsam so sehen, dass die Kinderrechte zu stärken sind!
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Dazu haben wir doch in der Kinderkommission in der letzten Woche Vorschläge gemacht – zumindest mit fast allen Fraktionen. Viele Forderungen, beispielsweise nach Kita- und Schulöffnungen, werden jetzt in den Ländern umgesetzt. Viele Kitas und Schulen öffnen wieder. Dabei wird genau mit dem Recht der Kinder auf Bildung und Teilhabe argumentiert. Daher vielen Dank an alle, die sich unter den jetzt wirklich schwierigen Bedingungen um unsere Kinder kümmern und für sie da sind.
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Um es also noch einmal ganz klar und deutlich zu sagen: In dem Ziel, die Kinder und ihre Rechte gerade jetzt nicht zu übersehen, sind wir uns vollkommen einig.
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Ja, vor einigen Wochen konnte man noch den Eindruck gewinnen, dass das einzig wichtige Expertinnen- und Expertenwissen das von Virologinnen und Virologen ist, vielleicht noch abgewogen gegen die Einschätzung von Ökonominnen und Ökonomen. Doch das Bild wird erst rund, wenn auch Psychologinnen und Psychologen, Erzieherinnen und Erzieher, Kinderärzte und Kinderärztinnen usw., aber vor allem die Kinder selbst gehört werden. Eine ganze Generation, die stumm gemacht wird, das ist nicht kindgerecht.
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Ich will, dass unsere Ratgebenden ein Spiegel für die ganze Vielfalt der Gesellschaft sind. So mancher Kommentar hat mich da arg verwundert. So war zu hören: Die Kinder früher – also auch wir – hatten ja auch keine Kita. Hat es ihnen geschadet? Diese Frage kann ich natürlich nicht seriös beantworten; ich weiß aber ziemlich sicher, dass – anders als in den letzten Wochen – die Kinder damals mit ihren Freunden draußen spielen konnten, dass die Spielplätze und Parks offen waren, dass sie zum Spielplatz, zum Sportverein, zum Zeltlager konnten.
Ich finde, dass heute frühkindliche Bildung völlig zu Recht mehr im Fokus steht; denn die Kinder starten eben nicht alle vom gleichen Punkt. Wir nehmen es nicht hin, dass aus Armutserfahrung Bildungsarmut wird. Ungerechtigkeiten vertiefen sich, wenn Kinder allein auf das häusliche Lernen beschränkt werden. Die Folgen von Kinderarmut werden jetzt noch deutlicher. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben deshalb ein Konzept zur Kindergrundsicherung erarbeitet, mit dem Kinderarmut überwunden werden kann und mit dem jedes Kind sich einbringen kann, teilhaben kann, mobil sein kann.
Als weitere Stichworte nenne ich „Integration“, „Inklusion“. Kinder mit besonderen Bedürfnissen nach Unterstützung, nach Förderung müssen jetzt in den erarbeiteten Konzepten gleichwertig vorkommen. Wir sind also nicht in der Debatte des Ob, sondern eher des Wie: Wie kann es gehen, dass alle Kinder verantwortungsvoll in ihrem Recht wahrgenommen und bedacht werden?
Das Leben von Kindern findet aber nicht nur in den Kitas, bei den Tagesmüttern und ‑vätern oder in den Schulen statt, sondern eben auch in Verbänden, Vereinen, Initiativen, Freizeitstätten, in Freiräumen, die die Kinder und Jugendlichen selbst gestalten können; lassen Sie uns bitte auch diesen Bereich nicht übersehen.
Viele weitere Aspekte sind in Zeiten von Corona, waren aber auch schon davor und sind auch danach wichtig. Kinderschutz wurde schon angesprochen, Schutz für Kinder, die – leider – häusliche Gewalt erleiden. Aber auch Digitalisierung will ich nennen, die jetzt beim Lernen häufig ein Segen ist, aber im Hinblick auf den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexualisierter Gewalt auch allzu oft unsichere Räume schafft. Wir müssen darüber reden.
Mich bedrückt das Missverhältnis zwischen den Tausenden wirtschaftlich notwendigen Erntehelferinnen und Erntehelfern und den Kindern, die auf griechischen Inseln als Flüchtlinge unter erbärmlichen Bedingungen ausharren und die nicht einreisen dürfen. Da frage ich mich: „Stimmen unsere Prioritäten?“, und ich denke, leider nein.
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An der Stelle möchte ich bitte den Blick auf die Situation der Kinder noch weiter stärken.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU, gerade hier wird wieder deutlich, wie wichtig es ist, die Kinderrechte im Grundgesetz mit allen anderen Grundrechten auf Augenhöhe zu bringen – damit sie in allen Abwägungen gleichberechtigt einbezogen werden. Da haben wir noch etwas zu tun.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Rüthrich. – Der nächste Redner ist für die FDP-Fraktion der Kollege Matthias Seestern-Pauly.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Alle Kinder haben immer alle Chancen verdient. Genau deshalb setzen wir uns als Freie Demokraten auch mit so viel Nachdruck dafür ein, dass wir durch regionale, pragmatische und faktenbasierte Maßnahmen zur Pandemieeindämmung endlich wieder allen Kindern alle Chancen ermöglichen.
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Dies war auch der Grund dafür, weshalb wir Freien Demokraten in der letzten Woche einen Antrag für eine zügige Öffnungsperspektive für Einrichtungen der frühkindlichen Bildung hier in den Deutschen Bundestag eingebracht haben. Das war auch dringend nötig; denn, wie ich bereits in der letzten Woche gesagt habe, Kinder haben ein Recht auf Bildung. Das ist kein Nice-to-have; es geht hier um nichts Geringeres als Bildungsgerechtigkeit.
Doch neben dem Recht auf Bildung sind auch viele andere Kinderrechte durch die nun seit vielen Wochen andauernden Coronamaßnahmen massiv eingeschränkt. Dazu zähle ich das Recht auf Spiel und Freizeit, dazu zähle ich das Recht auf Beteiligung, und dazu zähle ich vor allem auch das Recht auf Schutz. Heute berichtet die „Neue Osnabrücker Zeitung“ von der bundesweiten Studie „JuCo“, nach der viele Jugendliche sich in der Coronakrise zu wenig beachtet fühlen und fast die Hälfte aller Befragten bezweifelt, dass ihre Sorgen überhaupt gehört werden. Deshalb müssen wir unseren Kindern und Jugendlichen zuhören, auch und gerade in dieser Krise. Genau deshalb müssen wir auch immer wieder die vorgenommenen Maßnahmen und Einschränkungen hinterfragen und die Verhältnismäßigkeit immer wieder einfordern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieses Hinterfragen und Einfordern der Verhältnismäßigkeit gerade gegenüber Maßnahmen, die unsere Kinder betreffen, beschäftigt uns auch als Kinderkommission des Deutschen Bundestages, deren Vorsitzender ich zurzeit sein darf. Ich empfinde es daher als ein wirklich wichtiges Signal, dass alle, alle demokratischen, Fraktionen in der Kinderkommission in einer gemeinsamen Erklärung letzte Woche angemahnt haben: Wir dürfen die Bedürfnisse und die in der UN-Kinderrechtskonvention verbrieften Rechte von Kindern auch in der Coronapandemie nicht aus dem Blick verlieren.
({1})
In diesem Sinne werden in dem heute vorliegenden Antrag Aspekte angesprochen, die auch wir Freie Demokraten fordern, zum Beispiel, dass digitales Lernen endlich allen Kindern ermöglicht wird oder dass die Bildungschancen nicht vom Elternhaus abhängen dürfen – beides seit Langem Kernforderungen der Freien Demokraten.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, auch Eltern stoßen durch die Coronamaßnahmen seit Wochen an ihre Belastungsgrenze: Homeoffice, Homeschooling, finanzielle Einbußen. Und wir alle wissen, wie sensibel die Antennen unserer Kinder sind. Genau deshalb brauchen wir eine unbürokratische Coronaelternzeit mit einem Rechtsanspruch auf Arbeitszeitreduzierung mit einem entsprechenden Kündigungsschutz; das entlastet die Eltern. In dem Zusammenhang – Herr Präsident, ich komme zum Ende – ist es wichtig, dass wir die schrittweise Öffnung weiter vorantreiben.
Einen abschließenden Satz möchte ich noch sagen, und zwar: Es verwundert mich in dem Zusammenhang sehr, dass die Grünen diesen Maßnahmen, unseren Maßnahmen, in der letzten Woche nicht zugestimmt haben. Ich sehe aber, dass Sie in dieser Woche einen Schritt weiter sind.
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Das begrüßen wir außerordentlich. Ansonsten freuen wir uns auf die Beratungen im Ausschuss.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Kollege Seestern-Pauly. – Für die Fraktion Die Linke ist der nächste Redner der Kollege Norbert Müller.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir nehmen heute hier die Bevölkerungsgruppe in den Fokus, die in der Pandemie mehr als jede andere aus dem öffentlichen Raum gedrängt wurde. Für Kinder und Jugendliche wurden nahezu alle Räume, in denen sie sich außerhalb der eigenen Wohnung bewegen, versperrt: Kitas, Schulen, Spielplätze, Sportanlagen, Musikschulen, Jugendklubs usw. Heimkindern wurde sogar der Kontakt zu ihren Eltern untersagt. Das findet sich in zahlreichen Eindämmungsverordnungen. Und vor Supermärkten wurden Schilder aufgestellt, die Kindern das Betreten verboten. Diese Maßnahmen wurden in der Annahme verhängt, dass Kinder ein wesentlicher Träger der Pandemie seien. Dafür gibt es bis heute keinen eindeutigen wissenschaftlichen Beleg.
Es stellt sich schon die Frage nach der Verhältnismäßigkeit, wenn nach und nach alle möglichen Einrichtungen wieder öffnen können, nur Kinder mit ihren Interessen immer am Ende der Reihe stehen. Dabei geht es nicht nur um die massiven finanziellen Einschränkungen, die Familien gerade erleben, und es geht auch nicht nur um die massive Mehrbelastung durch Homeoffice, Kinderbetreuung und Homeschooling – es geht auch darum, dass die Leute es satt sind, dass ihre Kinder in der öffentlichen Debatte vorrangig als Infektionsgefahr und Seuchenherd betrachtet wurden und werden; sie haben es satt, welche Geringschätzung ihrer Sorgearbeit zu Hause entgegengebracht wird und dass sie völlig unfreiwillig in längst überwundene Familienbilder gedrängt werden, die der Vergangenheit angehören sollten,
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und sie haben es satt, dass alle möglichen Interessen öffentlich gegeneinander abgewogen werden, nur die ihrer eigenen Kinder eben nicht ausreichen.
Ich finde, ein gutes Beispiel für diese Politik der Ignoranz ist der Brandenburger Wirtschaftsminister Jörg Steinbach von der SPD. Er hat vorgestern Abend im „rbb“-Fernsehen erklärt – ich zitiere –:
Wir sind in einer Situation, die ist … gerade mal 14 Tage länger als die Sommerferien … das ist alles noch kein Wahnsinnsausnahmezustand. Und ich würde mich freuen, wenn zum Teil die Eltern auch mal wieder ihre Kinder richtig kennengelernt haben.
Und das wird noch besser – zur Forderung eines Coronaelterngeldes –:
Ich hoffe … dass Sie [sich] … nicht …ein Kind angeschafft haben, weil wir es als Vater Staat für Sie attraktiv gemacht haben.
Das hat der Mann wirklich so gesagt. Wie kaputt muss man eigentlich sein, in Zeiten der Coronakrise so einen Blick auf die Familien zu haben!
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Wissen Sie, ich bin Bundestagsabgeordneter, meine Frau ist Lehrerin, wir haben im Unterschied zu Millionen Familien eben keine existenziellen Sorgen, aber wir haben auch wochenlang im Homeoffice gearbeitet, wie viele hier, parallel haben wir ein Kitakind betreut, dem seine Freunde und Großeltern ziemlich gefehlt haben, wir haben täglich fünf Stunden Schule für den größeren Bruder gegeben, ein Mittagessen gekocht usw. Und dann kommt jemand von der Regierung – in dem Fall der Landesregierung von Brandenburg – und sagt: Das war ja jetzt ein bisschen wie die großen Ferien im Sommer,
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jetzt hat der Müller seine Kinder endlich mal wieder richtig kennengelernt. – Ich finde, diese arrogante Haltung Familien und den Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen gegenüber bringt die Leute völlig zu Recht auf die Palme.
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Deshalb brauchen wir jetzt eine andere Strategie. Familien und Kinder müssen in den Mittelpunkt. Gerade die Bundesregierung hat sich mit sehr vielem beschäftigt, ganz wichtig: ob Autohäuser öffnen können und wie viele Quadratmeter Verkaufsfläche ein Geschäft haben darf. Nein, jetzt wird es Zeit für einen Kindergipfel, bevor im Kanzleramt der nächste Autogipfel zusammentritt,
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einen Gipfel, auf dem die Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen unter Pandemiebedingungen in den Fokus genommen wird und, ganz wichtig, wo Kinder und Jugendliche eben auch selbst wieder gehört werden.
Wir führen seit Jahren Debatten über Kinderrechte. Gerade die Pandemie zeigt, dass die Rechte auf Schutz, Förderung und Beteiligung von Kindern und Jugendlichen endlich ins Grundgesetz müssen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Kollege Müller. – Für die CDU/CSU-Fraktion hat als Nächster das Wort der Kollege Marcus Weinberg.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, es ist richtig und gut, dass wir zu dieser Zeit am Donnerstag über das debattieren, was uns wichtig ist. Natürlich freuen wir uns auch, wenn demnächst wieder die Bundesliga – für die Hamburger: die 2. Bundesliga – spielt, wir im Café sitzen können, zumindest in begrenztem Maß.
Aber wirklich wichtig ist, dass wir unseren Kindern ihr Leben wieder zurückgeben. Noch wichtiger wäre es, wenn wir unseren Kindern dieses Leben in einem etwas besseren Zustand zurückgeben könnten.
Vielleicht sind die Debatten der letzten Wochen und die der nächsten Tage und Wochen eine gute Gelegenheit, darüber nachzudenken, was uns diese Coronakrise und all das, was wir erlebt haben, mit Blick auf die Situation von Familien, insbesondere von Kindern, mit auf den Weg geben. Wir haben hier in diesem Plenum im Deutschen Bundestag in den letzten Wochen viel darüber diskutiert, welche Auswirkungen die Coronakrise auf die Familien hat, auf die Seniorinnen und Senioren, auf die Frauen und auf die Kinder.
Herr Müller, eine Sache muss man richtigstellen. – Herr Müller, es wäre spannend, wenn Sie zuhören würden. – Wir haben eine erste Phase erlebt, in der das Thema Gesundheitsschutz prioritär war; es ging um die Stabilisierung des Gesundheitssystems und den Schutz der Risikogruppen. In der damaligen Situation war es tatsächlich so, dass man die Sorge haben musste, dass Kinder von diesem Coronavirus besonders betroffen sind. Jetzt altklug darüber zu reden, dass diese Einschätzung möglicherweise falsch war, halte ich für fatal. Ich möchte in diesem Bundestag keine Debatte darüber führen, ob wir mit Blick auf die gesundheitliche Situation unserer Kinder Dinge zu früh zugelassen haben. Deren Schutz steht immer noch an erster Stelle.
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Jetzt sind wir in der Phase der Stabilisierung der ökonomischen, kulturellen, gesellschaftlichen Ordnung, Anlage, Komposition. Da will ich durchaus das unterstreichen, was Nadine Schön gesagt hat: Das Ganze ist eine Chance, darüber nachzudenken, wie wir Dinge nicht nur stabilisieren, die uns wichtig waren, sondern wie wir Dinge auch verbessern, verändern können, mehr Nachhaltigkeit erreichen können, also verändern und gestalten, statt nur erhalten, auch mit Blick auf die Familienpolitik.
In der Wirtschaft müssen wir nicht nur darüber nachdenken, wie wir die Ökonomie stabilisieren, sondern auch darüber, wie wir die Transformation hin zu mehr Nachhaltigkeit und zu Klimaschutz erreichen. Im Gesundheitsbereich geht es darum, nicht nur das Gesundheitssystem zu stabilisieren.
({1})
– Im Moment nicht. Danke, Herr Kollege. – Wir müssen ebenso darüber nachdenken, wie wir das Thema „Pflege und Gesundheit“ anders aufstellen. Es wäre eine Chance für den Familienbereich, dies in den nächsten Wochen und Monaten zu tun.
Tatsächlich – das haben die Kollegen angesprochen – erleben Kinder momentan eine für sie nicht oder kaum erklärbare Phase: dass die Kitas geschlossen sind, dass sie nicht mit ihren Freunden spielen, dass sie nicht auf den Sportplatz gehen können. Das verändert natürlich auch die gesamte Situation dieser Kinder. Wir können heute noch nicht die soziokulturellen Folgen abschätzen, gerade für diese verletzlichen und sensiblen Gruppen.
Falls Sie mir eine Frage stellen wollten: Nein, danke, Herr Kollege Aggelidis.
Lassen Sie eine Frage des Kollegen zu?
Nein, das habe ich doch schon gesagt. Jetzt habe ich es das dritte Mal gesagt; jetzt hat der Kollege es auch mitbekommen.
Insoweit ist die Frage, wie wir in den nächsten Monaten und Jahren die Bedeutung der Überschriften in der Familienpolitik entwickeln: Zusammenhalt, Sicherheit, aber auch Freiheit. Sicherheit ist mehr als nur finanzielle Sicherheit, und Freiheit ist dann sicherlich auch mehr als nur die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Der Zusammenhalt der Gesellschaft ist gerade für Kinder sicherlich mehr als zum Beispiel die Sicherung von Mehrgenerationenhäusern.
Kinder haben Rechte; das haben die Kollegen richtigerweise angesprochen. Deswegen bin ich dankbar für die heutige Debatte. Kinder haben Rechte, auch und insbesondere in Zeiten von Krisen und von Corona. Wir haben diese Rechte eingeschränkt; wir haben sie massiv eingeschränkt. Aber noch einmal: Wir haben sie auch deshalb eingeschränkt, weil der Schutz der Kinder für uns prioritär war. Jetzt müssen wir allmählich – ich glaube, darüber sollten wir zusammen diskutieren – dazu kommen, dass wir den Kindern ihre Rechte wieder zurückgeben – immer in der Abwägung zwischen Gesundheitsschutz und der Einschränkung sozialer Teilhabe.
Kinder haben Rechte, was ihre Gesundheit betrifft, Rechte ihrer sozialen Sicherung, ihres Schutzes und auch ihrer Bildung. In Artikel 24 Absatz 1 der UN-Kinderrechtskonvention heißt es: Jedes Kind hat das Recht „auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit“. Dies soll uns leiten.
Es war damals richtig, Kindergärten und Schulen zunächst einmal zu schließen und jetzt allmählich einen Prozess der Wiedereröffnung einzuleiten. Frau Dörner, Sie haben inhaltlich recht, wenn Sie sagen: Die sozialpädagogischen und sonderpädagogischen Bedarfe sollten berücksichtigt werden, sodass also gerade Kinder aus schwierigen Milieus, die vielleicht sonderpädagogischen oder sozialpädagogischen Bedarf haben, wieder zuerst in die Kita kommen. – Da bin ich ja bei Ihnen. Aber das ist Aufgabe der Länder. Das machen auch einige Länder, und sie machen es richtig. Sie überlegen genau: Welche Bedarfe stehen jetzt an? Das ist übrigens ein Ergebnis der Jugendministerkonferenz. Da ist es auch angesiedelt.
Es ist unheimlich populistisch, zu sagen: Wir brauchen keinen Autogipfel, sondern wir müssen die Kinder- und Jugendverbände einladen. – Dafür gibt es die Gremien: die Jugendministerkonferenz. Jeder hat seinen Verantwortungsbereich.
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Ich würde gerne noch auf viele Dinge eingehen, auch auf die der antragstellenden Fraktionen. Wir haben in den letzten Wochen und Monaten sehr konstruktiv, sehr klar und sehr schnell auf diese Coronakrise reagiert. Ich appelliere an uns: Lassen Sie uns diese Kultur der Zusammenarbeit und der Betrachtung dessen, was Familien und Kinder in den nächsten Jahren brauchen, fortführen. Ich glaube – das muss zum Schluss stehen bleiben –: Es ist für uns eine Chance, dass wir diese schwierige Krise nicht nur meistern, sondern daraus auch eine neue Perspektive entwickeln, wie wir Kinder und Familien in diesem Land sehen. Das, glaube ich, sollte uns leiten. Deswegen bitte ich für diese Diskussion um breite Unterstützung.
Vielen Dank.
({1})
Vielen Dank.- Jetzt haben zwei Kollegen um eine Kurzintervention gebeten. Zunächst der Kollege Norbert Müller für die Fraktion Die Linke.
Ja, Herr Kollege Weinberg, ich verstehe, ehrlich gesagt, gar nicht, warum Sie hier einen Dissens aufmachen. Da haben Sie während meiner Rede offenbar auch nicht so ganz zugehört. Es geht nicht um die Maßnahmen, die am 18. März in Kraft getreten sind. Da war der Kenntnisstand schlichtweg auch ein anderer als heute, und es ging darum, Risikogruppen zu schützen. Deswegen gab es bei den demokratischen Fraktionen auch keine, die nicht gesagt hat: Es ist jetzt erst einmal okay, Schulen und Kitas zu schließen.
Es geht um den Fahrplan, aus diesen Beschränkungen wieder rauszukommen, und darum, welche Prioritäten gesetzt werden. Es ist eben auffällig, dass man den Eltern am 4. Mai sagt: In einer Woche reden wir im Kanzleramt, nachdem alle Papiere der JFMK, der KMK vorgelegen haben, über die Maßnahmen. – Eine Woche später sagt man dann: Wir haben fünf Minuten darüber geredet. – Das waren vier Sätze in der Erklärung. Dann folgt ein sehr langer Text zu dem Autogipfel zwei Tage vorher mit den Bossen der Konzerne.
Das ist die falsche Prioritätensetzung. Das ist doch das, was die Leute so wahnsinnig aufregt: nicht, dass Kitas und Schulen geschlossen worden sind. Das war gar nicht das Problem; das haben die Leute eingesehen. Natürlich ging es damals darum, Risikogruppen zu schützen. Es geht heute darum: Wie finden wir einen vernünftigen Fahrplan, und welche Prioritäten setzen wir? Da sagen wir: Priorität müsste sein, sich jetzt zunächst um die, die am meisten betroffen waren, zu kümmern. Das heißt: Kindergipfel statt Autogipfel. Ich finde, das ist genau der richtige Punkt.
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Wollen Sie gleich antworten, oder können wir die zweite Kurzintervention noch dazunehmen, Herr Kollege? – Ja? Der zweite Kollege ist der Kollege Grigorios Aggelidis für die FDP-Fraktion.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Lieber Kollege Weinberg, das hört sich alles sehr schön an. Es ist bei den Reden auch immer wieder zu erkennen, wie sehr das Ganze schöngeredet wird.
Mal losgelöst davon, wie viel Sie versäumt haben: Was mich bei der Rede schon sehr erzürnt hat, gerade auch mit Blick auf die Vorredner und auch mit Blick auf die Rede meines Kollegen: dass Sie in Ihrer Rede den Eindruck erweckt haben, als ob es jenseits der ersten Phase der Pandemiebekämpfung – wo wir uns alle, also alle Demokraten hier im Haus, einig waren, wie wir vorgehen müssen – auch nur ansatzweise Indikatoren oder belastbare Indizien für die Aussage gegeben hätte, dass von Kindern, von Jugendlichen in Kitas oder Schulen besondere Gefahren oder überhaupt erhöhte Gefahren ausgehen. Diesen Eindruck haben Sie hier erweckt.
Nachdem uns die Bundesregierung vor einer Woche ja geschrieben hat, dass sie keinerlei belastbare Indikatoren, keinerlei Anzeichen dafür hatte, möchte ich Sie fragen: Woher haben Sie denn eigentlich diese Indikatoren? Sie haben diesen Eindruck nämlich vorhin erweckt. Ich frage Sie andersherum: Hatten Sie nach der ersten Phase – noch mal – irgendwelche Indizien dafür?
Auch wenn ich mir angucke, was für Erfahrungen im Norden gelegene Nachbarländer gemacht haben, kann ich nur fragen: Haben Sie irgendwelche Indizien dafür gehabt, an diesem Fahrplan der Regierung, so wie Sie ihn beschrieben haben, festzuhalten? – Danke.
Kollege Weinberg, wollen Sie antworten?
Ich denke noch über die zweite Frage nach. Aber ich kann ja schon mal Kollegen Müller antworten. – Kollege Müller, ich stimme Ihnen komplett zu. Sie können natürlich sagen: Die Beschlüsse und die Ergebnisse der Gespräche der Ministerpräsidenten mit der Bundeskanzlerin sind für den Kinder- und Jugendbereich nicht so ausführlich dargestellt worden wie für andere Bereiche. Ich kann das auch an den Zeilenzahlen festmachen, nämlich vier Zeilen gegenüber 16 Zeilen für andere Bereiche.
Aber der Kern ist doch ein anderer. Das Thema ist – Sie müssen sich den Inhalt anschauen –: Es gibt eine Jugendministerkonferenz, und diese Jugendministerkonferenz berät darüber, was die einzelnen Länder machen. Kitaöffnung, Schulöffnung, Kinder- und Jugendhilfe sind Aufgabe der Länder. Wenn man in diesem Protokoll in den vier Zeilen darauf verweist, dass das gilt, was die Jugendministerkonferenz beschlossen hat, dann ist das, glaube ich, ein deutlicher Hinweis, dass man hier den zuständigen Ministern in ihrer fachlichen Zuständigkeit die Verantwortung überlässt, statt alles zentral zu leiten. – Erster Punkt.
Zweiter Punkt. Sie wissen, dass die Koordinierung in der Frage Kita und Ähnliches von der Bundesministerin übernommen wurde. Das ist nicht ihre originäre Aufgabe. Sie hat es aber getan, weil es einen guten Abstimmungsprozess zwischen den Bundesländern und der Bundesregierung gab, bei dem klar definiert wurde: Wer hat welchen Verantwortungsbereich? Wer hat was zu leisten? Das ist das, was uns die letzten Wochen und Monate getragen hat.
Ich würde mir mit Blick auf gewisse Dinge, die für Eltern wichtig sind – Stichwort: Lohnfortzahlung und anderes –, wünschen, dass man diesen Weg zwischen Bundesländern und der Bundesregierung so auch gemeinsam weiter geht. Aber noch einmal – und das war die Kernaussage –: Hier liegt auch deutlich die Kompetenz in erster Linie bei den Ländern.
Herr Präsident, ich versuche, die zweite Frage zu verstehen und dann auch zu antworten. Herr Kollege, ich weiß nicht, was Sie genau gemeint haben. Ich kann Ihnen nur Folgendes sagen – und das war meine Aussage –: In der ersten Phase gab es das große Risiko, dass die Hypothese nicht wissenschaftlich bestätigt werden konnte, dass möglicherweise gerade Kitas und Schulen besonders „gefährlich“ – in Anführungszeichen – sind, weil sich dort viele Kinder unter zehn Jahren treffen, die möglicherweise ein anderes Verhalten haben.
Nun gibt es Studien aus Island, es gibt Erkenntnisse aus China und aus Südkorea, auf deren Grundlage man dann die Hypothese aufstellen kann, dass das Infektionsverhalten bei Kindern ein anderes ist; Herr Drosten hat es auch bestätigt. Ich warne uns nur, wenn wir über Öffnungen reden: Man sollte diese Öffnungen sehr behutsam angehen und immer so, dass man weiß, was man tut. Was ich nicht möchte, ist, dass wir eine Diskussion in Deutschland erleben, weil wir die Öffnung zu früh vollzogen haben und nicht gesundheitsrelevant feststellen konnten, dass dies der richtige Weg war. Deswegen habe ich gesagt: Macht es behutsam.
Aber richtig ist auch, dass die Kinder ihre Rechte zurückbekommen müssen. „Recht“ heißt auch „soziale Teilhabe“; „Recht“ heißt auch, dass Kinder sich mit Gleichaltrigen treffen, dass sie in der Kita betreut werden und dass sie wieder das haben, was für sie wichtig ist. Das, glaube ich, muss man abwägen, wenn man diesen Prozess gut auf den Weg bringen will. Da muss man auf wissenschaftliche Kompetenz auch hören. Aber man muss immer wissen: Wir haben die politische Verantwortung. Deswegen muss man es behutsam und sorgsam machen.
Vielen Dank.
({0})
Vielen Dank. – Bevor wir mit der Aussprache fortfahren, komme ich zurück zu unserem Tagesordnungspunkt 11, nämlich zur namentlichen Abstimmung. Die Zeit ist jetzt abgelaufen. Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat?
({0})
Darf ich nach draußen in die Lobby fragen: Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? – Also: Der Kollege hat aufmerksam zugehört und war so gefesselt von den Reden, dass er nicht abgestimmt hat. Aber jetzt tut er es.
Ich frage jetzt noch mal: Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? – Offensichtlich nicht. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Ich gebe Ihnen das Ergebnis später bekannt.
Wir fahren fort mit der Aussprache. Der nächste Redner ist für die AfD-Fraktion der Kollege Frank Pasemann.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Werte Zuschauer an den Fernsehgeräten und – für die AfD viel wichtiger – auf YouTube, Facebook und sonstigen sozialen Kanälen!
({0})
Alles bestimmend ist derzeit die Coronakrise, welche auch in Deutschland in eine veritable gesellschaftliche Katastrophe umzuschlagen droht.
({1})
Bereits zur Katastrophe ausgeufert ist in unserem Land die demografische Krise. Diese findet indes kaum Beachtung. Die ausgewiesen familienfeindlichen Oppositionsparteien Grüne und Die Linke kommen in dieser Situation mal wieder mit Schaufensterpolitik; das machen ihre Anträge überdeutlich. Kinderrechte sollen geschützt werden, und mehr Teilhabe solle Kindern ermöglicht werden. Welchen Kindern aber zukünftig? Wenn die seit Jahren offenkundige demografische Fehlentwicklung in Deutschland so weitergeht, wird es in absehbarer Zeit kaum mehr Kinder geben, denen man Rechte einräumen oder Teilhabe ermöglichen müsste.
({2})
Seit Jahrzehnten liegt die Zahl der Geburten pro Frau bei unter 2 – aktuell bei 1,57 – und damit deutlich entfernt von einem bevölkerungserhaltenden Wert.
({3})
Ebenfalls seit Jahrzehnten wird hiergegen nichts unternommen. Im Gegenteil: Diese politisch initiierte demografische Entwicklung wird als Argument angeführt, warum Deutschland dringend auf Migration angewiesen sei.
({4})
Statt für eine aktivierende Familienpolitik werden Jahr für Jahr hohe Millionenbeträge an linke bis linksextreme Vereine und Strukturen vergeben. „Demokratie leben!“ nennt sich das Bundesprogramm. Es ist mit insgesamt über 115 Millionen Euro ausgestattet, pro Jahr wohlgemerkt. Die Antragsteller haben es inzwischen erreicht, sich nicht einmal mehr zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekennen zu müssen. Damit ist der Weg zur staatlich alimentierten Jugendarbeit auch durch Linksextremisten frei geworden.
({5})
Die politische Einstellung der Frau Ministerin Giffey ist hier nur die Kirsche auf der Sahnetorte dieser seit Jahrzehnten gepflegten familien- und volksfeindlichen Politik, die bei den hier schon länger Regierenden inzwischen zum guten Ton gehört.
({6})
Um das ganze Debakel zu verdeutlichen, reicht ein Blick auf die häufigsten Vornamen im besten Deutschland, das wir jemals hatten. War Mohammed 2017 noch auf Platz sieben, konnte er sich im Folgejahr 2018 auf den sechsten Platz vorkämpfen, um im Jahr 2019 mit dem dritten Platz endlich auf dem Podium zu stehen.
({7})
Meine Damen und Herren, es ist abzusehen, wann Mohammed das Rennen auch in Deutschland endgültig gewinnen wird.
({8})
Anstatt dass die Familienministerin gegen diesen tatsächlich von Menschen gemachten Bevölkerungswandel vorgeht, bejubelt sie, dass, wie bis vor Kurzem, jeden Freitag von deutschen Kindern, die im eigenen Land immer weniger werden, gegen eine vermeintlich menschengemachte CO2-Krise angehüpft wurde.
({9})
Das wirft ein weiteres entlarvendes Schlaglicht auf die sogenannte Familienpolitik dieser Bundesregierung.
Vielen Dank.
({10})
Der nächste Redner ist für die Fraktion der SPD der Kollege Stefan Schwartze.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Familien! Die Coronapandemie fordert Familien heraus. Eltern stehen im Moment vor der Mammutaufgabe, Kinderbetreuung, Homeschooling, den eigenen Job und Hausarbeit unter einen Hut zu bekommen. Kindern und Jugendlichen fehlen seit Wochen die Kontakte zu Freunden, zu Mitschülern, zu Vereinskameradinnen und ‑kameraden. Sie alle brauchen unsere Unterstützung.
Wir lassen die Familien in dieser Situation nicht alleine. Seit Montag bieten Kitas eine erweiterte Kindernotbetreuung flächendeckend an. Mit der stufenweisen Öffnung schaffen wir Entlastung von Familien. Das ist ein wichtiger Schritt. Jetzt sind die Länder an der Reihe, damit dies verantwortungsvoll und auch spürbar für Kinder und Eltern geschieht.
Regelungen wie die der schwarz-gelben nordrhein-westfälischen Landesregierung, die fast zwei Dritteln der Kinder bis zu den Sommerferien nur ganze zwei Tage den Kitabesuch ermöglicht, helfen allerdings niemandem.
({0})
Hier fehlt es an Verlässlichkeit und an echter Entlastung. Und auch den Kindern hilft das in ihrer Situation überhaupt nicht.
Kinder und Jugendliche werden auch in den kommenden Wochen zusätzliche Betreuung zu Hause brauchen. Als SPD sagen wir ganz klar: Wenn Eltern in dieser Krise nicht arbeiten können, um für ihre Kinder da zu sein, brauchen sie einen verlässlichen finanziellen Ausgleich.
({1})
Die erste auf sechs Wochen befristete Regelung für diesen Ausgleich läuft jetzt aus. Sie war über das Infektionsschutzgesetz mit den Bundesländern vereinbart. Mehr als eine befristete Regelung war zu diesem Zeitpunkt mit den Ländern nicht möglich. Das ist eigentlich eine Aufgabe, die voll und ganz in der Verantwortung der Länder liegt. In dieser herausfordernden Situation ist die Bundesregierung den Ländern aber zur Seite gesprungen und hat 50 Prozent der Kosten übernommen. Dazu ist die SPD-Bundestagsfraktion auch weiter bereit.
({2})
Wir Sozialdemokraten wollen auch weiterhin eine Regelung, die für den ganzen Zeitraum greift und auf die sich Eltern zu jeder Zeit in dieser Krise verlassen können. Deshalb ist auch jeder hier im Haus gefordert, im Sinne der Eltern und der Kinder Druck auf die Landesregierungen auszuüben. Der Bund steht zu seiner Verantwortung gegenüber den Familien; das haben Franziska Giffey und Hubertus Heil klargemacht. Die Länder, die über die Öffnung oder Schließung von Schulen und Kitas entscheiden, sollten dies auch tun.
Weil wir zu unserer Verantwortung stehen, haben wir das Elterngeld krisenfest gemacht und den Kinderzuschlag ausgebaut, deshalb haben wir den Zugang zur Grundsicherung vereinfacht, und deshalb haben wir ein 500-Millionen-Programm für digitale Lernmittel auf den Weg gebracht. Und weil wir um jeden Arbeitsplatz kämpfen, spannen wir einen Rettungsschirm für Unternehmen. Deshalb haben wir als SPD auch eine Erhöhung des Kurzarbeitergeldes durchgesetzt.
({3})
Das alles schafft Sicherheit für die Familien in diesem Land.
Die SPD will die Familien aber auch bei dem Weg aus der Krise nicht vergessen. Die Diskussion über Bonuszahlungen für Familien ist entbrannt, und ich bin froh darüber.
({4})
Ich will, dass Familien auch in den Konjunkturprogrammen ihren Teil erhalten. Bei den Lasten, die Familien in dieser Zeit tragen, bei der Mammutaufgabe, die sie leisten, steht Familien das zu.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({5})
Für die FDP-Fraktion hat das Wort der Kollege Daniel Föst.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin Schön und lieber Kollege Weinberg von der CDU/CSU-Fraktion, fällt Ihnen eigentlich die Ironie auf, wenn Sie jetzt von der Reform des Systems und der Anpassung der Rahmenbedingungen reden? Sie stellen doch seit 15 Jahren die Bundeskanzlerin. Was hat die CDU/CSU denn aufgehalten, eine Reform durchzusetzen?
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Werte Kolleginnen und Kollegen, wie viele hier im Plenum habe auch ich zwei kleine Stöpsel, einen Dreijährigen und einen Fünfjährigen. Wir erleben täglich, was die Coronapandemie mit unseren Kindern macht, wie sie ihre Freunde vermissen, wie wichtig Oma und Opa, Spielplätze, Kita, Schule, Sportplätze sind.
Allerdings müssen wir auch sehen, dass es vielen Kindern noch deutlich schlechter geht. Wir wissen von der Zunahme sexueller Gewalt, wir wissen von der Zunahme häuslicher Gewalt, von der Zunahme von Missbrauch und Vernachlässigung. Deswegen möchte ich auf einen Punkt im Antrag der Grünen, der mir sehr wichtig ist und bei dem ich sehr großen Reformbedarf sehe, besonders eingehen – liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, wenn Sie es ernst meinen, können Sie sich uns da gerne anschließen –: Die Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland ist systemrelevant, und zwar überall und zu jeder Zeit. Es ist an der Zeit, dass wir der Kinder- und Jugendhilfe auch auf Bundesebene den Platz einräumen, den sie verdient.
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Sie ist lebensentscheidend und lebensrettend für unsere Kinder. Aber wir sehen, dass wir dafür Sorge tragen müssen, dass Länder und Bund mehr Mittel zur Verfügung stellen, dass die bestehenden Beratungs- und Unterstützungsleistungen ausgebaut werden, dass Kindern sicher und verlässlich geholfen wird. Ich bin der Meinung, dass das System der Kinder- und Jugendhilfe auch auf Bundesebene ausgebaut werden muss.
Die Coronapandemie ist noch nicht vorbei, aber es deutet sich jetzt schon an, dass eine Welle hilfsbedürftiger Minderjähriger auf unsere Jugendämter zurollt.
Auch bei den Jugendämtern besteht – das erkennen wir, wenn wir genau hinschauen – großer Reformbedarf. Die Gründe sind vielfältig: Es fehlen verbindliche, einheitliche Mindeststandards sowohl für die Einrichtungen als auch für die Ausbildung der Mitarbeiter. Es fehlt oft an ausreichend finanziellen Mitteln. Wir sehen die Überlastung der Mitarbeiter im Allgemeinen Sozialen Dienst und die finanziellen Engpässe in den Kommunen. Die Aufgaben von Jugendämtern werden komplexer und schwieriger.
Darauf müssen wir reagieren. Ich denke, es ist an der Zeit: Wir brauchen ein Bundeskompetenzzentrum Kinder- und Jugendhilfe, eine schlanke Institution, bei der sich Bund und Länder zusammensetzen und verbindliche Standards entwickeln. Wenn es wirklich brennt, wie im Fall Lügde, soll es schnell Hilfe leisten – für die betroffenen Kinder, aber auch für die Mitarbeiter. Wir brauchen ein Bundeskompetenzzentrum, um Mitarbeiter in Krisensituationen durch Beratungen zu unterstützen. Wir brauchen ein Bundeskompetenzzentrum auch, um endlich eine unabhängige Ombudsstelle zu etablieren. Dafür ist es Zeit.
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Ich finde es sehr, sehr bedauerlich, dass es immer noch keinen Referentenentwurf zur Reform des SGB VIII gibt.
Kommen Sie bitte zum Ende, Herr Kollege.
Angesichts der Krise und des Reformbedarfs in der Kinder- und Jugendhilfe wäre es dringend nötig, dass wir bei dieser Reform mutig voranschreiten. Unsere Kinder und Jugendlichen brauchen unsere Hilfe.
Vielen Dank.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kinderrechte sind Menschenrechte. Kinder und Jugendliche brauchen eine besondere Fürsorge und Unterstützung. So verlangt es die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Auch die UN-Kinderrechtskonvention verbürgt ein Recht auf soziale Sicherheit und auf einen angemessenen Lebensstandard. Die Linke fordert: Kinderrechte müssen endlich ins Grundgesetz.
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In einem reichen Land wie Deutschland muss jedes Kind an dem Lebensstandard teilhaben können, der für eine große Mehrheit selbstverständlich ist. Aber Ihre eigenen Zahlen, meine Damen und Herren der Bundesregierung, besagen, dass rund 2,5 Millionen Kinder in Armut leben und eben nicht am allgemeinen Wohlstand teilhaben können. Das ist beschämend, und das werden wir als Linke niemals akzeptieren.
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Kinderarmut ist immer die Armut der Eltern. Die Coronapandemie hat die Lage der Familien verschärft. Viele Eltern sind in Kurzarbeit oder haben sogar ihren Arbeitsplatz verloren. Erwerbseinkommen brechen weg. Viele wissen nicht, wie sie ihren Lebensunterhalt bestreiten sollen. Die Bundesregierung schätzt, dass mehrere Millionen Menschen in Hartz IV geraten werden. Deshalb fordert Die Linke ein Kurzarbeitergeld in Höhe von mindestens 90 Prozent, ein höheres Arbeitslosengeld und einen höheren Mindestlohn.
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Das wären die richtigen Antworten auf die Wirtschaftskrise. Das würde eine drohende soziale Krise abwenden, das würde vielen Familien helfen und übrigens auch die Binnenkonjunktur ankurbeln.
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Die Ausgaben steigen. Ich zitiere aus einer Nachricht einer alleinerziehenden Frau mit drei Kindern, die mich via Facebook erreicht hat: „Auch im Stromverbrauch wird es sich niederschlagen, wenn statt einer Person nun vier den ganzen Tag zu Hause verbringen. Die Preise für Mundschutz sind relativ hoch. Kopien für die Hausaufgaben gehen immens ans Portemonnaie. Mit billigen Nudeln und Eiern konnten wir das in den letzten Wochen nicht ausgleichen, da diese Artikel oft vergriffen waren. Wir fühlen uns vergessen von der Politik.“ – Das ist Realität in Deutschland. Deshalb braucht es endlich einen Pandemiezuschlag für Hartz-IV-Bezieherinnen und ‑Bezieher und auf alle Sicherungsleistungen, und das rückwirkend ab März.
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Damit die Bundesregierung die Kinder nicht vergisst, fordert Die Linke einen Kindergipfel, einen Gipfel, bei dem es eben nicht um Konzerninteressen geht, sondern um Kinder, um Jugendliche und um arme Familien,
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um ein Coronaelterngeld, den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Gewalt, mehr Förderung für Schülerinnen und Schüler, damit sie durch Homeschooling nicht noch mehr abgehängt werden, sowie den Aufbau und die Finanzierung neuer Angebotsformen in der Kinder- und Jugendhilfe. Das wäre die Tagesordnung für einen Kindergipfel, meine Damen und Herren. Nehmen Sie die Kinder endlich in den Blick!
Danke.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort die Kollegin Annalena Baerbock.
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Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Liebe 13 Millionen Kinder und Jugendliche im Land! Wir haben euch im Blick.
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Ich glaube, das macht diese Debatte deutlich. Aber zugleich macht diese Debatte auch deutlich, dass Im-Blick-Haben nicht ausreicht.
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Es reicht nicht aus, wenn wir hier als Politik beschreiben, dass es für die Kinder gerade nicht einfach ist. Vielmehr ist der Staat, die öffentliche Hand per Grundgesetz verpflichtet, alles dafür zu tun, damit die Kinder und Jugendlichen endlich wieder zu ihren Rechten kommen.
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Wir haben eine Verpflichtung; ansonsten ziehen sich Kinder zurück. Sie machen einfach so weiter. Aber wenn Lehrerinnen und Lehrer, denen dieser Tage auch unser Dank gebührt, anrufen und fragen: „Wie geht’s?“, dann reden manche Kinder nicht mehr. Dann beschreiben sie nicht, was in ihnen passiert. Oder Dritt- oder Viertklässlerinnen berichten: Wenn dieses Land mich nicht will, warum soll ich dann überhaupt meine Hausaufgaben machen? – Das kommt ja nicht irgendwoher, sondern es kommt von dem Gefühl: Wir dürfen nicht in die Schule gehen; wir dürfen nicht an unsere Orte gehen. – Die Kinder haben solche Gefühle, weil sie zum Beispiel vor einem Baumarkt ein Schild sehen mit der Aufschrift: Lassen Sie Ihre Kinder bitte draußen! – Was löst das in Kindern und Jugendlichen aus? Was bedeutet das für unsere Demokratie, wenn bei denjenigen, die in den nächsten Jahrzehnten für dieses Land stehen, das Vertrauen in den Staat, das Vertrauen in Politik so massiv beschädigt wird?
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Herr Weinberg, ich glaube, wir stimmen bei vielem überein. Natürlich mussten Kitas und Schulen am Anfang geschlossen werden. Aber es kann jetzt nicht einfach so weitergehen, nach dem Motto: Schauen wir mal, was dann kommt. – Der zerbrechlichste Bereich kann nicht der Bereich sein, der als Letztes wieder zu einer neuen Normalität zurückkehrt.
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Der zerbrechlichste Bereich muss der Bereich sein, wo der Staat alles dafür tut, dass die Rechte eingehalten werden. Sonst gehen Familien kaputt. Sonst zerbrechen Kinder. Das erleben wir alle angesichts der Rückmeldungen, die wir tagtäglich bekommen. Das kann auch kein Milliardenrettungspaket dieser Welt jemals wiedergutmachen.
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Natürlich ist es nicht einfach. Ich nenne als Beispiel den Föderalismus gerade im Bildungsbereich. Hier hat der Bund eigentlich keine wirkliche Zuständigkeit. Zuständig sind die Länder. Diese sagen dann, dass eigentlich die Kreisschulämter zuständig sind. Das ist natürlich verflixt. Aber es entbindet uns nicht von der Verantwortung, zu tun, was wir auf Bundesebene tun können.
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Das heißt, wir kommen mit einem Konzept der Notbetreuung nicht weiter. Wir haben 3,7 Millionen Kitakinder. Selbst wenn wir 50 Prozent der Eltern als systemrelevant einstufen, haben wir nach wie vor 1,5 Millionen Kinder, die nicht in die Kita gehen. Sie können ja nicht am Vormittag im Biergarten abgegeben werden. Das sind vor allen Dingen die Kinder, die am meisten Unterstützung brauchen.
Deswegen: Wir müssen alle Voraussetzungen schaffen, um zu einem Regelbetrieb zurückzukehren, und zwar allerspätestens nach den Sommerferien. Tests in Kitas und Schulen! Die Studien, die in Auftrag gegeben werden, müssen auf Bundesebene gebündelt werden. Wir müssen die Studien, die in Baden-Württemberg und Sachsen gemacht werden, mit den Studien aus Österreich und Dänemark vergleichen. Wenn wir dann erkennen, dass die Infektionskette von dort nicht ausgeht, dass es gar keine Infektionsketten in der Notbetreuung gibt, müssen wir natürlich zu einem Regelbetrieb zurückkommen. Wir müssen zudem dafür sorgen, dass das, was beim DigitalPakt geschaffen wurde, wirklich in die Schulen kommt.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Wir haben zu wenige Fachkräfte sowie Lehrerinnen und Lehrer. Diese müssen in die Schulklassen zugeschaltet werden und nicht die Kinder aus dem Homeoffice.
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Ein Bildungspaket für alle Kinder in diesem Land, das müssen wir hier im Bundestag schaffen, und zwar vor den Sommerferien, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Die nächste Rednerin: für die CDU/CSU-Fraktion die Kollegin Michaela Noll.
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Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Kollegin Dörner, wir haben es geschafft. Wir haben hier und heute eine Stunde Debatte über die Frage, wie es den Familien geht. Es geht um die Rechte der Kinder. Deswegen bin ich ganz dankbar, dass die Anträge eingebracht wurden. Ich halte das Thema für ausgesprochen wichtig.
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Was mir aufgefallen ist, bevor ich nach Berlin gekommen bin: Schräg gegenüber bei mir zu Hause ist ein Spielplatz. Endlich waren die rot-weißen Bänder wieder weg. Ich hörte Kinder, die spielten, die im Sand spielten, die lachten und die sich stritten. Das war für mich ein Zeichen: Das Leben kehrt so langsam wieder zurück, langsam wieder ein Schritt in Richtung Normalität. Deswegen möchte ich an dieser Stelle einfach einmal Danke sagen. Wir haben den Ärzten gedankt. Wir haben den Pflegern gedankt. Ich möchte mich bei jedem bedanken, der bereit war, zurückzustecken, der die Hygieneregeln und die Abstandsregeln eingehalten hat. Die Pandemie trifft Klein wie Groß, Arm wie Reich. Sie macht keinen Unterschied in Klassen und auch keinen Unterschied im Land. Weil sich die Menschen, viele Bürger, daran gehalten haben, sind wir heute da, wo wir sind, und können über Lockerungen sprechen.
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Aber ein besonderes Dankeschön möchte ich an die Eltern richten. Ich glaube, ich spreche hier für alle Fraktionen: Alle Kollegen haben Video- oder Telefonkonferenzen hinter sich genauso wie ich; am Dienstag waren es sieben Stunden. Wenn ich mir vorstelle, dass während solcher Konferenzen ein Zweijähriger unter dem Tisch krabbelt und dass dann noch ein Sechsjähriger da ist, dem ich Mathe beibringen muss, dann weiß ich ganz genau, dass das grenzwertig ist. Das schafft man einen Tag, das schafft man eine Woche. Aber es ist ungeheuer anstrengend. Deswegen sage ich an dieser Stelle ein herzliches Dankeschön an die Eltern.
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Was aber richtig ist: Politik ist in der Verantwortung. Deswegen sprechen wir heute darüber, und deswegen werde ich auch gleich auf Ihre Anträge eingehen. Warum gab es denn das Kontaktverbot für die Kinder? Mein Kollege Weinberg hat es explizit dargestellt. Wir haben mit der Pandemie Neuland betreten. Wir wussten nicht, wie infektiös das bei Kindern ist. In Amerika ist inzwischen von einem Kawasaki-Syndrom die Rede. Das haben wir Gott sei Dank nicht. In dem Moment, wo wir mehr wissen, wird es etwas einfacher. Aber jetzt ist es so: Die Kitas öffnen langsam, und man kann die Kinder wieder in die Kitas schicken.
Das, was der Kollege Müller eben sagte und was auch im Antrag der Linken steht, stimmt ja nicht so ganz. Sie sprechen von einer Ausgangssperre. Diese gab es so nie. Die Kinder konnten vor die Tür. Die Kinder konnten mit den Eltern etwas unternehmen. Die Kinder konnten sich bewegen; man musste es nur machen. Wenn Sie von einer Ausgangssperre sprechen, dann erwähnen Sie bitte Spanien. In Spanien durften die Kinder sechs Wochen die Wohnung nicht verlassen. Der einzige Glückliche war, der einen Hund hatte. Der durfte vor die Tür. Davon waren wir himmelweit entfernt.
Aber was brauchen Kinder? Kinder brauchen Bewegung, Förderung. Sie brauchen Kontakt; sie brauchen Schutz. Wir haben eben verschiedene Redner gehört, die gefordert haben: Kinderrechte in das Grundgesetz. Ich war lange Mitglied und Vorsitzende der Kinderkommission und weiß, dass wir das sehr differenziert betrachten. Ich weiß auch, dass das bei uns in der Union unterschiedlich gesehen wird. Ich war immer jemand, der sehr stark dazu tendiert hat, Kinderrechte in das Grundgesetz zu nehmen.
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Nach 18 Jahren Parlamentsmitgliedschaft glaube ich, dass das ein gutes Signal ist. Aber ich gestehe ein: Da muss noch Überzeugungsarbeit geleistet werden, weil sich die Juristen an dieser Stelle besonders schwertun.
Ein weiterer Punkt, der angesprochen wurde, ist der Kindergipfel. Es hat einen Kindergipfel gegeben. Kollege Müller, ich glaube, da waren Sie noch nicht im Parlament. Das war 2006; da hatten wir das große Thema Integration. Wir von der Kinderkommission haben den ersten großen Kindergipfel gemacht. Vor dem Paul-Löbe-Haus haben wir den Reichstag nachgebildet. Die Kinder sind eingeladen worden. Was ich mir wünsche, ist ein Kindergipfel pro Legislaturperiode, um festzustellen: Wo stehen die Kinder in Deutschland? Wo sind die Chancen? Wo sind die Perspektiven? Wo müssen wir mehr tun? Der Missbrauchsbeauftragte Johannes Rörig hat auch letztes Mal, als er zu uns gesprochen hat, festgestellt, dass Handlungsbedarf besteht. Wenn wir die Statistiken sehen, wissen wir: Wir müssen auch beim Kinderschutz noch besser werden. Ich war Berichterstatterin für Kinderschutz.
Zu dem Antrag der Grünen. Kollegin Dörner, Sie haben gesagt, die Kinder- und Jugendhilfe sei systemrelevant. Das ist ein Punkt, bei dem ich mitgehen kann. Sie ist systemrelevant. Mitarbeiter der Kinder- und Jugendhilfe sind zum Teil nicht mehr in die Familien gegangen, weil sie keine Schutzanzüge hatten; da müssen wir etwas tun. Aber ich glaube nicht, dass jetzt der Zeitpunkt ist, um einen Pandemieplan für die Zukunft zu entwerfen. Die Kinder dort aufzunehmen, halte ich für wichtig. Aber vieles von dem, was der Antrag der Grünen enthält, betrifft die Länderkompetenz. Da müssen Sie auch mit Ihren Regierungen sprechen.
Nichtsdestotrotz bin ich der festen Überzeugung: Wenn wir die Pandemie überstanden haben – das haben wir nämlich noch nicht –, wenn wir einen Impfstoff haben, dann werden wir Bilanz ziehen. Dann werden wir fragen: Wo sind Fehler gemacht worden? Jens Spahn, unser Gesundheitsminister, hat in einer Rede bereits gesagt: Vielleicht müssen wir an der einen oder anderen Stelle verzeihen. – Ich hoffe nicht, dass es dazu kommen wird. Aber wir alle sind in einem Lernprozess. Wir sehen die Chancen der Digitalisierung; wir sehen die Risiken. Was ich mir auf jeden Fall wünsche, ist, dass Kinderlärm wieder Zukunftsmusik ist, und zwar für uns alle.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Michaela Noll. – Die nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion die Kollegin Ulrike Bahr.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Kinderrechte stehen zwar trotz Koalitionsvereinbarung leider noch nicht im Grundgesetz; aber auch in der Pandemie gilt unser bewährtes Kinder- und Jugendhilferecht. Gerade in der Krise haben Kinder ein Recht auf Förderung, und es bleibt Aufgabe der Jugendhilfe, sie zu schützen, zu fördern und Benachteiligungen abzubauen.
In der Umsetzung ist das eine Herausforderung; das wissen wir alle. Kontaktbeschränkungen, geschlossene Schulen und Kitas, eingeschränkte Spielmöglichkeiten und vielleicht auch noch beengte Wohnverhältnisse lassen Konflikte daheim erst recht eskalieren. Das macht es schwer, von außen Probleme zu erkennen und Hilfsangebote zu machen. Aber ich möchte auch betonen, dass weiterhin mit viel Kreativität und Engagement hervorragende Arbeit geleistet wird.
Nur einige Beispiele: Das Elterntelefon und die „Nummer gegen Kummer“ für Kinder haben ihre Kapazitäten stark ausgeweitet und werden vielfach genutzt. Von der lokalen Beratungsstelle über die sozialpädagogische Familienhilfe bis zur Kita bieten viele Träger Gespräche, aber auch konkrete Arbeit mit Kindern, telefonisch oder per Videoschalte, an. Mitarbeitende von Kinder- und Jugendzentren machen Haustürbesuche und bringen Spiel- und Lesematerial vorbei, und die Erzieherinnen und Erzieher in Notaufnahmen, stationären Einrichtungen und Wohngruppen leisten wie die Familien gerade Außergewöhnliches, weil sie auch die Schule, die Sportangebote oder die Treffen mit Freunden ersetzen und deren Fehlen ausgleichen müssen. Dafür möchte ich an dieser Stelle auch einmal Danke sagen.
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Denn die engagierten Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe werden viel zu oft nicht erwähnt, obwohl auch sie höchst systemrelevant den Laden am Laufen halten.
Die finanzielle Absicherung unserer Unterstützungssysteme ist relativ schnell ins Rollen gekommen. Vom Sozialdienstleister-Einsatzgesetz bis zum nachverhandelten und heute Morgen endlich beschlossenen Schutzschirm für die Sozialpädiatrischen Zentren gibt es inzwischen eine Struktur, die unsere Träger und Einrichtungen die Krise hoffentlich gut überstehen lässt. Ohne das Engagement der Bundesländer und der Kommunen wird es hier allerdings aufgrund der vielfältigen Angebotslandschaft nicht gehen.
Die Krise lässt aber auch erkennen, wo wir noch nachbessern müssen. Stellvertretend auch für andere benachteiligte Gruppen denke ich an die Situation von Kindern mit psychisch kranken und suchtkranken Eltern. Das sind nach vorsichtigen Schätzungen immerhin circa 3 Millionen. Sie haben ohnehin schon zu wenig verfügbare Hilfestrukturen und leiden besonders darunter, wenn Kita, Schule und Umfeld keine Entlastung bieten können.
Darum ist es richtig, auch und gerade in der Krise weiter an der Reform unserer Kinder- und Jugendhilfe zu arbeiten. Der Beteiligungsprozess mit den vielen, vielen großen Präsenzrunden hat zum Glück ja bereits im letzten Jahr stattgefunden. Jetzt geht es darum, besseren Kinderschutz, mehr Inklusion, mehr Beteiligungs- und Beschwerdemöglichkeiten, eine gute Präventionsstruktur und eine starke Kinder- und Jugendhilfe umzusetzen. Daran arbeitet das Familienministerium unter Hochdruck, wie ohnehin auch unsere Bundeskinderministerin Franziska Giffey keine Gelegenheit auslässt, sich für die Bedarfe von Kindern und Familien starkzumachen.
In der Krise zeigt sich der Charakter, um mit Helmut Schmidt zu sprechen, und darum gilt mit wie ohne Pandemie: Wir dürfen kein Kind zurücklassen, wir müssen Spaltung überwinden statt verstärken und die Rechte aller Kinder auf Bildung, Beteiligung und Entwicklung zu selbstbestimmten Persönlichkeiten unterstützen. Insofern ist es gut und richtig, die Anliegen der Kinder an alle politischen Ebenen hier und heute noch einmal prominent ins Licht zu rücken.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Bahr. – Die letzte Rednerin zu TOP 12 ist für die CDU/CSU-Fraktion die Kollegin Ingrid Pahlmann.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Vorredner und Vorrednerinnen haben schon geschildert, vor welche Herausforderungen die Coronapandemie Familien und Kinder stellt, dass Väter und Mütter unter vielfacher Belastung stehen, viel Kraft, Durchhaltevermögen und Kreativität an den Tag legen müssen, um diese ungewöhnliche Situation immer in den Griff zu bekommen, und dass die Lage der Kinder, dass die Beachtung ihrer Rechte natürlich auch ein besonderes Augenmerk der Politik erfordern.
Ja, liebe Antragsteller der Grünen und der Linken, da sind wir völlig bei Ihnen. Und ja, in der Spitzenphase der Pandemie sind leider auch oft die Belange der Kinder und Jugendlichen in den Hintergrund gerückt. Die ersten Maßnahmen dienten dem Gesundheitsschutz, um Menschen vor Ansteckung zu bewahren. Und ja, es wurden viele finanzielle Mittel auf den Weg gebracht, die der Wirtschaft, dem möglichen Erhalt von Betrieben und Arbeitsplätzen dienten. Wahr ist aber auch, dass diese finanziellen Hilfen eben auch den Familien zugutegekommen sind und weiterhin ‑kommen.
Die Maßnahmen speziell für Familien wurden zum Teil schon genannt. Um coronabedingte Einkommenseinbrüche zu minimieren, wurde ein Notkinderzuschlag eingeschossen. Es gab Anpassungen beim Elterngeld, und für den digitalen Unterricht wollen wir gemeinsam mit den Ländern kurzfristig Finanzmittel zur Verfügung stellen.
Heute Morgen haben wir über das Zweite Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite abgestimmt. Ich habe dazu eine persönliche Erklärung abgegeben. Dem Gesetz stimme ich in inhaltlicher Hinsicht durchaus in den allerallermeisten Passagen zu. Aber aus familienpolitischer Sicht halte ich eine Verlängerung oder Entfristung der Lohnersatzleistung für Eltern, die ihre Kinder aufgrund der Schließung von Kita und Schule selbst betreuen müssen, über die im Gesetz vorgesehenen sechs Wochen hinaus für unbedingt notwendig;
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denn finanzielle Nöte in der Familie belasten auch die Kinder über Gebühr.
Ja, aber nicht nur das. Auch der Austausch mit anderen, mit Freunden, das freie Spielen, die Möglichkeit, Sport zu treiben, sind elementar. Auch die Bundeskanzlerin hat nach der letzten Beratung mit den Länderchefs gesagt, wie wichtig es ist, dass Kinder möglichst bald in ihren normalen Lebensrhythmus zurückfinden. Aber wie sieht diese Rückkehr aus? Wie schnell kann sie gelingen? Das ist nicht nur eine Frage an den Bund. Hier haben Länder und Kommunen das Zepter auch in der Hand. Viele Forderungen aus der Opposition fallen eben ausschließlich in die Zuständigkeit der Länder.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, ich erlaube mir, Ihnen hier an dieser Stelle den Hinweis zu geben: Ihre Partei ist in über zehn Bundesländern an der Regierung beteiligt und gestaltet dort Schul- und Kitapolitik mit. Wenn Ihnen die Rechte der Jugendlichen und deren Wahrnehmung am Herzen liegen, dann wenden Sie sich bitte auch an Ihre Parteikollegen und ‑kolleginnen vor Ort. Das gilt natürlich auch für die Kollegen der Linken.
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Als Kommunalpolitikerin weiß ich, wie schwierig es momentan ist, die richtigen Entscheidungen zu treffen und die Balance zwischen Bedürfnissen der Kinder, Kinderschutz, Wahrung der Kinderrechte und Pandemieeindämmung zu finden. Auch wir in meiner Kommune versuchen momentan, den Weg zurück in die Normalität zu finden. Als wichtiger Partner in dieser außergewöhnlichen Zeit sind die vielfältigen Beratungsstrukturen zu nennen, auf die wir zurückgreifen können: Familienberatung, Nummer gegen Kummer, Hilfetelefon gegen Gewalt und vieles andere mehr. Sie sind vor Ort etabliert, und viele sind sich ihrer Verantwortung bewusst und haben sich unglaublich schnell auf die veränderte Situation eingestellt. Sie bieten Beratung per Telefon und online an.
Natürlich wissen auch wir, dass es da durchaus Schwachstellen gibt. Die technische Ausstattung ist nicht in allen Familien gegeben. Aber auch da gilt es, neben den Finanzhilfen von Bund und Ländern die Politiker vor Ort mit ins Boot zu nehmen; denn sie sind mit den Gegebenheiten dort vertraut, sie kennen sich aus, sie können manchmal viel schneller Abhilfe schaffen, als wir es hier vom Bund aus können.
Ebenso gilt immer wieder der Satz: Jede Krise zeigt auf, wo die Schwachstellen liegen, und jede Krise birgt in sich die Chance zu grundlegender Verbesserung. – Das hilft zwar nicht unbedingt in der momentanen Situation, aber wir alle wissen, dass die Pandemie uns noch eine Zeit lang begleiten wird und dass in unserer globalen Welt aller Wahrscheinlichkeit nach die Gefahr einer Wiederholung eher steigt als abnimmt.
Deshalb ist es auch eine Aufgabe für die Zukunft, vorhandene Beratungsstrukturen zu stärken, weil wir wirklich davon ausgehen können, dass der Beratungsbedarf in der Nach-Corona-Zeit ansteigen wird. Denn natürlich ahnen wir, dass die letzten Wochen tiefe Wunden bei Kindern und Familien hinterlassen haben. Deshalb müssen wir auf allen Ebenen an einem Strang ziehen, um Gutes zu bewahren und da, wo es Verbesserungsbedarf gibt, nachzusteuern. Die Lebenswirklichkeit, die Bedürfnisse von Kindern und Familien müssen wir bei unseren Entscheidungen immer im Auge haben.
Ich freue mich auf die fachliche Beratung der vorliegenden Anträge im Familienausschuss. Der Überweisung stimmt die Fraktion der Union natürlich geschlossen zu. Ich freue mich über Ihre Aufmerksamkeit.
Noch ein Wort zu Herrn Pasemann: Falsche Recherche, Fake News kennen wir von Ihrer Fraktion. Nur Ihnen zur Info und zur Klärung: 2019 waren die beliebtesten Vornamen bei Jungs Noah, Ben und Paul. Dass der eine oder andere Name Ihnen dabei auch nicht passt, mag durchaus sein. Der von Ihnen zitierte Vorname, der übrigens wunderschön ist, findet sich nicht einmal unter den Top Ten. Also bitte ein bisschen besser recherchieren!
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Ich schließe die Aussprache.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer! Im Zentrum der politischen Aufmerksamkeit steht natürlich völlig zu Recht die Coronakrise und ihre Bewältigung. Wahr ist aber, dass es auch andere wichtige Themen gibt, und dazu gehört die Reform unseres Wahlrechts.
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Wenn einige Teile dieses Hauses glauben, im Aufmerksamkeitsschatten der Coronakrise dieses Thema einfach aussitzen zu können, dann können wir ihnen das nicht durchgehen lassen. Deshalb ist diese Aktuelle Stunde heute nötig, meine lieben Kolleginnen und Kollegen.
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Zur Erinnerung: Unser Wahlrecht ist nach wie vor so konstruiert, dass es passieren kann, dass das Haus auf über 800 Mitglieder anwächst. Das wird uns nicht handlungsfähiger machen. Das wird dazu führen, dass die Kosten aus dem Ruder laufen. Und was noch schlimmer ist: Die Bürgerinnen und Bürger, die Bevölkerung wird es nicht akzeptieren, dass wir sehenden Auges dieses Problem hier nicht lösen. Wer das Problem des Wahlrechts nicht im Parlament löst, der sorgt dafür, dass das Parlament in der Bevölkerung an Ansehen verliert. Unsere Aufgabe ist es, das zu verhindern. Deshalb ist diese Aktuelle Stunde heute nötig, meine Damen und Herren.
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Einige hier im Haus – man hört das auf den Fluren und von Journalisten – wollen uns jetzt einreden, das sei alles nicht mehr so schlimm, es gebe ja jetzt eine andere politische Stimmungslage, vielleicht komme das dicke Ende dann ja gar nicht. Ich möchte hier ganz klar sagen: Dieses Argument ist an Kurzsichtigkeit nicht zu überbieten; denn das strukturelle Problem des Wahlrechts bleibt.
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Politische Stimmungen aber ändern sich schnell. Wer sehenden Auges jetzt die noch mögliche Ausfahrt zur Korrektur verpasst, der geht ein unkalkulierbares Risiko ein. Und mit dem Ansehen des Deutschen Bundestags zockt man nicht! Deshalb ist diese Aktuelle Stunde heute nötig.
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Was die Opposition konstruktiv beitragen kann, hat sie getan. So unterschiedliche Fraktionen wie die der Grünen, der Linken und der FDP haben ihre enormen politischen Differenzen beiseitegelegt und haben einen Gesetzentwurf vorgelegt, der nach Ansicht unabhängiger Expertinnen und Experten verfassungsgemäß ist und das Problem löst. Dieser Gesetzentwurf ist damit das komplette Gegenteil jeder Beiträge, die die CSU in diesen Prozess eingeführt hat;
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denn jeder Vorschlag der CSU war bislang entweder verfassungswidrig oder hat das Problem nicht gelöst.
Jetzt könnte man ja sagen: Ah ja, da redet jetzt die Opposition.
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Das kennen wir ja schon. Aber wir sind ja offenkundig nicht alleine. Der Kollege Christian von Stetten – kein Mitglied meiner Fraktion, der Grünen oder der Linken, sondern der Fraktion der CDU/CSU – sagt: Vielleicht ist die Lösung der Opposition nicht die beste, aber es ist eine Lösung.
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Er wird seine Gründe haben, warum er das nicht über die Beiträge der CSU sagt.
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Der Kollege Johann Wadephul – er ist ja kein profilneurotischer Scharfmacher; er ist ein Mann der Mitte und des Ausgleichs – sagt: Es müssen sich endlich alle bewegen, und zwar auch die CSU. – Er wird seine Gründe haben, warum er das sagt.
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Der Kollege Mathias Middelberg – auch nicht bekannt als profilneurotischer Wichtigtuer,
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sondern als Fachmann mit Maß und Mitte – sagt in Richtung der CSU, wenn wir dem „Spiegel“ glauben dürfen, dass sie sich endlich bewege solle. Recht hat der Kollege.
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Deshalb möchte ich sagen: Ich habe großen Respekt vor den Kollegen, die jetzt versuchen, in ihrer Fraktion eine Lösung herbeizuführen. Denn es ist doch so – wir merken das doch auf den Fluren und in den Gesprächen –: Die große Mehrheit in diesem Haus möchte die Lösung.
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Sie möchte das Ansehen dieses Hauses bewahren. – Deshalb sollten wir diese Mehrheit der Verantwortung endlich nutzen, meine Damen und Herren. Wenn Sie das Gesicht der CSU in Gottes Namen dabei schonen wollen, dann geben Sie die Abstimmung eben frei.
Aber bitte: Wir stehen unter Zeitdruck. Das Wahlrecht können wir nur in einem regulären Gesetzgebungsverfahren verändern. Im Juni fangen die Aufstellungen an. Die Wahlleiter brauchen Rechtssicherheit. Wir brauchen jetzt entweder konkrete Änderungsanträge zu unserem Gesetzentwurf, oder wir brauchen einen neuen Gesetzentwurf von Ihnen. Handeln Sie bitte! Zocken Sie nicht mit dem Ansehen dieses Parlaments! Wenn das das Ergebnis wäre, dann war diese Aktuelle Stunde nicht nur nötig, sondern dann war sie mehr als ertragreich.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Dr. Buschmann. – Einen schönen guten Tag von mir an Sie!
Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Ansgar Heveling.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine Aktuelle Stunde im Deutschen Bundestag kann im Wesentlichen zu zwei Dingen die Gelegenheit geben: Sie kann als bloßes Instrument, eine andere politische Kraft vorzuführen, eingesetzt werden; dann ist außer Rauch und Pulverdampf und vielleicht der einen oder anderen Emotion nicht viel zu erwarten. Sie kann aber auch dazu genutzt werden, an der Sache deutlich zu machen, worum es geht. Es liegt an den Fraktionen, welchen Weg sie wählen. – Eines kann eine Aktuelle Stunde aber sicher nicht: Entscheidungen herbeiführen. Dazu ist sie schlicht das falsche Instrument.
Was allerdings stimmt, ist, dass wir jetzt – im Sinne von: bald – zu einer Entscheidung kommen müssen, wenn es noch zu einer Wahlrechtsreform für die nächste Bundestagswahl kommen soll. Hier und heute kann man nur erneut aufzeigen, welche Alternativen es gibt, welche Weggabelungen gewählt werden können und welche Folgen mit welchen Entscheidungen verbunden sind, je nachdem, in welche Richtung man an der Weggabelung abbiegt.
Richtig ist, dass Handlungsbedarf besteht; denn selbst die aktuellen Umfragen, auch wenn sie ganz bestimmt nicht das Bundestagswahlergebnis 2021 abbilden, zeigen, dass der Bundestag voraussichtlich nicht von alleine kleiner wird. Solange bei einer Partei das Zweitstimmenergebnis mit der Zahl der gewonnenen Wahlkreise nicht Schritt hält, wird sich diese Situation nicht verändern. Wenn man aber die Notwendigkeit zum Handeln sieht, ergeben sich immer mehrere Möglichkeiten.
Natürlich wäre es wünschenswert, wenn man den Bundestag bei einer bestimmten Größe einfach deckeln könnte, ohne am System ansonsten etwas zu verändern. Nur leider können wir eben alle nicht zaubern. Jedwede reine Deckelungslösung birgt die Gefahr, ganz schnell zum Taschenspielertrick zu werden. Es ist offensichtlich, dass bei einer solchen Lösung ganz schnell zu viele Überhangmandate übrig bleiben und die Lösung in die Verfassungswidrigkeit kippt.
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Vermeintlich einfache Lösungen sind im Ergebnis meistens keine Lösungen.
Also folgt die nächste Weggabelung. Was, wenn man den Deckel mit einer Kappung verbindet? Damit würde das Grundprinzip unseres Wahlrechts, dass derjenige, der einen Wahlkreis direkt gewonnen hat, in jedem Fall im Bundestag sitzt, durchbrochen. Verfassungsrechtlich ist dies mit vielen Fragezeichen verbunden. Aber es ist sicherlich nicht von Vornherein ausgeschlossen, dass dieser Weg insbesondere als Notfalllösung verfassungsrechtlich zu rechtfertigen wäre. Allerdings müsste man einen Preis zahlen: Es kann sein, dass etliche Wahlkreissieger von Sonntagabend am Montag erfahren, dass sie zwar den Wahlkreis gewonnen haben, aber nicht im Bundestag sitzen werden. – Für Wähler und vermeintlich Gewählte wäre das sicherlich ein fragwürdiges Ergebnis.
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Schließlich gibt es Lösungen, die im System ansetzen und nicht versprechen, dass sie das Größenproblem des Bundestages ein für alle Mal lösen, die aber dafür sorgen, dass der Bundestag nicht ungebremst weiterwachsen kann. Das ist ohne Frage mit dem Gesetzentwurf der Opposition möglich. Gleichzeitig ist es aber ein radikaler – zu radikaler – Weg: 250 Wahlkreise und der Verzicht auf den ersten Verteilungsschritt. – Praktisch geht es damit nicht nur zulasten einer einzigen Fraktion, der von CDU und CSU, sondern auch zulasten einer gerechten, an den abgegebenen Wählerstimmen orientierten Verteilung auf die Länder.
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Bleibt ein Vorschlag im System, den ich in der letzten Aktuellen Stunde zum Wahlrecht schon artikuliert habe: die moderate Reduzierung der Wahlkreise auf 270, die Reform des ersten Zuteilungsschritts und die Hinnahme von ausgleichslosen Überhangmandaten, so, wie sie das Bundesverfassungsgericht für zulässig ansieht.
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Wenn man angesichts dieser Möglichkeiten die Wahl hat, welche Lösung man nimmt, so liegt es doch auf der Hand, die Variante zu wählen, die verfassungsrechtliche Tragfähigkeit verspricht, also eine, die mit den Stellschrauben im bestehenden System arbeitet. Es liegt auf der Hand, eine Variante zu wählen, die allen etwas abverlangt und die Lasten nicht einseitig verteilt.
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Für mich wäre die Antwort von daher klar.
Vielen herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Ansgar Heveling.
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Nächster Redner: Albrecht Glaser für die AfD-Fraktion.
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Herzlichen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Analyse von Herrn Buschmann ist nichts hinzuzufügen; die ist voll und ganz richtig. Die Suggestion allerdings, als wäre das Angebot der kleinen Koalition, der Koalition der Kleinen, eine Lösung, ist völlig falsch. Das ist jetzt, glaube ich, das vierte oder fünfte Mal, dass wir über das Thema diskutieren; aber die Lösung wird dadurch natürlich nicht besser. Ich will Ihnen gleich beweisen, wie Sie die identischen Ergebnisse, die Sie nicht haben wollen, kriegen, wenn Sie Ihre Scheinlösung umsetzen.
Klar ist: Das jetzige System produziert 800 oder mehr Abgeordnete, und das will angeblich niemand. Man weiß es nicht so genau; es könnte sein, dass es vielleicht doch welche gibt, die diesen Effekt mögen.
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Das liegt an systematischen Fehlern des Wahlrechts, meine Damen und Herren. Ich will es anhand eines Exempels erklären, sonst ist es zu abstrakt. Als Exempel muss man natürlich die CSU nehmen – gar keine Frage. Sie ist eine Regionalpartei, hatte bei der letzten Bundestagswahl 6,2 Prozent der Zweitstimmen; das sind 38 Prozent der Stimmen ihres Wahlgebiets. Daraus resultierend stehen ihr 39 Sitze zu. Sie hat aber alle 46 Direktmandate in Bayern gewonnen, ergo hat sie sieben Überhangmandate erzielt; das sind 15 Prozent mehr Mandate, als ihr zustehen.
So, und jetzt wollen der Teufel und die SPD und Grünen dem geltenden Wahlrecht den Prozess machen. Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt: Nein, nein, ihr müsst Verhältnisausgleich machen. – Also bekommen jetzt alle anderen Parteien 15 Prozent mehr Abgeordnete, als ihnen nach ihren Stimmzahlen zustehen. Das ist der Teufel, der in diesem System steckt. Es bringt denjenigen, die Überhangmandate erzielen, überhaupt keinen Vorteil; es vergrößert nur den Bundestag. Das sagt die Bertelsmann-Stiftung, das sagt das ifo-Institut, das sagt der Professor Meyer, den Sie sicherlich gut kennen, Herr Schneider, und den Sie in jüngeren Tagen wahrscheinlich auch noch einmal gefragt haben, wie es denn gehen könnte; zumindest habe ich das aus dem, was Sie öffentlich gesagt haben, geschlossen.
Meine Damen und Herren, damit haben wir das Problem aufgezeigt, und wir haben gezeigt, dass es systemisch ist. Ein Systemfehler ist zum einen – ich sage es mal; es ist vielleicht doch überraschend –, mit einer relativen Mehrheit einen Wahlkreis zu gewinnen. Sie würden mit einer relativen Mehrheit keinen Oberbürgermeister, keinen Landrat und schon gar nicht die Bundeskanzlerin wählen. Im letzteren Fall brauchen wir die absolute Mehrheit, in allen übrigen Fällen brauchen wir einfache Mehrheiten. Und hier reichen relative Mehrheiten mit der Folge, dass Direktbewerber, und zwar viele, mit 20, 22, 23, 25, 27 Prozent der Stimmen zum Zuge kommen, obwohl zwei Drittel der Wähler sie gar nicht gewählt haben oder sie vielleicht gar nicht mögen. Das ist keine demokratische Weihestunde.
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Daraus folgt: Wir müssen es so machen, wie kluge Leute sagen. Wir haben das im November 2018 bereits vorgetragen. Wir haben dazu ein langes Konzeptpapier vorgelegt und letztes Jahr im Oktober hier eingebracht. Uns wurde gesagt, wir müssten selber alles durchformulieren, einen Gesetzentwurf erarbeiten; sonst wären wir Schluris. Nachdem wir festgestellt haben, dass die meisten Wahlrechtsreformen bisher vom Innenministerium gemacht wurden, war das also ein Scheinangriff, mit Verlaub, auch der FDP; also, das können die im Ministerium schon besser als wir. Ich denke, das Konzeptpapier ist so klar, dass man es in Gesetzesform umsetzen könnte.
Jetzt kommt die kleine Koalition oder die Koalition der Kleinen und sagt: Wir haben eine tolle Lösung. Wir kriegen das Problem des adipösen Bundestages – wie der kluge Professor Meyer immer so schön sagt – dahin gehend in den Griff, dass wir die Anzahl der Abgeordneten von heute 598 auf 630 erhöhen. Das müssen Sie erklären, wie Sie die Verkleinerung des Parlaments durch die Erhöhung der pflichtmäßigen Sitze erzeugen. Das kriegen Sie nicht hin.
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Dann wollen Sie 250 Wahlkreise; das wird kompliziert, weil das gesamte Bundesgebiet neu aufgeteilt werden muss. Der kluge Professor Meyer und auch wir – weniger klug – sagen: Ohne die Anzahl der Wahlkreise zu verändern, könnten wir es jetzt noch schaffen; denn dieses Hindernis würde beseitigt sein. Deshalb haben wir, wie Sie wissen, im November den Antrag gestellt, dass die Frist zur Bewerbung für 2021, die jetzt schon läuft, verkürzt, also nach hinten geschoben wird. Dann hätten wir bis Herbst Zeit und könnten das alles ausdiskutieren.
Hinzu kommt, dass Sie, Herr Kollege Schneider – das hat mich wirklich fasziniert –, zwischendrin einmal diesen Kerngedanken hatten.
Wir haben noch einen zweiten Kerngedanken, nämlich dem Bürger das Recht zu geben, auf die Listen Einfluss zu nehmen; eine zweite oder dritte Stimme könnte beim Sortieren helfen. Dadurch begrenzen wir die Direktmandate; Sie hatten es gesagt. Das ist der Königsweg, meine Damen und Herren. Wenn irgendein Kollege von den Linken sagt, es sei verfassungswidrig, es würde jemandem etwas weggenommen, was er schon hatte, dann sagen wir: Nein, es wird niemandem etwas weggenommen. Er bekommt es nur nicht.
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Im Landtagswahlrecht von Baden-Württemberg gibt es keine Landesliste,
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und trotzdem haben wir eine festgesetzte Zahl, weil genau das gemacht wird –
Herr Glaser, denken Sie bitte an die Redezeit.
– ich komme sofort zum Ende –: eine Art Großwahlkreis. Diejenigen, die in ihrem Wahlkreis am schlechtesten abschneiden, kommen nicht zum Zuge. Also, wenn wir das so machen, ist das hochdemokratisch. In keinem Bundesland entstehen dann mehr Direktmandate, als Mandate nach Zweitstimmen dem Wahlvorschlag zustehen. Damit ist alles gelötet. So könnten wir es wunderbar machen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Albrecht Glaser. – Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Uli Grötsch.
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Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In seiner Antrittsrede am 22. Oktober 2013 hat der damalige Bundestagspräsident Norbert Lammert unter dem Beifall von allen Fraktionen hier im Bundestag angemahnt, dass wir dringend eine Wahlrechtsreform brauchen.
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Zahlreiche Sitzungen, zahlreiche Gespräche und Debatten folgten.
Heute – fast sieben Jahre später – kennen wir alle das Ende vom Lied: keine Einigung. Der Bundestag ist, wie befürchtet, auf mehr als 700 Mitglieder angewachsen. Auch wieder in dieser Wahlperiode ringen wir schon seit Januar 2018 um eine Lösung, wie wir es schaffen können, den Bundestag in Zukunft auf seine im Grundgesetz festgeschriebene Regelgröße von 598 Abgeordneten oder zumindest eine einigermaßen angemessene Größe zu beschränken. Noch – die Betonung liegt auf „noch“ – habe ich Hoffnung, dass wir das mit dem Brückenmodell der SPD hinkriegen.
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Dafür müssten aber die ideologischen Scheuklappen hier in diesem Haus fallen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sage es Ihnen ganz ehrlich: Wenn sich in diesem Hohen Haus nicht alle Fraktionen bewegen und Zugeständnisse machen, dann sehe ich dafür schwarz; denn klar ist: An einer Reform des Wahlrechts müssen alle Parteien und Fraktionen mitarbeiten. In einer Situation, in der wir den Gürtel enger schnallen wollen und müssen, darf sich niemand einen schlanken Fuß machen.
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Denn mit unserer gescheiterten Wahlrechtsreform machen wir uns zur Lachnummer in den Medien und in der Bevölkerung. Wir verlieren immer mehr das Vertrauen der Wählerinnen und Wähler, das wir gerade jetzt in dieser Zeit doch dringend brauchen. Wie erklären Sie den Menschen, dass dann nächstes Jahr vielleicht mehr als 800 Abgeordnete im Bundestag sitzen? Jeder hier im Haus weiß: Mehr ist nicht immer besser für den Bundestag.
Ich kann inzwischen gar nicht mehr sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen, wie viele Vorschläge wir in den letzten Jahren schon diskutiert haben, wie viele Schritte wir aufeinander zugegangen sind. Wir haben Experten befragt, wir haben Modelle berechnen lassen, und dennoch hat insbesondere eine Fraktion – ja, ich meine Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CSU; es ist, glaube ich, nur einer da –
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– immerhin drei – ihre Blockadehaltung nicht aufgegeben. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CSU, trotz alledem, trotz all dieser Versuche, Schritte und Berechnungen halten Sie Ihre Blockadehaltung nach wie vor aufrecht. Ich sage: Wir müssen Egoismen überwinden, weil es um das Ansehen dieses Parlaments geht.
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Es geht hier ja auch nicht um einzelne Sitze, die womöglich wegfallen, sondern es geht im wahrsten Sinne des Wortes um das Große und Ganze, wenn wir über Wahlen zum Deutschen Bundestag sprechen. Das haben Sie anscheinend entweder nicht verstanden, oder – ganz ehrlich – es ist Ihnen egal. Sie lehnen alle vorgelegten Vorschläge bisher ab und pochen auf Ihren eigenen, der ausschließlich Ihre Partei begünstigt und alle anderen benachteiligt.
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Jeder, der diese Debatte hier verfolgt, wird nachvollziehen können, dass die Fraktionen des Bundestages keiner Wahlrechtsreform zustimmen, die eine einzige Partei bevorteilt und alle anderen benachteiligt. Das wäre ja entgegen jedem gesunden Menschenverstand.
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Mit Blick auf die Zeit, mit Blick auf das Datum müssen wir jetzt dringend handeln. Ich sage das noch einmal: Unser Vorschlag liegt auf dem Tisch. Ich habe den Eindruck, dass dieser Vorschlag auch konsensfähig wäre, mit Ausnahme einer Partei. Ich fordere Sie deshalb auf: Steigen Sie endlich von Ihrem hohen Ross herunter, und lenken Sie um der großen Sache willen ein; denn Sie wissen genauso gut wie ich, dass unser Vorschlag des Brückenmodells der einzige ist, der zeitlich überhaupt noch umsetzbar wäre. Die Lösung liegt auf dem Tisch; der Ball liegt bei Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Wenn Sie nicht mitmachen, dann erklären Sie den Menschen ganz offen und ehrlich, warum: weil Sie kein einziges Mandat einbüßen wollen. Gerade aktuell bringen die Menschen in Deutschland – und damit komme ich zum Schluss – Opfer. Alle Menschen in Deutschland bringen zurzeit in dieser Krise Opfer. Die Menschen in Deutschland erwarten nun zu Recht – auch von Ihnen – Solidarität und Verantwortung in dieser Frage.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Uli Grötsch. – Ich möchte darum bitten, das Fotografieren auf iPads zu unterlassen. Übrigens ist die Frage, ob iPads hier im Bundestag von den Kolleginnen und Kollegen benutzt werden dürfen, durchaus strittig.
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– iPads! Ich rede von den iPads; ich rede nicht von iPhones.
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– Doch! Ist strittig.
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– Doch, doch!
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Und wenn nicht, dann ab jetzt. So!
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Nächster Redner: Friedrich Straetmanns für die Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Beim Thema Wahlrecht zeigt die Union Mutlosigkeit und kleingeistigen Egoismus. Auch in dieser Aktuellen Stunde zur Wahlrechtsreform gibt es wieder einmal keine nennenswerten Ergebnisse zu kommentieren, weil die Union weiterhin in einem politischen Dornröschenschlaf verharrt. Dieses Herumeiern ist grob fahrlässig.
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Gerade in Zeiten von florierenden Verschwörungserzählungen sind wir Politikerinnen und Politiker aufgefordert, durch unser Handeln zu zeigen, dass wir aufrichtig sind und uns nicht nur der eigene Futtertrog interessiert.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Unionsparteien, wenn Sie nicht daran interessiert sind, für den nächsten Bundestag einen massiven Aufwuchs zu verhindern, dann bekennen Sie sich einfach dazu. Hören Sie aber bitte auf, zu versuchen, uns die Verantwortung zuzuschieben, indem Sie völlig abstruse Vorschläge unterbreiten, die ausschließlich Ihnen Vorteile bringen und alle anderen Parteien benachteiligen.
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Ihre Idee, dass 15 Überhangmandate nicht ausgeglichen werden sollen, benachteiligt alle Wählerinnen und Wähler, die nicht die Union wählen wollen. Deren Stimmen sind dann nämlich weniger wert.
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Wir müssen uns endlich ernsthaft mit der Frage auseinandersetzen, warum Vertrauen in die Politik verloren gegangen ist. Eine der meistgenannten Antworten auf diese Frage ist: Weil die Politikerinnen und Politiker nur an sich selbst denken. Ob das nun stimmt oder nicht, sei einmal dahingestellt. Aber es sind vor allem Debatten wie diese hier, die dieses Bild verfestigen und verbreiten. Niemandem außerhalb dieses Hauses kann man vermitteln, wie es sein kann, dass wir nach einer seit über einem Jahr regelmäßig tagenden Wahlrechtskommission und zahllosen Aktuellen Stunden, interfraktionellen Runden und über die Presse kolportierten Vorschlägen kaum einen Schritt weitergekommen sind. Das haben allein Sie von der Union zu verantworten.
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Deshalb fordere ich Sie, liebe Unionsparteien, auf: Kommen Sie endlich zu der Erkenntnis, die bei allen anderen demokratischen Fraktionen bereits angekommen ist: Es wird keinen kleineren Bundestag geben, wenn nicht alle Parteien gleichmäßig Federn lassen. Ihr Taktieren nur um des eigenen Vorteils willen widert mich an.
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Für den von uns Linken, den Grünen und der FDP vorgelegten Vorschlag ist der Zug für die nächste Wahl – wer realistisch ist, weiß das – wohl bald abgefahren. Das haben Sie durch Ihre Verzögerungsstrategie clever hingekriegt; denn die Neueinteilung der Wahlkreise ist zum jetzigen Zeitpunkt nur noch sehr schwer rechtzeitig zu machen.
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Zu verantworten haben das allein Sie, meine Damen und Herren von den Unions- und Koalitionsfraktionen. Als wir den Vorschlag vor nun sieben Monaten betont als Gesprächsangebot vorgelegt haben, wäre mehr als genug Zeit gewesen, sich damit auseinanderzusetzen.
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Das haben Sie gezielt unterlaufen und die Zeit verstreichen lassen. Das ist der Bedeutung und Wichtigkeit des Themas Wahlrecht nicht angemessen.
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Auch Sie, meine geschätzten Kolleginnen und Kollegen von der SPD, kann ich nicht ganz von der Kritik ausnehmen.
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Sie haben sich als Fraktion einfach viel zu lange der Union untergeordnet. Das ist einer Partei, die in der Geschichte dieses Landes so viel für Demokratie und Parlamente gestritten und stets das Wahlrecht mitgeprägt hat, schlicht und ergreifend unwürdig.
Umso mehr begrüße ich es aber, dass Sie dann doch noch einen Vorschlag vorgelegt haben. Für diesen Vorschlag sind wir Linke durchaus offen, wenn geregelt ist, dass es sich um ein Übergangswahlrecht handelt und dass dieser Vorschlag ein ganz klares Ablaufdatum hat. Dieses Ablaufdatum muss uns zugleich aber dazu zwingen, gleich zu Beginn der nächsten Legislaturperiode zusammenzutreten und in einer neuen Kommission eine tragbare dauerhafte Lösung zu erarbeiten. Aber: Eine solche Kommission bedarf einer Fristsetzung und einer Verpflichtung zur Vorlage eines Vorschlags. Anders kann das nicht funktionieren.
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Gestatten Sie mir noch eine Anmerkung zur Briefwahl. Es gibt ja wohl auch erste Überlegungen der Regierung, die nächste Bundestagswahl als reine Briefwahl stattfinden zu lassen. Das muss man sich mal klarmachen: Sie kommen über Jahre nicht in die Pötte, die dringende Wahlrechtsreform hier in Angriff zu nehmen, aber über eine solch tiefgreifende und in verfassungsrechtlicher Hinsicht keineswegs unproblematische Reform führen Sie Diskussionen. – Wir wissen nicht, wie die Situation im nächsten Jahr sein wird und welche Maßnahmen notwendig sein werden. Da ist es doch völlig abwegig, über eine reine Briefwahl zu debattieren.
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Hätten Sie letzte Woche lieber über die Möglichkeit diskutiert, wie wir zur nächsten Bundestagswahl ein Wahlrecht anwenden können, das nicht zu einer weiteren Aufblähung des Bundestags führt. Das wollen Sie aber nicht; denn es könnte ja Ihre Sitze und damit Geld kosten. Nein, so funktioniert Demokratie nicht. Die Union muss endlich aufwachen und sich ihrer politischen Verantwortung stellen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Friedrich Straetmanns. – Nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Britta Haßelmann.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir Abgeordnete haben alle eine große Verantwortung dafür, dass unser Parlament arbeitsfähig bleibt, und dafür, dass die Akzeptanz in der Bevölkerung für unsere parlamentarische Demokratie und für unser Parlament, den Deutschen Bundestag, so bleibt, wie sie ist, oder noch besser wird.
Das, was Sie gerade veranstalten, und zwar seit Monaten, meine Damen und Herren insbesondere von der Union, aber auch von der Koalition, von Union und SPD, ist nichts anderes als Hinhaltetaktik: zu keinem Ergebnis kommen zu wollen, obwohl jede und jeder von uns, der sich mit dem Wahlrecht befasst, weiß, dass wir eine Änderung des Wahlrechts brauchen, weil es eine strukturelle Problematik beim personalisierten Verhältniswahlrecht gibt. Dass Sie sich einfach weigern, sich einer Lösung anzunähern oder dem Deutschen Bundestag selbst etwas vorzulegen, das ist ein Armutszeugnis, meine Damen und Herren.
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Ich fasse es wie folgt zusammen: Das, was sowohl Union als auch SPD und auch gemeinsam als Koalition – obwohl wir ja das Wahlrecht überparteilich regeln wollen – tun, ist nichts anderes als die kollektive Weigerung, Verantwortung zu übernehmen, meine Damen und Herren.
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Wir als überzeugte Parlamentarierinnen und Parlamentarier haben aber diese Verantwortung zu tragen.
Meine Damen und Herren, wir alle kennen inzwischen die Konflikte innerhalb der Union. Es kann doch nicht wahr sein, dass 709 Abgeordnete, dass das Parlament darauf wartet, weil 46 MdBs, die ganze 6,2 Prozent dieses Bundestags ausmachen, ein Vetorecht gegen das Wahlrecht haben.
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Was veranstalten Sie eigentlich innerhalb der Union? Sie können sich doch von 46 Abgeordneten hier nicht vorführen lassen! Dafür müssen wir alle jetzt die Verantwortung übernehmen und bekommen nachgesagt, wir wären nicht handlungsfähig.
Meine Damen und Herren, wir alle sind handlungsfähig. Es gibt Modelle. Es gibt Lösungen für das personalisierte Verhältniswahlrecht. Wir Grüne haben gemeinsam mit der FDP und den Linken einen Vorschlag gemacht: eine Wahlkreisreduzierung, der Verzicht auf das Sitzkontingentverfahren und die moderate Erhöhung der Gesamtzahl auf 630. Dann könnten wir das personalisierte Verhältniswahlrecht proportional gerecht für alle Parteien im Deutschen Bundestag umsetzen. Das ist ein fairer Vorschlag.
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Es gibt auch viele andere Vorschläge, zum Beispiel das sogenannte Kappungsmodell: Jeder kann nur mit so vielen direkt gewählten Abgeordneten einziehen, wie es das Zweitstimmenergebnis ermöglicht. Was soll daran undemokratisch sein, meine Damen und Herren? Bei uns in Deutschland gilt das Verhältniswahlrecht, und das wäre die Umsetzung des Verhältniswahlrechtes.
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Also ginge auch der Vorschlag der SPD. Es ginge auch ein Vorschlag von vielen anderen Staatsrechtlerinnen und Staatsrechtlern, die sagen: Kappt doch einfach die Direktmandate an der Stelle, wo das Zweitstimmenergebnis überschritten wird. – Es können also nur so viele einziehen, wie es dem Zweitstimmenergebnis entspricht, und sonst zieht eben der zweitdirekt gewählte Abgeordnete ein. Auch das ist möglich.
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– Ja, lachen Sie ruhig. Den meisten von Ihnen ist das Direktmandat doch gar nicht so viel wert, auch wenn Sie es immer wie eine Monstranz vor sich hertragen.
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Soll ich Ihnen mal sagen, wie viele Abgeordnete in dieser Legislaturperiode ausgeschieden sind, anscheinend um Besseres zu machen, und ihren Wahlkreis verwaisen lassen?
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Also kommen Sie nicht wieder mit der Geschichte vom besseren oder schlechteren Abgeordneten, meine Damen und Herren.
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Es gibt nur einen einzigen Vorschlag, der dem Parlament vorliegt. Das ist der Vorschlag von FDP, Grünen und Linken. Fakt ist: Sie haben bisher keine Kraft gehabt, etwas vorzulegen. Sie lassen sich von 46 Abgeordneten der CSU auf der Nase rumtanzen, und die diktieren Ihnen sozusagen, dass einfach nichts passiert. Ich finde, das ist ein Trauerspiel, für das Sie, meine Damen und Herren von der SPD und der CDU/CSU, die Verantwortung tragen.
Vielleicht sieht die eine oder andere aus der SPD und der CDU/CSU, was es für ein Fehler war, sich nicht dem Antrag von Grünen und Linken anzuschließen, sodass wir Frauen gemeinsam einen Gruppenantrag machen, um die Parité
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wenigstens in einer Kommission auf den Weg zu bringen.
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Dass Sie diesem Antrag nicht zur Mehrheit verholfen haben, das war ein Fehler. Denn jetzt redet nur noch jeder über die Parité; aber es tut sich leider gar nichts, meine Damen und Herren.
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Vielen Dank, Britta Haßelmann. – Nächster Redner in der Debatte: Michael Frieser für die CSU/CDU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin, vielen herzlichen Dank. – Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Sie hörten gerade aus der Abteilung „Brainwashing“: Wir brauchen auf jeden Fall einen Sündenbock. – Oder soll ich lieber „Greenwashing“ sagen? Das bietet sich vielleicht mehr an. Die CSU bietet sich selbstverständlich auch für diese Funktion an.
Aber wir sollten am Ende des Tages dann doch mal bei der Wahrheit bleiben. Was hat denn die Opposition vorgeschlagen? Die Opposition hat vorgeschlagen: Wir zerdeppern mal 50 Wahlkreise. Wir haben jetzt schon ein Verhältnis von 60 Mandatsträgern/Liste zu 40 Mandatsträgern/Wahlkreise. Muss das Problem denknotwendig bei den Wahlkreisen liegen? Das ist nicht ganz vernünftig.
Herr Buschmann, an Ihre Adresse: Sie hätten heute die Chance gehabt, sich mal mit Ihrem eigenen Entwurf auseinanderzusetzen. Denn dann wird schon klar: Das eine sind die Wahlkreise – schwierige Definition und nicht ganz logisch –; das andere ist das Einfach-mal-so-Wegstreichen des ersten Zuteilungsschrittes. Darf ich mal daran erinnern, dass das geltende Wahlrecht mit allen Stimmen der hier in der Mitte sitzenden Fraktionen getroffen wurde, auch der Ihrigen? Jetzt zu sagen: „Haltet den Dieb!“, halte ich für eine schwierige Argumentation,
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um dann zu sagen: „Wir streichen mal diesen ersten Zuteilungsschritt“. Zur Information: Es geht um die Verteilung auf die Länder. Was für Regionen sind wirklich vertreten? Wie kommen wir zu Mindestsitzen?
Dazu hat das Bundesverfassungsgericht unter dem Stichwort „negatives Stimmengewicht“ gesagt: Da müsst ihr was ändern. – Jetzt kommen Sie und streichen ihn einfach weg. Das nenne ich einen verfassungswidrigen Vorschlag.
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Diesem Vorschlag kann man nicht zustimmen, weil er natürlich maximal – jetzt bin ich genau an der Stelle – gegen die Interessen, ja, auch der Union gerichtet ist. Und von Bewegung, von Kompromissbereitschaft habe ich in den letzten Monaten bei diesem Oppositionsvorschlag nicht ein Jota erfahren.
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Deshalb, glaube ich, ist es ganz wichtig, dass wir zu dieser Obsession, die da immer wieder kommt und auch von Frau Haßelmann immer gern beschrien wird, wir würden hier den Bundestag aufteilen, es gebe gute oder schlechte Abgeordnete, sagen: Nein, Sie führen hier zu einer unnatürlichen Auseinandersetzung. Alle Mandatsträger machen nach bestem Wissen und Gewissen ihre Arbeit vor Ort.
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Aber dass im Ergebnis nur die Wahlkreisabgeordneten für einen Ausgleichsmechanismus die Rechnung bezahlen sollen, ist nicht mehr nachvollziehbar.
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Hören Sie also auf, die Wahlkreisabgeordneten zu verdammen und sie dafür verantwortlich zu machen!
Ich will eines zur Frage der Nichtzuteilung von Mandaten sagen: Sie müssen sich vorstellen, was da gerade im Raum steht. Man macht einen Wahlkampf – miteinander, gegeneinander, wie auch immer – um die besten Themen, am Ende des Tages gewinnt jemand diesen Wahlkreis, und dann sagt der Bundeswahlleiter: Wunderbar, herzlichen Glückwunsch; aber Sie sind nicht dabei.
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Das machen Sie in der Demokratie nur einmal. Dann wird dieser Wahlkreis erstens keinen Bewerber mehr finden,
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und zweitens sagen die Menschen beim nächsten Mal: Da brauche ich ja gar nicht mehr hingehen.
Jetzt mal zu der Argumentation, das sei demokratisch. Wissen Sie, was passiert? Alle Stimmen, die in diesem Wahlkreis abgegeben werden, sind in ihrem Erfolgswert am Ende null, weil nämlich nicht nur die nicht zählen, die nicht zum Gewinner geführt haben, sondern auch die, die zum Gewinner geführt haben.
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Also, ein schlimmeres Verbiegen dessen, was das Bundesverfassungsgericht bzw. was unsere Verfassung dazu sagt, wie der Erfolgswert einer Stimme zu zählen ist, wie sich der intuitive Wille eines Wählers tatsächlich abbilden soll: Schlimmer geht’s nimmer.
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Da sind wir der Überzeugung: Das ist tatsächlich grob verfassungswidrig.
Deshalb glauben wir am Ende des Tages: Ja, wir brauchen eine Lösung,
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weil man dieser Drohung, am Ende des Tages könne dieser Deutsche Bundestag theoretisch in einer Art und Weise unkontrolliert aufwachsen, einen Riegel vorschieben muss.
Dabei gilt es auch – wie übrigens der Bundestagspräsident selbst gesagt hat –, die Zeithorizonte miteinzubeziehen, die Lösung für die Wahl 2021, aber auch darüber hinaus für 2025 mitzudenken,
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das heißt einen echten Deckel einzuziehen, bei dem wir dann im Proporz zum Deutschen Bundestag auch wieder eine Reduktion zusammenbringen.
Ich bitte auch darum, dass man sich nicht nur hierhinstellt und sagt: „Ja, was ist denn mit der Blockadehaltung der anderen?“, sondern auch mal selbst überlegt,
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zu welchem Schritt man tatsächlich bereit ist bei dem an und für sich angeblich verfassungsrechtlich einwandfreien System. Ihr System ist nicht akzeptabel, weil es absolut nur gegen die Union gerichtet ist
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und auch gegen die SPD und im Endeffekt verfassungswidrig ist. Das kann und darf keiner mitmachen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Michael Frieser.
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Nächster Redner in der lebendigen Debatte: Thomas Seitz für die AfD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Eine Aktuelle Stunde zum Thema Wahlrechtsreform tut unverändert not, solange die Union darauf baut, dass verlorengegangene Wählerstimmen schon durch Überhangmandate ausgeglichen werden. Keine Lösung ist das von der Union ins Spiel gebrachte Grabenwahlrecht, das der Union 2017 auch mit einem knappen Drittel der Stimmen eine stabile absolute Mehrheit der Sitze gebracht hätte. Mit Ausnahme der Kollegen von der Union verstehen das auch wohl alle.
Für eine sinnvolle Lösung muss man langfristig die Anzahl der Wahlkreise reduzieren, was angesichts von zwei Wahlkreisen für Bremen und vier für das Saarland eine mehr als nur anspruchsvolle Aufgabe ist. Kurzfristig kann eine Reform damit zielführend nur bei der Vergabe der Direktmandate ansetzen.
Das beste Beispiel dafür ist der Wahlkreis Berlin-Mitte. Mit 23,5 Prozent der Erststimmen bei einer Wahlbeteiligung von 73,4 Prozent ist die dort gewählte Kollegin Frau Dr. Högl kein Sieger, sondern nur der beste Verlierer.
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Mit 17 Prozent der Wahlberechtigten fehlt es einfach an einer überzeugenden Legitimation für ein Mandat. Es braucht deshalb für mich zwingend ein Mindestquorum für die Vergabe von Direktmandaten, ganz egal ob 30, 35 oder 40 Prozent. 50 Prozent würde die Direktmandate nahezu abschaffen; das wollen wir natürlich nicht.
Nach den profunden Ausführungen des Kollegen zu den Vorschlägen der AfD und dem Gesetzentwurf der anderen Oppositionsparteien kann ich noch auf zwei weitere wichtige Aspekte eingehen, und zwar das Verhältnis der Briefwahl zur Urnenwahl und damit verbunden die Feststellung des Wahlergebnisses. Das jüngst mehrfach kolportierte Vorhaben der Union, die Bundestagswahl im Ausnahmefall als reine Briefwahl, also als Zwangsbriefwahl, durchzuführen, mag sich harmlos anhören, ist aber in Wahrheit ein Meilenstein zur weiteren Aushöhlung der Demokratie und wird von der Fraktion der AfD grundsätzlich abgelehnt.
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Das Bundesverfassungsgericht hat in früheren Entscheidungen die Briefwahl trotz der damit verbundenen Sicherheitsmängel gegenüber der Urnenwahl und der nicht garantierten Geheimniswahrung des Wahlvorganges nur deshalb gebilligt, weil der Anteil der Briefwahlstimmen verhältnismäßig gering war. Bereits mit der aktuellen Rechtslage, die eine Gleichstellung der Urnenwahl mit der Briefwahl statuiert, ist es deshalb mehr als bedenklich, wenn mit einer Größenordnung von fast 30 Prozent Briefwählern bei der Bundestagswahl 2017 das Verhältnis von Regel- und Ausnahmefall nahezu aufgelöst ist und das Leitbild der Urnenwahl immer mehr zur Fiktion wird. Für eine reine Briefwahl ist deshalb von Verfassungs wegen kein Raum, und die entsprechenden Überlegungen stellen ein gefährliches Spiel mit dem Feuer dar.
Zur Problematik der Briefwahl im Allgemeinen muss ich nur auf die kritische Haltung des Bundeswahlleiters verweisen, wie sie im Abschlussbericht der OSZE zur letzten Bundestagswahl oder in einem Artikel der „Welt“ vom 21. Mai 2019 zum Ausdruck kommt.
Auch in Zeiten einer Pandemie muss es deshalb das Angebot der Urnenwahl geben. Das Beispiel Polen hat es aktuell gezeigt. Jeder Wähler, der gesundheitliche Risiken befürchtet, kann auch jetzt schon per Brief wählen. Es wird auch genügend Freiwillige für die Besetzung der Wahlvorstände geben. Falls jemand dort ein Problem sieht: Zur Not hilft die AfD gerne aus.
Streitigkeiten um Wahldurchführungen, Auszählungen und Ergebnis sind normal, wie die vielen Wahleinsprüche, die wir im Ausschuss bearbeitet haben, zeigen. Über konkrete Einzelvorgänge hinaus gibt es in der Bevölkerung aber auch ein tiefsitzendes Misstrauen dahin gehend, ob das offizielle Wahlergebnis wirklich dem Wählerwillen entspricht. Viele Bürger gehen deshalb auch gar nicht mehr zur Wahl. Dort gilt es anzusetzen. Die Briefwahl darf nicht ausgeweitet werden, sondern muss eingeschränkt werden. Bestehende Sicherheitslücken müssen geschlossen werden anstatt erweitert. Wir alle kennen die Berichte von Briefwahlurnen, die über Wochen unbeaufsichtigt im Flur des Rathauses standen und anschließend mehr Wahlbriefe enthielten als vorgesehen oder aber bei der Auszählung vergessen wurden.
Der mobile Wahlvorstand muss in Pflegeeinrichtungen der Normalfall sein. Dann ist auch Schluss mit der Manipulation dementer Mitmenschen.
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Im Wahllokal muss es zwingend eine umfassende Identitätsprüfung geben, damit nicht länger mit gestohlenen Wahlbenachrichtigungen gewählt wird. Und wer Bleistifte in der Wahlkabine verteidigt, darf sich nicht wundern, wenn der Bürger dem Wahlergebnis nicht mehr traut. Die Unsitte von mit Schlössern gesicherten Urnen muss ebenso beendet werden, und stattdessen muss wieder ein fälschungssicheres Siegel verwendet werden.
Um auf die Briefwahl zurückzukommen: Es muss Schluss sein damit, dass manche Gemeinde den Ort der Auszählung zum Staatsgeheimnis erklärt.
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Vor allem aber gerade wegen der überragenden Bedeutung von Wahlen in einer repräsentativen Demokratie ist es notwendig, dass die fehlerhafte Auszählung überprüft werden kann.
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Bei knappen Mehrheiten oder statistischen Auffälligkeiten muss es immer eine Nachzählung von Amts wegen geben. Darüber hinaus muss es Parteien und Kandidaten möglich sein, beliebige Auszählungsergebnisse zu kontrollieren. Eine Kostentragungspflicht als notwendiges Korrektiv regelt das Problem einer übermäßigen Inanspruchnahme ganz zwanglos. Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten.
Liebe Kollegen von den GroKo-Parteien, geben Sie sich einen Ruck und wagen Sie endlich mehr Demokratie und bauen Sie Ihre Pfründe ab! Nicht alle werden einen Präsidentenposten wie Frau Nahles bekommen, aber der Bürger wünscht das vielleicht auch gar nicht.
Vielen Dank.
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Danke schön. – Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Leni Breymaier.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich auch, dass wir heute einmal über etwas anderes reden als über Corona, wenngleich Herr Seitz es trotzdem schafft, sofort wieder Verschwörungstheorien im Saal unterzubringen;
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egal zu welchem Tagesordnungspunkt, egal zu welchem Thema.
Ich glaube, wir sind uns hier im Saal weitgehend einig, dass niemand ab 2021 einen Bundestag haben will, der mehr als 800 Abgeordnete hat. Diesem Ziel wird das Brückenmodell der SPD gerecht; denn – es ist schon gesagt worden – wir fangen im Juni mit den ersten Wahlkreiskonferenzen an, und dann scheidet im Grunde genommen alles andere aus. Wenn nominiert ist, dann kann man das Wahlrecht nicht mehr grundsätzlich ändern.
Ich glaube, unser Brückenmodell ist ein realistisches, deshalb stelle ich es noch mal ganz kurz vor. Wir sagen, die Regelgröße des Bundestages bleibt bei 598 Abgeordneten, die Anzahl der Wahlkreise bleibt bei 299, und zur Wahl werden nur Parteien zugelassen, deren Landeslisten paritätisch abwechselnd mit einer Frau und einem Mann oder vielleicht auch mal umgekehrt besetzt sind.
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Als maximale Obergrenze wird die Zahl von 690 Abgeordneten im Gesetz festgeschrieben, und bis zur Erreichung der Obergrenze werden alle Überhang- und Ausgleichsmandate entsprechend ihres Zweitstimmenergebnisses zugeteilt. Dabei entfällt der 2013 eingeführte erste Verrechnungsschritt.
Das soll alles befristet sein, Herr Frieser. Wir wissen, dass das nicht die optimale Lösung ist, aber ich glaube, das halten wir aus bis zum Jahr 2025, falls es denn zum Zug kommt. Alle über die Obergrenze hinausgehenden Überhangmandate werden nicht mehr zugeteilt, der Zweitstimmenproporz bleibt aber erhalten.
Die Übergangsregelung soll so lange gelten, bis eine Reformkommission, die wir 2021 oder gerne auch früher einsetzen, zu Ergebnissen gekommen ist. Wir stellen uns vor, dass die Kommission aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Abgeordneten usw. zusammengesetzt ist und ein gescheites Ergebnis für die Wahl 2025 vorlegt. Jetzt läuft uns die Zeit davon.
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Liebe Union, Sie können sich ein Denkmal setzen, wenn Sie sich jetzt zum Thema Wahlrecht einfach mal bewegen, Ihren Schmollwinkel verlassen und mutig erstens für 2021 etwas auf den Tisch legen, das nicht nur Ihnen alleine nützt, und zweitens für 2021 das Thema Parität anpacken, zum Beispiel mit Listen im Reißverschlussprinzip.
Ohne Regeln geht es nicht. Der Frauenanteil im Bundestag ist rückläufig, so niedrig wie seit über 20 Jahren nicht mehr. Im Landtag von Baden-Württemberg sind gerade mal 25 Prozent der Abgeordneten Frauen.
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So was machen Einstimmenwahlrechte; auch das ist nicht der Weisheit allerletzter Schluss.
Wir warten jetzt seit Jahr und Tag. Bei all den Parteien, die sich für ihre Programme tolle Namen ausdenken – „Quorum statt Quote“ – und für freiwillige Selbstverpflichtungen eintreten; in Baden-Württemberg haben wir das Projekt „Frauen im Fokus“ – Herr Strobl hat sich das ausgedacht –: Alles ist gescheitert, weil alles nicht verbindlich ist. Deshalb, glaube ich, wäre jetzt das Reißverschlussverfahren ein erster Schritt.
Roman Herzog ist für seine Rede viel gelobt worden: Ein Ruck muss durch Deutschland gehen. – Ich wandele das jetzt mit Blick auf unsere heutige Debatte zum Wahlrecht ab und sage: Ein Rock muss durch Deutschland gehen, damit die Menschen in Hundert Jahren hoffentlich mal sagen können: Die haben das damals mit der Pandemie gut in den Griff bekommen, danach Deutschland und Europa sozial und ökologisch reformiert und ein Wahlrecht auf den Weg gebracht, das die Bevölkerung annähernd abbildet. Geben Sie sich also einen Ruck, liebe Union! Machen Sie das Brückenmodell und das mit dem Rock gleich dazu!
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Leni Breymaier. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Konstantin Kuhle.
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Frau Präsident! Meine Damen und Herren! In der aktuellen Coronakrise sind die Grundlagen unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens besonders unter Druck. Das gilt für die Marktwirtschaft, das gilt für den Rechtsstaat, und das gilt auch für die Demokratie. Wir haben als der gesamte Deutsche Bundestag die Pflicht, das Vertrauen in unsere Institutionen auch in dieser Coronakrise zu stärken. Deswegen muss gerade jetzt eine Reform des Wahlrechts auf den Weg gebracht werden, damit das Ansehen für die demokratischen Institutionen nach der Coronakrise keinen Schaden genommen hat.
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Dass wir das bisher nicht hinbekommen haben, ist die Schuld der Großen Koalition. Es ist aber nicht die Schuld der gesamten Großen Koalition; der Bösewicht ist die Union. Und innerhalb der Union ist es nicht die Schuld der gesamten Union; der Bösewicht ist die CSU. Und das muss man auch so ganz klar sagen.
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Deswegen hätten wir uns darüber gefreut, wenn hier auch ein konkreter Vorschlag gemacht worden wäre, statt nur zu sagen, was nicht geht. Denn dass bestimmte konkrete Vorschläge möglich sind, stellt die Große Koalition doch gerade selber unter Beweis.
In der letzten Woche war in der Zeitung zu lesen, dass geplant ist, mit Blick auf die Coronakrise eine Briefwahl einzuführen, dass geplant ist, bei den Aufstellungsversammlungen auf Digitalisierung und auf veränderte Delegiertensysteme zu setzen. Sie haben letzte Woche hier einen Vorschlag zum Thema Wahlkreiszuschnitt eingebracht. Sie friemeln am Wahlrecht herum und gehen den Elefanten im Raum nicht an, und das können wir Ihnen nicht durchgehen lassen, meine Damen und Herren; denn die Zeit drängt.
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Man muss sich nur anschauen, wie es im europäischen Vergleich aussieht. Die Venedig-Kommission des Europarats sagt ganz eindeutig: Ein Jahr vor der Wahl muss die Reform des Wahlrechts abgeschlossen sein. – Dass so was in die Hose gehen kann, haben wir doch gerade in Polen gesehen. Wir müssen ein Zeichen dafür setzen, dass wir dazu in der Lage sind, auch mehr als ein Jahr vor der Wahl das Wahlrecht zu reformieren.
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Wir haben als Fraktion der Freien Demokraten gemeinsam mit den Grünen und den Linken einen Vorschlag eingebracht, der hier schon vorgestellt worden ist. Und jetzt haben Sie sich darüber beklagt, dass auf der Grundlage dieses Vorschlags keine Kompromissbereitschaft bestehe. Ja wie denn, wenn von Ihnen kein Vorschlag kommt?
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Der Vorschlag der Freien Demokraten, der Grünen und der Linken ist im November 2019 hier in den Deutschen Bundestag eingebracht worden. Über ein halbes Jahr haben wir darauf gewartet, dass von Ihnen etwas kommt. Über ein halbes Jahr haben Sie gesagt: Die Anhörung im Innenausschuss kann nicht stattfinden; wartet bitte, liebe FDP, liebe Grüne, liebe Linke, damit wir eine gemeinsame Anhörung zum Wahlrecht machen können! – Und es ist nichts gekommen.
Die Anhörung ist jetzt am Montag der nächsten Sitzungswoche. Es geht darin ausschließlich um den Vorschlag der FDP, der Grünen und der Linken. Ich freue mich darauf, dass die Sachverständigen sich mit unserem Vorschlag beschäftigen werden. Die werden bestimmt sagen: ein super Vorschlag.
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Aber dass wir nicht die Möglichkeit haben, zu entscheiden, ob dieser oder jener Vorschlag besser ist, das ist Ihre Schuld, das geht auf Ihr Konto.
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Wir hätten gerne einen alternativen Vorschlag in diese Anhörung am Montag der nächsten Sitzungswoche im Innenausschuss des Deutschen Bundestags eingebunden.
Meine Damen und Herren, sowohl der Kollege Grötsch als auch Frau Haßelmann haben hier ein Modell vorgeschlagen, das Bezug auf die Stärke nimmt, mit der ein bestimmter Bewerber einen Wahlkreis gewinnt. Der Kollege Frieser hat das dann hier ins Lächerliche gezogen,
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und es ist auch da hinten in der Union über Frau Haßelmann gelacht worden. Es ist auch total in Ordnung, dass hier Argumente ausgetauscht werden und die Debatte hart in der Sache geführt wird.
Aber das Problem liegt doch tiefer. Das Problem besteht doch darin, dass Sie sich mittlerweile in der Unionsfraktion selber eingeredet haben – und das auch immer wieder hier darstellen –, wir hätten gar kein personalisiertes Verhältniswahlrecht, sondern ein Mehrheitswahlrecht mit Verhältniskomponente.
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Und dass darüber gelacht worden ist, zeigt, dass das mittlerweile in Ihrer eigenen Fraktion geglaubt wird.
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Das ist wirklich traurig,
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weil auf dieser Grundlage kein Kompromiss möglich ist. Wir haben weder ein Grabenwahlrecht noch ein Prä der Erststimme; wir haben ein Prä der Zweitstimme.
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Und 50 Prozent der so ermittelten Mandate werden dann über Wahlkreise aufgefüllt.
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Das ist in unserem Wahlrecht Tatsache – nicht andersrum. Und dass Sie so tun, als wäre es anders, ist für uns unglaublich schwierig, weil man dann nicht auf Augenhöhe miteinander verhandeln kann – ein großes Problem!
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Lieber Kollege Heveling, Sie haben hier einen wichtigen Satz gesagt, und zwar, dass es verschiedene Hebel gibt, die möglicherweise gezogen werden können. Manche dieser Hebel – das ist richtig – sind bisher nicht im Gesetzentwurf von Grünen, Linken und FDP enthalten. Wir sind bereit, über diese Hebel zu sprechen.
Ich will aber sagen, dass Sie hier besonders auf die Zahl der unausgeglichenen Überhangmandate Bezug genommen haben. Das sind diese 15 Mandate, die das Bundesverfassungsgericht zulässt. Das zeigt doch in Wahrheit Folgendes: Wenn man ein bundesweites Parlament aus Länderergebnissen zusammensetzen will und dabei die Hälfte über Wahlkreise bestimmen will, dann kommt es immer zu Verzerrungen. Bestimmten Fraktionen im Deutschen Bundestag kommt es darauf an, diese Verzerrungen möglichst klein zu halten. Und Ihnen kommt es gerade darauf an, diese Verzerrungen möglichst groß zu halten, möglichst zu Ihren Gunsten und möglichst so kompliziert, dass der Bürger es nicht mitkriegt. Und das kann nicht das Ergebnis unserer Wahlrechtsreform sein.
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Vielen Dank, Konstantin Kuhle. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Dr. Mathias Middelberg.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist völlig richtig: Die Menschen haben einen Anspruch darauf, dass wir ein handlungsfähiges Parlament haben, aber ich füge hinzu: auch ein Parlament, das bürgernah ist. Deswegen spielen die Direktwahl in den Direktwahlkreisen und die in diesen Wahlkreisen direkt verantwortlichen Abgeordneten
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für uns als Union eine sehr große Rolle.
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Die Repräsentanz und die Verortung der Abgeordneten werden eben gerade durch die Direktwahl vor Ort, auch durch das System von zwei Stimmen mit einer Erststimme als Kandidatenstimme, ausgedrückt.
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Deswegen – und das sage ich auch an Ihre Adresse, Herr Kollege Kuhle – würde ich es etwas anders sehen: Die Personalisierung des Verhältniswahlrechts spielt schon eine andere Rolle; es geht nicht allein um eine Verzierung. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Rechtsprechung ausdrücklich anerkannt, dass die Personalisierung des Verhältniswahlrechts auch dazu führen kann, dass es Überhangmandate gibt, auch Überhangmandate, die nicht ausgeglichen werden. – Das nur mal als Bemerkung vorweg. Personalisierung ist kein Verzierungsfaktor eines Verhältniswahlrechts, sondern es ist ein Faktor, der sich am Ende auch im Ergebnis ausdrücken darf.
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Ich sage gerade in Richtung FDP – weil das von Ihnen in besonderer Weise strapaziert wurde und weil es Teil Ihres Vorschlags ist –: Die Zahl der Mandate hier um 50 abzusenken, ist ein ziemlich gewaltiger Eingriff; denn es schmälert durchaus die Verbindung zwischen dem Parlament, den Abgeordneten, und den Bürgern, wenn wir die Zahl der Wahlkreise verringern, wenn wir die Wahlkreise ausdehnen.
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Ich zitiere mal den Kollegen Ruppert, der, glaube ich, vor zwei Wochen aus Ihrer Truppe ausgeschieden ist und der hier vor neun Jahren an diesem Pult erklärt hat:
Der Vorschlag, … die Zahl der Wahlkreise zu reduzieren, ist vielleicht gut gemeint,
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… wäre aber eine Verschlimmbesserung. Denn die Direktwahlkreise in unserem Land sind ein ganz entscheidendes Bindeglied zwischen Bürger und Bundestag.
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Die Direktwahlkreise sind das Fundament für die Akzeptanz und Bürgernähe unserer Politik. Eine Verringerung der Zahl der Direktwahlkreise würde zu weniger Bürgernähe führen.
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– Ja, darüber müssen Sie sich dann aber mit Ihrem Kollegen auseinandersetzen.
Der Kollege Heveling hat hier eben die vernünftigen Ideen aus unserer Fraktion vorgetragen. Ich finde, man kann darüber sprechen. Und ich sage ganz offen: Da ist ein gewisser Diskussionsbedarf, durchaus auch in unserer Fraktion. Aber ich persönlich bin der Meinung: Man kann durchaus über eine moderate Reduzierung der Zahl der Wahlkreise sprechen. Aber sie muss eben moderat sein.
Wir können auch durchaus über das Zuteilungsverfahren sprechen. Aber auch beim Zuteilungsverfahren ist es natürlich von Bedeutung, dass es zu einem gewissen regionalen Ausgleich kommen muss. Also auch da kann man was machen, aber in moderater Weise.
Ich finde aber auch, wir können auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Rücksicht nehmen. Und das Verfassungsgericht hat eben gesagt: Bis zu 15 Überhangmandate sind okay.
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Diesen Punkt vermisse ich in Ihrem Vorschlag leider völlig.
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Und jetzt sage ich Ihnen zum Schluss etwas zu dem Thema Obergrenze. Es ist ja von verschiedenen Beteiligten hier ausgeführt worden. Frau Breymaier, Sie haben ja beispielsweise das Thema Obergrenze angesprochen und zu dem Vorschlag, dann zu kappen, gesagt: Am Ende geht es nur, dass alle Mandate, die über der Obergrenze sind, gekappt werden. Damit – das sage ich ganz ehrlich – würde ich mich ganz besonders schwertun, und zwar nicht nur aus verfassungsrechtlichen Gründen. Ich hielte es nicht nur für verfassungsrechtlich ausgesprochen problematisch; ich glaube auch, es wäre ein gewaltiger Schaden für unsere Demokratie. Personalisiertes Verhältniswahlrecht wäre dann eigentlich ziemlich ad acta gelegt. Vor allen Dingen wäre es aber ein gewaltiger Schaden für unsere Demokratie, weil dann der ganze Wahlkampf zwischen Bewerbern vor Ort leidet – das, was wirklich vor Ort stattfindet –, auch die Identifikation von Wählern, die dann noch eine Erststimme abgeben dürfen. Dann müssten wir eigentlich gleich darüber reden, die Erststimme wegzunehmen; denn sie macht dann keinen Sinn mehr. Wenn wir aber den Wettbewerb vor Ort haben und dann einer in diesem Wettbewerb als Bester abschneidet, dann – das sage ich Ihnen ganz ehrlich – erwarten nach ganz normalem Menschenverstand die Leute vor Ort, dass derjenige, der in ihrem Wahlkreis als Bester abgeschnitten hat, für sie nach Berlin zieht und sie hier in diesem Parlament vertritt.
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Wenn Sie ein solches Modell mit Obergrenze und Kappung dieser Mandate einführen würden, dann wäre das wirklich der Maximalschaden für unsere Demokratie. Also, lassen Sie uns über die vernünftigen Vorschläge reden, die der Kollege Heveling hier gemacht hat. Dann haben wir eine gute Gesprächsgrundlage.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Dr. Middelberg. – Nächster Redner: Carsten Schneider für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Fast zum Abschluss der Debatte: Das ist ja nicht die erste und wahrscheinlich auch nicht die letzte, die wir zum Wahlrecht hier im Bundestag führen. Wir werden nämlich noch eine führen müssen, nach der wir dann auch entscheiden – und das noch in dieser Legislatur mit Gültigkeit für die nächste Legislatur –; denn nicht akzeptabel wäre es, wenn das Ergebnis der nächsten Bundestagswahl ein Bundestag mit einer Größe von über 800 Abgeordneten wäre. Das wäre für die Akzeptanz der Demokratie schädlich.
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Angesichts der jetzigen Anzahl von 709 Abgeordneten bei einer Regelgröße von 598 sehen wir schon jetzt, wie schwer es ist, in Zeiten der Einschränkung, die wir derzeit erleben, unseren Betriebsablauf so zu organisieren, dass er funktioniert, was er in den letzten Wochen getan hat, und den gesundheitlichen Vorschriften – ich denke an die Situation heute Morgen – gerecht wird.
Ich gebe der Opposition recht, die uns vorwirft, dass wir sehr lange gebraucht haben etc. Da haben Sie einen Punkt gemacht. Wir sind in einer Koalition und haben lange versucht, innerhalb der Koalition zu einer Einigung zu kommen. Sie haben in Aktuellen Stunden oft verlangt, auch wir sollten uns positionieren. Nachdem es uns nicht gelungen ist, zu einer gemeinsamen Position zu kommen, haben wir uns positioniert. Das liegt jetzt nicht als Gesetzentwurf für Sie hier im Bundestag vor – das stimmt –, weil wir per Koalitionsvertrag festgelegt haben, dass wir hier keine eigenen Initiativen einbringen, sondern nur gemeinsame, aber wir haben Ihnen unseren Vorschlag übersandt. Wegen der noch zur Verfügung stehenden Zeit – der Kollege Straetmanns selbst hat darauf hingewiesen – ist er wahrscheinlich der einzige Vorschlag, der in der jetzigen Situation – eineinhalb Jahre vor der nächsten Bundestagswahl – noch in der Lage ist, eine wirkliche Begrenzung der Größe des Bundestages bei der nächsten Bundestagswahl zu erreichen.
Herr Middelberg, Sie haben eben gesagt, dass das für Sie ausgeschlossen ist. Damit sagen Sie nichts anderes, als dass es in dieser Legislaturperiode seitens der Union keine Einigung und Verständigung auf ein anderes Wahlrecht mehr geben wird.
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– Doch, Herr Amthor.
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– Es gibt keine Einigung. Ich habe ja das „Spiegel“-Interview mit Herrn Brinkhaus gelesen, und es ist ja auch kein Geheimnis, dass zwischen der CDU und der CSU da ein Unterschied besteht. Ich hoffe, Sie einigen sich noch. Aber: Es besteht da ein Unterschied.
Der Vorschlag, den Herr Middelberg ausgeführt hat – eine teilweise Reduzierung der Wahlkreise auf vielleicht 270; Herr Heveling hat das ja auch vorgeschlagen –, ist allein aufgrund der Zeit gar nicht mehr umzusetzen. Wir sind nämlich schon fast bei der Aufstellung der Kandidaten für die nächste Bundestagswahl, und dann muss der Wahlkreiszuschnitt feststehen. Das ist also gar nicht mehr möglich.
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– Das ist die Realität, Herr Middelberg, und deswegen müssen Sie und alle Kollegen hier im Bundestag das jetzt einmal als Fakt hinnehmen.
Ich halte die Vorschläge der Opposition auch nicht für der Weisheit letzten Schluss, weil diese Vorschläge – eine Reduzierung auf 250 Wahlkreise – einen sehr harten Eingriff in die Größe der Wahlkreise bedeuten würden. Dabei geht es nicht nur um die Frage, wer direkt gewählt wurde. Ich bin dreimal direkt gewählt worden und dreimal nicht direkt gewählt worden, sondern über die Liste eingezogen. Trotzdem kümmere ich mich immer um meinen Wahlkreis. Mein Wahlkreis war früher einmal nur die Stadt Erfurt; jetzt gehören die Stadt Erfurt, die Stadt Weimar und das Weimarer Land dazu. Mein Wahlkreis ist um ein Drittel größer geworden. Man kann nicht mehr überall so präsent sein, wie das vorher der Fall war. Aus diesem Grund wäre eine Reduzierung um fast 50 Wahlkreise schon gewaltig; das ist schon ein richtiges Wort.
Das führt dazu, dass die Präsenz aller Abgeordneten in ihrem jeweiligen Wahlkreis abnimmt. Ob sie da direkt gewählt worden sind oder nicht, ist egal. Sie fühlen sich aber verpflichtet, weil sie dort nominiert waren und zur Wahl gestanden haben. Das halten wir als SPD für ein so großes Problem, dass wir gesagt haben: Wir wollen für die nächste Bundestagswahl keine Reduzierung der Wahlkreise, sondern an den 299 Wahlkreisen festhalten.
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Wenn man also bei der festgesetzten Größe des Bundestages von 598 Abgeordneten eine maximale Größe nicht überschreiten möchte – wir sprechen von 690 –, dann ist das ohne eine Kappung schlichtweg nicht möglich. Auch das Modell der Opposition mit dem Ziel, dass der Bundestag kleiner wird, würde mathematisch nur funktionieren, wenn die Zahl der Wahlkreise auf 200 reduziert werden würde – realistisch gerechnet. Wenn es demnach knapp 99 Wahlkreise weniger wären, dann würde das eine Vergrößerung jedes einzelnen Wahlkreises um etwa ein Drittel bedeuten. Ich jedenfalls würde das dem Bundestag nicht empfehlen.
Aus diesem Grund schlagen wir – das liegt auf dem Tisch; dazu finden ja auch Gespräche auf der Ebene der Fraktionsvorsitzenden statt – für die nächste Bundestagswahl im Jahre 2021 eine Kappung vor. Ja, das ist ein Einschnitt. Ja, das ist etwas Neues und bringt auch Härten mit sich – sowohl für die direkt gewählten Abgeordneten als auch im Hinblick auf die Ausgleichsmandate, die es dann nicht mehr geben wird. Auch das gehört – das sei der Fairness halber gesagt – dazu.
Wie Herr Straetmanns schlagen auch wir die Einsetzung einer Kommission vor der nächsten Bundestagswahl vor. Weiterhin muss geklärt werden, an welchem Enddatum deren Ergebnis vorliegen muss und welche Kriterien in etwa zu erfüllen sind. Außerdem soll es ein Ablaufdatum für unser Brückenmodell geben, weil das nicht für immer der Standard, sondern nur eine Brücke für die nächste Bundestagswahl sein soll.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Carsten Schneider. – Letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde: Philipp Amthor für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eines muss man ja wirklich zugestehen: Die Opposition ist wirklich beharrlich und auch durchaus erfolgreich darin, den Eindruck zu perpetuieren, als würden CDU und CSU per se gegen eine Verkleinerung des Bundestages sein,
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als würden wir keine Reform wollen, als würden wir das wegen Corona verschleppen wollen und als wäre die CSU an allem schuld. Ich kann Ihnen sagen: Sie wissen, das ist falsch.
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Es ist so – und das ist auch kein Geheimnis –: Wir lehnen den Oppositionsvorschlag nicht deswegen ab,
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weil wir etwa sagen würden, dass wir keine Verkleinerung des Bundestages wollen, sondern weil wir ihn nicht überzeugend finden. Es ginge einseitig zulasten der Union und würde das Problem nicht lösen. Deswegen ist Ihr Vorschlag nicht überzeugend.
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Gleichzeitig wollen wir natürlich – und zwar noch in dieser Legislaturperiode –
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eine Reduktion der Zahl der Mitglieder des Bundestages bei der nächsten Wahl erreichen. Dabei wissen wir, dass sich ein guter Kompromiss dadurch auszeichnet, dass die Schmerzen gleichmäßig verteilt sind. Das beinhaltet, dass es auch Einschnitte zu unseren Lasten gibt; das ist doch völlig klar. Entsprechend muss eine Kompromissregelung aussehen.
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Wenn wir schon über Schmerzen reden, dann sage ich Ihnen: Ich persönlich finde es schon sehr schmerzhaft, dass wir jetzt nur noch über das praktisch Machbare und nicht mehr über die theoretisch beste Lösung reden.
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Wenn Sie sagen würden, es gehe darum, dass die Zahl der Mitglieder des Bundestages planbar begrenzt wird – wenn das Ihr Kernanliegen wäre –, dann würden wir über ein echtes Zweistimmenwahlrecht, über das sogenannte Grabenwahlrecht, reden. Wir wissen aber: Ein solcher Vorschlag hat im Moment keine politische Mehrheit.
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Deswegen müssen wir danach suchen, was uns verbindet, und nicht danach, was uns trennt.
Ich glaube, das gemeinsame Ziel – das hat auch die SPD vorgeschlagen – ist eine Höchstgrenze, eine zahlenmäßige Begrenzung des Bundestages. Ich sage Ihnen: Das kann man mit einer Regelung auch erreichen; es ist aber nur dann sinnvoll, wenn es nicht einseitig zulasten der Direktmandate und der direkt gewählten Abgeordneten geht.
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Eine Höchstgrenze muss beinhalten, dass derjenige, der einen Wahlkreis direkt gewonnen hat, auch in den Deutschen Bundestag einzieht. Das ist ein richtiges Modell. Ich habe das an dieser Stelle schon mehrfach gesagt: Wir müssen sehen, dass wir 299 direkt gewählte Abgeordnete und über 400 gewählte Listenabgeordnete haben.
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Wo das Problem liegt, ist doch offensichtlich. Wir wollen, dass diejenigen, die in einem Wahlkreis eine Mehrheit erzielen, auch im Deutschen Bundestag sind.
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– Ja, den Zwischenruf, wir hätten ein Verhältniswahlrecht, haben wir heute ja mehrfach gehört. Einfachrechtlich haben wir das so geregelt. Verfassungsrechtlich wären wir offen, sogar in Richtung eines Mehrheitswahlrechts zu gehen. Das heißt, zu sagen, das Verhältniswahlrecht sei unantastbar, ist doch nicht die Grundlage.
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Die Grundlage muss doch sein: Entscheiden Sie sich, was das Ziel ist. Wollen Sie nur auf dem vollen Verhältnisausgleich beharren, oder wollen Sie ein Reduzieren des Deutschen Bundestages? Beides zusammen geht, wenn man sich für ein Höchstgrenzenmodell entscheidet, aber gleichzeitig festlegt: Wer in einem Wahlkreis in den Deutschen Bundestag gewählt wird, der zieht auch ein.
Ich kann Ihnen sagen: Die Kappung, dass die vermeintlich schlechtesten Wahlkreissieger nicht in den Deutschen Bundestag einziehen, führt doch zu völlig abstrusen Ergebnissen. Eine Variante ist: Jemand gewinnt einen Wahlkreis mit vielleicht nur 24 oder 25 Prozent.
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Da sagen Sie: Das ist zu wenig; der soll nicht einziehen. – Aber über die Landesliste zieht dann der unterlegene Kandidat ein, der vielleicht nur 10 Prozent erzielt hat. Das kann doch kein richtiges Ergebnis sein!
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Hinzu kommt, dass bei dem Wegfall der schlechtesten Wahlkreissieger eine Situation eintritt, dass es Wahlkreise geben könnte, die ganz ohne direkt gewählten Abgeordneten im Deutschen Bundestag „vertreten“ sind. Was für einen Sinn macht denn ein Wahlkreis, der gar keinen Wahlkreisabgeordneten hat? Gar keinen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Deswegen bleibt es dabei: Wir haben die Verantwortung, dass wir zeigen, dass uns das eigene Hemd nicht näher ist als der Rock des Gemeinwohls.
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Wir haben die Verantwortung, dass wir diesen Bundestag verkleinern.
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Wir müssen uns in Richtung einer planbaren Richtgröße bewegen. Aber für mich ist jedenfalls klar: Das können wir nicht machen zulasten derjenigen, die einen Wahlkreis direkt gewinnen.
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Wir werden – auch wenn Sie anderes behaupten – hier konstruktiv arbeiten und das Wahlrecht ändern, auch als CDU/CSU, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Philipp Amthor. – Damit ist diese Aktuelle Stunde beendet.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete! Der Nahe Osten ist eine der bedeutsamsten Regionen für unsere Sicherheit; das muss ich hier in diesem Haus nicht erklären.
Dem Libanon kommt dabei eine Schlüsselrolle zu. Er befindet sich nachhaltig und anhaltend in einer schwierigen Lage. Das politische System ist in einer tiefen Vertrauenskrise. Seit Jahren leidet das Land unter einer Wirtschafts- und Finanzkrise. Die Folgen des Syrien-Krieges sind für den Libanon eine enorme soziale und wirtschaftliche Belastung: Kein Land hat im Verhältnis zu seiner Bevölkerung mehr Bürgerkriegsflüchtlinge aufgenommen als der Libanon. Der wachsende Einfluss der terroristischen Hisbollah erhöht die Spannungen mit Israel. Und nun belastet die Coronapandemie die Lage noch zusätzlich mit all ihren Folgen für das Gesundheitssystem und die soziale und wirtschaftliche Situation.
Der Libanon braucht weiter internationale Unterstützung, auch um die Region vor weiteren Erschütterungen zu bewahren. UNIFIL ist dabei ein unverzichtbarer Stabilitätsanker, gerade mit Blick auf das Verhältnis zwischen Libanon und Israel. UNIFIL trägt als Vermittler und Stütze wesentlich dazu bei, die Waffenruhe aufrechtzuerhalten und größere Auseinandersetzungen zu vermeiden. Der etablierte Drei-Parteien-Mechanismus bietet den einzigen offiziellen Gesprächskanal zwischen den Streitkräften des Libanons und Israels. Und UNIFIL entlastet die libanesischen Sicherheitskräfte und unterstützt die Überwachung der libanesischen Grenzen. Libanon und Israel legen deshalb großen Wert auf eine fortgeführte Präsenz der Vereinten Nationen, und beide Staaten legen großen Wert auf eine fortgesetzte Beteiligung Deutschlands.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, der deutsche militärische Beitrag zu UNIFIL konzentriert sich seit 2006 auf die maritimen Anteile der Mission. Mit unserer Korvette tragen wir dazu bei, Waffenlieferungen und Schmuggel über See zu verhindern, und helfen dem Libanon bei der Sicherung seiner Seegrenzen. Wir unterstützen den Fähigkeitsaufbau und die Ausbildung der libanesischen Marine, damit sie in Zukunft diese Aufgabe noch eigenständiger übernehmen kann. Auf diesem Weg haben wir von Beginn der Mission an wichtige Fortschritte erzielt.
Wir haben mittlerweile drei Patrouillenboote übergeben, Navigations- und Ausbildungsanlagen geliefert, eine Küstenradarorganisation zur Überwachung der Seegrenze aufgebaut. Somit kann die libanesische Marine immer größere Bereiche des eigenen Seegebietes selbst überwachen. Aber internationale Hilfe wird dabei noch auf absehbare Zeit erforderlich bleiben; denn die soziale und wirtschaftliche Krise des Landes ist noch zu tief. Unser Engagement ist deshalb langfristig angelegt – weil es auch in unserem eigenen Interesse ist, dass die Region stabil bleibt.
Derzeit ist auch unser UNIFIL-Einsatz durch die Coronapandemie beeinträchtigt. Die Ausbildung kann nur eingeschränkt erfolgen. Einen Teil des benötigten Personals haben wir deshalb vorübergehend abgezogen. Die Operationen unserer Korvette, der „Ludwigshafen am Rhein“, sind derzeit allerdings nicht betroffen, auch wenn unsere Soldatinnen und Soldaten dort nun besonderen Vorsichtsmaßnahmen unterliegen, was insbesondere Ausgangsbeschränkungen, etwa im Hafen, anbelangt.
Mein Dank gilt deshalb an dieser Stelle unseren Männern und Frauen, die bei UNIFIL auch in dieser schwierigen Phase ihren wichtigen Beitrag zu unserer Sicherheit leisten.
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Ich bitte Sie deshalb, verehrte Damen und Herren Abgeordnete, um Ihre Zustimmung für die Verlängerung des inhaltlich unveränderten Mandates um weitere zwölf Monate.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Annegret Kramp-Karrenbauer. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Petr Bystron.
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Liebe Frau Präsidentin! Liebe Frau Minister! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Minister, Sie haben in Ihren Ausführungen absolut recht; im ersten Drittel hätte ich fast Beifall geklatscht. Aber das hat überhaupt nichts mit dem deutschen Anteil an dieser Mission zu tun. Ich werde es Ihnen jetzt gleich beweisen. Ich möchte Ihnen etwas vorlesen:
Der Generalsekretär der Vereinten Nationen hat … einen Bericht einer unabhängigen Expertenkommission vorgestellt, die zu der Einschätzung kommt,
– und jetzt zitiere ich –
„dass der gegenwärtige Stand der Grenzsicherheit nicht ausreicht, um Schmuggel, insbesondere Waffenschmuggel, auch nur ansatzweise zu verhindern“.
Das ist ein Zitat aus einer Debatte zu diesem Thema im Jahr 2007. Es stammt von der Kollegin Homburger von der FDP.
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Aus der gleichen Debatte kann ich Ihnen eine Äußerung von einem Kollegen von der Linken, Dr. Paech, vorlesen:
Die Waffenlieferungen … kommen über das Land … Sie haben inzwischen ein solches Ausmaß angenommen, dass sich die Führung der Hisbollah heute rühmen kann, die gleiche militärische … Schlagkraft erreicht zu haben wie vor dem Krieg.
Kollege Trittin – der sitzt heute noch da – hat damals beigepflichtet:
Natürlich stimmt es, dass die Milizen wieder aufgerüstet haben – übrigens nicht nur die Hisbollah.
So, jetzt diskutieren wir seit 13 Jahren das gleiche Thema. Sie haben hier Ihren Vortrag damit abgeschlossen, zu sagen: unveränderter Antrag. – Nach 13 Jahren hat sich nichts geändert:
Waffenschmuggel wird durch den Marineeinsatz – wir sind da mit einer Korvette vertreten – nicht unterbunden; er läuft nämlich auf dem Landweg. Die Entwaffnung der Terrormilizen findet seit 13 Jahren eben nicht statt. Im Gegenteil: Die Hisbollah wird immer stärker.
({1})
– Wir kommen dazu.
Ich will ganz fair sein. Ich möchte auch die Regierungsvertreter zitieren. Der erste Außenminister, der sich für diesen Einsatz eingesetzt hat, war Frank-Walter Steinmeier. Er hat davon gesprochen, er möchte die innenpolitische Stabilität im Libanon stärken.Sein Nachfolger, Guido Westerwelle, war ein bisschen besser dran und hat gesagt, er möchte der libanesischen Marine helfen und sie in die Lage versetzen, die Küste und auch die Gewässer des Landes selbstständig zu überwachen.
Ich war als Berichterstatter unserer Fraktion vor Ort. Ich habe mit den Soldaten gesprochen, auch mit der libanesischen Regierung. Ja, das haben wir gut gemacht. Aber nein, Frau Karrenbauer, wir brauchen das nicht fortzusetzen. Nach 13 Jahren Hilfe sind die Libanesen mittlerweile in der Lage, ihre Küste selbst zu verteidigen.
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Ja, Sie haben recht: Libanon steht vor dem Kollaps. Er ist wirtschaftlich ruiniert und politisch am Ende; das habe ich da selbst erlebt. Ich habe auch die Demonstrationen erlebt. Ich war gerade in der Zeit da, als die Barrikaden brannten. Nur: Wir helfen dem Land nicht im Rahmen von UNIFIL. Diese Mission ist dafür nicht geeignet. Wir sollten heute hier Bilanz ziehen. Die Erfolge, die wir erzielt haben, sollten wir ruhig anerkennen und auch feiern. Ja, unsere Bundeswehr ist da gut angesehen und hat geholfen. Aber was die Mission nicht leisten kann, sollten wir in einem anderen Rahmen angehen, vielleicht im Rahmen einer Nahostkonferenz, so wie wir, die AfD, das vorgeschlagen haben.
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Lassen Sie mich – ich habe noch ein bisschen Redezeit – vielleicht mit einer Anekdote schließen. Guido Westerwelle war damals in einer sehr schwierigen Lage, weil er drei Jahre zuvor in der Opposition immer gegen die Mission sprechen musste. Dann war er plötzlich Außenminister und musste sie befürworten. Er hat das ganz geschickt gemacht. Er hat gesagt: Alles, was ich früher gesagt habe, ist richtig. Aber ich möchte jetzt die Kontinuität der deutschen Außenpolitik nicht stören. Deswegen bin ich jetzt dafür.
Liebe Kollegen, lassen Sie uns nicht den gleichen Fehler machen. Lassen Sie uns die Mission nicht nur der Mission wegen fortsetzen. Lassen Sie uns jetzt einen Strich ziehen.
Danke schön.
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Danke schön, Petr Bystron. – Nächster Redner: für die Bundesregierung Staatsminister Niels Annen.
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Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im vergangenen August hat der Libanon wahrscheinlich die schwersten Zusammenstöße seit Ende des Krieges 2006 erlebt. Ich will nur einige Punkte nennen: Drohnenbeschuss in Beirut, Angriffe auf eine israelische Militärstellung mit Panzerabwehrraketen und wiederum Artilleriefeuer der israelischen Seite.
15 Jahre Bürgerkrieg hat dieses Land durchlebt, und das wirkt bis heute nach. Die Autorität des Staates ist weiterhin schwach. Der politische Proporz sichert vielen Protagonisten des Bürgerkrieges bis heute ihre Pfründe und ihre Positionen und lähmt das Land. Die Herausforderungen jedoch sind enorm. Sie sind schwieriger geworden, gerade in den letzten Wochen. Die Covid-19-Pandemie betrifft natürlich auch ein Land wie den Libanon. Das Land befindet sich aber auch unabhängig davon in der wahrscheinlich schwersten Wirtschafts- und Finanzkrise seit vielen, vielen Jahrzehnten.
Bei den landesweiten Protesten ist – mit ganz wenigen Ausnahmen – der friedliche Charakter doch sehr bemerkenswert. Wer den Libanon ein wenig kennt, wird den überkonfessionellen Charakter dieser Demonstrationen ebenso bemerkenswert finden. Die Menschen dort fordern einen umfassenden Wandel. Sie haben im Grunde genommen den Finger in die Wunde gelegt: ein Ende des Klientelismus und der Korruption, echte Teilhabechancen, umfassende Reformen und gute Regierungsführung, meine Damen und Herren.
Das hat auch einiges ausgelöst. Wir haben den Rücktritt der alten Regierung und den Amtsantritt einer neuen Regierung zu verzeichnen gehabt. Diese Regierung hat sich sozusagen ein Programm gegeben – „government of confronting challenges“; das gilt in gewisser Weise für unsere Regierung im Moment ja auch –, und sie hat die Auseinandersetzungen mit den dringendsten Herausforderungen zu ihrem Programm erhoben.
Es gibt eine ganze Reihe von konkreten Dingen, die schon geschehen sind, etwa eine Verkleinerung des Kabinetts. Es gibt in dieser Regierung einen Rekordanteil von Frauen, eine stellvertretende Ministerpräsidentin, die gleichzeitig Verteidigungsministerin ist – die erste Verteidigungsministerin in der arabischen Welt. Ich habe sie in München auf der Sicherheitskonferenz getroffen und vor Kurzem mit ihr telefoniert. Das sind wichtige Schritte in die richtige Richtung.
In Beirut, meine Damen und Herren, weiß man: Reformen sind unumgänglich, auch um einen möglichen Kollaps nach dem Zahlungsausfall im März abzuwenden. Deswegen will ich darauf hinweisen, dass wir weiterhin nicht nur wegen der aktuellen Krise zu den wichtigsten bilateralen Gebern und Unterstützern des Libanon zählen. Wir setzen unsere bisherige Unterstützung fort. Wir verstärken sie wegen der Covid-19-Pandemie sogar noch, arbeiten mit den Vereinten Nationen und mit der EU zusammen und stellen weitere Gelder zur Verfügung.
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Aber die vorhandenen Spannungen in der libanesischen Gesellschaft können jederzeit wieder zum Ausbruch kommen;das wissen wir. Vor allem die zunehmend modernen Waffenarsenale der Hisbollah müssen uns allergrößte Sorge bereiten. Es ist nicht nur ein Angriff auf die Stabilität des Landes, sondern eben auch ein direkter Angriff, eine direkte Bedrohung für Israel und für den Frieden in der gesamten Region.
Ich will aber auf eines hinweisen, meine sehr verehrten Damen und Herren: Diese 15 Jahre Bürgerkrieg haben auch einen weiteren Effekt. In allen Parteien, in allen Wählerschichten sagen die Bürgerinnen und Bürger angesichts dieser Erinnerung: Keinen Krieg mehr! Keinen Rückfall mehr in diese militärischen Auseinandersetzungen, egal ob sunnitische, schiitische oder christliche Bevölkerungsgruppen! – Das ist ein Grund dafür, weshalb dieses Land bisher unter den enormen Lasten – die Ministerin hat darauf hingewiesen – nicht zusammengebrochen ist.
Es gibt aber auch einen weiteren Grund: Das ist das internationale Engagement, und das ist UNIFIL. Es ist uns trotz dieser Situation bisher gelungen, eine ja in der Tat – wie soll es auch anders sein? – prekäre Stabilität aufrechtzuerhalten. Das wäre ohne die Vereinten Nationen, meine sehr verehrten Damen und Herren, nicht möglich gewesen. Wir haben zu dieser Mission seit ihrer Neuaufstellung nach dem Krieg zwischen dem Libanon und Israel 2006 lange Zeit mit dem größten deutschen Kontingent in einer VN-Mission sehr viel beigetragen.
Herr Bystron ist nicht der einzige Abgeordnete gewesen, der diese Region mehrfach besucht hat. Ich bin mehrfach in Naqoura gewesen und will deswegen mal darauf hinweisen: Ja, wir sind stolz und froh über die Arbeit unserer Soldatinnen und Soldaten, über den Beitrag, den die deutsche Marine leistet. Das ist aber nicht der einzige Beitrag, den wir zu UNIFIL leisten. Es sind dort auch deutsche Soldatinnen und Soldaten, ein kleines Kontingent, stationiert, die eine wichtige Arbeit direkt an der Blue Line machen. DieDrei-Parteien-Gespräche sind im Moment die einzige Möglichkeit für die Vereinten Nationen, um direkte Kontakte zwischen der IDF und der libanesischen Seite aufrechtzuerhalten. Wir beteiligen uns daran. Das ist ein wichtiges Symbol, ein wichtiges Zeichen und wird von beiden Seiten auch wertgeschätzt.
Deswegen will ich hier noch mal sagen: Das UNIFIL-Engagement – es besteht in der Tat seit vielen Jahren – kann das politische Problem in der Region nicht alleine lösen. Wenn man das, was wir Ihnen hier vorlegen, zum Anspruch und sozusagen zur Grundlage der eigenen Entscheidung über das Mandat erhebt: Ja, gut, da darf man sich natürlich nicht wundern. Dann kann man auf dieser Grundlage alles Mögliche konstruieren.
Aber UNIFIL hat über die Jahre Vertrauen aufgebaut. UNIFIL garantiert eine Präsenz und damit auch einen Informationsfluss in einer Gegend, insbesondere im Süden des Libanon, aus der regelmäßig militärische Operationen, vor allem gegen Israel, durchgeführt worden sind, die zu einer Instabilität in der gesamten Region beigetragen haben.
Deswegen erfolgt unsere Unterstützung der Friedensbemühungen der Vereinten Nationen – das ist wahrscheinlich der wichtigste Beitrag –; aber es handelt sich auch um eine konkrete Leistung gegenüber der libanesischen Marine, der libanesischen Politik, die sich übrigens – das habe ich auch der Verteidigungsministerin gesagt – verpflichtet hat, die Präsenz ihrer eigenen Streitkräfte, insbesondere im Süden des Landes, zu erhöhen. Das ist nicht immer passiert. Aber UNIFIL erinnert die libanesische Seite genau daran, dass der libanesische Staat mehr tun muss, um die staatliche Präsenz in allen Teilen des Landes zu verstärken.
Das ist auch ein konkreter Beitrag zur Sicherheit Israels. Ich glaube, dass uns diese sehr am Herzen liegen muss, dass wir damit einen konkreten Beitrag leisten und auch zeigen, dass wir in dieser Situation verlässliche Bündnispartner für die Vereinten Nationen sind.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Debatte über die Verlängerung des UNIFIL-Mandates ist eine Debatte, bei der wir uns sehr genau anschauen sollten, wie sich die Lage in der Region weiterentwickelt, wie sich die libanesische Innenpolitik gestaltet. Dieses Land muss gerade in der heutigen Krise wissen, dass Deutschland mit seinem Engagement, dem militärischen, aber auch dem zivilen, weiter an der Seite des Libanon steht. Insofern bedanke ich mich für die bisher immer geleistete große Unterstützung aus diesem Hause, für Ihre Aufmerksamkeit und hoffe auf gute Beratungen.
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Vielen Dank, Niels Annen. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Christian Sauter.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! UNIFIL gehört zu den langjährigen Auslandseinsätzen der Bundeswehr und zu den ältesten UN-Einsätzen. Uns ist bewusst, dass der Charakter dieser UN-Mission auf eine langfristige Stabilisierung des Libanon und des Nahen Ostens ausgerichtet ist. Doch nachdem sich die Sicherheitslage in dieser Region in den vergangenen Jahren immer wieder verschärft hat, ist eine Mandatsverlängerung eingehend zu prüfen.
In Deutschland gilt nun das Betätigungsverbot der Hisbollah. Zahlreiche internationale Partner stuften die Hisbollah als Terrororganisation ein. Ganz aktuell erreichen uns Meldungen aus dem Libanon, die Anlass zu großer Sorge bieten. Massive wirtschaftliche und finanzielle Probleme, Proteste in der Bevölkerung und die Coronapandemie haben erhebliche Auswirkungen gehabt. Aber die geänderte Lage hatte auf den vorliegenden Mandatstext nur ganz bedingt Einfluss. Und so wird mit jedem weiterem Jahr deutlicher, dass hinter diesem Auslandseinsatz eine noch zu konkretisierende sicherheitspolitische Strategie der Bundesregierung stehen muss. Das fordern wir Jahr für Jahr ein.
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Ob man das Missionsziel in absehbarer Zeit erreichen kann, ist momentan zweifelhaft. Kernauftrag der deutschen Beteiligung ist neben der Ausbildung der libanesischen Streitkräfte die Unterbindung des Waffenschmuggels auf dem Seeweg und die See- und Luftraumüberwachung. Ein Kernproblem kann allerdings nicht verhindert werden: der Waffenschmuggel auf dem Landweg. Aber dennoch: Die deutsche Beteiligung an UNIFIL und die Fortsetzung der Beteiligung hat ganz gewiss positive Aspekte. Diese Mission konnte mit dazu beitragen, dass der Konflikt nicht weiter eskaliert ist. Sie vermittelt seit Jahren zwischen Israel und dem Libanon – auf beiderseitigen Wunsch.
Als Gesprächs- und Vernetzungsplattform leistet UNIFIL einen wichtigen Beitrag. Deutschland hat gegenüber Israel zudem Verantwortung übernommen. Ein weiterer Faktor für die Übernahme von Verantwortung durch Deutschland ist die nach wie vor hohe Zahl an im Libanon aufgenommenen syrischen Flüchtlingen. Eine möglichst stabile Situation vor Ort liegt damit also auch in unserem Interesse.
Aktuell leisten unsere Soldaten ihren Dienst im Rahmen des Mandats auf der „Ludwigshafen am Rhein“, im Ausbildungskommando in Nakura und Limassol. Sie und ihre Vorgänger nehmen seit Jahren zuverlässig ihren Auftrag wahr – wir danken für Ihren Einsatz! –,
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und das trotz schwieriger Rahmenbedingungen, hoher Auslastung der deutschen Marine und derzeitiger Aussetzung des Kontingentwechsels, bedingt durch Corona.
Besonders wichtig am Ende ist die Frage: Wie steht es um die Sicherheit der deutschen Soldaten, sollte sich der Konflikt weiter verschärfen?
Nehmen wir diese Fragen sehr ernst!
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Christian Sauter. – Nächste Rednerin für Die Linke: Sevim Dağdelen.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn es nach den gesteigerten Aktivitäten der Bundesregierung in den letzten Wochen und Monaten geht, könnte man wirklich meinen, die Bundesregierung glaubt tatsächlich, dass sie mit Bundeswehreinsätzen im Ausland die Coronapandemie bekämpfen könne. Denn jede Woche legt das Merkel-Kabinett dem Bundestag Entscheidungen zum Einsatz der Bundeswehr im Ausland vor. Ich finde es jedenfalls fatal, dass die Bundesregierung der Öffentlichkeit so den Eindruck vermittelt, als ob auch in dieser Krise die weltweite militärische Präsenz oberste Priorität habe.
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Es ist auch gegenüber den Soldatinnen und Soldaten unverantwortlich, sie so zusätzlich noch weiterhin dieser Coronapandemie auszusetzen.
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– Ja. – Bitte versuchen Sie auch nicht, uns weiszumachen, dass auf den deutschen Kriegsschiffen oder im Etap-Hotel im Hafen von Limassol die nötigen Abstandsregeln penibel eingehalten würden.
Der Einsatz UNIFIL selbst vor der Küste des Libanon ist eine abenteuerliche Farce. Seit 14 Jahren bewacht die deutsche Marine gemeinsam mit Ländern wie der Türkei, die selbst im Mittelmeer islamistische Terrorbanden mit Waffen beliefert, die Küste des Libanon, damit dort keine Waffen anlanden. Und Sie erzählen uns dann immer wieder auch das Märchen, dass die Waffenschmuggler so sehr von der Präsenz dieser Flotte abgeschreckt würden, dass keine einzige Waffe gefunden würde. Ich finde das lächerlich, und das dürften Sie eigentlich auch selbst nicht glauben, weil Sie nämlich genau wissen, dass, während Sie die Vordertür bewachen, die Bewaffnung aller Akteure über die Hintertür, nämlich die Landgrenze, ungerührt weitergeht.
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Ich finde, auch das ist ein kostspieliger Widerspruch, auf den ich Sie mal hinweisen möchte: Sie brüsten sich bei diesem Mandat damit, die libanesische Marine auszubilden, deren Offizierskorps nach einem religiös-politischen Proporz zusammengesetzt ist, während Sie in Deutschland ein Betätigungsverbot gegen die Hisbollah erlassen, die Teil dieser libanesischen Regierungskoalition ist.
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Bemerkung oder Zwischenfrage von Herrn Hardt?
Gerne danach.
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– Ich möchte gerne diesen Gedanken weiterführen. – Das heißt: Sie bilden hier Leute aus, die der Hisbollah nahestehen, während Sie sich zugleich der außenpolitischen Linie Trumps anschließen, die politische Partei Hisbollah zu kriminalisieren. Ich finde jedenfalls: Das ist keine konsistente Außenpolitik, meine Damen und Herren.
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Sie tragen damit auch in einer Zeit, in der der Libanon wirtschaftlich mit dem Rücken zur Wand steht, massiv zu einer weiteren, nämlich politischen Destabilisierung des Landes bei.
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Und es geht noch weiter. Frau Kramp-Karrenbauer, Sie sagen, der Libanon braucht internationale Unterstützung. Dann frage ich Sie: Warum sorgt die Bundesregierung im Internationalen Währungsfonds mit dafür, dass dem Libanon die Kredite verweigert werden, was schlimmste Konsequenzen für die Bevölkerung im Libanon haben wird? Wenn diese Politik hier weitergeführt wird, werden viele, viele Menschen gezwungen sein, ihr Heimatland Libanon zu verlassen.
Ich finde: Statt die Bundeswehr vor der Küste des Libanon rumschippern zu lassen, sollte die Bundesregierung zur politischen und wirtschaftlichen Stabilisierung des Libanon beitragen. Das wäre tatsächlich mal Übernahme von Verantwortung.
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Vielen Dank, Sevim Dağdelen. – Ich sage es Ihnen gleich: Ich bin sehr streng heute mit der Redezeit. Das wird heute Abend noch strenger werden, weil wir jetzt schon bei einem Sitzungsende nach 23.15 Uhr sind.
Nächster Redner: Omid Nouripour für Bündnis 90/Die Grünen.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir als Grüne wollen der Verlängerung dieses Mandats die Zustimmung erteilen. Dafür gibt es zwei zentrale Gründe:
Der erste Grund ist: Die Mission hat einen Krieg beendet, und das geht auch weiter. Weiterhin wird ein Krieg verhindert. Kürzlich gab es zwischen den Grenzorten Adaisseh im Süden des Libanon und Metulla im Norden Israels wirklich eine Eskalation, die von UNIFIL verhindert wurde, bevor es Gefechte gegeben hat. Ich finde, das kann man gar nicht groß genug reden und schreiben.
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Im Übrigen ist das ein UN-Mandat, von den Vereinten Nationen geführt. Wer diesen Einsatz nur auf den deutschen Beitrag reduziert, hat einfach nicht verstanden, wie UN-Sicherheitsmaßnahmen und Friedenserhaltungsmechanismen funktionieren. Indem alle Staaten etwas beitragen, soll das Ganze dann funktionieren.
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Es ist völlig zu Recht gerade gesagt worden, dass es eine massive Krise, eine multiple Krise des Libanon gibt. Diese Krise hat sehr viele Ursachen. Der Währungsverfall ist grassierend. Wir erleben eine Explosion der Lebensmittelpreise. Mehl, Zucker, Butter sind kaum mehr bezahlbar. Es gibt jetzt wieder massive Proteste von Leuten, die vor der Pandemie schon protestiert haben, dann eine kurze Zeit ausgesetzt haben und jetzt mit dem Slogan auf die Straße gehen: Verhungern ist schlimmer als Corona. – Wenn man bedenkt, über welche Potenziale in dem Land wir sprechen, ist es eigentlich undenkbar, insbesondere für Leute, die das Land seit Jahren kennen, was da gerade für Armut grassiert. Der Mittelstand ist komplett abgerutscht.
All das hat im Kern einen Grund. Wenn man die Stränge, die zu dieser Krise geführt haben, zurückverfolgt, dann landet man immer wieder bei derselben Sache, nämlich der konfessionalistisch übermantelten Korruption der Eliten dieses Landes. Und das führt dazu, dass die Menschen kaum Vertrauen in die Institutionen haben.
Wenn es eine Institution gibt, die staatlich ist und nicht in erster Linie Geisel der Hisbollah, wie so viele Institutionen, dann ist das die Armee. Man bedenke mal, wie groß der Stolz der Protestierenden auf den Straßen von Beirut auf die Armee war, als sich die Armee, als Hisbollah- und Armal-Milizen versucht haben, auf die Protestierenden einzuschlagen, plötzlich dazwischengestellt hat – erstmals seit vielen Jahren. Das hat sie sich jahrelang nicht getraut. Plötzlich hat die Armee die Protestierenden vor den Schlägern der Hisbollah geschützt. Wenn man das bedenkt, dann weiß man, warum diese Armee relevant ist, und dann weiß man auch, warum es wichtig ist, dass diese Armee weiterhin befähigt wird. Das ist der zweite Grund, warum wir diesem Mandat zustimmen wollen, damit nämlich genau diese Armee von der Bundeswehr vor Ort ausgebildet wird und Hilfe und Unterstützung bekommt. Dafür bin ich sehr dankbar.
Das ist die ich weiß nicht wievielte Bundeswehrdebatte, der ich hier beiwohnen darf. Ich habe selten so leichtherzig meiner Fraktion eine Zustimmung zu einem Mandat empfehlen können wie in diesem Fall: weil der Libanon genau diese Hilfe gerade in diesem Augenblick braucht.
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Vielen Dank, Omid Nouripour. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Roderich Kiesewetter.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind eben Zeugen einer Rede geworden, die infrage gestellt hat, dass wir in Coronazeiten überhaupt unser Recht wahrnehmen sollten, über Einsätze unserer Parlamentsarmee zu entscheiden. Es ist doch grotesk, dass hier von der linken Seite infrage gestellt wird, dass wir während Corona über Auslandseinsätze sprechen. Das ist doch, liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Zeichen der Handlungsfähigkeit unseres Parlaments, und es ist gut, dass wir zeigen, dass wir nicht nur an der Seite unserer Soldatinnen und Soldaten stehen, sondern auch an der Seite des internationalen Rechts.
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Dass das nötig ist, zeigen ein paar Fakten: Am 9. März hat der Ministerpräsident des Libanon die Zahlungsunfähigkeit des Libanon erklärt. Dieses Land, das im Zuge der syrischen Flüchtlingsbewegung im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung mehr Flüchtlinge aufgenommen hat als jedes andere Land dieser Welt, steht vor einem wirtschaftlichen Kollaps. Und jetzt kommt auch noch Corona dazu. Und da wird hier von Teilen des Hauses, von links und rechts, vorgeschlagen, wir sollen den Einsatz beenden oder gar nicht mehr durchführen? Jetzt ist es – ich bin da ganz bei Staatsminister Annen, bei Annegret Kramp-Karrenbauer und auch bei Omid Nouripour – wirklich an der Zeit, unseren Einsatz verstärkt fortzuführen,
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um klarzumachen, dass der Libanon entsprechende Unterstützung verdient.
Eines wurde diese Woche auch klar: Der israelische UNO-Botschafter hat dargestellt, wie die Krake Hisbollah, der lange Arm des Iran, inzwischen versucht, UNIFIL zu Lande das Wasser abzugraben, die Arbeit zu erschweren. Hier sind Drei-Parteien-Gespräche gefordert, und hier müssen wir alles tun, damit der Hisbollah und der dortigen Regierung klargemacht wird, dass das nicht zulässig ist. Wir stehen da an der Seite Israels und an der Seite dieses UN-Mandats.
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Der dritte Punkt, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wir besprechen hier heute zum einen das UNIFIL-Mandat mit rund 770 Soldatinnen und Soldaten, die seeseitig eingesetzt werden, knapp die Hälfte von deutscher Seite, wir sprechen aber auch über 10 000 Soldatinnen und Soldaten, die UNIFIL zu Lande unterstützen, und zwar seit 1978,
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wir als Bundeswehr mit der Marine erst seit 2006. Das ist aber nur ein Baustein, den wir in der Region bieten. Wir haben das Counter-Daesh-Mandat zur Bekämpfung des IS, und wir haben das Mandat zur Ausbildungsmission im Irak. All das müssen wir zusammensehen. Dann sehen wir, dass wir mit Blick auf die internationale Lage im Libanon ganzheitlicher denken müssen und dieses UNIFIL-Mandat eben nicht nur der Stärkung des internationalen Rechts, der Stärkung der Vereinten Nationen dient, sondern vielmehr eben auch ein Baustein zur Stabilisierung der Region ist.
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Erlauben Sie mir abschließend noch eine Anmerkung: Wenn wir die Region stabilisieren wollen, müssen wir auch die israelischen Sicherheitsinteressen ernst nehmen. Ich warne davor, dass wir Unterstützung leisten bei einer Besetzung der Westbank. Das würde die Region destabilisieren und die Fortschritte, die wir im Libanon haben, womöglich infrage stellen. Hierüber sollten wir gesondert debattieren.
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Herzlichen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Vielen Dank, Roderich Kiesewetter. – Letzter Redner in dieser Debatte: Thomas Erndl für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Vor fünf Monaten haben wir in diesem Haus beschlossen, die libanesische Terrororganisation Hisbollah zu verbieten. Wir haben die künstliche Trennung zwischen politischem und militärischem Arm aufgehoben. Es ist wichtig, dass wir hier keine Unterscheidung mehr vornehmen.
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Vor zwei Wochen hat der Bundesinnenminister das Betätigungsverbot der Hisbollah in unserem Land erlassen. Damit haben wir das deutliche Signal gesendet, dass diese Organisation keine Operationsbasis in Deutschland haben darf und von uns auch keine Legitimität für diese Organisation ausgeht.
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Diese Konsequenz müssen wir auch in der Außenpolitik weiter fortsetzen.
Die Entwicklungen der letzten Jahre und auch Monate haben gezeigt, dass die Hisbollah als Ganzes weiter am Terror gegenüber Israel festhält. Das Risiko einer militärischen Konfrontation ist nicht gebannt. Das zeigt sich auch an der hohen Anspannung im israelisch-libanesischen Grenzgebiet. Israel hat wiederholt grenzüberschreitende Tunnel der Hisbollah ausfindig gemacht. Darüber sollten Angriffe auf israelische Zivilisten durchgeführt werden. Im Herbst letzten Jahres kam es zu einem Feuergefecht. All das zeigt, dass es weiterhin die Präsenz internationaler Kräfte vor Ort braucht, um die Lage zu überwachen, zur Deeskalation beizutragen und die Gesprächskanäle offenzuhalten. Genau das leistet UNIFIL!
Unsere deutsche Korvette sorgt zudem mit Partnernationen dafür, dass über den Seeweg keine Waffen geschmuggelt werden. Man muss das allumfassend sehen; meine Vorredner haben das dargestellt. Natürlich sehen wir die Problematik des Schmuggels auf dem Landweg; dieser Problematik sind wir uns bewusst. Gleichwohl bleibt UNIFIL aber ein wichtiger Faktor für Deeskalation und Stabilität. Beides braucht der Libanon sehr wohl bzw. vermisst es schmerzlich.
Die libanesische Währung verfällt täglich, das Wirtschafts- und Finanzsystem ist unter enormen Druck; die Zahlungsunfähigkeit ist angesprochen worden. Die Menschen protestieren trotz Corona seit Monaten für eine bessere Zukunft. Und auch die 1,5 Millionen syrischen Flüchtlinge im Libanon müssen erwähnt werden. Das stellt das Land vor große Herausforderungen. Deswegen ist es umso wichtiger, dass wir weiter unterstützen, zu unseren internationalen Verpflichtungen stehen und unsere Präsenz vor Ort halten. Dabei ist UNIFIL nur eine Komponente unserer Nahostpolitik. Auch Kollege Kiesewetter hat das ausgeführt.
Meine Damen und Herren, unser Land profitiert vom Multilateralismus, und wir verpflichten uns für den Multilateralismus auch in der Sicherheitspolitik. Das bedeutet auch, konkrete Beiträge zu leisten. Wir können natürlich nicht an jedem Krisenherd der Welt präsent sein; aber klar ist, dass dieser Einsatz uns besonders wichtig sein muss. Denn hier geht es um die Sicherheit Israels. Und es geht um die Eindämmung terroristischer Aktivitäten. Wir wollen im Inland keine Antisemiten. Und wir wollen genauso wenig, dass diese an der Grenze Israels stehen. Genau dem wirkt UNIFIL entgegen. Deshalb müssen wir unser Engagement dort weiter fortführen.
Herzlichen Dank an alle Soldatinnen und Soldaten, die hier im Einsatz sind! Ich bitte darum, dem Mandat in der weiteren Diskussion und Debatte zuzustimmen.
Danke schön.
Vielen Dank, Thomas Erndl. – Damit schließe ich die Aussprache.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute einen Antrag der AfD-Fraktion zur Rentenpolitik. Das ist doch mal was.
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Das hatten wir nicht so oft: ein in Ihrer Fraktion mehrheitsfähiges rentenpolitisches Konzept.
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Auch nach sieben Jahren des Bestehens haben Sie als Partei noch kein parteiweites Rentenkonzept verabschiedet.
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Im Gegenteil! Bisher war zwischen Herrn Meuthen und Herrn Höcke rentenpolitisch deutlich mehr Platz als zwischen der FDP und der Linken.
Alle Rentnerinnen und Rentner und alle, die das mal werden wollen, sollten sich klarmachen, dass die, die sich hier gerne als die Rächer der Enterbten aufspielen, seit Langem mit sich selber ringen, ob sie die gesetzliche Rente abschaffen sollen – was für ein Wahnsinn! – oder ob sie sie ausweiten sollen. Für die gesetzliche Rente mag es gut sein, dass der ulkige parteiinterne Wettstreit wahrscheinlich nicht für Herrn Meuthen und seine Abschaffungsfantasien ausgeht. Dass sich jetzt aber de facto der vom Verfassungsschutz beobachtete und als rechtsextrem eingestufte Flügel durchsetzt, der daran gerne noch ein paar völkische Fantasien anknüpfen möchte,
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bereitet mir und, wie ich vermute, vielen anderen hier Übelkeit.
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Es sollte jedem, der für sein Geld arbeiten muss, Unbehagen bereiten, dass es in einer deutschen Partei einer wirklich lang sich hinziehenden Debatte bedarf, ob man nun die gesetzliche Rente abschaffen will oder nicht.
Zum Antrag. Sie nehmen sich das Thema Altersarmut vor. Das finde ich als Sozialdemokratin erst mal lobenswert. Das ist ein großes Thema, das wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten angehen. Dazu gehört nicht nur die Grundrente, bei der wir darauf bestehen, dass sie noch vor der Sommerpause verabschiedet wird, damit sie am 1. Januar 2021 in Kraft tritt, und von der 1,3 Millionen Menschen profitieren, und zwar ohne zum Amt zu gehen.
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Wir haben noch mehr. Zu unserem Ansatz gehört der Mindestlohn, den wir durchgekämpft und eingeführt haben und den wir weiter erhöhen werden.
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Dazu gehört ebenfalls die Stärkung der Tarifbindung, für die wir uns unentwegt einsetzen und was jetzt endlich in der Pflege Früchte trägt und hoffentlich noch bessere Früchte tragen wird.
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Wir haben mehrfach die Regelungen für Erwerbsminderungsrentner verbessert. Ich habe den Eindruck, dass sich der Gedanke durchsetzt, dass man auch etwas für die Bestandsrentner in der Erwerbsminderungsrente tun muss.
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– Vielleicht hören Sie auch gerne zu! – Altersarmut bekämpft man nämlich am besten zweigleisig: einerseits präventiv durch die Sicherstellung guter Löhne, stabiler Erwerbsbiografien, gute Altersvorsorge und andererseits reaktiv, indem wir diejenigen solidarisch absichern, die trotz alledem durch das Netz fallen.
Zu vielen Punkten, die ich gerade genannt habe, hat die AfD noch nichts, was man auch nur annähernd als Haltung bezeichnen könnte. In Ihrem Antrag fordern Sie nun eine Anrechnungsfreistellung von Anwartschaften der gesetzlichen Rentenversicherung in Höhe von 15 Prozent für Rentnerinnen und Rentner in der Grundsicherung. Vorliegende private Vorsorge wollen Sie ebenfalls teilweise anrechnungsfrei stellen. Gemeinsam soll das gedeckelt sein bei maximal 50 Prozent des Regelbedarfsatzes. Dazu sollte man erst mal die aktuelle Gesetzeslage kennen. Bereits jetzt – Sie können mal raten, wer das durchgesetzt hat – sind Teile der privaten Altersvorsorge anrechnungsfrei: die ersten 100 Euro komplett und danach anteilig 30 Prozent.
Sie wollen jetzt ein kleines Häppchen aus der gesetzlichen Rente dazupacken, übrigens gedeckelt genau bei der gleichen Stelle, wo es jetzt schon gedeckelt ist, und glauben, Sie hätten das Thema Altersarmut geklärt. Im Leitantrag zum Sozialparteitag der AfD, der immer wieder angekündigt und verschoben wurde – die jetzige Verschiebung haben Sie in der Tat nicht zu verantworten –, ist dieser kleine Anrechnungsmechanismus in der Grundsicherung aus Ihrem Antrag tatsächlich die Hauptidee zur Bekämpfung von Altersarmut.
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Kein Wort zur Lohnpolitik, zu Gewerkschaften, zur Einkommenssituation von Frauen, von Ostdeutschen! Eine vorausschauende Rentenpolitik geht anders.
Unabhängig davon kann es auch nicht Sinn der Sache sein, immer mehr Menschen durch eine solche Kombirente auf das bedürftigkeitsgeprüfte und antragsbasierte Grundsicherungssystem zu verweisen. Bereits jetzt nehmen ja schon ganz viele, die berechtigt wären, den Anspruch gar nicht wahr, entweder aus Überforderung oder auch aus Scham. Empirische Untersuchungen gehen von etwa 50 Prozent oder mehr aus.
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– Der Herr der Zahlen kommt später bestimmt noch.
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Viel zu viele Menschen nehmen es jedenfalls nicht in Anspruch. Die Grundsicherung ist eine Sozialleistung und sollte wirklich nur die letzte Option sein und nicht zur Regel werden. Sonst hätte Herr Meuthen doch noch gewonnen. Das will ja schätzungsweise die Mehrheit Ihrer Fraktion nicht, oder doch?
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Man weiß so wenig, zumindest wenn es um Rentenpolitik und AfD geht.
Ihr Vorschlag würde zu einer deutlichen Ausweitung des Personenkreises führen, der anspruchsberechtigt wäre, aber wahrscheinlich kaum für wenige Euro einen solchen Antrag stellen würde. Ich möchte zudem festhalten, dass etwa ein Viertel der Grundrentenbezieher gar keine Rentenansprüche, viele weitere nur sehr geringe Rentenansprüche haben. Diese würden von Ihrem Konzept gar nicht oder nur sehr wenig profitieren. Das sind nicht unbedingt faule Leute. Das sind nämlich – Sie wollen ja für alle ein bisschen was; das atmet auch Ihr Antrag zum Sozialparteitag – oft Selbstständige, die irgendwann mal wirtschaftlich auf die Nase gefallen sind. Damit das nicht in der Grundsicherung endet, wollen wir von der SPD die Selbstständigen in die gesetzliche Rente aufnehmen. Ihr Vorschlag hilft dieser Gruppe gar nicht.
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Ihr Antrag greift zu kurz, ist nicht zielführend. Den Betroffenen ist damit nicht geholfen. Damit ist eigentlich alles gesagt.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Daniela Kolbe. – Nächster Redner ist Norbert Kleinwächter für die AfD-Fraktion.
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Vielen Dank. – Frau Präsidentin! – Werte Kolleginnen und Kollegen! Frau Kolbe, ich darf gerne dazu beitragen, dass Ihre Fantasien auf harte Fakten treffen; denn wir sind uns in Analyse wie Lösung sehr einig in der AfD, und ich möchte das gerne mit Ihnen teilen.
Selbstverständlich sind gerade im Corona-Lockdown die Sorgen, die die Menschen um das Heute haben, präsenter als die Sorgen um die Rente. Aber wer sich fragt: „Was wird aus Deutschland, mit den Milliarden für die Kompensationen, mit dem kaputten Euro, mit Merkels Millionen Migranten?“, der kann durchaus die Rente als Blaupause verwenden; denn Deutschland wird in 25 Jahren im Vergleich zu heute ungefähr so aussehen wie die Rente heute im Vergleich zu 1995, nämlich ziemlich düster.
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Heute versuchen wir, zu korrigieren, was der langfristige Effekt jahrzehntelanger Fehlentscheidungen der etablierten Parteien ist. Die Rente heute ist nichts anderes als das Resultat aus 16 Jahren Kohl, 7 Jahren Schröder und 14 Jahren Merkel.
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Das ist mehr als ein Vierteljahrhundert Fehlsteuerung von CDU/CSU und SPD – ich nenne es beim Namen –, wo die Rente immer wieder zum Wahlkampfgeschenk gemacht worden ist, wo die Rentenkassen immer wieder geplündert worden sind, wo versicherungsfremde Leistungen eingeführt worden sind, wo die Schere zwischen Pensionen und Renten immer weiter aufging – ein riesiges Gerechtigkeitsproblem –, wo Sie in der Lohnpolitik versagt haben und wo Sie vor allem im zentralsten Grundpfeiler unseres Rentenversicherungssystems versagt haben, nämlich in der Kinder- und Familienpolitik.
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Wenn Sie sich heute hinstellen und ein Leben in Würde versprechen, dann muss ich Ihnen sagen: Dazu fehlen nun einmal die Kinder. Dazu fehlt auch das Geld, und dann fehlt am Ende auch die Rente. Das ist das Versagen der etablierten Parteien.
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Und das spüren die Rentner schon heute am immer weiter steigenden Renteneintrittsalter – immer länger malochen für immer weniger Rente –, an den sinkenden Lohnersatzquoten, die mittlerweile lächerlich sind, an Rentenauszahlungen von im Schnitt 905 Euro im Monat; davon kann keiner in Würde leben.
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Das führt natürlich auch zum Problem der Altersarmut, das wir hier besprechen. Wir haben 410 000 Altersrentner, 195 000 Erwerbsminderungsrentner, die zusätzlich Grundsicherung im Alter beziehen müssen. Das sind fast 700 000 Menschen, die gearbeitet haben und deren Rente nicht mal reicht für das Existenzminimum, nicht einmal für das Nötigste, die nach einem Leben voller Arbeit aufs Amt gehen müssen. Und das ist eine Schande. Es ist ein unhaltbarer Zustand, dass diese Zahlen steigen werden. Wir rechnen mit Millionen solcher Rentner im Jahr 2030 aufgrund Ihrer Politik.
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Aber genau hier greift der Antrag der AfD ein.
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Denn wir schaffen hier mehr Gerechtigkeit.
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Wenn im Moment die Rente zu niedrig ist, dann kann Grundsicherung im Alter beantragt werden, um damit aufzustocken. Aber das Ergebnis ist dann, dass der, der viel gearbeitet hat, das Gleiche bekommt wie der, der nie gearbeitet hat.
Wir fordern, dass mindestens 15 Prozent anrechnungsfrei bleiben. Das bedeutet: Wer in Grundsicherung kommt, obwohl er eigentlich Rente hat, der erhält eben seine Grundsicherung, und von jeden 100 Euro Rente, die er hat, darf er mindestens 15 Euro behalten. Das bedeutet, dass derjenige, der gearbeitet hat, auf jeden Fall mehr hat als derjenige, der nicht gearbeitet hat, und das ist ganz wichtig und fair.
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Dieses Prinzip ist sowohl fair wie auch finanzierbar, Herr Birkwald. Fair ist es, weil sich Leistung nach wie vor lohnt; fair ist es, weil wir das Äquivalenzprinzip der Rentenversicherung erhalten, dass also Einnahmen und Ausgaben proportional zueinander ähnlich bleiben,
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und zwar egal, wie viele Jahre gearbeitet worden ist. Und finanzierbar ist es, weil es passgenau den Menschen am Rande des Existenzminimums hilft, auch über 2025 hinaus, wenn sich die Demografieproblematik in der Rentenversicherung bemerkbar macht.
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Ja, der Regierung indes fehlt jegliche Weitsicht und Planung. Sie wissen ja noch nicht einmal, ob Sie die Grundrente durchsetzen wollen. Ehrlich gesagt, mein Kompliment an Sie von der CDU, an Ihren Fraktionsvorsitzenden, der sagt: Die Grundrente kannst du nicht machen, die funktioniert hinten und vorne nicht.
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Das ist völlig richtig, und ich frage mich eigentlich, warum Sie morgen noch die erste Lesung auf der Tagesordnung haben, wenn Sie sich sowieso darüber zerstreiten.
Es ist ja klar: Die Grundrente von Heil ist nämlich weder fair noch finanzierbar.
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Sie ist nicht fair, weil sie willkürliche Grenzen setzt – wieso kriegt die einer mit 32 Jahren Arbeit nicht, mit 33 Jahren aber schon? –, und sie richtet sich vor allem auch an Leute, die nicht arm sind. Ich kann Grundrente von Heil auch als Rentner auf Mallorca beziehen.
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Zudem ist sie sowieso nicht finanzierbar; Scholz kam gerade mit einer neuen Steuerschätzung. Das Geld fehlt hinten und vorne. Die Milliarden, die Sie haben wollen, werden Sie nicht kriegen, und die fehlen.
Sie nehmen Geld, das Sie nicht haben, von Leuten, die es sich sehr, sehr hart erarbeiten, und geben es denen, die es nicht brauchen. Da haben wir ein völlig anderes Konzept.
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Herr Kollege, kommen Sie zum Ende.
Werte Damen und Herren, stehen Sie zu Ihren historischen Fehlern. Beenden Sie dieses Projekt der Grundrente und unterstützen Sie, was wirklich hilft, nämlich die Sofortmaßnahme „Armutsbekämpfung bei Rentnern“ der AfD.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Frank Heinrich.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Seitdem Sie den Antrag gestellt haben – ich glaube, im Februar letzten Jahres –, ist einiges passiert. Seither haben CDU/CSU – wir haben das gerade mehrfach gehört – intensiv an der im Koalitionsvertrag versprochenen Vereinbarung zur Grundrente gearbeitet. Das konnte ja jeder gut verfolgen, wie Sie auch gerade zitiert haben.
Sie nennen es die Sofortmaßnahme. Wir wissen, dass zwei andere Anträge dies anders nennen: Derjenige von der FDP nennt es Basisrente, der von den Grünen Garantierente. Unser Modell heißt, wie inzwischen sehr gut bekannt, Grundrente. Wir haben sie, wie gerade auch gesagt, im Koalitionsvertrag festgeschrieben; sie beschäftigt uns also schon ein ganzes Stück länger. Ich bin dankbar, dass wir jetzt die Ziellinie dazu vor Augen haben.
Wir haben die Notwendigkeit, etwas Weitreichendes gegen Altersarmut zu tun, schon vor längerer Zeit erkannt – da sind wir uns übrigens einig, was die Richtung angeht –, länger auf jeden Fall, glaube ich, als Sie das erkannt haben. Wie Sie alle wissen, hat dann Mitte Februar dieses Jahres das Bundeskabinett den Gesetzentwurf zur Grundrente beschlossen. Morgen findet die erste Lesung dazu statt, und am 25. Mai werden wir eine öffentliche Anhörung haben. Wir befinden uns also mitten im parlamentarischen Verfahren, und wir sind eben auf der Zielgeraden dazu.
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Der zweite Gedanke. Ihr Antrag ist inzwischen überholt, nicht nur wegen seines Alters. Dennoch möchte ich kurz darauf eingehen. Aus unserer Sicht ist Ihr Antrag sehr, sehr knapp gehalten und wenig detailliert. Sie fordern diese Anrechnungsfreistellung der gesetzlichen Rente, die Sie gerade genannt haben, Herr Kollege, in Höhe von mindestens 15 Prozent maximal bis zur Hälfte des Regelbedarfs von derzeit 216 Euro. Wenn man das mathematisch durchrechnet und es auf die 500- oder 600-Euro-Renten zu übertragen versucht, so kommt bei unserer Regelung einfach mehr heraus. Nach unserer Interpretation des äußerst kurzen und wenig detaillierten AfD-Antrags geht unsere Rentenregelung weit über diese Forderung hinaus. Gerade Menschen mit langjähriger Versicherung und geringen Renten werden von der Grundrente stärker profieren als von Ihrem Antrag.
Eine Mindestversicherungszeit kommt in Ihrem Antrag gar nicht vor. Für uns ist dieser Punkt aber ganz wesentlich. Wir möchten gerade diejenigen fördern, die trotz langjähriger Versicherung, Erziehung von Kindern oder Pflege von Angehörigen nur eine geringe Rente erhalten.
Des Weiteren macht Ihr Vorschlag aus unserer Sicht eine zusätzliche Altersvorsorge eben vollkommen unattraktiv, da alles in einen Topf geworfen wird.
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Uns ist wichtig: Die zusätzliche Altersvorsorge soll sich auch für Geringverdiener lohnen. Gerade hiermit würde aber nach unserer Auffassung der Aufbau dieser zusätzlichen Altersvorsorge für Geringverdiener wieder unattraktiv.
Rente basiert auf Beitragszahlung, und wir sind eben nicht dafür, dass jede Beitragszahlung in die Rentenversicherung unabhängig von ihrer Dauer aufgewertet wird.
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Wichtig ist nach wie vor: Altersarmut muss mit den bekannten drei Säulen bekämpft werden – dazu stehen wir –: gesetzliche Rentenversicherung, betriebliche Altersvorsorge und private Vorsorge. Darauf gehen Sie in dem Antrag gar nicht ein. Bei der Kürze dessen, was da an Forderungen steht, war das auch kaum machbar. Das ist einer der Hauptkritikpunkte, weshalb wir heute Ihren Antrag ablehnen und Sie eher auffordern, dass Sie unseren Vorschlag mittragen.
Und dann komme ich zu dem Konzept, worauf wir morgen länger Zeit haben werden einzugehen. In dem vorgelegten Gesetzentwurf zur Grundrente zeigt die Koalition, dass sie zu ihren Vereinbarungen steht und die gesetzliche Rente stärkt. Wer mindestens 33 Jahre gearbeitet hat und in die Rentenkasse eingezahlt hat, Kinder erzogen hat, wie gerade gesagt, und Angehörige gepflegt hat, soll durch die Grundrente am Schluss besser dastehen als Menschen, die das eben nicht getan haben. Wir wollen zeigen, dass es sich lohnt, in die Rentenkasse einzuzahlen, und da herrscht hier großflächige Einigkeit.
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– Nicht von allen. Ich habe „großflächig“ gesagt.
Von der Grundrente werden all diejenigen profitieren, die auch von den anderen Fraktionen mit ihren Anträgen in den Fokus genommen wurden: Menschen in Ost und West, die im Niedriglohnbereich tätig waren und trotz großer Anstrengungen dann im Alter von Altersarmut bedroht werden. Vor allem Frauen werden durch die Grundrente unterstützt. Das ist notwendig wegen der Lohnunterschiede und weil sie nach wie vor die Hauptlast bei Kindererziehung und Pflege tragen.
Als Chemnitzer und damit Abgeordneter aus den neuen Bundesländern weiß ich, dass insbesondere Menschen in diesem Teil unseres Landes von der Grundrente profitieren werden. Sie waren nach der Wende in den letzten Jahren von gewaltigen Umwälzungen betroffen und mussten teilweise für sehr geringe Löhne arbeiten. Die Einkommensprüfung stellt sicher, dass nur Menschen Grundrente erhalten, die sie dann auch benötigen. Da haben wir als Union ein sehr wichtiges Anliegen nicht nur vor uns hergetragen, sondern auch durchgesetzt.
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Im Gesetzgebungsverfahren legen wir als Union ganz großen Wert auf solide Finanzierung auch der Grundrente und auf einen niedrigen Verwaltungsaufwand für Berechtigte und für die Verwaltung selbst. Wer da Ideen hat, der ist im weiteren Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens herzlich willkommen, sich einzubringen. Ich freue mich auf diese anstehenden Beratungen und die konstruktive Beteiligung aller Fraktionen, zumal wir ja offensichtlich die gleiche Erkenntnis gewonnen haben und die gleiche Richtung vorhaben.
Ich hatte gesagt, dass es uns besonders wichtig ist, dass wir nicht nur in diesem Fall auf die Finanzierbarkeit achten. Und ich denke, an einem Tag wie heute, der auch als Namenstag einer Schutzpatronin für das Geld gewidmet ist, darf man das dann auch doppelt betonen. Spannend finde ich dabei allerdings ihren Namen: die Heilige Corona.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({5})
Vielen Dank, Herr Kollege. – Der nächste Redner ist der Kollege Pascal Kober für FDP-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren unter diesem Tagesordnungspunkt einen Antrag der AfD zur Rentenpolitik, mit dem Sie einen Vorschlag vorlegen, wie Sie das Problem der Altersarmut angehen wollen. Den Kern Ihres Antrages haben Sie von unserem Basisrentenmodell abgeschrieben; insofern ist er richtig.
Sie sagen, Sie möchten einen Freibetrag auf Ansprüche aus der gesetzlichen Rentenversicherung für diejenigen, die in der Grundsicherung sind. Das ist richtig; denn es ist in der Tat ungerecht, dass diejenigen, die in der Grundsicherung sind, heute von ihren gesetzlichen Ansprüchen aus der Rentenversicherung nichts haben.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, passen Sie jetzt mal ganz genau auf. Im Antrag der AfD steht „mindestens 15 Prozent“. Das zeigt eindeutig: Sie sind sich innerhalb der eigenen Fraktion gar nicht einig, was Sie denn eigentlich wollen. Wir sagen: 20 Prozent. Sie sind nicht in der Lage, sich auf einen Prozentsatz festzulegen.
({1})
Das ist die erste bemerkenswerte Erkenntnis in dieser Debatte: Noch immer haben Sie kein schlüssiges Rentenkonzept, und das sollen die Wählerinnen und Wähler wissen.
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Jetzt wird es aber spannend. Im zweiten Schritt kumulieren Sie diesen Freibetrag mit einem Freibetrag für die Ansprüche aus der privaten Rentenversicherung zu einem gemeinsamen Freibetrag und deckeln diesen bei 50 Prozent der Grundsicherungsleistung. Im Ergebnis bedeutet das, dass der, der privat vorgesorgt hat, bei Ihnen der Gekniffene ist.
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Ich sage Ihnen: Das darf nicht sein. Wir dürfen diejenigen, die privat vorgesorgt haben, nicht abstrafen. Und das ist das, was die AfD macht; das soll jeder wissen, der heute dieser Debatte folgt und zuschaut.
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Denn es zeigt eindeutig, wer sich bei Ihnen in der Sozialpolitik durchsetzt: Es sind die Linken in Ihrer Partei, die sich da durchsetzen,
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die mit sozialer Marktwirtschaft nichts zu tun haben.
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Ich sage es hier mit aller Deutlichkeit: Privat Vorsorgende abzustrafen, das darf nicht sein.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, das eigentlich Traurige in dieser Woche ist aber nicht der Antrag der AfD – das ist ja immer traurig –, sondern das eigentlich Traurige ist das Grundrentenmodell der SPD; denn das droht uns ja morgen hier im Deutschen Bundestag. Da muss man noch mal ganz deutlich sagen, was Sie hier veranstalten wollen. Wir haben 600 000 Menschen in Deutschland, die von Altersarmut betroffen sind.
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Ihr Grundrentenmodell wird gerade mal 100 000 davon erreichen. Das heißt, 500 000 altersarme Menschen in Deutschland haben von dem, was Hubertus Heil und die SPD-Fraktion hier mit aller Gewalt versuchen durchzudrücken, nichts, aber auch gar nichts.
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Ich appelliere an Sie, Kolleginnen und Kollegen der CDU: Bewahren Sie die SPD vor diesem historischen sozialpolitischen Fehler!
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Das dürfen Sie denen nicht durchgehen lassen!
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Lieber Frank Heinrich, rede niemals von „deinem“ Grundrentenmodell! Das ist eine Idee der SPD;
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das muss da bleiben. Da sage ich: Ich muss euch davor schützen, dass ihr euch das zu eigen macht.
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Es ist wirklich der größte Skandal in der Geschichte der SPD, dass ihr Geld an 1,2 Millionen Menschen in dieser Bundesrepublik Deutschland verteilt, die das überhaupt nicht brauchen können.
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Ich kann Ihnen sagen, liebe Freunde der SPD, –
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende.
– Sie machen nichts für die Bekämpfung der Altersarmut hier in Deutschland, und das sollen die Wählerin und der Wähler am Ende auch wissen.
({0})
Für die Fraktion Die Linke macht sich der Kollege Matthias W. Birkwald auf den Weg.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren Abgeordnete von der AfD! Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht für Sie. Die gute Nachricht: Wir werden Ihren Antrag nicht deshalb ablehnen, weil er von der AfD kommt.
({0})
Die schlechte Nachricht für Sie: Ich nehme Ihren Antrag ernst.
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Fangen wir gleich mal an. Die Überschrift lautet: „Sofortmaßnahme Armutsbekämpfung bei Rentnern“. Also, erstens wissen wir alle hier in diesem Haus, dass vor allen Dingen Frauen von Altersarmut besonders betroffen sind.
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Egal wie hoch der Gender Pension Gap angegeben wird: Frauen sind zu zwei Dritteln diejenigen in Altersarmut, und deswegen müssen wir in erster Linie was gegen die Altersarmut von Frauen tun. Die kommen bei Ihnen aber gar nicht vor.
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Es ist aber noch schlimmer. Bei Altersarmut geht es um alle Menschen ab 65 Jahren, die arm sind, also auch um Seniorinnen und Senioren. Die finde ich in dem Antrag nicht. Sie beschränken sich auf Rentner. 27 Prozent der Menschen in der Grundsicherung hatten aber nie eine Rente. Das ist schon der zweite Punkt. Dazu sagte der Sachverständige Professor Werding in der Anhörung zu Ihnen: „Im Grunde geht es bei Ihnen“ – der AfD – „nicht um Altersarmut, sondern um die Armut von Rentnern.“ Das, meine Damen und Herren, ist deutlich zu dünne Suppe.
({4})
In Ihrem Antrag steht, es seien 620 000 Betroffene, die in Altersarmut sind; Pascal Kober hat ebenso verharmlosende Zahlen genannt. In Wirklichkeit sind 18,2 Prozent aller Menschen ab 65 nach den EU-Kriterien arm. 1,7 Millionen Frauen und 1,3 Millionen Männer haben im Monat weniger als 1 136 Euro zum Leben. Das ist Altersarmut – nicht die 814 Euro, von denen hier immer die Rede ist.
Dann nehme ich mir mal Ihren wunderbaren Satz auf Seite 2 vor. Zitat:
Eine wesentliche Erhöhung der niedrigen Bestandsrenten, sei es durch eine Erhöhung des Rentenniveaus, sei es durch andere Aufwertungsmaßnahmen, ist zumindest nicht zeitnah zu erwarten, so dass sich gegenwärtig zur Abmilderung von Altersarmut ein Handlungsbedarf ergibt.
„Abmilderung von Altersarmut“? Sagen Sie mal, geht’s noch? Auf den Straßen und Plätzen dieser Republik tun Sie so, als wenn Sie die großen Systemfeinde wären, aber hier wollen Sie ein bisschen „Abmilderung“ im Hartz-IV-Rentner-System? Da sage ich Ihnen nur: Sie sind als Tiger gestartet und als Bettvorleger gelandet. Das reicht vorne und hinten nicht.
({5})
Nein, wir müssen die Altersarmut nicht abmildern, wir müssen sie bekämpfen, meine Damen und Herren!
({6})
Dazu gehören gute Tarifverträge, Allgemeinverbindlichkeitserklärungen, ein gesetzlicher Mindestlohn von 12 Euro und natürlich ein Rentenniveau von 53 Prozent als Prävention, als Prophylaxe. Das brauchen wir.
({7})
Und: Das Äquivalenzprinzip in der Rentenversicherung hat nichts mit Armutsbekämpfung zu tun. Da geht es um Artikel 1 des Grundgesetzes: Die Würde des Menschen ist unantastbar. – Das müssen wir einhalten und nicht das Äquivalenzprinzip.
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Viel wichtiger wäre, die Abschläge bei den heutigen und künftigen Erwerbsminderungsrentnerinnen und ‑rentnern zu streichen.
Was den Freibetrag, dieses Minireförmchen, angeht: Wenn das durchkommt, was Sie vorschlagen, dann senken Sie das, was morgen bei der sogenannten Grundrente beschlossen werden soll, theoretisch um die Hälfte. Da sage ich im Namen aller armen Rentnerinnen und Rentner: Herzlichen Dank an diese Bundesregierung, wenn sie im Gegensatz zu Ihnen sogar das Doppelte hinkriegt!
({9})
Setzen, sechs!
Danke schön.
({10})
Der nächste Redner ist für Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Markus Kurth.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass dieser Antrag, den Herr Kleinwächter in einer bemerkenswert bizarren Rede vorgestellt hat, dafür, dass er so dürftig ist, so viel Aufmerksamkeit bekommt, kann einem eigentlich nicht gefallen, wenn man die Debatte bis hierher verfolgt hat.
({0})
Ich glaube, es ist jetzt an der Zeit, dass man sich angesichts der Coronakrise mal wieder grundsätzlich etwas klarmacht. Man gewinnt bei einigen der Vorrednerinnen und Vorredner ja den Eindruck, als würde diese gar nicht stattfinden. Was sich doch jetzt zeigt, ist, wie wichtig es ist, das Vertrauen in die sozialen Sicherungssysteme und die Stabilität des Sozialstaats zu erhalten, wie wichtig es ist, die Leistungsfähigkeit der sozialstaatlichen Institutionen zu bewahren und diese zu unterstützen. Das ist das entscheidende Fundament, um Panikmache, Unsicherheit und Scharlatanerie zurückzudrängen.
({1})
Lassen Sie mich noch sagen: Dass der Sozialstaat leistungsfähig sein kann, zeigt sich zum Beispiel beim Kurzarbeitergeld, auch wenn wir da sicherlich noch einiges verbessern wollen. Dass aber Lücken vorhanden sind, zeigt sich zum Beispiel beim Regelsatz für die Grundsicherung im Alter, wo angesichts der Krise ein Aufschlag von 100 Euro für die Rentnerinnen und Rentner bzw. für alle Grundsicherungsbeziehenden im Alter notwendig wäre.
({2})
Noch eines zeigt sich, nämlich dass der Kapitalmarkt die Rente und die umlagefinanzierten Sicherungssysteme eben nicht ersetzen kann. Das wird in dieser Situation ebenfalls überdeutlich. Denn sicher ist in der kapitalgedeckten Altersvorsorge nur eines: Das ist das Risiko. In manchen Fällen lässt sich vielleicht eine überdurchschnittliche Altersrente erzielen; aber in anderen Fällen, gerade in Krisenfällen, eben nicht. Auch das ist eine wichtige Lehre, die wir beherzigen sollten.
Damit komme ich zur Schlussfolgerung. Das Zentrale ist die Stärkung des Versicherungssystems, seine Verbreiterung – sprich: dass alle, die erwerbstätig sind, dort einzahlen – und seine Stabilisierung.
({3})
Damit so ein System attraktiv bleibt und seine Sicherungsfunktion erfüllt, sind zwei Dinge notwendig: Das Erste ist ein langfristig stabiles Rentenniveau, und das Zweite ist eine Mindestsicherungsleistung, die garantiert, dass langjährig Versicherte oberhalb der Grundsicherung sind. Dann brauchen wir uns nämlich über irgendwelche komischen Freibetragsregelungen und dergleichen, die die Leute ja im Grundsicherungssystem festhalten, überhaupt gar keine Gedanken zu machen.
Das Instrument, mit dem sich diese Mindestversicherungsleistung erreichen lässt, heißt in unserem Grünenprogramm Garantierente, und das werde ich morgen – dann folgt die Fortsetzung – anlässlich der Einbringung des Gesetzentwurfes zur Grundrente hier genauer vorstellen.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank, Herr Kollege Markus Kurth. – Der letzte Redner in der Aussprache zu Zusatzpunkt 15: der Kollege Peter Aumer, CDU/CSU.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Rentenversicherung steht vor großen Herausforderungen. Man kann sich das einfach machen, wie der Kollege Kleinwächter vorhin, und Schuldzuweisungen vornehmen, oder man kann sich die Fakten betrachten.
Herr Kollege Kleinwächter, alleine wenn man sich das Verhältnis von Beitragszahlern zu Rentenempfängern ansieht, erkennt man: Im Jahr 2000 lag das bei drei zu eins. Im Jahr 2050 wird das Verhältnis „ein Beitragszahler zu einem Rentenempfänger“ sein. Dann können wir auf einer anderen Grundlage, als Sie das gerade getan haben, diskutieren.
({0})
Wenn man sich dann auch noch die Bezugsdauer anschaut, stellt man fest, dass sich die vom Jahr 1960 bis heute fast verdoppelt. Darin liegt der Kern der Herausforderungen.
({1})
Die AfD geht in ihrem Antrag keineswegs darauf ein.
Ich merke bei vielen Gesprächen mit Bürgerinnen und Bürgern meines Wahlkreises, dass den Menschen bei der Rente drei Dinge wichtig sind: Erstens muss die Rente leistungsbezogen sein; das heißt, das Erwerbsleben muss sich widerspiegeln. Zweitens muss die Rente solidarisch sein; sie muss soziale Verwerfungen wie Altersarmut verhindern. Und drittens muss die Rente natürlich sicher sein, auf der Grundlage eines dauerhaft verlässlichen Generationenvertrags stehen.
Um Altersarmut zu verhindern, müssen wir weiter denken, als die AfD das in ihrem Antrag getan hat.
({2})
Weitsicht, sehr geehrter Herr Kollege Kleinwächter, ist in Ihrem Antrag nicht zu erkennen, und Einsicht bei den großen Herausforderungen der Rentenpolitik auch nicht. Wir müssen, meine sehr geehrten Damen und Herren, dafür sorgen, dass es durchgängige Erwerbsbiografien gibt, dass die Kindererziehungs- und Pflegezeiten von Angehörigen wertgeschätzt und angerechnet werden. Hier haben wir sehr viel erreicht bei der Mütterrente, bei der Steigerung der Erwerbsminderungsrente, aber auch bei der Versicherungspflicht für Minijobs.
Außerdem, meine sehr geehrten Damen und Herren, muss natürlich gewährleistet werden – das ist der Kern einer sicheren und auskömmlichen Rente für die Menschen in unserem Land –, dass gute Löhne gezahlt werden.
({3})
Die Coronakrise zeigt die vorausschauende Politik der Bundesregierung. Das Kurzarbeitergeld, das mittlerweile für mehr als 10 Millionen Beschäftigte beantragt wurde, verhindert Arbeitslosigkeit und Unterbrechungen der Erwerbsbiografie. Das sind gute Sozialpolitik und ein gutes Krisenmanagement.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kollegen, mit dem Rentenpaket und dem Gesetzentwurf zur Einführung einer Grundrente, der morgen eingebracht wird, zeigen die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen Handlungsfähigkeit. Wir nehmen uns des Themas „Rente und Altersarmut“ ganzheitlich und zielgenau an.
({4})
Den Antrag der AfD hätte es dazu nicht gebraucht; denn wir brauchen in diesem Haus Debatten über Anträge mit Substanz. Wenn dem Redner der AfD der Inhalt des Antrages nur zwei Sätze wert war, dann spricht das auch für den Antrag selbst.
({5})
Gerade beim Thema Rente bedarf es der notwendigen Sachlichkeit und Vernunft, die das Wohl der aktuellen, aber auch der zukünftigen Rentenbezieher und Beitragszahler im Blick hat. Mit Ihrem Antrag, Kollegen der AfD, geben Sie keine Antworten darauf, wie Menschen grundsätzlich Alterseinkünfte oberhalb der Grundsicherung erzielen können. Sie geben keine Antworten darauf, wie die Leistungsgerechtigkeit und der soziale Ausgleich in der Rente bewerkstelligt werden können.
({6})
Sie verschlechtern sogar die bestehende Rechtslage; denn Sie berücksichtigen den im Sozialgesetzbuch bereits enthaltenen Sockelfreibetrag nicht.
({7})
– Danke schön, Herr Kollege Birkwald.
({8})
Mit Ihrem Antrag werden gerade Rentnerinnen und Rentner mit geringen zusätzlichen Vorsorgeansprüchen schlechter gestellt, als das bisher der Fall ist.
Mit Ihrem Antrag gehen Sie auch nicht mit der Zeit. Sie haben offenkundig den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Grundrente nicht zur Kenntnis genommen. Darin verbessern wir die Freibeträge für Menschen, die langjährig geringe Beitragszahlungen geleistet haben, weit über das hinaus,
({9})
Herr Kollege Kleinwächter, was Sie in Ihrem Antrag fordern.
({10})
Das sollte Ihnen zu denken geben.
Mit Ihrem Antrag, meine sehr geehrten Damen und Herren, wird Altersarmut nicht wirkungsvoll bekämpft. Langjährige Beitragszeiten werden sogar bestraft. Sie kommen damit weder dem Leistungsgedanken noch dem Solidaritätsprinzip in der Rente nach. Mit diesem Antrag beweist die AfD, dass sie weder die Gründe für Altersarmut noch die Rahmenbedingungen, denen sich unser Rentensystem stellen muss, erkannt hat. Deswegen lehnen wir Ihren Antrag ab.
({11})
Das war der letzte Redner. – Ich schließe die Aussprache.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Situation in der Veranstaltungsbranche ist dramatisch. Es fallen nach wie vor Konzerte aus, es fallen nach wie vor Sportveranstaltungen aus, und viele Freizeitveranstaltungen sind abgesagt. Damit entgehen den Veranstaltern wichtige Einnahmen, auf die sie angewiesen sind. Damit geraten dann auch Künstlerinnen und Künstler, Sportler und auch diejenigen, die in der Veranstaltungsbranche ansonsten ihren Arbeitsplatz haben, in Existenznot. Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Dieses Gesetz leistet einen ganz wichtigen Beitrag dazu, dass wir unsere Kulturlandschaft mit den Events in Deutschland erhalten und ganz viele Arbeitsplätze sichern. Ein ganz wichtiges Gesetz!
({0})
Denn wir wollen nicht, dass die Kulturlandschaft in Deutschland mit den vielfältigen Konzerten – ob „Wacken“, „Rock am Ring“, Nischenkonzerte, Opern – unwiederbringlich kaputtgeht – auch Sportveranstaltungen will ich erwähnen –, was unzweifelhaft der Fall wäre, wenn wir hier Insolvenzen hätten, die unweigerlich kommen würden, wenn wir den Veranstaltern die Liquidität nehmen würden.
Kurz noch mal zusammengefasst: Wir werden regeln, dass Ticketkäufer beim Konzertausfall statt der Erstattung des Kaufpreises einen Gutschein bekommen. Spätestens im Januar 2022 können sie das Geld zurückfordern, wenn sie keine alternative Verwendung für den Gutschein gefunden haben. Also, wir lassen die Veranstalter nicht pleitegehen, damit die Events stattfinden können. Die Veranstalter brauchen die Liquidität, um im nächsten Jahr oder vielleicht auch schon in diesem Jahr Nachfolgeveranstaltungen organisieren zu können.
Ja, ich will offen sagen: Die SPD hätte sich gewünscht, noch mehr Verbraucherschutz in diesem Gesetz zu regeln.
({1})
Gerne hätten wir etwa die Härtefallklausel präziser in Form von Regelungsbeispielen gestaltet, sodass für alle Beteiligten klar ist, wann ein Härtefall vorliegt. Wir hätten gerne auch eine Schlichtungsstelle gehabt. Gerne hätten wir auch über die Insolvenzabsicherung gesprochen. Und auch wenn wir davon ausgehen, dass die Gutscheine frei übertragbar sind, hätten wir es gerne im Gesetz ausdrücklich so geregelt. Aber um es deutlich zu sagen: Das war mit dem Koalitionspartner leider nicht zu machen.
Dennoch: Ich glaube, es ist unterm Strich ein gutes Gesetz, weil es für einen wirklich fairen Ausgleich zwischen den Interessen der Ticketkäufer auf der einen Seite und den Veranstaltern auf der anderen Seite sorgt. Wir sichern den Veranstaltern, wie gesagt, die Liquidität, die sie jetzt brauchen. Insofern ist es unter dem Strich ein gutes Gesetz, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Entschuldigen Sie, Herr Kollege. – Liebe Kollegen von der AfD, könnten Sie bitte die Abstandsregelungen einhalten. – Bitte schön, Herr Kollege.
Weil wir hier jetzt über Gutscheine und Verbraucherschutz sprechen, möchte ich auch zu einem verwandten Thema, nämlich zur Situation im Reiserecht, ein paar Takte sagen. Ich glaube, wir müssen für die Reisekunden schnell eine Lösung finden: Sie wollen jetzt wissen, wie es mit dem bezahlten Reisepreis weitergeht, wie die Pauschalreise in Zukunft abgesichert ist. Und vor allem müssen wir uns um die Reisebranche kümmern; denn sie hat dramatische Umsatzeinbußen zu verzeichnen. All das diskutieren wir, und ich hoffe, dass wir hier schnell zu einer sinnvollen Lösung für die Reisekunden, aber auch für die Reisebranche kommen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({0})
Am Schluss meiner Rede werde ich persönlich. Liebe Eva Högl, das ist heute deine letzte Debatte als Parlamentarierin. Deswegen möchte ich dir im Namen der AG Recht ganz herzlich für die wirklich tolle Zusammenarbeit danken. Wir haben rechtspolitisch, auch verbraucherpolitisch eine Menge auf die Beine gestellt in den Jahren, in denen du Fraktionsvize warst. Deswegen: Herzlichen Dank für die gute Zusammenarbeit und alles, alles Gute im neuen Amt.
Vielen Dank.
({1})
Der nächste Redner ist für die AfD-Fraktion der Kollege Dr. Lothar Maier.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Einer der Kernpunkte dessen, was hier diskutiert werden soll, ist ja die Frage, ob den Verbrauchern die Gutscheinlösung bei dem Ausfall von Leistungen, der ja aufgrund der Coronaentwicklungen erfolgen muss, schmackhaft gemacht werden soll. Und da ist es nun sicherlich so, dass jeder, der jahrzehntelang im Verbraucherschutz tätig gewesen ist – so auch ich –, die Grundüberzeugung teilt, dass niemand für eine bereits bezahlte, aber nicht erbrachte Leistung einen Gutschein entgegennehmen muss. Dafür sieht das Bürgerliche Gesetzbuch drei Wege vor, die sich in der Vergangenheit bewährt haben, und die lauten: Wandlung, Minderung, Nacherfüllung.
Der Gutschein hat noch andere Nachteile: Wenn Sie ihn entgegengenommen haben, dann werden Sie bei seiner Einlösung selten genau das bekommen, was Sie eigentlich ursprünglich gebucht oder bezahlt haben. Das gilt für den Versandhandel, es gilt für Reisen, es gilt auch für Veranstaltungen. Im Versandhandel werden Sie die Ware, die Sie nicht bekommen haben, wahrscheinlich auch in der Zukunft nicht bekommen. Sie müssen etwas aus dem Sortiment des Anbieters nehmen, was Sie vielleicht gar nicht haben wollten. Und bei den Konzerten gilt dasselbe: Werden Sie denn, wenn Sie den Gutschein einlösen, eine Karte für genau das Konzert bekommen, das Sie ursprünglich gebucht haben, und noch dazu am gleichen Ort? Höchstwahrscheinlich nicht.
Nun ist das eine Überzeugung, die in Zeiten gegolten hat, in denen es eine überschaubare Zahl von Fällen war, wo Gutscheine angeboten und angenommen oder nicht angenommen worden sind. Jetzt aber sind wir mit einer massenhaften Anzahl konfrontiert: Es sind nicht nur Zehntausende, es sind vielleicht Hunderttausende, Millionen von Fällen, auf die das zutrifft. Das Geld wird für längere Zeit festgelegt, und es besteht die Gefahr, dass dann, wenn alle Verbraucher auf der sofortigen Rückzahlung ihrer Leistung, ihrer Zahlung bestehen, das betroffene Unternehmen insolvent wird.
Dennoch, meine ich, ist ein gesetzlicher Zwang zur Entgegennahme eines Gutscheins auch jetzt nicht notwendig. Es gibt Lösungen, die auf Freiwilligkeit beruhen. Ich habe das selber erlebt: Ich hatte über Ostern eine Reise gebucht, die nicht stattfinden konnte. Ich habe von mir aus – ich staunte über mich selber – dem Unternehmen die Entgegennahme eines Gutscheins angeboten.
({0})
Ich erhielt ihn innerhalb weniger Tage, und es ist eine Zusatzleistung draufgesetzt worden. Das gilt natürlich für alles: Das gilt auch für Konzerte, das gilt auch für den Versandhandel und anderes mehr. Das ist nicht nur auf die Veranstaltungsbranche beschränkt.
Schreibt der Staat eine Gutscheinlösung vor, dann muss er, meine ich, zumindest auch die Insolvenzsicherung übernehmen. Er muss dafür sorgen, dass dann, wenn das Unternehmen pleitegegangen ist, der Verbraucher, weil der Staat es so gewollt hat, nicht sein komplettes Geld verliert.
Und noch ein Letztes. Radikal abzulehnen ist die vorgesehene Härtefalllösung. Wenn Sie festlegen wollen, dass der Gläubiger, also der Verbraucher, nachweisen muss, dass er sein Geld braucht, und nicht der Schuldner nachweisen muss, dass er es nicht zahlen kann, dann ist einer der wichtigsten Rechtsgrundsätze wirklich auf den Kopf gestellt. Das ist radikal abzulehnen. In diesem Fall sind wir zwar, was die Gutscheine betrifft, zu Kompromissen bereit; aber wir akzeptieren die jetzige Lösung nicht, schon gar nicht mit der vorgesehenen Härtefalllösung.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Thorsten Frei.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist darauf hingewiesen worden, dass sich seit März das gesellschaftliche Leben, das Freizeitleben, Gewohnheiten und auch das Gemeinschaftserlebnis, das wir von Kultur- und Sportveranstaltungen gewohnt waren, grundlegend verändert haben. Wir sind hier mit Herausforderungen konfrontiert, bei denen es nicht ausreicht, Herr Professor Maier, Rechtssätze gegeneinanderzustellen; vielmehr brauchen wir in dieser Situation, in der reihenweise Insolvenzen von Veranstaltern unmittelbar bevorstehen, pragmatische Lösungen. Es geht also nicht darum, in Schönheit zu sterben, sondern es geht darum, pragmatische, nützliche Lösungen herbeizuführen, die auch zeitlich befristet sind.
({0})
Natürlich hat derjenige, der vor dem 8. März eine Konzertkarte oder eine Eintrittskarte oder eine Dauerkarte für eine Sportveranstaltung gekauft hat – und diese Veranstaltung findet nicht statt –, nach den Regularien unseres Zivilrechts einen Anspruch auf Rückerstattung der Leistung; das ist ja richtig. Das ersetzen wir jetzt durch einen Wertgutschein. Dass diese Regelung Kritik hervorruft, haben wir schon in der ersten Lesung des Gesetzentwurfes erlebt: Den einen geht die Regelung nicht weit genug; sie sagen: Wir müssen weitere Gruppen mit einbeziehen. Und den anderen geht sie zu weit; sie sagen: Das ist ein zinsloses Darlehen; es ist nicht gegen Insolvenz abgesichert;
({1})
es ist kein Äquivalent für die Eintrittskarte. Ja, das stimmt: Es ist auch eine Zumutung für Verbraucherinnen und Verbraucher.
({2})
Und trotzdem muss man abwägen. Worum geht es denn? Auf der einen Seite geht es um Eintrittskarten, die einen Wert haben im zweistelligen oder niedrigen dreistelligen Eurobereich. Das Geld ist ausgegeben; deswegen gerät keiner in finanzielle Not.
({3})
Was fehlt, ist die kulturelle Gegenleistung. Das ist der Punkt. Und dann muss man schauen, was dem gegenübersteht. Dem steht gegenüber, dass davon auszugehen ist, dass innerhalb kürzester Zeit reihenweise Veranstalter in die Insolvenz fallen würden. Das wäre die Konsequenz. Man kann den Anspruch anmelden, in die Insolvenztabelle aufgenommen zu werden, und bekommt am Ende auch nichts.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen?
Ja, bitte schön.
Vielen Dank, Herr Präsident. Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Sie sagten eben: Das sind ja alles kleine Beträge. – Jetzt gibt es aber Familien – vierköpfige, fünfköpfige Familien –, die darauf sparen, gemeinsam eine größere Unternehmung zu machen, und Tickets kaufen. Diese Familien leiden zurzeit massiv unter den Einschränkungen der Coronakrise; manche sind in Kurzarbeit oder Ähnliches.
({0})
– Sie legen für die Härtefallklausel ja keine Regelbeispiele fest. – Die Regelung, die Sie jetzt einführen, geht allein zulasten der Verbraucherinnen und Verbraucher. Halten Sie das tatsächlich für angemessen?
({1})
Frau Rößner, Sie haben in Ihrer Frage die Antwort im Prinzip schon angelegt: Wir haben für die extremen Ausnahme- und Notfälle im Gesetzentwurf eine Härtefallregelung vorgesehen.
({0})
Damit wollen wir die Fälle lösen, die zu sozialen Härtefällen führen würden. Wenn Sie beispielsweise als größere Familie für alle Familienmitglieder entsprechend teure Karten kaufen, dann kommen auch größere Beträge zusammen; das stimmt. Allerdings würde ich sagen, dass in der Lebenswirklichkeit die Fälle, dass jemand, der wenig Geld hat, sehr, sehr viel Geld für kulturelle oder sportliche Eintrittskarten aufwendet, doch eher selten vorkommen dürften.
({1})
Wie gesagt: Wir haben dafür eine Härtefallregelung vorgesehen, die das aus unserer Sicht sehr gut abbildet.
({2})
Im Übrigen geht es doch um eine Güterabwägung. Auf die eine Seite der Güterabwägung bin ich schon eingegangen; die andere Seite ist, dass gewachsene Strukturen im Kulturbereich zerschlagen werden würden. Man muss sich doch auch mal mit den Fakten auseinandersetzen. Im letzten Jahr hatte der Veranstaltungsmarkt ein Volumen von über 5 Milliarden Euro. Wenn wir jetzt nichts tun würden, dann würden die Veranstalter innerhalb von fünf Monaten mit Rückforderungen in der Höhe von etwa 4 Milliarden Euro konfrontiert werden. Allein bis Ende August müssen 100 000 bis 120 000 Kulturveranstaltungen abgesagt und abgewickelt werden.
Im Übrigen ist das nur eine Maßnahme von vielen, mit denen wir versuchen, Kultur und Unternehmen insgesamt über diese schwierige Zeit hinwegzuhelfen, beispielsweise mit Honorarausfallregelungen, mit Soforthilfen – auch für freie Orchester und Ensembles – und mit vielem anderen mehr. Wir versuchen, einen Beitrag dafür zu leisten, dass es nicht zu Insolvenzen kommt und am Ende auch die Verbraucherinnen und Verbraucher nicht geschädigt werden.
Ich glaube, wir legen hier einen Gesetzentwurf vor, der die unterschiedlichen Interessen gerecht gegeneinander abwägt und deshalb nicht nur zu einem vertretbaren, sondern auch zu einem guten und in dieser Situation notwendigen Ergebnis kommt.
Die letzte Sekunde meiner Redezeit möchte ich Ihnen, liebe Frau Dr. Högl, widmen. Herzlichen Dank für die angenehme Zusammenarbeit, auch mit unserer Fraktion. Für die neue Aufgabe wünsche ich Ihnen alles, alles Gute und weiterhin viel Erfolg.
({3})
Vielen Dank, Kollege Thorsten Frei. – Für die Fraktion der FDP hat das Wort die Kollegin Katharina Willkomm.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Gesetz wird weit über die Krise hinaus das Vertrauen darauf beeinträchtigen, dass im Fall der Nichtleistung erbrachte Vorauszahlungen zurückgezahlt werden. Die Bereitschaft, nach der Coronakrise auf Vorkasse zu kaufen, wird sinken,
({0})
sodass diejenigen Unternehmen, die die Krise überleben, am Ende zusätzlich geschwächt werden –
({1})
so die CDU in ihrer klügsten Form, der Vorsitzende des Rechtsausschusses Professor Hirte.
({2})
Weder der rechtspolitische Sprecher Herr Luczak noch der Verbraucherschutzbeauftragte Herr Steineke haben widersprochen.
Wenn das allen klar ist: Wer führt eigentlich in dieser Koalition? Die Union offensichtlich nicht. Wenn es aber die SPD ist, frage ich mich: Wie kann das sein?
({3})
Die Partei, die angeblich für die Menschen mit dem kleinen Portemonnaie kämpft, die vielzitierte Krankenschwester, den oft erwähnten Dachdecker,
({4})
diese SPD, die in Gestalt der Verbraucherschutzministerin kommt und die Frage, wie den Kinos und Clubs, den Theatern und Sportvereinen in ihrer Not zu helfen ist, so beantwortet: „Wir schneiden genau diesem ,kleinen Mannʼ die Verbraucherechte ab.“ –
({5})
wie, meine Damen und Herren, passt das zusammen?
({6})
Der Gesetzentwurf sollte schon letzte Woche ins Plenum. Die Coronakrise ist jetzt eine Woche älter; der Entwurf kein bisschen klüger. Zwangscharakter, Härtefälle, Rückwirkung – alles ist noch genauso drin, alles noch genauso schlimm.
({7})
Noch hat der Verbraucher einen Erstattungsanspruch in Geld, wenn der Veranstalter seine Leistung nicht erbringen kann. Das nehmen Sie dem Verbraucher heute weg. Mit dem ungesicherten Gutschein machen Sie den Verbraucher ungewollt zum Kreditgeber, und das auch noch zu besonders miesen Konditionen, wie die Unzumutbarkeitsregel zeigt.
Meine Damen und Herren, es ist nicht hinnehmbar, dass der Verbraucher, also der Gläubiger, gegenüber dem Unternehmer, also dem Schuldner, sämtliche persönlichen Vermögensverhältnisse offenlegen muss, um die Unzumutbarkeit nachzuweisen.
({8})
Aus Sicht der Freien Demokraten ist Ihr Gesetzentwurf für einen Zwangsgutschein falsch. Es geht nur freiwillig,
({9})
und das haben wir in unserem Antrag sowohl für den Veranstaltungsbereich als auch für den Reisebereich ausbuchstabiert: Die Erstattung in Geld muss möglich bleiben, der Gutschein soll nicht personengebunden sein, und die Einlösung darf nichts extra kosten. Das Gesetz muss sicherstellen: Bei Nichteinlösung bis Ende 2021 erstattet der Veranstalter unaufgefordert und unverzüglich den Ticketpreis. Das Insolvenzrisiko der Unternehmer wird nicht ganz auf den Verbraucher abgewälzt. Schließlich sind die Gutscheine abzusichern, indem betroffene Unternehmen Zugang zum Wirtschaftsstabilisierungsfonds erhalten.
Vielen Dank.
({10})
Vielen Dank, liebe Frau Kollegin Willkomm. – Für die Fraktion Die Linke hat als Nächste das Wort die Kollegin Amira Mohamed Ali.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Es erscheint erst mal als eine gute, solidarische Idee, dass Konzerthäuser und Theater, deren Veranstaltungen wegen der Coronakrise ausfallen müssen, jetzt Gutscheine ausgeben dürfen, anstatt den Kunden das Geld zurückerstatten zu müssen. So, könnte man meinen, leistet jeder Kunde einen kleinen Beitrag für die Erhaltung der Kulturszene, die Hilfe wirklich bitter nötig hat. Aber das ist ein Trugschluss.
Was die Bundesregierung uns hier vorlegt, das ist nur eine Scheinlösung.
({0})
So werden Sie zum einen die Branche nicht retten, zum anderen höhlen Sie den Verbraucherschutz aus, und beides ist inakzeptabel.
({1})
Ja, die Häuser, die bereits viele Eintrittskarten verkauft haben, profitieren kurzfristig. Aber: Irgendwann müssen die Gutscheine ja auch eingelöst werden, und dann fehlen die Einnahmen. Das Problem wird also nur vertagt. Außerdem bringt diese Regelung all den kleinen Theatern und Konzerthäusern, die einen geringen oder gar keinen Vorverkauf hatten, überhaupt nichts. Sie steuern weiterhin ungebremst in die Pleite, Menschen verlieren ihren Arbeitsplatz; kulturelle Vielfalt geht verloren. Genau das darf doch nicht geschehen, Kolleginnen und Kollegen.
({2})
Und, meine Damen und Herren von der Regierung: Sie zerstören so auch das Vertrauen der Verbraucherinnen und Verbraucher. Denn wer jetzt sein Geld nicht zurückbekommt, obwohl es eigentlich sein gutes Recht sein sollte, der überlegt es sich doch später zweimal, ob er noch einmal dazu bereit ist, im Vorverkauf Konzertkarten oder Ähnliches zu erwerben. Das wird die ganze Branche langfristig schädigen. – Sie haben es richtig gesagt, Frau Kollegin Willkomm.
({3})
Und was ist mit den Verbraucherinnen und Verbrauchern, die das Geld jetzt dringend brauchen, weil sie selber in finanziellen Schwierigkeiten sind, weil sie durch die Coronakrise in Kurzarbeit sind, weil sie ihren Arbeitsplatz verloren haben? Die Antwort der Bundesregierung ist da lapidar. Da steht: Wem es aufgrund seiner persönlichen Lebensumstände unzumutbar ist, einen Gutschein anzunehmen, der bekommt sein Geld zurück. – Im Klartext: Man soll dem Theater, dem Kino seine Einkommensverhältnisse offenlegen, um sein Geld zurückzubekommen. Wo kommen wir denn da hin!
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Es sind noch nicht einmal Kriterien für die Zumutbarkeit im Gesetz geregelt. Wer soll das am Ende entscheiden: der Veranstalter, die Gerichte? Bei allem Verständnis für die Ausnahmesituation, in der wir sind, aber manches treibt hier wirklich bunte Blüten.
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Eines möchte ich als Juristin noch mal ausdrücklich sagen: Sie hebeln hier einen zentralen Rechtsgrundsatz unseres Zivilrechts aus, der lautet: Ohne Leistung keine Gegenleistung. – Wenn ich also für ein Konzert bezahlt habe, das dann nicht stattfindet, bekomme ich mein Geld zurück. Diesen zentralen Grundsatz darf man nicht einfach aufheben. Das hat etwas mit Vertrauen in das Recht zu tun.
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Es ist nicht mal eine Insolvenzabsicherung dabei. Das heißt: Wenn der Veranstalter pleitegeht, dann gehen die Kunden komplett leer aus. Und bei Ihren Plänen für Kunst und Kultur sind die Pleiten leider vorprogrammiert.
Wir brauchen einen wirksamen Schutzschirm für die Veranstaltungshäuser, aber nicht nur für die, auch für die Künstlerinnen und Künstler. An die denken Sie bei dieser Regelung übrigens überhaupt nicht.
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Das wäre der richtige Weg: –
Kommen Sie bitte zum Ende.
– kein Zwangskredit, der wenig oder gar nichts bringt, auf Kosten des Verbraucherschutzes. Freiwillige Gutscheine: ja. Zwangsgutscheine: ein klares Nein.
Vielen Dank.
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Der nächste Redner: für Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Erhard Grundl.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Schönheit, Trost, Provokation, Inspiration – Kunst ist vieles. Deshalb wird sie verfolgt. Und darum braucht eine freiheitliche Gesellschaft Kunst. Diese Kunst ist derzeit in ihrer Existenz bedroht. Auch wirtschaftlich geht es um viel. Die Kultur- und Kreativwirtschaft erzielte 2018 etwa 100 Milliarden Euro Bruttowertschöpfung. Knapp 1,2 Millionen Beschäftigte arbeiten in der Branche, davon viele als Selbstständige, mit 21,5 Prozent mehr als in allen anderen Branchen. Sie alle sind quasi mit Arbeitsverbot belegt. Der Shutdown, so notwendig er ist, trifft sie alle hart.
Manche Maßnahmen des Bundes kamen schnell, aber auf die spezifischen Bedürfnisse von Kulturschaffenden, Künstlerinnen und Künstlern waren und sind sie nicht zugeschnitten. Deren Hilferufe dürfen nicht länger untergehen.
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Eine Soforthilfe etwa, die nur Betriebskosten deckt, geht an der Lebensrealität von Künstlerinnen und Künstlern haarscharf vorbei. Der Zugang zur Grundsicherung, den Sie, Frau Grütters, als Allheilmittel immer wieder betonen, kann zur Existenzsicherung beitragen, ja – aber nur, wenn die unternehmerische Freiheit nicht eingeschränkt wird und wenn Rücklagen für die Alterssicherung nicht angetastet werden müssen. Denn diese Rücklagen brauchen befristet Beschäftigte dringend, weil sie Rentenlücken überbrücken müssen. Ich vermisse hier Ihr Verständnis, Frau Kulturstaatsministerin, gerade für die Arbeitsrealitäten vieler Kulturschaffender.
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Wir befinden uns im roten Bereich der Gain-Anzeige am kulturpolitischen Mischpult, und das ist schon jetzt eine Katastrophe für ganz viele. Für alle angekündigten Hilfsangebote gilt: Es ist oft unklar, was gegebenenfalls zurückgezahlt werden muss. Das wiederum bedeutet nichts anderes, als in eine unsichere Zukunft hinein Schulden anzuhäufen. Bereits bewilligte Fördermittel müssen ausgezahlt und umgewidmet werden können, um Kultureinrichtungen und Arbeitsplätze zu erhalten.
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Die von Ihnen vorgeschlagene Gutscheinlösung für die Veranstaltungsbranche ist dabei keine Lösung. Sie verteilt die Risiken einseitig und schafft Rechtsunsicherheit. Zwangsgutscheine kündigen die Solidarität in unserer Gesellschaft ein Stück weit auf; denn Solidarität kann nicht verordnet werden.
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Wie auch beim Verbraucherschutzgesetz bleibt der Verbraucherschutz auf der Strecke.
Wir müssen jetzt auch die Wiedereröffnung der Kultureinrichtungen orchestrieren, und alle Kultureinrichtungen brauchen einen Fahrplan. Sie brauchen endlich Antworten auf Fragen wie zum Beispiel: Was ist eine Großveranstaltung? Oder: Welche Schutzmaßnahmen sind nötig?
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Unser Antrag sieht vor, einen Kulturrettungsfonds einzurichten, um die Lücken im jetzigen Maßnahmenpaket zu schließen.
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Wir brauchen etwa auch eine zentrale Beratungsstelle, einen Helpdesk für alle Betroffenen.
Meine Damen und Herren, wir sind zu Recht stolz auf unsere weltoffene Kulturlandschaft. Wir sind dankbar für die kreativen digitalen Angebote von Künstlerinnen und Künstlern weltweit, von Igor Levit bis zu den Klubs, die für uns per „United We Stream“ Livemusik machen, und vielen, vielen anderen.
Aber von Luft, Liebe und Dankbarkeit können Kunst und Kultur nicht leben.
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Dass große digitale Plattformen am Kulturangebot im Netz verdienen, Künstlerinnen und Künstler aber leer ausgehen, das muss sich ändern. Lassen Sie uns die Grundlagen schaffen, damit Kunst – Livekunst – in ihrer Vielfalt, ihrem Reichtum, ihrem Widerspruchsgeist und ihrer Schönheit trotz der Pandemie erhalten bleibt.
Ich danke Ihnen.
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Die nächste Rednerin: für die CDU/CSU-Fraktion die Kollegin Gitta Connemann.
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Danke, Herr Präsident. – König Salomo: Sein Name steht für weise Entscheidungen, die allen Interessen gerecht werden – wie unsere heutige Gutscheinlösung. Denn damit helfen wir am Ende Veranstaltern, Künstlern und den Kunden.
Seit Beginn der Coronakrise wurden alle Veranstaltungen abgesagt. Bis Ende August summiert sich das im Bereich der Kultur auf 120 000 Veranstaltungen. Darunter leiden die Besucher. Aber ins Mark getroffen sind die Veranstalter und die Künstler – existenziell.
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Darauf hat unsere Kulturstaatsministerin Monika Grütters reagiert. Liebe Monika Grütters, du kämpfst wie eine Löwin für unsere Künstler, für die Kultur – von Soforthilfen über Honorarausfallgelder bis hin zu Orchesterprogrammen. Gemeinsam mit unseren Rechts- und Kulturpolitikern hast du diese Lösung mit auf den Weg gebracht.
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Danach dürfen Kulturveranstalter ihren Kunden einen Gutschein ausstellen. Wer das Geld braucht, bekommt es zurück. Alle anderen dürfen sich weiter auf die Veranstaltung freuen; die Eintrittskarte dafür haben sie ja bereits in der Tasche.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Barrientos?
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Ja, gerne.
Ganz vielen Dank, dass ich eine Zwischenfrage stellen darf. – Sie haben gerade gesagt, diese Gutscheinregelung würde sowohl Veranstaltern als auch Künstlerinnen und Künstlern oder wem auch immer, sogar den Verbrauchern helfen. Das ist Unsinn. Es hilft weder den Veranstalterinnen und Veranstaltern – es hilft einigen, aber nicht allen –, und es hilft schon gar nicht den Verbraucherinnen und Verbrauchern. Ich möchte mal ein Fallbeispiel aufmachen.
Nein, Sie haben eine Frage.
Doch, ich möchte dann die Frage beantwortet haben, wie Sie sich dieses Fallbeispiel konkret vorstellen.
Ich bin also Kundin A und habe für meine Kinder und mich einen Konzertbesuch bei Bob Dylan am Strand gebucht. Da gibt es einen Veranstalter, es gibt eine Location, es gibt einen Künstler. Wer profitiert jetzt von dieser Gutscheinregelung, der Veranstalter, der Künstler, der Ticketverkäufer oder die Location? Das wäre die erste Frage.
Es gibt nur eine Frage, Frau Kollegin.
Okay, dann lasse ich die Frage weg –
Gut.
– und ergänze meine Frage.
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Frau Kollegin, bitte.
Der nächste Punkt ist: Sie haben den Kolleginnen und Kollegen, die vor Ihnen gesprochen haben, nicht zugehört; aber Sie haben immer reingerufen: Das Geld ist ja schon ausgeben; es ist sowieso egal. – Also ist es dann sowieso egal? Oder bekomme ich einen Gutschein für den Veranstalter oder die Location oder den Künstler oder wofür eigentlich?
Also, die Frage ist verstanden. – Ich würde sagen, wir lassen jetzt die Frau Kollegin antworten. Bitte schön.
Frau Kollegin, Sie haben es genau auf den Punkt gebracht: Das Geld ist ausgegeben, in Ihrem Fall für ein Konzert von Bob Dylan, und dazu möchte ich Ihnen gratulieren; das ist eine kluge Entscheidung.
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Und das Gute ist – ich glaube, das haben Sie nicht begriffen –, dass mit dieser Gutscheinlösung ja nicht die Veranstaltung in Gänze aufgehoben ist, sondern dass Sie sich auch im kommenden Jahr genau auf dieses Konzert freuen dürfen. Damit sind Sie doch Gewinnerin; die Eintrittskarte haben Sie ja bereits in der Tasche.
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Deswegen sprechen wir, meine Damen und Herren, hier von einer salomonischen Lösung. Die wird hier im Haus von der Opposition abgelehnt; wir haben es gehört. Sie setzen auf Freiwilligkeit; aber, meine Damen und Herren, diese Möglichkeit gibt es bereits. Zur Wahrheit gehört: Sie wird kaum genutzt.
Im Ernst: Sie singen hier das Hohelied der Liebe für Kunst und Kultur.
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Aber Künstlerinnen und Künstler leben nicht von Luft, nicht von Liebe, nicht von warmen Worten. Sie brauchen Geld, keine Almosen, sondern Einkommen.
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Und hier könnten Sie sich beweisen – für die Künstler –, nicht mit Krokodilstränen, sondern mit entsprechenden Worten. Aber ich sage ganz deutlich: Wenn es hart auf hart kommt, etwas für Künstlerinnen und Kultur zu tun, dann sind Sie nicht da. So ist das eben mit Parteien, die nur für den Sonnenschein oder den Sozialismus taugen: warme Worte, falsche Taten.
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Reden wir an dieser Stelle doch mal Klartext: Wie soll das funktionieren, wenn jeder sein Ticket zurückgibt? Für den Kunden sind es 12 Euro, 30 Euro oder 60 Euro pro Karte; aber in der Summe sind es 5 Milliarden Euro für den Veranstaltungsbetrieb.
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Der Präsident der Veranstaltungswirtschaft, Jens Michow, hat die Folgen drastisch beschrieben – ich zitiere –: „Wenn die Gutscheinlösung nicht kommt, wird es in der Veranstaltungsbranche ein Blutbad geben.“ Wollen Sie das? Wollen das die Bürger in unserem Land? Die Antwort der CDU/CSU-Bundestagsfraktion lautet: Nein.
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Die Menschen brauchen gerade jetzt Kultur für ihre Seele, für ihr Überleben. Machen Sie das bitte nicht kaputt!
Außergewöhnliche Umstände – und in denen befinden wir uns – erfordern außergewöhnliche Maßnahmen, wenn sie dem Einzelnen zumutbar sind. Dafür sorgen wir mit der Härtefallklausel. Diese Gutscheinlösung hilft allen: unserer Kulturlandschaft, damit sie facettenreich bleibt, den Kunden – noch einmal: wenn jetzt alle eine Rückzahlung fordern würden, gingen die Veranstalter in die Insolvenz; da gibt es dann für keinen mehr etwas zu holen; da ist doch der Gutschein besser – und am Ende den Künstlerinnen und Künstlern. So sichern wir ihre Zukunft nach der Krise.
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Für diesen Weg gibt es eine breite Zustimmung. Für den Deutschen Kulturrat – vielleicht hätte man sich mit dem auch mal unterhalten sollen –
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ist diese Gutscheinlösung eine – ich zitiere – „richtige und wichtige Maßnahme … Es wird … wichtige Zeit gekauft“. Präsident Michow warnt: Sollte die Regelung heute nicht beschlossen werden, „rechnen wir damit, dass 30 bis 40 Prozent … Insolvenz anmelden müssen.“
Liebe Opposition, übernehmen Sie Verantwortung! Stimmen Sie dieser salomonischen Lösung zu, für die Besucher, für die Veranstalter und für die Künstler.
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Denn was wären wir ohne Kultur? Arm dran!
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Vielen Dank, Frau Kollegin Connemann. – Für die SPD-Fraktion hat als Nächstes das Wort der Kollege Martin Rabanus.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der jetzigen Debatte um die zweite und dritte Lesung des Veranstaltungsvertragsrechtes wollen wir den Veranstaltern die Möglichkeit eröffnen, Gutscheine auszureichen, statt Ticketpreise zu erstatten. Das hilft den Veranstaltern; denn es hält Liquidität im Unternehmen und verhindert damit Insolvenz. Das hilft wiederum den Kundinnen und Kunden; denn diese haben im Falle der Insolvenz des Veranstalters natürlich mit einem Totalverlust zu rechnen. Trotzdem haben alle recht, die sagen, dass das ein tiefer Eingriff in das Vertragsrecht ist. Das hat mein Kollege Johannes Fechner schon ausgeführt.
Deswegen haben wir es uns als Sozialdemokratie – übrigens weder in diesem Parlament noch in der Bundesregierung – nicht leicht gemacht, diesen Schritt zu unternehmen. Aber in Abwägung der Vor- und Nachteile, die wir in dieser Coronakrise an vielen Stellen vorzunehmen haben, haben wir uns entschlossen, diesen zu machen. Es gibt die Härtefallregelung, die schon besprochen worden ist. Es gibt nach unserer Einschätzung auch die Übertragbarkeit der Gutscheine, die ausgereicht werden. Und es gibt am Ende – das ist die notwendige Voraussetzung im Umgang mit dieser Regelung – auch die Einsicht, dass Veranstalter und Kunden mit Augenmaß in einen Ausgleich zu bringen sind. Deswegen – Strich drunter –: in der Summe ein gutes und richtiges Gesetz, das hilft, unsere Strukturen in der Kultur zu erreichen.
Aber darüber hinaus – die Opposition hat eine ganze Reihe von Anträgen eingebracht mit zu beachtenden Punkten – brauchen wir natürlich konkrete Hilfen für Kunst und Kultur.
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Deswegen hat die SPD-Bundestagsfraktion dazu vorgestern ein Positionspapier für sich beschlossen, in dem wir noch einmal die soziale Lage der Künstlerinnen und Künstler adressieren, über die wir an verschiedenen Stellen gesprochen haben. Vor allem wollen wir noch einmal die Sicherung der kulturellen Infrastruktur zum Schwerpunkt machen.
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Wir haben uns nicht in erster Linie mit den Einrichtungen in alleiniger Bundesträgerschaft, Landesträgerschaft oder kommunaler Trägerschaft befasst, sondern sehr dezidiert mit der Situation der vielen privaten Kultureinrichtungen, die dringend Nothilfe brauchen, um die Phase des Lockdowns überstehen zu können. Ansonsten wird es vielerorts gar keinen Neustart mehr geben können, weil die kleinen Kultureinrichtungen das nicht überstehen. Das gilt für Musikklubs ebenso wie für Festivals, für Kinos, für Theater, für Orchester. Für all diese Bereiche muss etwas getan werden.
Schließlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, brauchen wir Unterstützung für die Kultur über die enge Phase des Lockdowns hinaus. Deswegen bin ich auch der Bundeskanzlerin und unserem Vizekanzler besonders dankbar, dass sie am Wochenende deutlich gemacht haben und adressiert haben, dass eine große Aufgabe zu vollbringen ist.
Herr Präsident, ich komme zum Schluss.
Bitte.
Die SPD unterstützt diese Position mit Nachdruck. Das muss uns unsere kulturelle Grundversorgung wert sein.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Der letzte Redner zu Tagesordnungspunkt 15 ist der Kollege Dr. Volker Ullrich, CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das kulturelle Leben und der Veranstaltungsbereich in Deutschland stehen seit zwei Monaten still. Gerade im Bereich Kunst und Kultur leben viele Künstler, die engagiert arbeiten, oftmals von der Hand in den Mund, und jetzt fehlen ihnen die Einnahmen.
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Jetzt stellt sich die Frage: Wie geht der Rechtsstaat mit dieser schwierigen Gemengelage um? Nach dem Leistungsstörungsrecht des Bürgerlichen Gesetzbuches hat jemand, der ein Konzert nicht besuchen kann, weil es ausfällt, natürlich einen Anspruch auf die Geldersatzleistung – gar keine Frage. Aber wir müssen uns fragen, ob in dieser Gesamtsituation das klassische Leistungsstörungsrecht tatsächlich interessengerecht ist. Es gibt in § 313 des Bürgerlichen Gesetzbuches den Gedanken des Wegfalls der Geschäftsgrundlage. Er formuliert eigentlich: Was würden beide Parteien regeln, wenn sie wüssten, dass ein großes Ereignis eintritt, welches die ursprüngliche Planung zunichtemacht? Der Umstand, dass wir gesamtgesellschaftlich aus Gründen des Gesundheitsschutzes einen Lockdown haben, ist eine Art gesamtgesellschaftlicher Wegfall der Geschäftsgrundlage.
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Deswegen müssen wir dieses Thema anders diskutieren.
Wir verlangen hier nichts Unzumutbares. Wir verlangen nur, dass aus Gründen der Interessenrettung der Kulturschaffenden und der Kunst vornehmlich Gutscheine ausgereicht werden.
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Damit bleibt das Leistungserleben für eine vorübergehende Periode bestehen. Aber wir sagen auch: Ein solcher Eingriff in das Leistungsstörungsrecht muss gut begründet werden, und wir brauchen eine Härtefallregelung. Diese Härtefallregelung findet sich im Gesetz. Ich glaube, dass wir mit dieser Härtefallregelung auch gut zurechtkommen. Ich meine, mit dem Verweis auf persönliche Gründe ist nicht gemeint – ich will das ausdrücklich betonen –, dass der Gläubiger nachweisen muss, dass er das Geld jetzt dringend braucht, sondern dass es für ihn wichtig ist, das Geld jetzt zu bekommen. Deswegen, glaube ich, reicht die Härtefallregelung aus, um damit dem Interessenausgleich gerecht zu werden. Ich weiß, dass es ein Eingriff in das Vertragsrecht ist. Aber er dient dazu, in einer Kulturnation die Belange von vielen Tausend, von vielen Zehntausend Künstlern und Kulturschaffenden zu bewahren. Ich glaube, das ist ein tragfähiger Interessenausgleich.
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Darüber hinaus müssen wir Sorge dafür tragen, dass wir unabhängig von der Gutscheinlösung über eine Art Fonds oder über Hilfszahlungen deutlich machen, dass Kulturschaffende, die im Augenblick keine Aufträge haben, nicht sofort in Hartz IV fallen,
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sondern dass sie wegen ihrer Möglichkeiten und ihrer Darstellung für die Gesellschaft insgesamt Hilfe erfahren. Dafür werden wir uns gemeinsam mit Monika Grütters im Kanzleramt einsetzen.
Herzlichen Dank.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es freut mich wirklich sehr, dass wir heute den Gesetzentwurf zur Verteilung der Maklerkosten abschließend beraten und ich in meiner letzten Rede als Abgeordnete – Herr Präsident hat gesagt: „voraussichtlich“ – um Ihre Zustimmung bitten darf.
Es ist ja bekannt, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass die SPD gerne das Prinzip „Wer bestellt, bezahlt“ umgesetzt hätte. Wir haben auch sehr lange gerungen in der Koalition; aber es ist gut, dass wir jetzt eine Einigung erzielt haben. Und es ist eine gute Einigung: Wir bekommen jetzt einheitliche, verbindliche Regelungen bei der Vermittlung von Kaufverträgen über Wohnungen und Einfamilienhäuser. Wir bekommen damit Transparenz und Rechtssicherheit.
Für die SPD möchte ich betonen: Uns war auch sehr wichtig, dass die Käufer und Käuferinnen ihren Anteil erst dann bezahlen müssen, wenn die Verkäuferinnen und Verkäufer nachgewiesen haben, dass sie ihren Anteil an der Maklerprovision gezahlt haben, sodass wir wirklich eine hälftige Aufteilung haben, und zwar Zug um Zug. Damit leisten wir wirklich einen ganz wichtigen Beitrag dazu, dass die Kaufnebenkosten gesenkt werden, gerecht verteilt werden. Wir wissen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass es für viele, die eine eigene Immobilie erwerben wollen, tatsächlich eine hohe Hürde ist, wenn die Kaufnebenkosten zu hoch sind.
Gestatten Sie mir ein paar darüber hinausgehende Bemerkungen. Das Thema „Wohnen und Miete“ war ein wirklich wichtiges Thema – es bleibt wichtig –, das für mich als Abgeordnete im Zentrum meiner Tätigkeit stand, sowohl in meinem Wahlkreis Berlin-Mitte als auch hier im Parlament. Obwohl wir kein Grundrecht auf Wohnen in unserem Grundgesetz haben, was ich persönlich sehr bedauere,
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ist das Wohnen für die Menschen doch ganz zentral und – neben Arbeit und anderen Dingen – ganz entscheidend. Wir haben gerade jetzt in der Coronakrise auch wieder gemerkt, wie wichtig es ist, eine Wohnung zu haben, in der man sich wohlfühlt.
Als ich hier angefangen habe – im Januar 2009 –, haben wir in Berlin über Leerstand diskutiert; da standen ganz viele Wohnungen leer. Das hat sich radikal geändert, in kürzester Zeit. Heute reden wir über Verdrängung und über enorme Mietsteigerungen.
Das Thema „Wohnen und Miete“, liebe Kolleginnen und Kollegen – auch das ist bekannt –, ist in der Koalition kein leichtes Thema gewesen. Wir haben wirklich um jedes Komma, um jeden Halbsatz gerungen, bei jedem einzelnen Gesetzentwurf. Und wenn man berücksichtigt, dass ich zu denjenigen gehöre, die in Berlin den Mietendeckel mit auf den Weg gebracht haben, und Teile der Unionsfraktion gegen den Mietendeckel in Karlsruhe klagen, dann weiß man, wie groß die Spannungen bei diesem Thema innerhalb der Koalition sind. Trotzdem möchte ich betonen, dass wir viel auf den Weg gebracht haben in den letzten Jahren. Die SPD war hartnäckig, und in der Koalition konnte eine Einigung erzielt werden. Ich erinnere daran, dass wir die Mietpreisbremse eingeführt haben, das Wohngeld erhöht und angepasst haben sowie die Themen der Förderung des sozialen Wohnungsbaus, der Modernisierungsumlage und – heute – der gerechten Verteilung der Maklerkosten angegangen sind.
Wir haben hier aber noch eine Menge auf der Agenda, und ich hoffe, dass das nicht in Vergessenheit gerät; ich weiß sogar, dass das nicht der Fall sein wird. Es ist wirklich dringend nötig, dass wir beim Gewerbemietrecht zu Regelungen kommen.
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Wir brauchen Regelungen, die eine verbindliche und rechtssichere Aufstellung von Mietspiegeln ermöglichen. Und am Baugesetzbuch wird ja auch gearbeitet.
Jetzt, ganz zum Schluss, liebe Kolleginnen und Kollegen, möchte ich mich ganz herzlich bedanken. Elf Jahre war ich hier Abgeordnete, und ich bedanke mich für elf Jahre wirklich gute Zusammenarbeit. Vielen lieben Dank für den kollegialen Austausch!
Ich möchte mich bei dieser Gelegenheit auch dafür bedanken, dass Sie mir Ihr Vertrauen geschenkt haben und mich zur Wehrbeauftragten gewählt haben. Das bedeutet mir sehr viel. Ich freue mich sehr auf die neue Aufgabe. Ich bin ja nicht weg, sondern wechsele nur den Platz, habe alle weiterhin im Blick und freue mich dann natürlich in neuer Rolle auf weiterhin gute Zusammenarbeit.
Ich wünsche Ihnen und euch alles Gute und viel Erfolg bei der weiteren Arbeit für unsere Demokratie. Auf ein Wiedersehen!
Danke schön.
({2})
Vielen Dank, Frau Kollegin. Alles Gute für Ihre neue Aufgabe! – Der nächste Redner für die Fraktion der AfD ist der Kollege Dr. Lothar Maier.
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Noch einmal: Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wenn wir heute hier über die Maklerkostenentwicklung reden, dann reden wir im Grunde zumindest auch über die Folgen einer Entwicklung, die zu einer Explosion der Immobilienpreise in Deutschland geführt hat.
In vielen Städten ist es innerhalb von nur zehn Jahren zu einer Verdoppelung der Immobilienpreise gekommen. Hier in Berlin finden Sie Viertel, in denen diese Verdoppelung der Preise sieben Jahre gedauert hat. Durchschnittlich verdienende Familien, die sich noch vor 10, 15 Jahren ohne Weiteres ein Eigenheim, eine Dreizimmerwohnung, leisten konnten, können das heute aufgrund dieser Preisentwicklung nicht mehr.
Hier müssen wir uns durchaus auch ein Stück an die eigene Nase fassen. Wir – nicht nur dieses Hohe Haus, sondern der Staat insgesamt, auch auf der Ebene der Länder und der Gemeinden – haben über Jahrzehnte dazu beigetragen, dass durch immer neue und weitergehende Auflagen das Bauen systematisch verteuert wurde.
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Das ist aus verschiedenen Gründen geschehen: Barrierefreiheit, Energieeinsparung, Einbruchsicherheit, Lärm- und Brandschutz und vieles andere mehr. Das alles ist natürlich wünschenswert, aber je höher die Standards werden, desto höher sind die Preise und am Ende auch die Mieten.
Vor einer Reihe von Jahren hat ein sehr luzider Manager eines großen deutschen Automobilkonzerns mit einem französischen Namen mal gesagt: Unsere Autos werden immer besser. Bald werden sie so gut sein, dass sie sich kein Mensch mehr leisten kann.
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So ähnlich ist es in der Bauwirtschaft auch gekommen.
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Nun heißt es, hier gegenzusteuern. Das wäre zum Beispiel möglich, indem wir die Grunderwerbsteuer senken. Das machen wir natürlich nicht. Es könnten ja Steuern verloren gehen. Wir könnten an die Notargebühren rangehen. Das machen wir natürlich auch nicht. Wir wollen diese Klientel ja nicht verschrecken.
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Die aktuelle Situation sieht so aus: In einigen Bundesländern ist das, was der Gesetzentwurf vorsieht, nämlich die Teilung der Maklerkosten zwischen Käufer und Verkäufer, schon Realität. Es ist aber uneinheitlich. In manchen Bundesländern ist diese Teilung Realität, in anderen Bundesländern – Berlin, Brandenburg, Hessen, Hamburg, Bremen – zahlt der Käufer grundsätzlich alles.
Die im Gesetzentwurf vorgesehene Kostenteilung ist im Prinzip ja akzeptabel, aber sie kann umgangen werden, und es besteht die Gefahr, dass der Käufer am Ende auch noch Grunderwerbsteuer auf die Maklerkosten zahlen muss.
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Maklerprovisionen wären dann akzeptabel, wenn sie in einer degressiven Weise nach der Höhe der Kosten des Immobilienerwerbs gestaffelt wären. Es wäre vernünftig, bei einem Objekt, das eine Million Euro kostet, eine Maklergebühr von 2 oder 3 Prozent zu vereinbaren und bei einem Objekt in einer benachteiligten Region, das 60 000, 70 000 oder 80 000 Euro kostet, eine Maklergebühr von 6, 7 oder mehr Prozent zu verlangen; denn der Einsatz des Maklers ist dort ja auch viel größer.
Schließlich meine ich, auch die Deckelung der Maklerkosten auf eine bestimmte Maximalhöhe sollte kein Tabu sein. Es gibt Gebührenordnungen für Ärzte, für Anwälte, für Notare. Warum sollte es eine solche Gebührenordnung nicht auch für die Makler geben?
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Das wäre zumindest ein Beitrag, um hier eine Situation wiederherzustellen, in der das Wohnen wieder bezahlbar ist. Das verlangen ja viele von Ihnen – auch in Ihren Wahlkämpfen –: Macht das Wohnen bezahlbar! – Hier ist die Gelegenheit dazu.
Ich danke Ihnen.
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Vielen Dank, Professor Maier. – Der nächste Redner ist für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Dr. Jan-Marco Luczak.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zunächst festhalten: Heute ist nicht nur ein guter Tag für die Kultur – aufgrund der gerade beschlossenen Gutscheinlösung –, sondern heute ist auch ein guter Tag für das Eigentum. Mit der Regelung, die wir jetzt beschließen wollen – der Teilung der Maklerkosten –, wollen wir als Union und als Große Koalition etwas dafür tun, dass die Eigentumsbildung in unserem Land besser möglich wird. Ich glaube, das ist ein großer Wunsch von vielen Familien.
Über 80 Prozent der Menschen träumen davon, in den eigenen vier Wänden zu wohnen. Das zeigt ja etwa auch der große Erfolg des Baukindergeldes; wir können jetzt schon 180 000 Anträge im Umfang von vielen Milliarden Euro verzeichnen. Den Menschen den Traum von den eigenen vier Wänden zu ermöglichen, ist das Ziel dieses Gesetzentwurfs.
Was hindert die Menschen an der Verwirklichung dieses Traums? Ganz oft sind es die hohen Kaufnebenkosten. Es gibt zum Beispiel die Grunderwerbsteuer; sie ist gerade schon angesprochen worden. Wir als Union streiten in besonderer Weise darum, dass diese Grunderwerbsteuer gesenkt wird. Das ist eine Sache, die wir als Bundesgesetzgeber nicht selber machen können; da sind die Länder in der Pflicht. Ich würde mir wünschen, dass sich gerade die Länder, die in besonderer Weise darauf drängen, dass man auch bei den Mieten etwas macht, vielleicht auch mal an die eigene Nase fassen und gucken, wo die Kostentreiber sind, gegen die man etwas tun kann, zum Beispiel eben gegen die Grunderwerbsteuer.
Richtig ist aber: Zu den Kaufnebenkosten gehören zu einem wesentlichen Anteil auch die Maklerkosten. Deswegen setzen wir bei diesem Gesetzentwurf dort an. Wir teilen die Maklerkosten zukünftig; halbe-halbe soll es zukünftig sein. Ich glaube, das ist eine wirklich faire und gerechte Lösung. Das zeigt sich ja auch daran, dass diese Regelung heute schon in 11 von 16 Bundesländern Realität ist, ohne dass der Gesetzgeber dort irgendwie eingreifen musste; das hat sich als Marktstandard entwickelt.
Wir übertragen diese von den Beteiligten als fair und gerecht empfundene Lösung jetzt auf das gesamte Bundesgebiet, weil es in der Tat auch Gebiete gibt, in denen Wohnungsknappheit herrscht – in den Ballungsgebieten, in den großen Städten – und die Käufer in einer schwächeren Verhandlungsposition sind. Dort müssen sie heute die Provision noch alleine zahlen. Wir sagen jetzt: „Nein, zukünftig muss diese Provision geteilt werden“, und wir verknüpfen beides miteinander. Der Anteil, den der Verkäufer an der Provision zahlen muss, und der Anteil, den der Käufer an der Provision zahlen muss, müssen zukünftig gleichgewichtet sein.
Damit sorgen wir für einen ganz klugen marktwirtschaftlichen Mechanismus; denn es gibt ja immer Situationen, in denen es einen Marktstärkeren und einen Marktschwächeren gibt. In der Regel wird es der Marktstärkere sein, der mit dem Makler in Kontakt tritt und mit ihm über die Provision verhandelt. Aus seiner Position der Stärke heraus wird er natürlich einen Anreiz haben, die Provision herunterzuhandeln. Das kann er eben auch, weil er in der starken Position ist. Das führt automatisch dazu, dass der Marktschwächere am Ende auch davon profitiert, weil ein Verkäufer hier in Berlin zum Beispiel sagen wird: Ich zahle doch nicht die Hälfte von 7,14 Prozent, sondern nur von maximal 5 Prozent. Das heißt, am Ende hat tatsächlich auch der Käufer etwas davon. Deswegen ist das ein kluger marktwirtschaftlicher Mechanismus, für den wir dort sorgen.
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Für uns war an dieser Stelle Folgendes auch noch ganz wichtig: Für die meisten Menschen ist der Immobilienerwerb die größte Investition ihres Lebens. Deswegen brauchen sie an dieser Stelle auch eine gute Beratung. Mit dieser Verknüpfung, dieser Teilung der Maklerprovision, wird der Makler zukünftig beiden Vertragsparteien verpflichtet sein. Er muss beide kompetent beraten.
Ich glaube, das ist etwas, was es gerade beim Bestellerprinzip, was hier ja gelobt worden ist, nicht gegeben hätte. Dort hätte man in der Regel eine einseitige Beratung nur zugunsten des Bestellers gehabt. Das heißt, der andere wäre am Ende schutzlos gewesen. Beim Bestellerprinzip – wir haben ja lange darüber diskutiert – wäre es für den Marktstärkeren darüber hinaus ein Leichtes gewesen, diesen Provisionsanteil, den er selber hätte zahlen müssen, einfach auf den Kaufpreis draufzuschlagen. Das wären für den Käufer am Ende in der Regel Steine statt Brot gewesen. Er hätte nicht nur einen höheren Kaufpreis, sondern auch eine höhere Grunderwerbsteuer und höhere Notarkosten zahlen müssen. Das wäre kein guter Mechanismus gewesen.
Deswegen ist es richtig, dass wir die Teilung der Maklerkosten beschlossen haben. Das ist ein guter Tag für das Eigentum, und deshalb bitte ich Sie alle hier herzlich um Zustimmung.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege. – Die nächste Rednerin: für die Fraktion der Freien Demokraten die Kollegin Katharina Willkomm.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die absolute Mehrheit der Deutschen träumt den Traum vom Eigenheim. Die eigenen vier Wände befreien: keine Mietenexplosion, keine Eigenbedarfskündigung, dafür finanzielle Sicherheit bis ins hohe Alter. Wir Freien Demokraten streben daher seit Jahren danach, Deutschland in die Eigentümernation zu verwandeln, in der die meisten Menschen gerne leben würden.
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Ein kurzer Blick in die Statistik aber ernüchtert: Das reichste Land der EU vermag es nicht, seinen Bürgern den Weg ins Eigenheim zu ebnen. Wohlstand für alle bleibt ein Ideal, Stillstand für viele ist die Realität. Die hohe Abgabenlast macht es Familien mit kleinem oder mittlerem Einkommen nahezu unmöglich, nennenswerte Rücklagen für den Hauskauf anzusparen.
Immerhin hat die Bundesregierung endlich erkannt, was wir Freien Demokraten seit Jahren sagen: Die Kaufnebenkosten sind zu hoch. Vor allem zwei Posten fallen dabei ins Gewicht: die Grunderwerbsteuer, die immer anfällt, und die Maklerprovision, falls sie anfällt.
Der Regierungsentwurf setzt aber alleine bei den Maklerkosten an. Zumindest macht er eines richtig: Er verzichtet auf einen starren Provisionsdeckel. Viele Makler müssen ihr Geld auf dem flachen Land verdienen; für sie wäre ein Deckel schlichtweg ruinös. Stattdessen sollen Verkäufer und Käufer zukünftig gemeinsam zahlen; so hat auch der Verkäufer ein Interesse, die Provision niedrig zu halten. Klingt zunächst logisch. Doch auch in den Bundesländern, in denen die Provision schon seit Jahrzehnten geteilt wird, ist die Provision in Summe genauso hoch wie überall sonst. Die Verkäufer werden ohnehin ihren Provisionsanteil – wenn auch nicht komplett, so doch zu einem Teil – einfach auf den Kaufpreis aufschlagen.
Sie sagen, Sie wollen die Käufer entlasten. Aber in begehrten Ballungsgebieten, wo Häuser zu Mondpreisen verkauft werden, wird Ihre Regulierung keine Entlastung bringen.
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Der Entwurf krankt zudem an einem Informationsproblem: Der Käufer muss seinen Teil der Provision erst zahlen, wenn der Verkäufer schon bezahlt hat; Nachlässe bei der Provision sollen beiden Kaufvertragsparteien zugutekommen. Aber woher sollen die Beteiligten wissen, wer was gezahlt hat und welche Provision vereinbart war? Hier fehlt es an Transparenz. Die hätte eine deklaratorische Klausel im Kaufvertrag bringen können. Aber Sie haben das nicht festgeschrieben, Sie haben es verpennt, und die Käufer werden es ausbaden.
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Wenn Sie den Menschen wirklich helfen wollen, gehen Sie den direkten Weg: Senken Sie die Steuern! Wir Freien Demokraten fordern deshalb einen Freibetrag bei der Grunderwerbsteuer; einen entsprechenden Antrag haben wir – leider erfolglos – in diesem Hohen Haus bereits vorgelegt. Damit würde der Kauf des Eigenheims schlagartig erheblich günstiger, und Umgehungstricks wären ausgeschlossen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin. – Für die Fraktion Die Linke hat das Wort die Kollegin Caren Lay.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wohnen wird immer teurer. Das gilt nicht nur für Mietwohnungen, sondern auch für Eigenheime; denn die Preise für Boden, für Bau, für Wohnungen sind in den vergangenen zehn Jahren explodiert, und sie steigen weiter.
Der Traum vom eigenen Haus gerät für viele Menschen immer mehr in weite Ferne, für Menschen mit Durchschnittseinkommen wird er immer unerschwinglicher, wegen der steigenden Kosten, aber auch, weil die Mieten einen immer größeren Teil der Einkommen auffressen. Dagegen könnte man sehr viel tun,
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höhere Löhne und niedrigere Mieten zum Beispiel.
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Oder eine Begrenzung der Bodenpreise durch einen Bodenpreisdeckel.
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Oder dafür sorgen, dass bundesweit Mietendeckel gelten.
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Alles das fordert Die Linke seit vielen Jahren, doch bei der Regierung Fehlanzeige.
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Heute sprechen wir über eine andere, über eine kleinere Stellschraube, nämlich über die Begrenzung von Maklergebühren. Wer in Deutschland eine Wohnung kauft, muss in aller Regel neben hohen Kaufpreisen auch noch hohe Maklergebühren übernehmen, bis zu 7 Prozent des Kaufpreises zusätzlich. Wer eine Eigentumswohnung für 430 000 Euro kauft, muss also zusätzlich 30 000 Euro Maklerkosten zahlen. Das ist doch eine absurd hohe Summe! In Großbritannien und in den Niederlanden liegen die Gebühren unter 2 Prozent; daran sollten wir uns ein Beispiel nehmen!
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Diese hohen Gebühren stehen auch in keinem Verhältnis zur Leistung des Maklers; denn in angespannten Wohnungsmärkten ist der Verkauf einer Wohnung oft ohne besonderen Aufwand möglich – weil ja jeder froh ist, der überhaupt was abkriegt. Deswegen sagen wir: Maklergebühren müssen auch in der Höhe begrenzt werden. 2 Prozent vom Kaufpreis sind genug.
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Der zweite Weg zu einer Kostenreduzierung wäre in der Tat das Bestellerprinzip, will heißen: Wie in einer Kneipe sollte gelten: Wer bestellt, der bezahlt. In der Praxis ist es aber häufig so, dass der Verkäufer oder die Verkäuferin bestellt und der Käufer die Kosten trägt, zum Teil oder zum großen Teil ganz allein. Das Bestellerprinzip ist im Mietwohnungsmarkt eingeführt worden; es sollte endlich auch beim Kauf von Eigenheimen gelten.
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Und es war ja ursprünglich auch geplant, im Referentenentwurf. Aber leider hat die Koalition – ich vermute, insbesondere die Union; wie so häufig – dem Druck der Lobby nachgegeben, in dem Fall der Maklerlobby.
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Ohne eine Begrenzung der Gebühren und ohne das Bestellerprinzip erfüllt das Gesetz einfach nicht seinen Zweck.
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Meine Damen und Herren, wir als Linke haben klar gesagt: Ob Miete oder Eigenheim, Wohnen muss bezahlbar sein. Schon wieder wird heute eine Chance vertan, der Kostenexplosion Einhalt zu gebieten. Und das finde ich überaus schade.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Lay. – Der nächste Redner ist für Bündnis 90/Grüne der Kollege Christian Kühn.
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Sehr geehrter Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Beratungen heute zum Gesetzentwurf zur Maklercourtage offenbaren, finde ich, eines: dass diese Große Koalition bei der Frage des Wohneigentums keinen ordnungspolitischen und keinen marktwirtschaftlichen Kompass hat; das ist leider so.
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– Das ist so. Denn wir beschließen heute nichts anderes als die Privilegierung von Maklern
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und lösen das Versprechen, das in der Marktwirtschaft gilt – derjenige, der bestellt, bezahlt –, nicht ein.
Anders als bei den Mietwohnungen und bei der Vermietung wird es weiter so sein, dass Makler privilegiert sind im Land. Das halte ich für grundfalsch.
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Sie sind heute nichts anderes, Herr Luczak, als der Schutzheilige der Makler in Deutschland; das muss man einfach so sagen.
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Ich sage Ihnen auch, warum: Auf drei Vierteln aller Märkte in Deutschland ändert sich einfach gar nichts. Herr Frei, in Baden-Württemberg ändert sich gar nichts; da bleibt alles beim Alten. Zu sagen, dass das eine Entlastung ist für zukünftige Eigentümer und Eigentümerinnen, ist einfach Quatsch, ist einfach absurd, weil sich am Markt in drei Vierteln der Länder nichts ändert.
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Sie nehmen den Exzessen die Spitze, das ist richtig – weil Sie gar nicht anders konnten, weil das so skandalös war, was an Preisen in Berlin und Hamburg verlangt worden ist und wie dort die Makler aufgetreten sind, dass es gar nicht anders ging. Aber zu sagen, dass Sie in der Breite die Menschen entlasten, ist einfach grundfalsch und auch der Fehler Ihres Denkens.
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Wenn jetzt mit dem Gesetzentwurf die hälftige Teilung eingeführt wird, sind das bei einer Eigentumswohnung für 350 000 Euro immer noch über 12 000 Euro, die der Käufer an den Makler zahlen muss.
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Ich meine, das ist wirklich zu viel an Transaktionskosten angesichts der Digitalisierung, angesichts der Standardisierung von Verfahren, angesichts dessen, dass diese Märkte massiv überhitzt sind.
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Ihnen fehlt der ordnungspolitische Rahmen. Sie haben dem Lobbydruck des IVD einfach stattgegeben. Sie haben selbst von der „fairen Maklercourtage“ gesprochen – das war ja der Werbeslogan der Kampagne des IVD, Herr Luczak, nichts anderes.
Wenn Sie sich die Anhörung im Rechtsausschuss noch mal vergegenwärtigen, sehen Sie: Rechtlich ist es gar kein Problem, das Bestellerprinzip einzuführen. Ökonomisch macht es Sinn. Und auch alle Verbraucherschützer im Ausschuss haben sich klar dafür ausgesprochen. Das Fazit des Ausschusses ist doch ganz deutlich: Die derzeitige Praxis ist für die Käuferseite nicht interessengerecht. Das haben die Juristen, die dort saßen, die Professoren ganz einhellig gesagt.
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Deswegen sage ich Ihnen: Das Bestellerprinzip, das wir Grünen fordern, ist Ihrer hälftigen Teilung rechtlich deutlich überlegen.
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Es gibt nicht den Diener zweier Herren, weder in der Komödie noch auf dem Immobilienmarkt.
Sie haben davon gesprochen, dass die Makler den Kaufenden sozusagen beraten. Das ist doch falsch. Der Makler hat gar keine Pflichten gegenüber dem Käufer. Ihm verlangen Sie ja nicht mal Sachkunde ab. Deswegen macht Ihr Gesetzentwurf gar keinen Sinn. Mit der Digitalisierung sinken überall die Transaktionskosten, nur beim Immobilienerwerb nicht – weil Sie eben Ihre schützende Hand über diese Branche halten; ich halte das für einen Skandal. Was wir brauchen, ist ein echtes Bestellerprinzip in Deutschland wie in England und in den Niederlanden, ein klarer ordnungspolitischer Rahmen. Dann werden die Preise sinken, dann wird die Qualität steigen, und dann werden auch die Immobilienpreise wieder ins Lot kommen.
Danke schön.
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Für die CDU/CSU-Fraktion ist der nächste Redner der Kollege Karsten Möring.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich wundere mich, ehrlich gesagt. Ich wundere mich über so manchen Beitrag. Ich wundere mich über die Begeisterung der AfD für eine Gebührenordnung wie bei den Ärzten. Ich wundere mich auch, lieber Kollege Kühn, über die Interpretation,
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die Sie hier abgeliefert haben, und reklamiere, was Sie eben gesagt haben: dass in den Ländern Berlin und Hamburg, in denen Sie seit längerer Zeit mitregieren, die größten Exzesse stattfinden.
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Ich sage ja nur: Ich wundere mich.
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Die Nebenkosten beim Erwerb von Eigentum sind in der Tat im Wesentlichen die Grunderwerbsteuer und die Maklerkosten. Ich möchte nur ein persönliches Beispiel sagen: Als ich vor einigen Jahren – das ist schon mehr als einige Jahre her – mein Wohnungseigentum erworben habe, habe ich für zwei Besichtigungen, durchgeführt von einer Maklerin, einen relativ hohen fünfstelligen Betrag an Maklergebühren zahlen müssen. Ich habe wahrscheinlich zu früh gekauft. Auf der anderen Seite wäre heute der Kaufpreis höher, nehme ich mal an.
Was wir jetzt mit diesem Gesetz machen, ist: Wir verbessern zwei Faktoren: Es wird nämlich mehr Qualität und mehr Wettbewerb geben – auch wenn Sie das anders sehen. Mehr Qualität, weil wir beispielsweise sagen: Gelegenheitsmakler wird es nicht geben, sondern es müssen Unternehmen sein. Ein Punkt. Der zweite Punkt betrifft den Wettbewerb: Es ist die Tatsache, dass wir nicht das Bestellerprinzip in Reinkultur einführen, sondern jeden, der bestellt, davon in Kenntnis setzen, dass er maximal die Hälfte davon weitergeben kann. Er hat ein Interesse daran, dass die Preise, die Provision sinken. Damit entsteht Wettbewerb.
Jetzt kommen wir mal zur Seite der Makler. Natürlich, da gibt es vielleicht ein paar schwarze Schafe. Aber die Makler leisten, wenn sie ordentlich arbeiten, einen erheblichen Service. Wenn dieser Service dem Verkäufer nicht ausreichend viel wert ist, warum soll er denn dann diese 50-prozentige Gebühr übernehmen? Das heißt, er wird mit den Maklern darüber reden müssen: Was bietest du mir denn für eine Leistung für mein Geld, wenn ich schon die Hälfte davon bezahlen muss? – Da entsteht doch Wettbewerb, und das ist gut. Das ist gut für die Makler, die Leistung anbieten und qualifiziert sind; und das wird eine positive Wirkung auf die Provisionszahlungen haben. Es wird einen Wettbewerb um Aufträge geben. Es wird so sein, dass die Qualität den Preis macht.
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Die Sicherung, die wir eingebaut haben, nämlich der Zahlungsnachweis oder die Androhung der Verwirkung der Provision, sind relativ scharfe Schwerter. Natürlich, der Nachweis muss erbracht werden. Aber die Idee beispielsweise, das über den Kaufpreis zu machen und dann bei der Grunderwerbsteuer diesen Anteil aus dem Kaufpreis wieder rauszurechnen, erfordert einen Verwaltungsaufwand, der ein bisschen arg üppig ist. Ich hätte mir gewünscht, dass dieses Gesetz schon damals gegolten hätte, als ich gekauft habe. Aber in Köln gibt es den Satz: „Mer muss och jünne künne“,
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zu Deutsch: Man muss auch gönnen können. Deswegen sage ich: Ich gönne die Neuregelung denjenigen, die demnächst Hauseigentum erwerben. Sie werden davon profitieren. Insgesamt wird sich die Qualität bei dem Maklergeschäft verbessern. Die Provisionen werden begrenzt sein und sinken. – Ich schenke Ihnen 23 Sekunden, sehe ich gerade.
Vielen Dank.
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Wir bedanken uns sehr für Ihr Geschenk. – Der nächste Redner ist für die SPD-Fraktion der Kollege Michael Groß.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erlauben Sie mir, Herr Präsident, dass ich im Zusammenhang mit diesem Thema auch noch mal Dank ausspreche, und zwar Eva Högl.
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Eva, ich möchte dir insbesondere dafür danken, dass du viele Jahre dafür gekämpft hast, dass das Mietrecht sozial bleibt, dass es immer sozialer wird, dass die Mieten bezahlbar bleiben. Du hast ja selber gesagt: Wer hat es erfunden? Der Mietendeckel ist auch eines deiner Werke. Aber besonders wichtig ist mir, auch als Kollege, zu sagen: Es ging immer darum, Politik auf Augenhöhe zu machen und für die Menschen zu erreichen, dass es im Alltag auf Augenhöhe zugeht. Also herzlichen Dank an dich noch mal. Alles Gute für die neue Funktion!
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Worüber reden wir? Über die Verteilung der Maklerkosten. Worum geht es? Es geht darum, Transparenz, bundeseinheitliche Regelungen zu schaffen. Das war schon Thema. Es geht aber auch darum, den Käufer einer Immobilie davor zu schützen, dass er in einer Zwangslage zu hohe Provisionen zahlen muss. Ich glaube, dass mit diesem Gesetz eine wesentliche Verbesserung für den Käufer erreicht wurde. Eva Högl hat es gesagt: Wir wollten eigentlich das Bestellerprinzip. – Das ist uns mit dem Koalitionspartner nicht gelungen. Aber wenn man für eine Immobilie einen Kaufpreis von 400 000 Euro aufbringen muss und wir die Kaufnebenkosten um die Hälfte senken, also zum Beispiel von 28 000 auf 14 000 Euro, ist das schon ein richtiger Schritt, und das ist eben ein guter Weg gewesen.
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In Anbetracht der Zeit – ich habe leider nicht mehr so viel –: Es wurden ja heute schon viele Punkte angesprochen. Wenn wir über die Nebenkosten reden, komme ich zur Grunderwerbsteuer. Ich schaue jetzt mal insbesondere die Kollegen der FDP an. Sie haben bei der NRW-Wahl versprochen – mit dem Thema haben Sie auch Stimmen gefangen –, die Grunderwerbsteuer zu senken. In NRW liegt sie immer noch bei 6,5 Prozent.
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Fangen Sie doch in NRW an! Dann gehen Sie doch bei den Nebenkosten einen richtigen Schritt und können den Bürgern und Bürgerinnen auch den Weg zum Eigentum ermöglichen. Lamentieren Sie nicht hier, sondern machen Sie konkrete Politik in NRW!
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Ich möchte noch zum Schluss darauf hinweisen, dass diese Regierung eine Menge getan hat, um Mieten bezahlbar zu halten, aber auch dafür, dass die Menschen Eigentum bilden können. Das Baukindergeld ist angesprochen worden. Die 55 000 Empfängerfamilien, die bisher in den Genuss gekommen sind, sind zum großen Teil, 60 Prozent, Familien mit unterem und mittlerem Einkommen – ein Riesenerfolg, glaube ich. Wir stocken die Wohnungsbauprämie auf, verbessern die Einkommensgrenzen, verbessern die Zuschüsse um 50 Prozent. Das sind alles Dinge, die dazu führen werden, dass Menschen mit mittlerem Einkommen und geringerem Einkommen mehr Eigentum bilden können. Das ist unser Ziel. Wir wollen vernünftige Mieten und bezahlbares Wohnen ermöglichen.
Danke schön.
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Vielen Dank, Kollege Groß. – Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Alexander Hoffmann.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Högl, auch ich will Sie verabschieden, will Danke sagen für eine angenehme Zusammenarbeit. Aber ich will es natürlich schon mit einem letzten Gruß verbinden.
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Ich war nämlich durchaus überrascht, als Sie gesagt haben, es sei ein offenes Geheimnis, dass die SPD so gerne das Bestellerprinzip gehabt hätte. Ich habe eine Pressemitteilung vom Kollegen Fechner gelesen, wo er gesagt hat, die hälftige Teilung, wie wir sie heute beschließen, sei auf die Initiative der SPD zurückgegangen.
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Ich glaube, da müssen Sie sich intern irgendwie einigen. Trotzdem alles Gute bei Ihrer neuen Aufgabe!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Immobilienmärkte in Deutschland sind durcheinandergewirbelt. Sie sind differenziert und inhomogen; und wir haben unterschiedliche Konstellationen. Wir haben einerseits Regionen, wo es erheblichen Mangel an Wohnraum und einen großen Bedarf gibt. Da ist es sicher so, dass man sagen muss: Der Verkäufer und der Makler sitzen am längeren Hebel. – Wir wissen auch, dass das in Einzelfällen dazu führt, dass da die Bedingungen im Kaufvertrag diktiert werden. Aber es gibt auch andere Regionen, dort, wo das Angebot größer ist als die Nachfrage, oftmals im ländlichen Raum. Da ist der Käufer derjenige, der am längeren Hebel sitzt.
Differenziert, liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren, ist auch die Rolle des Maklers zu sehen. Ich würde schon noch gerne ein paar Sätze zu seiner Rolle verlieren, weil mir das an mancher Stelle zu einfach ist, wie die Grünen oder Sie von der Linken die Rolle des Maklers klein- und schlechtreden. Ein guter Makler – nur die halten sich auf dem Markt – macht doch mehr, als die Türe aufzuschließen. Denn selbst in einem florierenden Wohnungsmarkt wie in Berlin ist es doch so, dass er Fragen klärt, und zwar für Käufer und Verkäufer, wenn er mit beiden einen Vertrag hat. Er organisiert nicht nur die Besichtigung. Er klärt zum Beispiel Fragen rund um die Bonität. Er berät auch beim Kaufvertrag. Für diese Leistungen haftet er auch. Deswegen ist es durchaus adäquat, das angemessen zu vergüten. In den Gebieten, wo das Angebot an Wohnraum stärker ist als die Nachfrage, ist es natürlich so, dass ich, um auf mein Angebot aufmerksam machen zu können, einen guten Makler brauche.
Wir haben Ihnen heute einen guten Gesetzentwurf vorgelegt. Wir verfolgen drei Ziele: Wir wollen bundesweit einheitliche verbindliche Regelungen, wir wollen den Käufer davor schützen, dass Zwangslagen ausgenutzt werden, und – Kollege Luczak hat es erklärt – wir wollen einfach mehr Wettbewerb. Das wird zu einer deutlichen Entspannung bei den Kaufnebenkosten führen, zumindest was die Maklerprovision angeht. Wir sind auf dem richtigen Weg. Ich bitte um Zustimmung.
Danke.
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Vielen Dank, Kollege Hoffmann. – Ich schließe die Aussprache.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir erleben den größten wirtschaftlichen Einbruch der letzten Jahrzehnte. Bereits jetzt sind die sozialen Kosten hoch. Millionen Menschen haben Lohneinbußen, vor allem die, die ohnehin am wenigsten verdienen. Viele bangen um ihre Arbeitsplätze oder fürchten um ihre Existenz, während andere immer noch Dividenden in Milliardenhöhe kassieren.
Wir dürfen uns nicht die Illusion machen, dass auf den Einbruch der schnelle Aufschwung folgen wird. Wenn wir Beschäftigung sichern, das finanzielle Ausbluten der Kommunen verhindern wollen, wenn wir Betriebsschließungen und Massenentlassungen vermeiden wollen, brauchen wir schnell ein anspruchsvolles Investitionsprogramm.
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Ich verstehe nicht, warum dafür nicht längst Pläne ausgearbeitet und öffentlich diskutiert werden.
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Stattdessen wird gezögert, gezaudert oder von der CDU sogar gebremst.
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– Ja, Sie bremsen: Ihr Fraktionsvorsitzender. – Wir brauchen aber dringend einen Schutzschirm für die Kommunen, denen die Einnahmen wegbrechen.
Es ist katastrophal, wenn jetzt öffentliche Investitionen zurückgefahren oder Ausschreibungen zurückgezogen werden. 36 Milliarden Euro in diesem Jahr und 25 Milliarden Euro im nächsten für die Kommunen ist an der richtigen Stelle investiertes Geld:
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für längst fällige Investitionen in Schulen, Kitas und für den Aufbau der Infrastruktur. Es ist inzwischen hoffentlich auch in diesem Haus den meisten klar geworden, dass es falsch war, Krankenhäuser zu schließen, zu privatisieren und den Pflegenotstand herbeizusparen. Deshalb beantragen wir, dass der Bund 10 Milliarden Euro pro Jahr in Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen investiert, für mehr Personal, bessere Bezahlung, bessere Arbeitsbedingungen. Loben und Klatschen reichen nicht mehr aus.
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Aber das Falscheste wäre es, nach der Krise einfach wieder den alten Zustand herstellen zu wollen, so, als gäbe es keine Klimakrise, keine Armut, keine Niedriglöhne, kein Auseinanderklaffen von Arm und Reich und keinen Notstand an bezahlbaren Wohnungen. „Krise“ heißt auch: Wendepunkt. Wir brauchen dringend eine Richtungsänderung hin zu sozialer Gerechtigkeit, zu nachhaltigem, emissionsfreiem Wirtschaften, zu gerechter Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums.
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Wir brauchen einen sozialökologischen Systemwechsel, einen linken Green New Deal, der die Menschen nicht vor die Entscheidung stellt: Verliere ich meinen Arbeitsplatz, oder verlieren meine Kinder ihre Zukunft?
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Deshalb wollen wir eine nachhaltige Verkehrswende, den Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs, der Bahn, der Fahrradwege, für Klimaschutz und sichere Arbeitsplätze. Wir brauchen einen Industriefonds, der die sozialökologische Transformation unterstützt.
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Kurzum: Wir wollen ein Investitionsprogramm, das sozial, nachhaltig und gerecht ist. Was wir nicht brauchen, sind staatliche Hilfen für Konzerne, die Dividende auszahlen.
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Was wir nicht brauchen, sind Hilfen für Unternehmen, die keine Tarifverträge kennen, Arbeitsplätze abbauen und die Mitbestimmung mit Füßen treten. Das brauchen wir nicht.
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Keine Frage: Dieses ambitionierte und mutige Investitionsprogramm kostet Geld. Doch wer jetzt an Investitionen spart, wird das später teuer bezahlen. Und wäre es nicht höchste Zeit, dass endlich einmal die zur Finanzierung herangezogen werden, die die letzten Jahrzehnte unermesslichen Reichtum angehäuft haben?
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Kommen Sie bitte zum Ende, Herr Kollege.
Für viele von Ihnen ist das unvorstellbar radikal, für uns ist das eine Selbstverständlichkeit.
Vielen Dank.
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Der nächste Redner ist für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Dr. Matthias Heider.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wie muss man sich das eigentlich vorstellen, wenn so ein Konjunkturprogramm in einer Krisensituation entworfen wird? Schreitet da der Bundeswirtschaftsminister in einer stillen Stunde die Fotogalerie seiner Vorgänger entlang,
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um dann aus einem geheimen Raum im Bundeswirtschaftsministerium eine goldene Kurbel zu holen, um das Gerät in Gang zu bringen? Das ist ein schönes Bild, aber es ist natürlich nicht so; Sie haben es geahnt.
Ich sage das nur, Herr Riexinger, weil ich den Eindruck hatte, dass Sie glauben, dass nichts getan wird. Im Gegenteil, es werden viele Gespräche mit Vertretern der betroffenen Wirtschaftskreise und Branchen, mit Arbeitnehmern und mit Arbeitgebern geführt. Die Ressorts der Bundesregierung machen Vorschläge; Vereinigungen und Verbände, Bürgerinnen und Bürger und die Parteien machen Vorschläge. Das ist grundsätzlich gut so; wir wollen das ja beraten. Alle Vorschläge müssen sich daran messen lassen, ob sie wirklich zu Wachstum führen. Führen sie zu mehr Wachstum, oder dienen sie nur dazu, den einen oder anderen lang gehegten Wunsch angelegentlich eines bevorstehenden Konjunkturprogramms einfach einmal wieder zum Vortrag zu bringen?
Die alte Frage, die immer wieder zu stellen ist, lautet: Bediene ich in einem Konjunkturprogramm die Angebots- oder die Nachfrageseite? Ich persönlich spreche lieber von einem Wachstumsstärkungspaket; denn wir wollen Wachstum nicht staatlich programmieren; wir wollen Entwicklung stärken. Dazu braucht es unternehmerischen und eigenverantwortlichen Handelns. Das wollen wir ertüchtigen, und die Nachfrage der Bürgerinnen und Bürger.
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Wie war das noch in der letzten Wirtschaftskrise? Erinnern Sie sich noch an das Wachstumspaket, an die Konjunkturpakete I und II aus den Jahren 2009 und 2010 mit rund 80 Milliarden Euro vor allem für die öffentliche Infrastruktur und allein 27 Milliarden Euro zur Reduzierung von Steuer- und Abgabenlast? In dieser durch die Coronapandemie ausgelösten Krise haben wir es nicht nur mit einem nachfrageseitigen Schock zu tun, sondern mit einem, der gleichzeitig auf Angebots- und auf Nachfrageseite greift. Alle Maßnahmen, die nur Nachfrage, nur Konsum im Fokus haben, greifen daher zu kurz.
So richtig viele Fehler hat man damals bei den Konjunkturpaketen übrigens nicht gemacht, auch wenn der Antrag der Linken das heute insinuiert.
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Im Gegenteil: In den Jahren 2010 und 2011 hat es ein enormes Wirtschaftswachstum – um die 4 Prozent – gegeben, und in den nachfolgenden Jahren, zwischen 2012 und 2019, ist die Wirtschaft durchschnittlich um 1,5 Prozent gewachsen. Das war nach einer solchen Krise damals ein hervorragendes Ergebnis. Und wir hatten 2019 mit 45 Millionen Beschäftigten den höchsten Beschäftigtenstand, den wir in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg jemals hatten
Über 10 Millionen Menschen befinden sich jetzt in Kurzarbeit; bei mir zu Hause, im Sauerland, sind es 50 Prozent der Menschen, die im industriellen Sektor beschäftigt sind. Darauf kommt es jetzt an: Es muss Vertrauen in die Märkte zurückkehren; wir müssen Zukunftsfelder identifizieren; wir müssen Wachstumskräfte entfesseln; wir müssen die Menschen aus der Kurzarbeit zurückbringen. Und es muss schnell gehen, es darf kein Nachfrage-Gap entstehen; das müssen wir vermeiden.
Das erfordert Investitionen, die Beseitigung bürokratischer Hemmnisse, mehr Effizienz in der öffentlichen Verwaltung und ein klares Ja zu Europa und zum Binnenmarkt. Ein erfolgreiches Konjunkturprogramm setzt auf Steuersenkungen, auf Investitions- und Forschungsförderung, auf eine nachhaltige Entwicklung, auf effizienten Ressourcenschutz und auf eine zirkuläre Wirtschaft, auf mehr Stabilität in Europa. „Nachhaltigkeit“ und „Effizienz“, zwei Worte, die ich in Ihren Anträgen fast vergeblich gesucht habe. Nur zweimal im Antrag der Linken und einmal im Antrag der Liberalen habe ich den Begriff „Nachhaltigkeit“ gefunden.
Deshalb sage ich: Wir brauchen gerade jetzt im Automobilsektor eine Verstärkung bei innovativen Fahrzeugtechnologien, so wie es der Wirtschaftsminister heute in seiner Pressekonferenz angekündigt hat. Ich warne in diesem Zusammenhang davor, dass wir zu sehr auf Konjunkturmaßnahmen für einzelne Branchen setzen.
Zum Antrag der Linken. Mir ist aufgefallen, dass sich das, was Sie uns in zwölf Bereichen vorschlagen, auf über 160 Milliarden Euro summiert – wohlgemerkt: jährlich. Herzlichen Glückwunsch zu dieser Innovationsgießkanne! Wo sind da die Schwerpunkte? Das sind schöne Maßnahmen, aber von denen haben die Beschäftigten in der Stahlindustrie und in der Automobilwirtschaft gar nichts. Damit gibt es auch keine Zukunft für die Beschäftigten im Maschinenbau und auch nicht in der chemischen Industrie.
Wie sich die Linken in diesem Bereich abgearbeitet und dabei einen Milliardenbetrag herausgeholt haben, das ist ungefähr so, als ob man mit einer Pflasterrolle die Blessuren dieser Krise heilen wollte. Was wir brauchen, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind echte Medizin und Abwehrkräfte, um das Wachstum zu stärken. Unser Rezept dafür werden wir Ihnen im Juni vorstellen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion der AfD der Kollege Enrico Komning.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Wir debattieren hier heute über zwei Wirtschaftsanträge, im Übrigen – Herrn Kollegen Houben ist es auch aufgefallen – in Abwesenheit des Wirtschaftsministeriums. – Oh, Entschuldigung, Herr Bareiß, ich habe Sie nicht gesehen. – Also, das Wirtschaftsministerium ist doch da, ich muss mich revidieren.
Der eine Antrag wäre auch in Nichtcoronazeiten weitgehend sinnvoll. Der andere Antrag, der von den Linken, war, abgesehen vom Titel, bis heute früh inhaltlich noch ein großes Mysterium. Ohne den Lockdown mit massiven Grundrechtseingriffen hätten wir uns mit mehr Zeit den schon vorher bestehenden strukturellen wirtschaftspolitischen Problemen stellen können. Nun jedoch ist höchste Eile geboten. Die Bundesregierung hat dieses Land in eine fundamentale Lockdown-Krise geführt, ohne die Verhältnismäßigkeit ihrer Weichenstellung zu prüfen.
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Sie haben in einer unklaren Lage unzureichend analysiert und dann überstürzt vollkommen einseitig entschieden, das gesamte wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben über Wochen einzufrieren. Sie haben alle Warnungen von Ökonomen in den Wind geschlagen und ausschließlich auf das Robert Koch-Institut gesetzt. Nein, meine Damen und Herren von der Bundesregierung, Sie haben nicht abgewogen.
Der totale gesellschaftliche und wirtschaftliche Shutdown Deutschlands wird sich als der vierte epochale Fehler einer Regierung unter Angela Merkel erweisen. Nach dem Fanal der Griechenland-Rettung, dem rein emotional motivierten Kernkraftausstieg und dem Migrationsdesaster nun das An-die-Wand-Fahren der viertgrößten Volkswirtschaft der Welt.
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Wenn Mitarbeiter im Innenministerium oder Ökonomen eines regierungsnahen Instituts zu dem Schluss kommen, dass der Shutdown keine signifikanten Auswirkungen auf die Infektionszahlen hatte und hat, dann landen solche Papiere im ministerialen Giftschrank und die Verfasser auf der Straße oder eben auch auf der Anklagebank. So handelt die Bundesregierung, meine Damen und Herren, wenn es unbequem wird. Sie bezeichnet die Kritiker – das ist das Höchste; Achtung: neues Narrativ – als „Verschwörungstheoretiker“.
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Meine Damen und Herren, wenn die gegenwärtige Lockdown-Krise auch nur einen guten Aspekt hat – das zeigt der FDP-Antrag –, dann den, dass wir endlich wieder über die wesentlichen Dinge in diesem Land sprechen können. Die Zeit für den ganzen rot-grünen vorkrisenzeitlichen Firlefanz ist endlich vorbei.
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Es ist an der Zeit, über ernsthafte Lösungen zu sprechen, die den Menschen und nicht modernen goldenen Kälbern dienen.
Deutschland liegt wirtschaftlich am Boden – ohne Not, meine Damen und Herren. Die Industrieproduktion bricht dramatisch ein, die Automobilindustrie sogar um ein Drittel. Ob und was von der Dienstleistungswirtschaft noch übrig bleibt, ist unsicher.
Deshalb stimmen wir vielem zu, was Sie, meine Damen und Herren von der FDP, in Ihrem Antrag fordern. Es ist auch vieles Bekanntes dabei: Abschaffung des Soli, Entbürokratisierung, Flexibilisierung der Ladenöffnungszeiten. Was aber nicht passieren darf, ist eine weitere Belastung der Leistungsträger unserer Gesellschaft, der Arbeitnehmer und der mittelständischen Unternehmer. Das heißt, dass staatliche Unterstützungsmaßnahmen immer nur der Selbsthilfe dienen dürfen.
Das beste Konjunkturprogramm, meine Damen und Herren, ist vor allem aber dies: Geben Sie den Menschen endlich die Freiheit zurück! Schweden macht es uns doch vor. Selbstverantwortung ist das Gebot, und die Deutschen schaffen das, Frau Merkel.
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Hören Sie auf, immer wieder mit neuen Horrorszenarien zu drohen und die Menschen zu verängstigen. Freiheit statt Sozialismus! Liebe Kollegen von der Union, dem einen oder anderen dürfte dieser Spruch vielleicht noch in Erinnerung sein.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die SPD Bernd Westphal.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, der Redebeitrag vor mir hat gezeigt, wie es nicht geht. Wir führen inzwischen fast wöchentlich eine ähnliche Debatte. Nichtsdestotrotz bin ich der Linken und der FDP dankbar für die Anträge, die mir noch einmal die Chance geben, zu diesem Thema hier Stellung zu nehmen.
Die Ausgangslage ist klar, denke ich. Wir haben eine schwere Rezession. Die industrielle Produktion hat um 12 Prozent abgenommen. Schlüsselbranchen wie die Automobilindustrie haben einen Rückgang von bis zu 31 Prozent zu verzeichnen. Die Bundesregierung hat den Rückgang des BIP mit 6,3 Prozent prognostiziert. Das ist wirklich eine schwere Krise für unsere Wirtschaft. Aber im Gegensatz zu anderen Ländern brauchen sich die Menschen in unserem Land keine Sorgen zu machen.
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Wir haben einen handlungsfähigen Staat. Wir haben mit einem leistungsfähigen Sozialsystem viele Maßnahmen auf den Weg gebracht. Mit umfangreichen Maßnahmen haben wir zum Beispiel das Gesundheitswesen gestärkt, im Gegensatz zu den USA, wo eine Erkrankung durchaus ein Armutsrisiko darstellt. Wir haben Beschäftigung gesichert. 10 Millionen Menschen können jetzt mit Kurzarbeitergeld ihre Jobs sichern, im Gegensatz zu den USA, wo es 30 Millionen Arbeitslose gibt.
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Mit Liquiditätshilfen für Unternehmen haben wir Insolvenzen verhindert und Härten abgefedert. Jetzt geht es darum, dass wir unsere ökonomische Basis stärken und erhalten. Dafür braucht es ein ökonomisches Gesamtkonzept.
Wie sich die Akteure in einer Volkswirtschaft verhalten, hat viel auch mit Psychologie zu tun. Deshalb geht es jetzt darum, dass Politik für Transparenz und Vertrauen sorgt und Maßnahmen auf den Weg bringt, die nachvollziehbar für die Menschen in der Wirtschaft sind und dementsprechend Vertrauen schaffen. Es ist gut, dass sich auch die anderen Fraktionen dem Vorschlag angeschlossen haben, den wir als SPD im Wirtschaftsausschuss eingebracht haben. Wir werden in der nächsten Sitzungswoche mit Experten einzelne Fragen eines umfassenden Konjunkturprogramms erörtern können. Es wird jetzt darauf ankommen, dass wir mit dem Krisenmanagement dafür sorgen, dass die Maßnahmen zeitnah erfolgen. Wie kann so etwas aussehen? Ich will einige Kernelemente ansprechen.
Zunächst braucht es sehr schnelle Impulse und die Unterstützung für private und öffentliche Investitionen. Das sind Maßnahmen zur Modernisierung der Infrastruktur, sicherlich der flächendeckende Ausbau des Glasfasernetzes – am besten in jedes Haus –, auch der Ausbau der 5G-Struktur, damit Digitalisierung, autonomes Fahren, neue Mobilitätskonzepte möglich sind. Wir müssen vor allen Dingen auch schauen, dass wir bei den Regelungs- und Genehmigungsverfahren schneller werden. Es kann nicht sein, dass wir von der Beantragung bis zur Inbetriebnahme zum Beispiel eines Funkmastes sechs Jahre benötigen. Hier besteht dringender Handlungsbedarf, auch administrativ besser zu werden.
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Zusätzlich brauchen wir eine Verzahnung mit der europäischen Ebene. Konjunkturprogramme auf nationaler Ebene helfen nur, wenn sie im Gleichklang mit europäischen Maßnahmen auf den Weg gebracht werden. Deshalb müssen wir innovationshemmende Hürden, die es zum Beispiel im Beihilfe- und Wettbewerbsrecht auf europäischer Ebene gibt, abbauen.
Der Investitionsattentismus in den Unternehmen muss durchbrochen werden. Wir sehen, dass in den Unternehmen eine abwartende Haltung besteht, wenn es um dringend notwendige Investitionen zur Modernisierung unseres Standorts geht. In der Industrie und im Mittelstand haben wir starke Strukturen und starke Cluster, die ineinandergreifen. Jetzt müssen wir Investitionen mit Abschreibungen für die Industrie, die sich zum Beispiel im Transformationsprozess befindet, unterstützen. Warum denn nicht die Stahlindustrie unterstützen, wenn sie in neue Hochöfen investiert, wo man nicht nur aus Eisenerz und Kokskohle, sondern aus Eisenerz und Wasserstoff Stähle erzeugt? Das wäre etwas, was uns nach vorne bringt.
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Bei der Energiewende gibt es zahlreiche Projekte, die dafür sorgen könnten, dass sich unsere Energiewirtschaft nachhaltig erneuert. Der Klimaschutz darf jetzt nicht mit einer Rolle rückwärts ausgebremst werden, sondern muss weiter forciert werden. Unsere Ziele müssen wir dort weiterverfolgen. Regulatorische Hemmnisse in diesem Bereich kann man wegräumen, ohne dass es öffentliches Geld kostet. Wenn es zum Beispiel um den Ausbau der Photovoltaik, der Sonnenenergie, geht, brauchen wir mutige Politik, um das zu organisieren.
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Der zweite Bereich sind sicherlich nachfragestärkende Maßnahmen. Nun sind Wachstum und Beschäftigung die beste Sozialpolitik. Das haben wir bei der Krisenbewältigung 2008/2009 gesehen. Dann, wenn die Menschen feste Jobs, sichere Arbeits- und Ausbildungsplätze haben und wenn sich Wirtschaftswachstum einstellt, steigen die Steuereinnahmen des Staates und auch die Nachfrage wächst. Deshalb geht es zunächst einmal darum, die Arbeitsplätze zu sichern. Mit Kurzarbeit ist das gelungen. Wir müssen Kurzarbeit aber auch nutzen, um Weiterbildung zu organisieren. Da kann man Qualifizierung und Arbeitsfähigkeit erweitern und dementsprechend Beschäftigung für die Zukunft fördern. Zum Beispiel könnte man Unternehmen einen Bonus zahlen, die zusätzlich Ausbildungsplätze schaffen. Wir sehen im Moment die Gefahr, dass Ausbildungskapazitäten zurückgefahren werden. Natürlich gehören auch die Tarifbindung und andere Dinge dazu.
Wir haben als weiteren Punkt – das hat der Kollege von der Linken eben erwähnt – die Kommunen. Wenn ich mir die kommunalen Investitionsrahmenbedingungen anschaue, dann glaube ich ganz sicher, dass es dringend notwendig ist, öffentliche Investitionen in die Infrastruktur – in Schulen, Kindergärten, soziale Einrichtungen, Sportstätten und Schwimmbäder – zu tätigen. Wir können mit einer modernen Infrastruktur auch in den Dörfern dafür sorgen, gesellschaftliches Leben und sozialen Zusammenhalt mit konjunkturellen Impulsen zu stärken.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, zum Schluss einen Satz, was die Finanzierung angeht. Einige reden von Sparen und der schwarzen Null. Ich halte das für sehr gefährlich. Wenn es ein Risiko für die nächsten Generationen gibt, dann ist das eine kaputte Infrastruktur, dann sind das fehlende Arbeitsplätze, dann sind das verpasste Innovationen. Deshalb müssen wir jetzt im Rahmen eines Konjunktur- und Investitionsprogramms investieren. Damit verbindet die SPD sozialen, technischen, ökologischen und gesellschaftlichen Fortschritt.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner für die Fraktion der FDP ist der Kollege Manfred Todtenhausen.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen von der Linken, Sie wollen investieren in Nachhaltigkeit, in Gesundheit, in Wohnungsbau – ein Traumprogramm für Planer und Gestalter, denken Sie. Ihr Motto: Der Staat weiß es besser; der Markt führt in die Irre. Die Milliarden werden schon bewilligt. Ihr Prinzip: Was kümmern mich heute die Schulden und die Zinsen von morgen? Ihr Programm mit einem Volumen von 200 Milliarden Euro ist schon gewaltig, auch für unser Land. Die heutige Steuerschätzung spricht für sich. Die Finanzierung würde schwierig werden. Zur Not erhöhen Sie dann einfach einmal die Steuern bei denen, die wir gerade jetzt besonders für Investitionen brauchen. Meine Damen und Herren von der Linken, da, wo sich diese Politik in der Praxis beweisen muss, wird sie garantiert scheitern.
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Ich schaue nur nach Berlin, auf Ihre Verantwortung im rot-rot-grünen Senat. Da sehe ich nicht, wie Ihre Bausenatorin den Wohnungsbau nachhaltig anschiebt. Sie verstaatlichen lieber Wohnungen, und Sie führen einen Mietendeckel ein, über den jetzt Karlsruhe entscheiden wird.
Da liegt der große Unterschied, meine Damen und Herren: Wir Freien Demokraten sehen in der Krise keinen Freifahrtschein für ein Wunschkonzert. Uns geht es um Konzepte, um Reformen und Zukunftsfähigkeit.
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Krisen sind genau der Zeitpunkt, da es heißt: Was können wir besser machen?
Zur Erinnerung: Die letzte große Arbeitsmarktreform hat der damalige Bundeskanzler Schröder im Jahr 2003 initiiert, auch mitten in einer Krise. Die Regierung Merkel hat davon fast 15 Jahre profitiert. Meine Damen und Herren, uns geht es um Veränderung, um Reformen für die nächsten zehn Jahre; daher auch unser Antrag an dieser Stelle. Wir müssen uns jetzt um die Branchen kümmern, die seit Corona besonders betroffen sind.
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Dazu gehören auch unsere Einzelhändler. Sie leiden unter hohen Abgaben, Stromkosten und zu viel Bürokratie. Das gab es auch schon vor Corona. Aber mit Corona ist alles noch viel schlimmer geworden. Ja, auch die schwierige Handhabe mit den verkaufsoffenen Sonntagen macht den Einzelhändlern ihr Geschäft schwer. Jetzt haben wir die Chance, etwas zu ändern. Dazu braucht der Handel reale Ziele, Anreize und vor allem Zuversicht. Die fehlt ihm.
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Aber wenn Sie lieber von zu Hause einkaufen wollen – bitte schön, auch gut. Dann helfen wir den kleinen und mittleren Betrieben, dem Einzelhandel, digitale Vertriebswege zu erschließen und zu nutzen und geben damit nicht nur den großen Onlinehändlern das letzte Wort.
Die Bundesregierung frage ich außerdem: Wo bleibt die versprochene Teilabsenkung oder Abschaffung des Soli? Alles, was Liquidität und Umsätze stärkt, sorgt auch morgen für ein breites Angebot an Waren, Dienstleistungen und Arbeitsplätzen. So geht Förderung.
Wenn es also weitere Programme braucht, um die Wirtschaft zu stützen, dann auch bitte mit Augenmaß. Natürlich sind auch wir für ein Investitionsprogramm in den Bereichen Digitalisierung, Bildung und Infrastruktur, aber im Dialog mit der ganzen Wirtschaft und nicht über ihre Köpfe hinweg und nicht nur als Strohfeuer.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Katharina Dröge.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, selten war eine Situation wirtschaftspolitisch so kompliziert. Wir müssen als Deutscher Bundestag Antworten darauf geben, dass Lieferketten nicht mehr funktionieren, dass zeitgleich in vielen Ländern die Wirtschaft in den Keller rauscht und dass gut funktionierende Unternehmen auf einmal vor der Situation stehen, dass sie nicht mehr arbeiten können, einfach deshalb, weil sie nicht mehr arbeiten dürfen, weil die Kunden ausbleiben, weil richtige und notwendige gesundheitspolitische Auflagen gerade ihr Geschäft nicht mehr ermöglichen.
Wir haben gemeinsam hier im Bundestag um Lösungen gerungen, um diese Unternehmen in der Krise zu unterstützen. Wir haben das wirklich gemeinsam gemacht. Wir haben über Zuschüsse, über Darlehen miteinander gesprochen, und es wäre schön, wenn wir jetzt, wenn wir auf die künftigen wirtschaftspolitischen Maßnahmen schauen, auch ein Stück mehr Gemeinsamkeit hinbekämen.
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Aber wenn ich mir die Debatte jetzt hier anhöre, die die unterschiedlichen Redner über ein mögliches Konjunktur- und Investitionsprogramm miteinander geführt haben, dann ist mein Eindruck, dass wir irgendwie wieder in alte Reflexe verfallen.
Das Erste: Zumindest herrscht anscheinend Einigkeit darüber, dass es so etwas wie ein Investitionsprogramm braucht. Bei den konjunkturellen Maßnahmen gibt es hier anscheinend große Widersprüche. Das finde ich schade, weil wir auf keinen Fall in einer Situation sein werden, dass wir alleine eine angebotsseitige Störung der wirtschaftlichen Lage haben, sondern es wird, wenn man sich jetzt die Zahlen zur Kurzarbeit anschaut, wenn man sich die erwarteten Arbeitslosenzahlen anschaut, auf jeden Fall eine hohe Unsicherheit auch auf der Nachfrageseite geben; dann wird es Einkommensverluste geben, und deswegen braucht es eine Unterstützung auch auf der Nachfrageseite.
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Das Zweite – das habe ich bislang von keinem Redner in der Debatte gehört, und das verstört mich ein Stück weit –: Wir lösen hier gerade nicht nur eine Krise, sondern wir stehen vor der Herausforderung, zwei Krisen gleichzeitig lösen zu müssen. Wenn wir Milliarden von Euro in die Hand nehmen, um ein Investitionsprogramm auf den Weg zu bringen, und wir sagen, es brauche 500 Milliarden Euro für zehn Jahre an Investitionen, dann können wir dieses Geld nicht in die Hand nehmen, ohne es gleichzeitig so auszurichten, dass es in der Lage ist, die zweite große Krise, nämlich die Klimakrise, mit zu bekämpfen.
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Ich sage Ihnen ganz ehrlich, meine Damen und Herren: Es ist wahrscheinlich die beste Chance, die wir noch haben, diese Klimakrise zu bekämpfen, aber es ist vielleicht auch die letzte Chance, die wir noch haben, um diese Klimakrise effektiv zu bekämpfen. Tragisch daran ist, dass hier keiner über Klimaschutz spricht, insbesondere Sie, Herr Heider: Sie haben dauernd über Wachstum und Innovation geredet, aber das Wort „Klimaschutz“ kein einziges Mal in Ihrer Rede in den Mund genommen. Das Tragische daran ist, dass im Klimaschutz ja auch noch die beste Innovationsperspektive für unser Land liegt.
Wenn wir eine Investitionsoffensive in den Ausbau von Stromnetzen, in den Ausbau der Wasserstoffinfrastruktur, in den Ausbau der Schieneninfrastruktur, in den Ausbau der Ladesäuleninfrastruktur für die Elektromobilität und in den Ausbau von digitalen Netzen machen, dann schaffen wir doch die Grundlage für eine neue, moderne, innovative und klimaneutrale Wirtschaft.
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Das ist nicht nur aus Klimaschutzgründen sinnvoll; das ist auch noch ökonomisch sinnvoll. Wenn Sie dann die ganze Zeit über Industriepolitik reden, so wie Sie das in der Vergangenheit gemacht haben, dann fangen Sie doch wenigstens jetzt in der Krise mit vernünftiger Industriepolitik an.
Der Ausbau der erneuerbaren Energien würde Jobs sichern, er würde gleichzeitig die Zukunft für die künftige wirtschaftliche Situation schaffen, und er würde nichts kosten, wenn Sie endlich die Ausbaubremse für die Solarenergie entfernen würden.
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Es wäre so einfach, jetzt in der Krise Industriepolitik zu machen. Auch bei den großen Industrien – bei der Automobilindustrie, bei der Stahlindustrie – müssten Sie jetzt die Krise nutzen, um eine Chance darin zu sehen, in Richtung nachhaltige Mobilität statt immer nur in Richtung alter Abwrackprämien zur Förderung von Verbrennungsmotoren zu gehen.
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Ich sage Ihnen: In der Krise muss man manchmal pragmatisch sein. Wir Grünen haben in dieser Krise ganz klar gesagt: Wir müssen die deutsche Automobilindustrie retten, und wir müssen auch die Lufthansa retten. Dann geben Sie sich doch einen Ruck und gehen mit uns den Weg in eine nachhaltige Zukunft für diese Konzerne!
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Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Dr. Andreas Lenz für die Fraktion der CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben jetzt viel gehört, viele Vorschläge; zur Bewertung komme ich noch. Aber zunächst einmal gilt es, zu betonen, dass wir während der ersten Phase der Krise schnell und richtig gehandelt haben. Das war auch wirklich wichtig.
Der Blick vom Ausland hilft hier manchmal. Das Ausland beneidet uns um unser Gesundheitssystem, aber auch um unser Krisenmanagement. Man sieht ja nicht, was passiert wäre, wenn wir nicht so beherzt gehandelt hätten. Dieser blinde Fleck wird auch entsprechend bleiben. Aber man kann doch mit Stolz konstatieren, dass uns Gott sei Dank Zustände wie beispielsweise in Bergamo erspart blieben, meine sehr geehrten Damen und Herren.
Übrigens zeigt die Krise auch, dass unser Sozialstaat wirkt. Das Ausland beneidet uns um unser Kurzarbeitergeld. Auch hier haben wir also schnell und zielgerichtet gehandelt. Auch unser Gesundheitssystem ist, wie gesagt, der Maßstab. Das kann man auch einmal ganz nüchtern und mit ein wenig Stolz feststellen, meine Damen und Herren. So verfügte Deutschland schon zu Beginn der Krise, der Pandemie, über rund 28 000 Spezialbetten, viele mit Beatmungsgeräten, im Vergleich Frankreich lediglich über 7 000. Die Testkapazitäten sind hoch, und die Sterblichkeit ist in Deutschland insgesamt geringer als in anderen Ländern, gerade wenn man immer das Beispiel Schweden nennt.
Auch der Rückgang der Wirtschaftsleistung wird in Deutschland geringer prognostiziert als in vielen anderen Ländern. Das alles sind in erster Linie Erfolge, meine sehr geehrten Damen und Herren.
Aufgrund der richtigen Maßnahmen haben wir jetzt die Chance, schnell wieder aus der Krise herauszukommen. Individuelle Freiheiten, ein Mehr an wirtschaftlicher Aktivität ist entsprechend mit einem Mehr an Schutzmaßnahmen, an individueller Verantwortung verbunden. Natürlich wägen wir ab; wir wägen täglich ab, meine sehr geehrten Damen und Herren. Es ist ja klar, dass die Megathemen bleiben, dass Digitalisierung weiter voranschreiten wird und sogar einen Schub bekommt. Auch der Klimawandel wird nicht aufhören, keine Frage. Deshalb ist es auch richtig, dass wir Anstrengungen unternehmen, um eine resilientere, eine nachhaltigere Wirtschaft aufzubauen. Wir brauchen in vielen Dingen mehr Souveränität, ob bei der Impfstoffproduktion oder auch bei der Antibiotikaherstellung. All das werden wir verstärkt angehen.
Es ist aber immer eine Gratwanderung zwischen Effizienz und Resilienz, zwischen Effizienz und Widerstandsfähigkeit. Ja, vielleicht war die eine oder andere Entwicklung in der Vergangenheit zu beschleunigt. Aber klar muss ebenso sein, dass gerade wir als Deutschland auch zukünftig auf internationale Lieferketten, auf fairen und freien Handel angewiesen sind.
Ebenso ist es völlig fehl am Platze, jetzt der Staatswirtschaft das Wort zu reden. Wir glauben eben nicht, dass der Staat der bessere Unternehmer ist. Sie wollen Staatswirtschaft; wir wollen Marktwirtschaft. Sie wollen Steuererhöhungen; das wollen wir eben nicht. Die Wirtschaft findet nach wie vor in der Wirtschaft statt. Wenn wir staatlicherseits so einsteigen, brauchen wir auch einen Ausstiegsplan, meine sehr geehrten Damen und Herren.
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Ja, wir werden ein Konjunkturprogramm brauchen: für mehr Investitionen, für mehr Nachhaltigkeit, für mehr Innovation und vor allem Zukunft. Wir wollen dabei Arbeitsplätze und Nachhaltigkeit in Gleichklang bringen, hohe lokale Wertschöpfung mit hoher internationaler Verflechtung und Arbeitsteilung erreichen. Wir wollen gezielte Anreize setzen. Wir können das im Übrigen auch nur deshalb, weil wir in der Vergangenheit nachhaltig gewirtschaftet und die öffentlichen Haushalte konsolidiert haben. Die schwarze Null war eben kein Irrweg. Wir haben erst durch die Konsolidierung der letzten Jahre jetzt die Mittel, um tatsächlich wirkungsvoll zu handeln. Wir haben jetzt auch die Chance, gezielt in den Branchen zu intervenieren, die von der Krise besonders hart getroffen sind. Wir brauchen eine Kaskade des Helfens und werden die Zeit jetzt nutzen; wir nutzen sie ja auch schon, um entsprechende Vorschläge zu erarbeiten.
Wir brauchen also Investitionen in die Zukunft. Wir werden entsprechend ein kluges Programm erarbeiten, und alle sind eingeladen, daran mitzuarbeiten. Aber die Anträge, die vorliegen, helfen uns in dieser Hinsicht nicht weiter.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Auswärtige Amt ist jetzt 150 Jahre alt geworden und hat in seiner Geschichte noch nie eine nachgeordnete Behörde gehabt. Es ist also ein echtes Novum, was wir heute erleben. Es ist lange vorbereitet worden, und es geht in der Tat um die sinnvolle Trennung von ministeriellen Aufgaben und nichtministeriellen Aufgaben.
Der diplomatische Dienst ist durch zwei Prinzipien gekennzeichnet: Die Angehörigen des diplomatischen Dienstes müssen zur Rotation bereit sein, und sie verstehen sich als Generalisten. Das heißt im Umkehrschluss: Es gibt im diplomatischen Dienst keine ortsfesten Spezialisten. Für diese ortsfesten Spezialisten, die wir aber brauchen, gründen wir jetzt das Bundesamt für Auswärtige Angelegenheiten, welches seinen Sitz in Brandenburg an der Havel haben wird.
Es geht im Wesentlichen um vier große Punkte, die in diesem Bundesamt erledigt werden sollen:
Zum einen geht es um die Bearbeitung von Visaanträgen. Im Jahr 2019 hat der diplomatische Dienst der Bundesrepublik Deutschland knapp 2 Millionen Schengenvisa erteilt, verteilt auf mehr als 160 konsularische Vertretungen weltweit. Dass das natürlich eine große Vielfalt und große Unterschiede mit sich bringt, kann man sich schon allein daran vorstellen. 2 Millionen erteilte Visa lassen nicht darauf schließen, wie viele bearbeitet worden sind; es werden viele abgelehnt. Die Anzahl der abgelehnten kenne ich nicht, aber sie machen wahrscheinlich genauso viel Arbeit oder sogar mehr Arbeit als die genehmigten. Wie viel das bedeutet, wissen auch wir Abgeordnete: Wir werden sehr häufig von Bürgerinnen und Bürgern auf die Erteilung von Visa angesprochen, aus welchen Gründen auch immer: Ehegattennachzug, Arbeit, Familienzusammenführung. Es gibt dazu sehr viele Fragen, die immer wieder gestellt werden.
Eine neue Aufgabe, die dort auch bearbeitet werden muss, besteht in der Umsetzung des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes. Da hat das Auswärtige Amt in der letzten Zeit schon eine gute digitale Struktur aufgesetzt, aber auch da wissen wir, dass noch einige neue Aufgaben auf das Amt zukommen.
Der zweite große Punkt ist das Fördermittelmanagement. In den letzten Jahren haben Fördermittel tatsächlich eine bedeutsamere Position im Auswärtigen Amt eingenommen als in vielen Jahren zuvor – denken wir an die humanitäre Hilfe, an die Krisenprävention, an die notwendigen Stabilisierungen, aber auch an Kulturprojekte im Ausland. Diese Fördermittel werden zurzeit im Bundesverwaltungsamt abgerechnet; darauf wird meine Kollegin Doris Barnett sicherlich noch eingehen.
Der dritte große Punkt betrifft die Zentralstelle für das Auslandsschulwesen, ZfA. Auch diese befindet sich zurzeit im Bundesverwaltungsamt. Es geht darum, die Aufgaben und auch die Stellen vom Bundesverwaltungsamt auf das neue Bundesamt für Auswärtige Angelegenheiten zu übertragen. Die Zentralstelle kümmert sich um 140 deutsche Auslandsschulen und etwa 1 100 Schulen in ausländischen Bildungssystemen, die aber das deutsche Sprachdiplom entsprechend den Vorgaben der Kultusministerkonferenz anbieten. Auch das ist natürlich eine Tätigkeit, die weltweit stattfinden muss.
Nicht zuletzt geht es um die IT-Ausstattung für den gesamten diplomatischen Dienst mit seinen besonderen Anforderungen an weltweite Sicherheit. Dass dies eine besondere Herausforderung ist, kann man sich sicherlich vorstellen.
Für alle diese Aufgaben braucht man aber darüber hinaus Sprachkenntnisse, möglicherweise auch Auslandserfahrung, besondere Kompetenzen. Deswegen ist es gut, dass das neue Amt dem Auswärtigen Amt zugeordnet sein wird und die Dienst- und Fachaufsicht wie auch die politische Steuerung selbstverständlich im Auswärtigen Amt verbleiben.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege – –
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– Entschuldigung. Ich bin verrutscht.
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Keine falschen Zuordnungen: Nächster Redner ist für die Fraktion der AfD der Kollege Dr. Anton Friesen.
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Ja, darüber freue ich mich. – Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Liebe Bürger! Zunächst einmal möchte ich einen herzlichen Dank für die wunderbare Arbeit aussprechen, die im Auswärtigen Amt geleistet wird, um unsere Bürger in Zeiten der Coronapandemie zurück nach Deutschland zu holen. Es fanden über 260 Sonderflüge statt; aus 59 Staaten wurden 58 000 deutsche Staatsangehörige nach Deutschland geholt wie auch etliche Tausend Staatsangehörige anderer Staaten. Ich finde: Das sollte uns allen einen Dank und einen Applaus wert sein.
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Gute Arbeit also vom Auswärtigen Amt.
Das kann man allerdings von dem hier vorgelegten Gesetzentwurf leider nicht sagen. Deswegen ist es auch kein Wunder, dass der Bundesrechnungshof zu den größten Kritikern dieses Vorhabens gehört, und deswegen haben wir als AfD auch Vertreter des Bundesrechnungshofes in den Auswärtigen Ausschuss eingeladen, die unserem Bundesaußenminister ein denkbar schlechtes Zeugnis ausgestellt haben. Weder wird in dem Gesetzentwurf erklärt, warum man für dieses neugeborene Bundesamt überhaupt gleich Außenstellen braucht, noch werden die im Gesetzentwurf erwähnten Kosten wirklich belegt. Gleichwohl hat die AfD als staatstragende Oppositionskraft erwirkt,
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dass mehrere Verbesserungen an diesem Gesetzentwurf vorgenommen werden konnten. So wird der Dienstsitz eben nicht zwischen Brandenburg an der Havel und Berlin aufgeteilt, sondern verbleibt in Gänze in Brandenburg. Auch einige Mängel an der Aufbauzulage konnten immerhin beseitigt werden. Dazu sagen wir: AfD wirkt.
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Doch dieses neu zu schaffende Bundesamt ist nur ein Symptom. Die Ursache ist im Grunde genommen das völlige Versagen der Führung des Auswärtigen Amtes im Bereich der Projektförderungen für Krisenprävention, humanitäre Hilfe, Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik. Diese machen zusammengenommen mehr als die Hälfte der Gesamtausgaben des Auswärtigen Amtes aus. Auch der Bundesrechnungshof hat das schon in den Vorjahren kritisiert. Die Entscheidungsprozesse zu den Projektförderungen waren kaum nachvollziehbar, so der Bundesrechnungshof. Auch Verwendungsnachweise in Höhe von fast 2,5 Milliarden Euro wurden weder vom Auswärtigen Amt noch von anderen Stellen hinreichend geprüft.
Deswegen sagen wir als Alternative für Deutschland: Wir brauchen keine neue Behörde. Diese Prüfung kann zunächst einmal auch durch einen externen Dienstleister, durch einen zertifizierten Dienstleister erfolgen. Sie muss nicht durch eine Bundesbehörde erfolgen. Das ist das Erste.
Zweitens brauchen wir natürlich auch ganz dringend einen strategischen Ansatz bei der Förderung von Nichtregierungsorganisationen im Ausland, der von unseren eigenen Interessen ausgeht, einen Ansatz, der diese Interessen erst einmal definiert und dann die Projektförderung vornimmt, anstatt wahllos und ziellos alle möglichen Nichtregierungsorganisationen zu fördern.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nunmehr spricht für die CDU/CSU der Kollege Jürgen Hardt.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was wir heute hier vornehmen, ist die Errichtung der ersten und vermutlich einzigen Bundesoberbehörde des Auswärtigen Amtes seit 150 Jahren.
Es hat eine Reihe von Ministerien gegeben, die diesen Weg der Ausgliederung von nichtministeriellen Aufgaben aus dem Ministerium in den letzten Jahren bereits gegangen sind. Ich kann mich zum Beispiel noch sehr gut an den Prozess erinnern, den Thomas de Maizière vorgenommen hat mit der deutlichen Verkleinerung des Verteidigungsministeriums, mit der entsprechenden Neuordnung der Bundesoberbehörden und der Auslagerung von Stellen.
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Das Finanzministerium und das Justizministerium haben ähnliche Schritte unternommen. Im Justizministerium wurde auch ein neues Amt geschaffen, wenn ich es richtig in Erinnerung habe. Das ist der richtige Weg.
Im Übrigen: Bei aller Kritik, die der Rechnungshof im Einzelnen hatte an der doch sehr beschleunigten Art und Weise, wie das Gesetz erarbeitet wurde, hat er gesagt: Es gibt auch aus Sicht des Rechnungshofs keinen Zweifel daran, dass ein solches Amt sinnvoll und richtig ist. – Deswegen war es für uns in der Koalition klar, dass wir diesen Weg konstruktiv und kritisch begleiten.
Wir haben eine ganze Reihe von Aufgaben im Auswärtigen Amt, die vielleicht besser in einer solchen Bundesoberbehörde von dauerhaft für diese Aufgaben tätigen Spezialisten wahrgenommen werden und nicht von den Diplomaten, die im Übrigen ähnlich wie Soldaten rotieren. Die Diplomaten werden in ihrer Ausbildung so vorbereitet, dass sie unterschiedlichste Dienstposten im In- und Ausland wahrnehmen können. Viele von denen werden vielleicht auch eines Tages Funktionen in diesem neuen Bundesamt für Auswärtige Angelegenheiten übernehmen. Aber diejenigen, die dort an den Spezialaufgaben arbeiten, werden sich sicherlich auf den Dienstposten über viele Jahre spezialisieren können, und das ist der große Vorteil.
Ich werde auch einige Punkte ansprechen, die Frau Hendricks angesprochen hat. Ich glaube, dass wir bald mehr als 3 Millionen Visaanträge bearbeiten müssen, wenn das Fachkräfteeinwanderungsgesetz tatsächlich greift. Das kann nur durch einen neu aufgesetzten, stark digitalisierten Prozess erfolgen, der in diesem neuen Bundesamt für Auswärtige Angelegenheiten geleistet werden muss.
Wir haben eine Versiebzehnfachung der humanitären Hilfe in den letzten zehn Jahren beschlossen. Die Mittel, die wir dort verausgaben, müssen natürlich auch ordnungsgemäß abgewickelt werden. Es muss geguckt werden, dass sie in die richtigen Hände kommen. Gerade bei der Fülle der Aufgaben ist das eine Tätigkeit, die ein solches Amt sicher besser übernehmen kann als das Ministerium selbst. Das Gleiche gilt für die Mittel in der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik.
Ich finde die Leistung des Auswärtigen Amtes ganz enorm, 230 000 deutsche Staatsbürger – Herr Friesen, 230 000 deutsche Staatsbürger sind es! – aus dem Ausland zurückgeholt zu haben jetzt in der Coronakrise. Das war eine hervorragende Leistung. Aber auch für derartige Spezialaufgaben ist ein solches Amt natürlich im Zweifel wie geschaffen.
Bei der Schaffung des Amtes war uns wichtig – das hat dazu geführt, dass wir innerhalb der Koalition, die Haushälter und Außenpolitiker, intensive Gespräche geführt haben: mit dem Minister persönlich, mit der zuständigen Staatssekretärin –: Wenn dieses neue Amt geschaffen wird und es die Vereinbarung gibt, dass damit die neuen Länder gestärkt werden sollen, dann muss es auch eine Stärkung der neuen Länder geben.
Brandenburg an der Havel ist sicherlich ein geeigneter Standort. Aber wenn im Gesetzentwurf der Bundesregierung steht: „Dienstsitz ist Brandenburg und Berlin“, dann hatte ich den Verdacht, der Zweitschreibtisch am Werderschen Markt ist vielleicht für den einen oder anderen Mitarbeiter höchst erstrebenswert. Es sind genau 46 Minuten mit dem Regionalexpress 1 vom Berliner Hauptbahnhof zum Brandenburger Hauptbahnhof.
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Deswegen sagen wir: Brandenburg an der Havel ist der einzige und Hauptsitz dieses Amtes. Natürlich wird es Außenstellen geben. Der Minister hat auch uns klar zugesagt, dass die Einhaltung des Berlin/Bonn-Gesetzes durch diese Bundesoberbehörde nicht gefährdet wird. Es gibt eine Reihe von Dienstposten – Kollegin Hendricks hat darauf hingewiesen –, die an der Rheinschiene angesiedelt sind: Bundesverwaltungsamt in Köln und auch andere Stellen in Bonn. Möglicherweise gibt es auch Dienststellen des Bundesamtes für Auswärtige Angelegenheiten in Bonn. Wir glauben, dass das gut vereinbar ist mit den Ansprüchen des Berlin/Bonn-Gesetzes und mit dem Ziel der Stärkung der neuen Länder.
Dann haben wir gesagt: Das mit der Aufbauzulage haben wir verstanden. – Aufgrund des Rotationsprinzips im Auswärtigen Dienst passen andere Zulagen da nicht so genau. Aber wir sind schon der Meinung: Nach fünf Jahren sollte das vorbei sein. – Wenn nach fünf Jahren in irgendeiner Art und Weise die Arbeit in diesem Amt besonders honoriert werden sollte, dann, finden wir, soll das nur mit Zustimmung des Haushaltsausschusses und des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages erfolgen. Deswegen ist in dem Gesetz ein Prüfvermerk enthalten.
Ich glaube, dass die Beschäftigten des Auswärtigen Amtes damit gut leben können. Ich hatte den Eindruck, dass es bei der Verlagerung der Führungsstäbe der einzelnen Teilstreitkräfte der Bundeswehr in andere Regionen – zum Beispiel der Führungsstab der Marine nach Rostock – keine besondere Zulage- und Ausgleichsregelung gab. Ich glaube, auch der Personalrat des Auswärtigen Amtes kann stolz darauf sein, was er hier erreicht hat.
Ich glaube, dass wir mit dieser neuen Bundesoberbehörde die Schlagkraft des Auswärtigen Amtes erhöhen. Wir werden immer unsere großzügige Bereitschaft, diese Institution zu schaffen und gegebenenfalls mit Stellen – vielleicht auch mit zusätzlichen Stellen – auszustatten, immer dann zur Sprache bringen, wenn wir erleben, dass die Bearbeitung von Visaanträgen zu lange dauert, indem wir sagen: Wir haben euch doch extra das Amt geschaffen. Jetzt muss es ja eigentlich in den nächsten Jahren ein bisschen besser werden. – Das wäre mein großer Wunsch.
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Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion der FDP der Kollege Alexander Graf Lambsdorff.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als Freie Demokraten begrüßen wir, dass das Auswärtige Amt seine Verwaltung besser organisieren will. Denn es ist richtig, Diplomaten und Konsularbeamte aller Laufbahnen von Aufgaben zu entlasten, für die sie nicht besonders qualifiziert und auch nicht besonders motiviert sind. Die meisten haben sich ja nicht im Auswärtigen Dienst beworben, um sich anschließend im Beschaffungswesen oder im Fördermittelmanagement auszuzeichnen. Sie haben sich freiwillig einer berufslebenslangen, weltweiten Rotation unterworfen, weil sie gerne im Ausland auf Posten sind, wo sie die Interessen unseres Landes vertreten.
Weil ich weiß, dass es oft falsche Eindrücke über dieses Leben gibt, lassen Sie mich sagen, dass es auf den allermeisten Dienstposten weit weniger angenehm zugeht, als es das gängige Klischee suggeriert. Es gibt absolute Härteposten wie Kabul, Bagdad oder Tripolis, wo deutsche Diplomaten dennoch Dienst tun. Aber es gibt es auch viele Posten, die spannend klingen, wo die Lebensumstände aber alles andere als angenehm sind: Dhaka, Dschibuti, Duschanbe. – Ich glaube, ich trete Ihnen nicht zu nahe, wenn ich vermute: Die wenigsten würden dahin ziehen wollen. – Die Angehörigen des Auswärtigen Dienstes tun es für unser Land, und dafür gebührt ihnen unser Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Nun ist es aber so, dass Menschen, die das auf sich nehmen, ja, es sogar interessant und spannend finden, für Verwaltungstätigkeiten oft weniger Interesse mitbringen. Das kann nicht verwundern. Diese Aufgaben in ein neues Bundesamt auszulagern – Liegenschaften, Personalverwaltung und anderes –, ist daher richtig.
Aus Sicht meiner Fraktion ist allerdings eines ganz besonders entscheidend, nämlich dass die Visumsvergabe endlich beschleunigt und verbessert wird.
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Die flächendeckende und durchgehende Einführung digitaler Verfahren ist überfällig.
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Daher erwarten wir, meine Damen und Herren, dass mit der Einrichtung des Bundesamtes das Auswärtige Amt, das neue Bundesamt und das Bundesinnenministerium endlich Verfahren einführen, die die notwendigen Anforderungen an die Sicherheit mit einer massiven Steigerung der Geschwindigkeit verbinden.
Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie oft ich von Kollegen angesprochen werde, die aus ihren Wahlkreisen über Antragsteller berichten, die über ein Jahr – manchmal gar anderthalb Jahre – nicht etwa auf das Visum, nein, auf einen Termin zur Vorsprache im Konsulat warten, meine Damen und Herren. Darunter sind sogar Stipendiaten des Deutschen Akademischen Austauschdienstes oder des Goethe-Instituts. Das ist beschämend für unser Land, und das muss sich ändern. Wir brauchen diese Menschen hier bei uns. Sie sind eine Bereicherung für unsere Gesellschaft.
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Abschließend: Es ist das Privileg einer Regierungsmehrheit, hier Gesetze zu verabschieden, von denen ihre Unterstützer wissen, dass sie mindestens in Teilen fehlerbehaftet sind. Aufgabe der Opposition ist es, diese Fehler zu markieren. Zur Standortfrage habe ich deshalb in der ersten Lesung ausführlich gesprochen.
Daher jetzt nur in aller Kürze: Es gibt keine Dezentralisierung. Dann hätte man sich konsequenterweise für Chemnitz oder Rostock entscheiden müssen. Brandenburg an der Havel ist wunderschön; aber es wird nur formell Standort des neuen Amtes. Der Bund errichtet dort sozusagen eine Briefkastenfirma: Adresse Brandenburg, Eigentümer woanders. Wo? Das wissen wir auch. Das neue Amt liegt in „Brandenburg an der Spree“. Selbst die Unterstützer wie Jürgen Hardt weisen darauf hin, dass Brandenburg ausgewählt wurde, weil es von Berlin mit dem Regionalexpress so schnell zu erreichen ist. So ist es ein Etikettenschwindel; denn damit wird kein Beitrag zur angeblich angestrebten Dezentralisierung geleistet, im Gegenteil: Es ist ein Beitrag zur Zentralisierung. Wir werden dem Entwurf der Regierung nicht zustimmen, sondern uns enthalten.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke ist die Kollegin Kathrin Vogler.
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Verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Bundesamt für Auswärtige Angelegenheiten hält auch Die Linke prinzipiell für eine gute und sinnvolle Einrichtung. Derzeit werden im Auswärtigen Amt hier in Berlin etliche Aufgaben erledigt, die in einer nachgeordneten Behörde deutlich besser aufgehoben sein werden. Dazu muss man zum Beispiel wissen, dass die Beamtinnen und Beamten im Auswärtigen Amt nach dem Rotationsprinzip immer nur wenige Jahre an einem Dienstposten bleiben; das ist eine Besonderheit des diplomatischen Dienstes. Deswegen müssen sie auch generalistisch aufgestellt sein und sich häufig in neue Aufgabenstellungen einarbeiten.
Es gibt aber doch eine ganze Reihe von Aufgaben, die weniger mit dem diplomatischen Dienst zu tun haben und für die es besser wäre, langfristig hochqualifizierte und spezialisierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an einem Ort zu bündeln, etwa die interne Verwaltung, die Förderprojekte oder die Visaanträge; das soll künftig in diesem Bundesamt in Brandenburg an der Havel geschehen. Wie gesagt: grundsätzlich eine gute Idee. Nur im Detail offenbaren sich doch einige Schwierigkeiten.
Der Bundesrechnungshof hat kürzlich in einer ausführlichen Stellungnahme den Gesetzentwurf der Bundesregierung bewertet, und die Koalition ist in zwei Punkten der Kritik des Rechnungshofs gefolgt: Sie verzichtet jetzt auf den zweiten Standort, was wir begrüßen, und begrenzt die Aufbauzulage für die Beschäftigen der Behörde zeitlich. Das ist auch okay. Aber die für uns gravierendsten Kritikpunkte bleiben dennoch bestehen: die fehlende Aufgabenkritik und die mangelnde Klarheit über die zu erwartende Kostenstruktur und mögliche Effizienzgewinne durch die neue Behörde.
Das ganze Gesetz wirkt für eine so bedeutende Strukturentscheidung tatsächlich ein bisschen grob und schnell gestrickt. Deshalb können wir uns heute leider nur enthalten. Wir werden uns die weitere Entwicklung natürlich gut anschauen und in der Sache prüfen und die Bundesregierung regelmäßig nach dem Fortgang befragen; darauf können Sie sich verlassen.
Übrigens ist es ganz spannend, wie sich die FDP hier als Lobbyklub erwiesen hat. In der letzten Lesung hat sie das Bundesamt nach Bonn verlegen wollen. Nichts gegen die Bundesstadt Bonn am Rhein; da habe ich einige der tollsten Demos meines Lebens erlebt.
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Aber dort ist eben auch ganz zufällig der Wahlkreis eines wichtigen FDP-Außenpolitikers.
Ablehnen werden wir den Antrag der AfD, da er in eine ganz falsche Richtung geht. Sie wollen, dass das Auswärtige Amt am besten gar keine Projekte der Zivilgesellschaft fördert. Das ist klar; mit Menschenrechten, Friedensförderung und humanitärer Hilfe können Sie sowieso nicht so viel anfangen. Bei dem Vorschlag, das Abrechnungswesen im Auswärtigen Amt zu privatisieren, frage ich mich nur, welche Unternehmensberatungslobby Sie da zum Mettigel eingeladen hatte.
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Vielen Dank. – Als Nächste spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Ekin Deligöz.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Natürlich wäre es, ehrlich gesagt, spannender, hier jetzt über die neuen Herausforderungen der Außenpolitik zu debattieren anstatt über die Verwaltung. Aber spätestens seit Max Weber wissen wir, wie wichtig eine effiziente und effektive Verwaltung ist, damit all die Beschlüsse, die wir hier fassen, auch entsprechend umgesetzt werden können.
Warum wir dieses Bundesamt brauchen, ist eigentlich schon in allen Reden genannt worden. Den Verweis auf die Visastellen haben wir schon ein paarmal gehört; dem stimme ich zu, da gibt es nichts hinzuzufügen. Bis zu einem Jahr zu warten, bevor man überhaupt einen Antrag stellen kann, ist für Unternehmer, Studierende, für Menschen, die nach Deutschland kommen wollen, nicht zu akzeptieren; deshalb brauchen wir an dieser Stelle eine Modernisierung.
Ich nenne noch ein zweites Beispiel: die Verwendungsnachweise für Projektmittel. Insbesondere im Bereich der humanitären Hilfe gibt es einen Bearbeitungsrückstau von einem Jahr; da das derzeit zuständige Amt, das Bundesamt für Verwaltung, nicht in der Lage ist, diese entsprechend zu überprüfen, weil ihnen zum Beispiel die Fremdsprachenkenntnisse fehlen. Es ist leicht gesagt, aber nicht leicht getan, so etwas zu externalisieren. Das muss im Amt geschehen, und auch deshalb brauchen wir an dieser Stelle ein neues und modernes Verwaltungsamt.
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Ich wünschte mir aber, dass sich noch ein paar Sachen ändern. Der Haushaltsausschuss hat dazu einen Maßgabebeschluss getroffen und auch viele Kritikpunkte des Bundesrechnungshofs berücksichtigt. Ich bin der Meinung, dass wir den Teilbereich der Digitalisierung dringend nach vorne ziehen müssen. Warum? Spätestens jetzt – mit den Coronaerfahrungen – wissen wir, dass zu einer modernen Verwaltung auch die Digitalisierung gehört und zu einer international agierenden Organisation ohnehin. Dieser Bereich ist noch weit hinten; ich hoffe, dass er vorgezogen wird. Die Tatsache, dass es ursprünglich dafür eine Außendienststelle in Bonn geben sollte, ist übrigens nicht diesem Gesetz geschuldet, sondern dem Berlin/Bonn-Gesetz; das wir nicht durch ein einfaches Gesetz hinfällig machen können. Daher ist es völlig irrelevant, darüber zu diskutieren. Das Gesetz gibt es. Wenn Sie es ändern wollen, dann müssen Sie an das Berlin/Bonn-Gesetz und nicht an dieses Gesetz Hand anlegen.
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Selbst wenn wir hier heute beschließen, dieses Bundesamt zu errichten – das werden wir wahrscheinlich mit einer großen Mehrheit tun –, entbindet es uns nicht von dem Auftrag, die Verwaltung des Hauses weiterhin zu modernisieren. Dazu gehört auch, die freien Stellen zeitnah zu besetzen und an der Personalreserve zu arbeiten und sie entsprechend auszustatten.
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Solange wir keine Menschen haben, die dort arbeiten und die Aufgaben erfüllen, nutzt uns die beste Verwaltungsstruktur nichts. Das eine bedingt das andere. In dieser Reihenfolge müssen wir auch vorgehen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Als Nächstes spricht für die Fraktion der SPD die Kollegin Doris Barnett.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vieles ist jetzt schon zum Bundesamt gesagt worden, warum es einzurichten ist, warum es notwendig ist, und natürlich stehen wir da auch hinter Ihnen.
Als ich 2014 als Berichterstatterin für das Auswärtige Amt den ersten Bundeshaushalt zu betreuen hatte, betrugen die Mittel für humanitäre Hilfe und Krisenprävention zusammen gerade einmal 400 Millionen Euro. Jetzt, 2020, reden wir über fast 2,4 Milliarden Euro. Das zeigt, wie hoch der Aufgabenzuwachs in diesem Amt ist und weshalb wir hier auch einmal etwas genauer hinschauen müssen, wie die Arbeiten gemacht werden, wer sie noch machen kann und ob wir hier nicht umgestalten müssen.
Es wurde schon viel darüber gesagt, dass die Visastellen überrannt sind. Alle, die schon einmal im Ausland unterwegs waren und eine Botschaft besucht haben – Alois, du weißt es; wir machen es immer –, wissen, wie überrannt sie sind. Ihnen steht oft nur begrenzt Personal zur Verfügung, um das alles abzuarbeiten. Deswegen ist es notwendig, eigenes Personal zu haben, anstatt plötzlich zu überlegen, ob man das alles ausgliedern kann. Nein, das ist Sache des Staates, und da muss es auch bleiben. Deswegen ist es richtig, dass auch Visastellen, also die Visabeantragung, in dem neuen Amt angesiedelt sind.
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Die Fachkräfteeinwanderung wurde schon genannt; das ist richtig. Im Zusammenhang mit der humanitären Hilfe – auch wenn sich da viel getan hat – möchte ich darauf hinweisen, dass alleine im Auswärtigen Amt 44 Millionen externe E-Mails einlaufen, dazu kommen 4 Millionen interne E-Mails, die zu bearbeiten sind. Man kann sich vorstellen, wie groß der Zuwachs an Arbeit hier ist und weshalb dieses Amt dringend eingerichtet werden muss.
Natürlich gibt es auch Probleme; der Bundesrechnungshof hat sie aufgezeigt. Allerdings hat der Bundesrechnungshof sogar auf die Einrichtung des Amtes verwiesen, er hat fast darauf gedrungen, hat gesagt: Ihr könnt so nicht mehr weiterarbeiten; da muss es eine Lösung geben. – Der Bundesrechnungshof echauffiert sich zum Teil über den Standort. Natürlich bleibt der Sitz der Behörde in Brandenburg; das ist richtig. Aber dass man noch eine kleine Abteilung in Berlin haben muss, ist doch logisch, zum Beispiel um Veranstaltungen vorzubereiten. Wie soll das sonst gehen?
Nach dem Berlin/Bonn-Gesetz – darauf wurde schon hingewiesen – müssten eigentlich 17 Prozent der Mitarbeiter in Bonn angesiedelt sein; tatsächlich sind es 11 Prozent. Wir übertreiben hier also nicht. Das Auswärtige Amt wird dort vernünftig geführt, und sie machen auch alles, was notwendig ist.
Dass die IT-Abteilung in Bonn bleibt und ausgebaut werden muss, ist nicht der Einrichtung des Bundesamtes geschuldet, sondern wir reden schon seit Jahren darüber, dass die IT-Abteilung ausgebaut werden muss. Das Auswärtige Amt hat ja auch die Aufgabe, die entsprechenden Mittel zur Verfügung zu stellen, damit die Bundesministerien ihre Aufgaben auch im Ausland wahrnehmen können.
Jetzt möchte ich noch etwas zum Thema Personal sagen: Personal gewinnt man nicht, indem man sagt: Du darfst da hin; wir streichen dir aber als Allererstes das Geld zusammen. – Wenn man das Personal halten will, wenn man Expertise haben will, dann muss man es auch vernünftig bezahlen. Jeder hier weiß, dass der öffentliche Dienst nicht gerade der Ort ist, wo in diesem Land die üppigsten Gehälter gezahlt werden. Deswegen sage ich: Die vorgesehenen Zulagen, um die wir uns mit dem Bundesrechnungshof gestritten haben, sind alle verkraftbar. Ich würde mich sehr freuen, wenn wir die Errichtung des Bundesamtes für Auswärtige Angelegenheiten jetzt mit großer Unterstützung beschließen könnten.
Frau Kollegin.
Wir haben uns, was die Zulagen angeht, ja geeinigt. Ich hoffe, dass das auch unsere Nachfolger in Zukunft entsprechend handhaben und den Mitarbeitern ebensolche Hochachtung entgegenbringen – auch was die Bezahlung angeht.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Alois Karl für die Fraktion der CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor 150 Jahren – wir schrieben das Jahr 1870; daran können wir uns nicht mehr so gut erinnern – wurde das Auswärtige Amt des Norddeutschen Bundes gegründet. Ein Jahr später, 1871, wurde es das Auswärtige Amt des Deutschen Reiches. Eigentlich wären also in diesen Wochen größere Geburtstagsfeiern angesetzt; diese fallen aber aufgrund der Coronakrise aus.
Trotzdem macht der Deutsche Bundestag dem Auswärtigen Amt mit dem Bundesamt für Auswärtige Angelegenheiten ein Geschenk.
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Es ist kein kleines und kein billiges Geschenk. Wir haben nicht 150 Jahre darauf hingearbeitet, aber es hat schon etwas länger gedauert. Der Bundesrechnungshof hat – das ist schon gesagt worden – verschiedentlich kritisch angemerkt, dass beim Auswärtigen Amt die ministeriellen und nichtministeriellen Aufgaben nicht so scharf getrennt sind und eine Aufgabentrennung durchaus erfolgen sollte.
Wir haben darauf reagiert und in den Haushalt 2020 bereits 3,5 Millionen Euro für Vorlaufkosten eingestellt sowie 27 Stellen ausgewiesen. Wir haben seit der ersten Lesung des Gesetzentwurfs vielfach Gespräche geführt, und unsere Intention ist klar: Wir möchten die Trennung von ministeriellen und nicht ministeriellen Aufgaben konsequent vornehmen.
Die nichtministeriellen Aufgaben, die im Auswärtigen Amt miterfüllt werden, sind außerordentlich stark angewachsen; wir haben das gehört. Doris Barnett hat die humanitäre Hilfe angesprochen. Seit 2012 haben sich unsere Leistungen für humanitäre Hilfe verfünfzehnfacht und seit 2005 verfünfundzwanzigfacht. All das kann nicht nebenbei mitbearbeitet werden. Das gilt auch für die Milliarde, die wir für die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik ausgeben. Die Zahlen bei den Visaanträgen steigen, die Bearbeitung solcher Anträge im Zusammenhang mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz kommt hinzu, ebenso das Zuwendungsmanagement, IT-Aufgaben usw. usf. Das ist schon alles angesprochen worden.
Herr Karl, gestatten Sie eine Zwischenfrage von der AfD?
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Ja, gerne.
Bitte sehr.
Danke schön, Herr Kollege Karl. Ich freue mich. – Wir haben vorhin die Zahl gelernt: über 2 Millionen Visaanträge. Sie haben gerade 27 Stellen erwähnt. Können Sie mir mal vorrechnen, wie 27 Beschäftigte über 2 Millionen Visaanträge schneller bearbeiten sollen, als es bisher in sämtlichen Konsulaten aller deutschen Botschaften weltweit der Fall gewesen ist?
An Ihnen gefällt mir Ihre ungeduldige Art. – Darauf komme ich noch zu sprechen.
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Natürlich kann man das nicht – das weiß jeder aus Kirche und Schule – mit 27 Stellen machen. Aber wir sind ja erst in der Aufbauphase. Für die Anlaufaufgaben werden vorweg 27 Stellen geschaffen. Wir werden, Frau Staatsministerin, im Endstadium wahrscheinlich 700, möglicherweise bis 1 000 Stellen dort haben, allerdings nicht allein für Visaangelegenheiten, aber die sollen dann natürlich in ganz anderer Qualität und in ganz anderer Geschwindigkeit bearbeitet werden. Also: Warten Sie zu! Aus den 27 wird eine wunderbare Stellenvermehrung, ähnlich wie im Alten Testament.
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Das wird sich dann gut aufschaukeln und gut anwachsen.
Unsere Intention ist, meine Damen und Herren, dass die Arbeit im Auswärtigen Amt, über die wir uns ansonsten sehr freuen, im Hause und in den 227 Auslandsvertretungen dadurch deutlich besser organisiert werden kann und zu besseren Ergebnissen führen wird.
Die Neugründung ist für uns in Brandenburg richtig angesiedelt. Was haben wir nicht alles an Kritik gehört: dass kein Ministerialer in die Provinz gehen möchte, dass das nicht zumutbar sei, dass die Lebensqualität dort schlechter sei. – Fake News, sage ich dazu. Brandenburg ist eine lebenswerte und liebenswerte mittlere Stadt,
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die in der Tat eine großartige Kultur aufzubieten hat, eine reiche Geschichte hat und inmitten einer wundervollen Landschaft liegt.
Meine Damen und Herren, wer die Naherholung und auch die große Stadt Berlin sozusagen vor der Haustür hat, wer in einer solch wundervollen Umgebung, wo andere Urlaub machen, einen krisensicheren Arbeitsplatz hat, der spielt doch in der Premier League, der könnte geradezu in den erblichen Adel aufgenommen werden. So schaut mir das aus. Ich glaube fast, dass die Mitarbeiter sich künftig noch darum balgen werden, nach Brandenburg an der Havel zu kommen.
Die Stadt hat eine großartige Historie. Otto I. war damals nicht nur König, sondern auch deutscher Kaiser. Er hatte einen tollen Enkel, der auch Otto I. hieß, aus Brandenburg stammte und dann, lieber Stefan Müller, als Herzog nach Bayern gekommen ist.
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Wenn man sich all diese Verbindungen anschaut, muss man sagen, dass die Wahl von Brandenburg an der Havel doch eine ganz besondere und die richtige gewesen ist.
Aber kommen wir zurück zur Jetztzeit. Wir möchten die Qualität natürlich dadurch verbessern, dass wir es tüchtigen Mitarbeitern ermöglichen, in das neue Amt nach Brandenburg zu gehen. Es ist schon gesagt worden: Wir können natürlich nicht sagen „Geh nach Brandenburg!“ und zugleich die jetzt gezahlte Ministerialzulage streichen. Deswegen ersetzen wir die Ministerialzulage durch eine Aufbauzulage, die fünf Jahre lang gezahlt wird. Wenn die Aufbauarbeit abgeschlossen ist, soll damit Schluss sein. Für die Mitarbeiter, die dann nicht mehr im Auswärtigen Amt arbeiten, sondern im Bundesamt, wird auch die Rotation enden. Wir zahlen dann auch noch Ausgleichszulagen für diejenigen, die später kommen, allerdings nicht für diejenigen, die von auswärts kommen, sondern nur für diejenigen, die vorher im Ministerium tätig gewesen sind.
Wir haben mit dem Minister und der Staatsministerin vertrauensvoll zusammengearbeitet, sozusagen, lieber Kollege Hardt, auch Vergleiche geschlossen. Wir sind, lieber Herr Minister, „maas-voll“ miteinander umgegangen.
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Unsere Intention ist erhalten geblieben: Wir möchten Effizienzgewinne erzielen, Kompetenzgewinne erzielen, Ressourcengewinne erzielen. Dann hat sich das alles gelohnt. Ich bitte Sie, zuzustimmen.
Vielen herzlichen Dank. – Ich danke auch für die Zwischenfrage.
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Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Ende des Zweiten Weltkriegs jährte sich am 8. Mai zum 75. Mal. Coronadringlichkeit schön und gut; es kann aber nicht sein, dass der Deutsche Bundestag keine halbe Stunde Zeit findet, um über den richtigen Umgang mit diesem erinnerungspolitisch so wichtigen Datum zu diskutieren.
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Nachdem von der Regierungskoalition nichts kam, hat also die AfD-Fraktion dieses Thema auf die Tagesordnung gesetzt. Und inzwischen nannte ja Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, gespenstisch einsam vor der Neuen Wache in Berlin stehend, den 8. Mai 1945 den „Tag der Befreiung“.
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Und er fügte hinzu: „Damals wurden wir befreit. Heute müssen wir uns selbst befreien!“ Er zählt dann auf: von der „Versuchung eines neuen Nationalismus“, von „Abschottung“, „Fremdenfeindlichkeit“ und von „Hass und Hetze“, die nichts anderes seien – Zitat – „als die alten bösen Geister in neuem Gewand“.
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Diese politische Geisterbeschwörung des Bundespräsidenten gipfelte in der Losung: Scheitert Europa, dann scheitert das „Nie wieder!“!
Meine Damen und Herren und werter Herr Bundespräsident, ich rufe es Ihnen von dieser Stelle aus zu: Sie missbrauchen die Erinnerung an ein historisches Datum, um notwendige und legitime Debatten in der Gegenwart zu unterdrücken!
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Jeder, der die Nation als Garant der Demokratie verteidigt, der die skandalöse Politik der offenen Grenzen ablehnt oder der keinen zentralistisch regierten EU-Superstaat will, wird von ihnen quasi unter Nazigeneralverdacht gestellt.
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Das ist historisch und politisch abwegig, es spaltet die Gesellschaft, und es ist eines Bundespräsidenten unwürdig.
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Und eines noch: Sie können ja der Meinung sein, Herr Bundespräsident und viele hier im Saal ebenso, dass man Deutschland „nur mit gebrochenem Herzen lieben“ kann.
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Ich sage Ihnen: Es gibt Deutsche – und es sind nicht wenige –, die ihre Heimat mit vollem Herzen lieben,
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und sie werden sich auch nichts anderes verordnen lassen von Ihnen.
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Doch kommen wir zu dem Schlagwort „Tag der Befreiung“, das Richard von Weizsäcker in seiner berühmten Rede 1985 durchaus noch differenzierter verwendet hat. SPD und Grüne wollen ja einen solchen Feiertag, wie man hört, Die Linke sowieso, in bester DDR-Tradition, wo es darum ging, mit dem Tag der Befreiung vom unfreien Charakter der SED-Diktatur abzulenken.
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Ja, natürlich, meine Damen und Herren, Deutschland und die Welt wurden am 8. Mai 1945 befreit: vom verbrecherischen NS-Regime und vom Ausnahmezustand der Vernichtung, den dieses in Europa entfesselt hatte. Es war ohne Einschränkung ein Tag der Befreiung für die von den Nazis verfolgten Gruppen: die Juden Europas, die überfallenen und misshandelten Nachbarvölker, auch für weite Teile des eigenen Volkes, soweit sie sich in Sicherheit befanden.
Aber – und diese Ambivalenz der Geschichte gilt es auszuhalten –: Es war eben keine Befreiung für die 2 bis 3 Millionen Deutschen, die in den ehemaligen deutschen Ostgebieten durch Vertreibung, Flucht und Verschleppung nach 1945 noch umgekommen sind. Es war keine Befreiung für die rund 11 Millionen deutschen Kriegsgefangenen, von denen 1,6 Millionen gar nicht mehr zurückkehrten, die meisten anderen erst nach jahrelanger unmenschlicher Lagerhaft.
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Und es war definitiv keine Befreiung für die geschätzt 2 Millionen nach dem 8. Mai noch vergewaltigten deutschen Frauen und Mädchen, von denen 10 Prozent starben, die übrigen teils schwer traumatisiert wurden.
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Allein die Pietät diesen keineswegs Befreiten gegenüber verbietet es, den 8. Mai zum Feiertag zu erheben, meine Damen und Herren,
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es sei denn, man ginge von einer Kollektivschuld aller Deutschen aus, was aber massiv zynische Implikationen hätte
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und was jedenfalls Richard von Weizsäckers Diktum widerspricht – hören Sie mal zu! –, der nämlich sagte: „Schuld oder Unschuld eines ganzen Volkes gibt es nicht. Schuld ist, wie Unschuld, nicht kollektiv, sondern persönlich.“
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Lassen Sie uns daher diesen Jahrestag zum Anlass nehmen, um endlich auch für die deutschen Opfer des Zweiten Weltkrieges eine Gedenkstätte zu errichten. Zentral in der Bundeshauptstadt gelegen, sollte sie über die einzelnen Opfergruppen, wie ich sie vorhin nannte, aber auch über die Opfer des Bombenkrieges in einem angeschlossenen Dokumentationszentrum auf dem heutigen Stand der Forschung informieren. Ein Wettbewerb sollte ausgeschrieben werden und ein Expertengremium eingesetzt, das dem Deutschen Bundestag gegenüber rechenschaftspflichtig ist.
Zu den bestehenden Gedenkstätten für die Opfer des NS-Regimes, allen voran dem Denkmal für die ermordeten Juden Europas, soll diese Gedenkstätte ausdrücklich nicht ins Konkurrenz-, sondern ins Ergänzungsverhältnis treten, ganz im Sinne der Worte des ehemaligen Bundespräsidenten Herzog: „… man kann weder Ruhe noch Versöhnung finden, wenn man sich nicht der ganzen Geschichte stellt“ – der ganzen Geschichte.
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– Das tun wir, im Gegensatz zu Ihnen.
Wir glauben auch – ich komme zum Schluss –, dass die Freundschaft zu den ehemaligen Kriegsgegnern inzwischen gefestigt genug ist, dass diese auch den Deutschen die Trauer um die eigenen Kriegsopfer zugestehen werden, wenn wir diese umsichtig, würdig und im Einklang mit den historischen Fakten begehen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger fordert unser Antrag.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion der CDU/CSU die Kollegin Elisabeth Motschmann.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der AfD ist der traurige Versuch, das Verbrechen der Deutschen mit dem Unrecht an Deutschen zu vergleichen, aufzurechnen und damit zu relativieren,
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Und genau das wollen und dürfen wir nicht.
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Das trägt nicht zur Versöhnung bei.
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– Ich glaube, wir machen weiter; die Emotionen gehen hoch.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat im Dezember folgenden Satz in Auschwitz gesagt – ich zitiere –:
Ich empfinde tiefe Scham angesichts der barbarischen Verbrechen, die hier von Deutschen verübt wurden – Verbrechen, die die Grenzen alles Fassbaren überschreiten. Vor Entsetzen über das, was Frauen, Männern und Kindern an diesem Ort angetan wurde, muss man eigentlich verstummen.
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Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen – aber ich mache natürlich weiter.
Der Holocaust hat insgesamt 6 Millionen Juden das Leben gekostet. Sie wurden von Deutschen ermordet. Weltweit sind 60 Millionen Menschen dem Zweiten Weltkrieg zum Opfer gefallen. Dieser Krieg war ein Angriffs- und Vernichtungskrieg,
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ein vom nationalsozialistischen Deutschland verschuldetes Verbrechen. Die Anerkennung dieser Schuld muss immer im Mittelpunkt unserer Erinnerungskultur stehen. Nur so können wir nämlich das „Nie wieder!“ an die nächste Generation weitergeben.
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Richard von Weizsäcker nutzte im Mai 1985 eine klare Sprache, eine befreiende Sprache für das, was 40 Jahre zuvor geschehen war. Auch ich zitiere ihn:
Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.
Dieser Gedanke von Richard von Weizsäcker wird von der AfD in seiner Intention verdreht und nicht verstanden, und das ist beschämend.
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Ich erinnere an eine Rede von Björn Höcke 2017 in Dresden. Er sagte damals:
Und diese dämliche Bewältigungspolitik, die lähmt uns heute noch ... Wir brauchen nichts anderes als eine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad.
Genau diese Wende wollen wir nicht.
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Und die AfD folgt mit ihrem Antrag dieser Forderung von Björn Höcke, und das, liebe AfD, ist erbärmlich.
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Ja, Deutschland hat die Grausamkeit des Krieges auch selbst erlitten und einen hohen Preis gezahlt.
Frau Motschmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Jongen?
Nein, lieber hinterher. – Unsere Städte lagen in Schutt und Asche. Viele Millionen Menschen haben ihr Leben verloren. Die Wirtschaft lag am Boden. 14 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene aus dem Osten Deutschlands haben alles verloren, vor allem ihre Heimat. Niemand bestreitet das. Wir dürfen auch dieses Leid nicht vergessen. Das tun wir auch nicht. Es gibt überall im Land Gedenkstätten und Erinnerungsorte. Fast in jeder Kirche befinden sich Gedenktafeln für die gefallenen Soldaten.
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– In jedem Dorf. – Wir haben Soldatenfriedhöfe in ganz Europa. Gedenksteine für die Toten der Weltkriege befinden sich auf vielen Marktplätzen.
Auch die Bundesstiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung hat die Aufgabe, die Erinnerung an alle Opfer des Nationalsozialismus aufrechtzuerhalten. Mit dem Bundesprogramm „Jugend erinnert“ wollen wir die Bildungsarbeit zur Aufarbeitung aller Facetten des Nationalsozialismus stärken. Priorität müssen aber immer die authentischen Orte des NS-Terrors an Juden, Sinti und Roma, Behinderten und vielen anderen Opfergruppen haben.
Ganz besonders wichtig ist die Zeitzeugenarbeit. Die meisten Zeitzeugen leben leider nicht mehr, aber ihre bewegenden Zeugnisse sind in Büchern und in digitaler Form dokumentiert und damit erhalten. Dafür können wir dankbar sein.
Die Würdigung aller Opfer des Nationalsozialismus ist durchaus gewährleistet. Deshalb lehnen wir die Forderung der AfD nach einer zusätzlichen Gedenkstätte nur für die deutschen Opfer ab. Das wäre das völlig falsche Signal.
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Es darf keine Relativierung, keine Verharmlosung der deutschen Verantwortung und Schuld für den grausamen Zweiten Weltkrieg geben.
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Ein Mitglied der AfD hat das Denkmal der ermordeten Juden als „Denkmal der Schande“ bezeichnet. Vor diesem Hintergrund hat die AfD jede Berechtigung verloren, ein anderes Denkmal zu fordern.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Ich gebe dem Kollegen Jongen die Gelegenheit zu einer Kurzintervention.
Vielen Dank, Herr Präsident, für diese Gelegenheit. – Frau Motschmann, ich weiß nicht, welche Rede Sie gehört haben oder welches Übersetzungsprogramm sozusagen in Ihrem Kopf läuft. Ich habe völlig anderes zum Ausdruck gebracht. Ich habe auch ausdrücklich das Denkmal für die ermordeten Juden Europas gewürdigt und gesagt, dass wir uns ergänzend dazustellen wollen und dass wir hier kein Konkurrenzverhältnis wollen.
Aber meine Frage bezieht sich auf die Rede Richard von Weizsäckers, die Sie auch zitieren und wo Sie uns unterstellen, wir würden sie falsch verstehen und den Tag der Befreiung falsch verstehen. Ich frage Sie: Kennen Sie denn das Zitat aus dieser Rede von Richard von Weizsäcker? Er sagte:
Als Deutsche gedenken wir in Trauer der eigenen Landsleute, die als Soldaten bei den Fliegerangriffen in der Heimat, in Gefangenschaft und bei der Vertreibung ums Leben gekommen sind.
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Kennen Sie dieses Zitat überhaupt? Glauben Sie wirklich, dem Geist Weizsäckers gerecht zu werden, indem sie dieser Trauer eine vollständige Absage erteilen?
Danke.
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Frau Motschmann.
Herr Kollege Jongen, ich brauche von Ihnen keinen Nachhilfeunterricht.
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Selbstverständlich habe ich die Rede von Richard von Weizsäcker mehrmals und immer wieder gerne im Zusammenhang gelesen. Ich habe Ihnen zu Recht unterstellt, dass Sie die Intention dieser Rede nicht verstanden haben.
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Dabei bleibe ich auch. Ich könnte noch hinzufügen, dass ich sowieso nicht verstehe, warum man, wenn man das Dritte Reich als „Vogelschiss der Geschichte“ bezeichnet, noch ein Denkmal braucht.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist für die Fraktion der FDP der Kollege Thomas Hacker.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erst vor wenigen Tagen gedachten wir des Endes des Zweiten Weltkrieges, der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands. Der 8. Mai 1945 markiert das Ende der Nazidiktatur. Deutschland war am Ende. Für viele Täter und Opfer gab es keine Hoffnung mehr, keine Menschlichkeit, keine Zukunft.
Dieser Tag ist für uns Deutsche ein Tag der Trauer und der Scham. Wir trauern um die Millionen Toten, die im Krieg und durch die Nazis ihr Leben lassen mussten. Und wir sind beschämt, weil der Krieg und die furchtbarsten Verbrechen gegen die Menschlichkeit von deutschem Boden ausgegangen sind.
In diesem Jahr war es ein stilles, ein einsames Gedenken. Die politischen Spitzen der Bundesrepublik Deutschland legten Kränze nieder in der Neuen Wache, der zentralen Gedenkstätte für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft, von Flucht und Vertreibung, der Gedenkstätte übrigens für alle Opfer.
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Zurzeit erinnern wir uns an viele 75. Jahrestage aus den Schlussmonaten des Zweiten Weltkriegs: die Befreiung des deutschen Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau. Dort wurden Menschen systematisch gequält, ihrer Würde beraubt, industriell ausgelöscht, ermordet, vernichtet. Menschen aus Polen, aus Deutschland, aus Ungarn, aus Frankreich und aus vielen anderen Ländern Europas, Menschen jüdischen Glaubens, Christen, Sinti, Roma, Homosexuelle, Angehörige anderer Minderheiten – den Nazis war die Nationalität ihrer Opfer egal. Wir erinnern uns an die Bombardierung Dresdens genauso wie an die Todesopfer in den zuvor bombardierten Städten anderer Länder – London oder Coventry –: Kinder, Frauen, Männer. Den Bomben war die Nationalität ihrer Opfer egal.
Krieg ist grausam und unmenschlich. Völkerrechtlich mag ein Krieg definierbar sein. Urteile über Schuld und Unschuld einzelner können verwischen.
Sind Täter immer Täter und Opfer immer Opfer? So einfach ist das häufig nicht. Schnell können aus Opfern Täter und aus Tätern Opfer werden. Wir haben aufgrund unserer Geschichte Schwierigkeiten im Umgang mit dieser Ambivalenz. Wie gehen wir mit Menschen um, die zugleich Täter und Opfer sind? Wiegt die Schuld der Tat schwerer als das erlittene Leid? Fragen wie diese müssen wir uns immer wieder stellen. Sie gehören zu uns, zu unserer Geschichte. Nur wenn wir uns damit auseinandersetzen, können wir für die Zukunft lernen.
Der 8. Mai 1945 war Schlusspunkt unvorstellbarer Grausamkeiten und Verbrechen. Gleichzeitig konnte Neues entstehen, auch wenn viele das in den zertrümmerten Städten oder Kriegsgefangenenlagern noch nicht sehen konnten. Befreit von der Nazidiktatur wurde die Grundlage für ein freies, ein demokratisches Deutschland geschaffen: zuerst in der Bundesrepublik, nach der friedlichen Revolution 1989 dann im vereinten Deutschland, freundschaftlich verbunden mit unseren Nachbarn in Europa.
In unseren Gedenkstätten und Erinnerungsorten, an Jahrestagen wie dem 8. Mai setzen wir uns mit unserer Geschichte auseinander. Wir erinnern an die Opfer und ihr Leid, unabhängig davon, wo sie lebten oder woher sie kamen. Wichtiger als diese Frage sind die Lehren, die wir aus unserer Vergangenheit ziehen, die Erkenntnisse, die wir an die junge Generation weitergeben: das klare Bekenntnis zum „Nie wieder“ – nie wieder nationale Überheblichkeit, nie wieder Hass, Intoleranz, Gewalt gegenüber anderen Nationen, anderen Religionen, anderen Meinungen, nie wieder Krieg.
Danke.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin für die Fraktion der SPD ist die Kollegin Marianne Schieder.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich den Antrag der AfD vor wenigen Tagen gelesen habe, musste ich mich erst hinsetzen und wirklich tief durchatmen. Denn es ist unglaublich, wie hier mit unserer Geschichte umgegangen wird, und unsäglich, in welch infamer Weise die Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, aber auch historische Forschung benutzt, passend gemacht werden, um die eigene rechte und braune Ideologie zu stützen und zu rechtfertigen.
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Ich möchte es einmal vortragen. Da wird davon gesprochen, dass die Bezeichnung des 8. Mai als „Tag der Befreiung“ eine „verkürzende Deutung“ sei. Es ist die Rede von einer „undifferenzierten Befreiungsrhetorik“, der jetzt – ich zitiere – „ein differenzierteres Bild entgegengesetzt werden“ müsse, „das der historischen Wahrheit näher kommt und das namentlich den deutschen Opfern des Zweiten Weltkriegs gerecht wird“.
Es seien zwar am 8. Mai – so heißt es da außerdem – das „nationalsozialistische Unrechtsregime“ beendet und „die von ihm verfolgten Ethnien, politischen Gruppen und Personen befreit worden“. Aber – so geht es dann weiter – der 8. Mai stehe „auch für die unter großen Opfern erzwungene bedingungslose Kapitulation und infolgedessen für den Verlust beträchtlicher Teile des ehemaligen Staatsgebietes“.
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Und es wird unterstellt, dass gezielt nicht darüber geredet werde, dass es auch nach dem 8. Mai „Vertreibung, Zwangsverschleppungen und Vergewaltigungen“ sowie Hunger und Elend gegeben hätte. Das Ganze gipfelt dann in dem Satz:
All diese nach dem 8. Mai 1945 noch ums Leben Gekommenen haben das Kriegsende nicht als Befreiung erlebt.
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Und, wie zu erwarten, wird – wie es wörtlich heißt – „konstatiert“, dass es eine „weitgehende Ausschließung der deutschen Kriegsgeneration als ‚Täterʼ aus der Erinnerungsgemeinschaft“ gebe. Und auch von einer „unterschwelligen Behauptung einer Kollektivschuld der Deutschen“ ist die Rede, die, wie es weiter heißt, „in dem Schlagwort ‚Deutsche Täter sind keine Opferʼ ihre äußerste Zuspitzung findet“. Das stelle man sich einmal vor!
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Und dann stellen die sich hierhin und sagen, es sei ihnen ernst mit einer vernünftigen Bewältigung unserer Vergangenheit.
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Es sei 75 Jahre nach Kriegsende an der Zeit, heißt es dann schließlich, das „stahlharte Gehäuse normierten Gedenkens“, in dem das Leiden der deutschen Kriegsgeneration kaum mehr einen Platz habe, mit einer eigenen Gedenkstätte zu durchbrechen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schäme mich als deutsche Staatsbürgerin und ich schäme mich erst recht als Abgeordnete dieses Deutschen Bundestages zutiefst,
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dass es heute wieder möglich ist, dass Sätze, die von einer so rechten und braunen Ideologie nur triefen
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und die sowohl die Geschichte wie auch die gesellschaftliche Realität in ein so falsches Licht rücken,
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in unserem Parlament gesagt werden können.
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Ich schäme mich, und ich schäme mich wirklich zutiefst.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt keine „undifferenzierte Befreiungsrhetorik“ in unserem Land und ebenfalls kein „stahlhartes Gehäuse normierten Gedenkens“, wo die Erinnerung und die Trauer um die deutschen Opfer keinen Platz haben.
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Das wissen Sie alle ganz genau. Frau Kollegin Motschmann hat darauf hingewiesen: In jedem Dorf – jedenfalls ist es in Bayern so –
steht ein Denkmal für die vermissten, für die ermordeten, für die gefallenen
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Soldaten des Zweiten Weltkriegs. Überall finden Veranstaltungen statt, und zwar alle Jahre wieder, wo aller Opfer von Gewalt, Terror und Krieg gedacht wird.
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Es gibt überall Gedenkorte, Dokumentationsstätten ganz vielfältiger Art. Sie werden getragen von wissenschaftlichen Analysen ebenso wie vom bürgerschaftlichen Engagement. Und selbstverständlich werden die deutschen Opfer nicht vergessen. Ich erinnere an die alljährlich stattfindende Gedenkstunde hier in diesem Hause anlässlich des Volkstrauertages. Auf die Rede des Herrn Bundespräsidenten in der Neuen Wache ist bereits hingewiesen worden.
({13})
Ich sage Ihnen: Anträge wie diese zeigen, dass wir nicht aufhören dürfen, uns mit unserer Geschichte auseinanderzusetzen; denn die Aufarbeitung ist noch lange nicht abgeschlossen. Und die Ewiggestrigen lassen nicht locker, die Geschichte so hinzubiegen und zu frisieren, wie es ihnen gerade passt, um ihre braune Soße im Land zu verbreiten und dafür möglichst viele Anhänger zu finden.
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Wir dürfen wirklich nie vergessen, welches Unrecht und welches Leid von Deutschland in die Welt getragen wurden und welche Gräueltaten im Namen des deutschen Volkes begangen wurden.
Zusammen mit meiner Fraktion bin ich der Meinung, dass wir einen Ort der Dokumentation, des Lernens, des Erinnerns und der Begegnung brauchen, einen Ort, an dem an die NS-Besatzungsherrschaft zwischen 1939 und 1945 und ihre Folgen für ganz Europa, aber im Besonderen für die Länder in Mittel- und Osteuropa erinnert wird und an dem die Besatzungsherrschaft und ihre Folgen aufgearbeitet werden.
Weite Teile Europas waren bei Kriegsende vollkommen verwüstet, rücksichtlos ausgeplündert und nach dem Prinzip der verbrannten Erde unbewohnbar gemacht. Die Blutspur der Nationalsozialisten hinterließ überall unvorstellbares Leid.
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Gerade dieser Teil unserer Geschichte ist in unserer Bevölkerung in der Breite wenig bekannt.
Ein solcher Ort sollte im Austausch mit den von der deutschen Besatzung betroffenen Nachbarn entstehen und sollte dauerhaft ein Ort des Gesprächs bleiben. Ein solcher Austausch eröffnet einen Raum für transnationale Geschichtssicht und wirkt im Übrigen gegen die um sich greifende populistische Geschichtsmanipulation, die man jetzt wieder überall antreffen kann.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns gemeinsam an einem solchen Konzept arbeiten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion Die Linke die Kollegin Brigitte Freihold.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die AfD will der deutschen Opfer gedenken. Sie will aber nicht der planmäßigen Ermordung deutscher Juden durch ihre deutschen Nachbarn gedenken,
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der deutschen Sinti,
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der deutschen Opfer von Zwangsarbeit, „Kinder-Euthanasie“ oder der als Homosexuelle und Asoziale Verfolgten.
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Sie verschweigt damit
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die entrechteten Deutschen in den deutschen KZs, deutsche Juden, Kommunisten und Sozialdemokraten, deutsche Widerstandskämpfer, Deserteure und Soldaten der Anti-Hitler-Koalition. Allein im polnischen Untergrund oder der französischen Résistance kämpften etliche deutsche Wehrmachtsdeserteure.
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Ja, deutsche Soldaten starben – weil sie einen Vernichtungskrieg geführt und verloren hatten. Der deutsche Vernichtungswille fiel auf Deutschland zurück, weil die Deutschen nach wie vor an Hitler glaubten und unfähig zur Kapitulation waren. Wer waren denn die Nazis? Die Deutschen.
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Die meisten ihrer Millionen Opfer gab es aber bei den versklavten und verfolgten Nachbarn in Europa. Die meisten Opfer der Deutschen haben die Befreiung nicht mehr erlebt. Für die Mehrheit der Deutschen war es keine Befreiung; sie folgten Hitler bis zuletzt.
Die AfD will nun eine Gedenkstätte für die Deutschen, die bis zum Schluss und auch Jahrzehnte danach Hitler folgen wollten. Das lehnen wir ab. Täter sind keine Opfer.
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Gedenken sollte denen gelten, an die man sich gerade nicht erinnert. Das sind nicht die eigenen Toten; das sind die von unseren Vorfahren in Deutschland und Europa ermordeten Menschen.
In diesem Sinne frage ich Sie, meine Damen und Herren von der AfD: Warum unterstützen Sie nicht zum Beispiel den Vorschlag für ein deutsch-polnisches Museum in Gedenken an die circa 5,6 Millionen polnischen Opfer der deutschen Besatzung, die Hälfte davon Juden,
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oder ein Denkmal für die polnischen Befreier von Berlin?
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen, angesichts der neuen Provokation der AfD sollten wir auch selbstkritisch über den Zustand unserer Erinnerungskultur reflektieren. Theodor Adorno kritisierte den Gestus der deutschen „Aufarbeitung der Vergangenheit“, der mehr der Tilgung der Erinnerung dient und weniger Ausdruck gesellschaftlicher Mündigkeit ist. Angesichts des wachsenden Antisemitismus und Antiziganismus sowie der Morde von Halle und Hanau wäre es zu einfach, den Missstand auf die AfD zu verkürzen.
Ein Selbstverständnis moralischer Überlegenheit in der bundesdeutschen Vergangenheitsbewältigung manifestiert sich in jahrzehntelang verweigerten Entschädigungen und Ghettorenten, fehlender Anerkennung marginalisierter Opfergruppen, der ausgebliebenen Rehabilitierung der Opfer der Polenstrafrechtsordnung.
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Solange zwei Drittel der deutschen Familiennarrationen aus Opfer- und Heldengeschichten bestehen und entgegen den historischen Erfahrungen die Täterschaft und die Mittäterschaft kaum thematisiert werden – Studien belegen das – , solange bleibt unsere Erinnerungskultur weiterhin brüchig.
Danke schön.
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Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Erhard Grundl.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am Anfang des vorliegenden AfD-Antrags steht der Versuch, Geschichte umzudeuten. Sie reißen Zitate aus der Weizsäcker-Rede von 1985 aus dem Zusammenhang,
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um damit Ihr braunes Süppchen am Köcheln zu halten.
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Sie betreiben Geschichtsklitterung und wollen die deutsche Täterschaft relativieren. Das wird Ihnen nicht gelingen.
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Ich möchte hier eine Zeitzeugin zitieren, meine Mutter. Meine Mutter war bei Kriegsende 15 Jahre alt, eine junge Frau aus einem Bauerndorf in Niederbayern, sehr katholisch, eher unpolitisch. Mit ihr habe ich später oft über die Zeit des Nationalsozialismus und den Krieg gesprochen, und ihre Worte möchte ich Ihnen eigentlich ans Herz legen, auch wenn da vielleicht nichts mehr ist. Meine Mutter hat gesagt: Wer im Dritten Reich bei uns nicht ganz bewusst weggeschaut hat, der hat sehr wohl sehen können, was passiert ist.
Der Zweite Weltkrieg war eine Tragödie. 60 Millionen Menschen verloren ihr Leben. Er war eine Tragödie, die von Deutschen über die Menschen in Europa gebracht wurde.
Ja, wir trauern. Wir trauen um Deutsche, um deutsche Jüdinnen und Juden, politisch Verfolgte, kritische Künstlerinnen und Künstler. Wir trauern um die Euthanasieopfer, um Sinti und Roma, um Zwangssterilisierte, um ermordete Homosexuelle, um die Opfergruppen der als asozial und als Berufsverbrecher Diffamierten und um die in den KZs Ermordeten. Viele müssten noch genannt werden.
Sie alle waren Deutsche – von Deutschen ermordet. Sie alle bleiben unerwähnt in Ihrem Antrag. Sie alle gehören genauso zu unserer Geschichte wie die zivilen Bombenopfer, die Jugendlichen, die in einem längst verlorenen Krieg als Kanonenfutter dienten, die Frauen, die Opfer von Vergewaltigung wurden, die Menschen, die als Folge des Kriegs ihre Heimat verloren. Doch auch die Vertreibung von vielen Millionen Deutschen ist letztendlich eine Folge der mörderischen Expansionspolitik Deutschlands gewesen. Diese historische Einordnung vermisse ich im Antrag der AfD.
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Meine Damen und Herren, Deutsche waren auch Opfer, aber viel zu viele waren Täter. Es waren Deutsche, die im Krieg mit Regeln brachen, die zuvor galten. Es waren Deutsche, die als Erste die Zivilbevölkerung ganzer Städte bombardierten.
An alle Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft erinnern wir uns heute in der Neuen Wache in Berlin und im Zentrum gegen Vertreibungen. Wir vergessen anders als die AfD eben nicht, dass es die Ausgrenzung und Verfolgung Andersdenkender, der fanatische Nationalismus und der menschenverachtende Rassenwahn waren, die diesen Krieg und den Massenmord an sechs Millionen Jüdinnen und Juden erst möglich machten. Und wir vergessen nicht, dass wenige Widerstand leisteten, aber die große Mehrheit mitmachte.
Wir werden die Erinnerung an die deutschen Verbrechen wachhalten; denn das ist unsere historische Verantwortung – nicht als Selbstzweck, sondern damit wir nie wieder wegschauen, damit wir nie wieder Täter werden. Wer wie Sie von der AfD den Nationalismus bagatellisiert und damit die Opfer verhöhnt,
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wer wie Sie beklagt, die deutsche Kriegsniederlage habe einen „Verlust von Gestaltungsmöglichkeit“ bedeutet, der stellt sich auf die Seite der Leuteschinder und kann hier im Deutschen Bundestag nicht glaubhaft Trauer für die Opfer des Kriegs einfordern.
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Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Eckhard Pols für die Fraktion der CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Unsere Fraktion beobachtet mit großer Sorge, dass die Erinnerungskultur und die Deutung des Zweiten Weltkrieges widersprüchlicher, ja, umstrittener sind denn je. Historiker sprechen gar von einem Erinnerungskrieg, der das Potenzial hat, neue Konflikte in Europa zu schüren.
Der „Spiegel“ schreibt Anfang Mai: „Dabei verläuft die am schwersten umkämpfte Frontlinie zwischen Polen und Russland.“ Das sind erstaunlicherweise die Länder, die am meisten unter dem Zweiten Weltkrieg gelitten haben. Streitpunkte sind etwa die eigene Opferrolle, der Hitler-Stalin-Pakt, der 1939 zur Aufteilung Polens führte, und die damit verbundene Frage, ob die Sowjetunion eine Mitschuld am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges trägt.
Meine Damen und Herren, diese Auseinandersetzung wird auch hierzulande geführt, und die versuchte Einflussnahme reicht bis in den Deutschen Bundestag. Aufgrund der deutschen Verantwortung für die Millionen Opfer der größten Tragödie des 20. Jahrhunderts muss sich die Bundesrepublik Deutschland dieser geschichtspolitischen Herausforderung stellen.
Warum ist diese Entwicklung so brandgefährlich? Weil in Deutschland die politische Rechte unter Führung der AfD eine Neubewertung des Nationalsozialismus anstrebt. Bewusst werden einzelne Ereignisse des Weltkrieges, wie die Bombardierung Dresdens, instrumentalisiert und Deutsche ausschließlich als Opfer thematisiert.
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Dahinter steckt die Strategie, den Fokus auf die Kriegsverbrechen der Alliierten zu richten, um die deutsche Schuld zu relativieren.
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Der vorliegende AfD-Antrag benutzt in geradezu skandalöser Weise die wegweisende Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zum 8. Mai 1945, um eine Gedenkstätte für deutsche Opfer des Zweiten Weltkrieges zu begründen. Dabei blendet sie die Vorgeschichte des Krieges, die Machtergreifung der Nationalsozialisten, und die Millionen NS-Opfer, die Weizsäcker selbstverständlich in den Vordergrund gestellt hat, völlig aus.
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Weizsäcker erinnerte aber eben auch an die deutschen Opfer des Widerstands oder an die Heimatvertriebenen.
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Die AfD hantiert, etwa bei Flucht und Vertreibung, mit höheren Opferzahlen, als sie in der aktuellen Forschung als gesichert gelten. Es ist ein Angriff auf die deutsche Erinnerungskultur, die uns Achtung in der Welt verschafft hat, wenn die AfD den Opfermythos der 50er-Jahre wiederbeleben will. Zudem ist der Antrag handwerklich miserabel. Der Antrag ist gemessen an wissenschaftlichen Standards wahrhaftiger Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs eine absolute Niederlage, und Sie werden damit auch nicht durchkommen.
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Die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag hat sich seit 1949 für Versöhnung und Wiedergutmachung gegenüber den NS-Opfern und für Solidarität und Lastenausgleich in der eigenen Bevölkerung eingesetzt, die von den Kriegsfolgen unterschiedlich betroffen war. Wir verurteilen deshalb jede Form von Geschichtsklitterung in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg auf das Schärfste.
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Angesichts der neuen geschichtspolitischen Herausforderungen ist es zwingend erforderlich, über die bisherigen Initiativen zur Erweiterung des Gedenkens an den Zweiten Weltkrieg und dessen Opfer hinauszugehen.
Die zukünftige Aufarbeitung des Zweiten Weltkrieges muss mit einem umfassenden Ansatz erfolgen. Dabei müssen alle Aspekte seiner Geschichte – von der Besatzungsherrschaft über die Zwangsarbeit bis zum Bombenkrieg – ausgewogen berücksichtigt werden.
Unsere Fraktion hält am Postulat von Weizsäcker fest: Wir müssen der historischen Wahrheit ins Auge sehen, „ohne Beschönigung und ohne Einseitigkeit“.
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Ich stimme daher dem Staatsminister Michael Roth vollkommen zu, der am 8. Mai in der „Frankfurter Rundschau“ äußerte, dass Erinnern kein Kampfinstrument der politischen Auseinandersetzung sein darf. Gedenken darf nicht spalten!
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Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe deshalb die Aussprache.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Achte Gesetz zur Änderung des Bundesfernstraßengesetzes, das ist das, womit wir uns beschäftigt haben und was heute abschließend beraten wird. Beim Siebten Gesetz zur Änderung des Bundesfernstraßengesetzes haben wir uns darauf geeinigt, dass Radschnellwege zukünftig eine Bundesaufgabe sein sollen. Beim Achten Gesetz ist es schon wieder der Radverkehr, der hier im Fokus steht.
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Der Radverkehr leistet einen wichtigen, wachsenden Teil des Gesamtverkehrsaufkommens. Immer mehr Menschen verzichten, insbesondere bei Distanzen von bis zu 15 Kilometer, auf ihr Auto und nutzen stattdessen das Fahrrad, meistens, um zur Arbeit zu pendeln.
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Gerade in Zeiten des Coronavirus hat sich der Radverkehr als geeignetes Verkehrsmittel herausgestellt.
Die Infrastruktur für den Radverkehr ist ein entscheidender Faktor für den Anteil des Radverkehrs am Gesamtverkehrsaufkommen. Da sind viele gute Dinge in den letzten Jahren gemacht worden; aber es kann immer noch besser sein. Bis zum Jahr 2023 stellen wir dem Ministerium über 900 Millionen Euro zur Verfügung allein für Radverkehrsinfrastruktur. Aber Finanzmittel alleine machen den Radverkehr nicht attraktiver; wir müssen auch dafür sorgen, dass Radfahrende sich im Verkehr sicher fühlen und ein großes Radverkehrsnetz zur Verfügung steht. Die Verbesserung der Rahmenbedingungen für den Radverkehr ist ein wichtiger Baustein, gerade für urbane Zentren. Die multiple Verkehrsnutzung kann ein wichtiger Beitrag zum Umweltschutz sein.
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Ich bin dankbar, dass das Ministerium unter Leitung von Andi Scheuer die Förderung des Radverkehrs zu einem eigenständigen Politikbereich erklärt und dass der Minister aktiv in die Pedale tritt. Das ist neu. Es macht Spaß, als Radverkehrspolitiker da mit dem Ministerium zusammenzuarbeiten. Mathias Stein kann mir da sicherlich beipflichten.
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Worum geht es jetzt? Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf schaffen wir nun die Grundlage, Betriebswege auf Brückenbauwerken im Zuge von Bundesautobahnen und Bundesstraßen, die als Kraftfahrtstraßen ausgewiesen sind, bedarfsabhängig so zu bauen, dass auf diesen auch öffentlicher Radverkehr stattfinden kann. Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen. Also: Der Bund ist nicht zuständig für Radverkehr auf Autobahnen. Der Bund ist nur zuständig für die Entflechtung der Verkehrsträger Rad und Auto. Auf Autobahnen dürfen keine Fahrräder fahren. Deswegen war es bisher nicht möglich, an Autobahnbrücken einen Fahrradweg zu hängen. Aber an Autobahnbrücken gibt es natürlich Betriebswege, und wenn man die vernünftig gestaltet, dann ist es möglich, dort auch Radverkehr abzuwickeln. Das ist das, was dieses Gesetz möchte.
In den nächsten Jahren werden an die 32 große Brückenbauwerke saniert oder vielleicht auch neu gebaut, hauptsächlich über große Wasserstraßen. Dort ist dann auch noch Radverkehr möglich. Zum Beispiel im Ruhrgebiet oder über den Rhein ist es durchaus sinnvoll, entsprechende Radwege längszuführen; es sind meistens Radschnellwege, die dann diese Funktion haben. Deswegen ist die Kritik, die kommen wird, dass nämlich an die Fußgänger gar nicht gedacht wird, nicht zielführend; denn es führt gar kein Fußweg an diese Brücken heran.
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Insofern ist das eine gute Initiative, die jetzt auch den Planern die Sicherheit gibt, dass sie Radwege an diesen großen Brückenbauwerken bauen können und dass es dann auch keinen Ärger gibt mit dem Rechnungsprüfungsamt oder Rechnungshof; man kennt ja so einiges.
Meine Damen und Herren, wir haben das Potenzial der Radschnellwege erkannt. Wir haben festgestellt, dass es schwierig ist, ganz auf die Schnelle solche Radschnellwege zu entwickeln. Da sind wir auf einem guten Weg. Dies ist jetzt eine zusätzliche Ergänzung. Auch der Pkw-Verkehr wird Nutzen davon haben; denn dadurch, dass die Betriebswege verbreitert werden, kann man die Unterhaltungsabläufe optimieren; wenn die Betriebswege breiter sind, ist es nicht unbedingt notwendig, die Straßen während der Wartungsarbeiten zu sperren. Insofern bekommen wir auch eine größere Kapazität der ganzen Straße.
Die Änderungsanträge, die wir als Union im Ausschuss eingebracht haben – der Kollege Alois Rainer wird einige ergänzende Ausführungen dazu machen –, beinhalten noch etwas Weiteres: Es geht um die Ermächtigung für die Länder, dass Parkausweise für Bewohner von städtischen Quartieren mit einer gewissen Gebühr versehen werden können. Das ist bisher schon möglich, aber nur mit einer Obergrenze von 35 Euro, wenn ich das richtig weiß.
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- 30,70 Euro. Mein Sohn zahlt mehr; ich weiß nicht, warum. – Wir haben jetzt auf Wunsch der Länder eine Ermächtigungsgrundlage geschaffen, sodass die Länder die Möglichkeit haben, den Kommunen die Kompetenz zu übertragen, eigene Gebühren zu erlassen, um den Parkraum zu bewirtschaften und letzten Endes für sinnvolle Bewirtschaftung im innerstädtischen Bereich zu sorgen. Das ist aber kein Automatismus; denn es steht den Ländern und den Kommunen frei, ob sie davon Gebrauch machen. Wir werden sehen, wie sich das auswirkt.
Jedenfalls freue ich mich, dass wir heute ein Gesetz verabschieden, das den Radverkehr stärkt, das uns in Deutschland in diesem Bereich voranbringt, dass wir den Ländern mehr Eigenverantwortung und damit den Kommunen mehr Eigenverantwortung übertragen. Deswegen können Sie mit Freude zustimmen.
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Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Wolfgang Wiehle für die Fraktion der AfD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Bis zur Sitzung des Verkehrsausschusses in der vergangenen Woche hatte das Achte Gesetz zur Änderung des Bundesfernstraßengesetzes einen simplen und guten Zweck. Viele Autobahnbrücken – wir haben es gerade schon gehört – haben an jeder Seite einen Betriebsweg für die Wartung. Den kann man, wenn es Sinn hat, auch so breit anlegen, dass er sich auch als Fahrradweg eignet. Auf einfache Weise neue Brücken für Radfahrer schaffen, da ist doch jeder gerne dabei.
Letzte Woche tischte die Koalition im Ausschuss einen Änderungsantrag auf, der den Titel des Gesetzes zu einer glatten Verfehlung des Themas macht. Jetzt soll das neue Gesetz auch ganz andere Brücken bauen: Brücken für klamme Städte und Gemeinden, mit dem Ziel, die Autofahrer noch mehr abzukassieren.
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– Hören Sie gut zu, meine Damen und Herren! – Zukünftig werden die Gebühren für Anwohnerparkausweise nicht mehr durch eine Regelung des Bundes auf gut 30 Euro gedeckelt, sondern die Länder können eigene Gebührenordnungen erlassen oder das gleich an die Städte delegieren. Viele Städte in Deutschland werden diesen Freibrief für saftige Erhöhungen gerne nutzen. Beim Preis des Anwohnerparkausweises soll nämlich neben dem Verwaltungsaufwand nun auch ein sogenannter wirtschaftlicher Wert berücksichtigt werden. Und was ist für Autofahrer schon kostbarer als ein Stellplatz in Wohnortnähe? Orientiert sich der Wert in den Augen vieler Städte bald an den horrenden Mieten für Tiefgaragenplätze? Dann, meine Damen und Herren, sind wir bald bei 30 Euro im Monat und darüber. Hier in Berlin könnte die Gebühr so von rund 20 Euro für zwei Jahre auf mehrere 100 Euro steigen. Gerade jetzt, wo 10 Millionen Menschen von Kurzarbeit betroffen sind und viele durch den Shutdown vor der Arbeitslosigkeit stehen, ist dies absolut unverantwortlich.
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Diese Politik gegen die Autofahrer zeigt konsequent eine linksgrüne Schlagseite der Gesetzgebung.
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Auch die Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion muss ich hier mit allem Nachdruck ansprechen: Sie verlieren die Selbstbestimmung der Bürger in Mobilitätsfragen immer mehr aus den Augen und driften in Richtung Nanny-Staat ab.
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Ein weiterer Punkt aus diesem Gesetz sorgt jetzt für eine heftige Diskussion: ob Erdgas-Lkw länger von der Maut befreit werden sollen. Meine Damen und Herren, wenn jetzt als angebliche Alternative Elektro-Lkw ins Spiel gebracht werden, geht das an der Wirklichkeit komplett vorbei. Wer den Lkw-Fernverkehr CO2-ärmer machen will, wird vor allem an synthetischen Kraftstoffen nicht vorbeikommen.
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Die Anpassung der Berechnungsregeln für Straßenlärm trägt die AfD-Fraktion gerne mit, einschließlich der Praxisauswertung, die wir gestern im Ausschuss besprochen haben.
Den Entschließungsantrag der Grünen, der hier auf eine überzogene Verschärfung zulasten des Straßenverkehrs zielt, wird die AfD-Fraktion konsequent ablehnen.
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Dasselbe gilt auch in der Gesamtsicht für das Gesetz zur Änderung des Bundesfernstraßengesetzes. Die politische Giftpille zulasten der Anwohner mit Auto in den Städten schlucken wir nicht mit!
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Wolfgang Wiehle. – Schönen guten Abend, liebe Kollegen! Willkommen zur Nachtschicht!
Nächster Redner: Mathias Stein für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute Abend beraten wir einige kleine gesetzliche Änderungen im Bereich der Verkehrspolitik, die durchaus kräftige Wirkungen entfalten werden: im Radverkehr, im Mobilfunk, beim Klimaschutz und für mehr Lebensqualität in unseren Städten.
Die AfD hat eben unsere Pläne zum Anwohnerparken scharf kritisiert. Dabei habe ich den Eindruck gewonnen, dass Sie Politik mehr für Autos anstatt für Menschen machen.
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Wir geben mit der Aufhebung des Gebührendeckels von 30,70 Euro im Jahr den Ländern und Kommunen vor Ort mehr Möglichkeit, mehr Lebensqualität für die Menschen in den Städten zu schaffen. Die Zahl der angemeldeten Autos in den Städten steigt, der Druck auf Parkraum nimmt zu, und die Städte verlieren an Lebensqualität und Grünflächen.
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Hier bekommen die Kommunen ein Instrument an die Hand, die Anzahl der Autos im öffentlichen Raum zu reduzieren, und mehr Spielraum, eine lebenswerte Stadtteilgestaltung zu schaffen. Und das ist gut so.
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Die Grünen kritisieren uns, dass wir im Bundesfernstraßenmautgesetz noch die Mautbefreiung für Erdgas-Lkws um drei Jahre verlängern. Sie haben sich dabei sogar die Schützenhilfe eines großen Lkw-Herstellers aus Stuttgart organisiert. Ich weiß, Erdgas-Lkws sind weit davon entfernt, klimaneutral zu sein, aber sie sind derzeit im Güterfernverkehr in der Masse die umweltfreundlichste Alternative: bis zu 30 Prozent weniger CO2 – bei der Benutzung von Biomethan können wir sogar noch deutlich mehr Einsparungen erzielen –, rund 99 Prozent weniger Rußpartikeln und Feinstaub, 37 Prozent weniger Stickoxide und 43 Prozent weniger Lärm. Also, wenn man schnell sein will beim Klimaschutz und beim Umweltschutz, dann muss man auch dieses Ziel unterstützen: drei weitere Jahre Mautbefreiung für Erdgas-Lkws.
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Aber wir haben auch Gesetzesänderungen im Angebot, über die sich ausnahmslos hier alle freuen können: Das sind die längst überfälligen Verbesserungen im Bereich des Ausbaus des Mobilfunks. Bisher gibt es ein Verbot des Baus von Mobilfunkmasten links und rechts von Bundesfernstraßen. Wir sorgen jetzt dafür, dass unsere Straßenbauverwaltungen einen Mobilfunkstandort entlang von Bundesfernstraßen nur dann ablehnen dürfen, wenn es gewichtige Gründe gibt. Mit der Bereitstellung von Standorten entlang der Bundesfernstraßen wird die Mobilfunkversorgung auf den Straßen deutlich verbessert. Das erscheint auch dringend notwendig, wenn wir einen Blick auf die Versorgungsauflagen bei der letzten Frequenzversteigerung werfen.
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Wir alle kennen die Funklöcher-Gesprächsabbrüche, wenn wir in unseren Wahlkreisen unterwegs sind. An 5G oder vernetztes Fahren ist dann gar nicht mehr zu denken. Wir bewegen mit dieser Änderung im Fernstraßengesetz einen großen Hebel, um digitale Infrastruktur in die Fläche zu bekommen.
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Oder, wie es mein Kollege Gustav Herzog scherzhaft zu sagen pflegte: Freie Fahrt für die Datenautobahn!
Freie Fahrt haben wir natürlich auch für den Radverkehr. Danke, lieber Gero Storjohann, für die großen Ausführungen zum Fahrrad! Wenn die Sitzung nachher um Mitternacht beendet ist, nehme ich mein rotes Fahrrad und radle los.
Wir haben mit diesen kleinen Gesetzesänderungen großartig auf die Herausforderungen der Verkehrspolitik reagiert. Man nennt das Omnibusgesetze. Das ist ein ordentlicher Omnibus. Ich wünsche mir, dass wir in der Verkehrspolitik noch viele ordentliche Omnibusgesetze machen.
Danke schön.
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Vielen Dank, Mathias Stein. – Wir versuchen ja, vor zwölf Uhr fertig zu sein; das will ich nur mal sagen. Ich habe auch schon einige Reden zu Protokoll.
Nächster Redner – er redet live –: Dr. Christian Jung für die FDP-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir begrüßen als Freie Demokraten, dass mit der Änderung des Bundesfernstraßengesetzes der Ausbau von Radwegen auf Brücken von Bundesfernstraßen ausgeweitet werden soll. Das Fahrrad erhält als Verkehrsmittel somit eine wichtige Förderung. Gerade aktuell nutzen immer mehr Menschen individuell das Fahrrad als Fortbewegungsmittel, um öffentliche Verkehrsmittel zum Schutz vor Corona zu vermeiden. Wir unterstützen deshalb im Grundsatz die geplanten Anpassungen für Radwege. Die Idee muss sein, dadurch lokale Radwegesysteme noch sinnvoller miteinander zu vernetzen.
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Wir begrüßen außerdem die gezieltere Aufstellung von Mobilfunkmasten in direkter Nähe zu Bundesfernstraßen. Wie in der Deutschen Bahn ist es auch auf Bundesstraßen und Autobahnen nicht immer möglich, normal zu telefonieren und Daten zu übertragen. Deutschland ist hier nach wie vor teilweise ein Entwicklungsland.
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Wir Freie Demokraten setzen uns schon lange für eine leistungsstarke digitale Infrastruktur ein. Gerade entlang von Fernstraßen sind solche Masten mit Blick auf das autonome Fahren und 5G absolut unerlässlich.
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Für den Antrag auf den Umweltbonus sollen die Daten zukünftig automatisch übermittelt werden. Wir halten wenig vom Umweltbonus und von einseitigen Kaufprämien für Elektroautos. So eine Subventionierung hilft nur denjenigen, die sich einen Neuwagen sowieso leisten können. Außerdem ignoriert er die ökologisch vergleichbaren Ansätze bei synthetischen Kraftstoffen und E-Fuels. Richtig ist aber, dass der digitale Ausbau in Behörden und Bundesämtern insgesamt vorangetrieben werden muss.
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Die Verlängerung der Mautbefreiung für gasbetriebene Lkws ist für uns durchaus ein positives Zeichen. Sie bedeutet für die Besitzer der betroffenen Lkws Planungssicherheit. Wir dürfen durch diese Förderung aber nicht den Schienengüterverkehr und den kombinierten Verkehr schwächen und damit die Transportwirtschaft gegeneinander ausspielen.
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Für mich wäre daher denkbar, dass es zeitnah eine neunte Änderung gibt und wir dabei eine Mautbefreiung beim Vor- und Nachlauf zu den Terminals für Lkws im kombinierten Verkehr durchführen. Das wäre, glaube ich, ein fairer Ausgleich, um den kombinierten Verkehr nicht zu schwächen.
Der Änderungsantrag beinhaltet insgesamt viele positive Anpassungen. Wir sehen aber bei wichtigen Punkten Bedarf an Nachbesserungen. Deshalb werden wir uns zu dem Gesetz und dem Änderungsantrag der Regierungskoalition enthalten.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Dr. Jung. – Für Die Linke ist der nächste Redner Andreas Wagner.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Liebe Bürgerinnen und Bürger! Kluge Parkraumbewirtschaftung kann einen Umstieg vom Auto auf andere Verkehrsmittel fördern und so Parksuchverkehr und Staus in den Innenstädten reduzieren. Gleichzeitig können die erzielten Einnahmen durch Parkgebühren in den Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs und der Fahrradinfrastruktur investiert werden. Wir wollen lebenswerte und menschengerechte Städte! Städte, die zum Flanieren einladen und in denen sich alle gerne aufhalten! Städte mit wenig Lärm und sauberer Luft! Wir wollen Städte, in denen alle Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer sicher unterwegs sind.
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Der öffentliche Raum ist wertvoll, und ich finde, wir müssen damit behutsam umgehen. Es ist auch eine Frage der sozialen Gerechtigkeit, wie städtische Flächen genutzt werden. Das betrifft auch die Frage, wie der Platz für Autos, Fahrräder und Fußgänger aufgeteilt wird. Bereits jetzt sind in vielen Innenstädten mehr Autos unterwegs, als Parkplätze zur Verfügung stehen. Folge davon sind Parksuchverkehr, Staus und damit einhergehende Belastungen für Anwohnerinnen und Anwohner. Es ist daher notwendig, den Verkehr anders zu organisieren und knappen Parkraum zu bewirtschaften.
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Nach derzeitiger Rechtslage sind die Kommunen an einen vorgegebenen Gebührenrahmen für das Anwohnerparken gebunden. Mit der beabsichtigten Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und der Gebührenordnung für Maßnahmen im Straßenverkehr werden die Länder nun ermächtigt, eigenständig Gebührensätze für das Ausstellen von Anwohnerparkausweisen festzulegen. Die Länder können ihrerseits die Ermächtigung auf die Kommunen übertragen. Wenn zukünftig von dieser Regelung Gebrauch gemacht wird, erhalten Städte und Gemeinden für die Parkraumbewirtschaftung und für die Verkehrsplanung erheblich mehr Gestaltungsspielraum, und das ist richtig so.
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Es ist geradezu ein Witz, dass beispielsweise in München die Ausstellung eines für ein Jahr gültigen Parkausweises für Anwohner derzeit 30 Euro kostet. Das sind Parkgebühren von 2,50 Euro im Monat. Damit sind die Parkgebühren niedriger als der Preis für eine Einzelfahrkarte im MVV; die kostet für Erwachsene 3,30 Euro. Ich finde, das Verhältnis passt beim besten Willen nicht.
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Nun, mit der Gesetzesänderung wird kein Automatismus für höhere Parkgebühren ausgelöst. Die Länder bzw. Kommunen können, aber müssen nicht die Gebühren erhöhen. Die Entscheidungskompetenz wird jedoch dort angesiedelt, wo sie hingehört, und ich bin davon überzeugt, dass damit sorgsam umgegangen wird. Wir begrüßen daher die beabsichtigte Änderung des Straßenverkehrsgesetzes.
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Und wir bleiben dabei: Verkehrsplanung muss immer auch diejenigen im Blick haben, die sich kein Auto leisten können oder aufgrund des Alters oder gesundheitlicher Gründe nicht fahren dürfen. Es ist unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass alle mobil sind, und Parkraumbewirtschaftung ist Teil eines modernen Verkehrskonzepts.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Andreas Wagner. – Der nächste Redner: für Bündnis 90/Die Grünen Matthias Gastel.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Der Güterverkehr stellt innerhalb des Verkehrsbereichs das große Sorgenkind dar; denn wegen ihm drohen die Ziele im Verkehrsbereich in Sachen Klimaschutz deutlich verfehlt zu werden, und unter ihm zerbröckeln auch die Straßen und die Brücken. Klar ist, dass wir im Bereich der Logistik ohne Lkw nicht auskommen können. Wenn es darum geht, Güter auf die Bahn zu bringen, dann werden wir den Lkw natürlich brauchen. Es kommt aber auf zwei wesentliche Dinge an, und genau da liegt der Schwachpunkt im Konzept der Koalition.
Das eine ist: Wir müssen raus aus den fossilen Antrieben, auch beim Lkw. Aber da geht es mit Ihnen nicht voran.
Das Zweite ist die Verlagerung von Güterverkehren auf die Bahn. Auch hier kommen Sie leider nicht voran. Mit dem Gesetzentwurf, den Sie hier vorgelegt haben, wird das nicht erreicht, im Gegenteil! Es wird Flüssigerdgas weiter durch die Mautbefreiung für Erdgas-Lkw gefördert. Wir wissen, dass Erdgas in der Verbrennung nur geringfügig klimafreundlicher als Dieselkraftstoff ist. Wir wissen aber auch, dass es eine Vorkette gibt: Flüssigerdgas muss hergestellt und getankt werden. Hierbei entweicht Methan. Methan ist klimaschädlicher als CO2. Deswegen ist die Gesamtklimabilanz dieses Kraftstoffs kaum besser als die von Diesel.
Weiterhin kann das Ziel der Verlagerung von Gütern von der Straße auf die Schiene nicht erreicht werden, weil Sie eine Dreifachförderung von Erdgas-Lkw vornehmen: einmal eine Anschaffungsförderung für Erdgas-Lkw, dann ist Erdgas im Verkehrsbereich steuerbegünstigt, und jetzt wollen Sie – das ist Gegenstand einer der vorgeschlagenen Gesetzesänderungen – die Mautbefreiung über dieses Jahr hinaus verlängern. Das heißt eine Dreifachförderung von Erdgas-Lkw, eine Überförderung der Lkw. Und das macht die Bahn schlicht und ergreifend kaputt.
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Fazit ist: So traurig es ist, Sie tun nichts fürs Klima, Sie tun aber etwas dafür, Güter von der Schiene auf die Straße zu verlagern. Das ist eine Politik, die genau das Gegenteil von dem macht, was notwendig ist. Deshalb haben wir einen Entschließungsantrag gestellt, in dem wir die Richtung aufzeigen, in die es gehen könnte, damit die Klimaziele erreicht werden können: Sie müssen unbedingt das Dieselprivileg schrittweise abbauen. Sie müssen auch kleinere Lkw in die Straßenmaut aufnehmen. Sie müssen endlich ernsthaft den Masterplan Schienengüterverkehr umsetzen.
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Sie müssen Gleisanschlüsse entsprechend ausbauen durch attraktive Förderprogramme. Und: Sie müssen die Trassenpreise senken, und zwar dauerhaft und nicht im Rahmen von Aktionismus, wie Sie ihn an den Tag gelegt haben.
Es muss endlich Schluss sein mit Ihren Sonntagsreden, wo Sie immer sagen: mehr Güter auf die Schiene. – Sie müssen auch etwas dafür tun,
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und das geht eben nur dann, wenn Sie den Lkw unattraktiver machen und die Bahn stark machen.
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Vielen Dank, Matthias Gastel. – Nächster Redner für die CDU/CSU-Fraktion: Alois Rainer.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Gesetzentwurf, den wir heute abschließend beraten, ist ein weiterer positiver Schritt für den Radverkehr. Unser lieber Kollege Gero Storjohann hat das sehr ausführlich dargestellt. Jede Maßnahme, mit der wir das Fahrradfahren attraktiver machen, hilft, denke ich, uns allen. Es hilft aber vor allem denjenigen, die mit dem Fahrrad in vielfältiger Art und Weise unterwegs sind, vor allem nützt es ihnen bei der persönlichen Gesundheit und Fitness. Fahrradfahren tut ja gut.
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Meine Damen und Herren, mit der Novelle des Bundesfernstraßengesetzes ergreifen wir aber noch weitere Maßnahmen. Kollege Gastel hat gerade seine drei Minuten Redezeit verwendet, um über die Lkw-Maut zu sprechen, das ist gut so, das liegt ganz bei ihm. Die bestehende Mautbefreiung für Erdgas-Lkw verlängern wir nun um weitere drei Jahre bis Ende 2023. Damit wird der Markthochlauf der klimafreundlicheren Lkw als Alternative zum Diesel weiter unterstützt.
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Außerdem schaffen wir mit dieser Maßnahme weiterhin Planungssicherheit für die Unternehmen, die Fahrzeuge anschaffen müssen.
Anfang Februar waren insgesamt 2 866 Erdgasfahrzeuge in der Liste der mautbefreiten Fahrzeuge bei der Toll Collect registriert. Damit sich diese Zahl weiter erhöht, braucht es einen entsprechenden Investitionsanreiz. Erste Reaktionen aus der Transportbranche zeigen, dass wir so den richtigen Schritt gehen. Das ist gut fürs Klima – jeder kann das anders werten –, und was dem Klima nützt, nützt auch der Lebensqualität.
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– Herr Gastel, Sie können viel glauben, aber glauben Sie eines nicht, nämlich dass Sie den kompletten Güterverkehr von der Straße auf die Bahn bringen. Das werden Sie heute nicht schaffen, nicht nächstes Jahr und auch in zehn Jahren nicht.
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Wir arbeiten daran, dass es besser wird, aber nur mit Ideologie wird es nicht funktionieren, lieber Herr Kollege.
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Zu einer positiven Lebensqualität trägt heutzutage natürlich noch viel mehr bei, vor allem eine leistungsstarke digitale Infrastruktur.
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Sie ist die Grundvoraussetzung, um am digitalen Leben teilhaben zu können. Durch milliardenschwere Förderprogramme, die Vergabe von Frequenzen und regulatorische Maßnahmen hat die Bundesregierung in den letzten Jahren bereits vieles auf den Weg gebracht, um den Breitband- und Mobilfunkausbau entsprechend voranzutreiben.
Mit der Novelle des Bundesfernstraßengesetzes machen wir nun einen weiteren wichtigen Schritt.
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– Ich weiß nicht, was Sie daran aufregt, wenn man bei der Digitalisierung besser wird.
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Die Grünen wollen anscheinend nicht
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und die FDP auch nicht, dass wir hier besser werden. Aber das ist okay.
Wir wollen die sogenannte Anbauverbotszone von 40 Metern bei Autobahnen und 20 Metern bei Bundesstraßen ändern. Meine Damen und Herren, damit können die Mobilfunkmasten näher an die Bundesstraßen ran. Es ist dann nicht mehr so einfach, zu verhindern, dass da Masten aufgestellt werden. Wie gesagt, hier wird ein weiterer wichtiger Schritt gegangen. Es ist dann auch nicht mehr so einfach für die Mobilfunknetzbetreiber, zu sagen: „Wir können nicht, wir dürfen nicht“; denn wir schaffen jetzt die Möglichkeit dazu, dass sie dürfen und dass sie auch können.
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Lassen Sie mich abschließend noch etwas zum Anwohnerparken sagen. Erstens war es ein Wunsch der Bundesländer, das selbst regeln zu können. Zweitens ist es, denke ich, ganz gut – ich war selbst Bürgermeister –, wenn die Städte und die Kommunen selbst entscheiden können; darüber freuen sie sich. Wenn wir Entscheidungen an Kommunen delegieren können, dann ist es gut, das auch zu tun; denn gerade sie wissen am besten, wie es in der jeweiligen Kommune ausschaut,
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und gerade sie wissen, was sie an Parkgebühren verlangen sollten bzw. müssen. Deshalb ist es vollkommen richtig, dass wir die Entscheidung darüber in den Verantwortungsbereich der Länder zurückgegeben haben.
Ich freue mich, dass wir mit diesem Gesetzentwurf einen weiteren Schritt in Richtung einer modernen Mobilität machen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Alois Rainer. – Sie haben vorhin wahrscheinlich „Gastel“ gemeint, wo ich „Gerstel“ gehört habe; aber Gerstensaft wäre auch nicht schlecht.
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So, liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt bitte ich um Ihre besondere Aufmerksamkeit und vielleicht einen Auftaktapplaus, weil die nächste Rednerin, die letzte in dieser Debatte, jetzt ihre erste Rede im Deutschen Bundestag hält; und die soll sie nicht vergessen.
Ich begrüße zu ihrer ersten Rede Bela Bach für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Straßenverkehr ist seit Jahrzehnten der vorherrschende Lärmverursacher in Deutschland. Mehr als die Hälfte der Menschen fühlt sich in diesem Land durch Straßenverkehrslärm beeinträchtigt. Die wachsende Mobilität der Menschen, von Corona einmal abgesehen, und die Verbesserungen der Transportwege stellen uns auch beim Lärmschutz vor neue Herausforderungen. Deswegen haben wir bei der vorliegenden Verordnung nicht nur das Geräuschverhalten der Fahrzeuge, sondern auch gleich die Baumaterialien der Straßen auf den Prüfstand gestellt. Die uns jetzt vorliegenden Änderungen der 16. Bundes-Immissionsschutzverordnung haben einen modernen Lärmschutz zum Ziel.
Die Richtlinie für den Lärmschutz an Straßen aus dem Jahr 1990 wurde nun, nach 30 Jahren, endlich runderneuert und an den Stand der Technik angepasst. Fahrzeuge haben sich seitdem technisch doch einigermaßen verändert. Verkehrszusammensetzungen gestalten sich heute anders als früher, und auch Straßenbeläge – Stichwort: Flüsterasphalt – können Lärm schlucken. Die Anpassung der sogenannten Straßendeckschichtkorrektur stellt nichts anderes dar als eine rechtsverbindliche Regel, um die Ausbreitung von Lärm auf unterschiedlichen Straßenoberflächen neu zu berechnen. Und auch das wird effektiv in den allermeisten Fällen für mehr Lärmschutz sorgen.
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Neu ist auch, dass künftig Kreisverkehre in die Berechnung der Lärmemissionen einbezogen werden. Motorräder werden als Lärmquellen eingestuft, die mit Lkws vergleichbar sind. Im Ergebnis führt die aktualisierte Berechnung des Verkehrslärms also dazu, dass vor allem in den Nachtstunden höhere Werte zugrunde gelegt werden. Unterm Strich bedeutet das, dass Planungsbehörden künftig noch stärker angehalten werden, gegen nächtliche Lärmquellen vorzugehen.
Der technische Fortschritt gestaltet sich aber schnell. Europäische und nationale Regelungen sind ständig im Fluss. Das Recht darf der Wirklichkeit aber nicht hinterherhinken. Deswegen habe ich mich dafür stark gemacht, dass wir diese Verordnung in sechs Jahren erneut überprüfen.
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Wir setzen als SPD also einmal mehr Ziele um, auf die wir uns mit der Union im Koalitionsvertrag verständigt haben, und wir tragen dazu bei, den durch Mobilität verursachten Lärm auf Straßen zu reduzieren. Wir nehmen also für vorsorgenden Lärmschutz genauso wie für konkrete lokale Lärmschutzmaßnahmen das notwendige Geld in die Hand, um die Lebensqualität und die Gesundheit der Menschen in diesem Land erheblich zu verbessern.
Vielen Dank.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Anfang März sorgte ein Richter aus meiner Heimatstadt noch bundesweit für Aufsehen, als er anordnete, dass er nur noch mit Schutzmaske verhandle, und selbst beschaffte Masken an die Beteiligten ausgab. Seitdem ist die Welt eine andere geworden. Masken gehören zu unserem Alltag. Und noch etwas anderes ist nicht nur für uns Abgeordnete zum Alltag geworden: Es vergeht kein Tag ohne Videokonferenzen. Sie bieten eine großartige Möglichkeit des Austauschs in Zeiten, in denen es besser ist, wenn sich möglichst wenige Leute persönlich begegnen. Aber sie vereinfachen Gespräche auch sonst, zum Beispiel mit Personen, die aus gesundheitlichen Gründen nicht so gut aus dem Haus gehen können oder über weite Distanzen.
Unsere Gerichte sind leider noch nicht wirklich in dieser neuen Welt angekommen. Parteien, Zeugen, Anwälte reisen stundenlang durch die Republik, um vielleicht nur ein paar Minuten vor Gericht auszusagen oder zu verhandeln. Termine werden immer wieder verschoben, bis auch alle Zeit haben für solche zeitaufwendigen Anreisen. Gerade in Zeiten von Corona bleibt die Akte im Zweifel auf dem Schreibtisch liegen und liegen und liegen. Oder es wird dann doch irgendwann bei entsprechendem Ansteckungsrisiko verhandelt. Das müsste nicht sein. Denn die Digitalisierung bietet gerade für Zivilprozesse tolle Chancen, mit weniger Ansteckungsrisiko, aber auch zügiger, effektiver und transparenter zu verhandeln. Damit Videoschalten im Zivilprozess auch im Jahr 2020 nicht weiterhin Rarität und Zukunftsmusik bleiben, müssen wir zwei Dinge ändern.
Erstens. Die seit immerhin 18 Jahren im Zivilprozess bestehende theoretische Möglichkeit der Verhandlung im Wege der Bild- und Tonübertragung braucht ein Update! Noch steht es allein im Ermessen des Gerichts, ob im Wege der Videokonferenz verhandelt werden kann. Das ist für das Zivilrecht schon völlig unpassend. Anders als im Strafverfahren sind es im Zivilprozess immer die Parteien, die den Ton angeben dürfen. Die Dispositionsmaxime ist der wichtigste Verfahrensgrundsatz im Zivilprozess. Deshalb schlagen wir vor, dass eine Partei beginnend mit der Güteverhandlung im Wege der Bild- und Tonübertragung zugeschaltet werden muss, wenn sie dies beantragt. Die andere Partei kann ebenfalls per Videokonferenz teilnehmen. Es bleibt ihr aber auch unbenommen, wenn sie dies möchte, trotzdem vor Ort in den Gerichtssaal zu gehen.
Zweitens. Prozessuale Möglichkeiten zu schaffen, ist schön und gut, wenn die tatsächliche Umsetzung dann an der oft schlicht fehlenden technischen Ausstattung vor Ort scheitert.
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Daher wollen wir, dass Bund und Länder im Zuge eines Digitalpakts das nachholen, was man bereits vor Jahren hätte angehen sollen – nämlich die Gerichte endlich modern auszustatten.
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Und wenn wir die Säle so ausstatten, dann ergibt es Sinn, über einen weiteren Punkt nachzudenken, nämlich über den der Öffentlichkeit. Nur ganz selten im Zivilprozess besteht diese aus einem oder zwei interessierten Bürgern oder einer Schulklasse – die gehen nämlich lieber zu den Strafsachen. Sie dient aber der Kontrolle und der Transparenz der durch die Gerichte handelnden Staatsgewalt. Daher ist es Zeit, Öffentlichkeit nicht nur als Saalöffentlichkeit zu verstehen, sondern von unseren verfassungsrechtlich gegebenen Spielräumen Gebrauch zu machen und bei Zustimmung der Parteien zusätzlich zur Saalöffentlichkeit eine begrenzte, registrierte Livestream-Öffentlichkeit zuzulassen. Denn auch wer virtuell verhandelt, muss dennoch real kontrolliert werden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Katrin Helling-Plahr. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Dr. Volker Ullrich.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die FDP schlägt vor, sogenannte virtuelle Gerichtsverhandlungen im Zivilrecht zu ermöglichen. Wer den Antrag liest, der fühlt sich ein wenig erinnert an den Wahlslogan der FDP: Digital first. Bedenken second.
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Oder anders ausgedrückt: Digitales fordern und dann erst nachdenken.
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Es wäre vielleicht besser, wenn Sie erst mal nachdenken, bevor Sie einen Antrag stellen; denn das, was hier in Ihrem Antrag verarbeitet ist, hält weder rechtsstaatlichen Standards stand, noch ist es irgendwie praktisch tauglich.
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Ich will Ihnen kurz sagen, weshalb.
Nach § 128a ZPO kann nach Ermessen des Gerichts eine Zeugeneinvernahme oder auch eine Anhörung per Bild- oder Videoübertragung stattfinden. Was Sie aber fordern, ist ein völliger Paradigmenwechsel. Sie wollen nämlich, dass, wenn dies eine Partei bereits beantragt, dann automatisch diese Sitzung als Videoübertragung stattfinden muss, und das ist, ehrlich gesagt, mit Artikel 103 Absatz 1 Grundgesetz nicht vereinbar,
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weil nämlich nach der Rechtswegegarantie des Grundgesetzes jeder den Anspruch auf rechtliches Gehör vor Gericht hat. Das heißt, die Verhandlung muss am Gericht stattfinden. Wir können es nicht in einen virtuellen Raum verlagern, meine Damen und Herren.
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Zudem haben Sie ein Folgeproblem gar nicht bedacht. Es gibt vor den Amtsgerichten keinen Anwaltszwang, sodass es jedem Bürger unbenommen ist, auch selbst vor Gericht zu erscheinen und seine Rechte wahrzunehmen.
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Damit werden Sie, wenn Sie auf Antrag einer Partei ein Videoverfahren zulassen, letztlich die Menschen benachteiligen und juristisch ein Stück weit ins Abseits drängen, die das typischerweise gar nicht können und wollen: Ältere, Rentner, Menschen, die Schwierigkeiten damit haben. Aber der Zugang zum Gericht ist für jeden da,
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nicht nur für diejenigen, die ein Webcam-Equipment haben.
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Und dann fordern Sie unabhängig von dieser Frage, dass der Öffentlichkeitsgrundsatz, auch ein verfassungsrechtlich verbrieftes Recht, durch einen Livestream im Internet ersetzt werden kann.
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Damit ändern Sie völlig den Charakter von Gerichtsverhandlungen.
Die Sitzungsöffentlichkeit ist deswegen ein wichtiges Instrumentum, weil es jedem Bürger unbenommen bleibt, jederzeit zum Gericht zu gehen
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und sich von der Ordnungsmäßigkeit der Verhandlungen zu überzeugen. Aber wenn Sie es ins Internet übertragen, dann haben Sie möglicherweise das Phänomen – das riskieren Sie vollen Bewusstseins –, dass die Verhandlung mitgeschnitten wird, dass Bilder aufgenommen werden, und so machen Sie aus der Sitzung ein Medienspektakel. Das wird auch dem rechtsstaatlichen Anspruch an einen ordentlichen Zivilprozess nicht gerecht.
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Der Flaschenhals besteht darin, dass wir die Akten digitalisieren müssen, damit die Akten schneller laufen. Wir sorgen mit dem Pakt für den Rechtsstaat dafür, dass die Justiz besser ausgerüstet wird und die Verfahren beschleunigt werden. Wo Sie also noch formulieren, haben wir bereits gehandelt.
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Um es abschließend zu sagen: Auch der Begriff „virtuelle Gerichtsverhandlung“ ist übrigens ein Fehlgriff. Nach dem Duden heißt virtuell „nicht echt“, also nur echt erscheinend.
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Wir wollen aber keine nicht echten Gerichtsverhandlungen, sondern wir wollen wirkliche Gerichtsverhandlungen haben, und wir bleiben dabei. Deswegen lehnen wir Ihren Antrag ab.
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Vielen Dank, Dr. Volker Ullrich. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Jens Maier.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Dr. Ullrich hat schon viel gesagt. Ich werde da noch einen draufsetzen.
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Offenbar gibt die Coronapandemie einigen die Möglichkeit, das, was man irgendwie schon immer vorhatte, unterzumischen und mit den momentan angeblich bestehenden Erfordernissen zu begründen. So wollen die Linken als besonders abstoßendes Beispiel, dass während der Coronazeit Schwangerschaftsabbrüche auch ohne Beratungshilfe möglich werden und so die Fristenlösung eingeführt wird. Die Linken nennen ihren Antrag in beispielloser Geschmacklosigkeit „Reproduktive Rechte auch während der Corona-Krise schützen – Beratungspflicht aussetzen und Schwangerschaftsabbrüche absichern“. Corona als Lizenz zum Töten – schämen Sie sich!
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Die FDP, die Partei der Schönen und Reichen, aber auch der inhaltlichen Beliebigkeit, geht im Prinzip genauso vor, wenn auch auf deutlich höherem Niveau. Auch sie reitet auf der Coronawelle. Ihr Antrag lautet: „Auswirkungen des Coronavirus auf die Justiz – Virtuelle Gerichtsverhandlungen ermöglichen“. Auch hier will man die Coronakrise nutzen, um das, was man schon immer wollte, mit Aktualität zu versehen. Dabei wird vom Titel her so getan, als ob man jetzt irgendetwas Neues hier erfinden würde.
§ 128a ZPO sieht aber für den Zivilprozess die Möglichkeit von Videoverhandlungen schon vor, und das in völlig ausreichender und ausgewogener Weise. Nun will die FDP aber, dass die Durchführung der mündlichen Verhandlung als Videoverhandlung nicht mehr im Ermessen des Gerichts liegen soll, sondern auf Antrag einer Partei durchgeführt werden muss. Das heißt, eine Partei bestimmt jetzt darüber, in welcher Form eine mündliche Verhandlung durchgeführt wird, entweder normal im Gerichtssaal oder als Videoverhandlung. Das ist nicht sinnvoll, und Sie, Herr Dr. Ullrich, haben ja auch zu den rechtlichen Dingen Stellung genommen. Das ist auch wohl nicht möglich, und es ist vor allen Dingen ein Angriff auf die richterliche Unabhängigkeit. Dem Richter wird ein Teil der Hoheit über die Verfahrensführung genommen. Wie das Verfahren geführt wird, unterliegt nicht mehr seinem Ermessen.
Dann stellt sich die Frage, wie das realisiert werden soll. Weder die Gerichte noch alle Rechtsanwälte oder Parteien verfügen über die erforderliche technische Ausstattung. Es wird auch ein allgemeingültiger Standard in Sachen Digitalisierung nicht oder nur schwer zu erzwingen sein. Da wird auch ein Digitalpakt zwischen Bund und Ländern nicht helfen, so wie Sie von der FDP sich das vorstellen.
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Güteverhandlungen virtuell durchzuführen, wie die FDP es fordert, ist schon eher ungewöhnlich. In der Zöller-Kommentierung zu § 128a ZPO wird dazu passend auch die Auffassung vertreten, dass dies dem Zweck der Güteverhandlung nicht gerecht wird, weil die Präsenz der Parteien im Rahmen der Güteverhandlung von erheblicher Bedeutung ist. Ich kann das bestätigen; ich bin schließlich 20 Jahre lang Zivilrichter gewesen.
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Dann vom Grundsätzlichen her: Es heißt von alters her für die Parteien: Wir gehen vor Gericht. – Wenn eine Videoschalte auf Antrag zu erfolgen hat, dann geht man nicht mehr vor Gericht, dann holt man sich das Gericht auf seinen Bildschirm. Was für ein Bild wird da vermittelt? Der zuschaltbare Richter, der sozusagen wie ein Netflix-Abo ins Haus geholt werden kann.
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Wie lässt sich das mit der Stellung eines Gerichts vereinbaren? Schließlich verkörpert das Gericht staatliche Autorität. Diese wird durch das von der FDP vorgeschlagene Antragsrecht noch weiter untergraben, als das bisher schon durch die allgemein negative politische Entwicklung geschehen ist.
Bedenklich ist auch der Vorschlag, der Allgemeinheit die Teilnahme an der virtuellen Verhandlung per Livestream zu ermöglichen. Über diesen Weg wird eine mediale Öffentlichkeit hergestellt, die für alle Beteiligten unüberschaubare Risiken mit sich bringt. Auch das Zustimmungserfordernis ist da kein Korrektiv. Insbesondere können Livestreams aufgezeichnet und verbreitet werden und so dauerhaft zu einer Gefährdung von Persönlichkeitsrechten führen. Darum sollten wir am § 169 GVG festhalten, der eine Direktübertragung ausschließt und auch die Speicherung der Aufnahme für spätere Veröffentlichungen nicht zulässt.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Maier. – Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Esther Dilcher.
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Guten Abend, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gerichtsverhandlungen im Livestream, das mag auf den ersten Blick eine moderne, bürgernahe, vertrauensbildende Maßnahme sein, um den Menschen in unserem Land den Rechtsstaat wieder näherzubringen. Stärkung des Rechtsstaates – wir haben es gehört – ist auch das Anliegen der SPD-Fraktion und unserer Bundesjustizministerin, die bereits viele gute Gesetze auf den Weg gebracht hat und sich für den Pakt für den Rechtsstaat mit lauter Stimme starkmacht. Bund und Länder haben ihre Einigkeit bekundet, dass die Digitalisierung der Justiz einen wichtigen Beitrag dazu leistet, um Verfahren zu beschleunigen, und in dieses Bemühen haben wir auch großes Vertrauen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gleichwohl werden wir diesem Antrag keinesfalls zustimmen. Bisher ist eine Verhandlung im Wege der Bild- und Tonübertragung auch schon möglich, aber nur, wie Herr Dr. Ullrich es ausgeführt hat, wenn es vom Gericht gestattet wird, dass sich die Parteien, ihre Bevollmächtigten, Zeugen, Sachverständigen etc. pp. an einem Ort aufhalten und dann eine Übertragung dieser Vernehmung oder der Zeugenaussage in den Sitzungssaal stattfindet, allerdings keine Übertragung in oder für die Öffentlichkeit. Das muss man schon auseinanderhalten.
Zunächst wird der Antrag der FDP mit den Auswirkungen der Pandemie auf die Arbeitsfähigkeit der Justiz begründet. Ja, die Arbeitsabläufe verzögern sich momentan nicht unerheblich. Und ja, die Gerichtstermine werden derzeit aufgehoben und verlegt. Und ja, die Öffentlichkeit, also die Zuschauer bei Gericht, werden in der Anzahl begrenzt, um Abstandsregelungen einzuhalten. Das alles ist aber kein Grund, die von der FDP geforderten Maßnahmen unbefristet zu ermöglichen, so wie es in dem Antrag steht, und dies für die Zukunft zum Regelfall werden zu lassen.
Wir hören von Ihnen: aus der Krise lernen. Aber die Einschränkungen in dieser Krise lassen sich durchaus auch anders kompensieren, ohne dass zukünftig ein wichtiger Grundsatz verletzt wird, nämlich der eines fairen Verfahrens. Gerade dieser Grundsatz ist es aber, der das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in den Rechtsstaat stärkt.
Für mich bedeutet der Antrag der FDP, die Krise zu nutzen, um die Verfügungsbefugnis der Parteien, die am Zivilverfahren beteiligt sind, zu stärken und die hoheitliche Befugnis der Richterinnen und Richter einzuschränken. Der Markt bzw. die Parteien sollen es dann richten. Nein, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der FDP, ein Richter oder eine Richterin, der oder die über einen bestimmten Sachverhalt entscheiden muss, der oder die muss auch den Rahmen und den Verfahrensablauf bestimmen, der zu einer angemessenen Würdigung der vorgetragenen Tatsachen und Beweise führt.
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Selbst einer befristeten Regelung würden wir da als SPD-Fraktion nicht zustimmen.
Anhand einiger Beispiele will ich die Probleme der von der FDP gewünschten Regelungen einmal aufzeigen. Zunächst sei vorangestellt, dass es für die Durchführung einer Gerichtsverhandlung, wie es Herr Dr. Ullrich auch schon gesagt hat, bestimmte Verfahrensgrundsätze gibt, auf die sich auch die Antragsteller zum Teil beziehen: rechtliches Gehör, Mündlichkeit, Unmittelbarkeit und der sogenannte Beibringungsgrundsatz. Die spielen in Ihrem Antrag aber gar keine so große Rolle.
Beschäftigen wir uns mit den weiteren Grundsätzen, die eingehalten werden müssen, etwa dem Beschleunigungsgrundsatz. Danach muss das Gericht das Verfahren zügig durchführen. Nach Auffassung der FDP würden virtuelle Gerichtsverhandlungen zu Kosten- und Zeitersparnis führen. Dabei werden aus meiner Sicht aber verschiedene Dinge vermischt.
Virtuelle Gerichtsverhandlungen, wie von der FDP gefordert, betreffen hauptsächlich eine neue Möglichkeit, nämlich die Übertragung von Gerichtsverhandlungen per Livestream in die Wohnzimmer der Bevölkerung. Das mag zunächst ein charmanter Vorschlag sein, damit mehr Menschen einer Gerichtsverhandlung folgen und somit die Öffentlichkeit herstellen können. Manch ein Zuschauer würde sich dann aber schon wundern, dass eine Verhandlung live eben doch anders abläuft als bei Richter Hold oder Richterin Barbara Salesch. Man muss auch sehen, dass es sich da um Strafverhandlungen handelt, die sowieso etwas interessanter sind als normale Zivilverhandlungen, auf die sich ja Ihr Antrag bezieht. Aber zu einer Beschleunigung trägt eine Herstellung der Öffentlichkeit im Wohnzimmer keinesfalls bei, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Verhandlungen sind derzeit abgesagt worden, weil Kontaktverbote oder ‑beschränkungen Richter dazu veranlasst haben, Termine zu verschieben, und weil Richterinnen und Richter den Kontakt zu Parteien und Anwältinnen und Anwälten – und auch den Kontakt untereinander – vermeiden wollten. Gerade für diesen Fall hätten sie aber auf die nach § 128a ZPO bereits bestehende Möglichkeit zurückgreifen können, Vernehmungen in den Sitzungssaal zu übertragen. Dafür brauchen wir den Vorschlag der FDP also nicht; denn zwischenzeitlich gibt es Plexiglasscheiben, Händedesinfektion, Masken, die man im Gerichtssaal tragen kann. Parteien können sich begegnen, ohne dass eine Ansteckungsgefahr gegeben ist. Aber der Grundsatz der Öffentlichkeit bedeutet: Jeder muss sich Kenntnis von Ort und Zeit einer Sitzung verschaffen können und im Rahmen der tatsächlichen Gegebenheiten Zutritt erhalten. Zweck ist die Sicherstellung der Transparenz der richterlichen Tätigkeit zur Förderung des Vertrauens in eine unabhängige und neutrale Rechtspflege.
Die FDP erklärt uns jetzt, die zivilgesellschaftliche Kontrolle der dritten Gewalt müsse auch in diesen Krisenzeiten möglich sein, und eine Teilnahme der Öffentlichkeit müsse auch ohne persönliche Präsenz der Zuschauer im Gerichtssaal möglich sein. Aber warum wollen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, dann die Liveübertragung von Gerichtsverhandlungen im Internet grundsätzlich auch in Nichtkrisenzeiten in die ZPO aufnehmen? Ein Schelm, wer Böses dabei denkt!
Haben Sie sich schon einmal überlegt, wie ein Richter dann eine Zeugenaussage würdigen soll oder was es für einen Beklagten bedeutet, wenn er dem Kläger nicht gegenübersitzen kann? Der Richter muss die gesamte Verhandlung würdigen, und die Gelegenheit dazu bietet sich ihm nicht, wenn er die Verhandlung nur auf einem Bildschirm verfolgt. Der Richter muss eventuell auch würdigen, wie sich die Parteien verhalten, wie sie miteinander umgehen. Was macht zum Beispiel der Chirurg, der eine Operation verpfuscht hat und der nicht die Möglichkeit hat, den Geschädigten zu sehen, weil dieser beantragt, da einfach nicht hinzugehen?
Ich denke, es muss weiterhin dem Gericht überlassen bleiben, wie es das Verfahren gestaltet, damit es ein faires Verfahren bleibt, das auch die Objektivität und Neutralität des Gerichts und ganz besonders die Willkürfreiheit des Verfahrens gewährleistet.
Frau Kollegin.
Wenn wir daran festhalten wollen, dürfen wir den Forderungen der FDP nicht zustimmen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Dilcher. – Nächster Redner: für die Fraktion Die Linke Friedrich Straetmanns.
({0})
Guten Abend, Frau Präsidentin! Guten Abend, liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beschäftigen uns heute mit dem Antrag der FDP zur verpflichtenden Einführung von virtuellen Gerichtsverhandlungen. Das ist sicherlich eine berechtigte Anfrage in der Zeit der Coronakrise, aber – ich schließe mich da den Vorrednern an – die Antwort, die Sie auf diese berechtigte Anfrage geben, ist aus meiner Sicht eindeutig falsch.
({0})
Die aktuelle Krise und der aus den notwendigen Sicherheitsvorkehrungen resultierende Verfahrensstau bei den Gerichten macht auch aus Sicht meiner Fraktion die Anwendung des § 128a ZPO notwendig, nach dem das Gericht auf Antrag der Beteiligten entscheiden kann, ob es eine Bild- und Tonübertragung der Vernehmung von Verfahrensbeteiligten, von Sachverständigen in den Gerichtssaal ermöglicht. Aber wohlgemerkt: Nach der jetzigen gesetzlichen Regelung steht dies im Ermessen des Gerichts, und das ist aus Sicht meiner Fraktion richtig und wichtig.
({1})
Ich bin mir mit der Fraktion der FDP einig, dass die Gerichte insoweit technisch besser ausgestattet werden müssen und dass hier in einem gewissen Umfang auch der Bund in der Pflicht steht, diese finanziell aufwendige technische Ausstattung der Gerichte zu ermöglichen.
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Aber genug des Lobes. Ich komme jetzt zu den einzelnen Kritikpunkten. Ich kann mich da fast allem, was hier von meinen Vorrednerinnen und Vorrednern gesagt wurde, anschließen.
Eine Unzulänglichkeit des Antrages sehe ich insbesondere in einer Schieflage zwischen den Verfahrensbeteiligten, die in einer virtuellen Verhandlung durchaus noch verstärkt werden kann. So kann zum Beispiel eine mangelnde technische Ausstattung, eine – es ist schon angesprochen worden – fehlende anwaltliche Vertretung oder auch mangelndes Technikverständnis als Grund für diese Ungleichheit angeführt werden.
Aus meiner Sicht als Richter ist es auch nicht in Ordnung, dass das Gericht nach Ihrem Antrag in einen solchen Verfahrensablauf gezwungen wird. Ich habe es eben angesprochen: Es ist wichtig, dass das Gericht, das am Ende die Entscheidung treffen muss, auch jederzeit Herr oder Frau über den Weg zu der Entscheidung bleibt.
({3})
Die Qualität einer Vernehmung – es ist angesprochen worden – ist bei Zeugen in Bezug auf Gestik, Mimik und Verhalten eingeschränkt. In der Güteverhandlung, die besonders wichtig ist, ist gerade der persönliche Kontakt ungeheuer wichtig, weil auch eine Moderation erforderlich ist, und die gelingt halt nur bei einer gewissen Nähe im Gerichtssaal. Es sind Interessen auszugleichen. All das berücksichtigen Sie in Ihrem Antrag nicht.
Für den Rechtsfrieden ist aber auch ein ganz anderer Punkt wichtig. Es ist für die Beteiligten wichtig, gesehen zu werden. Das klingt vielleicht merkwürdig, aber es ist wichtig, seinen Fall persönlich bei Gericht anzubringen und vorzutragen. Auch das trägt zum Rechtsfrieden bei. Es ist nicht immer nur die gerichtliche Entscheidung durch Urteil, sondern auch eine moderierte Vergleichslösung oder gar eine Rücknahme aufgrund von Einsicht durch Erklärung.
Ich könnte noch vieles aufzählen.
Nein.
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Nein? – Ich werde zum Ende meiner Rede kommen. – Wir werden das im Ausschuss sicherlich diskutieren, aber ich mache Ihnen keine Hoffnung, dass wir diesem Antrag zustimmen können.
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Vielen Dank, Friedrich Straetmanns. – Nächste Rednerin in dieser sehr spannenden Debatte: Katja Keul für Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den letzten Wochen hatten wir alle miteinander viel Gelegenheit, die Vor- und Nachteile der virtuellen Konferenzen und Kommunikation in der Praxis zu testen. Klarer Vorteil: Die Fahrzeiten entfallen. Das wäre sicherlich auch ein Vorteil für Parteien und Anwälte in virtuellen Gerichtsverfahren. Es gibt Zivilprozesse, bei denen die Prozessbevollmächtigten Hunderte von Kilometern durch die Republik reisen, nur um das Gericht sagen zu hören: „Sie stellen den Antrag aus der Klageschrift …“, „Sie stellen Klageabweisungsantrag“, „Termin zur Verkündung einer Entscheidung am …“. Das ist in Anbetracht der technischen Möglichkeiten sicher nicht der Weisheit letzter Schluss.
({0})
– Ja, Vorsicht!
Es gibt aber auch andere Prozesse, wo die Parteien persönlich betroffen oder gar emotional involviert sind. Da macht die beste Technik den Grundsatz der mündlichen Verhandlung nicht obsolet. Schließlich haben wir alle durchaus auch die Nachteile der virtuellen Debatten erleben dürfen.
({1})
Die Chatoption bei Zoom-Konferenzen kann die Wahrnehmung dessen, was zwischen den Zeilen gesagt wird, nicht ersetzen. Für denjenigen, der in einer persönlichen Angelegenheit vor Gericht unterliegt, ist es für die Akzeptanz des Urteils wichtig, sich richtig gehört und verstanden zu fühlen.
({2})
Die schnelle Erledigung des Verfahrens ist eben nicht der alleinige Maßstab für ein gutes Urteil. Auch und gerade bei Güteverhandlungen kommt es häufig auf die Atmosphäre im Gerichtssaal an, ob eine Einigung gefunden werden kann oder nicht. Ich halte es daher für richtig, dass Güteverhandlungen nicht von § 128a ZPO erfasst sind.
({3})
Außerdem habe ich Zweifel, ob es mit dem Grundsatz der Waffengleichheit vor Gericht vereinbar ist, wenn die eine Partei virtuell und die andere in persona an der Verhandlung oder der Zeugenvernehmung teilnimmt. Und letztlich muss auch das Gericht selbst die Freiheit haben, sich einen persönlichen Eindruck von einem Zeugen oder auch von einer Partei zu machen, wenn es das für entscheidungserheblich hält. Es geht daher auf jeden Fall zu weit, die virtuelle Verhandlung auf Antrag nur einer Partei zwingend vorzuschreiben, wie Sie es vorschlagen.
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Ich halte es vielmehr für richtig, auf die sachgerechte Handhabung durch die Gerichte zu vertrauen, wenn es um den Einsatz der Videotechnik geht. Unstreitig gibt es einen großen Bedarf in der Justiz, was den Ausbau der digitalen Arbeitsabläufe betrifft. Wenn wir das, was das Gesetz heute schon in § 128a ZPO vorsieht, erst mal verlässlich erreichen wollen, haben wir noch einen langen Weg vor uns. Es muss also dringend investiert werden.
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Die Forderung nach einem Digitalpakt ist richtig. Auch ein Livestream-Angebot für die Öffentlichkeit bei Einvernehmen der Parteien halte ich für diskussionswürdig. Wir dürfen aber nicht den Fehler machen, die Menschen per Gesetz auf digitale Wege zu zwingen, wo sie das nicht selber wollen oder können, und sie damit dem Risiko der Diskriminierung auszusetzen.
Ob analog oder digital – der Zugang zum Recht muss für alle Bürgerinnen und Bürger gleich und niedrigschwellig sein. Gerichte müssen den Sachverhalt so umfassend wie möglich ermitteln können, um nach bestem Wissen und Gewissen ein Urteil zu fällen, dem die Menschen vertrauen. Darauf kommt es letztlich an.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Katja Keul. – Der nächste Redner, Hans-Jürgen Thies, gibt seine Rede zu Protokoll.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir brauchen über diese Mininovelle gar nicht groß zu reden; das haben wir in der vergangenen Woche bereits getan.
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Es geht hauptsächlich um die Verlängerung von Fristen, die bedingt durch die Coronakrise erforderlich ist. Aber es geht auch um die Abschaffung des fragwürdigen Privilegs der sogenannten Bürgerenergiegesellschaften, die letztendlich ohne BImSchG-Genehmigung an Ausschreibungen teilnehmen durften. Da gab es große Verwerfungen; die haben wir geheilt. Die Regelung wurde bereits zweimal ausgesetzt und wird jetzt endgültig gestrichen. Das ist auch richtig so.
Dazu noch eine Fußnote: Wenn wir noch mal dazu kommen sollten, Bürgerenergie zu unterstützen – das muss ja nicht finanziell sein –, dann sollten wir das auf alle Fälle außerhalb des EEGs tun und nicht innerhalb des EEGs.
Es gab verschiedene andere Anpassungen – energierechtliche Fristen usw. –; darauf will ich gar nicht groß eingehen. Ich würde – weil wir so schön zusammensitzen – ganz gerne auf die größere Novelle des EEGs abzielen, die wir ja demnächst vor der Brust haben, und dazu gerne ein paar Wünsche unsererseits formulieren, die wir mit in die Sommerpause nehmen können bzw. bis zum Sommer besprechen können.
({1})
Beim EEG besteht großer Reformbedarf – das weiß jeder –, weil die verkrusteten Strukturen, die nun mal da sind, nicht zukunftsfähig sind.
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Erstens. Da geht es in allererster Linie natürlich um die Akzeptanz. Ohne Akzeptanz sind die Erneuerbaren nicht lebensfähig.
({3})
– Und natürlich geht es auch um den 52-GW-Solardeckel; vielen Dank für den Hinweis.
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Aber das Klimakabinett in seiner gesamten Weisheit hat definitiv gesagt: Der 52-GW-Deckel und die Abstände werden zusammen verhandelt. – Das ist auch richtig so;
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denn wir sind mittlerweile das vierte Mal aus der Kurve geflogen mit unserem Vorschlag, ordentliche, akzeptable Abstände zwischen Windkraftanlage und Wohnbebauung hinzubekommen. Das werden wir diesmal nur so verhandeln.
({6})
Zweitens. Die Situation am Strommarkt macht deutlich, dass eine wirkliche Reform des EEG unabdingbar ist; denn die Kluft zwischen dem Börsenstrom – Sie kennen alle das Problem – und der EEG-Umlage ist riesig. Die jetzige Situation mit dem Rückgang an Strommenge führt dazu, dass die Kosten des EEG auf deutlich weniger Strommenge verteilt werden und so die einzelne Kilowattstunde im nächsten Jahr deutlich teurer wird,
({7})
und das haben die Bürger zu bezahlen. Daran müssen wir arbeiten; denn der sinkende Börsenstrompreis, der sich massiv auf den Anstieg der EEG-Umlage auswirkt, ist ein lange beklagter und lange bekannter Systemfehler, und der muss endlich angegangen werden.
Jetzt hört man über den Buschfunk, dass das über den Haushalt ausgeglichen werden soll. Aber ich warne jeden Finanzminister und jeden Haushälter im Deutschen Bundestag davor, dabei mitzumachen; denn die EEG-Umlage um 1 Cent zu senken, bedeutet 1 Milliarde Euro pro Jahr. Wenn wir also nächstes Jahr bei 10 Cent sind und wieder auf 7 Cent runter wollen, dann sind das über den Daumen gepeilt 10 Milliarden Euro;
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10 Milliarden Euro, die wir pro Jahr aus dem Haushalt nehmen. Das dürfen wir auf keinen Fall zulassen, meine Damen und Herren.
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– Dass das keine Probleme für Sie sind, weiß ich. Aber für uns und für die Bürger sind das Probleme.
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Drittens. Bis zum 30. April hatten wir für 168 Stunden einen negativen Strompreis in Deutschland. Wir müssen also dafür bezahlen, dass uns die Nachbarn den Strom abnehmen, den wir teuer erzeugt haben. Das ist der nächste Irrsinn des EEG, der nächste Punkt, den wir unbedingt anpassen müssen. Das heißt: bei negativen Strompreisen in Zukunft keine Vergütung mehr.
({11})
Weiterhin müssen Produkte an den Markt gebracht werden. Wenn Sie immer sagen, die haben Marktanteile von 40 Prozent, warum braucht man nach 20 Jahren EEG-Förderung dann noch eine staatliche Förderung? Das müssen Sie mir mal erklären.
({12})
Das wird nicht mehr zu halten sein. Es ist aber zu schön für die Branche, in der abgefederten Komfortzone zu sein und sich nicht bewegen zu müssen; das ist das Problem. Das ist das Problem des EEG, und deswegen müssen wir da ran.
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– Sie sind auch in der Komfortzone. Auch wenn es wehtut,
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wenn man sich in den Wind stellen muss – das weiß ich alles –, müssen wir das machen. Dann werden die Haare ein bisschen zerzaust; aber am Ende ist es richtig.
Ein weiterer Punkt, der sehr wichtig ist, wenn wir die Reform im Auge haben: der Emissionshandel. Wir müssen den europaweit massiv ausbauen;
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denn dann können endlich andere Instrumente, die weniger wirksam sind, die weniger effizient sind, die weniger marktwirtschaftlich sind und die weniger transparent sind, nach und nach auslaufen. Dafür sind wir gerne zu haben.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Jens Koeppen. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Steffen Kotré.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich bin ja ganz bei meinem Vorredner, und das stimmt ja auch alles.
({0})
Aber das lässt nur einen Schluss zu:
({1})
Das EEG ist leider nicht reformfähig; es muss weg.
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Wenn wir den Debattenstand aus der ersten Lesung von letzter Woche zusammenfassen, dann sehen wir: EEG bedeutet Planwirtschaft, also staatlich festgelegte Erzeugerpreise, steigende Verbraucherpreise, Strom zunehmend als Mangelware, nicht zeitpunktgerechte Bereitstellung und am Bedarf vorbeiproduziert.
({3})
Alles in allem: mangelnde Qualität.
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Das heißt, wir können das EEG gar nicht mehr retten. Wir können es so oft wir wollen novellieren: Es wird nichts anderes dabei herauskommen, als dass es eben falsch ist.
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20 Jahre EEG sind ein Armutszeugnis. Wenn die instabilen erneuerbaren Energien so tragfähig wären, dann bräuchten sie diese Subventionen,
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diese Zwangsmaßnahmen nicht, und dann gäbe es auch keine Stromabschaltungen, die damit verbundenen sind.
Mit jedem Zubau der instabilen erneuerbaren Energien verschlimmert sich die Lage – Herr Koeppen hat es angesprochen –: Wir müssen überschüssigen Strom verknappen, statt ihn ins Ausland zu liefern und dafür noch Geld hinzulegen. Dadurch wird der Strom natürlich teurer; die Strompreise steigen. Wenn wir zu wenig Strom produzieren, dann müssen wir Strom importieren; dann haben wir eben teuren Importstrom. Wie wir es auch drehen und wenden: Es wird teurer.
({7})
Das sagen alle: Der EON-Chef sagt, dass es teurer wird, und viele, viele andere.
Unsere Stromversorgung beruht damit auf einem völlig falschen System, ganz zu schweigen von der mangelnden Versorgungssicherheit und Netzstabilität. Die Energieversorgung eines Hochtechnologielandes muss an der Stabilität des Netzes ausgerichtet sein, an nichts anderem.
({8})
Schon 2011 wurde der Bundesregierung eine Gefahrenanalyse für einen katastrophalen Blackout vorgelegt; er rückt leider näher.
({9})
Seit Corona wissen wir, dass die Bundesregierung auf ihre eigenen Analysen nicht reagiert und sie auch ignoriert. Nehmen wir zum Beispiel die Analyse des Krisenmanagements aus dem Referat KM 4, Schutz kritischer Infrastrukturen. Darin wird ganz klar gesagt, dass der Kollateralschaden durch die Coronamaßnahmen höher ist als der Nutzen; vermutlich sind bei dieser Feststellung auch die Todeszahlen inbegriffen. Aber so etwas interessiert die Bundesregierung nicht; so etwas interessiert die Bundesregierung auch bei unserer Stromversorgung leider nicht. Der Bericht sprach auch von Desinformation durch die Bundesregierung; der Bericht sprach auch vom Staat als größtem Falschbehauptungsproduzenten.
({10})
Das ist eigentlich nichts Neues; genau das Gleiche sehen wir auch in der Energiewende. Vor dem Hintergrund der kommenden Wirtschaftskrise, die aufgrund der falschen Maßnahmen der Bundesregierung auf uns zukommt, können wir uns diese aberwitzigen Klimamaßnahmen gar nicht mehr leisten. So wie Helmut Schmidt 1977 in der Ölkrise sagte, dass wir die Umweltauflagen jetzt mal beiseitelegen, so müssen wir das EEG jetzt mal beiseite- und auf Eis legen. Besser noch: Wir nehmen es einfach vom Markt.
({11})
Es wird ab und zu behauptet, wir hätten keine Ideen. Ganz im Gegenteil: Wir haben Ideen; wir haben Lösungsvorschläge.
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Sie wollen CO2 einsparen. Wir wollen eine verlässliche und bezahlbare Stromversorgung. Da kommen wir doch zusammen; da gibt es doch einen Weg, wie wir das zusammen machen können. Sie ahnen, worauf ich hinaus möchte.
({13})
– Genau, richtig: die Kernenergie!
({14})
Lassen Sie uns den Weg der Kernenergie gemeinsam gehen.
({15})
Sie und wir können beide Ziele unter einen Hut bringen.
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Deswegen: Lassen Sie uns die Kernenergie vorantreiben.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kotré. – Nächster Redner: Johann Saathoff für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eines will ich an dieser Stelle mal sagen: Das EEG ist und bleibt ein Erfolgsgesetz,
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Das kann man so oft schlechtreden wollen, wie man will: Am Ende wird der Erfolg dadurch belegt, dass das Gesetz zigmal in der ganzen Welt kopiert wurde. Es war ein guter Anker, um erneuerbare Energien endlich in die Energiewelt einzubringen. Und deswegen lassen wir uns das nicht schlechtreden.
({1})
Wir haben viel zu tun in der Energiepolitik, um das mal klar zu sagen. Und zugegebenermaßen ist der Regelungsumfang der Novellierung des EEG-Gesetzes, um den es sich heute handelt, eher begrenzt. Das ist eigentlich schade.
({2})
Was regeln wir in dieser Mini-EEG-Novelle? Wir regeln, dass die Privilegierungen für Bürgerenergiegesellschaften letzten Endes ausgesetzt werden, und zwar ganz und gar und nicht nur befristet. Diese Privilegierungen sind missbraucht worden, insbesondere im Hinblick auf das Planungsrecht und Genehmigungen nach dem Bundes-Immissionsschutzgesetz bzw. der Befreiung davon. Alle anderen Bürgerenergieprivilegien gelten natürlich nach wie vor.
Wir wollen eine Energiewende, die von einer breiten Mehrheit der Menschen getragen wird. Wir sehen auch, dass es Akzeptanz geben muss für die Energiewende; aber wir haben komplett andere Vorstellungen von Akzeptanz für Windenergie als Sie. Wir definieren Akzeptanz über Beteiligung und nicht über Abstände.
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Ich bin ganz überrascht und auch ein bisschen froh, dass der Minister in dieser Woche einen Vorschlag gemacht hat, der vorsieht, den Bürgerinnen und Bürgern in den Windenergiekommunen Geld zu zahlen. Dieser Vorschlag umschreibt das, was wir „Bürgerwindgeld“ genannt haben; das haben wir vor zwei Monaten auch bekannt gegeben. Mir fällt dazu das Schweizer Kräuterbonbon ein: Wer hat es letzten Endes erfunden? Es ist made by Sozialdemokratie, und das ist gut so.
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Meine Damen und Herren, wir regeln außerdem Fristverlängerungen wegen der Coronakrise, und wir regeln, dass dem Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie Kompetenzen übertragen werden, die notwendig sind, um den weiteren Ausbau im Offshorebereich sicherzustellen. Und was mich persönlich freut – keiner soll sagen, dass die Arbeit nicht in den Ausschüssen gemacht wird –: Wir haben gestern noch im Ausschuss die Fristverlängerung für die Flexibilitätsprämie für Betreiber von Biogasanlagen vereinbart.
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Denn Netzdienlichkeit ist die neue Grundlastfähigkeit. Es geht um Netzdienlichkeit, und Biogas hat in Sachen Netzdienlichkeit durchaus Potenziale: einmal bei Substratspeichern, aber auch bei Gasspeichern und auch im Hinblick auf die Möglichkeit, Methan aus der Atmosphäre zu filtern, wenn es güllegeführte Biogasanlagen sind; die brauchen wir.
Spannender als das, was im Gesetz geregelt ist, ist eigentlich, was wir nicht geregelt haben.
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Wir haben das 65-Prozent-Ziel nicht geregelt, obwohl das in unserem Koalitionsvertrag steht. Das ist schade! Wir haben nicht geregelt, wie wir das 65-Prozent-Ziel erreichen wollen. Das ist schade und gibt vielleicht dem einen oder anderen Gelegenheit, zu zweifeln, ob wir es denn wirklich erreichen wollen. Für die sozialdemokratische Seite der Koalition kann ich definitiv sagen: Jawohl, das wollen wir erreichen.
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Wir haben nicht geregelt – das ist im Kanzleramt längst vereinbart –, dass bis 2030 nicht nur 15 Gigawatt, sondern 20 Gigawatt aus dem Offshorebereich kommen sollen. Das ist auch schade!
Wir haben das Mieterstromgesetz nicht geregelt – das ist uns vom Minister eigentlich schon zugesagt worden –; das sollten wir Ende letzten Jahres bekommen. Das ist nicht nur schade, sondern es ist auch nicht in Ordnung, dass man so mit dem Parlament umgeht.
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– Man könnte auch sagen, das sei Wortbruch.
Was nicht geregelt ist: wie die Altanlagen, die nach 2020 aus dem EEG fallen, weiter abgewickelt werden. Und wir haben nicht geregelt – und das ist unverantwortlich –, dass der PV-Deckel endlich abgeschafft wird, und wir haben nicht geregelt, wie wir mit der Windenergie weiter umgehen.
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Tausende von Menschen bangen um ihren Arbeitsplatz, nicht nur wegen der Coronakrise, sondern weil wir in dieser Koalition – das muss man selbstkritisch sagen – nicht in der Lage sind, hierfür die notwendigen Regelungen zu schaffen.
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Die Verantwortung dafür liegt bei der Union, und wer einen Beweis dafür braucht, der muss sich nur die Rede von Herrn Koeppen noch mal anhören. Es ist unverantwortlich, dass das BMWi hier auch nicht liefert; es ist energiepolitisch, klimapolitisch und auch industriepolitisch unverantwortlich. Von daher hoffe ich, dass wir jetzt bald aus dem Quark kommen.
Wir haben über Konjunkturprogramme gesprochen, und mein Kollege Bernd Westphal hat eindrucksvoll darauf hingewiesen, dass es im Konjunkturprogramm eben auch darum gehen muss, Anreize für Speichertechnologien für Wasserstofflösungen zu schaffen;
({11})
es muss darum gehen, digitale Netze auszubauen. Wenn wir jetzt schon viel Geld ausgeben müssen für die Coronahilfen, dann lassen Sie es uns doch so machen, dass wir gleichzeitig auch die Transformationsanreize schaffen, die wir sowieso hätten setzen müssen in diesem Kontext.
({12})
Meine Damen und Herren, es geht eine Angst um, die Angst, dass die EEG-Umlage steigt; wir haben das heute auch noch mal gehört. Ich finde es immer wieder beeindruckend, wie Gegner der erneuerbaren Energien immer ein Argument gegen die erneuerbaren Energien haben: Entweder steigt die EEG-Umlage, oder es steigt der Strompreis generell. Der Kanon lautet immer: Uh, Vorsicht mit den Erneuerbaren; hier steigt irgendwas. – Aber der Zusammenhang wird verkannt. Warum steigt eigentlich die EEG-Umlage in der nächsten Zeit? Weil der Marktpreis für Strom sinkt.
({13})
Das sind zwei korrespondierende Größen, die miteinander in Zusammenhang stehen. Wenn das eine mit dem anderen zu tun hat, kommt am Ende die gleiche Summe heraus. Deswegen, Herr Koeppen, ist es falsch, zu sagen: Der Strompreis steigt automatisch. Es ist schlichtweg falsch.
({14})
Und weil es falsch ist, muss man keine Angst davor haben.
Ich sage Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Ich habe keine Angst – ein Kind von der Küste kennt zwei Dinge nicht: Geld und Angst –,
({15})
aber ich mache mir Sorgen über schmelzende Gletscher, über steigende Meeresspiegel und über Dürren, die die Bauern in echte Schwierigkeiten bringen; das sind meine eigentlichen Sorgen.
Wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben in der Energiepolitik noch viel zu regeln. In Ostfriesland würden wir sagen: Wi hebben noch Halswark to doon. – Lassen Sie uns endlich anfangen!
({16})
Vielen herzlichen Dank, Johann Saathoff. – War der letzte Satz jetzt die Übersetzung? Das müssen Sie mir – ich komme aus Schwaben, aus dem Süden – sagen. Was haben Sie uns denn sagen wollen?
„Wi hebben noch Halswark to doon“ kann man nicht wörtlich übersetzen.
Dann ungefähr.
Es heißt so viel wie: Wir haben noch eine ganz Menge vor uns zu tun.
Gut. – Vielen Herzlichen Dank. Ich freue mich immer auf den Sprachunterricht.
({0})
Nächste Rednerin: für die FDP-Fraktion Sandra Weeser.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich sehe in dieser Debatte: In der Energiepolitik der GroKo tun sich wieder Gräben auf. Es ist wunderbar, dieses Schauspiel hier zu verfolgen.
({0})
Es zeigt sich ganz deutlich, wo hier der Hase im Korn liegt.
({1})
– Darf ich jetzt einfach mal weitermachen? – Danke.
Den Inhalt des Gesetzentwurfes haben wir in den letzten Tagen ja nun wirklich hinreichend besprochen. Also können wir dem auch, wie bereits letzte Woche angekündigt, zustimmen.
Die kurzfristigen Änderungen im Ausschuss zur Fristverlängerung bei Biogas zeigen aber auch wieder dieses energiepolitische Chaos im Bermudadreieck zwischen Ministerium, der Unions- und der SPD-Fraktion. Auch der Vorwurf an Sie, liebe GroKo, dass Sie wesentliche zeitkritische Probleme nicht rechtzeitig lösen, bleibt.
({2})
Vor allem die lang angekündigte Streichung des Solardeckels sorgt weiter für Unsicherheit bei Anlagenbauern, Handwerkern und bei vielen anderen. Ich fordere die Koalition deshalb auf: Hören Sie endlich auf, einzelne energiepolitische Sachfragen gegeneinander auszuspielen!
({3})
Wenn ich das schon höre: Sie, Jens Koeppen, haben die einzelnen Bedingungen genannt. Sie nehmen aber mit diesen Spielchen die Verbraucher in Geiselhaft. Die EEG-Umlage droht, massiv anzusteigen.
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Hier zeigt sich dringender Reformbedarf.
Da bin ich auch nicht bei Ihnen, Herr Saathoff; denn dieser Anstieg hat nichts mit sinkenden Strompreisen zu tun. Natürlich haben wir geringe Strompreise, aber solange wir eine EEG-Umlage haben, werden wir immer höhere Strompreise haben als der Rest Europas oder der Welt.
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Es muss jetzt mal gehandelt werden, und zwar zügig. Es reicht nämlich nicht – da gebe ich wiederum Herrn Koeppen recht –, liebe Grüne, einfach weiterzumachen wie bisher und die Kosten im Haushalt lediglich zu verschieben. Damit kommen wir auch nicht weiter.
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Wir sind uns aber einig, dass die Unsicherheiten angesichts des baldigen Erreichens des Solardeckels behoben werden müssen. Gleichzeitig brauchen wir aber einen grundlegenden Wechsel im System.
Wir als Freie Demokraten lehnen es ab, weiter den reinen Zubau an Kapazitäten zu fördern. Stattdessen fordern wir systemische Lösungen, Anreize über den Markt, um damit auch die Erneuerbaren in die Systemverantwortung zu nehmen und Kosten zu begrenzen. Die Zukunft liegt in einem Verbund von erneuerbaren Energien, steuerbaren Kraftwerken, Speichern und Power-to-X-Technologien sowie mehr Flexibilität. Dieser Verbund gedeiht nur, wenn wir zukunftsfähige Leitplanken einbauen. Sonst drohen die steigenden Kosten die Verbraucherinnen und Verbraucher und unsere Unternehmen zu überfordern, meine Damen und Herren.
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Die Photovoltaik als Technologie zur klimaneutralen Stromerzeugung ist zunehmend kostengünstig und in der Bevölkerung akzeptiert. Deswegen sollte sie auch weiter ausgebaut werden. Allerdings muss nach 20 Jahren EEG ein Weg aus der Dauersubvention aufgezeigt werden. Nur auf diese Weise kann Deutschland seine Energiewende zum Erfolg bringen. Wir sind gerne bereit, dafür Lösungen anzubieten und daran mitzuwirken.
Vielen Dank.
({8})
Vielen Dank, Frau Sandra Weeser. – Nächster Redner: für die Fraktion Die Linke Lorenz Gösta Beutin.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man könnte tatsächlich erschüttert sein, erschüttert darüber, dass wir sowohl von der AfD, von der wir die Fake News ja gewohnt sind, als auch diesmal von der CDU, nämlich von Herrn Koeppen in gewohnter Weise, einen Generalangriff gegen die Energiewende gehört haben. Nein, das ist genau der falsche Weg. Deshalb war es richtig, dass Kollege Saathoff hier deutlich gemacht hat, worum es bei der Energiewende eigentlich gehen müsste.
Die große Dramatik ist, lieber Kollege Saathoff: Schon seit zwei Jahren und nicht erst seit zwei Monaten, als die SPD das eingebracht hat, fordern Vereine, Verbände, Umweltverbände und die Kommunen, die Akzeptanz bei der Windenergie zu steigern, eine Konzessionsabgabe einzuführen und die Einnahmen aus der Windenergie auch den Kommunen zugutekommen zu lassen.
({0})
Und jetzt, in dieser Situation, kommt Herr Altmaier und sagt: Okay, vielleicht ist das doch eine ganz gute Idee; vielleicht könnte man das doch machen. – Das ist die Idee, vor der er jahrelang die Ohren verschlossen hat. Deswegen loben wir hier jetzt nicht die Weitsicht von Herrn Altmaier – denn das ist keine Weitsicht –, sondern wir loben die Vereine, die Verbände, die Gewerkschaften, die Kommunen, die Klimabewegung, die Druck gemacht haben auf der Straße, dass selbst jemand wie Herr Altmaier sich bewegen muss, und das ist schon mal eine Menge.
({1})
Aber es geht leider noch weiter. Herr Altmaier plant, eine neue Bremse bei der Windenergie einzuziehen. Er will größere Abstände, und er will die geltenden Regelungen noch weiter verschärfen. Das heißt, er droht damit: Wir werden die Photovoltaik ausbremsen, wenn unser Koalitionspartner, die SPD, nicht mit uns gemeinsam die Windkraft ausbremst. – Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, hören Sie auf mit dieser Erpressung. Heben Sie endlich den PV-Deckel auf!
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In der Befragung der Bunderegierung haben wir gestern Bundeskanzlerin Merkel erlebt, die auf die Frage nach dem PV-Deckel geantwortet hat: Ja, Sie können mir vertrauen. Die Aufhebung des PV-Deckels ist vereinbart, und sie wird auch kommen. – Ganz ehrlich, ich habe da kein Vertrauen; denn wenn die Union das gewollt hätte, hätte sie es mit dieser Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes machen können.
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Genau deshalb brauchen wir auch in dieser Situation weiterhin den Druck von Umweltverbänden, von Parteien und der Klimabewegung, damit diese Union sich endlich bewegen muss.
({4})
Die Situation haben wir ja nicht nur beim Ausbau der PV, sondern auch beim Wind. Es gibt jetzt einen Kompromiss. Die Kanzlerin sagt: Wir müssen auf europäischer Ebene die Lasten beim Klimaschutz wieder gerecht verteilen, wenn wir den Klimaschutz stärker machen wollen. – Ich sage Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen der Union: Es geht doch nicht nur um die Lasten, sondern es geht vor allem um die Chancen, die die Energiewende bietet. Wir können die Gesellschaft nach Corona solidarischer, gerechter und demokratischer machen – mit einer gelingenden Energiewende. Das sind nicht Lasten, das sind Chancen.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank, Lorenz Gösta Beutin. – Nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Dr. Julia Verlinden.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sie haben richtigerweise im Erneuerbare-Energien-Gesetz einige Fristen verlängert. Das ist wegen Corona notwendig, und das unterstützen wir auch. Aber die wirklich spannende Entscheidung hier heute Abend ist doch eine ganz andere, nämlich die Abstimmung darüber, ob der Deckel für Solarenergie im Gesetz gestrichen wird oder nicht.
({0})
Denn davon hängt ab, ob weiterhin im Rahmen der Förderung nach dem EEG Solarstromanlagen auf die Dächer gesetzt werden oder ob in wenigen Wochen Schluss damit ist – mit allen Konsequenzen für Arbeitsplätze und Klimaschutz.
Einmal zur Historie dieses Theaters, das die CDU/CSU hier aufführt: Herr Pfeiffer, Herr Linnemann, Herr Lämmel und Herr Koeppen von der CDU sind energiepolitisch im letzten Jahrhundert stehen geblieben. Windräder finden sie blöd, fossile dreckige Kraftwerke ziemlich schick. Damit stehen diese Männer aber ziemlich alleine da in Deutschland; aber das ist Ihnen ja egal.
({1})
– Ja gut, vielleicht machen Sie von der AfD noch mit; würde ich mir nix drauf backen.
({2})
Sie schmieden einen perfiden Plan, und Sie wollen einen Keil treiben zwischen die verschiedenen Technologien der Erneuerbaren. Sie wollen den weiteren Ausbau der Solarenergie nur dann ermöglichen, wenn im Gegenzug der Ausbau der Windkraft quasi unmöglich gemacht wird. Wohlgemerkt: Alle wissenschaftlichen Studien zeigen, alle Wirtschaftsverbände fordern, dass wir einen weiteren Ausbau von Solar- und Windenergie brauchen. Aber die Energiewendesaboteure der Union erpressen ihren Koalitionspartner SPD und nehmen die Solarenergie als Geisel – samt ihren zigtausend Arbeitsplätzen. Das schmutzige Angebot für den Deal lautet: Die Union schafft erst dann den Solardeckel ab, wenn die SPD mitmacht beim Todesstoß für die Windenergie.
({3})
Und was macht eigentlich Minister Altmaier? Minister Altmaier tut so, als sei das ja alles überhaupt nicht sein Problem, nicht? Er sagt, er wolle den Solardeckel ja so schnell wie möglich streichen; aber leider könnten sich die Fraktionen nicht einigen. Da fragt man sich schon: Hat der Minister eigentlich überhaupt keinen Einfluss in seiner eigenen Fraktion?
({4})
Ich finde es unglaublich, dass es auch dem Fraktionsvorsitzenden offenbar schnuppe ist, dass es ihm ziemlich egal ist, dass dieses destruktive Taktieren hier offenbar zum Alltag gehört. Am Ende wird das Ganze nämlich nur Verlierer in der Energiebranche produzieren.
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Weil die politischen Rahmenbedingungen Investitionen gerade unsicherer machen, geben die Banken keine Kredite mehr für neue Solaranlagen oder nehmen höhere Zinsen. In wenigen Wochen wird der Solardeckel erreicht sein, und während die Union dieses Drama weiterführt, ist Deutschland wegen Corona längst am Beginn einer Wirtschaftskrise. Alle machen sich Gedanken darüber, wie man jetzt die Konjunktur ankurbelt, wie man Arbeitsplätze sichert, wie viel Milliarden Euro man in welche Branche steckt, um sie zu unterstützen. Die erneuerbaren Energien bräuchten keinen Cent Steuergelder; Sie bräuchten einfach nur bessere Gesetze. Dann würden Investitionen von alleine fließen. Und trotzdem beharren Herr Pfeiffer und Herr Koeppen von der Union auf ihrer Blockade. Sie sind das Investitionsrisiko für Deutschland!
({6})
Gestern hat die Kanzlerin in der Regierungsbefragung gesagt, sie würde sich dafür einsetzen, dass der Solardeckel schnellstmöglich abgeschafft wird. „Schnellstmöglich“, das bedeutet: heute, hier, jetzt, heute Abend.
({7})
Hier haben Sie die Möglichkeit dazu, das schnellstmöglich zu tun. Stimmen Sie also dafür, was Ihre Ministerpräsidenten aus den Ländern, was der Bundesrat, die Energiewirtschaft, der Mittelstand vor Ort, was alle fordern: Schaffen Sie endlich den Solardeckel ab! Heute ist besser als vielleicht irgendwann.
({8})
Vielen Dank, Dr. Julia Verlinden. – Letzter Redner in dieser Debatte: Peter Bleser für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist schon mehrfach gesagt worden: Wir beraten heute die kleine EEG-Novelle,
({0})
die, bedingt durch die Coronakrise, notwendig ist. Aber in Gedanken sind wir längst, wie auch Sie alle, bei der großen Novelle. Diese wird hochkomplex und viel, viel weitreichender sein als das, was wir heute hier beraten.
Ja, es stimmt: Wir sind in der Großen Koalition noch nicht einig, wie wir diese Novelle gestalten wollen. Aber wir werden das hinbekommen, genauso wie wir gestern im Ausschuss den Konflikt beim Thema Biogasanlagen lösen konnten. Danke auch an Andreas Lenz und Johann Saathoff, dass das noch so schnell möglich war. Ich bin sicher, dass wir auch den Konflikt bei dem PV-Deckel und den Abständen von Windkraftanlagen rechtzeitig lösen.
({1})
Für mehr Akzeptanz für Windkraftanlagen hat Bundesminister Altmaier einen tollen Lösungsvorschlag vorgelegt, der vorsieht, dass die Kommunen, in deren Gemarkung Windkraftanlagen errichtet werden, auch an den Gewinnen beteiligt werden. In meinem Wahlkreis Rhein-Hunsrück mit 280 Windkraftanlagen, die mehrheitlich auf gemeindlichem Grund stehen, funktioniert das schon. Dort werden – zur Freude der Bürger – die Mittel aus diesen Windkraftanlagen für weitere CO2-Einsparmaßnahmen genutzt, zum Beispiel zum Bau von Nahwärmenetzen, für Zuschüsse für die Anschaffung von energiesparenden Haushaltsgeräten, E-Autos; ich könnte noch weitere Dinge nennen.
Meine Damen und Herren, die Energiewende ist eine Generationenaufgabe.
({2})
Die einen sehen die Risiken, die Kosten, die Schwierigkeiten; ich sehe die Chancen. Wir alle haben uns dazu bekannt, dass Deutschland bis 2050 nahezu energieneutral werden soll.
({3})
- „Klimaneutral“; vielen Dank für die Hilfe.
Diese Grundsatzdiskussion müssen wir also nicht mehr führen. Worüber wir aber streiten müssen – im wahrsten Sinne des Wortes –, ist der Weg dorthin. Keine Frage: Eine Energieversorgung mit fast ausschließlich Erneuerbaren wird sehr anspruchsvoll; aber wir können das.
Das Wirtschaftsministerium hat bereits 2017 5 SINTEG-Projekte für intelligente Energie und aktuell 20 Reallabore auf den Weg gebracht.
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Sie testen in großtechnischem Maßstab die Energiewende. Ich habe mir viele Projekte selber angesehen. Mir wurden neue Netzbetriebskonzepte vorgestellt, wo mit Schwarmspeichern und Anreizen für den gesteuerten Verbrauch Netzstabilität gesichert werden kann. Der wertvolle Überschussstrom von PV- und Windkraftanlagen, der heute noch verloren geht, sogar Kosten verursacht, kann durch die Elektrolyse als Wasserstoff gespeichert werden, und dieser Wasserstoff – das wissen Sie alle – kann in Brennstoffzellen genutzt werden und als Rohstoff in der Industrie Verwendung finden.
Noch stehen viele technologische Schwierigkeiten vor uns, und noch ist die Wirtschaftlichkeit selten gegeben. Aber das Potenzial, das dort liegt, müssen wir erkennen. Allerdings wird es derzeit noch durch hohe Steuern und Abgaben behindert. Gerade bei der Speicherung und dem ganzen Bereich Power-to-X müssen diese auf den Prüfstand. Die anstehende große EEG-Novelle muss daher der Weichensteller sein.
Keine Frage: Es wird auch Geld kosten. Aber ich meine, es ist eine gute Investition in die Zukunft. Und wenn wir es richtig machen, haben wir nicht nur die Chance, unsere Klimaziele zu erreichen, sondern auch die Chance, Technologieführer bei der Energiewende und bei der Dekarbonisierung der Wirtschaft zu werden.
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Viele Länder warten auf unsere Lösungen. Damit können wir in Deutschland und Europa Wertschöpfung sichern und zukunftsfähige Arbeitsplätze schaffen. Daran mitzuarbeiten ist mir eine Freude.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor 75 Jahren endete das Terrorregime der Nationalsozialisten in Deutschland und damit die grausame mörderische Verfolgung der jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger. Der Massenmord der Nazis war ein unvorstellbares Verbrechen.
Dass wir heute, 75 Jahre nach dem Ende der Nazibarbarei, in Deutschland wieder jüdisches Leben haben, finde ich einfach großartig. Das müssen wir fördern und unterstützen. Deswegen ist eine Aufgabe bei dieser Unterstützung, dass wir es nicht zulassen dürfen, dass in Deutschland die Symbole des Staates Israel oder die israelische Flagge verbrannt werden, so wie es in Berlin der Fall war. In Deutschland dürfen keine israelischen Flaggen brennen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({0})
Nach heutiger Rechtslage ist die Verbrennung einer ausländischen Flagge straffrei, wenn die Flagge kein fremdes Eigentum ist. Diese Strafbarkeitslücke wollen wir mit diesem Gesetz schließen. Zukünftig macht sich strafbar, wer eine ausländische Flagge verbrennt.
Den gleichen strafrechtlichen Schutz wollen wir auch der Flagge der Europäischen Union zukommen lassen. Die Europäische Union ist Friedensnobelpreisträger und sorgt seit Jahrzehnten dafür, dass wir Frieden auf unserem Kontinent haben. Bei allem Reformbedarf der EU ist eines klar: Europa ist die Zukunft. Deswegen ist es richtig und wichtig, dass wir gegen die Feinde Europas vorgehen, insbesondere wenn sich diese Feindschaft darin äußert, dass die Flagge der Europäischen Union verbrannt wird.
({1})
Das dulden wir nicht. Deswegen erweitern wir auch hier das Strafgesetzbuch.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit diesem Gesetz regeln wir die Streichung einer Vorschrift. Sie erinnern sich alle noch an die Affäre Jan Böhmermann. Da ein Kollege das Gedicht über Herrn Erdogan hier schon einmal vorgetragen hat, muss ich es jetzt nicht wiederholen. Sie kennen den Fall. Damals kam es zu einer kleinen Regierungskrise, als nämlich im Bundeskabinett die CDU-Minister anders abstimmten als die SPD-Minister bezüglich der Frage, ob Deutschland die Zustimmung gibt, dass die Strafverfolgung von Herrn Böhmermann auf die Anzeige von Herrn Erdogan erfolgen darf. Wir haben damals schon gesagt, dass das eine unnötige Vorschrift ist. Wir brauchen diese Zustimmung nicht. Deswegen streichen wir diese Vorschrift. Wir haben in Deutschland eine kompetente, eine verantwortungsvolle Justiz. Deswegen brauchen wir diese Vorschrift, die Zustimmung der Bundesregierung nicht; vielmehr kann unsere Justiz hier kompetent und verantwortungsvoll selbst entscheiden, ob ein Strafverfahren eingeleitet wird oder nicht.
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Sie sehen, wir wollen wichtige Maßnahmen, wichtige Regelungen heute in zweiter und dritter Lesung verabschieden. Mir persönlich ist es ein großes Anliegen, dass wir mit diesem Gesetz verhindern, dass Bilder um die Welt gehen, dass die israelische Flagge in Deutschland verbrannt wird. Das ist mir ein ganz wichtiges Anliegen.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank, Dr. Fechner. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Fabian Jacobi.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es hätte alles so einfach sein können. Wir hätten gemeinsam aus diesem Desaster von einem Gesetzentwurf etwas Sinnvolles machen können. Die AfD-Fraktion hat im Rechtsausschuss einen Vorschlag vorgelegt, dem hätten Sie nur zustimmen müssen. Schade.
({0})
In der Form, in der dieser Gesetzentwurf den Rechtsausschuss verlassen hat, vermengt er zwei Dinge, die jeweils eine eigene Bewertung verdienen.
Das Erste lehnen wir rundheraus ab. Es ist eine Strafvorschrift, die sich gegen Kritik an der EU richtet. In einem freiheitlichen Rechtsstaat kann das Parlament aber nicht einfach mal irgendetwas mit Strafe bedrohen, das der Mehrheit gerade missfällt. Strafrecht im Rechtstaat ist Rechtsgüterschutz. Ein überragend wichtiges Rechtsgut, das diesen Eingriff in die Kunstfreiheit und die Meinungsfreiheit rechtfertigen könnte, gibt es aber nicht.
Die Begründung des Bundesrates spricht allen Ernstes von der Autorität der Hoheitsmacht der EU, die es zu schützen gelte. Das ist nah an einem archaischen Begriff von Majestätsbeleidigung und einer freiheitlichen Rechtsordnung unwürdig.
({1})
Der Entwurf imitiert den existierenden § 90a StGB. Der schützt die Symbole unserer Republik und in ihren Symbolen die Republik selbst und ihre Verfassung. Damit ist auch klar, was dieser Gesetzentwurf bezweckt. Man will unter Strafandrohung die EU im allgemeinen Bewusstsein des Volkes auf eine Stufe mit unserer Republik stellen und demnächst an deren Stelle. Die Republik ist der Rahmen, in dem Demokratie und Rechtsstaat verwirklicht werden. Mit der Republik verschwinden auch diese. Deshalb wollen wir an der deutschen Republik festhalten und widersetzen uns ihrer Abschaffung zugunsten einer EU.
({2})
Die Historiker kennen das Schlagwort von der Republik ohne Republikaner. Es meint die Zeit vor hundert Jahren, als es in Deutschland zwar eine republikanische Verfassung gab, aber wesentliche Parteien und Gesellschaftsschichten die Republik ablehnten. Unter völlig veränderten Umständen nähern wir uns offenbar heute erneut einer Zeit, in der man fragen muss, wer denn die deutsche Republik gegen ihre Abschaffung zu verteidigen bereit ist.
({3})
In diesem Parlament ist das offensichtlich nur die AfD.
({4})
Kommen wir zum zweiten Inhalt dieser Vorlage. Dieser zweite Aspekt ist veranlasst durch Ereignisse, die sich vor einiger Zeit hier in Berlin abgespielt haben. Auf Berliner Straßen fanden nämlich Demonstrationen statt, die durch Fahnenverbrennungen und einschlägige Parolen ein offen antisemitisches Gepräge hatten. Die linke Stadtregierung von Berlin sah sich nicht in der Lage, das zu unterbinden.
({5})
Auch wenn die Begründung der Regierungsfraktionen diesen Zweck nur noch verschämt andeutet – warum eigentlich? –, geht es in dem zweiten Teil darum, solche Aufzüge in Zukunft zu verhindern. Lassen Sie mich eines in aller Deutlichkeit sagen: Dieses Ziel teilen wir.
({6})
Leider mangelt es den Regierungsfraktionen aber an der Kompetenz, das dann auch vernünftig umzusetzen. Sie wollen eine Vorschrift im dritten Abschnitt des Strafgesetzbuches ändern, der von Straftaten gegen auswärtige Staaten handelt. Das Ansehen fremder Staaten ist aber kein ausreichend gewichtiges Rechtsgut, um Eingriffe in die Meinungsfreiheit zu tragen. Dazu bedarf es höherwertiger Schutzgüter. Dafür kommt dann eigentlich nur das Schutzgut des öffentlichen Friedens infrage. Damit sind wir im siebten Abschnitt des Strafgesetzbuches. Dort gehört die Gesetzesänderung hin.
Dementsprechend sieht unser Änderungsantrag vor, dass der unsägliche erste Teil zur EU gestrichen wird und der zweite Teil an der richtigen Stelle im Gesetz eingefügt wird. Im Ausschuss haben Sie unseren Änderungsantrag abgelehnt. Wir geben so schnell aber nicht auf, und deshalb haben wir ihn hier noch einmal ins Plenum mitgebracht.
Sie haben also jetzt gleich eine neue Chance. Stimmen Sie unserem Änderungsantrag zu, und dann haben wir heute doch noch gemeinsam etwas Sinnvolles getan.
Vielen Dank.
({7})
Danke schön, Fabian Jacobi. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Ingmar Jung.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir als CDU/CSU-Fraktion unterstützen diesen Gesetzentwurf, weil wir es nicht hinnehmen wollen, dass Gruppierungen, die sich Parteien nennen, einen Marsch über die Flagge der Europäischen Union veranstalten und damit die Werte der Europäischen Union symbolisch mit Füßen treten. Und wir wollen es nicht hinnehmen, dass Flaggen anderer Staaten, insbesondere die Flagge des Staates Israel, in Deutschland verbrannt werden, ohne dass wir dem strafrechtlich begegnen können. Deswegen halten wir den vorliegenden Gesetzentwurf im Grundsatz für absolut richtig und unterstützenswert.
({0})
Lassen Sie mich auf die beiden Punkte noch im Einzelnen eingehen:
Der erste Punkt: die Einführung des § 90c StGB, das Unter-Strafe-Stellen der Verunglimpfung der Flagge, der Symbole der Europäischen Union. Übrigens: Der Tatbestand des Verunglimpfens ist – anders als wir es eben gehört haben – nicht dann erfüllt, wenn jemand Kritik an der EU übt.
({1})
Das ist im Rahmen unseres Pluralismus, unserer Meinungsfreiheit erwünscht, das kann jeder tun, das zeichnet uns gerade aus, und das ist einer der Werte, die auch durch diese Flagge verkörpert werden. Der Tatbestand des Verunglimpfens ist dann erfüllt – das hätte man auch in der Anhörung im Rechtsausschuss erfahren können –, wenn man grundsätzlich das infrage stellt, was das Zusammenleben in unserer staatlichen Gemeinschaft und dann auch in der Europäischen Union ausmacht. Frieden, Freiheit, Zusammenleben und Solidarität in Europa – das sind die Werte, die wir für schutzwürdig halten.
({2})
Deshalb finden wir es auch richtig, dass wir es unter Strafe stellen, wenn die Symbole der Europäischen Union und damit die dahinterstehenden Werte verunglimpft werden, meine Damen und Herren.
({3})
Ich höre die Zwischenrufe von der AfD. Herr Jacobi, glauben Sie mir: Wir haben uns diesen Änderungsantrag der AfD angesehen, auch wenn es manchmal schwerfällt.
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Aber dass ausgerechnet Sie sich jetzt auf Meinungsfreiheit berufen! Wissen Sie, es geht hier um die Werte, um die Grundfreiheiten der Europäischen Union, unter anderem um die Meinungsfreiheit, die garantiert, dass man hier alles vertreten darf, dass man sich hier an dieses Pult stellen darf und solche Reden halten darf, wie Sie es gerade getan haben.
({5})
Und dass Sie behaupten, wenn wir diese Werte schützten, beschränkten wir die Meinungsfreiheit, ist wirklich geradezu absurd. Das muss man wirklich sagen.
({6})
Der zweite Punkt: das Unter-Strafe-Stellen des Beschädigens und Zerstörens ausländischer Flaggen. Übrigens wird nicht nur verschämt angedeutet: Ja, der Anlass war das, was letztes Jahr mit der israelischen Flagge passiert ist. Das braucht hier niemand zu verschweigen. Das war der Anlass. Deswegen ist es auch richtig, dass wir dieses Gesetzgebungsverfahren in Gang gesetzt haben.
Da sage ich auch ganz offen: Dass ausgerechnet in Berlin, in der Nähe des Reichstags, vor dem Brandenburger Tor – Herr Fechner hat es angedeutet –, nach 75 Jahren die Flagge des Staates Israel verbrannt werden kann, ohne dass da strafrechtlich reagiert werden kann, ist schlicht und ergreifend nicht hinzunehmen, meine Damen und Herren.
({7})
Deswegen ist auch das Strafrecht das richtige Mittel und nicht das Ordnungswidrigkeitenrecht.
Man muss es doch einfach mal sehen: Ich bin zwar immer dagegen, auf einzelne Ereignisse mit Mitteln des Strafrechts zu reagieren; aber man kann nicht leugnen, dass der zunehmende Antisemitismus, auch das zunehmende Infragestellen des Staates Israel, ein Phänomen ist, das in Deutschland in den letzten Jahren größer geworden ist. Deswegen ist es auch richtig, an der Stelle als Staat zu reagieren.
Ich weiß nicht, ob Sie das kennen – ich habe das neulich gesehen –: Eine große Tageszeitung hat ein Experiment gemacht, hat die israelische Flagge an verschiedenen Orten Deutschlands aufgehängt und hat mal geschaut, was damit passiert. Kaum länger als zwei Stunden ist sie hängen geblieben, egal wo – an unterschiedlichen Orten in Deutschland. Ich will jetzt nicht sagen, wo sie am kürzesten hing. Sonst klänge es so, als wollte man damit eine bestimmte Aussage treffen. Aber teilweise passierte es, dass innerhalb einer Stunde die Flagge abgehängt wurde und diejenigen, die sie abgehängt haben, sich selbst dabei filmten, wie sie versuchten, die Flagge anzuzünden. Das passierte vielfach. Deshalb ist das ein Phänomen, das man ernst nehmen muss. Deshalb ist es auch richtig, dass wir an der Stelle auch strafrechtlich reagieren, meine Damen und Herren.
({8})
Lassen Sie mich vielleicht noch etwas zu unserem Änderungsantrag im Anschluss sagen, weil er zeigt, dass die Anhörung, die wir durchgeführt haben, sinnvoll war. Wir nehmen beim § 104 StGB an zwei Stellen Korrekturen vor. Zum einen haben die Sachverständigen uns darauf hingewiesen, dass wir einen gewissen Wertungswiderspruch hätten haben können, wenn möglicherweise derselbe Beschädigungsakt bei einer ausländischen Flagge in einer bestimmten Situation hätte strafbar sein können, aber bei der deutschen Flagge nicht, weil dort immer das Verunglimpfen erforderlich ist. Bei ausländischen Flaggen war das nicht unmittelbar im objektiven Strafbestand enthalten. Deshalb fügen wir jetzt noch das Tatbestandsmerkmal „… und dadurch verunglimpft“ ein, damit dieser Widerspruch nicht entsteht.
Zum anderen haben wir uns mit dem Problem auseinandergesetzt, wann denn überhaupt eine Darstellung zu einer Flagge wird. Wir hatten das Beispiel eines weißen Blatts Papier mit zwei roten Streifen drauf. Die Frage war, ob das die Flagge der Republik Österreich ist. Das ist jetzt dadurch gelöst, dass wir ausdrücklich klarstellen, dass hier nur die echten Flaggen und die, die ihnen zum Verwechseln ähnlich aussehen, gemeint sind.
Insofern sieht man, dass das parlamentarische Verfahren eine sehr gute Funktion hat, eine Anhörung Sinn macht und der Gesetzentwurf dadurch noch besser wurde. Jetzt würde ich mich freuen, wenn Sie alle einfach zustimmen.
Herzlichen Dank.
({9})
Vielen Dank, Ingmar Jung. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Dr. Jürgen Martens.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Jacobi, was Sie vorhin wieder zum Besten gegeben haben, war ein Lehrbeispiel. Wenn Sie erklären, die AfD sei exklusiv die einzige Kraft in diesem Haus, die die von Ihnen exklusiv so wahrgenommene Bedrohung entlarven könne, die darin bestünde, dass man die Europäische Union als Ersatz für die Bundesrepublik nehmen würde,
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dann wird diese Exklusivität – lassen Sie mich das klarstellen – gemeinhin als eine Vorstufe extremistischer Wahrnehmungsstörungen gesehen.
({1})
Sie sollten sich wirklich mal Hilfe holen,
({2})
wenn Sie tatsächlich meinen, mit dieser Regelung hier solle die Vorstufe eines Ersatzes der deutschen Republik durch die EU vorbereitet werden.
Aber lassen Sie mich zur Sache kommen. Der Gesetzentwurf ist in der Tat die Folge aus verschiedenen Entwicklungen, die wir alle nicht begrüßen können. Das Verbrennen von Flaggen anderer Länder oder auch die Kalamitäten, in die die Bundesrepublik in der Affäre Böhmermann gekommen ist, finden hier ihren Niederschlag. Trotzdem haben wir – genauso wie die Kolleginnen und Kollegen von den Grünen – Kritik an diesem Gesetzentwurf. Denn wir sagen: Strafrecht muss in der Tat Ultima Ratio sein; das Aufnehmen von Sanktionen, die Erstreckung auf das Strafrecht bedarf einer besonderen Rechtfertigung.
Wir sehen es mit gemischten Gefühlen, wenn wir ständig neue strafrechtliche Vorschriften schaffen, um damit den Bereich strafbaren Verhaltens zu erweitern, ohne zugleich dafür zu sorgen, dass die Ermittlungsbehörden entsprechend ausgestattet sind, um den neuen Anforderungen gerecht zu werden.
Für uns steht im Mittelpunkt einer rationalen Strafrechtspolitik immer die Frage nach dem Rechtsgüterschutz. Es ist klar, dass der überkommene Ehrenrechtsgüterschutz, wie er sich früher mal in der Majestätsbeleidigung gefunden hat und auch heute noch ansatzweise im Schutz von Symbolen anderer Staaten findet, den Anforderungen einer rationalen Strafrechtspolitik nicht genügt. Deswegen hatten wir auch den Vorschlag gemacht, das Verbrennen und Verunglimpfen von Fahnen – der deutschen, auch der europäischen Fahne – dann als Straftat zu werten, wenn dies in einer Art und Weise geschieht, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören.
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Da hätten wir nämlich dann den Rechtsgüterschutz, der erforderlich ist.
Ansonsten würden wir uns dafür aussprechen, das Verunglimpfen und auch das Verbrennen von Flaggen anderer Staaten als Ordnungswidrigkeit einzustufen. Ich glaube, damit würden wir den Prinzipien, die ich eben genannt habe, eher nachkommen, obwohl man auch zugeben muss, dass die jetzt in Rede stehenden Vorschriften eine nur geringe kriminalpolitische Bedeutung haben werden.
Meine Damen und Herren, die FDP wird dem vorliegenden Gesetzentwurf aus den genannten Gründen jetzt nicht zustimmen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Dr. Jürgen Martens. – Nächster Redner: für die Fraktion Die Linke Niema Movassat.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Je weiter diese Legislatur voranschreitet, umso mehr beschleicht mich das Gefühl, dass die Koalition in ihrer Strafrechtspolitik einen Rollback hinlegen will. Sie wollen das Strafrecht bei immer mehr Verhaltensweisen eingreifen lassen.
Schon der Begründer der modernen deutschen Strafrechtstheorie, Anselm von Feuerbach, forderte, dass nicht jedes anstößige Verhalten Gegenstand strafrechtlicher Verbote sein dürfe. Das nennt man Ultima-Ratio-Prinzip.
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Das Strafrecht soll nur das letzte Mittel sein, um unerwünschtes Verhalten zu verhindern. Anselm von Feuerbachs Forderungen sind aus dem 19. Jahrhundert, und er war damit weiter, als es die Koalition im 21. Jahrhundert ist.
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Jetzt soll die sogenannte Verunglimpfung der EU und ihrer Symbole und das Zerstören ausländischer Flaggen ein Straftatbestand werden. Sie verleihen damit Staaten und im Fall der EU einem Staatenverband de facto ein Ehrgefühl. Ein Ehrgefühl sprechen wir aber üblicherweise nur Menschen zu. Mit der Änderung im Strafgesetzbuch mystifizieren und verabsolutieren Sie den Staat. Das ähnelt einem monarchistischen Staatsverständnis, und das können wir als Linke nur ablehnen.
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Wir als Linke sind der Ansicht, dass nicht jede Geschmacklosigkeit und nicht jedes anstößige Verhalten in das Strafrecht gehört – auch nicht die Verunglimpfung von Flaggen und Symbolen. Wir selbst erdulden in diesem Parlament Woche für Woche Geschmacklosigkeiten und Menschenverachtung von Rechtsextremen, und wir ertragen sie, weil sie größtenteils wohl unter die Meinungsfreiheit fallen.
Wenn man eklige Bilder brennender israelischer Fahnen bei Demonstrationen verhindern will, dann kann man das bereits heute über versammlungsrechtliche Auflagen auch tun.
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Wir lehnen Ihren Gesetzentwurf auch deshalb ab, weil er unvereinbar mit der Meinungsfreiheit ist;
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denn der Begriff des Verunglimpfens in dem Tatbestand ist zu unbestimmt. Ist es bereits ein Verunglimpfen, wenn etwa jemand die Sterne der EU-Fahne durch sinkende Rettungsboote im Mittelmeer ersetzt, um auf das Sterben im Mittelmeer und die Ignoranz der EU aufmerksam zu machen? Zumindest verunsichern Sie Menschen mit dem Gesetz, und Sie halten sie möglicherweise davon ab, ihre Meinung kundzutun. Ein solcher Eingriff in die Meinungsfreiheit ist mit uns als Linken nicht zu machen.
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Wenn man schon meint, dass die EU ein Ehrgefühl hat: Dieses Ehrgefühl wird nicht durch eine zerstörte Fahne verletzt. Verletzt wird es vielmehr durch die elendigen Bedingungen, unter denen Zehntausende Menschen im EU-Flüchtlingslager in Moria auf Lesbos leben müssen.
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Meine Damen und Herren, die meisten demokratischen Staaten verzichten darauf, die Verunglimpfung ausländischer Staaten unter Strafe zu stellen. So haben 20 von 27 EU-Staaten keine solche Regelung. Der Schutz staatlicher oder europäischer Symbole hat im Strafrecht nichts zu suchen. Es handelt sich nicht um ein strafrechtliches Problem, sondern um ein politisches Problem, und wir müssen es auch politisch lösen.
Danke schön.
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Vielen Dank, Niema Movassat. – Nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Canan Bayram.
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Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir wollen das öffentliche demonstrative Zerstören oder Beschädigen von Flaggen und Wappen der Staaten und überstaatlicher Verbindungen, wie zum Beispiel der Vereinten Nationen, verbieten.
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Wir wollen demonstrative friedensstörende Angriffe auf die Europäische Union verhindern – und das alles, ohne die Grundrechtsausübung unverhältnismäßig zu beeinträchtigen.
Warum? Weil solche demonstrativen Handlungen mit unseren Verfassungszielen des friedlichen Zusammenlebens der Völker und der Völkerverständigung unvereinbar sind. Wir entrümpeln zugleich das antiquierte Staatsschutz-Strafrecht und schaffen klare Grundlagen für Versammlungsteilnehmer, Versammlungsbehörden und Polizei.
Ein staatsrechtlicher Schutz von Hymnen und Landesfarben unter anderem gegen das Verüben beschimpfenden Unfuges ist selbst nichts anderes als schlichter Unfug.
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Der stets witzige Joseph Haydn und der musikalische Revolutionär Ludwig van Beethoven würden sich wegen dieser Art Schutz für ihre Musik eher im Grabe umdrehen.
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Die Koalition und die Bundesregierung haben aus dem Böhmermann-Fall nichts gelernt. Die damals erzwungene Streichung von § 103 Strafgesetzbuch war gut begründet, weil auch für den Ehrschutz von Organen und Vertretern ausländischer Staaten das für alle geltende Recht ausreicht und es keines anachronistischen Sonderrechts bedarf.
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Nichts anderes gilt für die Flaggen und Hoheitszeichen ausländischer Staaten. Deshalb fordern wir die Streichung von § 104 Strafgesetzbuch. Wir schlagen eine einheitliche Schutzregelung für die Flaggen und Wappen aller Staaten dort vor, wo es hingehört, nämlich im Ordnungswidrigkeitengesetz.
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Ich frage die Koalition: Was ist eigentlich mit der Flagge der Vereinten Nationen? Die ist nach Ihrem Gesetz offenbar nicht schutzwürdig. Genauso wenig denken Sie an die Wappen der Staaten. Militanten Israel-Feinden erlauben Sie so zum Beispiel das demonstrative öffentliche Verbrennen des Staatswappens Israels, das die Menora, den Siebenarmigen Leuchter, zeigt. Beim Bundeswappen oder beim bayerischen Staatswappen bleibt das dagegen strafbar. Ihr Gesetzentwurf ist auch hier völlig inkonsistent.
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Bei der EU beschränken Sie sich auf bloßen äußeren Symbolschutz. Auch das greift angesichts der militanten Rechtsextremen zu kurz.
Wir wollen den Schutz der EU dagegen dort regeln, wo es hingehört, nämlich in den strafrechtlichen Bestimmungen zum Schutz der verfassungsmäßigen Ordnung.
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Deswegen: Stimmen Sie dem Antrag von uns und dem Antrag der FDP-Fraktion zu. Dann klappt es auch wieder mit den Wappen und den Flaggen.
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Vielen Dank, Canan Bayram. – Der nächste Redner, Axel Schäfer für die SPD-Fraktion, gibt seine Rede zu Protokoll, und der übernächste Redner, Alexander Hoffmann für die CDU/CSU, gibt seine Rede auch zu Protokoll.
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– So kriegt man Applaus.
Damit schließe ich die Aussprache.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist 23.10 Uhr, und wir treten ein in die Schlussberatung des Planungssicherstellungsgesetzes. Das ist zugegebenermaßen jetzt nicht die Primetime parlamentarischer Debatten. Ich fühle mich ein bisschen erinnert an die allgemeine Diskussion über das Verwaltungsrecht für Juristen – angehende Juristen –;
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viele finden das nicht besonders spannend. Aber ich sage, wir sind uns einig: Für eine Optimierung des deutschen Verwaltungsrechts gibt es auch im Parlament keine Unzeit, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Deshalb ist es gut, dass wir uns heute mit dem Planungssicherstellungsgesetz beschäftigen. Es ist ein Beitrag für eine Anpassung unserer Verwaltungsverfahren, für eine Anpassung von Planungs- und Genehmigungsverfahren an die Besonderheiten der Coronapandemie.
Wir wollen mit der Möglichkeit digitaler Angebote zur Ersetzung von Öffentlichkeitsbeteiligung im Planungs- und Genehmigungsverfahren ein Aufrechterhalten der Wirtschaft und von Planungsverfahren ermöglichen. Dabei war es uns besonders wichtig, mit diesem Gesetz den Interessen aller Beteiligten Rechnung zu tragen: dem Interesse der Öffentlichkeit an der Transparenz der Verwaltungsverfahren, aber eben auch dem Interesse der Wirtschaft an effektiven und schnellen Genehmigungsverfahren.
Dabei haben wir zugegebenermaßen in einem schnellen, aber trotzdem in einem gewissenhaften Gesetzgebungsverfahren diesen Entwurf des Planungssicherstellungsgesetzes vorgelegt. Ich will ausdrücklich an dieser Stelle sagen: Herzlichen Dank für die konstruktive Mitwirkung auch der Oppositionsfraktionen!
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Die FDP rühmt sich ja immer als große Digitalisierungspartei – in diesem Fall haben Sie unter Beweis gestellt: Sie sind es auch. Ich finde es gut, dass wir an dieser Stelle gemeinschaftlich an einer Beschleunigung von Verfahren während der Coronazeit arbeiten, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Es geht uns darum, dass wir sagen: Die Planungsverfahren, die sonst möglich waren durch Auslegung von Unterlagen in den Rathäusern, sollen in den Zeiten von Corona, wo wir den Publikumsverkehr in den Rathäusern reduzieren wollen, möglich werden durch Auslegung im Internet. Das hat bei manchen Unternehmen natürlich Sorgen hervorgerufen: über den Schutz von Betriebsgeheimnissen, über den Schutz ihrer Planungsunterlagen. Natürlich haben wir dieses Anliegen sehr ernst genommen und dem mit einer Regelung im parlamentarischen Verfahren Rechnung getragen, eine Geheimschutzvorschrift implementiert. Deswegen können wir an dieser Stelle sagen: Das war konstruktive Gesetzgebungsarbeit.
Wir haben vor allem gesagt: Wir wollen aus der Not von Corona mit Blick auf die Digitalisierung von Planungsverfahren eine Tugend machen.
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Deswegen haben wir uns in einem Entschließungsantrag dazu bekannt, dieses Gesetz zu evaluieren; es ist zunächst befristet. Aber ich finde auch: Wenn die digitale Öffentlichkeitsbeteiligung im Planungsverfahren möglich ist, dann gibt es doch keinen Grund, in die analoge Welt zurückzukehren, wenn sich dieses Instrument bewährt. Deswegen in der Tat unser Anspruch: aus der Not von Corona eine Tugend zu machen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, eines – will ich am Schluss sagen – hat mich bei diesem konstruktiven Verfahren dann doch gewundert: Die Alternative für Deutschland stimmt dem Entschließungsantrag zu, der sagt, dieses Gesetz soll evaluiert werden, das Gesetz selbst lehnt sie aber ab. Das ist ja ein bisschen merkwürdig: dass man ein Gesetz evaluieren und entfristen will, das man eigentlich ablehnt. Da muss man nicht mal Verfassungsrecht auf dem Hochreck machen: Wenn man mit null multipliziert, bleibt es null, liebe Kolleginnen und Kollegen. Da können wir an der Stelle auch noch was dazulernen.
Das ist konstruktive Regierungsarbeit. Wir werben um Zustimmung.
Herzlichen Dank, liebe Kollegen.
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Vielen Dank, Philipp Amthor. – So, wir sind mitten in der Debatte, es kommt der nächste Redner – da bitte ich, zuzuhören –; das ist Marc Bernhard für die AfD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen! Es ist ja geradezu erstaunlich, was in Coronazeiten auf einmal alles möglich ist: Sogar Grenzen können wie von Zauberhand plötzlich geschützt werden.
Durch eine Flut von neuen Gesetzen versucht die Regierung, die riesigen Kollateralschäden ihrer eigenen Coronamaßnahmen einzudämmen.
Seit Jahren drängen Unternehmen, Verbände und Bürger inständig auf die Einführung digitaler Verfahren, und jetzt zwingt ein Virus die Regierung, ihre jahrelang verschleppten Reformen wie die Digitalisierung von Planungsverfahren endlich anzugehen.
Das Problem dieses Gesetzentwurfes ist es jedoch, dass er nicht auf dem Willen beruht, das Land voranzubringen, sondern einzig und allein die völlig überzogenen Coronamaßnahmen kaschieren soll.
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Dass aber der Shutdown nicht alternativlos ist, zeigt der Blick nach Taiwan. Dort wurde die Coronapandemie bereits im Keim erstickt. Die Regierung von Taiwan hat entschlossen und vernünftig gehandelt, sodass ein Shutdown dort nicht mal diskutiert wurde. Obwohl gerade mal 180 Kilometer von China entfernt, hat Taiwan bei 24 Millionen Einwohnern gerade mal 440 Infizierte und sieben Coronatote, alles ohne Shutdown.
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Und die planlose Bundesregierung schafft es nicht mal, sich für die aus Taiwan gelieferten Schutzmasken zu bedanken.
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Ihr Gesetzentwurf ignoriert völlig, dass es in Deutschland über 10 Millionen Menschen gibt, die noch nie online waren. Sie wollen unter anderem die Abgabe von mündlichen Erklärungen zur Niederschrift bei einer Behörde ausschließen.
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Dadurch werden viele Menschen, viele Millionen Menschen in unserem Land, die nicht über die notwendigen technischen Mittel, Kenntnisse und Möglichkeiten verfügen, von ihren Mitwirkungsrechten praktisch ausgeschlossen. Was machen zum Beispiel die rund 6,2 Millionen Erwachsenen in Deutschland, die nicht richtig lesen und schreiben können?
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Diese Menschen werden von Ihnen völlig ignoriert. Was aber am meisten, was aber viel mehr irritiert, ist, dass Sie in der Begründung zu Ihrem Gesetzentwurf davon ausgehen, dass es sich bei der Coronapandemie nicht um eine kurzfristige Ausnahmesituation handelt, sondern die Beschränkungen noch bis Ende März nächsten Jahres gelten sollen. Also, ich will doch nicht hoffen, dass die Regierung ernsthaft glaubt, diesen Ausnahmezustand noch fast ein Jahr aufrechterhalten zu können.
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Wir stehen vor der größten Wirtschaftskrise seit 1929. Nach ifo-Berechnungen beträgt der wirtschaftliche Schaden des Corona-Shutdowns heute bereits 400 Milliarden Euro,
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und mit jeder Woche des Shutdowns erhöht sich der Schaden um weitere 40 Milliarden Euro. Allein im Einzelhandel wird mit 50 000 Insolvenzen gerechnet. Millionen Menschen droht die Arbeitslosigkeit.
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Bereits jetzt befinden sich über 10 Millionen Arbeitnehmer in Kurzarbeit.
83 Millionen Menschen
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sind in ihren Grundrechten massiv eingeschränkt.
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Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland sind Grundrechte so flächendeckend und so radikal eingeschränkt worden.
Anstatt durch die Änderung von Gesetzen den Ausnahmezustand um fast ein Jahr verlängern zu wollen, muss der schon längst nicht mehr verhältnismäßige Shutdown sofort beendet werden.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner: Mahmut Özdemir für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Planungssicherstellungsgesetz verändern wir sicherlich nicht grundlegend das Verwaltungsverfahren. Vielmehr sorgen wir dafür, dass Planverfahren in diesen Zeiten und deren Abschlüsse, auf die die Antragsteller dringend warten, sich nicht verzögern oder gar auszusetzen sind.
Gerade wenn ein Verwaltungsverfahren die ortsübliche Öffentlichkeitsbeteiligung zwingend gesetzlich vorschreibt, stellt die derzeitige Situation die berechtigten Interessen ebenjener Öffentlichkeit vor Herausforderungen. Die Amtsstuben, die Berge von offengelegten Unterlagen beherbergen, sind derzeit nicht wie gewohnt zugänglich, und die sonst gewohnten Versammlungen in den Gemeindesälen mit Hunderten von Menschen sind ebenso wenig denkbar.
Offenheit und Öffentlichkeit sind tragende Pfeiler unserer Demokratie und eben auch solcher Planverfahren. Entscheidungen nach Recht und Gesetz müssen sich immer auch im Lichte dieser Werte messen lassen. Reihenhäuser genauso wie millionenschwere Investitionen müssen sich auch dieser Öffentlichkeit stellen.
All diese Verfahren wollen wir unbeschadet durchführen und bestenfalls auch beschleunigen. Deshalb bedarf es dieses Gesetzes, das erst durch den Entschließungsantrag und den Änderungsantrag – im Ausschuss vorgelegt – zu einem harmonischen, zu einem ausgewogenen Gesetzespaket und Maßnahmenbündel in Zeiten dieser Pandemie wird.
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In Rathäusern offengelegte Akten ermöglichen den Berechtigten – ich betone ausdrücklich: den Berechtigten – überhaupt erst die Überprüfung, ob eigene Rechte betroffen sind. Diese Betroffenenrechte zu erkennen und im Verfahren auch geltend zu machen, ist erst mit einer solchen Öffentlichkeit möglich. Diese analoge Amtsstube wollen wir ins digitale Zeitalter spiegeln, nicht anstelle, nicht alternativ, sondern zusätzlich. Die Erörterungstermine, ob in Gemeindesälen oder bei der Verwaltung, sind wichtige, den Rechtsfrieden wahrende Veranstaltungen. Deshalb haben wir Sozialdemokraten uns auch dafür eingesetzt, dass jetzt und künftig diese Erörterungstermine auch nicht gestrichen werden. Das ist mit uns Sozialdemokraten nicht zu machen, obwohl es einige Bestrebungen gab – das darf man hier nicht verheimlichen –, auch vom Koalitionspartner, diese Erörterungstermine zu streichen. Dem haben wir Sozialdemokraten einen Riegel vorgeschoben.
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Durch die Möglichkeit von Onlinekonsultationen und Onlineeinsichtnahmen der Unterlagen schaffen wir ein Stück mehr Barrierefreiheit schwer zugänglicher Orte. Denken wir an das Rathaus, das möglicherweise nicht barrierefrei zugänglich war: Es erhält ein Upgrade. Dieses Upgrade ermöglicht zugleich ein Mehr an Öffentlichkeit. Mit dem Entschließungsantrag wollen wir Sozialdemokraten durchsetzen, dass dieses Mehr an Barrierefreiheit Stück für Stück weiter verbessert wird und auch umgesetzt wird.
Auch dieses Gesetz wurde naturgemäß von Wirtschaftsinteressen kritisch begleitet. Wir Sozialdemokraten haben relativ wenig Verständnis für geschwärzte Akten. Es geht um den Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen. Wer als Vorhabenträger jedoch verpflichtet ist, eine Genehmigung einzuholen, muss durch Öffentlichkeit und Offenheit sich diesem Verfahren stellen und mitwirken. So wie jeder Häuslebauer seine Nachbarn unterrichten muss, müssen Großansiedlungen sich, ihrer Dimension angemessen, den berechtigten, widerstreitenden Interessen stellen.
Unsere Rechtsordnung kennt in § 30 Verwaltungsverfahrensgesetz eben eine solche Regelung. Den Rechtsgedanken dieser Regelung greifen wir auf und legen die Entscheidung in die Hand des Vorhabenträgers, ob er diese Geheimhaltung durchsetzen möchte oder ob er eben die Nachsicht hat und sagt: Wenn ich etwas geheim halten möchte, kann ich auch diese Beschleunigung des Verfahrens durch dieses Planungssicherstellungsgesetz nicht in Anspruch nehmen. – Das haben wir mit dem Änderungsantrag auch, denke ich, zu einem gerechten Ausgleich gebracht. Mit dem Entschließungsantrag wollen wir ebendiese gewinnbringenden Erkenntnisse in die Zeit der Normalität übertragen.
Kurzum: Das ist ein Gesetz, das Möglichkeiten eröffnet, neue Erfahrungen zu machen und die Öffentlichkeit und das Demokratieprinzip, das dem innewohnt, weiter zu stärken und weiterzuentwickeln, diese Erkenntnisse aus den Zeiten der Pandemie in die Zeiten der Normalität mitzunehmen und diese Digitalisierung weiter voranzutreiben.
Ich bitte um Zustimmung zu dem Gesetz und bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Mahmut Özdemir.
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– Ich musste seine Frisur loben, die ist nämlich echt cool.
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– Ja, ich sehe Sie ja immer von hinten, liebe Kollegen und Kolleginnen; und wenn es was zu loben gibt, dann mache ich das.
Jetzt geht es aber um was anderes. Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Konstantin Kuhle.
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Vielen herzlichen Dank. – Frau Präsidentin! Zu später Stunde sorgt das Verwaltungsrecht für gelöste Stimmung im Plenum.
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Das mag daran liegen, dass in der Tat die Große Koalition hier mit dem Planungssicherstellungsgesetz einen sinnvollen Gesetzentwurf vorgelegt hat,
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der das deutsche Verwaltungsrecht in die richtige Richtung weiterentwickelt.
Es ist ja so, dass jeder von uns, der mit Kommunalpolitik zu tun hat, weiß, dass überlange Planungsverfahren für Enttäuschung und für Unverständnis sorgen. Deswegen setzen wir Freie Demokraten uns, Corona hin, Corona her, dafür ein, dass wir die Digitalisierung nutzen, um Planungsverfahren in Deutschland zu beschleunigen. Das wird hier, befristet auf die Coronakrise, gemacht. Wir hätten uns auch vorstellen können, das gleich unbefristet einzuführen. Aber da Sie eine entsprechende Evaluation vorhaben, unterstützen wir dieses Vorhaben und finden es gut, dass insbesondere mit Blick auf Bekanntmachungen, auf Auslegungen und auf Erörterungstermine zusätzliche Digitalisierungsschritte eingeführt werden.
Nun ist es so, meine Damen und Herren, dass wir viele Nachrichten bekommen haben, dass auch im Innenausschuss des Deutschen Bundestages über diese Frage diskutiert worden ist und immer die Frage gestellt worden ist: Ist das nicht eine Rechtsverkürzung, die hier stattfindet? Die Wahrheit ist aber doch: Momentan können aufgrund der Coronasituation gar keine Erörterungstermine stattfinden. Momentan können aufgrund der Coronasituation gar keine Auslegungen stattfinden. Indem man das Ganze in der Coronakrise digital ermöglicht, findet also eine Erweiterung des Rechtskreises statt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der AfD, die Digitalisierung ist für uns kein Ausnahmezustand, sondern hoffentlich wird es auch nach der Coronakrise mit digitalen Lösungen für die Verwaltung weitergehen.
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Deswegen ist dieses Gesetz ein richtiger Schritt in Richtung einer Antwort auf die Frage, was man aus dieser Krise lernen kann.
Meine Damen und Herren, es ist auch schon gesagt worden, dass das Thema Geschäftsgeheimnisse eine besondere Rolle spielt. Es ist gesagt worden, dass das Thema Barrierefreiheit eine besondere Rolle spielt. Beides ist im Ausschuss beraten worden. Beides ist in einem entsprechenden Entschließungsantrag und einem Änderungsantrag enthalten. Insgesamt ist eine gute Geschichte rausgekommen. Wir stimmen zu.
Vielen Dank und guten Abend!
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Vielen Dank, Konstantin Kuhle. – Nächster Redner: für die Fraktion Die Linke Ralph Lenkert.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesfernstraßengesellschaft plant eine Autobahn, 50Hertz will eine neue Hochspannungstrasse bauen, und Bayer möchte genmanipulierten Mais verkaufen. Die Projekte haben eins gemeinsam: Vor ihrer Genehmigung haben Bürgerinnen und Bürger, betroffene Kommunen und Verbände die Möglichkeit, das Recht, informiert zu werden und in öffentlichen Erörterungsterminen Hinweise zu geben, auf Konflikte einzugehen und Kompromisse zu fordern. Das ist Demokratie, und das ist gut so.
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Für Die Linke, für Bürgerinnen und Bürger sind deshalb die Auslegungen unverzichtbar. Doch nun, in Zeiten von Corona, platzten einige Termine, und die Koalition beglückt uns mit dem neuen Planungssicherstellungsgesetz. Nur: Die Hektik, mit der in sieben Tagen der Gesetzentwurf durch den Bundestag gepeitscht wird, ist unnötig, passt nicht mehr und widerspricht demokratischen Gepflogenheiten.
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Inzwischen sind die strengen Infektionsschutzregeln gelockert. Friseure und Gaststätten öffnen, Unterricht findet statt, Parlamente tagen mit Lösungen zum Infektionsschutz, trotz Corona. Ich bin überzeugt: Unsere Behörden wären in der Lage, jetzt öffentliche Auslegungen, Erörterungstermine mit Infektionsschutz zu organisieren.
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Kolleginnen und Kollegen von Union, SPD, FDP und Grünen, wir haben den Entwurf uns genau angesehen und deshalb eine Anhörung gefordert, um die Mängel zu beseitigen. Leider haben Sie zusätzlichen Sachverstand abgelehnt und die Anhörung verhindert. Das ist schon sehr selbstherrlich.
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Der Entwurf ermöglicht es, dass es im Ermessen der Behörden liegt, ob Erörterungstermine komplett entfallen. Das zerstört die letzte Akzeptanz für Großprojekte wie Starkstromtrassen. Die Ankündigung im Internet muss erfolgen, aber wo und auf welcher Seite? Hierzu gibt es keine Definition. Die Unterlagen der Projekte sind in ZIP-Dateien zusammengefasst, gigabytegroß. Viele Menschen in breitbandfernen Orten, von Rügen bis Passau, schütteln den Kopf und fragen sich, wie sie einen stundenlangen Download sicherstellen sollen, ohne dass der Download zwischendurch unterbrochen wird. So schließen Sie viele Menschen von Beteiligung aus.
Liebe Bürgerinitiativen gegen SuedLink, SuedOstLink oder gegen Gas-Fracking, liebe Bürgerinnen und Bürger, die keine Gentechnik wollen: Zukünftig müssen Sie nicht nur die Zeitung und Amtsblätter genau studieren, sondern Sie müssen zusätzlich auf den Behördenseiten suchen; denn sonst entgeht Ihnen eine Ankündigung zu einer Auslegung oder der Termin zu einer Onlinekonsultation. In der Folge stehen überraschend Strommasten da, der Frack-Turm produziert oder der Genmais wächst nebenan.
Kolleginnen und Kollegen, die Gefahr, dass dies durch Ihren Entwurf passiert, ist real. Die Linke sagt Nein zu diesen Behinderungen.
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Wir fordern Internetankündigungen, Onlinetermine und ‑konsultationen als Zusatzangebot, aber nicht als Ersatz.
Kommen Sie bitte zum Schluss?
Stimmen Sie für unseren Entschließungsantrag! Er heilt die Fehler, er sichert Akzeptanz und gewährt Rechtsfrieden in unserem Land.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Ralph Lenkert. – Nächster Redner: Stephan Kühn für Bündnis 90/Die Grünen.
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Guten Abend, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir brauchen eine Lösung, damit Planungs- und Genehmigungsverfahren in der Coronakrise nicht ins Stocken geraten. Insofern ist die Intention Ihres Gesetzentwurfes richtig. Zeitverzögerungen beim Ausbau wichtiger Infrastrukturen, zum Beispiel im Energie- und Verkehrssektor, gilt es angesichts der Klimakrise zu vermeiden. Wir debattieren im Bundestag häufig darüber, wie wir durch gute Bürgerbeteiligung mehr Akzeptanz für Infrastrukturplanungen gewinnen können. Ich habe allerdings Zweifel, dass das Gesetz dazu beiträgt, dass das erfolgreich sein wird.
Der Gesetzentwurf sieht vor, dass zum Beispiel Erörterungstermine und mündliche Verhandlungen durch OnlinekonsuItationen ersetzt werden können. Das würde aber voraussetzen – es ist schon angesprochen worden –, dass alle Menschen gleichermaßen Zugang zum Internet haben und über die notwendige technische Ausstattung verfügen; Gleiches gilt übrigens für die zuständigen Behörden. Leider entspricht das nicht der Realität. Solange der Zugang aller Menschen zu digitalen Verfahren nicht gewährleistet ist, dürfen diese nicht zur Regel werden, sondern sollten eine zusätzliche Möglichkeit während der Coronakrise darstellen.
Auch weiterhin müssen Beteiligungsformate vor Ort unter Beachtung der Infektionsschutzmaßnahmen möglich sein. Zahlreiche Covid-19-bedingte Beschränkungen sind mittlerweile aufgehoben oder zumindest gelockert worden. Wie will man den Bürgerinnen und Bürgern erklären, dass sie wieder ins Fitnessstudio gehen oder an Demonstrationen teilnehmen dürfen, aber Planungsunterlagen nicht in den Rathäusern ausliegen oder Erörterungstermine entfallen? Das ist nicht plausibel.
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Damit wir uns nicht falsch verstehen: Gut ausgestaltete digitale Verfahren bieten zweifellos die Chance, Bürgerinnen und Bürger umfassend zu beteiligen. Es gibt auch bei den klassischen Beteiligungsverfahren einige Zugangshürden: Menschen sind beispielsweise nicht mobil, zeitlich eingeschränkt oder haben Schwierigkeiten, vor großen Menschengruppen zu sprechen. Hier kommen digitale Verfahren ins Spiel und bieten die Möglichkeit, sich zu beteiligen, vorausgesetzt, diese Angebote sind ausreichend barrierefrei.
Digitale und analoge Beteiligungsformate sollten daher zukünftig Hand in Hand gehen. Dazu müssen digitale Beteiligungsformate in der Praxis allerdings erst erprobt werden. Ich sehe durch die Coronapandemie durchaus eine Chance für die Digitalisierung von Planungs- und Genehmigungsverfahren; insofern ist die Krise auch eine Chance. Wir sollten die digitale Beteiligung aber wissenschaftlich begleiten und evaluieren, damit die Verfahrensqualität sichergestellt ist und wir Erkenntnisse darüber gewinnen, wie alle Menschen künftig beteiligt werden können.
Wir brauchen dringend klare Leitfäden für die Behörden, aus denen hervorgeht, wie sie unter Beachtung der notwendigen Infektionsschutzmaßnahmen bewährte analoge Termine weiterhin vor Ort abhalten können, damit eben nicht der Fall eintritt, dass man mit Hinweis auf die Coronakrise einfach auf Beteiligungsverfahren verzichtet. Wenn das die Intention des Gesetzes ist, wäre es verheerend.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Stephan Kühn. – Jetzt nähern wir uns dem letzten Redner in dieser Debatte und am heutigen langen Sitzungstag. Letzter Redner in der Debatte: Michael Kießling für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die aktuelle Krise verstärkt die Herausforderung auf dem angespannten Wohnungsmarkt in vielen Regionen Deutschlands. Die positiven Tendenzen bei den Baugenehmigungen im letzten Jahr – mit über 360 000 genehmigten Wohnungen – und die durchwegs positiven Zahlen Anfang des Jahres werden aktuell ausgebremst. Deshalb müssen wir die Grundlage schaffen, die geübte und eingefahrene Praxis zu optimieren, um dringend benötigtes Baurecht zu schaffen; denn bezahlbares Wohnen wird in und auch nach der Epidemie benötigt. Bauherren, Mieter, Unternehmen, Investoren und Kommunen brauchen Planungs- und Verfahrenssicherheit sowie die Chance auf Wachstum oder einfach nur die Erfüllung des Wunsches nach den eigenen vier Wänden.
Wir brauchen schon jetzt die Möglichkeit, Verwaltungsverfahren mit Beteiligungsverfahren trotz der Kontaktbeschränkungen weiterhin effizient durchzuführen. Eine mögliche Lösung ist die Digitalisierung. Schon im Koalitionsvertrag haben wir zum Beispiel beschlossen, die Digitalisierung auch im Bauleit- und Bauplanungsrecht stärker voranzutreiben.
Nach den bisherigen Maßnahmen und Anträgen zur Digitalisierung des Planens und Bauens folgt nun das Planungssicherstellungsgesetz. Damit ermöglichen wir handlungs- und arbeitsfähige Verwaltungen, Digitalisierung der Bauleitplanungsverfahren, die Bekanntmachung der Verfahrensunterlagen über digitale Plattformen oder die Nutzung digitaler Beteiligungsverfahren, zum Beispiel die Einführung von Onlinekonsultationen anstatt physischer Anwesenheit bei Erörterungsterminen und Antragskonferenzen.
Vereinfacht gesagt: Wir erleichtern es, Informationen auszutauschen und allen Beteiligten zur Verfügung zu stellen, Transparenz herzustellen und die Kommunikation sowie die Einbindung der Beteiligten und Betroffenen trotz der bestehenden Beschränkungen zu ermöglichen. Dadurch schaffen wir Alternativen zu den weiterhin bestehenden analogen Prozessen und gleichzeitig mehr Akzeptanz für neue Wege der Digitalisierung, und das alles natürlich unter der Maßgabe digitaler Barrierefreiheit. Dabei geht es aber nicht nur um Transparenz und öffentliche Beteiligung, sondern auch um die Vereinfachung der Bürokratie und die Möglichkeit, Kosten zu senken.
Liebe Opposition, ein kurzer Blick in Ihre Anträge. Sie scheinen lediglich Achslastbeschwerer zu sein, das heißt, da steht nichts Neues drin,
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weder im Antrag der Linken noch im Antrag der Grünen. Entsprechende Punkte haben wir bereits mit unserem Planungsbeschleunigungsgesetz abgedeckt.
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Wir haben schon in früheren Anträgen Potenziale aufgezeigt und erste Schritte bereits eingeleitet.
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Vieles wurde initiiert, aber wir wissen auch, dass weiterhin Potenzial besteht. Deshalb müssen wir diese Situation als Chance zur verstärkten Digitalisierung wahrnehmen, um die Prozesse schneller, zuverlässiger und transparenter zu gestalten. Ich wünsche uns eine schöne Abstimmung.
Herzlichen Dank.
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