Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 4/23/2020

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir erleben ganz und gar außergewöhnliche, ernste Zeiten. Und wir alle, Regierung und Parlament, unser ganzes Land, werden auf eine Bewährungsprobe gestellt, wie es sie seit dem Zweiten Weltkrieg, seit den Gründungsjahren der Bundesrepublik Deutschland nicht gab. Es geht um nicht weniger als das Leben und die Gesundheit der Menschen. Und es geht um den Zusammenhalt und die Solidarität in unserer Gesellschaft und in Europa. Ich stehe vor Ihnen als Bundeskanzlerin einer Bundesregierung, die in den vergangenen Wochen zusammen mit den Bundesländern Maßnahmen beschlossen hat, für die es kein historisches Vorbild gibt, an dem wir uns orientieren könnten. Wir haben Ihnen, dem Parlament, Gesetzentwürfe zugeleitet und Sie um die Bewilligung von Finanzmitteln in einer Höhe gebeten, wie sie vor der Coronapandemie schlicht außerhalb unserer Vorstellungen lag. Ich danke von Herzen dafür, dass der Deutsche Bundestag wie im Übrigen ja auch der Bundesrat unter schwierigen Umständen die gesetzlichen Maßnahmen äußerst schnell beraten und beschlossen hat. Wir leben nun seit Wochen in der Pandemie. Jeder Einzelne von uns hat sein Leben den neuen Bedingungen anpassen müssen, privat wie beruflich. Jeder von uns kann berichten, was ihm oder ihr besonders fehlt, besonders schwerfällt. Und ich verstehe, dass dieses Leben unter Coronabedingungen allen schon sehr, sehr lange vorkommt. Niemand hört es gerne, aber es ist die Wahrheit: Wir leben nicht in der Endphase der Pandemie, sondern immer noch an ihrem Anfang. Wir werden noch lange mit diesem Virus leben müssen. Die Frage, wie wir verhindern, dass das Virus zu irgendeinem Zeitpunkt unser Gesundheitssystem überwältigt und in der Folge unzähligen Menschen das Leben kostet, wird noch lange die zentrale Frage für die Politik in Deutschland und Europa sein. Mir ist bewusst, wie schwer die Einschränkungen uns alle individuell, aber auch als Gesellschaft belasten. Diese Pandemie ist eine demokratische Zumutung; denn sie schränkt genau das ein, was unsere existenziellen Rechte und Bedürfnisse sind – die der Erwachsenen genauso wie die der Kinder. Eine solche Situation ist nur akzeptabel und erträglich, wenn die Gründe für die Einschränkungen transparent und nachvollziehbar sind, wenn Kritik und Widerspruch nicht nur erlaubt, sondern eingefordert und angehört werden – wechselseitig. Dabei hilft die freie Presse. ({0}) Dabei hilft unsere föderale Ordnung. Dabei hilft aber auch das wechselseitige Vertrauen, das die letzten Wochen hier im Parlament und überall im Land zu erleben war. Wie selbstverständlich sich die Bürgerinnen und Bürger füreinander eingesetzt haben und sich eingeschränkt haben als Bürgerinnen und Bürger für andere, das ist bewundernswert. ({1}) Lassen Sie mich Ihnen versichern: Kaum eine Entscheidung ist mir in meiner Amtszeit als Bundeskanzlerin so schwergefallen wie die Einschränkungen der persönlichen Freiheitsrechte. ({2}) Auch mich belastet es, wenn Kinder im Moment nicht einfach ganz unbeschwert ihre Freundinnen und Freunde treffen können und das so vermissen. Auch mich belastet es, wenn Menschen derzeit grundsätzlich nur mit einem weiteren Menschen außerhalb ihres eigenen Hausstands spazieren gehen können und immer auf den so wichtigen Mindestabstand achten müssen. Auch mich belastet ganz besonders, was die Menschen erdulden müssen, die in Pflege-, Senioren-, Behinderteneinrichtungen leben. Dort, wo Einsamkeit ohnehin zum Problem werden kann, ist es in Zeiten der Pandemie und ganz ohne Besucher noch viel einsamer. Es ist grausam, wenn außer den Pflegekräften, die ihr Allerbestes tun, niemand da sein kann, wenn die Kräfte schwinden und ein Leben zu Ende geht. Vergessen wir nie diese Menschen und die zeitweilige Isolation, in der sie leben müssen. Diese 80-, 90-Jährigen haben unser Land aufgebaut. Den Wohlstand, in dem wir leben, haben sie begründet. ({3}) Sie sind Deutschland genau wie wir, ihre Kinder und Enkel. Und wir kämpfen den Kampf gegen das Virus auch für sie. Ich bin deshalb auch überzeugt, dass die so harten Einschränkungen dennoch notwendig sind, um diese dramatische Krise als Gemeinschaft zu bestehen und das zu schützen, was unser Grundgesetz in das Zentrum unseres Handelns stellt: das Leben und die Würde jedes einzelnen Menschen. Durch die Strenge mit uns selbst, die Disziplin und Geduld der letzten Wochen haben wir die Ausbreitung des Virus verlangsamt. Das klingt wie etwas Geringes, aber es ist etwas ungeheuer Wertvolles. Wir haben Zeit gewonnen und diese wertvoll gewonnene Zeit gut genutzt, um unser Gesundheitssystem weiter zu stärken. Dreh- und Angelpunkt aller Bemühungen im medizinischen Bereich sind die Intensivstationen. Dort entscheidet sich das Schicksal für die am schwersten von Corona Betroffenen. Wir alle kennen die furchtbaren Berichte aus Krankenhäusern in einigen Ländern, die vom Virus ein paar Wochen lang schlicht überrannt waren. Dass es dazu nicht kommt, das ist das schlichte und gleichzeitig so anspruchsvolle Ziel der Bundesregierung. Ich danke unserem Gesundheitsminister Jens Spahn, aber auch den Gesundheitsministern der Länder, die so unermüdlich auf dieses Ziel hinarbeiten – und mit sichtbaren Erfolgen. ({4}) Wir haben die Anzahl der Beatmungsbetten deutlich ausgeweitet. Mit dem COVID-19-Krankenhausentlastungsgesetz haben wir sichergestellt, dass die Krankenhäuser die zusätzlichen Intensiversorgungskapazitäten aufbauen können. So können wir heute feststellen: Unser Gesundheitssystem hält der Bewährungsprobe bisher stand. Jeder Coronapatient erhält auch in den schwersten Fällen die bestmögliche menschenwürdige Behandlung. Mehr als allen staatlichen Maßnahmen verdanken wir das der aufopfernden Arbeit von Ärzten und Ärztinnen, von Pflegekräften und Rettungssanitätern, von so vielen Menschen, die mit ihrem Fleiß und ihrer Tatkraft das ausmachen, was wir oft einfach „unser Gesundheitssystem“ nennen. ({5}) Ihnen danken wir mit diesem Applaus, und in diesen Dank möchte ich auch Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr einschließen, die an vielen Stellen helfen. ({6}) Eine vielleicht in der Öffentlichkeit weniger beachtete, aber ebenso entscheidende Rolle im Kampf gegen die Pandemie spielt der öffentliche Gesundheitsdienst. Fast 400 lokale Gesundheitsämter sind das. Wenn es uns in den nächsten Monaten gelingen soll, das Infektionsgeschehen zu kontrollieren und einzudämmen, dann brauchen wir diese Ämter in starker Verfassung, und ich sage: in stärkerer Verfassung, als sie vor der Pandemie waren. ({7}) Deshalb haben Bund und Länder gerade vereinbart, diesen Ämtern mehr Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu geben, damit sie zum Beispiel diese überaus wichtige – ja, ich sage: entscheidende – Aufgabe, nämlich die Kontakte eines Infizierten nachzuverfolgen, auch tatsächlich effektiv wahrnehmen können. Das Robert-Koch-Institut wird darüber hinaus 105 mobile Teams aus Studierenden aufstellen, die sogenannten Containment Scouts, die dort, wo besonderer Bedarf besteht, eingesetzt werden können. Von Anfang an hat die Bundesregierung sich auch dem Thema der persönlichen Schutzausrüstung gewidmet. Die Versorgung mit diesen Gütern, insbesondere mit medizinischen Schutzmasken, ist schnell zu einer der zentralen Aufgaben geworden, und nicht nur für uns, sondern für die ganze Welt. Denn ohne gesunde Ärztinnen und Ärzte, Pflegerinnen und Pfleger nützen auch vorhandene Intensivbetten und Beatmungsgeräte nichts. Die Lage auf den Weltmärkten für solches Material ist angespannt. Die Handelssitten in den ersten Wochen der Pandemie waren, sagen wir mal, rau. Deshalb hat die Bundesregierung, obwohl wir nach dem Infektionsschutzgesetz nicht zuständig sind, entschieden, die Beschaffung persönlicher Schutzausrüstung zentral zu koordinieren und die Waren dann an die Bundesländer weiterzugeben. Ich danke auch den Unternehmen, die uns dabei mit ihrer Erfahrung geholfen haben. ({8}) Die Pandemie lehrt uns: Es ist nicht gut, wenn Schutzausrüstung ausschließlich aus fernen Ländern bezogen wird. Masken, die wenige Cent kosten, können in der Pandemie zu einem strategischen Faktor werden. Die Bundesrepublik Deutschland und die Europäische Union arbeiten deshalb daran, auf diesem Gebiet wieder unabhängiger von Drittländern zu werden. Deshalb bauen wir die Produktionskapazitäten für Schutzgüter in Deutschland und Europa mit Hochdruck aus. Wenn wir uns fragen, was uns zugutegekommen ist in dieser ersten Phase der Ausbreitung des Virus, so sind das – neben den relativ vielen Intensivbetten – die hohen Testkapazitäten und das dichte Netz an Laboren. Die Experten sagen uns: testen, testen, testen. – So gewinnen wir ein besseres Bild von der Epidemie in Deutschland, bekommen größere Klarheit über die Dunkelziffer der Infektionen, können Pflegekräfte häufiger testen, um die Ansteckungsgefahr in Krankenhäusern und Heimen zu senken. Deswegen haben wir die Kapazitäten für eine umfassende Testung schon kontinuierlich ausgebaut und werden sie weiter ausbauen. Dennoch: Beenden können werden wir die Coronapandemie letztlich wohl nur mit einem Impfstoff, jedenfalls nach allem, was wir heute über das Virus wissen. In mehreren Ländern weltweit sind Forscher auf der Suche. Die Bundesregierung hilft mit finanzieller Förderung, damit auch der Forschungsstandort Deutschland dabei seine Rolle spielen kann. Genauso aber stehen wir auch finanziell hinter internationalen Initiativen wie der Impfstoffinitiative CEPI. Auch für die Medikamentenentwicklung und für ein neues nationales Forschungsnetzwerk zu Covid-19 hat die Bundesregierung kurzfristig erhebliche Mittel zur Verfügung gestellt. Das hilft Forschern und Ärzten an allen deutschen Universitätskliniken, Hand in Hand an dieser Aufgabe zu arbeiten. Wir werden ja noch viele Studien brauchen, in der Zukunft auch Antikörperstudien. Dafür sind wir also gut gerüstet. Doch Wissenschaft ist nie national. Wissenschaft dient der Menschheit. Deshalb versteht es sich von selbst, dass, wenn Medikamente oder ein Impfstoff, gefunden, getestet, freigegeben und einsatzbereit sind, sie dann in aller Welt verfügbar und auch für alle Welt bezahlbar sein müssen. ({9}) Ein Virus, das sich in fast allen Staaten ausbreitet, kann auch nur im Zusammenwirken aller Staaten zurückgedrängt und eingedämmt werden. Für die Bundesregierung ist die internationale Zusammenarbeit gegen das Virus herausragend wichtig. Wir stimmen uns im Kreis der Europäischen Union ab, genauso im Rahmen der G 7 und der G 20. Mit der Entscheidung, den ärmsten 77 Staaten der Welt alle Zins- und Tilgungszahlungen in diesem Jahr zu stunden, konnten wir etwas Druck von diesen hart geprüften Staatengruppen nehmen. Aber bei dieser Unterstützung wird es natürlich nicht bleiben können. Für die Bundesregierung ist die Zusammenarbeit mit den Staaten Afrikas immer ein Schwerpunkt, und in der Coronakrise müssen wir sie noch verstärken. ({10}) Nicht nur in Afrika, aber gerade dort kommt es sehr auf die Arbeit der Weltgesundheitsorganisation, WHO, an. Für die Bundesregierung betone ich: Die WHO ist ein unverzichtbarer Partner, und wir unterstützen sie in ihrem Mandat. ({11}) Meine Damen und Herren, wenn wir uns hier in Deutschland die neuesten Zahlen des Robert-Koch-Instituts ansehen, dann zeigen die Indikatoren, dass sie sich in die richtige Richtung entwickeln, zum Beispiel eine verlangsamte Infektionsgeschwindigkeit, derzeit täglich mehr Genesene als Neuerkrankte. Das ist ein Zwischenerfolg. Aber gerade weil die Zahlen Hoffnungen auslösen, sehe ich mich verpflichtet, zu sagen: Dieses Zwischenergebnis ist zerbrechlich. Wir bewegen uns auf dünnem Eis, man kann auch sagen: auf dünnstem Eis. Die Situation ist trügerisch, und wir sind noch lange nicht über den Berg; denn wir müssen im Kampf gegen das Virus immer im Kopf haben: Die Zahlen von heute spiegeln das Infektionsgeschehen von vor etwa zehn bis zwölf Tagen wider. Die heutige Zahl der Neuinfizierten sagt uns also nicht, wie es in einer oder zwei Wochen aussieht, wenn wir zwischendurch ein deutliches Mehr an neuen Kontakten zugelassen haben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte diese Gelegenheit nutzen, um noch einmal etwas ausführlicher zu erläutern, was mir gerade Sorge bereitet. Natürlich sind politische Entscheidungen immer Teil eines fortwährenden Abwägungsprozesses nach bestem Wissen und Gewissen. Das gilt auch für die Entscheidungen zur Bekämpfung der Coronapandemie, die ja von größter Trageweite für das Wohlergehen der Menschen in unserem Lande sind. In dieser so überaus wichtigen Abwägung, die sich niemand, weder im Bund noch in den Bundesländern, leicht macht – das weiß ich –, bin ich bei der Bekämpfung des Coronavirus überzeugt: Wenn wir gerade am Anfang dieser Pandemie größtmögliche Ausdauer und Disziplin aufbringen, dann werden wir in der Lage sein, schneller wieder wirtschaftliches, soziales und öffentliches Leben zu entfalten, und zwar nachhaltig, als wenn wir uns – gerade am Anfang – vor dem Hintergrund ermutigender Infektionszahlen zu schnell in falscher Sicherheit wiegen. ({12}) Wenn wir also am Anfang diszipliniert sind, werden wir es viel schneller schaffen, Gesundheit und Wirtschaft, Gesundheit und soziales Leben wieder gleichermaßen leben zu können. Auch dann wird das Virus immer noch da sein; aber mit Konzentration und Ausdauer – gerade am Anfang – können wir vermeiden, von einem zum nächsten Shutdown zu wechseln oder Gruppen von Menschen monatelang von allen anderen isolieren zu müssen und mit furchtbaren Zuständen in unseren Krankenhäusern konfrontiert zu sein, wie es in einigen anderen Ländern leider der Fall war. Je ausdauernder und konsequenter wir am Anfang der Pandemie die Einschränkungen ertragen und damit das Infektionsgeschehen nach unten drücken, umso mehr dienen wir nicht nur der Gesundheit der Menschen, sondern auch dem wirtschaftlichen und sozialen Leben, weil wir dann in der Lage wären, jede Infektionskette konsequent zu ermitteln und somit das Virus zu beherrschen. Diese Überzeugung leitet mein Handeln. Ich sage Ihnen deshalb ganz offen: Ich trage die Beschlüsse, die Bund und Länder am Mittwoch letzter Woche getroffen haben, aus voller Überzeugung mit. Doch ihre Umsetzung seither bereitet mir Sorgen. ({13}) Sie wirkt auf mich in Teilen sehr forsch, um nicht zu sagen: zu forsch. Wenn ich das sage, dann ändert das natürlich kein Jota daran, dass ich die Hoheit der Bundesländer, die ihnen nach unserer grundgesetzlich festgeschriebenen föderalen Staatsordnung in vielen Fragen zukommt, natürlich auch beim Infektionsschutzgesetz aus voller Überzeugung achte. Unsere föderale Ordnung ist stark. Damit hier kein Missverständnis entsteht, wollte ich das noch mal deutlich sagen. Gleichwohl sehe ich es als meine Pflicht an, zu mahnen, eben nicht auf das Prinzip Hoffnung zu vertrauen, wenn ich davon nicht überzeugt bin. So mahne ich in diesem Sinne auch im Gespräch mit den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten und auch in diesem Hohen Hause: Lassen Sie uns jetzt das Erreichte nicht verspielen und einen Rückschlag riskieren! ({14}) Es wäre jammerschade, wenn uns die voreilige Hoffnung am Ende bestraft. Bleiben wir alle auf dem Weg in die nächste Phase der Pandemie klug und vorsichtig. Das ist eine Langstrecke, bei der uns nicht zu früh die Kraft und die Luft ausgehen dürfen. Klar ist, dass wir erst einmal nicht zum Alltag, wie wir ihn vor Corona kannten, zurückkehren können. Der Alltag wird einstweilen anders aussehen, auch dann, wenn die derzeit beratenen digitalen Tracing-Modelle zum Einsatz kommen können. Auch die strengen Abstandsregeln, die Hygienevorschriften, auch die Kontaktbegrenzungen werden weiter dazugehören. Das betrifft beispielsweise die Öffnung von Schulen und Kitas. Die Länder sind dabei, die schrittweise Öffnung der Schulen nun auch ganz praktisch umzusetzen bzw. vorzubereiten. Da wird es viel fantasievoller Tatkraft bedürfen. Ich danke heute schon allen, die sich dafür zurzeit einsetzen. Ich weiß, dass das sehr, sehr viele sind. ({15}) Ich habe am Anfang von der größten Bewährungsprobe seit den Anfangstagen der Bundesrepublik Deutschland gesprochen. Das gilt leider auch für die Wirtschaft. Wie tief die Einbußen am Ende des Jahres sein werden und wie lange sie anhalten, wann die Erholung einsetzt, das können wir heute noch nicht seriös sagen; denn auch das hängt natürlich von unserem Erfolg in der Auseinandersetzung mit dem Virus ab. Die Pandemie hat uns in einer Zeit gesunder Haushalte und starker Reserven getroffen. Jahre solider Politik helfen uns jetzt. Es geht jetzt darum, unsere Wirtschaft zu stützen und einen Schutzschirm für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aufzuspannen. Millionen von Anträgen für verschiedene Hilfsprogramme sind eingegangen; Millionen von Menschen und Unternehmen haben bereits Geld erhalten. Wir konnten all diese gesetzlichen Maßnahmen schnell und mit überwältigender Mehrheit beschließen. Unsere parlamentarische Demokratie ist stark, sie ist leistungsfähig und in Krisenzeiten äußerst schnell. Auch gestern Abend haben wir im Koalitionsausschuss noch einmal weitere Maßnahmen beschlossen; Sie sind darüber informiert. Doch all unsere Bemühungen auf nationaler Ebene können letztlich nur dann erfolgreich sein, wenn wir auch gemeinsam in Europa erfolgreich sind. Sie haben mich hier in diesem Haus oft sagen hören: Deutschland kann es auf Dauer nur gut gehen, wenn es auch Europa gut geht. – Mir ist es mit diesem Satz auch heute wieder sehr, sehr ernst. ({16}) Wie drückt sich das praktisch aus? Zum Beispiel haben wir mehr als 200 Patienten aus Italien, Frankreich oder den Niederlanden in deutschen Intensivstationen behandelt. Wir haben medizinisches Material zum Beispiel nach Italien oder Spanien geliefert und neben unseren Bürgern Tausende gestrandete andere Europäerinnen und Europäer aus aller Welt zurück nach Hause geholt – dafür übrigens ein herzliches Dankeschön allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Auswärtigen Amt. Man glaubt gar nicht, wie viele Deutsche sich außerhalb der eigenen Landesgrenzen befinden; aber wir konnten auch vielen anderen Europäern helfen. Danke dafür. ({17}) Wir haben auch gemeinsam gehandelt, um dem massiven Einbruch der europäischen Wirtschaft zu begegnen. Wir tun das mit einem Paket von Hilfsmaßnahmen für Unternehmen und Beschäftigte in Höhe von immerhin 500 Milliarden Euro , das unser Finanzminister Olaf Scholz und die anderen Finanzminister in der Euro-Gruppe vor zwei Wochen vereinbart haben. Jetzt geht es darum, diese 500 Milliarden Euro auch wirklich verfügbar zu machen; dafür wird auch der Deutsche Bundestag noch Beschlüsse fassen müssen. Ich würde mich freuen, wenn wir sagen könnten: Zum 1. Juni ist das Geld auch wirklich da. – Denn es geht hier um Hilfe für kleine und mittlere Unternehmen. Es geht hier um vorsorgliche Kreditlinien, und es geht hier auch um Kurzarbeitergeld, für das einige Mitgliedstaaten vielleicht nicht die finanziellen Ressourcen haben, was aber Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dort sehr helfen kann. ({18}) Nun fordern einige unserer europäischen Partner – aber auch innerhalb der politischen Diskussion in Deutschland ist das ein Thema –, angesichts der schweren Krise gemeinsame Schulden mit gemeinsamer Haftung aufzunehmen. Diese Frage wird auch bei der Videokonferenz des Europäischen Rates heute Nachmittag sicherlich wieder eine Rolle spielen. Nehmen wir an, die Zeit und der politische Wille zur gemeinsamen Verschuldung seien wirklich vorhanden: Dann müssten alle nationalen Parlamente in der Europäischen Union und auch der Deutsche Bundestag entscheiden, die EU-Verträge so zu ändern, dass ein Teil des Budgetrechts auf die europäische Ebene übertragen und dort demokratisch kontrolliert würde. Das wäre ein zeitraubender und schwieriger Prozess und keiner, der in der aktuellen Lage direkt helfen könnte; denn es geht jetzt darum, schnell zu helfen und schnell Instrumente in der Hand zu haben, die die Folgen der Krise lindern können. Es wird beim heutigen Europäischen Rat auch darüber beraten, wie wir in Europa in der Zeit nach den strengsten Einschränkungen gemeinsam vorgehen wollen. Wir wollen schnell in Europa handeln; denn wir brauchen natürlich Instrumente, um die Folgen der Krise in allen Mitgliedstaaten überwinden zu können. Ich halte es in diesem Zusammenhang erst einmal für wichtig, dass die Europäische Kommission jetzt und in den nächsten Wochen fortlaufend prüft, wie die verschiedenen Bereiche der Wirtschaft in Europa von der Krise betroffen sind und welcher Handlungsbedarf sich daraus ergibt. Dies betrifft also auch die unmittelbare Hilfe für die europäische Wirtschaft. Ein europäisches Konjunkturprogramm könnte in den nächsten zwei Jahren den nötigen Aufschwung unterstützen. Deshalb werden wir dafür auch arbeiten. In unseren heutigen Beratungen wird es noch nicht darum gehen, bereits die Details festzulegen oder schon über den Umfang zu entscheiden. Doch eines ist schon klar: Wir sollten bereit sein, im Geiste der Solidarität über einen begrenzten Zeitraum hinweg ganz andere, das heißt deutlich höhere Beiträge zum europäischen Haushalt zu leisten. Denn wir wollen, dass sich alle Mitgliedstaaten in der Europäischen Union wirtschaftlich wieder erholen können. ({19}) Ein solches Konjunkturprogramm sollte allerdings von vornherein mit dem europäischen Haushalt zusammengedacht werden; denn der gemeinsame europäische Haushalt ist das seit Jahrzehnten bewährte Instrument solidarischer Finanzierung gemeinsamer Aufgaben in der Europäischen Union. Darüber hinaus werde ich heute darauf drängen, dass sich der Europäische Rat schon bald mit grundsätzlichen Fragen befasst: Wo müssen wir auf europäischer Ebene noch enger zusammenarbeiten? Wo braucht die Europäische Union zusätzliche Kompetenzen? Welche strategischen Fähigkeiten müssen wir in Zukunft in Europa haben oder halten? Nicht nur bei der Finanzpolitik, der Digitalpolitik und beim Binnenmarkt könnten wir diese Union vertiefen; auch in der Migrationspolitik, der Rechtsstaatlichkeit, der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik oder beim Klimaschutz ist europäische Solidarität gefragt. Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, für uns in Deutschland ist das Bekenntnis zum vereinten Europa Teil unserer Staatsräson. Das ist kein Stoff für Sonntagsreden, sondern das ist ganz praktisch: Wir sind eine Schicksalsgemeinschaft. ({20}) Dies muss Europa jetzt angesichts dieser ungeahnten Herausforderung der Pandemie beweisen. Diese Pandemie trifft alle, aber nicht alle gleich. Wenn wir nicht aufpassen, dient sie all denen als Vorwand, die die Spaltung der Gesellschaft betreiben. Europa ist nicht Europa, wenn es sich nicht auch als Europa versteht. ({21}) Europa ist nicht Europa, wenn es nicht füreinander einsteht in Zeiten unverschuldeter Not. ({22}) Wir haben in dieser Krise auch die Aufgabe, zu zeigen, wer wir als Europa sein wollen. Und so bin ich am Ende meiner Rede wieder beim Gedanken des Zusammenhalts angekommen. Was in Europa gilt, ist auch für uns in Deutschland das Wichtigste. So paradox es klingt: In Wochen, in denen die Verhaltensregeln uns weit auseinander gezwungen haben und Distanz statt Nähe nötig ist, haben wir zusammengehalten und durch Zusammenhalt gemeinsam geschafft, dass sich das Virus auf seinem Weg durch Deutschland und Europa immerhin verlangsamt hat. Das kann keine Regierung einfach anordnen. Auf so etwas kann eine Regierung letztlich nur hoffen. Das ist nur möglich, wenn Bürgerinnen und Bürger mit Herz und Vernunft etwas für ihre Mitmenschen tun, für ihr Land – nennen Sie es: für das große Ganze. Mich macht das unendlich dankbar, und ich wünsche mir, dass wir auch so weiter durch diese nächste Zeit gehen. Sie wird noch länger sehr schwer bleiben. Aber gemeinsam – davon bin ich nach diesen ersten Wochen der Pandemie überzeugt – wird es uns gelingen, diese gigantische Herausforderung zu meistern: gemeinsam als Gesellschaft, gemeinsam in Europa. Vielen Dank. ({23})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt eröffne ich die Aussprache und erteile als Erstem dem Fraktionsvorsitzenden der AfD Dr. Alexander Gauland das Wort. ({0})

Dr. Alexander Gauland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004724, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Krise ist die Stunde der Exekutive und zugleich die große Versuchung der Exekutive, den Staat als Vormund der Bürger zu etablieren. Frau Bundeskanzlerin, das ist offensichtlich nicht nur in Ungarn so. Mit ihrer Begriffsschöpfung „Öffnungsdiskussionsorgien“ hat die Bundeskanzlerin eine Basta-Mentalität offenbart. Als Opposition betrachten wir es als unsere Pflicht, über Öffnungen und Alternativen zu diskutieren. ({0}) Die vergangenen Wochen haben eines deutlich gezeigt: Die weit überwiegende Mehrheit in unserem Land geht mit der Ansteckungsgefahr sehr vernünftig und diszipliniert um. Die Menschen halten Abstand voneinander, sie versammeln sich nicht, warten geduldig vor Geschäften, viele tragen Mundschutz. Die Quarantänemaßnahmen laufen längst selbstorganisiert. Der Staat ist dabei weitgehend überflüssig. ({1}) Es wird also Zeit, die Beschränkung der Grundrechte zu lockern und die Schutzmaßnahmen in die private Verantwortung der Bürger zu überführen. ({2}) Das kann natürlich nur mit Augenmaß und Intelligenz funktionieren. Die schrittweise Lockerung der Quarantänevorschriften ist nicht nur wirtschaftlich geboten, sondern auch gesundheitlich. Wir sind eine Gesellschaft, in der Übergewicht und Krankheiten des Kreislaufsystems die häufigsten Todesursachen sind. Wie wird diese Bilanz aussehen, wenn Millionen Menschen sich monatelang eingesperrt fühlen? Wie geht es Krebskranken, deren Behandlungen gestreckt werden? Wie geht es Menschen, die mit Depressionen allein zu Hause sitzen? Wie viele psychische Erkrankungen kommen dazu bei denjenigen, deren Existenz durch die Quarantäne bedroht oder gar vernichtet ist? Wie viele Tote sind dadurch zusätzlich zu erwarten? Das sind Fragen, Frau Bundeskanzlerin, die kann man nicht einfach mit Diskussionsverboten wegwischen. ({3}) Ich darf daran erinnern, dass Länder wie Südkorea, Taiwan und Singapur ohne Lockdown durch die Krise gekommen sind. Nicht das Einsperren der gesamten Bevölkerung ist die Lösung, sondern der Schutz der Risikogruppen. ({4}) Meine Damen und Herren, wenn Bayern verkündet, das Oktoberfest ausfallen zu lassen, und Berlin am selben Tag ankündigt, das Demonstrationsverbot für den 1. Mai zu lockern, entsteht zu Recht der Eindruck in der Bevölkerung, dass die Exekutiven einfach nicht wissen, was sie tun. ({5}) Wie wäre es beispielsweise, wenn die Regierung festlegte, dass Rentner und Angehörige von Risikogruppen separate Einkaufszeiten erhalten, zum Beispiel am Vormittag? Da die meisten Geschäfte inzwischen Einlasspersonal an ihre Türen gestellt haben, lässt sich das leicht realisieren. Warum dürfen Gaststätten und Biergärten nicht unter Auflagen öffnen? ({6}) Eine Mehrwertsteuersenkung, sehr geehrter Finanzminister, bei einem Nullumsatz ist überhaupt keine Lösung in dieser Frage. ({7}) Auflagen könnten sein: Halbierung der Anzahl der Tische, um damit Distanz herzustellen, und Maskenpflicht für das Personal. ({8}) Wenn die Regierung es schafft, genügend Schutzmasken bereitzustellen, ({9}) könnte in den öffentlichen Verkehrsmitteln Maskenpflicht bestehen. Die Menschen sind vernünftig genug, ihr persönliches Risiko einzuschätzen und sich gegenseitig zu kontrollieren. Meine Damen und Herren, völlig unzumutbar ist aus unserer Sicht, seinen Zweitwohnsitz nicht aufsuchen zu dürfen. Die Schriftstellerin Monika Maron – um ein Beispiel zu nennen – erhielt ein Formblatt zugeschickt, in dem die Gemeinde, in der die Berliner Autorin seit vielen Jahren einen Zweitwohnsitz unterhält, anordnet, sie habe nicht nur ihr Haus, sondern gleich auch das Bundesland Mecklenburg-Vorpommern zu verlassen. Folge sie der Anweisung nicht, werde umgehend Strafanzeige erstattet. – Bitte schön, wo sind wir in diesem Lande angekommen, wenn so was möglich ist? ({10}) Als eine der Freiheit der Bürger verpflichtete Partei ({11}) lehnen wir die ersten Ansätze zur Bargeldabschaffung ebenso ab wie die sogenannten Euro-Bonds. Das ist der Punkt, wo wir sogar aufseiten der Bundeskanzlerin stehen. Meine Damen und Herren, von Otto von Bismarck stammt die Beobachtung, ({12}) dass er „das Wort ‚Europaʼ immer im Munde derjenigen Politiker gefunden“ habe, „die von anderen Mächten etwas verlangten, was sie im eigenen Namen nicht zu fordern wagten“. – Wie wahr ist diese Beobachtung! ({13}) Das Virus hat auch der EU eine Lektion erteilt. Es hat der Union im Wortsinne ihre Grenzen aufgezeigt. In der Krise ziehen sich die Menschen in die soliden und vertrauten Strukturen zurück. Das ist im Kleinen die Familie, im Großen der Nationalstaat. Wir müssen als Abgeordnete die Frage diskutieren, ab wann die Maßnahmen gegen die Pandemie einen größeren Schaden anrichten als die Pandemie selbst. ({14}) Und wir werden diese Diskussion nicht aufgeben, Frau Bundeskanzlerin; denn wir müssen die Verantwortung für das, was jetzt kommt, wieder in die Hände der Bürger legen. ({15}) Es ist nicht Aufgabe der Regierung, das ist Aufgabe der Bürger, hier zusammenzustehen. Ich bedanke mich. ({16})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Fraktionsvorsitzende der SPD Dr. Rolf Mützenich. ({0})

Dr. Rolf Mützenich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003599, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Fraktion unterstützt die vorsichtigen und verantwortbaren Schritte, die die Bundesregierung zusammen mit den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten in der vergangenen Woche auf den Weg gebracht hat. Es waren richtige und auch notwendige Schritte, die eine Stärkung der Eigenverantwortung, aber auch des Zusammenhalts dieser Gesellschaft abbilden. Sie reflektieren etwas, was immer noch der dringenden Beachtung bedarf, nämlich dass wir es schaffen, am Beginn einer Pandemie ein intaktes Gesundheitswesen aufrechtzuerhalten und nicht in der Mitte oder am Ende dieser Pandemie. Worauf es mir und meiner Fraktion insbesondere ankommt, ist – ich vermisse oft diese Hinweise –: Es geht um den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den Geschäften, in den Betrieben, ({0}) und das wird man nicht von heute auf morgen schaffen können. Insofern sage ich sehr deutlich: Ja, diese Schritte sind verantwortbar, und sie sind eben auch angemessen. Auf der anderen Seite, finde ich, müssen wir – und wir haben hier im Deutschen Bundestag jetzt des Öfteren darüber gesprochen – es als beachtlich empfinden, wie stark die Bürger seit Wochen Solidarität üben, aber auch den Anforderungen an den Selbstschutz nachkommen. Vielleicht erinnern wir uns dann später auch an die kleinen Geschichten der Nachbarschaftshilfe. In meinem Wahlkreis geht jemand mit einem Leierkasten durch die Straßen und spielt einfach Musik für die Menschen, die sich zurzeit in ihren Wohnungen aufhalten und nicht bewegen können. All das sind, glaube ich, Dinge, die Mut machen. Sie haben recht, Frau Bundeskanzlerin: Man muss sich mit den demokratischen Zumutungen auseinandersetzen. Deswegen ist es richtig, dass sich viele in diesem Land, viele Organisationen, letztlich auch viele Vereine, aber auch der Ethikrat, Juristinnen und Juristen, Medienvertreter, die berechtigte Frage stellen, ob die Einschränkungen der Rechtsgüter verhältnismäßig sind. Diese Diskussion erreicht auch dieses Parlament. Vor diesem Hintergrund sage ich: Ja, dieses Parlament ist notwendig, um diese Schritte zu gehen, um darüber zu sprechen, aber eben auch Entscheidungen zu treffen. Die Kontrolle und das Selbstbewusstsein sind Voraussetzungen dafür, dass dieser demokratische Staat in seiner Gestalt erhalten bleibt. Insofern sage ich sehr selbstbewusst: Die Parlamentarierinnen und Parlamentarier sind die Ansprechpartner vor Ort. Wer, wenn nicht wir, wird darauf angesprochen, wo vielleicht etwas noch nicht richtig funktioniert? Ich nenne zum Beispiel ein Hamburger Unternehmen, das erblindeten Menschen eine Berufsperspektive gibt, die Sehende an die Hand nehmen und durch ihre Welt der Erblindeten führen. Sie bekommen keine Hilfe von der KfW, weil wir zurzeit eben nur gewerbliche Unternehmen dazu ermächtigt haben, diese Hilfen auch in Anspruch zu nehmen. Und deswegen sage ich: Die Parlamentarierinnen und Parlamentarier sind notwendig, um Korrekturen auf diesem Weg vorzunehmen. ({1}) Zum Zweiten: Wir erleben vor Ort, dass junge Menschen uns darauf ansprechen, dass sie jetzt ihren Praktikumsplatz verloren haben, den sie angenommen haben, um im Herbst dieses Jahres ihre Ausbildung zu beginnen. Sie vermuten, dass sie jetzt keinen Ausbildungsplatz bekommen. Hier sage ich sehr klar: Wir müssen alles dafür tun, dass die gemeinschaftliche Aktion für die jungen Menschen, die wir in der Schule gut ausgebildet und für eine Ausbildung gewonnen haben, gelingt und wir in Zukunft zur Not auch mehr außerbetriebliche Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen. Dafür brauchen wir das Parlament. Ich bin sehr dankbar, dass wir sehr selbstbewusst diese Fragen stellen. ({2}) Das ist auch eine Voraussetzung dafür, dass Demokratie gelingt. Denn ich glaube, die Menschen erleben, was dieser soziale und demokratische Rechtsstaat leistet: in seiner großen Gemeinschaft, in diesem Raum, aber auch darüber hinaus. Einparteienregierungen, Einpersonenregierungen schaffen das eben nicht. Alle warten sozusagen auf die Entscheidung der Machtzentrale; wir haben es erlebt. Autoritäre Herrschaft ist nur an Eigennutz und letztlich am Zurückdrängen der Opposition interessiert. Deswegen bin ich stolz, dass dieses Deutschland, dass diese Gesellschaft keine antidemokratischen Reflexe zeigt, sondern im Gegenteil hinter diesem sozialen Rechtsstaat steht, und Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wollen daran weiterhin mitwirken, meine Damen und Herren. ({3}) In diesem Zusammenhang – das muss ich auch sagen – bin ich irritiert, dass einige doch immer wieder – das haben Krisen offensichtlich so an sich – die Krise nutzen, geplante Vorhaben oder eigene Interessen in den Vordergrund zu stellen. Hier sage ich: Es ist empörend und überhaupt nicht nachvollziehbar, dass Unternehmen, die um öffentliche Hilfe nachfragen, auf der anderen Seite Dividenden oder Boni ausschütten wollen. Das ist nicht akzeptabel, meine Damen und Herren. ({4}) Ich erinnere zum Beispiel an ein Unternehmen wie die Lufthansa, die im Schatten dieser Krise einen kleinen Zweig, nämlich die Germanwings, liquidiert hat. Ich finde, das ist ein Weg, den wir genauso öffentlich anprangern müssen wie manches Fehlverhalten oder antidemokratische Reflexe, die teilweise leider auch aus diesem Hause hier kommen. ({5}) Zum Dritten – das werde ich meinem Koalitionspartner nicht ersparen können –: Dass wir in dieser Woche nicht über die Grundrente sprechen können, ist für uns nicht hinnehmbar. ({6}) Wir werden das weiterhin einfordern. Sie können nicht auf der einen Seite Balkonreden für die systemrelevanten Berufe halten, die eben nur kleine Einkommen haben und für die wir die Grundrente auf den Weg bringen wollen, ihnen aber auf der anderen Seite eine gesetzliche Beratung dieses Vorhabens vorenthalten. Deswegen sage ich: Wir wollen, dass der Gesetzentwurf für diese Grundrente in der nächsten Sitzungswoche hier im Parlament gelesen wird, meine Damen und Herren. ({7}) Auch wenn wir wissen, dass uns diese Pandemie noch einige Zeit im Griff haben wird, lohnt es sich trotzdem, über die Zukunft nachzudenken. Frau Bundeskanzlerin, Sie haben über die Konjunkturprogramme und vieles andere gesprochen. Ich sage: Ja, wir müssen zurzeit auf die aktuelle Krise reagieren, aber bereits darüber nachdenken, was wir in den nächsten Wochen und Monaten tun werden, um sozusagen den Motor wieder anlaufen zu lassen. Angesichts der alten, altmodischen Diskussion über Steuersenkungen, die wir gerade erleben, frage ich mich manchmal: In welcher Welt leben diejenigen, die diese Frage ansprechen? ({8}) Denn Menschen stellen sich zurzeit überhaupt nicht die Frage, ob sie mit einer niedrigeren Einkommensteuer vielleicht besser über die Runden kommen, sondern sie fragen: Habe ich noch Arbeit, um überhaupt Einkommensteuer zahlen zu können? ({9}) Und deswegen sage ich: Wir müssen uns auf den Weg machen, um unter diesen Bedingungen auch in Zukunft eine Förderung innovativer Techniken und Geschäftsmodelle auf den Weg zu bringen. Ein weiterer Punkt ist – auch darauf möchte ich meinen Koalitionspartner und die Bundesregierung ansprechen –: Wir reden über die Verletzbarkeit bestehender Wertschöpfungsketten. Wir wollen, dass das Risikomanagement offengelegt wird. Ja, in der Tat, wir erleben, dass diese Lieferketten auf existenzielle Krisen offensichtlich keine Antwort geben. Deswegen bitte ich Sie: Lassen Sie uns zusammensitzen und überlegen, wie wir das, was wir schon im Koalitionsvertrag niedergelegt hatten, nämlich das Lieferkettengesetz, auf den Weg bringen. ({10}) Möglicherweise bietet dieses Lieferkettengesetz auch die Chance, dieses Risikomanagement und die Frage besserer Lieferketten gesetzlich zu regeln. Ich glaube, meine Damen und Herren, darauf kommt es an. ({11}) Frau Bundeskanzlerin, meine Fraktion unterstützt Sie in den Aussagen, dass es Deutschland nur gut geht, wenn es Europa gut geht. Deswegen sind die ersten Schritte, die gemacht worden sind, genau die richtigen Schritte, die eben auch wirken können. Aber das heißt nicht, dass wir aufhören dürfen. Das heißt, dass wir weitere Antworten geben müssen. Und ja, es wird ein schwieriger, ein herausfordernder Prozess sein. Wenn die Gemeinschaftsbildung und die Fiskalunion gelingen, werden wir natürlich auch über neue Instrumente nachdenken müssen und darüber, wie wir sie auf den Weg bringen. Ich glaube, insbesondere in einer Krise, wo es nicht darum geht, ob man falsch gewirtschaftet hat, sondern in der man eben durch diese Pandemie unverschuldet herausgefordert ist, ist der richtige Zeitpunkt, diese notwendigen Fragen zu stellen, meine Damen und Herren. ({12}) Zum anderen will ich sagen: Die Pandemie hat auch gezeigt, dass es reale Feinde gibt – für die ganze Menschheit. Deswegen lohnt es sich vielleicht auch mal, innezuhalten und darüber nachzudenken, ob es überhaupt noch angemessen ist, diesen wahnwitzigen Rüstungswettlauf, diese unglaublich großen Milliardensummen an Euro für Militärausgaben zu akzeptieren. ({13}) Ich sage: Wenn sich der demokratische und soziale Rechtsstaat in dieser Krise als die richtige Regierungsform beweist, warum können dann nicht Demokratien gleichzeitig den notwendigen Impuls für das friedliche Miteinander geben? Ich bin überzeugt, dass eine soziale und gesunde Zukunft nur dann gelingt, wenn wir gleichzeitig Feindschaften abbauen. Um Gutes zu tun, müssen wir beides schaffen: die aktuelle Krise bewältigen und unseren Grundsätzen treu bleiben. Vielen Dank. ({14})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Vorsitzende der FDP-Fraktion, Christian Lindner. ({0})

Christian Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004097, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Covid-19-Pandemie war, die Covid-19-Pandemie ist eine unbekannte Herausforderung, die unser Land nahezu unvorbereitet getroffen hat. Deshalb haben wir hier in diesem Parlament in großer Einmütigkeit einschneidende Maßnahmen gemeinsam beschlossen. Wir haben unser Land heruntergefahren. Wir haben Grundrechte, Grundfreiheiten eingeschränkt wie zu keinem Zeitpunkt zuvor in der Geschichte unseres Landes. Das haben wir Freie Demokraten mitgetragen. Ja, teilweise haben wir sogar dazu ermuntert, kontrolliert das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben herunterzufahren. Nun sind einige Wochen ins Land gegangen. Nun wissen wir mehr. Nun ist das Land weiter. Der Gesundheitsschutz ist unzweifelhaft eine Aufgabe für die staatliche Verantwortungsgemeinschaft. Es gibt eben Dinge, die gehen über die Möglichkeit der individuellen Verantwortungsübernahme hinaus, Herr Gauland. ({0}) Aber die Zweifel an der Verhältnismäßigkeit des Zustandes insgesamt und die Zweifel an der Geeignetheit einzelner Maßnahmen sind ebenfalls gewachsen. Und weil die Zweifel gewachsen sind, Frau Bundeskanzlerin, endet heute auch die große Einmütigkeit in der Frage des Krisenmanagements. ({1}) Sie haben vielfach, Frau Merkel, von Vorsicht gesprochen und auch heute hier den Eindruck erweckt, wer Ihren Gedanken von Vorsicht nicht teilt, müsse sich Fahrlässigkeit oder Leichtfertigkeit vorwerfen lassen. So auch am Montag in Ihrer öffentlichen Stellungnahme. Das sind aber nur scheinbar Alternativen: Vorsicht und Leichtsinn. Freiheit und Gesundheit dürfen wir nicht und müssen wir auch nicht gegeneinander ausspielen. Das Land ist weiter. Hier ist von allen Rednern heute – und nicht nur heute – unterstrichen worden, wie verantwortungsbewusst und solidarisch die Menschen sind – Gott sei Dank. Versorgungsengpässe werden bekämpft. Die öffentlichen Gesundheitsämter und auch das Gesundheitswesen insgesamt haben ihre Kapazitäten erhöht. Also: Das Land ist weiter, und deshalb, Frau Bundeskanzlerin, muss jetzt darüber gesprochen werden, wie wir Gesundheit und Freiheit besser vereinbaren als in den vergangenen Wochen. Es ist jetzt möglich. ({2}) – Ich komme dazu. Die wissenschaftlichen Grundlagen für die Regierungspolitik haben sich ja regelmäßig verändert. Erst ging es um die Verdopplungszahlen, dann um die Reproduktionsquote. Erst sollten 60 bis 70 Prozent kontrolliert infiziert und dann immun werden, heute geht es um die absolute Eindämmung. ({3}) Masken waren erst unnötig, dann – – ({4}) – Ich rede nur über die Politik der Regierung, nicht über meine Haltung. Ich bin noch dabei, zu referieren, Kolleginnen und Kollegen. ({5}) Masken waren erst unnötig, dann waren sie Virenschleudern, dann waren sie eine Höflichkeitsgeste, dann waren sie ein dringendes Gebot, und heute gibt es eine Maskenplicht. Ich werfe das niemandem vor, verehrte Anwesende. ({6}) – Lachen Sie nur! Anhören müssen Sie es sich trotzdem. ({7}) Ich werfe das niemandem vor. Aber eins ist doch ersichtlich: Viele Entscheidungen sind nicht gesicherte Erkenntnis, sind nicht zur Wahrheit geronnene Forschung, ({8}) sondern sind politische Entscheidung, und als solche können und müssen sie hier diskutiert werden. ({9}) Ich bedaure in diesem Zusammenhang das Wort „Diskussionsorgien“. ({10}) Dahinter steht ein anderes Bild von den Menschen, als wir es haben. Die Menschen werden durch politische Debatten nicht verunsichert, sondern eher bestärkt, dass mit ihren Interessen und Einschätzungen sorgfältig umgegangen, dass sorgfältig abgewogen wird. Der Staat ist immer begründungspflichtig, wenn er Grundfreiheiten einschränkt. Deshalb muss darüber diskutiert werden. ({11}) Tatsächlich beklagen Beobachter wie der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel – zufällige Namensähnlichkeit – oder der Philosoph Julian Nida-Rümelin, dass wer in unserem Land über Öffnung diskutieren will, mindestens unter einen moralischen Rechtfertigungsdruck gerät. Gott sei Dank haben wir eine unabhängige Justiz. Das Bundesverfassungsgericht hat geurteilt, dass in der Covid-19-Pandemie das Versammlungsrecht nicht einfach pauschal eingeschränkt werden kann, und das Landgericht Hamburg hat die unsinnige 800-Quadratmeter-Regel verworfen. Das zeigt: Die unabhängige Justiz lässt sich durch Regieanweisungen der Politik nicht einschüchtern. Ein gutes Zeichen! ({12}) Und tatsächlich: Die 800-Quadratmeter-Regel oder auch die Diskriminierung der gesamten Gastronomie hält auch virologischen Ansprüchen nicht stand. Da sind wir bei den Alternativen. Zum Ersten. Professor Gérard Krause vom Helmholtz-Institut für Infektionsforschung, also Infektiologie, in Braunschweig, ein früherer Regierungsberater in Zeiten der Ehec-Krise, hat zu Ihren Beschlüssen vom vorvergangenen Donnerstag gesagt, die seien in der Sache nicht nötig, die Orientierung an einzelnen Sparten und Quadratmeterzahlen sei unsinnig, man könne sogar die Gastronomie wieder öffnen, entscheidend sei nur der Abstand zwischen den Tischen. Oder genauer gesagt: Entscheidend ist nicht, was geöffnet und was geschlossen ist, sondern entscheidend ist, ob überall die Hygieneregeln eingehalten werden. ({13}) Zum Zweiten: die Orientierung an der Reproduktionsquote. Professor Alexander Kekulé sagte dazu gestern im ZDF, das sei inzwischen das goldene Kalb des Krisenmanagements. Warum? Weil die Reproduktionsquote deutschlandweit auch insgesamt steigt, wenn es ein dramatisches Infektionsgeschehen an nur einem einzigen Hotspot gibt. Der R-Faktor für das ganze Land sagt gar nichts über die reale Situation aus, und deshalb ergibt es keinen Sinn, für Deutschland insgesamt einen Shutdown zu verhängen, sondern wir müssen viel stärker regional gegen Infektionsketten vorgehen. Denn dann haben wir eine Chance, Freiheit und Gesundheit wirksam zu vereinbaren – wirksamer als jetzt. ({14}) Zum Dritten. Auch nach Wochen wird diese Pandemie unverändert mit Instrumenten bekämpft, die im Grunde seit dem Mittelalter bekannt sind: Quarantäne, die bekannt ist aus der Zeit, als Schiffe 40 Tage warten mussten, ehe sie anlegen durften, Masken, Isolation. Das sind die Mittel des Mittelalters auch im Jahr 2020, wo uns eigentlich smartere Instrumente durch die Digitalisierung zur Verfügung stehen. ({15}) Hier haben wir die dringende Frage an die Regierung: Wo sind die Apps? Wo ist mindestens die Tracing-App, die wir brauchen, um Infektionsketten nachzuverfolgen? Die digitalen Defizite Deutschlands kosten uns Gesundheit, Wohlstand und Freiheit, und das ist nicht länger hinnehmbar. ({16}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine alternative Krisenstrategie ist möglich, weil unser Land weiter ist. Eine alternative Krisenstrategie ist auch nötig wegen der gesundheitlichen Folgen, auf die allenthalben hingewiesen wird, heute auch in den Medien. Chefärzte beklagen, dass sich in den Abteilungen, wo es um Herzerkrankungen oder Schlaganfälle geht, niemand mehr meldet, weil die Menschen Angst haben. Das sind gesundheitliche Folgewirkungen. Es sind Faktoren wie soziale Belastungen, wenn Menschen sich nicht mehr austauschen, nicht mehr in der Freiheit bewegen können. Ja, und auch wer Angst um die wirtschaftliche Existenz hat, nimmt Schaden an der Seele. Sie haben, Herr Kollege Mützenich, durchaus recht: Steuerentlastungen allein helfen da nicht. Sie haben gestern Nacht für die Gastronomie eine Steuerentlastung beschlossen. Ich gebe Ihnen recht: Die hilft nichts. Denn eine reduzierte Mehrwertsteuer hilft, wenn kein Umsatz anfällt, keinem Betrieb beim Überleben. ({17}) Also sollten Sie dafür sorgen, dass es schnell unter verantwortbaren Gesundheitsbedingungen wieder zu einer Öffnung kommt. Grundsätzlich liegen Sie aber falsch. In einem Land, in dem es vor einer Coronapandemie bereits die höchste Steuerquote in seiner Geschichte gab, ({18}) muss umso mehr danach die Möglichkeit geschaffen werden, dass die Menschen wieder Eigenkapital aufbauen und private Vorsorge stärken können. ({19}) Ich sage Ihnen eines, Herr Mützenich – das sage ich auch den Kollegen von Grünen und Linkspartei –: ({20}) Wir diskutieren gerne nach der Krise mit Ihnen wieder über die Vermögensabgabe und die Vermögensteuer. Jetzt müssen wir uns nur darum kümmern, ({21}) dass es überhaupt noch eine wirtschaftliche Substanz gibt, die Sie danach besteuern wollen. ({22}) Meine Damen und Herren, wir werden uns intensiv damit auseinandersetzen müssen, ob tatsächlich weitere planwirtschaftliche Eingriffe notwendig sind, wie Sie, Herr Mützenich, es eben im Zusammenhang mit dem Lieferkettengesetz angedeutet haben. Darüber können wir gerne streiten. ({23}) Wir glauben, dass es erforderlich ist, die Infektionsketten zu unterbrechen. ({24}) Aber irgendwann werden wir auch die Interventionsketten in unserer freiheitlichen Wirtschaftsordnung unterbinden müssen. Denn der Staat ist mit Sicherheit nicht der bessere Unternehmer. An dieser Einsicht hat sich auch nach Corona nichts verändert. ({25})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU, Ralph Brinkhaus. ({0})

Ralph Brinkhaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004021, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, wir haben in den letzten Wochen sehr viel erreicht durch sehr viel Disziplin in diesem Land, durch sehr viel Geduld, durch sehr viel Arbeit. Ich denke da nicht nur an die Menschen, die im Gesundheitswesen arbeiten, sondern auch an die vielen Eltern, die ihre Kinder zu Hause betreuen und zu Hause beschulen. Wir haben in der Tat große Einschränkungen erlebt. Ich möchte nur an eine Sache erinnern: Das Osterfest hat für viele Christen nicht in Kirchen stattfinden können. ({0}) Das war in weiten Teilen des Landes selbst 1945 nicht der Fall. Das heißt also, wir haben eine Menge auf uns genommen. Wir müssen jetzt aufpassen, meine Damen und Herren, dass wir das, was wir aufgebaut haben, nicht wieder einreißen. Deswegen ist es richtig, dass wir hier darüber diskutieren: Wie gehen wir mit Lockerungen um? Wie vorsichtig sind wir? Wie ist die Balance zwischen den Interessen der Arbeit, des Zusammenlebens auf der einen Seite und dem Interesse der Gesundheit auf der anderen Seite? Ich möchte dazu nur eines sagen: Wir können viele Sachen, nicht alle, aber viele, auch im wirtschaftlichen Bereich, wieder korrigieren – das ist mir sehr wichtig –, aber was wir nicht korrigieren können, ist der Verlust eines Menschenlebens. ({1}) Daran muss man bei dieser Sache immer denken, meine Damen und Herren. Deswegen sollten wir die Diskussion mit den Ministerpräsidenten mit großem Bedacht, mit großer Ernsthaftigkeit führen; aber wir sollten sie führen. Dies vorausgeschickt, möchte ich auf vier Punkte eingehen: Erstens. Fangen wir an mit dem Parlament. Mir hat das, was Herr Gauland gesagt hat, überhaupt nicht gefallen und das, was Herr Lindner gesagt hat, nur sehr begrenzt gefallen. ({2}) Herr Lindner, ob Justiz eingeschüchtert wird, das überlegen Sie sich noch mal. Gucken Sie sich Ihr Redemanuskript mal an. ({3}) Aber, ehrlich gesagt, wir sind hier im Parlament, und dazu gehört die Auseinandersetzung, dazu gehören erregte Zwischenrufe, wenn irgendwas gesagt wird. Denn das Parlament, meine Damen und Herren, ist der Ort, wo die politische Entscheidungsfindung stattfindet. Und deswegen ist es gut und richtig, dass wir heute diese Debatte führen. Deswegen ist es gut und richtig, dass es heute eine Regierungserklärung gibt. Auch wenn ich teilweise selbst daran beteiligt bin: Koalitionsausschüsse und auch Ministerpräsidentenkonferenzen sind keine Verfassungsorgane. Wir hier sind das Verfassungsorgan, meine Damen und Herren. ({4}) Vor dem Hintergrund ist hier der Ort, an dem wir die Debatte führen müssen, wie wir auch mit ethischen Fragen umgehen, wie wir mit der ethischen Frage umgehen, was zu lockern ist, wie wir mit der ethischen Frage umgehen, was wir denn als Gesellschaft ertragen können. Und deswegen, Herr Bundestagspräsident, ist es unser aller Aufgabe, dieses Parlament auch in der Krise, auch in der Pandemie am Laufen zu halten. Wir werden in den nächsten Wochen zeigen, dass wir vollumfänglich beraten, dass wir die Regierung kontrollieren, dass wir Ergänzungen und Verbesserungsvorschläge machen, wie Rolf Mützenich es gesagt hat, ({5}) und dass wir uns auch die Freiheit nehmen, zu kritisieren. Es ist richtig und wichtig gewesen, dass die Exekutive schnell gehandelt hat. Aber dies ist eine Republik der Legislative, und das nehmen wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion – ich glaube, auch alle anderen Fraktionen – sehr, sehr ernst, meine Damen und Herren. ({6}) Ein zweiter Punkt, der mir sehr wichtig ist: Freiheit. Das Thema ist gerade mehrfach angesprochen worden, und ich nehme es auch sehr ernst. Es geht um die Freiheit, überall dort hinzugehen, wo man hingehen möchte, die Freiheit, sich zu versammeln, und die Freiheit, natürlich ohne staatliche Interventionen sein Leben zu leben. Aber, meine Damen und Herren, wenn ich mir die Freiheit nehme, zu einer Versammlung zu gehen, wenn ich mir die Freiheit nehme, in ein Fußballstadion zu gehen, dann schränke ich die Freiheit von anderen ein. Denn ich treffe in der Pandemie nicht nur eine Entscheidung für mich, ({7}) sondern ich treffe auch eine Entscheidung für die Schwächeren, die sich nicht wehren können, die diese Freiheit nicht haben. Das ist der COPD-Kranke, der zu Hause liegt, das ist der ältere Mensch, der nicht besucht werden kann, und das sind viele andere, die Einschränkungen hinnehmen müssen. Deswegen ist es mir viel zu eindimensional, immer das große Lied der individuellen Freiheit zu singen, Herr Lindner. Wir müssen uns vielmehr auch mal mit den Menschen beschäftigen, die diese Freiheit in der Pandemie nicht haben. ({8}) Wir müssen sehr aufpassen, dass wir durch unsere eigenen Freiheitsrechte nicht andere Menschen in ihrer Freiheit einschränken. Das gehört auch zur Wahrheit dazu. Dritter Punkt: Wirtschaft. Ja, wir müssen eine Menge tun. Was mich nur befremdet, ist, dass wir nahezu im Stundentakt neue Vorschläge kriegen, die alle auch ihre individuelle Begründung haben, die alle irgendwo auch getriggert sind durch Briefe, durch Mails, die wir kriegen, wem man jetzt noch irgendwo helfen muss. Wenn man, wie wir, in den Wahlkreisen unterwegs ist und die individuelle Not sieht – ob es Reisebüros, Busunternehmer, Gastronomie oder auch andere Betriebe sind –, wenn man sieht, dass Menschen in Kurzarbeit sind und nicht mehr genug zum Leben haben, dann nehmen wir das sehr ernst. Aber wir müssen eine Sache vielleicht auch mal beachten: All das, was wir beschließen – übrigens auch das, was wir gestern Abend beschlossen haben –, kostet Geld – viel Geld –, das von irgendjemandem mal wieder zurückgezahlt werden muss. Wir müssen in dieser Zeit wirklich aufpassen – bei all dem Guten, was wir momentan machen und übrigens auch machen müssen und uns bis jetzt auch noch leisten können –, dass wir bei der ganzen Sache nicht Maß und Mitte verlieren und nicht im Wochentakt nachlegen. ({9}) Das ist eine Sache, bei der ich durchaus auch einige Mitglieder der Bundesregierung angucke, die da meinen, uns über die Medien immer wieder treiben zu müssen und sagen zu müssen, was zu machen sei. Da gucke ich auch den einen oder anderen Ministerpräsidenten an. Ich kann da nur eines sagen: Wir als Unionsfraktion verstehen uns als Hüter der fiskalischen Solidität, auch in Zeiten der Krise, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({10}) Jetzt möchte ich zu dem vierten Punkt kommen: das Thema Europa. Da bin ich – ich sage das mal sehr diplomatisch –, auch wenn ich in die eine oder andere ausländische Zeitung gucke, sehr irritiert. Wer meint, dass nur derjenige ein guter Europäer ist – im Übrigen gibt es einige hier in Wissenschaft und Politik, die dieses Lied auch singen –, der der Vergemeinschaftung von Schulden das Wort redet, der verschweigt eine Menge. Der verschweigt nämlich, dass wir hier in Deutschland – das möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich sagen, weil wir es auch gerne und aus gutem Grund tun – der größte Nettozahler in der Europäischen Union sind, der größte Garantie- und Kapitalgeber bei all den Rettungspaketen sind, dass wir mehr von der Last der Migration und der Flucht, der legalen und illegalen Migration, übernehmen als jedes andere europäische Land. ({11}) Darüber, dass wir in Deutschland in der Krise das Kostbarste, was es momentan überhaupt gibt, anderen Ländern zur Verfügung gestellt haben, nämlich Intensivbetten, wird nicht geredet – das tun wir gerne, weil wir in der europäischen Solidarität sind –, auch nicht darüber, dass wir Deutsche, in Gestalt von Angela Merkel und Olaf Scholz, ein Vier-Säulen-Paket auf den Weg gebracht haben, mit dem wir über den ESM, über die Europäische Investitionsbank, über den Artikel 122 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, über europäische Haushaltsmittel ein Hilfspaket, das sich wirklich sehen lassen kann, für andere europäische Länder auf den Weg bringen, denen es nicht so gut geht, die mit der Krise noch nicht so gut fertigwerden. Da geht es um mehrere Hundert Milliarden Euro; das hätten wir uns alle vor einigen Wochen nicht vorstellen können. Und in dieser Situation stellt man in Zweifel, dass wir solidarische Europäer sind. Ich würde mir wünschen, dass der eine oder andere – auch in anderen Ländern in Europa –, der immer mit großen Worten das Hohelied von Europa singt, so solidarisch ist, wie wir es hier in Deutschland sind, meine Damen und Herren. ({12}) Ich sage ganz deutlich: Wir stehen dazu, dass wir unseren europäischen Partnern helfen. Wir stehen im Übrigen auch dazu – Gerd Müller sitzt gerade nicht hier –, dass wir auch denjenigen helfen, die noch schwächer sind und die noch mehr Probleme haben. Die Pandemie wird Afrika wahrscheinlich stärker treffen als uns in Europa. Wir stehen dazu, zu helfen. Das meinen wir aufrichtig und ernst; denn wir können uns Europa nur so vorstellen, dass wir solidarisch sind und dass wir in der Krise zusammenhalten. Es muss allerdings auch erlaubt sein, das eine oder andere zu hinterfragen. Meine Damen und Herren, wir handeln. Von anderen hört man oftmals nur Lippenbekenntnisse. Wir werden – die Bundeskanzlerin hat darauf hingewiesen – mit der Pandemie nicht schnell fertigwerden. Wir werden unser normales Leben wahrscheinlich erst wieder zurückbekommen, wenn es einen Impfstoff gibt. Das muss man den Menschen offen und ehrlich sagen. Wir sollten keine falschen Hoffnungen wecken. Wir haben in den letzten Wochen und Monaten gezeigt, dass wir vernünftig mit dieser Krise umgehen können. Ich habe hier vor vier Wochen gesagt, dass wir in diesem Land zusammenhalten und dass wir eine große Gemeinsamkeit entwickelt haben. Unsere Wirtschaft ist sehr stark, und wir haben gute Maßnahmen auf den Weg gebracht, um unsere Wirtschaft zu stützen. Deswegen bin ich immer noch sehr zuversichtlich, dass wir sehr gut, geschlossen und gemeinsam aus dieser Krise herauskommen werden. Bei aller parlamentarischen Diskussion, die wir führen, und bei aller Kritik, die geäußert wird: Es ist unsere Aufgabe, diesem Land die Zuversicht zu geben, dass wir gut aus dieser Krise herauskommen. Ich glaube, diese Zuversicht können wir diesem Land mit gutem Gewissen geben; denn wir wissen, was zu tun ist. Wir gehen mit dieser Krise verantwortungsvoll um. Vielleicht gehen wir manchmal einen Schritt zu weit, vielleicht gehen wir manchmal einen Schritt in die andere Richtung, aber wir sind immer bereit, die Schritte zu korrigieren und Veränderungen vorzunehmen. Diesen Weg werden wir weitergehen. Und wie gesagt: Ich bin überzeugt, dass der Deutsche Bundestag der richtige Ort ist, um das der Öffentlichkeit klarzumachen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({13})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Vorsitzende der Fraktion Die Linke, Dr. Dietmar Bartsch. ({0})

Dr. Dietmar Bartsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003034, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin, Sie haben von einer außerordentlichen, von einer ernsten Situation gesprochen, von der größten Bewährungsprobe, vor der unser Land steht. Dafür, dass die Krisenbewältigung in Deutschland weitgehend passabel läuft – das ist natürlich dem großen Verständnis in weiten Teilen der Bevölkerung zu verdanken –, haben Sie vielen gedankt. Ich will mich dem Dank, auch im Namen meiner Fraktion, ausdrücklich anschließen. ({0}) Ja, der Begriff „Solidarität“ hat in diesem Land wieder einen anderen Klang. ({1}) Ja, es geht zuallererst um Krisenbewältigung und nicht zuallererst um Parteipolitik. Deshalb will ich klar sagen: Ich sehe es als Frechheit an, wenn die Union in dieser Situation versucht, die Grundrente zu versenken. ({2}) Sie haben schon die Ursprungsidee von Herrn Heil über die Monate immer mehr verwässert. Ich sage Ihnen: Es ist ganz einfach schäbig, den Kassiererinnen, Pflegekräften und Logistikerinnen zu applaudieren und dann gegen die Grundrente zu sein. ({3}) Was glauben Sie denn, wer die Grundrente bekommt? Es sind genau die Menschen, die dieses Land jetzt am Laufen halten. Es sind Krokodilstränen, die Sie vergießen. Viele der Altenpflegerinnen und der Paketboten sind diejenigen, die später auf eine Grundrente angewiesen sein werden. Deshalb ist es unfassbar, was Sie machen, und nicht zu akzeptieren. ({4}) Sie begründen das Ganze mit Geld, was in dieser Situation schon etwas Besonderes ist. In diesem Zusammenhang muss ich sofort an die Pläne der Verteidigungsministerin erinnern. ({5}) Sie wollen 45 neue Kampfbomber, teilweise atomwaffenfähig, anschaffen. Das ist unverantwortlich. Der Verteidigungshaushalt steigt und steigt. Kurz vor der Pandemie haben Sie ihn um 6,4 Milliarden Euro erhöht, und jetzt wollen Sie der Kassiererin die Rente kürzen? Das ist inakzeptabel! ({6}) Uns bedroht keine fremde Armee, uns bedroht ein Virus. Deswegen brauchen wir jetzt einen der Coronakrise entsprechenden Verteidigungsetat. ({7}) Ich hätte mir gewünscht, dass Sie Initiativen für weltweite Abrüstung ergreifen. Wenn viel mehr Geld ins Gesundheitswesen geflossen wäre und nicht in Aufrüstung, dann hätten wir heute eine ganz andere Situation, eben eine viel bessere, meine Damen und Herren. ({8}) Wir brauchen einen anderen Umgang mit börsennotierten Unternehmen. Wenn Konzerne weiter Dividenden ausschütten, um Eigentümer noch reicher zu machen, wenn Boni an Manager ausgeschüttet werden und Milliarden eingesetzt werden, um Aktien zurückzukaufen, dann darf es keine Staatshilfen mehr geben. Im Übrigen ist es auch unternehmerisch eine Bankrotterklärung, in so einer Krise Geld aus Unternehmen abzuziehen, bei denen man überhaupt nicht weiß, wohin die Reise geht. Das ist unternehmerisch völliger Unsinn. ({9}) Deswegen braucht es die klare Entscheidung der Bundesregierung: Wer heute Boni zahlt, der bekommt zukünftig keine Staatsunterstützung mehr. ({10}) Ich will eine Kleinigkeit erwähnen. Ich freue mich, dass alle Fraktionen des Hauses die Initiative der Linken mittragen, die Erhöhung der Diäten auszusetzen. Das ist ein symbolischer, aber wichtiger Akt. Herzlichen Dank dafür. Aber ich will in diesem Zusammenhang auch daran erinnern, dass es Kabinette gibt, die sehr wohl auch über einen entsprechenden Verzicht nachdenken. Diese Beispiele könnten auch für Sie interessant sein. Am Anfang gab es viel gemeinsames Agieren, jetzt wird es zunehmend ein Kommunikationswirrwarr. Frau Merkel, Sie haben das völlig zu Recht kritisiert. Es droht ein Chaos, das am Ende auch die Akzeptanz für die Maßnahmen massiv reduzieren könnte. Ihre Krisenpolitik steuert immer mehr auf einen Flickenteppich zu. Sie haben gesagt, manches wirke „zu forsch“. Ich teile das. Es ist im Übrigen außerordentlich problematisch, wenn die Coronakrise mit der Kür des CDU-Kanzlerkandidaten zusammenfällt. Herr Söder und Herr Laschet sind leider schon ein Stück weit verhaltensauffällig. Denen müssen Sie Ihre Kritik als Allererstes sagen. ({11}) Frau Bundeskanzlerin, es geht um das Leben und die Existenz von Menschen und nicht um die Karrieren in der Union. ({12}) Meine Damen und Herren, die ergriffenen Maßnahmen gehen mit härtesten Einschnitten bei den Grund- und Freiheitsrechten einher. Sie haben von einer „demokratischen Zumutung“ gesprochen. Das muss immer wieder laut ausgesprochen werden; denn es darf keine Gewohnheit werden, dass es zu Einschränkungen von Grund- und Freiheitsrechten kommt. Harte Einschränkungen müssen immer wieder diskutiert werden, und sie müssen auch immer wieder begründet werden, Frau Bundeskanzlerin. Das ist Normalität und keine Orgie; da hat Herr Brinkhaus im Übrigen sehr recht. ({13}) Die getroffenen Maßnahmen müssen enden, und zwar so spät wie unbedingt notwendig, aber so schnell wie irgend möglich. Es ist dringend angebracht, immer wieder darüber zu diskutieren, gerade weil es so gewaltige Einschränkungen sind. Es ist gut, dass wir heute darüber intensiv gesprochen haben. Ich will kurz rekapitulieren, wie es überhaupt zu der Notwendigkeit dieser härtesten Einschnitte kam. Es gab viel zu wenige Vorbereitungen. Warum wurden Anfang Januar keine Masken bestellt und die Lager aufgefüllt? ({14}) Warum gab es überhaupt keine Beschränkungen für Reisen aus früheren Risikogebieten nach Deutschland? Warum gab es keine verbindlichen Tests für Einreisende aus diesen Gebieten? Im Januar hätten die Alarmglocken schrillen müssen, meine Damen und Herren. Es gab doch den Pandemieplan des Robert-Koch-Instituts von 2012 – da ist doch alles wunderbar beschrieben –, aber den haben Sie voll und ganz ignoriert. ({15}) Eines zeigt diese Krise ganz deutlich: Die Privatisierung und Kommerzialisierung des Gesundheitswesens war ein Fehler. ({16}) Sie ist mitverantwortlich für diese Situation. Jetzt schaffen Sie die Krankenhauskapazitäten, die Sie jahrelang wegrationalisiert haben. Und Sie sehen jetzt doch hoffentlich auch, dass die Fallpauschalen der Wahnsinn sind. Man sieht es doch in dieser Situation. Ich möchte den Präsidenten der Bundesärztekammer, Herrn Reinhardt, zitieren. Er sagt: Kliniken sind Einrichtungen der Daseinsfürsorge und keine Industriebetriebe. Krankenhäuser müssen den Patienten dienen, nicht dem Profit. Das muss sich ins kollektive Gedächtnis einbrennen. – Ja, meine Damen und Herren, das müssen wir ins kollektive Gedächtnis einbrennen. ({17}) Ich möchte auf die besondere Situation von Kindern hinweisen. Millionen Kinder sollen noch wochen-, monatelang zu Hause bleiben. Das kann untragbare soziale und psychische Kollateralschäden bedeuten. Kinder, Frauen und Familien drohen die Verlierer der Pandemie zu werden. Es ist doch absurd, wenn großen Kaufhäusern teilweise erlaubt wird, wieder zu öffnen, und Kindern wird verboten, sich auf eine Schaukel zu setzen. Da ist doch etwas schief. Die Situation der Alleinerziehenden ist besonders dramatisch. 1,8 Millionen berufstätige Alleinerziehende, fast alles Frauen, werden im Stich gelassen, wenn es nicht bald Betreuungslösungen für ihre Kinder gibt. Eltern sind eben keine Erzieherinnen und Erzieher und auch keine Lehrer und auch keine Therapeuten. Es muss dringend Kompensation geben. Sie können nicht für junge Familien alles zusperren und sie im Regen stehen lassen. Deswegen ist ein Coronaelterngeld, wie Linke und Grüne es fordern, eine sinnvolle Idee. Bitte denken Sie darüber nach. ({18}) Ich will noch einmal daran erinnern, dass die Kitaempfehlung auf der Leopoldina-Studie basiert, und in diesem Zusammenhang Folgendes festhalten: In der Arbeitsgruppe zu dieser Studie, die mehr Meinung als Wissenschaft ist, waren insgesamt mehr Männer mit dem Namen Jürgen als Frauen. ({19}) Das erklärt vielleicht die Ignoranz gegenüber Kindern und ihrer Betreuung, meine Damen und Herren. ({20}) Wir brauen dringend einen Fahrplan – Frau Giffey hat gestern darüber gesprochen –, weil die Familien, weil die Alleinerziehenden Licht am Ende des Tunnels sehen müssen; eigentlich müsste man es schon lange sehen. Wir alle erleben in dieser Zeit eine unglaubliche Solidarität und auch ein großes Verantwortungsbewusstsein in unserem Land. Viele Menschen ziehen mit; das kann man gar nicht anders sagen. Aber ich sage auch: Sonnen Sie sich nicht in Ihren hohen Zustimmungswerten. Die Menschen erwarten weiter Antworten: Wann gibt es in jedem Altenheim ausreichend Masken? Wann gibt es flächendeckend Tests, auch auf Antikörper? Hier muss wirklich mehr passieren. Ja, Frau Bundeskanzlerin, Sie haben recht; diese Krise darf die Gesellschaft nicht zerreißen. Es besteht aktuell die Gefahr, dass wir viel schlechter rausgehen, als wir reingingen. Aber ich sage ganz deutlich: Es ist auch eine Chance. Es ist eine Chance auf einen neuen, auf einen anderen Zusammenhalt in unserer Gesellschaft. Wir als Linke werden uns aktiv dafür engagieren. Herzlichen Dank. ({21})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Dr. Anton Hofreiter. ({0})

Dr. Anton Hofreiter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003772, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin! Wir sind epidemiologisch weiter in einer sehr, sehr fragilen Lage. In der Lombardei, im Elsass, in New York konnte man sehen, welche schrecklichen Auswirkungen diese Pandemie haben kann. Im Vergleich dazu sind wir in Deutschland bisher sehr glimpflich davongekommen. Dafür muss man sich bei all den Menschen bedanken, die sich an die Regeln gehalten haben, bei all den Menschen, die eine wahnsinnig wertvolle Arbeit in den Gesundheitssystemen leisten, allerdings auch bei allen Kassiererinnen und Kassierern, bei all denjenigen, die unser Leben am Laufen halten. Vielen Dank! ({0}) Trotz der Tatsache, dass wir bisher so glimpflich davongekommen sind, war und bleibt es einfach richtig, mit Vorsicht und mit Besonnenheit vorzugehen. Ja, eine Debatte ist nötig, und eine Debatte ist möglich. Es bestreitet auch niemand, dass die Debatte geführt wird; aber man muss sich die Argumente anschauen. Warum gibt es eine Begrenzung, zum Beispiel bei den Geschäften? Weil man aus Infektionsschutzgründen nicht will, dass die Innenstädte wieder komplett voll sind mit Menschen, weil dann die Abstände automatisch nicht mehr eingehalten werden können. ({1}) Das ist die Begründung dafür, dass man nur einen Teil der Geschäfte aufmacht. Diese Begründung sollte Ihnen von der FDP auch zugänglich sein. ({2}) Wissen Sie, man sollte schlichtweg aufhören, die eigene Freiheit zu verwechseln mit dem Recht des Stärkeren. Das ist nämlich eine vulgäre Form von Freiheit. ({3}) Deshalb ist es ganz entscheidend, dass wir intensiv debattieren, aber bei Entscheidungen vorsichtig vorgehen, nicht zu schnell und nicht unüberlegt handeln. Sonst gefährden wir nämlich alles, was wir bis jetzt erreicht haben; sonst laufen wir Gefahr, dass das Gesundheitssystem überfordert wird. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die wirtschaftlichen Kosten sind hoch, die Fließbänder stehen still, die Geschäfte sind geschlossen, Kultureinrichtungen sind zu, soziale Einrichtungen sind zu, Künstlerinnen und Künstler können nicht mehr auftreten, wirtschaftliche Existenzen sind gefährdet, Arbeitsplätze sind bedroht. Aber bei alledem dürfen wir auch keinen Moment vergessen, dass nicht nur die wirtschaftlichen Kosten hoch sind, sondern auch die sozialen Kosten bedrückend sind. Kinder drohen den Anschluss zu verlieren, weil sie nicht mehr in die Schule gehen können, Familien sind am Limit, Menschen drohen in Armut zu landen. Über all das müssen wir debattieren. Deshalb müssen bei vorsichtigen, verantwortungsvollen Schritten in Richtung Öffnung die soziale Frage und die wirtschaftliche Frage auf Augenhöhe behandelt werden. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach allem, was wir wissenschaftlich begründet wissen, werden wir mit diesem Virus leben müssen, bis wir einen wirksamen Impfstoff haben. Deshalb ist in dieser Zeit eine der wichtigsten Fragen: Wie gelingt es uns, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, die Ausbreitung des Virus zielgerichteter einzudämmen? Dabei geht es – Sie haben das gesagt, Frau Bundeskanzlerin – ums Testen, Testen, Testen, nochmals Testen. Es geht um die Nachverfolgung der Infektionsketten durch die Gesundheitsämter. Es geht darum, eine App zu haben, die dabei hilft. Es geht um ausreichend Schutzausrüstungen, und es geht um Masken. Nichts davon – das muss man ehrlicherweise sagen – ist neu. Das wissen wir seit vielen Wochen. Ich habe aber leider den Eindruck, dass in Ihrer Bundesregierung nicht in allen Ministerien diese Aufgaben mit dem Einsatz, mit der Entschiedenheit und mit der Tatkraft verfolgt werden, wie das angebracht wäre. ({5}) Noch vor zwei Wochen hat uns das Wirtschaftsministerium geantwortet, dass die Koordinierung der Wirtschaft in der Pandemie in dem Ministerium keine Priorität hat. Es ist schön, dass Herr Altmaier anscheinend jetzt seine Meinung geändert hat. Aber es ist wertvolle Zeit verstrichen. Und auch bei der App hört man nichts Gutes. Deshalb erwarte ich von Ihnen, dass Sie diese Aufgaben als nationale, als europäische Kraftanstrengung betrachten und dementsprechend handeln. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in der letzten Sitzungswoche in großer Gemeinsamkeit einen ganz umfassenden wirtschaftlichen und sozialen Rettungsschirm aufgespannt. Vieles davon hat sich bewährt, manches korrigieren wir, und manches fehlt noch. Die Erhöhung des Kurzarbeitergeldes finde ich – das sage ich ausdrücklich – richtig. Aber dass Sie weiterhin ausgerechnet den Ärmsten der Armen eine zumindest temporäre Erhöhung des Arbeitslosengeldes II verweigern, das finde ich, ehrlich gesagt, unverantwortlich. ({7}) Dass Sie sich des Weiteren weigern, ein Coronaelterngeld einzuführen, finde ich angesichts des Drucks, unter dem alle Familien und insbesondere die Alleinerziehenden stehen, unverantwortlich. ({8}) Wissen Sie, wenn wir als Grüne – in meinen Augen völlig zu Recht – dafür streiten, dass die Lufthansa gerettet wird, erwarte ich, ehrlich gesagt, dass auch die Union dafür streitet, dass wenigstens temporär die Ärmsten der Armen in unserer Gesellschaft angemessen unterstützt werden. ({9}) Wir erleben gerade einen wirklich historischen Einbruch unserer Wirtschaft. Er trifft Menschen, Unternehmen, Staaten weltweit. Für konjunkturelle Maßnahmen ist es angesichts der epidemiologischen Lage noch zu früh. Was jetzt aber klar sein muss, ist, dass es, wenn es möglich wird, ein großes Konjunkturpaket, ein großes Investitionspaket geben wird; denn die Unternehmen und die Beschäftigten brauchen Planungssicherheit, die brauchen Klarheit. Wenn wir schon den Zeitpunkt nicht festlegen können, dann muss man wenigstens deutlich machen: Es wird ein großes und umfangreiches Paket geben. ({10}) Und was auch klar sein muss, ist, dass dieses Paket sich am Klimaschutz, am Green Deal orientieren muss. Die letzten Jahre waren die heißesten Jahre seit der Wetteraufzeichnung. Dieses Frühjahr ist bereits jetzt wieder deutlich zu trocken. Wir drohen in den dritten Dürresommer in Folge zu gehen. Deshalb: Wenn wir nicht wollen, dass das 21. Jahrhundert ein Zeitalter wird, in dem eine Krise die nächste überlagert, müssen wir aus dieser Krise lernen, dass man Krisen präventiv angeht. Das gilt insbesondere auch für die Klimakrise. ({11}) Und: Als Land im Herzen von Europa, als starkes Exportland, als starkes Industrieland, als Land, in dem die Autoindustrie eine unserer Leitindustrien ist, die auf funktionierende Lieferketten angewiesen ist, brauchen wir den Zusammenhalt innerhalb der Europäischen Union. Ich kann ja noch verstehen, dass man am Anfang der Krise, als man unsicher war, wie man damit umgeht, mit nationalstaatlichen Reflexen wie der temporären Exportbeschränkung für Medizingüter, die in Italien einen schweren Schaden psychologischer Natur angerichtet hat, reagiert hat. Wofür ich allerdings wenig Verständnis habe, ist, dass man jetzt, nach Wochen, immer noch keine vernünftigen eigenen Vorschläge präsentiert, wie man Europa finanziell und wirtschaftlich zusammenhält. ({12}) Dann wird immer wieder argumentiert, man müsste die Verträge ändern. Frau Merkel, das ist ein rechtlich tricky Argument. Sie wissen doch selber ganz genau, dass es den Artikel 122 AEUV gibt und dass es schon 1975 gemeinsame Anleihen gab. Und deshalb: Hören Sie auf, einen vernünftigen Recovery Fund mit einem entsprechend vernünftigen Wiederaufbaufonds und mit entsprechendem Volumen zu blockieren! Das ist das, was wir dringend brauchen, um die Europäische Union zusammenzuhalten, und zwar in unserem ureigensten Interesse. ({13}) Allein VW bezieht circa 20 000 unterschiedliche Teiletypen aus Norditalien. Deshalb ist es unser ureigenstes Interesse, dass die Europäische Union zusammengehalten wird. Deshalb verschanzen Sie sich nicht hinter fadenscheinigen rechtlichen Argumenten, sondern sorgen Sie dafür, dass das getan wird, was notwendig ist. Und das ist ein starker Wiederaufbaufonds mit den nötigen Garantien; denn in Europa liegt unsere Zukunft, und dafür müssen wir es jetzt erhalten und gestärkt durch diese Krise führen. ({14})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Achim Post, SPD. ({0})

Achim Post (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004378, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich fange am Tag der heutigen Bundestagsdebatte und am Tag des heutigen EU-Gipfels mal mit einer Sache an, von der ich glaube, dass die meisten von uns hier übereinstimmen: Ich finde, wir haben alle Grund zu Selbstbewusstsein; denn das, was wir in den letzten sechs Wochen hingekriegt haben in der Bundesregierung und im Deutschen Bundestag, auch in den Ländern – die Hilfspakete, die wir geschnürt und verabschiedet haben –, ist nicht nur beispiellos, sondern kann sich auch sehen lassen, und noch wichtiger, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist: Sie fangen an zu wirken. Das ist doch das Wichtigste heutzutage. ({0}) Zum Zweiten sage ich mit allem parlamentarischen Selbstbewusstsein – daran mangelt es mir wirklich nicht –: Ich finde, dass sich das, was der Bundesfinanzminister in den letzten sechs Wochen gemacht hat, nämlich die Bündelung und die Organisierung aller finanziellen Fähigkeiten und Möglichkeiten, um daraus praktische Politik zu machen für Unternehmen und Beschäftigte, für Große und Kleine, für nationale und europäische Maßnahmen, sehen lassen kann. Dafür bedanke ich mich in aller Form: Herzlichen Dank, Olaf Scholz. ({1}) – Diese Ostwestfalen von der CDU/CSU mit ihren Zwischenrufen! Jetzt kommen wir zu den Dingen, bei denen man nachlegen muss, man etwas machen muss, man mehr machen muss und nicht nur nachsteuern, nicht nur nachbessern darf. Es wurde gerade von Toni Hofreiter angesprochen. Natürlich müssen wir jetzt überlegen, wie ein ordentliches, umfassendes, nachhaltiges Konjunktur- und Investitionsprogramm aussehen muss. Es ist doch klar, dass wir das müssen. Und wir müssen noch was machen: Wir müssen jetzt nicht nur über Deutschland und über Europa reden – darauf komme ich gleich –, sondern auch über unsere Kommunen, denen die Einnahmen wegbrechen, die besonders leiden, die schon vorher häufig nicht auf Rosen gebettet waren. Für sie brauchen wir jetzt einen Schutzschirm, für sie brauchen wir eine Altschuldenregelung und eine Möglichkeit, zu investieren. Und deshalb, liebe Herren Ministerpräsidenten aus Düsseldorf und München: Hier würde ich mir einen Wettlauf, einen Wettbewerb wünschen, wer am meisten für die Kommunen in Nordrhein-Westfalen, in Bayern und in ganz Deutschland tut, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Jetzt zu Europa, zu dem Gipfel von heute. Ich finde, der Start Europas, auch der Start der Nationalstaaten im europäischen Verbund war schlecht, holprig, zum Teil miserabel. Es ist besser geworden, deutlich besser geworden, vor allen Dingen durch eine Sache: das 500-Milliarden-Programm, das geschnürt wurde. Das ist kein Pappenstiel, sondern die Grundlage dafür, schnell, unbürokratisch und rasch zu helfen. Denn eines ist doch uns allen klar: Unsere Partner, unsere Freunde in Italien, in Spanien, in Frankreich und in anderen Ländern, die besonders betroffen sind, können nicht lange warten. Sie können schon gar nicht warten auf ideologische Grundsatzdebatten. Sie können schon gar nicht warten und wollen auch nicht warten auf Belehrungen und auf Besserwisserei. Sie wollen überhaupt nicht warten auf neue Spardiktate, die schon vor zehn Jahren nicht funktioniert haben, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Was sie stattdessen brauchen, ist ein solidarisches Wiederaufbauprogramm. Frau Bundeskanzlerin, heute müssen die Grundlagen dafür gelegt werden, dass wir ordentlich was auf den Weg bringen und die Möglichkeiten schaffen, zusammen mit Anleihen, gemeinsamen Anleihen, wie sie das Europäische Parlament vorgeschlagen hat, zielgerichtet zu helfen. Ich glaube und ich weiß, dass das möglich ist, auch ohne Vertragsänderungen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({4}) Zusammengefasst will ich mal sagen: Ich finde, dass wir stolz sein können auf das, was geleistet wurde. Ich finde, dass wir noch viel vor uns haben. Die Kommunen waren nur ein Beispiel, es gibt noch viele andere Punkte. Und ich finde, dass Deutschland seiner Rolle in Europa gerecht werden muss; denn wir sind das größte Land, wir sind die stärkste Volkswirtschaft. Im Übrigen hat das, was wir tun, was wir tun müssen, eine Menge mit Solidarität und eine Menge mit Gemeinschaft zu tun, aber vor allen Dingen auch mit Eigeninteresse, mit unseren Absatzmärkten in Europa, mit Lieferketten und mit Waren, die wir nur in Europa verkaufen können. Deshalb: Deutschland kommt nur dann nachhaltig wieder auf die Beine, wenn auch unsere Freunde und Partner in Europa wieder auf die Beine kommen. ({5}) Ich will Ihnen hier zum Schluss sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Ich habe Vertrauen in einen handlungsfähigen Staat. Meine Fraktion hat Vertrauen in einen handlungsfähigen Staat. Wir haben gemeinsam Vertrauen in unsere Demokratie, in dieses Parlament und auch in ein funktionierendes solidarisches Europa. Schönen Dank. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt wird das Rednerpult vorbereitet für den nächsten Redner. Das ist der Kollege Sebastian Münzenmaier, AfD. ({0})

Sebastian Münzenmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004836, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Nach all den Beschwichtigungen, Beschönigungen, die Sie, Frau Bundeskanzlerin, hier vorgetragen haben, ist es, glaube ich, ganz wichtig, dass wir uns alle noch mal folgende Fakten in Erinnerung rufen: Erstens. Der absolute Shutdown dieses Landes war vermeidbar. ({0}) Zweitens. Sie als Bundesregierung tragen aufgrund Ihres anfänglichen Zögerns und Versagens die Verantwortung für die extrem harten Einschnitte in unsere Grundrechte und in unser Wirtschaftsleben. ({1}) Und andere Staaten wie Südkorea oder Taiwan haben früh gezeigt, wie man durch schnelles Handeln und intelligente Lösungen ein vollkommenes Herunterfahren eines Landes vermeiden kann. Das Handeln dieser Regierung in der Frühphase der Pandemie ist stattdessen eine einzige Chronik des Versagens. ({2}) Als die ersten Nachrichten aus China zu einem neuartigen Virus eintrafen, tat diese Regierung nix. Als Wuhan abgeriegelt wurde, taten Sie nix. Als unsere Fraktion hier im Deutschen Bundestag am 12. Februar mit einem Antrag die Bekämpfung der Seuchenausbreitung in Deutschland mit konkreten Maßnahmen forderte, lachten Sie alle uns aus und taten stattdessen nix. ({3}) Selbst als der Iran seit Wochen als Risikogebiet für das Coronavirus eingestuft war, landeten am Frankfurter Flughafen die Maschinen aus Teheran ohne Probleme, ohne Tests, ohne Quarantänemaßnahmen oder ohne Einreisesperren. Der Gesundheitsminister Jens Spahn verkündete vollmundig, dass Deutschland gut vorbereitet sei. Lieber Herr Spahn, es gab in der Folge Engpässe bei Desinfektionsmitteln. Arztpraxen und Krankenhäuser litten unter enormem Mangel an Schutzmasken. ({4}) Die Testkapazitäten reichten bei Weitem nicht aus. Ihre Materialbeschaffungsanstrengungen, die dann hektisch und vor allem viel zu spät starteten, waren geprägt von Pleiten, Pech und Pannen. Ich erinnere mich zum Beispiel an das plötzliche Verschwinden von Millionen von medizinischen Atemschutzmasken an irgendwelchen Flughäfen in Kenia. Wenn das Ihre gute Vorbereitung war, Herr Spahn, dann sind Sie für den Job nicht geeignet. ({5}) Wenn der Deutsche Bundestag Ihnen ein Arbeitszeugnis ausstellen dürfte, dann wäre „Stets bemüht“ noch das Beste, was da drinstehen könnte. ({6}) Dank Ihrer anfänglichen Untätigkeit und dem dann verhängten Shutdown ist das Coronavirus mittlerweile zu einer Gefahr für unsere Wirtschaft und für unsere Gesellschaft geworden, die unser Land in die größte Wirtschaftskrise stürzen wird, die wir je erlebt haben. ({7}) Sie haben den frühzeitigen Start von Maßnahmen verschlafen. Jetzt verschlafen Sie auch noch den dringend notwendigen Ausstieg aus dem Shutdown. Täglich melden sich verzweifelte Bürger, die uns und Sie vor allem anflehen, die Maßnahmen endlich zu lockern, damit sie versuchen können, ihre ehemals florierenden Geschäfte und Unternehmen zu retten. ({8}) Aber Sie haben hier in Ihrer Regierungserklärung ganz klargemacht, wo Ihre Prioritäten liegen. Sie haben viel von Europa gesprochen, von europäischer Solidarität im Bereich Klimaschutz und davon, dass Sie den ärmsten Ländern der Welt die Zinsen und die Tilgung von Schulden erlassen wollen. Wo waren Ihre Worte an die verzweifelten Unternehmer? Wo waren Ihre Worte an die Gastronomie, Frau Merkel? ({9}) Von den mehr als 220 000 gastronomischen Betrieben in Deutschland mit über 2,4 Millionen Beschäftigten ist jeder dritte Betrieb von Insolvenz bedroht. Was machen Sie bei der Verkündung Ihrer Lockerungen? Sie bieten der Gastronomie und vielen anderen Branchen überhaupt keine Perspektive. Stattdessen haben Sie gestern Nacht beschlossen, dass Sie die Mehrwertsteuer auf Speisen endlich vereinheitlichen und auf 7 Prozent reduzieren. Reduzierte Steuern auf Speisen, die man nicht verkaufen kann! Also, diese Bundesregierung besteht aus Koryphäen, ich muss das so ehrlich sagen. Wahnsinn! ({10}) Insgesamt sind Ihre Lockerungen vollkommen unzureichend und geprägt von Sinnlosigkeit. Man darf sich nicht im Biergarten an der frischen Luft unter Wahrung der Abstands- und Hygieneregeln treffen, aber im überfüllten Baumarkt mit Hunderten anderer Menschen darf man sich tummeln. ({11}) Im großen Elektronikmarkt stecken Sie sich an, wenn er über 800 Quadratmeter groß ist, aber im kleinen Buchgeschäft auf gar keinen Fall: Das ist alles vollkommen willkürlich und aus der Luft gegriffen. Wir als AfD-Fraktion fordern deshalb ganz klar: Gestatten Sie jetzt allen Geschäften, unabhängig von der Quadratmeterzahl, und auch der Gastronomie und den anderen benachteiligten Branchen endlich die komplette Öffnung unter Wahrung der Abstands- und Hygieneregeln, meine Damen und Herren. ({12}) Geben Sie den vielen fleißigen Menschen in diesem Land endlich wieder eine Perspektive. Aber das Einzige, was Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, dazu einfällt: Sie wollen keine – ich zitiere – „Öffnungsdiskussionsorgien“. Werte Frau Bundeskanzlerin, wir alle wissen, dass Sie Ihre Weisheit und Ihre getroffenen Maßnahmen wahrscheinlich für alternativlos halten. Aber deshalb möchte ich Sie in diesem Hohen Haus daran erinnern: Sie sind nicht Ludwig XIV. Sie stehen auch nicht über dem Gesetz. Und auch Sie sind nur auf Zeit gewählt. Sie haben heute davon gesprochen – ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten –: „Diese Pandemie ist eine demokratische Zumutung ...“. Ich sage Ihnen: Die demokratische Zumutung ist nicht die Pandemie, sondern diese Bundesregierung, meine Damen und Herren. ({13}) Deswegen appelliere ich noch mal an Sie, Frau Merkel, und an die ganze Bundesregierung: ({14}) Stellen Sie endlich die verfassungsgemäße Ordnung in diesem Land wieder her, und geben Sie den Menschen Ihre Freiheit zurück. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({15})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort der Kollege Alexander Dobrindt, CDU/CSU. ({0})

Alexander Dobrindt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003516, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland meistert diese Krise viel besser als viele andere Länder in der Welt. Das ist beileibe keine Selbstverständlichkeit, sondern das hat vor allem mit der Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger zu tun, ihren Alltag umzustellen, Rücksicht aufeinander zu nehmen, Abstand zu halten, ja, auch zu verzichten, um sich und andere zu schützen. Sehr geehrter Herr Kollege Münzenmaier, ich muss schon sagen: Dass das Aufeinander-Rücksicht-Nehmen in unserem Land Gesundheit und Leben schützt, ist den Menschen in Deutschland sehr viel wert. Deswegen sind sie bereit, Einschnitte hinzunehmen. Dass diese Bereitschaft in der Gesellschaft deutlich größer ist, als Sie sie unterstellen, hilft Gott sei Dank dabei, dass wir gesund bleiben, meine Damen und Herren. ({0}) Dass wir diese Krise besser meistern können als viele andere Regionen, hat auch damit zu tun, dass wir in diesem Land vorgesorgt haben und dass wir in zentralen Bereichen gut aufgestellt sind. Wir haben beispielsweise in der Vergangenheit solide gehaushaltet und dafür gesorgt, dass wir finanzielle Möglichkeiten haben, um heute in der Krise investieren, Schutzprogramme auflegen und Schutzschirme aufspannen zu können. Meine Damen und Herren, vielleicht erinnern Sie sich an die eine oder andere Haushaltsdebatte der vergangenen Jahre. Da wurde nämlich immer von der linken Seite vom „Fetisch der schwarzen Null“ gesprochen, die man nicht einhalten dürfe, sondern dass man das Geld in der Zeit der niedrigen Zinsen ausgeben müsse. Man kann nur sagen: Gut, dass wir das in der Vergangenheit nicht getan haben, sondern das Geld zusammengehalten haben und nicht auf die gehört haben, die das Geld immer mit vollen Händen ausgeben und die Haushalte verschulden wollten. ({1}) All diejenigen Länder in Europa, die jetzt dringend auf unsere Hilfe angewiesen sind, sind Ihren linken Modellen gefolgt und können sich jetzt alleine nicht mehr retten, meine Damen und Herren. ({2}) Wer soll denn in Europa helfen, wenn alle den gleichen Irrweg gehen und die Verschuldung als politisches Modell anerkennen? Wir haben in diesem Deutschen Bundestag vor einigen Wochen 1,4 Billionen Euro für Rettungsschirme, Kredite und vieles andere mehr auf den Weg gebracht. Wir haben jetzt in Europa die Chance, die Bereitstellung von 500 Milliarden Euro über den ESM, über die EIB, auch über die Regelungen zum Kurzarbeitergeld – das geschieht über den Artikel 122 AEUV – für andere europäische Länder zu ermöglichen. Es ist auch richtig, dass wir diese Solidarität in Europa zeigen, um dafür zu sorgen, dass andere Länder auch die Chance haben, aus dieser Krise besser herauszukommen, als wenn sie alleine wären. Ja, es liegt auch in unserem Interesse, dass dies gemeinsam möglich ist. Aber wir müssen dafür sorgen, dass jetzt nicht die Krise als Argument genutzt wird, um alle Errungenschaften der Vergangenheit, des Zusammenhalts über Bord zu werfen. Wer heute leichtfertig die Krise nutzt, um einer allgemeinen Verschuldung in Europa das Wort zu reden, der gefährdet dieses europäische Projekt. ({3}) Deswegen, lieber Kollege Toni Hofreiter: Wenn Sie sagen, dass die EU mit Schulden zusammengehalten wird, dann irren Sie grundsätzlich. Gemeinsame Schulden einen nicht, sie trennen uns in Europa. Deswegen müssen wir verhindern, dass es Euro-Bonds gibt, meine Damen und Herren. ({4}) Wir haben gestern in dieser Koalition weitreichende Entscheidungen getroffen. Ich bin der Frau Bundeskanzlerin, dem Bundesfinanzminister und dem Bundesinnenminister ausgesprochen dankbar, dass es möglich war, diese Entscheidungen zu treffen, die stärkere Hilfen für den Mittelstand, die stärkere Hilfen für die Arbeitnehmer und auch eine Starthilfe für die Gastronomie beinhalten. Wenn man den Reden zugehört hat, weiß man nicht, ob das jeder hier verstanden hat. Wir schaffen für mittelständische Unternehmen die Möglichkeit, dass man Gewinne aus der Vergangenheit in die Zukunft mitnimmt und Verluste, die jetzt gemacht werden, im weitesten Sinne miteinander verrechnet. Wir schaffen bei der Kurzarbeit Regelungen, dass die, die länger in der Kurzarbeit bleiben müssen, bessergestellt werden, um ihre Situation erträglicher zu gestalten. Wir als Gesellschaft brauchen zukünftig auch wieder Orte der Begegnung; Orte des Zusammenkommens; Orte, wo gesellschaftliches Leben wieder so stattfindet, wie wir es gewohnt waren. Dazu gehören Gaststätten und Restaurants, und deswegen muss man dafür sorgen, dass diese Gaststätten und Restaurants eine Überlebenschance haben, wenn sie wieder an den Start gehen, und Verluste, die sie in der Zeit des Lockdowns gemacht haben, ausgleichen können. Deswegen ist es so bedeutsam und so wichtig, dass wir die Mehrwertsteuer an dieser Stelle absenken, damit dann, wenn das gesellschaftliche Leben dort wieder stattfindet, die Chance auf dauerhaftes Überleben dieser Gastronomie besteht. ({5}) Wir haben – ein weiterer Punkt – Gott sei Dank starke Krankenhäuser und eine starke Gesundheitsversorgung in allen Regionen in Deutschland. Ich kann nur sagen: Gut, dass wir sie haben, insbesondere wenn man sich manche Debatten der Vergangenheit anschaut, wo sehr darüber diskutiert worden ist, wie viel Krankenversorgung man denn in der Fläche, in der Region braucht. Frau Bundeskanzlerin, Sie haben dankenswerterweise heute auch davon gesprochen, dass wir die Gesundheitsämter für die Zukunft stärken müssen. Das hat unsere volle Unterstützung. Es sind aber nicht nur die Gesundheitsämter, es sind auch unsere Krankenhäuser. Wir brauchen eine bestmögliche medizinische Versorgung nicht nur in den Ballungsräumen, in den Metropolen, sondern überall in Deutschland, in der breiten Fläche, auch auf dem Land, und das ist ebenfalls eine Lehre aus Corona: Wir müssen dafür sorgen, dass die Versorgung mit Intensivstationen, mit Intensivbetten und mit normaler medizinischer Spitzenbetreuung überall in Deutschland stärker möglich ist als in der Vergangenheit. ({6}) Ich will auch darauf hinweisen, dass wir neben dieser Phase, in der wir uns jetzt befinden, wo wir die wirtschaftlichen Folgen der Krise abfedern – Arbeitsplätze sichern, Insolvenzen verhindern, Einbußen auffangen –, auch darüber reden müssen: Was kommt nach dieser Zeit, in der Phase, die die einen diejenige des Aufbaus nennen und die ich die Phase der Innovation nenne? Wir brauchen natürlich ein Innovationspaket für Europa. Das will ich auch an der Stelle noch mal deutlich machen: Auch da, sehr geehrter Herr Kollege Hofreiter, geht es nicht darum, dass wir – wörtliches Zitat – „glimpflich“ aus dieser Krise herauskommen. Nicht glimpflich, sondern grunderneuert muss Europa aus dieser Krise herauskommen, um stärker zu sein für die Zukunft, mit Innovationen im Bereich der Digitalisierung, ({7}) der Robotik, der Medizin, der neuen Technologien. Das ist der Auftrag, wenn man stärker aus der Krise kommen will und nicht einfach nur glimpflich, meine Damen und Herren. ({8}) Dann geht es auch um die Souveränität in Europa, und auch darauf will ich hinweisen. Über die eine oder andere Abhängigkeit Deutschlands und Europas von der Welt konnte man sich in den vergangenen Wochen und Monaten in der Tat nur wundern. Ja, wir sind ein weltoffenes Land, und wir wollen den freien Handel. Aber Austausch mit anderen darf nicht zur einseitigen Abhängigkeit führen. Deswegen müssen wir über diese Frage – die eigene Handlungsfähigkeit in Europa – wieder stärker reden, eine europäische Souveränitätsoffensive starten. Ja, es ist notwendig, die Versorgung mit wichtigen Medizinprodukten, mit Medikamenten in Europa alleine sicherzustellen, ebenso die Versorgung mit Komponenten für kritische Schutzbekleidung. Ja, das muss in Europa sichergestellt werden. Das ist bei anderen Elementen auch dringend notwendig, und es ist, lieber Herr Wirtschaftsminister, in einer Phase, in der wir uns aus einer Krise wieder herausbewegen, mit unseren Unternehmen dafür zu sorgen, dass wir Produkte in Europa und Deutschland herstellen können, die eigene Versorgung sichern. Ferner ist dafür zu sorgen, dass diese Unternehmen, wenn sie in Schwierigkeiten geraten, jetzt nicht auf dem Ramschmarkt der Welt verscheuert werden, sondern dass die Unternehmen in Deutschland und Europa weiterhin eine Chance haben. Dafür zu sorgen, ist jetzt Aufgabe der Politik. Herzlichen Dank. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Bärbel Bas, SPD. ({0})

Bärbel Bas (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004006, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Deutschland liegt auf dem zweiten Platz beim Kampf gegen das Coronavirus, so jedenfalls das Ergebnis einer internationalen Vergleichsstudie, die am Wochenende bekannt wurde. Auch in internationalen Medien wird immer wieder anerkennend über unsere Maßnahmen berichtet, und dafür gibt es einige Gründe. Dazu zählen vor allem frühzeitige und weit verbreitete Tests und eine hohe Anzahl an Intensivbetten. ({0}) Als bei uns die ersten Fälle auftraten, konnten wir die Kontaktpersonen schnell testen und sie auch isolieren. Aber auch wir kamen irgendwann an einen Punkt, an dem die Infektionsketten nicht mehr nachvollziehbar waren, und das Virus begann sich schnell auszubreiten; diese schnelle Ausbreitung mussten wir stoppen. Unser Ziel ist es, das Gesundheitssystem funktionsfähig zu halten. Wir wollen, dass alle, die an Corona erkranken, so gut wie möglich versorgt werden können, und wir wollen natürlich ebenso, dass die, die einen Herzinfarkt erleiden, einen Schlaganfall, einen Unfall haben, auch noch einen Platz in den Krankenhäusern und auf den Intensivstationen bekommen. Unser Gesundheitssystem funktioniert hier bisher gut. Wenn gerade die Zahl der Neuinfektionen sinkt, dann ist das ein Erfolg, den wir auch den jetzt ergriffenen Maßnahmen zu verdanken haben. Dieser Erfolg – das spüren wir alle – ist mit großen Belastungen verbunden. Uns fehlt der Kontakt zu Freunden und Familie, und Familien müssen Arbeit und Kinderbetreuung in dafür oft viel zu kleinen Wohnungen unter einen Hut bringen. Unternehmen stellen die Arbeit ein, und viele Menschen verlieren ihre Arbeit oder fragen sich, ob sie in ein paar Wochen überhaupt noch einen Job haben. Wir alle wünschen uns – das kann ich, glaube ich, auch für alle hier im Haus sagen –, dass dieser Lockdown so schnell wie möglich beendet wird. Es ist auch richtig, dass wir darüber diskutieren, wie wir wieder zu einem halbwegs normalen Leben zurückkehren. Wir müssen aber genauso ehrlich auch die Frage beantworten und diskutieren, ab wann das denn möglich ist. Und, Herr Lindner, wir wissen „mehr“ – haben Sie gesagt. Das stimmt. Aber wir wissen noch lange nicht alles. Wir brauchen eine viel breitere Datenbasis, auf der wir eben genau solche Lockerungsentscheidungen treffen können, und wir müssen viel mehr testen als bisher. Wir müssen wissen, wo und wie Infektionsherde entstehen, und wir müssen einzelne Infektionen auch wieder nachverfolgen können. Das sind die entscheidenden Dinge, die wir neben einer viel breiteren Begleitforschung brauchen, um auch mehr über das Virus zu lernen. Warum das wichtig ist, will ich noch mal sagen; wir haben das vorhin auch schon angesprochen. Es geht um die Öffnung von Schulen und Kitas. Es gibt erste Studien, die darauf hinweisen, dass kleine Kinder Covid-19 vielleicht nicht übertragen. Das sind aber erst nur einzelne Hinweise; das ist noch nicht gesichert. Natürlich kann man anfangen, jetzt schon Schulen und Kitas wieder zu öffnen; aber dann müssen wir uns die Alternative angucken. Der Auffassung kann man ja sein, dass man dann die Risikogruppen und die älteren Menschen isoliert. Und jetzt gucke ich einmal in Richtung AfD, ({1}) weil das für mich keine Alternative ist: Sie wollen doch nicht beispielsweise Ihren Vorsitzenden, den Herrn Gauland, isolieren. ({2}) – Nein, das ist für mich keine Alternative. Deswegen sage ich das ganz deutlich. Aber wenn wir über breite Öffnung reden, dann müssen wir auch darüber reden, wie wir Risikogruppen und ältere Menschen schützen wollen; deshalb wollte ich das an diesem Beispiel deutlich machen. Wir dürfen das nicht zu schnell machen. Davor kann auch ich nur warnen. Es fehlen einfach Belege über diese Isolierungen und dafür, welche Risikogruppen wir am Ende haben. Und eines will ich auch noch erwähnen. Die Schutzschirme, die wir gespannt haben, haben noch Lücken. Das kann ich auch dem Herrn Brinkhaus nicht ganz ersparen: Ja, das kostet alles Geld. Aber wir haben zum Beispiel nach wie vor noch keine Hilfe für Studierende, die ihre Nebenjobs verloren haben, für Angehörige, die jetzt in die Pflege einsteigen müssen und Verdienstausfall haben. Wir haben gemeinnützige Unternehmen, die nicht unter den Schutzschirm fallen. Das müssen wir noch regeln; da können wir nicht sagen: Dafür haben wir jetzt kein Geld mehr. – Übrigens dürfen die Boni, die wir für Pflegekräfte versprochen haben, jetzt auch nicht am Finanzstreit scheitern. Das ist versprochen worden, und das muss für die Pflegekräfte auch kommen. ({3}) Deshalb sollten wir uns hier auch noch mal starkmachen und die weiteren Anstrengungen und Diskussionen nutzen, um genau diese Dinge noch zu unterstützen; denn für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist wichtig, dass wir nicht nur auf die Lauten hören, sondern dass wir eben auch genau an die soziale Struktur und an die vielen Menschen denken, die jetzt in dieser Krise noch keinen Schutzschirm gefunden haben, unter den wir sie stellen können. Dafür wollen wir als Sozialdemokraten weiter kämpfen, und wir würden uns sehr freuen, wenn Sie das unterstützen. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Eckhardt Rehberg, CDU/CSU. ({0})

Eckhardt Rehberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003826, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der aktuelle Schuldenstand des Bundes beträgt rund 1,2 Billionen Euro. Er ist in den letzten sieben Jahren nicht gewachsen. Wir haben einen Garantierahmen von über 1 Billion Euro auf den Weg gebracht, und wir haben 156 Milliarden Euro neue Schulden aufgenommen, wovon 100 Milliarden Euro getilgt werden müssen. So sieht es der Artikel 115 Grundgesetz vor. Das ist richtig gut angelegtes Geld für den Bereich Gesundheitsschutz, für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und für Unternehmer und Selbstständige. Was mich an dieser Debatte heute etwas irritiert hat: Außer vonseiten der Union hat niemand darauf hingewiesen, dass wir auch die finanzpolitische Solidität in der Zukunft im Blick behalten sollten. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich fand es sehr ehrlich, dass Jens Spahn gestern im Haushaltsausschuss darauf hingewiesen hat, dass die Rücklagen beim Gesundheitsfonds aufgebraucht sind. Ich würde mir diese Ehrlichkeit bei anderen Ministerinnen und Ministern auch wünschen. Es stellt sich doch die Frage: Wie lange reicht die Rücklage bei der Arbeitslosenversicherung, wie lange reichen die 26 Milliarden Euro? Wie lange reichen die 40 Milliarden Euro bei der Rente? Wie lange decken die Einnahmen bei der Pflege die Ausgaben? Gehen wir denn wirklich davon aus, dass wir in den nächsten Wochen, Monaten und Jahren genau die Einnahmesituation haben werden wie im Jahr 2019, wie vor Corona, oder ist hier auch ein bisschen Innehalten, ein bisschen Solidität durchaus angebracht, liebe Kolleginnen und Kollegen? Ich habe mittlerweile fünf Enkel, und ich habe hier an dieser Stelle immer gesagt: Ich bin stolz darauf, keine neuen Schulden zu machen. Ich sage an dieser Stelle aber auch: Ich möchte meinen Kindern und Enkeln nicht 1,5 Billionen oder 2 Billionen Euro Schulden vom Bund überlassen, auch mit Blick auf Europa. Europa lebt von der deutschen finanzpolitischen Solidität, davon, dass wir diese Garantien geben können und dass sich andere Staaten so günstig refinanzieren können, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Deswegen noch ein Wort zu Europa. Kollege Hofreiter, der Artikel 125 AEUV ist einschlägig, nicht der Artikel 122 Absatz 2. Und was für mich als Abgeordneter hier im Deutschen Bundestag noch einschlägiger ist, ist das Grundgesetz und sind die Urteile des Bundesverfassungsgerichts. Ich sage Ihnen sehr klar und deutlich: Ich als gewählter deutscher Abgeordneter möchte ein uneingeschränktes Budgetrecht über den Bundeshaushalt haben und auch weiter behalten – uneingeschränkt. ({2}) Da haben wir die Rückendeckung mehrerer Bundesverfassungsgerichtsurteile. Ich rate Ihnen dringend, sich einmal die Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes der Bundestagsverwaltung zu diesem Thema durchzulesen; das mag nicht Ihre Auffassung sein. Ich sage nur: Wir als Unionsfraktion wollen unser Budgetrecht behalten und sehen uns hier auf dem Boden des Grundgesetzes.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Kollege Rehberg, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Kindler?

Eckhardt Rehberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003826, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja klar, gerne.

Sven Christian Kindler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004070, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Kollege Rehberg, vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zugelassen haben. – Wir haben über die Frage von sogenannten Coronabonds schon im Haushaltsausschuss geredet. Sie hatten dort die gleiche rechtliche Einschätzung gegeben, die Sie jetzt hier in der Rede gegeben haben. Ist Ihnen aber bekannt, dass die Frage nach einer gesamtschuldnerischen oder einer teilschuldnerischen Haftung einen Unterschied macht bei der Frage nach gemeinsamen europäischen Anleihen? Ist Ihnen auch bekannt, dass die Europäische Union schon heute gemeinsame Anleihen herausgibt? Das hat mir die Bundesregierung auch beantwortet, und zwar – ich zitiere –: Die Ausgabe von Anleihen für den EFSM, das „Balance of Payments (BoP)“-Programm und die Macro Financial Assistance (MFA) ist tatbestandlich eng begrenzt und basiert auf Rechtsakten mit entsprechender vertraglicher Grundlage. Danach hatte ich die Bundesregierung gefragt; das sind gemeinsame europäische Anleihen. Wir schlagen wie andere Länder einen großen Recovery Fund in Höhe von 1 Billion Euro vor und dann, gemeinsame europäische Anleihen zu begeben. Diese sind dann teilschuldnerisch, also begrenzt für den deutschen Bundeshaushalt, und rechtlich klar definiert nach den Vorgaben des Recovery Fund, die besagen, für welche Maßnahmen man sie ausgeben kann, zum Beispiel auch für Ausgaben, die im Zusammenhang mit dem Green Deal stehen. Das heißt, auch das erfüllt die Vorgaben des Verfassungsgerichts, und es erfüllt, wenn man es über Artikel 122 AEUV machen würde, auch die Vorgaben europäischer Verträge. ({0}) Man hätte gemeinsame Garantien der Mitgliedsländer, aber keine gemeinschaftliche Haftung – das ist richtig – wie bei Coronabonds. Trotzdem kann man es regeln, dass man mit gemeinsamen Anleihen in sehr großen Volumina einen Wiederaufbau durch einen Recovery Fund finanziert. Sind die Bundesregierung und die Unionsfraktion bereit, einen solchen Weg zu gehen, wie ihn andere Länder vorgeschlagen haben, ({1}) um den Wiederaufbau in Europa und die Bewältigung dieser großen ökonomischen Krise in Europa jetzt auch gemeinsam solidarisch zu finanzieren? ({2})

Eckhardt Rehberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003826, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Kindler, die Bundesregierung hat gezeigt – ich glaube, die Bundeskanzlerin wird das auch heute zeigen –, dass wir solidarisch sind. Wir haben ein Paket auf den Weg gebracht mit drei Säulen: 200 Milliarden Euro bei der EIB, 100 Milliarden Euro „Sure“-Kurzarbeitergeld und 240 Milliarden Euro über die ECCL des ESM. Hier, glaube ich, ist es eher angezeigt, dass wir als Deutscher Bundestag darauf drängen, dass die Europäische Kommission das umsetzt – denn schnelle Hilfe ist aktuell die beste Hilfe in der Krise –, und dass wir uns dann möglicherweise in die Debatte begeben, die Sie eben angerissen haben. Aber ich widerspreche Ihnen ausdrücklich: Wenn wir uns über einen Wiederaufbaufonds unterhalten – das hat die Bundeskanzlerin deutlich gemacht –, dann sollte das im Rahmen der Gespräche über den EU-Haushalt sein. Nehmen wir nur mal das Thema Kohäsionsfonds: Warum muss ich einen Wiederaufbaufonds neu erfinden, wenn ich Strukturfonds habe? ({0}) Warum nutze ich nicht vorhandene Instrumente? Ich komme aus einem neuen Bundesland. Ohne die europäischen Strukturfonds sähe Mecklenburg-Vorpommern heute nicht so aus, wie es aussieht. Warum soll das in Italien, Spanien, Frankreich oder Griechenland nicht auch möglich sein, Kollege Kindler? ({1}) Insoweit: Wir brauchen aus meiner Sicht nicht monatelange, jahrelange Debatten über neue Instrumente, sondern schnelles Handeln ist richtiges Handeln, auch und für Europa. Herzlichen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächste spricht für die Fraktion der CDU/CSU die Kollegin Dr. Katja Leikert. ({0})

Dr. Katja Leikert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004337, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Coronakrise beobachten wir in ganz Europa wachsende Unsicherheit und auch einen Trend zur Reideologisierung. Auch wenn in Europa und auch hier im Hohen Haus die europäische Solidarität von einigen angezweifelt wird: Für uns in der CDU/CSU-Fraktion gehört europäische Solidarität zu unserer Grundüberzeugung, zu unserer politischen DNA. ({0}) Denn die Europäische Union ist eben keine Schönwetterveranstaltung, sondern sie beweist sich im Täglichen. Wir Deutsche sind solidarisch mit unseren europäischen Partnern, und wir sind es übrigens immer gewesen, auch in den schweren Stunden der Staatsschuldenkrise. Und das, liebe Kolleginnen und Kollegen, dürfen wir uns weder von einigen hier im Hohen Hause noch von Populisten in Rom, Paris oder Madrid kaputtreden lassen. ({1}) Wir helfen im gesundheitlichen Bereich. So haben wir wiederholt Intensivpatienten aus Italien, Frankreich und den Niederlanden aufgenommen. Wir haben medizinische Hilfsgüter nach Italien geschickt und über 100 Beatmungsgeräte nach Großbritannien und Spanien geliefert. Solidarisch sind wir auch, lieber Herr Hofreiter, bei der Bekämpfung der wirtschaftlichen Folgen. Auf europäischer Ebene haben wir in kürzester Zeit wichtige Grundlagen für Finanzhilfen in Höhe von 540 Milliarden Euro geschaffen. Für uns ist klar: Unsere Solidarität wird hier nicht enden. Lieber Herr Hofreiter, auch hier noch einmal für Sie das klare Bekenntnis: Weitere Maßnahmen des Wiederaufbaus der Wirtschaft werden wir unterstützen. Wer sich jetzt hinstellt und angesichts der dramatischen Lage Coronabonds als alleinige Lösung fordert, der gefährdet in der Tat den Zusammenhalt in Europa; die Vorredner haben es deutlich gemacht. Wir sind keine schlechten Europäer, nur weil wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion Coronabonds nicht als Lösung für Europa sehen – im Gegenteil. Es ist vielmehr so wie im echten Leben: Falsche Solidarität, die am Ende alle schwächt, ist eben falsch verstandene Solidarität. ({2}) Es gilt auch das, was Ecki Rehberg hier eben gesagt hat und Ralph Brinkhaus davor: Für uns geht es auch um fiskalische Solidität, auch in der Krise. Sehr geehrte Damen und Herren, ja, wir streiten in Europa über den richtigen Weg, und es ist auch richtig so, dass wir das tun. Es sind viele Staaten, die hier miteinander zusammenarbeiten. Noch einmal: Was wir nicht brauchen können, sind ideologische oder rückwärtsgewandte Debatten. Was wir jetzt brauchen, sind pragmatische und zielgerichtete Maßnahmen für ein Europa, das gestärkt aus der Krise herausgeht. Genau das wollen wir; denn nur ein starkes Europa wird am Ende des Tages im globalen Wettbewerb neben Akteuren wie China oder den USA Bestand haben. Dabei, sehr verehrte Damen und Herren, sind drei Punkte für mich ganz zentral. Erstens müssen wir an der nachhaltigen Ausgestaltung der Wirtschaft festhalten. Hier sehe ich die Krise auch wirklich als eine Chance, schnell auf zukunftsorientierte Technologien umzurüsten. Der Green Deal der Europäischen Kommission ist hierfür eine wichtige Grundlage. Denn wahr ist auch: Wir befinden uns ja längst mitten in der nächsten Krise, der Klimakrise; das ist so. Es war nicht nur einmal wieder ein warmer März, sondern das hat mittlerweile eine Dimension, die auch für uns gravierende Folgen haben wird. Gerade deshalb wird es für uns überlebenswichtig sein, den Weg hin zu einer klimaneutralen EU weiterzugehen. Zweitens – auch das hat die Kanzlerin vorhin angesprochen; es ist ganz wichtig –: Wenn wir die Europäische Union als globalen Akteur sehen, dann muss Europa autonomer und unabhängiger von Drittmärkten werden. Wir müssen strategisch wichtige Industriebereiche wie den Verteidigungs- oder den Transportsektor stärken. Auch hier hat die Kommission gute Ansätze in ihrer Industriestrategie vorgelegt, die wir weiterentwickeln müssen. Drittens müssen wir dringend in die Digitalisierung von Wirtschaft und Bildung investieren. Wir brauchen den digitalen Binnenmarkt, auch europäische Plattformen. Wir machen Videokonferenzen über Zoom und Webex – das könnten wir vielleicht auch europäisieren. Das ist wichtig, wenn es die Europäische Union ernst damit meint, Standards zu setzen. Gerade hier können wir auch viel von anderen Mitgliedstaaten lernen; ich denke an das Homeschooling bei mir daheim oder auch an Homeoffice. Deutschland geht es nur gut in einer innovativen, starken Europäischen Union. Lassen Sie uns das gemeinsam anpacken in einer starken Gemeinschaft von solidarischen Staaten. Herzlichen Dank. ({3})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die fraktionslose Abgeordnete Dr. Frauke Petry.

Dr. Frauke Petry (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004851

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Niemand bestreitet, dass uns das neuartige Virus Covid-19 kalt erwischt hat. Die Frage lautet nur: Warum? Meine Damen und Herren, wer ist verantwortlich dafür, dass die sprichwörtliche Blaupause, der Pandemieplan von 2012, offenbar nicht umgesetzt wurde? Es wird Aufgabe dieses Parlaments oder eines späteren sein, zu klären, wie es passieren konnte, dass wir am Ende nahezu ohne Schutzmasken und andere Schutzausrüstung klarkommen mussten, obwohl der Bundestag eine sehr detaillierte Ausarbeitung dazu gefertigt hatte. Dass Sie, Frau Merkel, sich scheinbar demütig einreihen und Bürgern vermitteln, das wir alle gemeinsam in eine milchige Coronaglaskugel blicken, ist taktisch klug, aber leider unehrlich. Die Pandemie ist keine neuartige Erfahrung. Epidemien, Pandemien sind wiederkehrende Ereignisse. Der Bundestag wusste das 2012 offensichtlich, und Sie waren damals Bundeskanzlerin. Wir sind nicht am Anfang einer Pandemie, wir sind seit Anfang des Jahres 2020 global mittendrin. Nur hat die Bundesregierung und auch Gesundheitsminister Spahn es vorgezogen, die dramatischen Signale aus China und später Italien zu ignorieren. Die Maskenmaskerade, Frau Merkel, so möchte ich es bezeichnen – „keine Maske“, „schädliche Maske“, „vielleicht Maske“ und „bald doch Maske“, am besten in Heimarbeit genäht und nicht professionell mit medizinischem Nutzen –, diese Maskenmaskerade wird, so fürchte ich, später in einem Atemzug mit Powells Unwahrheiten über die Massenvernichtungswaffen im Irak zu nennen sein. Und sie ist so leicht zu entlarven. Warum stehen wir in Deutschland doch vergleichsweise gut da? Weil Kommunen und Landkreise, Bürgermeister und freiwillige Bürger vor Ort funktioniert haben, in Sozialstationen und Krankenhäusern, ganz ohne Basta aus dem Kanzleramt. Der Föderalismus hat viel besser funktioniert, als mancher erwartet hat, und er hätte noch viel besser funktionieren können, wenn es frühzeitig Grenzkontrollen und Einreisebeschränkungen für Risikogruppen gegeben hätte. Auch Markus Söder und Armin Laschet gebührt Dank. Sie sind vorgeprescht, sie haben Druck auf die Bundesregierung ausgeübt – erst für notwendige Beschränkungen und jetzt auch für notwendige Lockerungen –, und sie verdienen es nicht, verbal abgekanzelt zu werden. Sie, Frau Merkel, wirken getrieben wie – unter anderen Voraussetzungen – vor fünf Jahren. Kraftvolles Agieren geht anders. Ich habe nun trotzdem einige Fragen an Sie und die Bundesregierung: Wie wägen Sie zukünftig zwischen den Pandemieschäden und den wirtschaftlichen Folgen des Shutdowns ab, die noch dramatischer ausfallen könnten? Was haben wir denn erreicht? Wir haben mit maximalem Geschütz den totalen Kollaps verhindert. Aber wie teuer uns dieser nicht erfolgte Kollaps zu stehen kommt, können Sie nicht sagen; hier fehlt der Plan. Ich bitte Sie: Hören Sie auf, angeblich wirksame Maßnahmen wie die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht zu initiieren oder zu verkünden, es gebe keine Arbeitslosen durch Corona. Sie wissen viel besser, dass es unmöglich ist. Was tun Sie, um den Steuerzahlern zukünftige Lasten zu ersparen? Bitte, ich brauche ein eindeutiges Nein zu Euro-Bonds von Ihnen! Was wir noch brauchen, ist mehr Forschung in viele medizinische Ansätze. Ich erwähne dabei, dass inzwischen bekannt ist, dass Covid-19 offenbar ein Helferbakterium aus der sogenannten Prevotella-Familie hat. Werden wir hier erfolgreich, lässt sich erhärten, dass wir einen Therapieansatz haben, dann wäre es möglich, Schulen und Kitas schon bald wieder zu öffnen. Kurzum: Überlassen Sie den Wissenschaftlern und Praktikern vor Ort das kraftvolle Agieren, und fördern Sie die demokratische Kontroverse! Das wissen Sie als Physikerin besser als manch anderer.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Dr. Carsten Linnemann. ({0})

Dr. Carsten Linnemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004098, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Weltwirtschaft ist mit dem Coronavirus infiziert. Länder auf diesem Globus, die über 50 Prozent des weltweiten Bruttosozialproduktes erwirtschaften, befinden sich derzeit im Lockdown. Das trifft unsere Wirtschaft mit voller Wucht. Es geht auch ins Mark, gerade für den Mittelstand, der sehr stark exportorientiert ist und unter den abgebrochenen oder unterbrochenen Lieferketten leidet. Es trifft unsere ganze nationale Wirtschaft. Wir haben Branchen, die derzeit keine Umsätze machen, aber laufende Kosten haben. Ich denke da an die Veranstalter, an den Einzelhandel, an die Gastronomie, an das Reisegewerbe, an Schausteller, Messebauer, Hotels und vieles mehr. Der Arbeitsmarkt – das muss man nüchtern sagen – ist heute um ein Vielfaches heftiger getroffen als bei der letzten Rezession 2008/2009. Wir haben heute über 700 000 Firmen und Unternehmen, die das Instrument Kurzarbeit nutzen; das ist fast ein Drittel aller Unternehmen in Deutschland. Das geht ins Mark. Darauf hat die Regierung reagiert, unterm Strich – bei aller Kritik – richtig. Die CDU/CSU-Fraktion – das hat auch Ralph Brinkhaus eben deutlich gemacht – unterstützt das Vorgehen. Nur, klar ist auch – auch das wurde deutlich –: Unsere Möglichkeiten sind nicht unendlich, sondern endlich. Wir können nicht monatelang – das wissen wir alle – so weitermachen, als gäbe es kein Morgen. Auch unser Staat kommt irgendwann an seine Grenzen. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns heute Gedanken auch über die Zeit nach Corona machen: Welche Trends gibt es? Wie wird die Entwicklung sein? Ich sehe vor allen Dingen drei Trends. Erstens. Die Welt wird digitaler sein. Unternehmen und Staaten erleben gerade – das hat die Kollegin Katja Leikert gesagt – einen Crashkurs in E-Commerce, in digitalem Arbeiten und digitaler Kommunikation. Zweitens. Die globalen Lieferketten werden sich neu ordnen, die Lagerhaltung wird zunehmen. Das macht etwas aus für ein Unternehmen: Das Unternehmen wird auf der einen Seite widerstandsfähiger sein, aber auf der anderen Seite auch weniger profitabel. Jetzt kommt ein dritter Punkt, und der ist für mich zentral: Es wird einen Konzentrationsprozess in der Wirtschaft geben, flankiert mit dem Umstand, dass der Staat sich mehr einmischt, sich mehr beteiligt, mehr umverteilt. Dieses beides zusammen – ein Konzentrationsprozess in der Wirtschaft und ein ausgeweiteter Staat – mag im Einzelfall notwendig, ja, sogar richtig sein – das sehen wir im Moment –, aber langfristig ist das natürlich Gift für Wachstum, Wohlstand und Beschäftigung. Deswegen – das ist meine Überzeugung – brauchen wir jetzt in dieser Krise ein kluges Vorgehen. Wir müssen akut helfen. Dabei geht es vor allen Dingen um Liquidität. Das, was heute Nacht beschlossen wurde – Stichwort „Verlustverrechnung im steuerlichen Bereich“ –, ist absolut richtig; das ist eine absolut richtige Maßnahme. Hier müssen wir weiterkommen. Wir müssen daneben die Sozialversicherungsbeiträge länger stunden; hier ist Mai zu früh. Auch die Abschaffung der Vorfälligkeit der Sozialversicherungsbeiträge ist jetzt, denke ich, ein zielgerichtetes Instrument, um der Wirtschaft zu helfen. ({0}) Wir müssen auch europäisch helfen, und zwar mit voller Wucht. Der Kollege Rehberg hat das, wie ich finde, richtig angesprochen. Wir müssen erstens mit viel Geld helfen, aber – auch das wurde deutlich – wir dürfen Solidarität nicht mit Haftungsvergemeinschaftung verwechseln. Wir müssen zweitens den Firmen eine Perspektive geben, sodass sie genau wissen, unter welchen Auflagen und Bedingungen sie langsam wieder Fahrt aufnehmen können. Drittens müssen wir den Exit vorbereiten. Wir müssen immer wissen, dass die Instrumente, die wir jetzt auf den Weg bringen – ich denke hier beispielsweise an den Wirtschaftsstabilisierungsfonds mit Staatsbeteiligung –, immer befristet sind und dass wir da wieder herausmüssen. Die soziale Marktwirtschaft kann das auf Dauer nicht aushalten, und wir müssen allen entgegentreten, die eine Verstaatlichung von Unternehmen und eine Vergemeinschaftung von Haftung vorantreiben wollen. ({1}) Die soziale Marktwirtschaft – um das ganz klar zu sagen – ist und bleibt unser Erfolgskonzept – vor der Krise, in der Krise und nach der Krise. Vielen Dank. ({2})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Dr. Georg Nüßlein. ({0})

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Momentan wird eine Frage ziemlich häufig diskutiert, nämlich die Frage, warum unser Land, wie es jetzt scheint, ziemlich glimpflich durch diese Krise kommt. Was unterscheidet das Gesundheitssystem Deutschlands von anderen? Ich will das ganz kurz schlagwortartig beleuchten. Erstens. Wir haben gut ausgebildetes, leistungsbereites und leistungsfähiges Personal, und zwar – ich sage das bewusst aus politischen Gründen – nicht nur akademisch ausgebildetes Personal. Zweitens. Wir haben keine Zugangsschranken. Die Versicherung macht hier einiges aus. Das mag in den USA ein Problem sein. Drittens. Wir haben eine flächendeckende Versorgung durch unsere Krankenhäuser – auch im ländlichen Raum; das hat Alexander Dobrindt vorhin beleuchtet. Sie ist ganz wichtig, und wir müssen sie in Zukunft noch stärker schützen und ins Blickfeld der Politik rücken. Viertens. Wir haben keine Staatsmedizin. Herr Bartsch, wenn Sie nach England schauen, dann können Sie sich anschauen, was da geleistet wird. Das ist etwas, was mich nicht hoffnungsvoll macht, dass Ihr Konzept irgendeine Chance hat, etwas zu verbessern. Ganz im Gegenteil. Fünftens. Die Politik hat an dieser Stelle früh und klar eingegriffen und gemeinsam mit duldsamen Bürgern, die verstanden haben, um was es geht, tatsächlich dafür gesorgt, dass wir das Problem eindämmen. ({0}) – Hören Sie auf! Jetzt sind die anderen dran. Jetzt komme ich zu dem, was mich an der Debatte heute am meisten schockiert hat. Das war nämlich die Rede von Herrn Münzenmaier; hier rechts sitzt er, genau. Der Herr Gauland hat sich zurückgehalten. Das mag mit Altersweisheit zu tun haben, das könnte aber auch damit zu tun haben, dass er gewusst hat, dass der nächste Redner hier etwas anderes vortragen wird. ({1}) Das war aber nur ein Vorgeschmack auf das, was uns demnächst blühen wird. Wenn das, was wir hier politisch veranlasst haben, und das, was unser Gesundheitssystem leistet, am Schluss Erfolg haben, dann werden Sie, von denen man die ganze Zeit nichts gehört hat, aus Ihren Löchern kommen und sagen: Das war alles unnötig, ihr habt die Wirtschaft ohne Not ruiniert, ihr habt das und jenes gemacht. – Das werdet ihr tun, nachdem ihr euch vorher versteckt habt. ({2}) Sie werden sich das anschauen und dann, wenn alles gut gegangen ist, den Neunmalklugen spielen, die Diffamierbarkeit des Ganzen ausnutzen und sagen: Wir von der AfD haben es gewusst. Man hätte alles ganz anders machen können. ({3}) Ich sage das an dieser Stelle so prophezeiend, weil ich weiß, dass das so kommt, und weil man das jetzt schon sagen muss, weil Sie das letztendlich genauso machen müssen. ({4}) Natürlich gibt es ein paar Dinge, die man noch verbessern kann. Ich denke zum Beispiel an die Versorgung mit Schutzkleidung. Wir sind jetzt auf dem Weg und sagen: Lasst sie uns in Deutschland produzieren. Das ist ganz entscheidend. Es geht auch um die Frage, wo die Grenzen der Globalisierung sind. ({5}) – Schreien Sie doch nicht die ganze Zeit, sonst muss ich auch noch lauter reden. Wie können wir, bei der Versorgung mit Medikamenten, dafür Sorge tragen, dass wir sie nicht in China bzw. Asien kaufen müssen, sondern dass das bei uns geht? Da gibt es auch entsprechende Maßnahmen. Ich bin zum Beispiel jemand, der dafür eintreten wird, dass wir in Zukunft, wenn wir Rabattverträge, also die Medikamentenbeschaffung, ausschreiben, nicht nur einem, sondern mindestens zweien den Zuschlag geben und dass davon einer den Zuschlag bekommt, der eine europäische Lieferkette nachweist. ({6}) Diese Dinge werden wir also ändern müssen; das ist vollständig richtig. Aber dass Sie jetzt schon anfangen, das, was wir hier tun und was die breite Mehrheit der Menschen zu Recht mitträgt, ({7}) zu diffamieren, ist schändlich. ({8}) Wir werden natürlich zu Öffnungen kommen müssen. Dabei kommt es, wie der Herr Gauland gesagt hat, ganz klar auf die Eigenverantwortung an. Aber die Eigenverantwortung der Menschen ist nicht die Lösung, sondern die Bedingung dafür, dass die Lockerungen, die jetzt auf dem Weg sind, gelingen, ({9}) und ich appelliere an die Menschen, dass sie das entsprechend umsetzen. Dann wird es uns glücken, relativ zügig auch wieder in ein sinnvolles Wirtschafts- und Gesellschaftsleben einzusteigen. ({10}) Vielen herzlichen Dank. ({11})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Deshalb schließe ich die Aussprache über die Regierungserklärung der Bundeskanzlerin.

Michael Theurer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004914, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundeskanzlerin hat heute Morgen eine Chance verpasst, sich dafür zu entschuldigen, dass mit Totschlagsargumenten versucht wurde, eine notwendige gesellschaftliche und parlamentarische Debatte über die Zukunft des Landes nach den notwendigen Coronapandemie-Bekämpfungsmaßnahmen zu unterbinden. Diese Entschuldigung wäre die Voraussetzung dafür gewesen, den Ball von Minister Spahn aufzugreifen, der gestern hier im Plenum davon sprach, dass es Verzeihungen für Versäumnisse der Bundesregierung geben müsse. Meine Damen und Herren, wir sind es den Menschen schuldig, ihnen eine Perspektive für die nächsten zwei Jahre aufzuzeigen, in denen wir mutmaßlich eben noch nicht über einen Impfstoff und auch nicht über wirksame Medikamente zur Heilung der schweren Coronainfektion verfügen werden. Die Krisenkommunikation der Bundesregierung hatte allzu oft die Halbwertszeit von zwei Tagen. Es ist stets das wahrscheinlichste Szenario eingetreten, doch Herr Spahn sprach ständig von einer neuen Lage. Am 14. März beispielsweise wurde die Absage von Großveranstaltungen noch abgelehnt. Mitte März wurden die real bevorstehenden Einschränkungen als Fake News verunglimpft. Mitte Februar hat der Wirtschaftsminister die Forderung nach einem Krisengipfel für die Wirtschaft noch abgelehnt. Anfang März gab Herr Altmaier zu, keine Notfallpläne für die Wirtschaft zu haben. Hat die Bundesregierung die Lage falsch eingeschätzt, oder sollten die gewählten Parlamente und die Öffentlichkeit bewusst im Unklaren gelassen werden? Das sind Fragen, die nach der Krise analysiert und bewertet werden müssen. Heute geht es uns Freien Demokraten nicht um die Bewertung von Versäumnissen der Vergangenheit, sondern darum, dass endlich von der Bundesregierung klare, transparente, nachvollziehbare Kriterien entwickelt werden, wie man Gesundheitsschutz und wirtschaftliche und gesellschaftliche Öffnung miteinander verbinden kann. ({0}) Denn die Beschlüsse, die die Bundeskanzlerin mit den Regierungschefs der Länder in der Woche nach Ostern verkündet hat, wirken ja willkürlich. Nehmen wir nur die 800-Quadratmeter-Regel beim Einzelhandel. Wenn man infektiologisch denkt, wenn man virologisch denkt, müsste doch ein ganz anderes Kriterium zugrunde gelegt werden, etwa Quadratmeter pro Kunde. Meine Damen und Herren, wir in Deutschland sind die Weltmeister des organisierten Arbeitsschutzes. Die Bundesregierung sollte deshalb jetzt endlich einen interdisziplinär besetzten Expertenrat zur Begutachtung der Coronaansteckungsrisiken in Gesellschaft und Wirtschaft berufen. ({1}) Dieser sollte klare, transparente Kriterien erarbeiten, die dann für alle Bereiche durchdekliniert werden. Der Maschinenführer an einem CNC-Bearbeitungszentrum braucht vielleicht andere Schutzmaßnahmen als ein Montageteam, das in der Automobilindustrie im engen körperlichen Kontakt, praktisch Hand in Hand, Teile an eine Karosserie montiert. Niemandem ist damit gedient, wenn eine Insolvenzwelle weite Teile des Mittelstandes hinwegfegt. Wir sind in großer Sorge, was die Unternehmen in Deutschland und die Millionen von Arbeitsplätzen angeht. Deshalb fordern wir in unserem Antrag ein Programm für Wachstum, Beschäftigung und Innovation. Wir wollen ein Belastungsmoratorium. Es darf keine neuen Steuererhöhungen geben, keine neue Bürokratie, keine neuen Umverteilungsprogramme. Im Gegenteil: Wir brauchen Sofortabschreibungen für bewegliche Wirtschaftsgüter, die komplette Abschaffung des Soli, eine Entlastung bei der Körperschaftsteuer und endlich auch Verlustrückträge, also eine negative Gewinnsteuer, die Liquidität in die Unternehmen pumpt. Kurzum: Es geht gerade in der Pandemiebekämpfung um die Unterbrechung der Infektionsketten. Aber wir müssen auch dafür sorgen, dass die Interventionsketten des Staates, die jetzt in Gang gesetzt worden sind, gestoppt werden, damit die Grenze des Staatseingriffes nicht immer weiter in Richtung einer Planwirtschaft verschoben wird, sondern dass die Wachstumskräfte der Marktwirtschaft wieder wirken können. Das ist gut für die Haushaltseinnahmen des Staates. Das ist gut für die Sicherung der Arbeitsplätze. Das ist richtig für die Zukunft unserer vielen mittelständischen Unternehmen in Deutschland. ({2})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer. ({0})

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Genau vor vier Wochen saßen wir hier im Deutschen Bundestag und haben, glaube ich, eine historische Stunde erlebt. Denn wir haben das, was die Regierung vorgeschlagen hat, mit der notwendigen parlamentarischen Mehrheit und Unterstützung versehen, und zwar in sehr großer Einmütigkeit. Es ging darum, Dinge auf den Weg zu bringen, die wir so in der Geschichte der Republik noch nicht auf den Weg gebracht haben. Heute, nach vier Wochen, können wir sagen: Jawohl, die Politik wirkt. Der Schutzschild funktioniert. Die Instrumente bringen die Mittel dorthin, wohin sie sollen, zum Beispiel die Soforthilfen für die Solo-Selbstständigen und die kleinen Betriebe mit null bis zehn Beschäftigten. Knapp 1,9 Millionen Betriebe, also fast die Hälfte aller dieser Betriebe, haben diese Sofortkredite beantragt. Fast 10 Milliarden Euro sind bereits abgerufen und angekommen, um die Brückenfunktion wahrzunehmen, die wir damit anstreben. Die Liquiditätshilfen wirken. Knapp 28 Milliarden Euro sind beantragt. Dort, wo notwendig – Stichwort: Schnellkredite –, haben wir weiter optimiert, sodass die Branchen, bei denen es am Anfang noch gehakt hat, auch den Zugang bekommen. Der Wirtschaftsstabilisierungsfonds ist quasi ausgearbeitet und ist jetzt in der Endabstimmung mit Brüssel; denn er muss ja notifiziert werden. Es geht darum, wie wir Betriebe erhalten wollen, die zur kritischen Infrastruktur im Bereich der Luftfahrt, im Bereich der Schiene und auch im vorhin von anderen angesprochenen Transportsektor, der beim Wiederhochfahren natürlich von entscheidender Bedeutung ist, gehören. Die Bürgschaften, die steuerlichen Maßnahmen, Stundungen, Kurzarbeit, all diese Dinge funktionieren. Auch dort werden wir, wo es notwendig und sinnvoll ist, entsprechend nachsteuern. Gestern hat man im Bereich der Gastronomie, befristet für ein Jahr, die Mehrwertsteuer auf 7 Prozent gesenkt. ({0}) – Wir werden nachsteuern, und Sie können entsprechend mithelfen, dass wir das zügig tun können. Wir haben in nächster Zeit genügend Sitzungen, um dies zu tun. Hinzuverdienste sollen bis zum vollen Monatsverdienst ermöglicht werden. Auch das Kurzarbeitergeld soll, sofern es länger in Anspruch genommen werden muss, noch erhöht werden. Wir arbeiten mit Hochdruck daran, dass im Bereich von Veranstaltern, im Bereich der Reiseunternehmen und auch im Bereich der Start-ups Hilfen auf den Weg gebracht werden. Diejenigen, die forschen und entwickeln, die zukunftsfähige Produkte haben, sollen nicht auf der Strecke bleiben, sondern diese Innovationen sollen auch in Zukunft wieder stattfinden können. Auch für diejenigen, die ganz düstere Perspektiven haben, zum Beispiel die Schausteller, die quasi in diesem Jahr null Perspektive haben und vielleicht voriges Jahr beim Weihnachtsmarkt den letzten Umsatz gemacht haben, brauchen wir Möglichkeiten; denn natürlich wollen wir auch diese Berufsgruppe und diesen Sektor nicht verlieren. Das Ganze ist aber kein Selbstzweck, Kollege Theurer, sondern wir wollen damit Zeit gewinnen, um die Infektionsrate unter die berühmten 1,0 zu senken. Ich bin kein Virologe und kein Arzt. Kollege Theurer, auch Sie sind kein Virologe und kein Arzt. Wir beide sind Ökonomen und Kaufleute; aber auch da haben wir Statistik gelernt. Wir haben in Deutschland 20 000 Betten, die für die Beatmung zur Verfügung stehen; wir brauchen auch Intensivbetten für Patienten mit anderen Krankheiten. Da die Statistik besagt, dass wir beim Faktor von 1,2 in vier Monaten 50 000 Betten brauchen und beim Faktor von 1,3 in drei Monaten 90 000, bedeutet das: Das würde unser System sprengen. Deshalb muss das Ziel sein, diese Infektionsrate unter 1,0 zu halten. Deshalb hat die Bundeskanzlerin recht, wenn sie heute Morgen sagt: Wir müssen aufpassen, dass wir das, was wir jetzt aufgebaut haben, nicht leichtfertig verspielen. ({1}) Genau das ist unsere Maßgabe bei der Öffnungsstrategie. Wir haben jetzt gewisse Dinge geöffnet. Man kann sicher darüber streiten, ob man auf dem Golfplatz im Freien jetzt schon spielen können sollte oder nicht, selbstverständlich, ja, aber wenn wir es zu schnell hochfahren, dann besteht die Gefahr des Rückfalls. Diesen wollen wir auf keinen Fall. Wenn wir wirklich das erreichen wollen, was wir auch 2009 erreicht haben, nämlich dass wir gestärkt aus der Krise hervorgehen, dann müssen wir jetzt bei der Öffnungsstrategie vorsichtig agieren. Wenn zehn Tage nachdem die ersten Läden aufgemacht haben, die Infektionsrate unter 1,0 bleibt, können wir die nächsten Schritte tun. Alles andere wäre, glaube ich, unverantwortlich. ({2}) Aber wir können auch jetzt Dinge tun. Wir können zum Beispiel jetzt die Zeit nutzen, unsere Abläufe zu beschleunigen. Wir haben es hier bei der Parlamentsarbeit getan. Ausschüsse können digital – zunächst befristet; ich würde mir wünschen, wir machen das auch dauerhaft – tagen und entscheiden. Ich denke, das müssen wir beispielsweise auch bei Genehmigungsverfahren machen. Weder bezüglich Baumaßnahmen im Bereich der erneuerbaren Energien noch bei Schienenprojekten oder auch Straßenbauvorhaben finden gerade Anhörungen statt. Deshalb müssen wir unsere Genehmigungsverfahren optimieren, digitalisieren und damit auch beschleunigen. Das können wir jetzt machen. Dazu brauchen wir keine 800 Quadratmeter oder mehr. Da sind wir gefordert. Deshalb gilt es, die Rahmenbedingungen jetzt so zu gestalten, dass wir weitere Entlastungen – die steuerlichen Verrechnungsmöglichkeiten sind angesprochen worden – parat haben, wenn die Öffnungsstrategie so verläuft, dass wieder richtig Fahrt aufgenommen werden kann. Das Ziel muss sein, dass Deutschland und Europa am Ende des Tages aus dieser Krise wie schon 2009/2010 gestärkt hervorgehen. Deshalb lassen Sie uns hier wirklich klug und verantwortungsvoll agieren. Vielen Dank. ({3})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist für die Fraktion der AfD der Kollege Tino Chrupalla. ({0})

Tino Chrupalla (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004695, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Landsleute! ({0}) Was wir derzeit erleben, hätte sich noch zur Jahreswende niemand vorstellen können. Der Alltag ist der Ausnahmezustand – nicht nur bei uns, sondern vielerorts weltweit. Zweifellos erfordern Ausnahmesituationen außergewöhnliche Maßnahmen. Aber wir müssen den Nutzen, sprich: die Sinnhaftigkeit, und mögliche negative Folgen dieser Maßnahmen gegen eine weitere Ausbreitung des Virus kontinuierlich überprüfen. Denn wenn wir da übers Ziel hinausschießen, laufen wir Gefahr, den wirtschaftlichen Schaden, der bereits jetzt unübersehbar ist, noch zu vergrößern. ({1}) Insofern können wir dem vorliegenden Antrag der FDP-Fraktion im Grundsatz nicht widersprechen. Wir brauchen klare und transparente Kriterien für eine Öffnungsstrategie. Meine Damen und Herren, über diese Kriterien müssen wir offen und ehrlich reden und auch reden dürfen. Die Bürger haben ein Recht darauf; sie haben ein Recht darauf, zu erfahren, dass sie dieser Shutdown jede Woche 42 Milliarden Euro kostet. ({2}) Wir müssen ihnen auch sagen, dass dieses Geld nicht vom Himmel regnet. Denn nicht die Bundeskanzlerin, der Finanzminister oder der Arbeitsminister zahlen am Ende die Rechnung – nein –; diese Rechnung müssen die Bürger bezahlen. Sie müssen all die Milliarden Euro, die jetzt zu Recht an Hilfen ausgegeben werden, mit ihrer tagtäglichen Arbeit wieder erwirtschaften. ({3}) Ich hoffe nicht, dass es auf Vermögensabgaben hinausläuft, wie die SPD schon vorgeschlagen hat. ({4}) Die Ersparnisse der Mittelschicht werden Sie nicht mit den Stimmen der AfD einziehen. Das wollen wir hier schon mal prophylaktisch festhalten. ({5}) Stattdessen müssen wir genauso minutiös, wie wir täglich die Ausbreitung des Virus kontrollieren, evaluieren, wie wir alle Wirtschaftsbereiche verantwortungsvoll wieder hochfahren können. Ich denke, da kann und muss die Bundesregierung auf der Basis der inzwischen reichlich vorhandenen Daten eine verlässliche Öffnungsstrategie vorlegen. Wir dürfen nicht länger zuschauen, wie die Fundamente unserer Volkwirtschaft erodieren. Ich will hier nur einige wenige Zahlen nennen. Im Hotel- und Gaststättengewerbe drohen laut DEHOGA 70 000 Pleiten. Das heißt, viele der bisher dort beschäftigten 2 Millionen Arbeitnehmer stehen dann auf der Straße. Und Herr Altmaier, was nutzt eine Mehrwertsteuersenkung in der Gastronomie, wenn diese Geschäfte überhaupt nicht öffnen dürfen? Das müssen Sie mir wirklich mal erklären. ({6}) Der Einzelhandel fürchtet, dass von 450 000 Geschäften 45 000 schließen müssen. Was wird aus den vielen Mitarbeitern? 1,8 Millionen Arbeitsplätze in Deutschland sind direkt oder indirekt von der Automobilindustrie abhängig. Ihre Zukunft ist genauso ungewiss. Meine Damen und Herren, auch auf der wirtschaftlichen Seite der Viruskrise geht es um ganz persönliche Lebensschicksale, um die Existenzen von Unternehmern und Arbeitnehmern. Viele fragen sich zu Recht: Warum darf ein Laden mit 800 Quadratmetern öffnen, einer mit 804 Quadratmetern aber nicht? Warum gilt diese Ausnahme für das Autohaus, aber nicht für das Möbelhaus? Warum dürfen Buchläden öffnen, Elektronikmärkte aber oftmals nicht? Was unterscheidet den Einkauf im Supermarkt vom Einkauf im Elektronikmarkt? Meine Damen und Herren, ein Journalist schrieb unlängst sehr treffend – ich zitiere –: Das Virus weiß nicht, ob es vor einem Kühlregel oder einem Schuhregal steht. ({7}) Die Krisenpolitik der Bundesregierung tut aber so, als sei das Virus vor dem Schuhregal gefährlicher als vor dem Kühlregal. Dieser Unfug muss schleunigst aufhören! Was wir brauchen, ist so viel Freiheit wie möglich und so viel Einschränkung wie nötig. ({8}) Klar ist: Jedes weitere Herauszögern der wirtschaftlichen Tätigkeit wird zwangsläufig zu weiteren finanziellen Belastungen nach der Krise führen. Darum müssen wir die Volkswirtschaft mit klar umrissenen neuen Schwerpunkten wieder hochfahren. Dazu gehört unter anderem, in strategische Lieferketten zu investieren, die unsere Abhängigkeit von Drittländern reduzieren. Das betrifft neben der Automobilbranche vor allem die Gesundheits- und Pharmaindustrie sowie die Lebensmittelwirtschaft. Und wir brauchen dringend einen Plan. Ich glaube, ich liege nicht ganz falsch, wenn ich behaupte: Die Bundesregierung, die hat keinen Plan. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist für die Fraktion der SPD der Kollege Sören Bartol. ({0})

Sören Bartol (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003496, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen, insbesondere von der FDP! Ihren Antrag werden wir zwar ablehnen – und das aus guten inhaltlichen Gründen –, aber die Regierungserklärung, die Aussprache dazu und auch dieser Antrag aus den Reihen der Opposition zeigen, dass der Umgang mit der Coronakrise, vor allen Dingen auch die Debatte um den richtigen Weg, zuallererst hier in dieses Parlament gehört. ({0}) Der Ethikrat hat in seiner, wie ich finde, sehr guten Stellungnahme noch einmal deutlich betont, dass Entscheidungen, die die ganze Gesellschaft betreffen, von denen getroffen werden müssen, die durch das Volk mandatiert sind. Liebe Kolleginnen und Kollegen, in der Coronakrise schlägt insofern nicht alleine die Stunde der Exekutive, in dieser Krise schlägt die Stunde der demokratisch legitimierten Politik insgesamt und damit vor allen Dingen auch die des Parlaments. ({1}) Wir als Koalition haben schnell, umfassend und mutig auf die Krise reagiert und riesige Rettungsschirme beschlossen und gestern im Koalitionsausschuss nachgelegt. Wir können aber nie ganz genau wissen, was absehbar wichtig werden wird und welche Beschlüsse dann noch anstehen. Das gilt für kurzfristige Maßnahmen in der Krise, es gilt aber vor allen Dingen auch für mögliche Konjunkturimpulse nach der Krise. Der Antrag der FDP ist ein wildes Wünsch-dir-Was. Bei dieser Gelegenheit: Forderungen nach dem Rückgängigmachen von Standards im Klimabereich schaden den Unternehmen mehr, als dass sie helfen. Auf diese Weise verschleudert man Milliarden Euro an Investitionen und schadet unserer Wettbewerbsfähigkeit und der Umwelt. Wir dagegen zeigen, dass wir zielgenau nachsteuern können. Die Aufstockung des Kurzarbeitergeldes bedeutet für viele betroffene Beschäftigte eine echte Hilfe. ({2}) Die Absenkung des Mehrwertsteuersatzes in der Gastronomie ist eine Möglichkeit, um verlorene Umsätze teilweise zu kompensieren. Es muss aber auch hier allen klar sein: Diese Maßnahme ist natürlich befristet und wird trotz Wahlkampfzeit 2021 auslaufen. Neben den gestrigen Beschlüssen müssen wir vor allen Dingen auch die Branchen im Blick haben, die womöglich als letzte wieder hochfahren können. Dazu zählen zum Beispiel Klubbetreiber und Messebauer, und natürlich werden wir hier auch die Schausteller einbeziehen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, man kann ein ganzes Land nicht jahrelang einschließen. Alle freiheitsbeschränkenden Maßnahmen müssen immer besonders begründet sein. Wir können auch die Wirtschaft nicht endlos mit Staatsgeld künstlich aufrechterhalten; das endet im beiderseitigen Bankrott. Daher müssen wir wieder kontrolliert hochfahren. Das geht nur, wenn wir weiter füreinander einstehen und die Risikogruppen beschützen. Wir müssen verantwortlich füreinander sein. ({3}) Wir müssen diszipliniert sein und zeigen, dass wir mit den Lockerungen umgehen können. Wenn uns das nicht gelingt, scheitern wir in der Infektionsbekämpfung, scheitern wir als Gesellschaft, schaden wir der Wirtschaft mehr, als es ein Hilfsprogramm jemals reparieren kann. Vielen Dank. ({4})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist für die Fraktion Die Linke der Kollege Alexander Ulrich. ({0})

Alexander Ulrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003858, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zur politischen DNA meiner Partei und Fraktion gehört die politische Forderung in allen Lagen, dass Menschen vor Profite zu stellen sind. ({0}) Und wo, wenn nicht auch in dieser politischen Debatte und im Hinblick auf Corona, trifft das zu? Deshalb sagen wir ganz deutlich bei dieser Debatte, die von der FDP angestoßen wurde: Lasst uns diese Öffnungsdiskussion und die Maßnahmen dazu wirklich behutsam umsetzen. Lasst uns erst mal erkennen, was die Schritte, die in der letzten Sitzungswoche beschlossen worden sind, für Auswirkungen haben. Ich komme aus der Nähe von Kaiserslautern. Ich habe die menschenarme Stadt letzte Woche öfters gesehen. Ich habe in dieser Woche gesehen, welche Menschenmengen in der Fußgängerzone diese wenigen Maßnahmen schon wieder hervorgebracht haben. Ich habe da ein ungutes Gefühl. Lassen Sie uns doch erst einmal abwarten, was das in den nächsten Wochen bedeutet. Dann können wir darüber reden, in welchen Schritten möglicherweise weitere Gewerbe geöffnet werden können oder auch nicht; darin sind wir uns auch ziemlich einig. ({1}) Ich komme aus Rheinland-Pfalz, das habe ich bereits erwähnt. In Rheinland-Pfalz ist die FDP an der Landesregierung beteiligt; auch deshalb verstehe ich den Antrag der FDP nicht. Die FDP sollte sich meines Erachtens eher darum kümmern, dass die Dinge, die beschlossen worden sind, vernünftig umgesetzt werden; denn in keinem Bundesland ist die Soforthilfe so langsam ausbezahlt worden wie in Rheinland-Pfalz, wo zum Teil auch nach drei Wochen noch keine Bescheide vorliegen. Wer ist zuständig? Der FDP-Mann Wissing. ({2}) Sich einmal um solche Dinge zu kümmern, wäre sinnvoller, als hier Scheinanträge zu stellen, in denen wieder die alten Gassenhauer hervorgebracht werden wie Sonntagsarbeit, Steuersenkung und andere Dinge, die die FDP immer wieder fordert. Da die FDP auch in den Chor der AfD einstimmt und gegen weitere Steuererhöhungen ist, will ich deutlich zum Ausdruck bringen: Jawohl, wir brauchen nach dieser Krise Steuererhöhungen; denn es gibt auch Krisengewinner wie Amazon, und die müssen endlich einmal zur Kasse gebeten werden. ({3}) Diesen Unternehmen zu versprechen, sie brauchten vor uns keine Angst zu haben, das können die FDP und die AfD machen, aber verantwortliche Politik für unser Land sieht anders aus. ({4}) In einigen Branchen besteht noch großer Nachholbedarf; sie sind hier erwähnt worden. Ich will noch etwas zur Kurzarbeit sagen: Die Schritte, die heute Nacht beschlossen worden sind, gehen uns nicht weit genug. Der DGB und auch wir Linke haben viel weiter gehende Vorschläge. Jetzt wieder in ein Klein-Klein zu verfallen und zu fordern, dass die Arbeitsagenturen zu prüfen haben, wer wie lange in 50 Prozent Kurzarbeit gewesen ist, ist eine falsche Vorgehensweise. Man hätte es für alle sofort auf mindestens 80 Prozent anheben sollen. Das war ein falscher Schritt. ({5}) Wir müssen im Prinzip deutlich machen, dass Staatshilfe nur geleistet werden kann, wenn Unternehmen auf Dividenden und Bonusausschüttungen verzichten. Es ist der Grundgedanke sozialer Marktwirtschaft, dass man nur dann solidarisch sein kann, wenn auch die andere Seite solidarisch ist. ({6}) Ich habe mich mit einem Busunternehmer aus meinem Wahlkreis unterhalten. Er hat zu mir gesagt, er habe zwei Busse, mit denen er in diesem Jahr wahrscheinlich kein Geschäft mehr machen wird. Er bezahlt für jeden Bus im Reiseverkehr 4 000 Euro Leasing. Er hat jeden Monat Kosten in Höhe von 8 000 Euro. Die Hilfe, die er bekommt, ist sehr gering. Aber ein Unternehmen wie TUI bekommt Staatshilfe in Milliardenhöhe und lässt seine Flotte unter maltesischer Flagge fliegen. Das empfinden die Menschen in diesem Land zu Recht als ungerecht, und da muss Politik endlich handeln. Vielen Dank. ({7})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Dieter Janecek. ({0})

Dieter Janecek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004312, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Herr Chrupalla, wenn man auf den Topvirologen der AfD – Herr Müller sitzt ja da hinten – gehört hätte, der Covid-19 mit einer leichten Grippe vergleicht, dann hätten wir mittlerweile Hunderttausende Tote in diesem Land und eine zerkrachte Volkswirtschaft. ({0}) Das ist die Wahrheit, die Sie einmal zur Kenntnis nehmen sollten. Gut, dass man in dieser Situation nicht auf Sie hört. ({1}) Jetzt komme ich zum ernstzunehmenden Teil des Parlaments. Ich finde, wir können wirklich stolz sein, was wir gemeinsam in den letzten Wochen erreicht haben. Ich möchte mich explizit bei den Menschen im Land bedanken, die diese Einschränkungen mitgetragen haben, insbesondere auch bei den Familien, die seit Wochen mit ihren Kindern zu Hause ausharren. Es ist nun einmal leichter, wenn man ein Haus mit Garten hat, als wenn man zu fünft in einer Zweizimmerwohnung wohnt. ({2}) Hier ist unser Dank angebracht. Hier müssen wir jetzt auch helfen und wirklich vorankommen; es geht beim Thema Öffnung auch darum, dass wir Lösungen finden für die Menschen. ({3}) Aber wir müssen auch weiterhin vorsichtig sein. Wir sind noch nicht über den Berg; wir sind noch nicht dort, wo wir sein müssen, um konsequenter öffnen zu können. Denn es bringt nichts, wenn wir jetzt schnell öffnen und dann wieder schließen müssen. Ich glaube, das wäre verheerend für die Gesellschaft. Deswegen ist es richtig, jetzt mit Maß und Besonnenheit vorzugehen. ({4}) Gleichzeitig braucht es aber auch Mut, neue Dinge auszuprobieren. Ich sehe diesen Mut zum Beispiel bei Unternehmen in meinem Wahlkreis, die ihre Produktion umstellen. Herr Altmaier, in meinem Wahlkreis gibt es ein Unternehmen, ein Werkzeugmaschinenfabrikant, der Schutzmasken herstellen möchte, und zwar im großen Stil. Er könnte hunderttausend am Tag herstellen, könnte weiter beschäftigen und müsste keine Kurzarbeit anmelden; aber er braucht dann auch Abnahmemärkte und von Ihrer Regierung das Signal, dass endlich gekauft wird, auch lokal und regional. Ich glaube, man hätte früher anfangen können, diese Signale zu senden. ({5}) Die Digitalisierung kommt jetzt auf uns zu. Als Vater von drei Kindern kann ich sagen: Im Homeschooling sind die Eltern engagiert, die Lehrer sind engagiert, die Kinder sind engagiert. Es findet ein Prozess statt; aber auch da muss es jetzt Verbesserungen geben, damit das Lernen auch wirklich bei den Kindern ankommt und auch das Soziale bei den Kindern ankommt. Hier muss jetzt ein Schritt nach vorne gemacht werden. ({6}) Was relevant und wichtig sein wird – in diesem Punkt gebe ich der FDP recht –: Wir brauchen nachvollziehbare Kriterien bei der Öffnung. ({7}) Wir müssen verstehen: Wie ist das Infektionsgeschehen vor Ort? Wie sind die Datengrundlagen? Warum gibt es innerhalb der Europäischen Union unterschiedliche Öffnungsstrategien anhand unterschiedlicher Dateneinschätzungen? Hier müssen wir schnell vorankommen, um zum Beispiel zu wissen, wie das Infektionsgeschehen bei den Kindern wirklich ist. Hier brauchen wir eine Klärung; hier müssen wir vorankommen. Auch beim Thema Corona-App – darüber wurde viel gestritten – brauchen wir Lösungen. Die Lösung kann aber nicht heißen, dass wir den Menschen verpflichtend vorschreiben, dass sie eine App zu nutzen haben. Wir brauchen Standards; wir brauchen aber auch die Möglichkeit, dass die Menschen endlich Lösungen in Anspruch nehmen. Also auch in diesem Bereich wäre es schön, wenn man endlich einmal vorankommt. ({8}) Keine moderne Ökonomie funktioniert ohne die Vereinbarkeit von Beruf und Familie; diese Einsicht kam in der Kommunikation, insbesondere in meinem Bundesland Bayern, sehr spät. Dafür müssen wir jetzt sorgen. Wir können nicht einfach die Geschäfte wieder hochfahren, ohne den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu helfen. Auch hier braucht es Hilfen; hier braucht es das Coronageld für die Eltern. Hier braucht es Betreuungsmöglichkeiten für die Kinder; auch da brauchen wir Entscheidungen. Wir müssen bei den Kulturschaffenden, bei den Selbstständigen jetzt ganz genau hinschauen. Es gibt eine ganze Reihe von Branchen, die werden ohne Hilfe nicht existieren können. Wir brauchen in bestimmten Bereichen sozusagen ein Winterschlafmodell. Hier brauchen wir Hilfen, hier müssen wir ansetzen und gemeinsam handeln. Darum geht es auch in den nächsten Wochen und Monaten. Danke schön. ({9})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Klaus-Peter Willsch. ({0})

Klaus Peter Willsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003264, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Menschen, die uns an den Bildschirmen zuschauen! Herr Theurer, es ist heute viel Vernünftiges diskutiert worden; es gab viel Übereinstimmung. Wir werden den Antrag in den Ausschuss geben und dort weiter beraten. Wir leiden alle miteinander darunter, dass das gesellschaftliche Leben, die wirtschaftliche Aktivität, die Initiativkraft lahmgelegt werden. Wir haben jetzt Ende April. In meinem Wahlkreis stünden jetzt viele Veranstaltungen an: Die Weinfeste im Rheingau, die ersten Kirmessen im Westerwald, die ersten Kerben im Taunus sind abgesagt worden, und es werden viele weitere noch abgesagt werden. Das fehlt mir. Ich möchte Menschen treffen und mit ihnen zusammen sein. Aber wir wissen: Das können wir zurzeit nicht. Ich möchte wieder die leuchtenden Kinderaugen auf dem Karussell sehen und das Jauchzen hören, wenn sie mit der Achterbahn fahren. Aber wir wissen: Das wird jetzt erst einmal nicht gehen. Wir müssen aber gleichwohl darüber sprechen, wie wir Aktivitäten wieder hochfahren, was verantwortbar ist. Bei der Armee haben wir das „Leben in der Lage“ genannt: Jeden Tag neu bewerten, wo wir stehen. Was haben wir erreicht? Wo müssen wir hin? Was müssen wir tun? Für den Fall, dass wir es angesichts der Datenlage und des Seuchenverlaufs für vertretbar halten, zu sagen: „Jawohl, jetzt kann der gastronomische Betrieb in diesem oder jenem Umfang wieder aufgenommen werden“, müssen wir vorbereitet sein. Das ist wichtig jetzt zu tun. Wir müssen jetzt mit den Betroffenen, mit den Verbänden sprechen; denn wir als Gesetzgeber kennen gar nicht die ganze Vielfalt des wirtschaftlichen Lebens im Detail so wie die Branchenvertreter. Deshalb müssen wir mit ihnen jetzt über Szenarien, Möglichkeiten, Betriebsverfahren reden, die – wenn die Seuchenlage es zulässt – wieder Schritt für Schritt in ein normales Leben führen. Wir müssen mit den Betroffenen vereinbaren, was man in welcher Situation vertreten kann. Natürlich sind die Einschränkung der Wirtschaft und der individuellen Freiheit, die in verschiedenen Bereichen geboten sind – das wurde von allen Fraktionen übereinstimmend festgestellt –, begründungsbedürftig. Wir haben eine solche Begründung. Aber wenn die Umstände es zulassen, dass wir Schritt für Schritt wieder öffnen können, dann ist es wichtig, dass die Menschen wieder in die Lage kommen, ihre Dienstleistung zu erbringen, ihre Arbeit zu tun und auch den Dienst am Nächsten zu leisten. Ich glaube, es hat nichts mit Überbietungswettbewerb zu tun, wenn die Debatte hier stattfindet, sondern das ist verantwortliche Vorbereitung auf die Situation und die Möglichkeiten, die Wirtschaft geordnet wieder hochzufahren. Ich bin froh: Wir haben am Mittwoch in unserem Parlamentskreis Mittelstand der Fraktion beschlossen, dass wir uns gerade mit Blick auf das Gastgewerbe verschiedene Maßnahmen wünschen. Eine davon ist die Senkung des Mehrwertsteuersatzes für die Gastronomie, um ihr die Chance zu geben, einen Teil des ausgefallenen Umsatzes aufzuholen. Denn wenn eine Kneipe wieder aufmacht, wird der Gast nicht sagen: Ich esse heute mal zwei Schnitzel, weil ich im letzten Monat eins verpasst habe. – Deshalb müssen wir diese Möglichkeit nutzen, und ich bin froh, dass das gestern Abend vereinbart worden ist. Wann wir uns wieder singend und miteinander feiernd auf einem Weinfest oder auf der Kirmes in den Armen liegen werden, kann ich nicht vorhersagen. Auch ich bin kein Virologe. Ich bin jemand, der das Leben wach beobachtet und mit den Menschen darüber spricht, was geschieht. Wir tun das ja von morgens bis abends; bei mir ist das jedenfalls so: Telefonkonferenzen, Videokonferenzen, Gespräche mit Banken, mit ihren Kreditsachbearbeitern, und mit Unternehmern, die sich beklagen, dass dies oder jenes nicht funktioniert. Und in vielen Fällen können wir helfen. Das ist auch ein ermutigendes Zeichen. Es gibt da positive Rückmeldungen. Lassen Sie uns deshalb gemeinsam daran arbeiten, dass wir diese Krise so menschenverträglich wie möglich bewältigen und den Menschen wieder Raum geben für das, was sie ausmacht: für das Miteinander, das soziale Miteinander und auch das geschäftliche Miteinander. Zum Schluss will ich sagen: Mir fehlt es auch, sonntags in die Kirche zu gehen und mit der Gemeinschaft der Gläubigen Gottesdienst feiern zu können. Ich freue mich, dass die Sachsen schon mal gezeigt haben, wie man da vielleicht vorwärtsgehen kann. Lassen Sie uns, wenn wir das überwunden haben, gemeinsam in die Kirche gehen und „Großer Gott, wir loben dich“ singen! In diesem Sinne: Wir arbeiten für die Menschen und sollten das weiter tun. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({0})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank.- Letzte Rednerin in der Debatte ist für die Fraktion der SPD die Kollegin Dr. Eva Högl. ({0})

Dr. Eva Högl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003896, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, ich will noch mal bekräftigen, dass es richtig, notwendig und wichtig ist, dass wir diese Debatte heute hier führen. Hier gehört die Debatte, wie wir mit dieser Krise umgehen und wie wir als starkes Parlament auch zum Ausdruck bringen, was sinnvoll und notwendig ist und worüber wir auch für die Zukunft nachdenken müssen, hin. Zum Ende unserer Debatte möchte ich ein paar Worte zu den Freiheitsrechten sagen; denn um die Einschränkung der Freiheitsrechte geht es. Wir müssen alle miteinander feststellen, dass wir seit Ende des Zweiten Weltkrieges – darauf wird jetzt zu Recht öfter hingewiesen – und seit Bestehen unseres wunderbaren Grundgesetzes, seit über 70 Jahren, noch nie so eine massive Einschränkung von Freiheitsrechten hatten. Darüber müssen wir uns als Parlament Gedanken machen. Ich will betonen, dass es im Grundgesetz kein Supergrundrecht gibt. Es gibt kein Grundrecht – vielleicht die Menschenwürde, wird gesagt –, das über den anderen steht; aber doch sind Leben und Gesundheit ganz besondere Grundrechte, und die Aufgabe des Staates ist es, diese besonders zu schützen. Gesundheit und Leben zu schützen, ist damit die Aufgabe von uns allen, und zwar nicht nur von uns hier im Parlament und in der Regierung, sondern von allen Bürgerinnen und Bürgern. Der Eingriff in Grundrechte muss immer gerechtfertigt werden; darüber diskutieren wir seit 9 Uhr heute Morgen bzw. seit der Regierungserklärung ganz intensiv miteinander. Was ist eigentlich gerechtfertigt? Es muss geeignet sein, die Gesundheit und das Leben zu schützen, und es muss erforderlich sein. Ich war etwas erstaunt, dass Herr Lindner heute Morgen daran Zweifel geäußert hat. Es muss im Einzelfall verhältnismäßig und damit gerechtfertigt sein. Ich muss ganz klar sagen – das sage ich auch deutlich für die SPD-Bundestagsfraktion –: Alle Regierungen, im Bund und in den Ländern, alle Parlamente, wir hier, aber auch die Landesparlamente, wägen jede einzelne Entscheidung ganz sorgfältig ab, begründen diese Entscheidung und handeln sehr verantwortungsvoll. ({0}) Es ist ganz entscheidend, dass wir das hier auch noch mal betonen: Wir tun uns alle nicht leicht mit diesen Einschränkungen. Ich will einen weiteren Punkt ergänzen. In unserer Gesellschaft erfolgt das transparent, nach nachvollziehbaren Kriterien, mit einer kritischen Öffentlichkeit, mit kritischen Medien, intensiver Berichterstattung und – auch das will ich deutlich machen – mit der Prüfung durch Gerichte, liebe Kolleginnen und Kollegen. Das ist ganz entscheidend. Das Bundesverfassungsgericht hat sich zur Religionsfreiheit und zur Versammlungsfreiheit geäußert, und jüngst hat das auch das Verwaltungsgericht in Nordrhein-Westfalen zu dem Kriterium der Ladengröße von 800 Quadratmetern getan. Es wird gerichtlich überprüft, und wir bekommen dadurch Leitplanken für unsere Entscheidungen. Ich möchte am Schluss noch mal sagen, dass es ganz wichtig ist, dass wir unter Beweis stellen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir mit dieser freiheitlichen Demokratie, mit einem Rechtsstaat, mit freien Medien und kritischer Berichterstattung diese Krise bewältigen können. Darum geht es. Die allerletzte Bemerkung: Es ist für uns auch eine Aufgabe, dabei weniger national, sondern viel mehr international zu denken – mehr Europa, mehr international. Das Virus ist auch international. Deswegen müssen auch wir stärker international denken und an internationalen Lösungen arbeiten. Vielen Dank. ({1})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Damit schließe ich die Aussprache.

Peter Altmaier (Minister:in)

Politiker ID: 11002617

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bedanke mich bei den Fraktionen für die Paralleleinbringung und dafür, dass es möglich ist, heute diesen Gesetzentwurf zu beraten – trotz der aktuellen Umstände –, weil es ein Gesetzentwurf ist, der eine erhebliche grundsatzpolitische Bedeutung hat. Aber es zeigt sich eben auch, dass vieles, was seit Wochen und Monaten vorbereitet wurde, in der Herausforderung der Pandemie eine ganz besondere Bedeutung hat. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um die Frage: Wie gehen wir mit ausländischen Investitionen in Deutschland, mit der Beteiligung an deutschen Unternehmen, mit der Übernahme deutscher Unternehmen um? Das ist eine Frage, die in vielen Ländern dieser Welt gestellt und zum Teil sehr unterschiedlich beantwortet wird. Deutschland hat seit Jahrzehnten mit das freiheitlichste und das liberalste Übernahmerecht auf der ganzen Welt. Darauf sind wir im Übrigen stolz, weil es bedeutet, dass diejenigen, die erfolgreiche Unternehmen gründen, die Möglichkeit haben, sie weiterzuveräußern, damit ein Geschäftsmodell zu etablieren, damit Geld zu verdienen – das ist Ausdruck unternehmerischer Freiheit in der Marktwirtschaft –, und weil das hohe Interesse ausländischer Investoren an Investitionen in Deutschland belegt, wie groß das Vertrauen in unser Land nach wie vor ist. Wir haben in der Tat im letzten Jahr bei mehreren Hundert Übernahmeanträgen, die gestellt und geprüft worden sind, weniger als 1 Prozent moniert oder verhindert. Trotzdem: Der Umstand, dass wir liberal und marktwirtschaftlich sind, bedeutet nicht, dass wir blauäugig sein dürfen, wenn es sich um Risiken und Gefahren für unsere vitalen nationalen wirtschaftlichen, gesundheitlichen und sonstigen Interessen handelt. Wir möchten eben nicht, dass kritische Infrastrukturen in Deutschland – Stromleitungen, Wasserleitungen, Straßen und vieles andere – von Unternehmen übernommen werden, bei denen wir nicht hundertprozentig sicher sind, was sie damit vorhaben und was sie damit machen werden. Wir wollen nicht, dass Unternehmen, die lebenswichtige Güter in Deutschland produzieren, Güter mit einem hohen Innovationsanteil, die für die Wettbewerbs- und Konkurrenzfähigkeit unserer Volkswirtschaft von entscheidender Bedeutung sind, gekauft werden und die Technologie dann womöglich anderswohin transferiert wird. Und wir wollen insbesondere nicht, dass wir in der aktuellen Krise, wenn es um die Entwicklung von Impfstoffen geht, wenn es um die Produktion von Testkits geht, wenn es um die Herstellung von Schutzkleidung geht, nicht mehr imstande sind, unserer nationalen Verantwortung gerecht zu werden. Deshalb brauchen wir Antworten auf all diese Fragen. Diese Antworten müssen wir mit einem hohen Maß an Verantwortungsbewusstsein geben, weil es eine Schwarz-oder-Weiß-Lösung nicht gibt. Wir wollen auch in Zukunft ein liberales Investitionsschutzrecht haben, aber wir novellieren unser Außenwirtschaftsgesetz in Übereinstimmung mit dem, was die Europäische Union unter dem Stichwort „Investment Screening“ bereits vor einigen Monaten ebenfalls beschlossen hat. Wir sind uns einig mit unseren Partnern in Europa, dass wir wissen müssen, was vor sich geht, dass wir die Möglichkeit haben müssen, Übernahmen, die mit unseren eigenen Interessen, europäischen und nationalen Interessen, nicht vereinbar sind, zu verhindern. Wir müssen die Möglichkeit haben, solange die Prüfung andauert, zu verhindern, dass vollendete Tatsachen geschaffen werden. Mit dem jetzigen Gesetz ermöglichen wir eine vorausschauende Prüfung; denn es geht nicht nur um aktuelle Gefährdungen der nationalen Sicherheit, sondern auch um voraussehbare Gefährdungen der nationalen Sicherheit. Es dürfen, während ein solches Verfahren läuft, keine vollendeten Tatsachen geschaffen werden, und es dürfen auch keine sensiblen Informationen an den Übernahmebewerber weitergegeben werden. Zuwiderhandlungen sollen als Ordnungswidrigkeit oder als Straftat geahndet werden. Das, meine Damen und Herren, zeigt: Wir sind nicht nur eine wehrhafte Demokratie, sondern wir sind auch eine wehrhafte soziale Marktwirtschaft. Insofern möchte ich Sie bitten, dass Sie mit dazu beitragen, dass wir unsere Wirtschaft auch und gerade in dieser Krise ermuntern, nicht nur weiterhin zu arbeiten und zu investieren, sondern sich auch weiterhin zu entwickeln und auf den Weltmärkten konkurrenzfähig zu bleiben. Wir müssen der Wirtschaft auch sagen: Wir schützen euch davor, dass ihr Opfer von Übernahmeversuchen werdet, nur weil die Aktienkurse im Moment etwas niedriger sind als sonst. Wir schützen euch, wenn ihr besondere hochtechnologische Skills und besonderes Know-how habt, das von anderen begehrt wird, die gar nicht daran interessiert sind, in diesen Standort zu investieren, sondern nur diese Informationen erlangen möchten. Trotzdem bleiben wir einer freien, globalen Marktwirtschaft verbunden. Trotzdem wollen wir, dass auch in Zukunft alle ausländischen Investoren, die nach Deutschland kommen, um hier ein Teil unseres Erfolgsmodells zu werden, sicher sein können: Sie sind erwünscht, sie dürfen sich hier betätigen. Umgekehrt unterstützen wir auch unsere Unternehmen, die im Ausland investieren. Die Globalisierung ist in der Zeit der Coronaepidemie und ‑pandemie einem Stresstest ohnegleichen ausgesetzt. Wir werden auch in Lektionen lernen müssen. Wir werden Supply Chains, Versorgungs- und Logistikketten, diversifizieren müssen, damit wir nicht nur von einem einzigen Standort abhängig sind. Wir werden überlegen müssen, welche Dinge wir national auch in Zukunft vorhalten müssen, damit wir schneller reagieren können. Aber es wird kein Zurück hinter die Globalisierung der letzten 20 oder 30 Jahre geben, weil sie Teil unseres offenen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells geworden ist und weil sie dazu beigetragen hat, dass wir den Menschen ermöglicht haben, mit ihrer Arbeit möglichst viel an Wohlstand zu erwerben. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion der AfD der Kollege Hansjörg Müller. ({0})

Hansjörg Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004831, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Schön, wie die Grünen lernen. ({0}) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Bürger an den Bildschirmen! Der Gesetzentwurf der Regierung zur Änderung von Außenwirtschaftsgesetz und Satellitendatensicherheitsgesetz geht in die richtige Richtung, lieber Herr Minister, und das aus zwei Gründen. Erster Grund: Die Weltwirtschaft wird von Staaten und privaten Organisationen bedroht, die beide nach absoluter Marktmacht streben. Ein Beispiel für so einen Staat ist die Volksrepublik China, die Technologiefirmen weltweit aufkauft, und ein Beispiel für eine solche private Organisation ist die Bill & Melinda Gates Stiftung, welche die Weltgesundheitsorganisation unterwandert hat, um die Menschheit mit monopolisierten Zwangsimpfungen zu beglücken. ({1}) – Gucken Sie sich doch mal die Finanzierungsbeiträge an! Lesen Sie nicht immer nur die Medienpresse, sondern auch mal die alternativen Medien! – ({2}) Deswegen müssen diese globalen Monopole gestoppt werden, damit sie nicht weiter die Marktwirtschaft in Deutschland aushebeln können. ({3}) Der zweite Grund, lieber Herr Minister, ist – das ist auch ein guter Ansatz im Entwurf Ihres Ministeriums –, dass Organisationen, seien sie staatlich oder privat, die sich so verhalten, nur zu beeindrucken sind, wenn man auch eigene Gegenmittel aufbaut. Auch das ist richtig, weil faktisch die Außenwirtschaftspolitik ganz einfach nach dem Prinzip funktioniert: Wer uns unter Druck setzen will, den müssen wir auch unter Druck setzen können. – Wer diese Realität ignoriert, der sollte bitte die chinesische Wirtschaftsstrategie oder Edward Snowden lesen. ({4}) Insofern geht das zwar in die richtige Richtung, kritische ausländische Investitionen kontrollieren zu können, um Abflüsse von Informationen und Technologie aus Deutschland zu verhindern; aber, lieber Herr Minister – bitte geben Sie das auch an Ihre Referenten weiter –, Ihr Entwurf greift leider viel zu kurz, weil dort nicht beachtet wird, von wem die deutschen Unternehmen mit sinnloser Bürokratie zu Tode stranguliert werden. Das passiert alles aus Brüssel über die ganze Flut an Verordnungen und Regulierungen. ({5}) Und deswegen wäre es konsequent, diese EU endlich auf den Müllhaufen der Wirtschaftsgeschichte zu werfen, um dann über eine erneuerte EWG, über eine erneuerte Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, wirtschaftssouverän zu handeln. Und Sie sind auf dem Weg zu Wirtschaftssouveränität diesen Schritt noch nicht gegangen. Ich möchte noch eine Frage stellen: Warum richten sich denn die Investitionsprüfungen nur gegen EU-fremde Investoren? Meiner Meinung nach ist es aus wirtschaftlicher Sicht völlig egal, ob es ein Investor aus Frankreich oder Italien ist, der sich eine deutsche Technologiefirma unter den Nagel reißen will, weil das für die Schwächung unserer Wettbewerbsposition auf dem Weltmarkt genauso schädlich ist, wie wenn das Investoren aus China, den USA oder aus Timbuktu machen. Da gibt es keinen Unterschied. ({6}) Deswegen, liebe Bundesregierung: Erkennen Sie die Zeichen der Zeit! Über den Corona-Shutdown sind die Lieferketten – das wissen wir alle – zu verletzlich gewesen. Die bisherige Globalisierung ist gescheitert. Es wächst ein neues weltweites Wirtschaftssystem heran, das aus nationalen souveränen Wirtschaftsräumen besteht. ({7}) Und weil Sie jetzt wissen, von was ich rede, sage ich es auch noch dazu: Germany first, Deutschland zuerst. Unter dieser Prämisse überarbeiten Sie bitte Ihren Gesetzentwurf. ({8}) Noch ganz kurz zum Grünenantrag. Weil meine Redezeit zu Ende ist, kann ich nur konstatieren: Mehr ist zu diesem Schwachsinn nicht zu sagen, lieber Virologe Dieter Janecek. ({9}) Ich bedanke mich. ({10})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist für die Fraktion der SPD der Kollege Markus Töns. ({0})

Markus Töns (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004921, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das ist schon peinlich, Herr Müller. ({0}) Das muss man sich mal vorstellen: Da ist die Aluhutfraktion, die seit zwei Jahren hier sitzt und irgendwelche Geschichten zu Verschwörungstheorien erzählt. Und jetzt kommt eine Krise, in der Sie auf nichts eine Antwort haben – keine Ahnung vom Weltwirtschaftssystem und keine Ahnung davon, wie Europa funktioniert –, ({1}) und dann wollen Sie uns hier erzählen, wer denn alles Verschwörungstheoretiker ist. Es ist wirklich albern. Aber machen Sie ruhig so weiter! Es wird Sie keiner ernst nehmen. Das ist nämlich vollkommen irre, was Sie hier erzählen. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sehen zunehmend ein wachsendes Interesse ausländischer Investoren im Sicherheitsbereich. Ein Beispiel ist der versuchte Einstieg des chinesischen Staatskonzerns beispielsweise in das Stromnetz der Bundesrepublik Deutschland gewesen. Durch die Coronakrise verschärft sich dieser Trend jetzt auch noch. Aktienkurse in Europa sind auf Talfahrt. Die Technologie im Sicherheitsbereich war selten so günstig zu haben wie im Moment. Das ist deutlich zu spüren. Das ist eine Gelegenheit für Schnäppchentouren aus Sicht mancher Investoren. Das werden wir verhindern, und das müssen wir verhindern. ({3}) Es geht hier – das will ich ganz deutlich sagen – nicht um Protektionismus. Es geht um die Stärkung der Sicherheit, um die Stärkung der technologischen Souveränität. Das sind die ganz entscheidenden Punkte. Deshalb ändern wir das Außenwirtschaftsgesetz. ({4}) Die Frage ist: Was machen wir da genau? Erstens. Wir verschärfen die Investitionskontrolle. Bisheriges Kriterium war die tatsächliche Gefährdung der öffentlichen Ordnung. Künftig wird es eine voraussichtliche Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung sein. Dadurch gibt es eine vorausschauende Prüfung. Das ist aus meiner Sicht der richtige Ansatz. Zweitens. Wir haben die Bedeutung der Krise wahrgenommen. Was heißt „vorausschauende Prüfung“? Beispiel Beatmungsgeräte: Wir wissen alle, dass im Moment ein erheblicher Druck auf dem Markt ist, an Beatmungsgeräte zu kommen. Jetzt ist es klar, dass sie zur öffentlichen Sicherheit und Ordnung gehören. Die Krise zeigt: Gesundheit ist Teil unserer Sicherheit. Der Staat muss hier sehr genau prüfen, wo er Investitionen zulässt und wo nicht. Das ist ein ganz entscheidender Punkt. ({5}) Drittens. Wir sind für eine konsequente Umsetzung dieses Außenwirtschaftsgesetzes. Der Prüfmechanismus ist sinnlos, wenn er umgangen werden kann. Wir haben das selber im letzten Jahr häufig diskutiert, auch im Wirtschaftsausschuss. Die Umgehung ist möglich, wenn man das Geschäft vor Ende der Prüfung abschließt. Das ändern wir jetzt. Dadurch würde nämlich eine Prüfung ad absurdum geführt. Das heißt, wir schließen diese Rechtslücke. Es gibt wieder das Primat der Politik und erst eine Prüfung. Und nur dann, wenn die Prüfung abgeschlossen wird, wird auch diese Investition wirksam. Ich halte das für richtig und zwingend notwendig. ({6}) Viertens – da können die Aluthutträger hier wieder eine Menge lernen –: Die europäische Kooperation ist hier gefragt. Sicherheit und technologische Souveränität ist nur europäisch möglich. Deshalb braucht es eine bessere Abstimmung mit den EU-Partnern, deshalb braucht es eine Prüfung mit Blick auf die Sicherheit anderer EU-Partnerländer. Das ist wichtig und richtig. Wer würde denn heute bezweifeln, dass ein IT-Konzern in Italien oder ein Netzbetreiber in Belgien nicht auch wichtig für die Sicherheit in Deutschland ist? ({7}) Wer das abstreitet, hat den gemeinsamen Markt der Europäischen Union, den Binnenmarkt, überhaupt nicht verstanden. ({8}) Wobei ich fest davon überzeugt bin, dass Sie ihn wirklich nicht verstanden haben. Ich komme zum Schluss, meine Damen und Herren. Die Änderung des Außenwirtschaftsgesetzes ist ein wichtiger und richtiger Schritt. Er steht erstens für weitsichtige Prüfung, zweitens für das Primat der Politik und drittens für europäische Zusammenarbeit. Ich halte das für den richtigen Schritt. Herzlichen Dank. ({9})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der FDP der Kollege Reinhard Houben. ({0})

Reinhard Houben (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004763, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erlauben Sie mir eine persönliche Bemerkung: Ich möchte mich mal bei den Saaldienerinnen und Saaldienern hier dafür bedanken, ({0}) dass sie den Betrieb in Gang halten und es möglich machen, dass wir hier diskutieren können. ({1}) Und, Herr Müller, dass Sie in dem Moment nicht so breitbeinig auftreten können, wenn Sie die 1,5 Meter Abstand halten müssen, ist wirklich super. ({2}) – Nein, ich meine hier vorne. Sie wissen genau, worum es geht. ({3}) Ich habe den Eindruck: Wie Geier kreisen böse Investoren aus China und den USA über der deutschen Wirtschaft und warten nur darauf, sich auf die durch Corona geschwächten Opfer zu stürzen. Peter Altmaier, der weiße Ritter, ist jedoch da und spannt den Schutzschirm auf. Die Wahrheit jedoch ist, dass die deutschen Unternehmen gar keine Angst vor ausländischen Investoren haben. Auch die chinesische Wirtschaft hat Probleme. Auch die amerikanischen Hedgefonds sind nicht so reich, dass sie im Moment Unmengen investieren können. Und vielleicht weil es den Chinesen selbst nicht so gut geht, haben sie vor einigen Tagen angekündigt, die viel kritisierte Negativliste zu kürzen und die Hürden für ausländische Investoren zu senken. Die großen deutschen Wirtschaftsverbände lehnen Ihren Gesetzentwurf ab. Sie sagen – meiner Meinung nach völlig zu Recht –, die bisherigen Möglichkeiten reichen vollkommen aus. Und ausgerechnet in der schlimmsten Rezession seit Jahrzehnten segelt die Koalition einen Kurs gegen die Wirtschaft, und die Union macht fleißig mit. Die Vorbilder Frankreich und Italien, Herr Altmaier, sind meiner Meinung nach keine Erfolgsmodelle. ({4}) Gleichzeit erzählen Sie der Öffentlichkeit, dass solche Eingriffe der Volkswirtschaft und den Unternehmen jeweils helfen würden. Aber genau das ist nicht der Fall. Denn Direktinvestitionen schaden unserem Land nicht. Sie schaffen neue Arbeitsplätze. Sie bringen Kapital. Sie bringen Know-how und wertvolle Geschäftsbeziehungen. ({5}) Und, Herr Altmaier, warum – und das wäre wirklich sinnvoll – sollten Sie China direkt konfrontieren? Setzen Sie doch die chinesische Führung unter Druck und sagen: „Die Regelungen, die ihr bisher anbietet, reichen nicht aus; wir müssen darüber verhandeln“! Uns hier abzuschotten, wird uns in der Diskussion nicht helfen. Diese Bunkermentalität, Herr Altmaier, zeigt, dass Sie sich doch peu à peu von der Marktwirtschaft verabschieden. Das gilt natürlich auch für die grünen Freunde von staatsmonopolistischen Kapitalideen, die wir noch aus den 60er- und 70er-Jahren kennen. ({6}) Zahllose deutsche Unternehmen kämpfen gerade ums Überleben. Belasten Sie sie nicht mit ideologischen oder marktfremden Gesetzen! Denn diese erhalten weder Arbeitsplätze, noch schaffen sie Wohlstand. Vielen Dank. ({7})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist für die Fraktion Die Linke der Kollege Klaus Ernst. ({0})

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Thema ist gut beschrieben, Herr Altmaier. Genau darum geht es: Unternehmen werden in der Krise billiger. Aktienkurse sinken. Auch Mittelständler werden billiger, weil sie die Absatzmärkte verloren haben usw. Die Frage ist also richtig gestellt: Wie können wir das verhindern? Ihr Gesetz geht in die richtige Richtung. ({0}) Sie wollen erreichen, dass die Bundesrepublik Deutschland eingreifen kann, wenn Investitionen getätigt werden, die sozusagen gegen das Interesse der Bundesrepublik gerichtet sind. Herr Houben, jetzt will ich Ihnen doch mal was sagen: Sie haben vom „weißen Ritter“ Altmaier gesprochen. ({1}) Ich kann Ihnen sagen: Der weiße Ritter Altmaier wäre mir lieber als ein Raubritter unter Houbens Schutz, um das mal deutlich zu sagen. ({2}) Herr Altmaier, ich muss Ihnen sagen: Bisher haben Sie die Möglichkeiten, die Sie hatten, nicht richtig ausgenutzt. Ich erinnere an das Beispiel Coriant. Sie kennen dieses Unternehmen. Es war ein Unternehmen, das systemrelevante Kommunikationstechnik hergestellt hat. Es bedurfte einer parlamentarischen Initiative, damit Ihr Haus in diesem Fall überhaupt tätig geworden ist. Und bis man dann gesagt hat: „Hoppla, das ist schwierig“, war das Ding verkauft, und die Arbeitsplätze waren weg. Die Arbeitsplätze waren im Ausland, und zwar in Thailand. So richtig sind Sie Ihrer Aufgabe da nicht gerecht geworden. Deshalb hoffe ich, dass mit diesem Gesetz ein bisschen mehr Engagement in Ihrem Hause einhergeht, damit auch was dabei rauskommt. ({3}) Meine Damen und Herren, deshalb ein paar Fragen: Zum Ersten. Was ist nun zum Beispiel mit den Herstellern von medizinischer Schutzausrüstung und Medikamenten? Sie schreiben ja in dem Gesetzentwurf, Sie wollen die Möglichkeiten der Kontrolle erweitern. Bisher muss die „Sicherheit und Ordnung“ als gefährdet angesehen werden, damit Sie eingreifen. Geändert wurde dies in eine „voraussichtliche Beeinträchtigung“ durch eine Investition. Sie wollen also erleichtern, dass Sie eingreifen können. Sind Sie nicht der Meinung, dass auch Ihr Katalog erweitert werden müsste, Sie die Möglichkeit haben müssten, dass Sie in dem Bereich medizinisch notwendiger Güter eingreifen? Zum Zweiten. Wir haben ja auch Hedgefonds. Die greifen auch in die Wirtschaft ein, weil viele Unternehmen zurzeit so billig sind. Und, Herr Houben, Sie haben gesagt, die Fonds schaffen Arbeitsplätze. Sie wissen, was die tun. Die kaufen ein Unternehmen auf, filetieren das Unternehmen und verkaufen die einzelnen Teile, die sie dann bilden, gewinnbringend. Übrigens sind das hinterher bei Weitem weniger Arbeitsplätze. Herr Houben, tun Sie doch nicht so weltfremd! Sie wissen das. ({4}) Wenn Sie die schützen wollen, dann sagen Sie es offen. Es geht auch um die Arbeitsplätze. Die Frage, die sich stellt – sie richtet sich an Sie, Herr Altmaier –, ist, welche Bereiche Sie denn tatsächlich kontrollieren und gegebenenfalls auch schützen wollen. Wollen Sie Unternehmen in Deutschland auch aus Gründen der Arbeitsplatzsicherheit in den entsprechenden Katalog, der ja nun auf das Gesetz folgen und in die Verordnung einfließen muss, aufnehmen? Die Arbeitnehmer hierzulande wären sonst zweimal betroffen: erstens durch die Krise, zweitens dadurch, dass ihnen die Unternehmen unterm Hintern weggekauft werden und sie letztendlich ihren Job verlieren. Beides wollen wir verhindern, und da werden wir auf Sie aufpassen, Herr Altmaier. ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächste spricht dann für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Katharina Dröge. ({0})

Katharina Dröge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004263, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es erstaunt mich immer wieder, dass es Vertretern der AfD immer noch gelingt, mich damit zu überraschen, was für sinnfreie Behauptungen man hier am Rednerpult aufstellen kann. ({0}) Damit meine ich nicht den Kollegen Müller, bei dem ich es eher betrüblich finde, in was für Parallelwelten er abgeglitten ist, sondern ich meine Sie, Herr Gauland. Sie haben heute Morgen in der Aussprache zur Regierungserklärung den Satz gesagt, dass der Staat bei der Pandemiebekämpfung eigentlich „weitgehend überflüssig“ sei. Und ich frage mich ernsthaft, wie man angesichts dieser Lage zu so einer Aussage kommen kann. ({1}) Wir werden noch viel über Folgen dieser Krise diskutieren müssen; aber eins ist doch jetzt schon klar: dass ein funktionierender Sozial- und Rechtsstaat enorm wichtig ist für die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land, für den Gesundheitsschutz, aber auch für das Funktionieren der Wirtschaft in diesem Land. ({2}) Denn ohne die Zuschüsse, ohne die Notkredite, die wir gerade gewähren, würden verdammt viele Unternehmen in diesem Lande am Ende dieser Krise nicht mehr da sein. Natürlich sind wir auf die Solidarität der Menschen in diesem Land angewiesen. Natürlich sind wir auf die Eigeninitiative auch der Unternehmen in diesem Land angewiesen – das stellt hier keiner in Abrede; dafür sind viele hier in diesem Raum auch dankbar –; aber diese Eigeninitiative gegen verantwortliches staatliches Handeln auszuspielen, das kann man in dieser Krise wirklich nur machen, wenn man ein absolut perfides politisches Geschäftsmodell des Spaltens und Gegeneinanderausspielens vertritt. ({3}) Mit dem Außenwirtschaftsgesetz erweitern wir den Handlungsspielraum des Staates nun noch einmal – Herr Altmaier hat es dargestellt –, zum Schutz von kritischer Infrastruktur, zum Schutz von wichtigen Schlüsselunternehmen in diesem Land. Und wir als Opposition tun jetzt etwas Ungewöhnliches: Wir schlagen vor, Ihren Handlungsspielraum sogar noch über das hinaus zu erweitern, was Sie selber sich wünschen. Wir sagen Ihnen: Befristet für die Krise sollen Sie als Regierung die Möglichkeit haben, grundsätzlich zu prüfen, ob Schlüsseltechnologien jetzt vor Übernahmen geschützt werden müssen. Denn wir wissen in dieser Krise noch lange nicht, welche Unternehmen, welche Lieferketten bei der Krisenbekämpfung gerade relevant sind. Deswegen sollen Sie, befristet für diese Krise, einen deutlich größeren Entscheidungsspielraum haben. Herr Houben, dabei geht es ein Stück weit jetzt auch um Vertrauen in die Politik. Wir sollten das Gegeneinanderausspielen beenden und nicht sagen: Der Staat ist immer so schwierig und prüft und bremst usw. – Wir haben gerade in der Krise gemeinsam Handlungsfähigkeit bewiesen, auch Schnelligkeit bewiesen. Und wir sollten jetzt im Zusammenhang mit dieser Prüfung einfach das Vertrauen der Unternehmen im Land voraussetzen, dass wir hier verantwortungsvoll handeln, dass wir hier sinnvoll handeln. Das kann man auch als Politiker der FDP in dieser Krise einmal aussprechen. ({4}) Wir sind sogar noch einen Schritt weitergegangen: Wir haben mit dem Wirtschaftsstabilisierungsfonds die Möglichkeit geschaffen, Unternehmen direkt über Staatsbeteiligungen zu retten. Auch da sagen wir: In der Krise ist das richtig. – Aber die Gesellschaft erwartet zu Recht dann auch Solidarität auf der anderen Seite. Deswegen ist es richtig, zu verlangen, dass Bonuszahlungen an Manager und auch Dividendenausschüttungen jetzt in der Krise nicht möglich sind. Ich würde noch einen Schritt weitergehen – da fordere ich Sie auch zum Handeln auf –: Unternehmen, die sich bislang nicht an der Finanzierung des Gemeinwohls beteiligt haben, die zum Zwecke der aggressiven Steuervermeidung in Steueroasen registriert sind, können jetzt keinen Anspruch auf staatliche Unterstützung erwarten. Das müssen Sie klarstellen. ({5}) Für die meisten Unternehmen in diesem Land ist die Beteiligung an der Finanzierung des Gemeinwohls selbstverständlich. Deswegen möchte ich meine Rede auch mit einem Dank an diese Unternehmen abschließen. Ganz viele Unternehmen haben eine beeindruckende Eigeninitiative, eine beeindruckende Leistung der Solidarität, des Spendens an den Tag gelegt. Sie haben zum Ausdruck gebracht: Wir wollen helfen; wir können Teil der Bekämpfung der Krise sein. – Ohne diese Innovationsfähigkeit stünden wir heute schlechter da. Deswegen gehört das zusammen: vernünftiges staatliches Handeln und großartiges unternehmerisches Engagement. ({6})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist dann für die CDU/CSU der Kollege Andreas Lämmel. ({0})

Andreas G. Lämmel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003796, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn man hier so manche Wortmeldung hört, dann muss man den Eindruck gewinnen: Ausländische Investoren sind Verbrecher. Sie sind, Herr Ernst, eigentlich nur unterwegs, um deutsche Firmen aufzukaufen, sie auszuschlachten, Arbeitsplätze zu vernichten und Geld ins Ausland zu schaffen. ({0}) – Na ja, die rechte und die linke Seite haben da die gleiche Einstellung zu ausländischen Investoren. Meine Damen und Herren, das ist natürlich eine völlige Fehleinschätzung; denn die Übernahme von Firmen oder Firmenanteilen gehört zum internationalen Geschäft. Auch deutsche Unternehmen investieren enorme Summen im Ausland, sie übernehmen Firmenteile oder ganze Firmen. Wir haben ja zuletzt große Übernahmen erlebt, zum Beispiel durch Bayer in den USA. Selbst Infineon hat noch mitten in der Coronakrise in Amerika ein Unternehmen komplett übernommen. Insofern ist die Investition in Unternehmen oder Unternehmensteile doch ein wirtschaftlicher Vorgang, den wir eigentlich alle wollen. Darauf, dass Deutschland ein interessanter Markt für ausländische Investoren ist, können wir doch auch stolz sein. Denn ein Investor kauft keinen Schrott, sondern er guckt sich um, wo er gute Investments findet. ({1}) Das ist erst mal die Situation, und eigentlich hat das Thema bisher nie eine große Rolle gespielt. Dann kam es plötzlich dazu, dass auch chinesische Unternehmen wirtschaftlich in der Lage waren, sich auf dem deutschen Markt umzuschauen, und sie haben einige Firmen in Deutschland gekauft. Das hat auch hier im Deutschen Bundestag einige Diskussionen ausgelöst, und wir haben eine Debatte darüber geführt, wie man sich vor dem Abfluss von Technologien in Richtung Asien schützen kann. Das Gleiche gilt aber auch in Richtung der USA. Insofern gab es dann sehr große Zustimmung, als die Europäische Kommission gesagt hat: Wir brauchen jetzt nicht nationale Gesetze – es soll nicht so sein, dass jeder in Europa ein eigenes Schutzgesetz macht –, sondern wir wollen versuchen, hier eine europäische Regelung zu finden. – Das Ergebnis ist die Screening-Verordnung der Europäischen Union. Wir sind erst mal froh, dass damit ein Standard in Europa geschaffen worden ist. ({2}) Bestandteil des Gesetzes, das heute in den Deutschen Bundestag eingebracht wird, ist die Eins-zu-eins-Umsetzung dieser EU-Screening-Verordnung. ({3}) Wir würden uns ja bei so mancher Verordnung wünschen, dass sie wirklich eins zu eins umgesetzt wird. Herr Minister, hier sind wir auf einem guten Weg. – Das erst mal zum ersten Teil des Gesetzes. Zum zweiten Teil des Gesetzes. Ich glaube schon, dass wir in den letzten Jahren gelernt haben, dass wir Instrumente brauchen, um die deutsche Wirtschaft, um Deutschland insgesamt vor Übernahmen aus dem Ausland zu schützen, die uns nicht gefallen. Aber, meine Damen und Herren, das kann kein Schutzschild insgesamt sein. Jetzt komme ich mal zu den Gesetzespassagen, die wir bestimmt noch mal diskutieren müssen. Da sind zum einen die Regelungen zum schwebenden Verfahren. Wir kennen es eigentlich schon – das ist kein neuer Umstand – aus dem Bereich der Rüstungsinvestitionen, dass Verfahren bis zum Abschluss schwebend unwirksam sind. Aber wir brauchen hier natürlich eine Begrenzung der Prüfzeiten. Jeder Investor braucht Klarheit darüber, wie lange das Bundeswirtschaftsministerium den Antrag prüfen kann. Letztendlich muss er zu einem bestimmten Zeitpunkt Klarheit darüber erlangen, ob eine Übernahme oder ein Kauf von Unternehmensanteilen möglich ist. Hier müssen wir natürlich im Anschluss an die Änderung des Gesetzes sofort an die Änderung der Außenwirtschaftsverordnung gehen, weil dies darüber zu regeln ist. Die Begrenzung der Prüfzeiten ist für die deutsche Wirtschaft enorm wichtig, aber auch für die Investoren; denn sie müssen wissen, bis wann ihr Antrag überhaupt genehmigt werden kann. Zum anderen stellt sich die Frage, ob man bei Übernahme eines Anteils von 10 Prozent an der Firma schon in ein Prüfverfahren gehen muss. Ich denke hier vor allen Dingen an die Start-up-Szene in Deutschland, die ja nach Investoren sucht. Die Start-ups brauchen oftmals Investoren, die ihnen weitere Wachstumsmöglichkeiten verschaffen. Deshalb bin ich mir nicht hundertprozentig sicher, ob die 10-Prozent-Grenze, die im Moment im Entwurf steht, wirklich der Weisheit letzter Schluss ist. Aber um das zu klären, haben wir ja das parlamentarische Verfahren. Liebe Kollegen von der FDP – noch ein letzter Satz –, in Ihrem Antrag fordern Sie den Bundeswirtschaftsminister auf, vom vorliegenden Gesetzentwurf Abstand zu nehmen. Er wurde aber heute eingebracht, und Sie wissen ganz genau: Der Bundestag ist letztendlich der Gesetzgeber. Ich freue mich auf die parlamentarische Diskussion. Wir werden über alle Fragen gemeinschaftlich diskutieren ({4}) und dann einen entsprechenden Beschluss fassen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Letzte Rednerin in der Debatte ist für die Fraktion der SPD die Kollegin Daniela De Ridder. ({0})

Dr. Daniela De Ridder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004386, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erst wenige Wochen – da waren wir aber schon mitten in der Krise – ist es her, dass der US-amerikanische Präsident Donald Trump, ganz in seinem gewohnten national-egoistischen „America First“-Modus, versucht hat, sich exklusiv die Forschungsergebnisse zu Impfstoffen zu sichern, die bei dem Tübinger Unternehmen CureVac in Kooperation, lieber Herr Houben, mit dem Paul-Ehrlich-Institut entwickelt werden, im Übrigen auch mit deutschen Steuermitteln. Sie wissen, dass das in der Tat verhindert werden konnte. – Paul-Ehrlich-Institut – das sollten sich alle merken –, das sind diejenigen, die uns jetzt hoffen lassen, dass in Bälde ein Impfstoff entwickelt werden kann, der uns schützt. Herr Houben, Trumps gescheiterter Übernahmeversuch beweist doch ganz paradigmatisch – da stimmen Sie mir hoffentlich zu –, dass Populisten – wir haben hier auch einige sitzen – völlig unfähig sind, in der Krise adäquate Lösungen zu finden. ({0}) Der Vorgang wirft zugleich ein Licht auf die Relevanz unserer eigenen kritischen Infrastrukturen, die wir mit unseren Fähigkeiten und unserer Expertise schützen müssen. Mir als Außenpolitikerin ist es wichtig, dass das, worüber wir heute debattieren und entscheiden werden, zu einem EU-Stärkungsgesetz führt. Wir setzen nicht nur EU-Richtlinien in nationale Regelungen um, nein, wir haben auch im Blick, wie wir innerhalb der EU-Mitgliedstaaten Investitionsprüfverfahren berücksichtigen können. Dieser Aspekt hat einen zentralen Stellenwert in der vorliegenden Novelle.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Frau De Ridder, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Daniela De Ridder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004386, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, im Moment nicht. Ich habe eh nur drei Minuten Redezeit. ({0}) Aber ich diskutiere darüber gerne an anderer Stelle weiter. Vielen Dank. Es geht auch um einen EU-weiten Kooperationsmechanismus. Wir brauchen in der Krise – das erweist sich einmal mehr – einen multilateralen Ansatz. Das ist ganz wichtig. Ja, Herr Houben, wir wollen keine feindlichen Übernahmen, wir wollen aber auch keine arglosen. Es ist doch das Gebot der Stunde, in der Krise den Schutz der öffentlichen Ordnung herzustellen und zu erhalten, auch im Rahmen der EU-Mitgliedstaaten. Die vorliegende Novelle ist ein Signal an unsere Wirtschaft – das ist überhaupt nicht zu bestreiten –; aber sie ist auch ein Signal an die Beschäftigten. Lassen Sie mich deshalb – sicher auch in Ihrem Sinne – allen draußen vor den Fernsehgeräten, die möglicherweise nicht so privilegiert mit Abstandsregelungen arbeiten können wie wir, sagen: Vielen Dank! Sie alle, die in diesem Zusammenhang Normalität herstellen, sind systemrelevant. Vielen Dank, dass Sie durchhalten! ({1}) Nein, Herr Houben, Isolationismus ist nicht unsere Sache, und wir setzen den Außenhandel in keiner Weise aus. Vielmehr geht es darum, ihn stärker zu kontrollieren. Dass das notwendig ist, macht das von mir genannte Beispiel Trump doch überaus deutlich. Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Lassen Sie mich noch sagen: Es wird eine Postcoronaepoche geben; aber es wird mit Sicherheit auch die nächste Krise geben, und auf die müssen wir besser vorbereitet sein. Dazu dient die Novelle. Auch das ist ein wichtiges Signal. Allen, die jetzt beklagen, dies sei nur die Stunde der Regierung oder des Herrn Altmaier, Herr Houben, will ich sagen: Es ist auch die Stunde des Parlamentes. Geben Sie von der FDP sich einen Ruck. Sie können dem Gesetzentwurf zustimmen. Dann machen auch Sie deutlich: Das ist auch die Stunde der Parlamente. Vielen Dank. ({2})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.

Dr. Franziska Brantner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004255, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Alle Europäer sind in einer außergewöhnlichen Lage, und es ist in unserem ureigenen Interesse, dass alle Mitgliedstaaten alle Anstrengungen unternehmen können, um ihre Gesundheitssysteme zu finanzieren, ihre Gesellschaft und Wirtschaft zu stabilisieren und wieder anzukurbeln. ({0}) Ansonsten wird der Binnenmarkt darniederliegen. Und wem sollen wir dann unsere Autos, unsere Maschinen verkaufen? Der vor uns liegenden Herausforderung begegnen wir am besten, wenn wir uns als Europäische Union einmalig gemeinsam Geld leihen, es gemeinsam ausgeben, um die Pandemie zu bekämpfen, und gemeinsam zurückzahlen. ({1}) Wir brauchen für den Recovery Fund eine finanzielle Größenordnung, die der tatsächlichen Herausforderung entspricht. Es wird schwierig sein, dies allein über größere Beiträge zum EU-Haushalt zu erreichen, wie Frau Merkel das heute Morgen vorgeschlagen hat. Wer soll denn die höheren nationalen Beiträge in dieser Krise ohne Schulden finanzieren? Es macht doch mehr Sinn, dass sich die EU als solche verschuldet, und das bedeutet übrigens keine gesamtschuldnerische Haftung. Außerdem müssen die Gelder im Rahmen von EU-Programmen ausgegeben werden, nicht als Kredite. Das ist auch keine rechtliche Frage. Artikel 122 AEUV sieht für Notsituationen solidarische Sondermaßnahmen vor. Wenn es so läuft, wie Sie von der Bundesregierung das wollen, dann verlagern Sie de facto die Verantwortung auf die Europäische Zentralbank. Deren Ankäufe bedeuten doch de facto eine Gemeinschaftshaftung, nur dass Sie dort keine politischen Regeln und Bedingungen dafür schaffen können, für was und wie die Gelder ausgegeben werden. Machen Sie sich endlich ehrlich. Sie können nicht beides haben: eine begrenzte, unabhängige Geldpolitik der Europäischen Zentralbank und eine Verweigerung echter europäischer fiskalischer Antworten. Das geht nicht. ({2}) Wir als Deutsche profitieren am meisten von Europa und sind jetzt mit den Holländern gegen gemeinsame Anleihen. Sind die anderen eigentlich alle doof? Wollen die Franzosen unseren Untergang? Das kommt doch Verschwörungstheorien sehr gleich. ({3}) – Nein, sie wollen nicht unser Geld; sie zahlen selber mit rein. Die Italiener sind Nettozahler im Haushalt, die Franzosen genauso. ({4}) Hören Sie doch auf, so zu tun, als ob es nur um unser Geld ginge. Es geht darum, dass wir gemeinsam gut durch diese Krise kommen. ({5}) Zum Glück haben uns die Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg die Hand gereicht. Dabei hatten wir die schlimmsten Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen und Millionen Menschen das Leben geraubt. In der Coronakrise haben die Italiener nur das verdammte Pech gehabt, als Erste in die Krise zu geraten. Dadurch haben Sie uns einen Lernvorsprung ermöglicht. Seien Sie nicht so engstirnig. ({6}) Natürlich braucht es bei diesem Fonds Regeln. Er muss den Green Deal integrieren und den sozialen Zusammenhalt stärken. Jeder Aufbaufonds und jeder zukünftige Haushalt der EU muss außerdem an Rechtsstaatlichkeit und Demokratie geknüpft sein. Ihnen von der Union sage ich: Es ist unverantwortlich und beschämend, dass Herr Orban immer noch Teil Ihrer Parteienfamilie ist und dass Sie als CDU und CSU da keine klaren Worte finden. ({7}) Bekennen Sie hier endlich Farbe! Wir müssen uns doch jetzt darauf besinnen, wo wir am Ende der Krise als Europäer stehen wollen. Bricht die EU auseinander, oder investieren wir in einen neuen Aufschwung für eine nachhaltige, krisenfeste Wirtschaft? Riskieren wir chinesische Einkaufstouren, oder sichern wir unsere Unternehmen? Bleiben wir bei wichtigen Produkten auf andere angewiesen, oder schützen wir uns selbst? Wir Deutsche haben jetzt eine große Verantwortung, eine besondere Verantwortung mit der anstehenden Ratspräsidentschaft. Werden Sie dieser Verantwortung endlich gerecht! ({8})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Florian Hahn. ({0})

Florian Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004048, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir stecken noch mitten in der Coronakrise. Ich fürchte sogar – das muss man ehrlicherweise sagen –, wir sind eher noch am Anfang. Mit einer Durchseuchungsrate von unter 2 Prozent in Deutschland und der Aussicht auf einen Impfstoff erst in Monaten dürfte klar sein, dass wir zum Alltag so schnell nicht werden zurückkehren können. Mein herzlicher Dank geht an die Bundesregierung, allen voran an die Bundeskanzlerin, und an die Ministerpräsidenten, beispielsweise an meinen Ministerpräsidenten, Markus Söder, die frühzeitig und entschlossen gehandelt haben. Mit Blick auf die Zahlen wird deutlich: Das hat sich gelohnt. Im Moment haben wir uns aber lediglich mit dem Virus arrangiert; wir haben ihn noch nicht besiegt. – Ich rate daher uns allen: Lassen Sie uns weiterhin vernünftig, anhand von Fakten handeln, und geben wir dem Wunsch nach Normalität, den wir alle haben, nicht übereilt nach, nur um die Bürgerinnen und Bürger kurzfristig von ihrer Belastung zu erleichtern; denn das birgt das erhebliche Risiko, dass eine zweite Vollbremsung uns noch gravierender trifft als die erste. Wir sind noch nicht über den Berg. Wir werden einen langen Atem brauchen. Die Pandemie hat unser Land zu einem guten Teil auf den Kopf gestellt. Aber sie hat uns auch demütig gemacht. Wenn wir uns in Europa und in der Welt umschauen, dann müssen wir mit Dankbarkeit und Demut feststellen, dass wir bisher noch gut davongekommen sind. Die Menschen in anderen Ländern und Regionen hat es viel schlimmer getroffen. Wir haben, auch mit Unterstützung der Opposition, beispiellose erste Rettungspakete geschnürt für die Menschen und die Unternehmen in unserem Land, die durch das Virus in ihrer Existenz bedroht sind. Zwischenzeitlich wurde mit Maßnahmen nachgesteuert. Ob das alles ausreicht, weiß niemand. Wir beobachten das alles sehr genau. Im Kampf gegen Corona haben wir uns eine Atempause verschafft und etwas Zeit gekauft, Zeit, die andere Länder nicht haben, weil die Katastrophe mit Wucht über sie hereingebrochen ist. Deshalb ist es aus meiner Sicht völlig selbstverständlich – daran gibt es nicht den geringsten Zweifel –, dass wir jetzt denen helfen, die sich aus eigener Kraft nicht retten können. ({0}) Umso schmerzlicher ist es – das ist vermutlich der innenpolitischen Konstellation geschuldet –, dass das Bild unserer Hilfsbereitschaft beispielsweise in Italien verzerrt dargestellt und diskutiert wird. „La Repubblica“ schreibt dazu: Es ist merkwürdig, mit welchem Ton man in Italien nach wie vor über den angeblichen Widerstand der Kanzlerin gegen Coronabonds spricht. Wenn es nicht direkt Beleidigungen sind, empört man sich in den meisten Kommentaren über Angela Merkel. Es ist, als hätte sich Deutschland nicht einen Millimeter bewegt, als die Pandemie in Europa sehr schnell schlimmer wurde. Stattdessen sollte man sich daran erinnern, wie sehr Merkel in diesen ersten anderthalb Monaten in allem nachgegeben hat. … Auch das wird in der Debatte in Italien nie erwähnt. Ich kann das nur unterstreichen. Wir brauchen uns mit unserem Solidaritätsbeitrag nicht zu verstecken, weder jetzt noch in der Vergangenheit.

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Herr Kollege Hahn, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Florian Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004048, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. – Deutlich wird das an der Hilfe für die europäische Wirtschaft: Es ist ein erstes Hilfsprogramm mit einem Volumen von 540 Milliarden Euro verabschiedet worden. Es basiert auf einem Dreiklang der Solidarität: europäischer Rettungsfonds ESM, Europäische Investitionsbank, EIB, und europäisches Kurzarbeitergeld SURE. Für alle drei Maßnahmen gilt: Jetzt geht es um eine zeitnahe Umsetzung, damit die Hilfe schnell ankommt. Die Union ist bereit, bei der notwendigen Beteiligung des Bundestages dafür Verantwortung zu übernehmen. Meine Damen und Herren, das ist vielen in Europa und auch einigen hier bei uns, wie einige der vorliegenden Anträge aus der Opposition zeigen, noch nicht genug. Das ist zwar deutlich mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein, könnte aber in der Tat nicht ausreichen, wobei heute noch niemand weiß, wie viel Geld wir tatsächlich für die Ankurbelung der Wirtschaft in Europa benötigen werden. Dankenswerterweise ist die Europäische Kommission gerade dabei, alles zusammenzutragen, um eine ungefähre Abschätzung abgeben zu können, in welcher Höhe zusätzliche Mittel und Hilfen bereitgestellt werden müssen. Den Grünen und anderen fällt zur Finanzierung nichts weiter ein als gemeinschaftliche Bonds. Die einen sprechen von Coronabonds, andere von altbekannten Euro-Bonds, wieder andere von Wiederaufbaubonds, ja, sogar Jugendbonds werden ins Spiel gebracht. Jeder scheint unter Bonds etwas anderes zu verstehen; aber alle sind sich einig: Deutschland soll zahlen bzw. haften, am besten für alles. – Dazu kann ich nur sagen: Mit uns wird es das nicht geben. Das haben wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion immer ausgeschlossen, und dabei bleibt es auch in Coronazeiten. Denn gegen eine europäische Haftungsunion sprechen aus unserer Sicht unter anderem folgende Punkte: Nach unserem Grundgesetz kann es eine Abgabe des Budgetrechts des Bundestages an eine supranationale Ebene nicht geben. Weder die EU noch die Mitgliedstaaten dürfen nach den Verträgen für die Verbindlichkeiten einzelner Staaten, einzelner Länder haften. Und die Kreditsucht lässt sich nicht durch noch mehr Kredite bekämpfen. Außerdem besteht die Gefahr, dass sich Deutschland übernimmt, als größte Volkswirtschaft der Europäischen Union ins Wanken gerät und so das europäische Projekt „gemeinsame Währung“ massiv gefährdet. Wir wollen alles tun, um zu helfen, aber auch alles unterlassen, was verfassungsrechtlich und europarechtlich fragwürdig und finanzpolitisch abenteuerlich ist. Die Anträge, die uns vorliegen, werden dem nicht ganz gerecht. Deswegen werden wir sie ablehnen. Herzlichen Dank. ({0})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Dr. Harald Weyel für die Fraktion der AfD. ({0})

Prof. Dr. Harald Weyel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004932, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Kollegen! Verehrte Zuschauer in der Coronabildschirmquarantäne! An die Expatriates in Schweden: Sverige! Wenn die völlig fehlorientierten Grünen in ihrem Antrag von „Schicksalsgemeinschaft“ reden, ist Vorsicht geboten; denn das Einzige, was sich in dieser Krise, in der Coronakrise, halbwegs bewährt hat, ist der Nationalstaat. Genau den wollen die Grünen aber abschaffen und an seine Stelle ein Gebilde setzen, das keine Schicksals-, sondern eine Beutegemeinschaft auf unsere Kosten ist. ({0}) Nicht nur die EU soll, wenn es nach den Grünen und einigen anderen geht, in den Genuss der sogenannten Solidarität kommen – ich nenne das mal lieber „Hilfsbereitschaft“ –, sondern ganz Europa, ob EU oder nicht, eigentlich die ganze Welt, also auch die Länder jenseits des Urals, Nordafrika usw. usf. „Was ist des Europäers Vaterland oder Mutterland?“, würde Ernst Moritz Arndt wohl in unseren Tagen dazu sagen. Gegen Hilfsbereitschaft ist nichts einzuwenden. Deutschland hat seit den 50er-Jahren weltweit geholfen. In den Krankenhäusern werden Franzosen, Niederländer, Italiener behandelt. Was die Grünen meinen, ist aber keine Hilfsbereitschaft, sondern eine Schuldknechtschaft, die uns dauerhaft für die Versäumnisse anderer Staaten in die Haftung nimmt. Wo soll da der Anreiz für die betroffenen Länder sein, in Zukunft besser zu wirtschaften und ihre Gesundheitswesen nicht kaputtzusparen? Und wo sollen wir in der nächsten Krise die Kapazitäten hernehmen, die wir brauchen, um zu helfen, wenn der Nationalstaat – und damit auch die Daseinsvorsorge – seiner Handlungsfähigkeit beraubt wird? Wir als Land mit den geringsten Haushaltsvermögen und Rentenansprüchen innerhalb der vielgepriesenen EU sollen also die Staaten alimentieren, deren Haushaltsvermögen und Normalrenten weit, weit höher und deren Steuerquoten für Erben und Reiche dafür weit, weit niedriger liegen als bei uns. ({1}) Es gibt schon genug Investitionsleichen im gemeinsamen europäischen Keller. Kann sich noch jemand an die Großmäuligkeiten der Lissabon-Strategie 2000/2010 erinnern? Von wegen EU als „wettbewerbsfähigster und dynamischster wissensgestützter Wirtschaftsraum der Welt“! Mir fällt da eher ein anderes Bild ein – es ist ja nichts geworden mit dem wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum –: EU als Reptilienzoo, wo die schlauen Schildkröten längst einen Trick gelernt haben, nämlich sich selbst auf den Rücken zu bugsieren, um dann von den anderen mit allerlei Leckerbissen durchgefüttert zu werden. ({2}) Genau das Gegenteil von Subsidiarität, Subsidiarität und noch einmal Subsidiarität ist hier fragwürdige EU-Räson geworden. ({3}) Gegen Solidarität ist, wie gesagt, nichts einzuwenden. Ich würde sie auch eher „Hilfsbereitschaft“ nennen. Diese Merkwürdigkeit, dass das Land mit den niedrigsten Vermögenswerten und Rentenansprüchen das Konsumniveau der anderen sicherstellen soll, muss doch einmal thematisiert werden. ({4}) Wir, die AfD, sind die einzige Partei, die ihren Kredit noch nicht verspielt hat. ({5}) Sie sind die, die den Kredit erst gar nicht geben wollen, wo sie ihn doch alle mehrfach verspielt haben. Wir sind die Einzigen, ({6}) die überhaupt noch Arbeitnehmer- und Sparerinteressen und die Interessen normaler Bürger vertreten, und zwar auf allen Ebenen, ({7}) die Einzigen, die ein ehrliches Europa ohne Ausbeutung der deutschen Steuer-und Sozialkassen wollen, die nicht alles auf dem Altar von schlecht gemachtem Pseudointernationalismus von EU-topia opfern wollen. Wir wollen weder alle Weltprobleme importieren noch die Problemausweitung in der EU durchfinanzieren. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Kommen Sie bitte zum Ende.

Prof. Dr. Harald Weyel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004932, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Genau das aber betreiben die Grünen und ihre Gesinnungsgenossen. Wir blicken unabhängig von Corona auf verlorene Jahrzehnte zurück, verlorenes Geld und verlorene Energie. ({0}) Lassen Sie uns ein ehrliches Europa schaffen, ohne die Dauersubventionen, ohne die falschen Anreize!

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist vorbei.

Prof. Dr. Harald Weyel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004932, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Lassen Sie uns Schluss machen mit den unsinnigen Forderungen! Danke schön. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Guten Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen! Einen schönen Tag in diesen Zeiten von mir an Sie! Nächste Rednerin: Sonja Amalie Steffen für die SPD-Fraktion. ({0})

Sonja Steffen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004164, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Weyel, ({0}) bei Ihrer nationalistischen, unsolidarischen Rede wird man wirklich an schlimmste Zeiten erinnert. Ich bin sehr froh, dass das Pult jetzt besonders gut desinfiziert wurde. ({1}) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor ein paar Monaten hätten wir uns alle in diesem Haus nicht vorstellen können, dass es in der Zukunft eine Zeit geben kann, in der die Grenzen innerhalb Europas, ja sogar innerhalb Deutschlands wieder geschlossen sind. Deshalb freue ich mich umso mehr, dass wir heute an dieser Stelle über die Solidarität in Europa reden. Ihre Anträge, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, von den Linken und von der FDP drehen sich genau um dieses Thema. Einiges in Ihren Anträgen haben wir schon vollzogen, und zwar schon in dieser Woche. Ich erinnere an die deutsche Hilfe für die WHO, die wir gestern im Haushaltsausschuss beschlossen haben. Ich erinnere an die Unterstützung Italiens mit Notfallbetten und an die Übernahme von schwer erkrankten Menschen aus Italien und aus Frankreich. Wir sind uns alle einig: Deutschland kann es nur gut gehen, wenn es Europa gut geht. Das hat die Kanzlerin schon heute Morgen in der Regierungsansprache gesagt. Da geht es nicht nur um offene Grenzen, sondern vor allem auch um die Volkswirtschaft. Dass es uns wirtschaftlich so gut geht, haben wir zu einem Großteil der EU zu verdanken. Das wissen wir alle. 60 Prozent der deutschen Exporte gehen an unsere Partner in der EU. Deutschland steht dank eines stabilen und guten Gesundheitssystems, dank eines guten Wirtschaftssystems und vor allem dank einer soliden Haushaltspolitik in den letzten Jahren sehr gut da im Vergleich zu anderen Staaten. Nicht zuletzt deshalb kommt uns Deutschen in dieser aktuellen Krise eine besondere Verantwortung zu, unser Europa zusammenzuhalten. ({2}) Frau Brantner, Sie haben in Ihrer Rede gerade so getan, als ob noch nichts passiert wäre. Das ist nicht richtig, und das wissen Sie auch. Wir haben bereits ein Riesenpaket auf den Weg gebracht – 540 Milliarden Euro –, das zum 1. Juni in den besonders notleidenden Regionen konkret wirksam werden kann. ({3}) Die Anträge der Grünen und der Linken kritisieren, dass wir uns bislang noch nicht auf sogenannte Coronabonds oder Euro-Bonds geeinigt haben. Aber was hätte dieser Weg bedeutet? Es spricht mit Sicherheit vieles für eine gemeinsame Haftung. Aber hätten wir uns für diesen Weg jetzt entschieden, dann wäre das doch der Beginn von langen Verhandlungen. Das wissen wir doch. Uns Sozialdemokraten wäre der Einstieg in eine Fiskalunion wirklich lieb. Wir würden das sehr begrüßen. Aber dazu müssen wir noch viele Länder innerhalb der EU überzeugen und sogar – ({4}) das haben wir bei der Rede des Kollegen vorhin gehört – viele in unseren eigenen Reihen, beim Koalitionspartner. Der Prozess hätte Monate gedauert. Solange konnten wir nicht warten. Denn Fakt ist: Es hilft aktuell nicht den Menschen in Europa, die jetzt ihre wirtschaftliche Existenz verlieren und nicht wissen, wie sie ihre Familien ernähren sollen. Und es hilft aktuell den vielen europäischen Unternehmen nicht, die wirtschaftlich am Boden liegen. Wir erwarten heute Nachmittag, dass der Gipfel der europäischen Regierungschefs den Weg für einen Investitionsfonds ebnet. Wir erwarten auch viel von der Ratspräsidentschaft. Noch ein Wort.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Aber bitte zum Schluss, Sie sind über die Zeit.

Sonja Steffen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004164, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Europa ist eine Schicksalsgemeinschaft. Von dem Sozialdemokraten Helmut Schmidt stammt der wunderbare Satz: In der Krise zeigt sich der wahre Charakter. – Wie wichtig ist dieser Satz in dieser besonderen Zeit! ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kollegin Steffen. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Alexander Graf Lambsdorff. ({0})

Alexander Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004798, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In zwei Stunden – wir haben es gerade gehört – beginnt der Gipfel der Staats- und Regierungschefs, und es steht zu erwarten, dass es keine weitreichenden Schlussfolgerungen des Rates geben wird, vielleicht gibt es sogar nur eine Erklärung des Vorsitzes. ({0}) Warum? Man kann sich einmal mehr nicht einigen, weil ein Spaltpilz hineingetragen worden ist in die Debatte der Staats- und Regierungschefs, in die Debatte der Mitgliedstaaten. Und dieser Spaltpilz heißt: Vergemeinschaftung der Schulden. Ich halte es – das will ich hier deutlich sagen – für einen Kardinalfehler, insbesondere der italienischen Regierung, dieses alte Instrument aus der Finanzkrise jetzt in der Coronakrise neu aufzumachen ({1}) und es damit unmöglich zu machen, dass sich Europa in der Krise einigt. Europa wird gespalten. Wir brauchen aber nicht mehr Spaltung; wir brauchen Einigkeit in Europa. ({2}) Ich kann nicht verstehen, dass hier in diesem Haus die sonst, was Europa angeht, wirklich recht konstruktiven Grünen diesen Spaltpilz befördern, ihn bewässern und das Geschäft von Matteo Salvini besorgen. ({3}) Es ist mir ein absolutes Rätsel, warum das hier geschieht. ({4}) Sie schreiben in Ihrem Antrag, wir müssten deswegen, weil wir von der Krise unterschiedlich betroffen seien und unterschiedlich stark reagieren könnten, in die Vergemeinschaftung einsteigen. Warum sind wir unterschiedlich betroffen? Warum können wir unterschiedlich reagieren? Das eine – dafür kann niemand etwas – ist einfach das Virus. Das andere, die Fähigkeit zur Reaktion, hat etwas mit solider Haushaltspolitik zu tun. ({5}) Die Grünen haben die schwarze Null jahrelang immer wieder abgelehnt. Es ist aber die schwarze Null der letzten Jahre, die es uns möglich macht, so kraftvoll zu reagieren, wie das hier der Fall ist. Wie kann es also gehen? Wir von den Freien Demokraten machen fünf sehr konkrete Vorschläge. ({6}) Erstens – das ist das Wichtigste –: Menschenleben retten, praktizierte europäische Solidarität, indem Patientinnen und Patienten überall in Europa in Krankenhäusern behandelt werden, wo Betten frei sind. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung von Herrn De Masi?

Alexander Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004798, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Von wem?

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vom Kollegen von der Linken.

Alexander Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004798, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Gerne.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Gut.

Alexander Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004798, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Volontier. Avec plaisir.

Fabio De Masi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004817, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Man kennt sich. Vielen Dank. – Herr Kollege Lambsdorff, ich stelle Ihnen diese Frage auch als deutsch-italienischer Finanzpolitiker, der selber das Ergebnis einer sehr handfesten deutsch-italienischen Zusammenarbeit ist. ({0})

Alexander Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004798, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das lassen wir jetzt mal so stehen.

Fabio De Masi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004817, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ist Ihnen bekannt, weil Sie hier über Haushaltsdisziplin gesprochen haben, dass Italien in den letzten 24 von 25 Jahren als einzige industrialisierte Volkswirtschaft Primärüberschüsse, Haushaltsüberschüsse vor Zinsen erwirtschaftet hat, aber dadurch die Wirtschaft ins Koma gefallen ist und die Schulden nicht verringert werden konnten? ({0}) Ist Ihnen bekannt, dass, wenn die Europäische Zentralbank eine entsprechende Anleihe kaufen würde, es überhaupt kein Haftungsrisiko für Deutschland gäbe, weil eine Zentralbank niemals in der eigenen Währung pleitegehen kann? ({1}) Und wissen Sie, dass die Alternative doch ist, dass Italien einen Geldautomaten in Frankfurt stehen hat, weil die Europäische Zentralbank bereits angekündigt hat, notfalls italienische Staatsanleihen zu kaufen? Dann kann Deutschland überhaupt nicht mehr mitreden. Ist es angesichts einer EU-Kommission, die seit 2011 die Mitgliedstaaten 63-mal aufgefordert hat, die Gesundheitsausgaben zu kürzen, nicht an der Zeit, dass wir gemeinsam in den Wiederaufbau investieren, weil uns sonst der Euro um die Ohren fliegt und es auch für die Menschen hier in Deutschland noch teurer wird? ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Graf Lambsdorff.

Alexander Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004798, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das war jetzt eine ganze Menge. Ich versuche, das stakkatoartig zu beantworten. – Mir ist bekannt, dass der italienische Schuldenstand bei circa 130 Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegt. ({0}) Das ist das Doppelte dessen, was die Maastricht-Kriterien erlauben. Mir ist auch bekannt, dass jedenfalls in dem Antrag der Grünen, den wir hier heute beraten, nicht von der EZB gesprochen wird, sondern von gemeinschaftlich aufgenommenen europäischen Schulden. Es geht tatsächlich um ein anderes Instrument. Mir ist auch bekannt, dass handfeste deutsch-italienische Zusammenarbeit immer das Beste für Europa ist. Dahin sollten wir zurückkehren und nicht über Spaltpilze diskutieren, die diese italienische Regierung einführt. ({1}) Ich war bei den fünf Punkten, die die Freien Demokraten vorschlagen. Erstens – das habe ich gesagt –: Menschenleben retten. Zweitens: Werte schützen. Wir brauchen klare Kante gegen die Kaczynskis und Orbans, die die Krise ausnutzen, um ihre Macht auszubauen. Drittens: Finanzen mobilisieren, ja, aber gleichzeitig auch auf finanzielle Solidität in der Zukunft achten. Viertens: Grenzen so schnell wie möglich wieder öffnen, damit der Binnenmarkt da funktioniert, wo es gesundheitlich möglich ist. Und fünftens: Handlungsfähigkeit der Europäischen Union für die Zukunft stärken, damit man mit solchen Krisen umgehen kann. ({2}) Lassen Sie mich zu diesem Punkt etwas sagen. Es war sehr bemerkenswert, dass vom Kollegen Hahn gerade Ministerpräsident Söder erwähnt worden ist. Er hat ja massiv gegen die Europäische Kommission geledert, sie habe nicht genug getan. Die Kommission hat das getan, ({3}) was die Mitgliedstaaten von ihr erwarteten, nämlich so gut wie nichts, weil sie praktisch keine Kompetenzen hat. Stattdessen haben wir mit Beteiligung des BMI national eine Ausfuhrsperre verhängt, und wir haben Grenzschließungen vorgenommen, die so willkürlich sind, ({4}) dass man sich wirklich fragt: Wie um Gottes Willen kann man rechtfertigen, dass auf der Fahrt von Linz nach Passau kontrolliert wird, aber auf der Fahrt von Pilsen nach Weiden nicht? Wo ist da die virologische Begründung für die Kontrollen an der bayerischen Staatsgrenze? Mir fehlt sie. ({5}) Ich glaube, das Södern und Seehofern gegen Europa wird uns nicht weiterbringen. Deswegen fand ich spannend, was die Bundeskanzlerin heute Morgen in der Regierungserklärung gesagt hat – Frau Präsidentin, das ist mein letzter Punkt. – Sie hat gesagt, dass wir uns zum Umgang mit grenzüberschreitenden Pandemien überlegen müssen, welche Zuständigkeiten der Europäischen Union man in Brüssel bündelt, damit wir das in der Zukunft besser machen. Für mich ist der Lackmustest: Wie werden der Freistaat Bayern und das Bundesinnenministerium mit diesem Vorschlag der Frau Bundeskanzlerin umgehen? Herzlichen Dank. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Alexander Graf Lambsdorff. – Nächster Redner: für die Fraktion Die Linke Andrej Hunko. ({0})

Andrej Hunko (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004060, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der Stunde der größten Not erkennt man seine wahren Freunde. Als Italien Ende Februar/Anfang März in größter Not war – Sie kennen alle die Bilder –, hat die italienische Regierung bei der EU den sogenannten Zivilschutzmechanismus aktiviert. Das kann jeder Staat machen: In einem solchen Fall übernimmt die EU-Kommission drei Viertel der Transportkosten, und die anderen Staaten werden aufgefordert, zu helfen. – Kein einziger Staat hat damals geholfen, auch Deutschland nicht. Wir finden das beschämend. Wir finden das skandalös. Das muss sich ändern. ({0}) Ich erzähle das, damit man auch versteht, warum die Stimmung in Italien so ist, wie sie ist. Mein Kollege Fabio De Masi hat es eben erwähnt: 63-mal hat die EU-Kommission Italien und andere Länder aufgefordert, im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes im Gesundheitssystem zu kürzen bzw. Teile des Gesundheitssystems zu privatisieren. Das war ein fataler Irrweg ({1}) und deutet auch auf Konstruktionsfehler in diesem Wachstumspakt hin. Nach jüngsten Umfragen nennen 52 Prozent der italienischen Bevölkerung auf die Frage „Wer ist unser befreundeter Staat?“ an erster Stelle China. Das hat damit zu tun, dass China, übrigens auch Russland und Kuba in dieser akuten Situation tatsächlich geholfen haben. Gefragt, welcher Staat ihnen am feindlichsten gesonnen ist – „paesi nemici“ –, geben 45 Prozent an erster Stelle Deutschland an. Ich finde das nicht gut. Ich erwähne das nur, weil das natürlich die Rahmenbedingungen vor dem heutigen EU-Gipfel sind. ({2}) Wir finden es notwendig, dass in dieser außergewöhnlichen Situation, in der wir sind, und in der außergewöhnlichen Krise, in der natürlich wir, aber insbesondere Italien, Spanien und auch andere Länder sind, außergewöhnliche Finanzierungsmaßnahmen zum Wiederaufbau auf den Weg gebracht werden. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung von Herrn Dr. Weyel?

Andrej Hunko (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004060, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Bitte. ({0})

Prof. Dr. Harald Weyel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004932, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Danke, Herr Kollege Hunko. – Ihr Antrag ist in Teilbereichen der seriösere der beiden. ({0}) Wenn Sie PESCO kritisieren, so kann ich Ihnen sagen, dass wir das auch tun. Graf Lambsdorff hat vergessen, zu erwähnen, dass er dazu noch die Schaffung eines europäischen Sicherheitsrats und die Ausrufung des Notstands fordert. Und von den Forderungen der Grünen ganz zu schweigen. Gerade der Bereich, wo man wirklich Butter bei die Fische tun kann, ist also: Was ist der Vermögensstand? Was ist das Steueraufkommen? Wenn man in Italien 10 Millionen Euro erbt, zahlt man 360 000 Euro Steuern. Wenn man diesen Betrag in Deutschland erbt, zahlt man 2,25 Millionen Euro Steuern. Bei den Italienern ist es so, dass eben auch entfernte Verwandte oder Nichtverwandte höchstens auf den doppelten Betrag an Steuern kommen, also 720 000 Euro. Staat und Private in Italien haben ein Vermögen von knapp 1 Billion Euro, genau 9 900 Milliarden Euro Staatsvermögen. Das ist das 5,5-Fache des Bruttoinlandsprodukts. In Deutschland liegt dieser Vermögenssatz bei dem 3,8-Fachen, also weit hinter Italien und sogar hinter Spanien und anderen. ({1}) Wie können wir denn sicherstellen, dass nicht nur der deutsche Superreiche, sondern auch der deutsche Normalverbraucher entlastet wird, und dass Staaten wie Italien, Griechenland und andere endlich auf dem Level besteuern, wie hier der Mittelstand durch den Mittelstandsbauch besteuert wird? Danke schön.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Hunko.

Andrej Hunko (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004060, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Erstens. Es gibt drei Anträge: einen der Grünen – deswegen ist dieser Tagesordnungspunkt aufgesetzt worden –, einen der FDP und einen der Linken. Auch Sie können dazu vielleicht einen Antrag erarbeiten. ({0}) Zweitens. Wir haben in unserem Antrag explizit dargestellt – darauf wäre ich jetzt gekommen –, dass wir eine EU-weit koordinierte Besteuerung der Superreichen und der Milliardäre brauchen. ({1}) Das wäre in den einzelnen Ländern unterschiedlich zu regeln, in Deutschland etwa durch eine Vermögensabgabe. Aber natürlich braucht es wie auch hier in Deutschland ebenso die Solidarität der italienischen oder spanischen Superreichen. Das ist Teil des Programms. ({2}) 101 Ökonomen in Italien – überwiegend italienische Ökonomen, aber auch andere – haben vor einer Woche einen Appell gestartet und fordern unter anderem, dass die EZB, die Europäische Zentralbank, die Möglichkeit haben soll, in einer außergewöhnlichen Situation durch Direktinvestitionen zu intervenieren. Dazu müsste der Artikel 123 AEUV angepasst werden. Wir denken, wir haben eine solche außergewöhnliche Situation. Natürlich brauchen wir gemeinsame Finanzierungsmodelle, etwa durch Anleihen über die EIB, die Europäische Investitionsbank, die dann von der EZB aufgekauft werden. Wir haben dazu konkrete Vorschläge in unserem Antrag. Ich freue mich auf die Debatte in den Ausschüssen und bedanke mich für die Aufmerksamkeit. Vielen Dank. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Andrej Hunko. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Dr. André Berghegger. ({0})

Dr. André Berghegger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004252, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir debattieren hier, wie wir gerade gehört haben, über drei Anträge, die unterschiedliche Verhaltensweisen vorschlagen, wie sich Deutschland auf europäischer Ebene derzeit verhalten soll. Allen drei Anträgen ist aus meiner Sicht gemeinsam, dass der Eindruck, der hier auch schon geschildert wurde, vermittelt wird, dass Deutschland in dieser Zeit angeblich nicht solidarisch oder nicht solidarisch genug sei. Diesem Eindruck möchte ich hier deutlich widersprechen: Deutschland ist gegenüber seinen Nachbarn im Rahmen der Verträge und im Rahmen der Gesetze natürlich jederzeit solidarisch. Wir lassen uns auch nichts anderes einreden. ({0}) Als Haushälter werde ich natürlich einige finanzielle Aspekte in den Vordergrund stellen. In dieser ernsten Situation zeigt sich aus meiner Sicht Solidarität oder, besser gesagt, finanzielle Solidarität nicht durch die Diskussion über die Einführung von Coronabonds; vielmehr ist die Situation etwas komplexer. Was wollen wir erreichen? Wir wollen schnell und zielgenau helfen. Wir wollen vor allen Dingen keine langfristigen Diskussionen mit Rechtsunsicherheiten. Da, denke ich, sind Deutschland und Europa zusammen auf einem guten Weg. Aber wir haben auch schon gehört: Es wird vielfach nachgeschärft und nachgebessert werden müssen. Erinnern wir uns nur an die letzte Sitzungswoche, als wir hier ein Maßnahmenpaket mit historischem Ausmaß auf die Beine gestellt haben: Wir haben im Wege eines Nachtragshaushaltes Mittel aufgestockt, wir haben Kredite und Garantien bewilligt, und das in einem Umfang von 1,3 Billionen Euro. Das sind gut ein Drittel, fast 40 Prozent des Bruttoinlandsproduktes Deutschlands im letzten Jahr. Ich glaube, das ist ein starkes Signal, um in dieser Krise voranzukommen. Europa hat sich auch bewegt, sehr schnell. Die Kommission hat nicht verbrauchte Mittel in der Größenordnung von 40 Milliarden Euro mobilisiert. Die EZB hat – man kann es kritisieren – ein zusätzliches Anleiheprogramm in der Größenordnung von 750 Milliarden Euro auf die Beine gestellt. Dieses Programm ist viel flexibler und sichert vor allem günstige Finanzierungsbedingungen der Realwirtschaft in den betroffenen Staaten. Hinzu kommen nicht zuletzt die Beschlüsse der Euro-Gruppe von vor wenigen Tagen in einem Umfang von gut 500 Milliarden Euro. ({1}) Der ESM kann ungenutzte Möglichkeiten der Kreditvergabe verwenden, und das sichert natürlich die Liquidität in den Mitgliedstaaten. Auch hier hört man sofort wieder Kritik, das sei alles zu wenig. Aber nicht oft genug kann man betonen, dass durch diesen Weg natürlich auch der Zugang der Mitgliedstaaten zu dem sogenannten OMT-Programm eröffnet wird. ({2}) Das ist ein unbegrenzter Ankauf von Staatsanleihen und damit auch eine günstige Finanzierungsmöglichkeit von zusätzlichen nationalen Maßnahmen. ({3}) Das gesamte Paket macht also durchaus Sinn, und wir müssten eigentlich Wert darauf legen, dass ein Schlechtreden des ESM allmählich zurückgefahren wird und dass man die positiven Eigenschaften auch bei unseren Nachbarn erkennt. ({4}) Die Euro-Gruppe hat weiterhin einen neuen Garantiefonds für kleine und mittelständische Unternehmen bei der Europäischen Investitionsbank auf die Beine gestellt und Kreditvergaben an Mitgliedstaaten zum Erhalt von Arbeitsplätzen, das SURE-Programm, in die Wege geleitet. Bei all diesen Maßnahmen hilft natürlich Deutschland, und das wird mir auch zu wenig betont. Wir sichern mit unserer starken Wirtschaft die Stabilität des Euro. Wir sind größter Kapital- und Garantiegeber beim ESM, ohne diese Mittel zu nutzen. Dadurch gibt es ein bestes Ranking und natürlich gute, günstige Zinskonditionen. Das gilt auch bei der Europäischen Investitionsbank. Deutschland hat, wie wir wissen, eine starke eigenständige Förderbank, und deswegen werden wir die Mittel der Europäischen Investitionsbank in nicht so großem Umfang nutzen. Nicht zuletzt sind wir größter Nettozahler des EU-Haushaltes. Ich glaube, wir sollten einmal abwarten, was ab heute unter dem Stichwort „Recovery Fund“ zum Wiederanfahren der europäischen Wirtschaft zwischen den Staats- und Regierungschefs besprochen wird. All das ist, glaube ich, großer Ausdruck von Solidarität in diesen Zeiten. ({5}) Diese Maßnahmen sollten wir anerkennen und erst mal wirken lassen. Ich glaube, langwierige Verhandlungen und Rechtsunsicherheiten bei Coronabonds helfen uns derzeit nicht weiter. Wir dürfen nicht Finanzierungsquellen für Probleme erschließen, die vor der Coronasituation schon vorhanden waren. Unser Ziel müsste sein, schnell und genau zu handeln und zu helfen, und wir müssen daran denken, dass die Gelder, Garantien und Belastungen auch einmal wieder zurückgeführt werden müssen. Ich bin der festen Überzeugung, dass eine solide Haushaltspolitik, so wie wir sie seit Jahr und Tag betreiben, nicht einschränkt, sondern erst einmal die Handlungsfähigkeit ermöglicht. ({6}) Das sehen wir an unserem Verhalten in den letzten Jahren.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung – das ist nämlich auch möglich – von Herrn Fricke?

Dr. André Berghegger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004252, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Aha. – Mir nicht. Gut.

Dr. André Berghegger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004252, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir haben im Haushaltsausschuss so oft die Gelegenheit, zu diskutieren. Zu guter Letzt bleibt mir eigentlich nur noch über, mich für die freundliche Aufmerksamkeit und das Zuhören zu bedanken und aus gegebenem Anlass meinem Sohn Nicolas, der jetzt vorm Fernseher sitzt und verweilt, zum Geburtstag zu gratulieren. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Wie alt wird er denn? – Jetzt wollen wir wissen, wie alt er wird.

Dr. André Berghegger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004252, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

13.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

13. – Also, alles Gute! ({0}) Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Fricke.

Otto Fricke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003530, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Berghegger, Sie wissen ganz genau, dass wir über das Thema so gestern nicht im Haushaltsausschuss gesprochen haben. Aber ich verstehe ja auch, warum Sie nicht antworten wollten: weil Sie wussten, wohin die Frage geht. Ich hoffe trotzdem, dass ich in Ihrer Antwort jetzt vielleicht doch Klarheit bekomme. Sie haben es genauso wie die Frau Bundeskanzlerin vermieden, für die CDU/CSU eine ausdrückliche Absage an Euro-Bonds und gesamtschuldnerische Haftung zu formulieren, sondern haben den einfachen Weg gewählt, mit technischer Argumentation zu kommen, und das weiß jeder: Wer auf die Technik verweist, der will sich in der Sache nicht erklären. Nun kann man zum Thema Euro-Bonds unterschiedlicher Meinung sein; das will ich überhaupt nicht bestreiten. Aber es wäre doch gut, wenn schon nicht die Bundeskanzlerin sich klar äußert und sagt: „Ich werde in der Verhandlung keine gesamthänderische Haftung über Euro-Bonds bzw. Coronabonds zulassen“, also wenn sie das schon nicht tut, dass wenigstens Sie in Ihrer Funktion im Haushaltsausschuss für die CDU/CSU-Fraktion hierzu eine klare Position beziehen.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Herr Fricke. – Herr Kollege, wollen Sie? ({0})

Dr. André Berghegger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004252, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielleicht darf ich antworten? ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Dr. Brantner, Herr Berghegger hat jetzt das Wort.

Dr. André Berghegger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004252, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Fricke, wir haben im Haushaltsauschuss diverse Male über viele Themen und auch dieses im Ansatz gesprochen. Ich maße mir nicht an, vorwegzunehmen, was die Gespräche ab heute Nachmittag ergeben werden. Ich kann nur sagen, dass gesamtschuldnerische Haftung rechtlich sehr fragwürdig wäre und von uns nicht akzeptiert werden würde, wie es vorher auch schon gesagt wurde. Aber da es das Element der gemeinsamen Haftung auf europäischer Ebene an verschiedenen Stellen durchaus schon gibt, glaube ich, sollten wir in unseren vorhandenen Strukturen denken und nach Hilfsmöglichkeiten suchen, aber eine gesamtschuldnerische Haftung ablehnen. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank den beiden Kollegen. – Das letzte Wort in dieser Debatte für die SPD-Fraktion hat Metin Hakverdi. ({0})

Metin Hakverdi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004289, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben eine gewaltige Aufgabe vor uns. Die Coronapandemie ist die größte Krise seit Bestehen der Europäischen Union, eine Aufgabe, die wir nur gemeinsam in Europa bewältigen werden. Das ist auch beinahe Konsens in diesem Haus. Alle Anträge, die wir unter diesem Tagesordnungspunkt hier heute diskutieren, beschwören die europäische Solidarität und setzen auf die EU. Ein großer Moment. Kolleginnen und Kollegen, die Coronakrise macht sichtbar: Unser Land, unser Deutschland, wird auch in Zukunft nur dann prosperieren und erfolgreich sein können, wenn wir eine leistungsfähige EU haben, wenn es unseren Nachbarn gut geht und wenn es einen funktionierenden europäischen Binnenmarkt gibt, wo sich Waren und Menschen frei bewegen können. ({0}) Vieles läuft schon sehr gut in der EU. Wir haben eine beispiellose Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten gesehen, um diese Krise akut zu bewältigen. Das gilt sowohl für die medizinische als auch für die wirtschaftliche Solidarität. In unserem Land werden italienische und französische Beatmungspatienten behandelt. Die Europäische Zentralbank hat mit einem Anleihekaufprogramm Spekulanten den Boden entzogen, und wir haben ein 500-Milliarden-Programm mit dem ESM, der Europäischen Investitionsbank und dem SURE-Programm auf den Weg gebracht, das Ausdruck dieser europäischen Solidarität ist. ({1}) Jetzt kommen wir in die zweite Phase der Krisenbewältigung: ein solidarisches Wiederaufbauprogramm für Europa. Die wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise sind enorm. Wir brauchen deshalb ein starkes Signal, das eine große Wucht für so einen Wiederaufbau entfaltet. Heute Nachmittag beginnt der Europäische Rat der Regierungschefs. Die SPD-Fraktion erwartet von der Kanzlerin, dass sie sich für gemeinsame europäische Anleihen starkmacht. Dabei ist wichtig, dass das Wiederaufbauprogramm nicht nur aus Garantien und Krediten besteht; es muss auch Investitionszuschüsse für die Länder geben, die besonders hart von der Krise getroffen sind. ({2}) Die Konditionierung des Aufbauprogramms mit sogenannten makroökonomischen Reformvorgaben muss jetzt unterlassen werden, ({3}) und wir müssen schon heute darüber reden, wie wir nach dieser Wiederaufbauphase die weitere Integration der Wirtschafts- und Währungsunion voranbringen: Steuerharmonisierung, eigene Steuereinnahmen, europäische Anleihen und politische Kontrolle durch Wahlen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten uns die bisher gelebte Solidarität nicht von Nationalisten und Populisten kleinreden lassen, weder in unserem Land noch in Italien oder Spanien. ({4}) Wir werden alle Anträge in den zuständigen Ausschüssen beraten, um die richtigen europäischen Antworten zu finden. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Vielen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Metin Hakverdi. – Damit schließe ich die Aussprache.

Karsten Möring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004356, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit 1965 gibt es in der Bundesrepublik Deutschland das Wohngeld. Es ist damit eine der wichtigsten sozialen Leistungen. Durch seine Gestaltung im Einzelnen als Zuschuss zur Miete bzw. zur Reduzierung der Belastung – bei Wohnungseigentümern – für Haushalte mit geringem Einkommen ist es auf die individuelle Situation der Haushalte zugeschnitten. Es hat sich als flexibles, schnelles und individuell wirksames Mittel der sozialen Wohnungspolitik erwiesen. Mit der Anpassungsüberprüfung alle zwei Jahre vermeiden wir einen häufigen Wechsel zwischen Wohngeldleistungen und ALG-II- oder Sozialleistungen, und mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zeigen wir, dass wir damit auch auf andere Herausforderungen reagieren können. Bei der Verabschiedung des Wohngeldstärkungsgesetzes im Oktober letzten Jahres habe ich angekündigt, dass wir, sobald entsprechende Verfahren erarbeitet worden sind, die im Klimapaket vorgesehene Klimakomponente von 10 Prozent zum Ausgleich der CO2-Bepreisung ab 1. Januar 2021 gesetzlich umsetzen werden. Das tun wir mit diesem Gesetzentwurf. Mit dem Klimaschutzprogramm 2030 wird ab 2021 eine CO2-Bepreisung für die Sektoren Verkehr und Wärme eingeführt. Das Klimaschutzprogramm soll sozial ausgewogen sein und niemanden überfordern, und deshalb gilt im Grundsatz, dass zusätzliche Einnahmen an die Bürgerinnen und Bürger zurückgegeben werden. Deshalb werden Wohngeldempfängerinnen und Wohngeldempfänger bei den Heizkosten auch gezielt entlastet und soziale Härten auf diese Weise vermieden. Weil viele Haushalte mit niedrigem Einkommen anteilig wesentlich mehr für Heizkosten aufwenden müssen als Haushalte mit höherem Einkommen, ist dies auch richtig und notwendig. Deshalb werden die zur Verfügung gestellten Mittel für das Wohngeld, die von Bund und Ländern je zur Hälfte getragen werden, auch um die zugesagten 10 Prozent, nämlich 120 Millionen Euro, aufgestockt. Die Ausgaben für das Wohngeld steigen damit auf 3,31 Milliarden Euro. Die Zahl der profitierenden Haushalte wird mit 665 000 beziffert. Darunter sind ungefähr 35 000, die durch das Wohngeldstärkungsgesetz erstmals oder wieder in diesen Genuss kommen und die natürlich jetzt durch diese Klimakomponente ebenfalls begünstigt werden. Das ist eine ausreichende Regelung, um die Mehrbelastung aus der CO2-Bepreisung abzufedern. Die durchschnittliche Begünstigung für die Haushalte liegt bei etwa 15 Euro pro Monat. Natürlich gibt es Kritik von den Verbänden an diesen Vorstellungen. Kritisiert wird vor allen Dingen eine fehlende Differenzierung nach Energieträgern. Nun ist es natürlich so, dass die CO2-Komponente bei Gas anders ist als bei Öl. Auf der anderen Seite haben wir eine pauschale Regelung, und wir reden von einer Abfederung der Mehrbelastung. Wenn wir eine Differenzierung nach Energieträgern vornehmen wollten, dann brächte das einen erheblichen zusätzlichen Verwaltungsaufwand. Den wollen wir nicht. Wir wollen, dass das Geld bei denen ankommt, die es brauchen, es soll nicht zur Finanzierung zusätzlichen Verwaltungsaufwands dienen. Den Änderungswünschen der Länder tragen wir Rechnung. Die meisten Punkte betrafen redaktionelle Fragen und dienten der Klarstellung. Dem sind wir durch unseren Änderungsantrag nachgekommen. Aber die Länder haben auch angemerkt, dass sie bei dieser zusätzlichen Klimakomponente gerne eine Dynamisierung hätten. Das machen wir nicht. Aber wir haben dadurch, dass wir den zweijährigen Rhythmus der Überprüfung haben, die Möglichkeit, nachzusteuern. Wenn sich herausstellt, dass Mehrbelastungen außer der Reihe auftreten oder übergroß werden, dann können wir jederzeit nachsteuern. Deswegen brauchen wir jetzt eine solche Dynamisierung nicht. Sie wäre auch relativ schwierig durchzuführen. Wir brauchen nur einmal einen Blick auf den aktuellen Ölmarkt zu werfen, um zu sehen, dass die Preisschwankungen, die es nach oben oder – jetzt im Moment massiv – nach unten gibt, zu monatlichen Veränderungen der Belastung führen, die deutlich größer sind als die zusätzliche Belastung durch die Klimakomponente, die ja pauschal ausgeglichen wird. Eine Bemerkung zu den aktuellen Hindernissen bei der rechtzeitigen Bearbeitung der Wohngeldanträge. Ich freue mich, dass das Innenministerium zusammen mit den Ländern den Wohngeldbehörden Hinweise gegeben hat zur Verwaltungsvereinfachung mit dem Ziel einer möglichst schnellen und zügigen Bearbeitung. Das reicht von der vereinfachten formlosen Antragstellung zur Fristwahrung, geht über die Reduzierung der Nachweise auf das zwingend Notwendige bis hin zur Erleichterung bei der Zahlung von Vorschüssen. Ich glaube, es versteht sich von selbst, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Wohngeldbehörden, die diese Anträge zu bearbeiten haben, einer systemrelevanten Tätigkeit nachgehen und wir ohne sie erhebliche Probleme hätten, vor allen Dingen diejenigen, die auf diese Zahlungen angewiesen sind. Ich bin daher dankbar für diese Hinweise. Und ich bin auch dankbar für die Umsetzung, die in meinem Bundesland, NRW, von Land und Kommunen schon seit einiger Zeit vorgenommen wird: Frühzeitig wurde dort beispielsweise die Möglichkeit zur digitalen Antragstellung eingeführt – sehr hilfreich in den Zeiten unserer Kontaktbeschränkungen. Aber auch die Möglichkeit, in bestimmten Fällen bis zu drei Monate befristet Wohngeld ohne Plausibilitätsprüfung zu erlangen, ist ausgesprochen hilfreich. Natürlich muss das im Nachhinein konkretisiert werden und auch die Berechtigung nachgewiesen werden. Aber die drei Monate sind schon einmal hilfreich, wenn jemand jetzt schnell wegen außergewöhnlicher oder coronabedingter Umstände in die Situation kommt, Anspruch auf Wohngeld zu haben. Auch wenn Corona in den Schlagzeilen steht und genug Einfluss auf uns hat: Die Wohnraumversorgung, gut bezahlbarer Wohnraum und die soziale Wohnungsfürsorge sind für uns essenziell, eine wichtige Komponente in unserer sozial- und familienorientierten Wohnungspolitik. Ich freue mich deswegen, dass wir mit dem Gesetz heute die Klimakomponente in dieses Wohngeldgesetz integrieren können. Ich nutze die Gelegenheit gerne, um den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den vielen Wohngeldstellen einmal ausdrücklich für ihre Arbeit zu danken. ({0}) Sie sorgen für das Wichtigste, nämlich dass das Geld bei denen ankommt, die es brauchen, denen es zusteht und die es zu Recht in Anspruch nehmen. Unsere wohnungspolitischen und klimapolitischen Ziele sind ehrgeizig, aber jeder Anstrengung wert. Die Koalition führt auch mit diesem Gesetz ihren erfolgreichen Kurs in der sozialen Wohnungspolitik weiter. Deswegen bitte ich um Ihre Zustimmung. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Karsten Möring. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Marc Bernhard. ({0})

Marc Bernhard (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004669, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen! Die Coronakrise ist laut Bundeskanzlerin Merkel die größte Herausforderung für unser Land seit dem Zweiten Weltkrieg. Der IWF geht von der schlimmsten ökonomischen Krise seit der großen Depression der späten 20er-Jahre aus. Nach Schätzungen von McKinsey sind in Europa 59 Millionen Arbeitsplätze in Gefahr. Deutschland droht eine noch nie dagewesene Insolvenzwelle. Spätestens jetzt muss die Regierung endlich ihre nutzlose und wirtschaftsfeindliche Klimahysterie beenden und die Einführung der CO2-Steuer stoppen. ({0}) Polen und Tschechien machen es vor: Sie nutzen die Krise, um die Belastung ihrer Bürger durch diese angeblich die Welt rettenden, aber wirkungslosen Maßnahmen zu hinterfragen. ({1}) Und was macht die Bundesregierung? Sie hält in einer unverantwortlichen Art und Weise an ihrem klimapolitischen Irrweg fest und legt uns hier einen Gesetzentwurf vor, der nach eigenem Bekunden soziale Härten ihres Klimapakets abfedern soll. Erst richtet die Regierung also mit ihrer ideologiebetriebenen Politik den Schaden an, um dann großzügig einen verschwindend kleinen Teil des vorher abgepressten Geldes den Bürgern als Almosen zurückzugeben. ({2}) Ihr Klimapaket wird das Wohnen in Deutschland ab nächstem Jahr um 14 Milliarden Euro verteuern. Und dabei rechnet der Mieterbund schon ohne die CO2-Steuer mit einer Kostensteigerung für jeden Haushalt von durchschnittlich 200 Euro pro Monat fürs Wohnen. Jetzt will die Regierung im Gegenzug das Wohngeld für 660 000 einkommensschwache Haushalte gerade einmal um lächerliche 120 Millionen Euro aufstocken. Die restlichen 13,9 Milliarden Euro müssen die Bürger selbst bezahlen. ({3}) Treffen wird es also in erster Linie wieder einmal die hart arbeitende Mittelschicht. Nach den Schätzungen der Regierung sorgt die CO2-Steuer dafür, dass 25 000 Haushalte, also mehr als 60 000 Menschen, die bisher überhaupt keine Sozialleistungen bezogen haben, zukünftig auf staatliche Unterstützung fürs Wohnen angewiesen sein werden. Die Regierung gibt also selbst zu, dass ihre Politik Menschen in die Armut treibt. Da haben Sie ausnahmsweise einmal recht: Diese Menschen, die bisher ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten konnten, werden jetzt von Ihnen zu Bittstellern staatlicher Unterstützung degradiert. ({4}) Durch Ihre Politik haben wir in Deutschland die höchsten Strompreise – mit der Folge, dass jedes Jahr 350 000 Haushalten der Strom abgestellt wird. ({5}) Bis 2025 wird jede vierköpfige Familie 25 000 Euro für Ihre vermurkste Energiewende bezahlt haben. ({6}) Ihre CO2-Steuer kostet diese vierköpfige Familie ab nächstem Jahr dann noch einmal zusätzlich 1 000 Euro und wird bis 2026 auf über 2 600 Euro pro Jahr steigen. ({7}) Spätestens vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Krise muss es jetzt endlich eine grundsätzliche Kehrtwende geben. Die Menschen in Deutschland können sich Ihre grünideologischen wirtschaftsfeindlichen Experimente nicht länger leisten. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke, Kollege Bernhard. – Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Ulli Nissen. ({0})

Ulli Nissen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004363, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute beraten wir eine weitere Reform des Wohngeldgesetzes. Schon zum 1. Januar dieses Jahres haben wir das Wohngeld reformiert und deutlich angehoben. Es ist uns dabei gelungen, die automatische Anpassung des Wohngeldes alle zwei Jahre einzuführen. Das wurde schon lange von den Sozialverbänden gefordert. Die nächste automatische Anpassung erfolgt dann zum 1. Januar 2022. Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf heben wir das Wohngeld noch einmal – außer der Reihe – zum 1. Januar 2021 an. Die Steigerung dient als Ausgleich für steigende Heizkosten durch einen erhöhten CO2-Preis. Hiermit gelingt es uns, zwei Ziele unter einen Hut zu bringen: zum einen, die Klimaschutzziele spätestens 2030 zu erreichen, und zum anderen, bezahlbaren Wohnraum zu sichern. Wir wollen bis 2050 die Klimaneutralität in Deutschland herstellen. Wer heute mit Landwirten spricht, erkennt: Das dritte Jahr in Folge herrscht fürchterlich trockenes Wetter. ({0}) Das zeigt deutlich: Wir müssen handeln! ({1}) Klimaneutralität 2050 wird durch das bereits verabschiedete Klimaschutzgesetz möglich. Die Menschen in diesem Land sollen sich künftig darauf verlassen können, dass die deutschen Klimaziele eingehalten werden. Damit wird die Klimapolitik insgesamt auf eine solide Grundlage gestellt und verbindlich gemacht. Bis zum Jahr 2030 werden Mittel in dreistelliger Milliardenhöhe für Klimaschutz und Energiewende bereitgestellt. Allein in den nächsten vier Jahren stehen insgesamt 54 Milliarden Euro zur Verfügung, liebe Kolleginnen und Kollegen. Durch die angestoßenen Investitionen in klimafreundliche Maßnahmen wird die Konjunktur gestützt und der Wirtschaftsstandort Deutschland auf die Zukunft vorbereitet. Die Mittel dafür kommen aus der CO2-Bepreisung aus den Sektoren Wärme und Verkehr. Diese Einnahmen sollen vollständig in Klimaschutzmaßnahmen reinvestiert oder den Bürgerinnen und Bürgern zurückgegeben werden. Mit diesem Gesetzentwurf kommt die Bundesregierung ihrem Versprechen nach. Das Wohngeldvolumen wird um 10 Prozent erhöht. Ziel der Erhöhung ist, mögliche soziale Härten zu vermeiden. Wir wollen Wohngeldhaushalte pauschal unterstützen und nicht auf Basis der tatsächlichen Heizkosten; denn die Menschen sollen ja auch zum Energiesparen angeregt werden. Die CO2-Komponente im Wohngeld berücksichtigt die durchschnittlichen Wohnflächen in Abhängigkeit zur Anzahl der Haushaltsmitglieder. Der Zuschlag beträgt 30 Cent je Quadratmeter Richtfläche pro Monat. Die Einführung der CO2-Komponente im Wohngeld führt im Jahr 2021 für einen Zweipersonenhaushalt voraussichtlich zu einer durchschnittlichen Erhöhung um 12 Euro pro Monat. Von der Wohngelderhöhung profitieren im Jahr 2021 rund 665 000 Haushalte. Das ist ein weiterer Beitrag der Großen Koalition, bezahlbares Wohnen zu sichern und zu schaffen. Wir müssen bis 2030 die SDGs, die Nachhaltigkeitsziele, erreichen. Dazu gehört auch das Ziel, alle Menschen mit für sie bezahlbarem Wohnraum zu versorgen und für bezahlbare und saubere Energie zu sorgen. Durch die Coronakrise kann es zu Einnahmeausfällen bei Mieterinnen und Mietern sowie selbstnutzenden Eigentümern kommen. Diversen Betroffenen stehen Sozialleistungen zu. Das ist keine Bittstellung, werte AfD. ({2}) Neben der Grundsicherung kommt dem Wohngeld die sehr wichtige Aufgabe zu, tragbare Wohnkostenbelastungen zu sichern. Wie schon erwähnt, haben wir das Wohngeld in dieser Legislaturperiode deutlich verbessert. Auf Wohngeld besteht ein Rechtsanspruch, und jede berechtigte Person, die einen Antrag stellt, erhält die Leistung. Damit die zeitige Auszahlung gewährleistet werden kann, müssen die Wohngeldbehörden in die Lage versetzt werden, die vielen Neuanträge und die Weiterbewilligungen schnell und in einem vereinfachten Verfahren zu bearbeiten. Die Schreiben mit diesen Verwaltungsvereinfachungen aufgrund des Coronavirus zur Durchführung des Wohngeldgesetzes sind per 6. April 2020 an die Länder gegangen. Die Leiterin einer großen Wohngeldstelle hat sich sehr über die Regelungen gefreut und mir mitgeteilt, dass diese sehr hilfreich sind; mein Kollege Möring ist ja schon darauf eingegangen. Vor zwei Monaten hätte ich mir nicht vorstellen können, dass die rot-schwarze Bundesregierung solche weitreichenden Vereinfachungen auf den Weg bringen würde. Ich fordere alle Länder auf, diese auch umzusetzen und zusätzlich das Wohngeld zu bewerben. Leider wissen viele Menschen bisher noch nicht, dass es das Wohngeld gibt. Wichtig ist auch, dass die Mitarbeit in den Wohngeldstellen als systemrelevante Tätigkeit angesehen wird. Das ist zum Beispiel wichtig für die Ermöglichung von Kinderbetreuung. Neben dem Wohngeld haben wir in dieser Legislaturperiode ein umfangreiches Maßnahmenpaket für Mieterinnen und Mieter umgesetzt. Wir haben investive Impulse für den Wohnungsneubau gesetzt. Für uns war dabei sehr wichtig, dass der Bund weiterhin in den sozialen Wohnungsbau investieren kann. Im vergangenen Jahr haben wir das Grundgesetz geändert, damit wir weiter investieren können. Danke an Grüne, Linke und FDP für die Unterstützung! Für die Jahre 2020 und 2021 stehen jeweils 1 Milliarde Euro für die soziale Wohnraumförderung zweckgebunden zur Verfügung. Hinzu kommen noch zusätzliche Mittel in Höhe von mehr als 500 Millionen Euro aus der Umsatzsteuererhöhung. Die Länder müssen diese Mittel nun auch wirklich zweckgebunden verwenden. Klare Ansage: Sie müssen ihre Mittel für die Kofinanzierung auch entsprechend erhöhen. Wohnungsbau ist und bleibt eine gemeinsame Aufgabe von Bund und Ländern, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Wir haben weitere Maßnahmen ergriffen, die die Bezahlbarkeit des Wohnens sichern sollen. Wir haben mehrere Mietrechtspakete geschnürt. Was mich besonders freut: Künftig können Mieterinnen und Mieter rückwirkend zu viel gezahlte Miete zurückfordern. Jetzt werden sich Vermieterinnen und Vermieter genau überlegen, ob sie noch weiter überhöhte Miete fordern. Bisher musste die Miete ja erst ab dem Widerspruch reduziert werden; das war kein Risiko für den Vermieter. Liebe Grüne – ich muss euch leider wieder darauf ansprechen –, leider gilt diese großartige Regelung nicht für die Menschen in Schleswig-Holstein, wo ihr an der Regierung beteiligt seid. Dort ist die Mietpreisbremse Ende letzten Jahres ausgelaufen. Das bedaure ich sehr für die Menschen in Schleswig-Holstein. Weiter haben wir die Modernisierungsumlage auf 8 Prozent abgesenkt. Dabei darf die Miete nur noch um maximal 3 Euro pro Quadratmeter innerhalb von sechs Jahren erhöht werden. Ich hatte Fälle in Frankfurt, da wurde die Miete um 14 Euro pro Quadratmeter erhöht. Was ich auch sehr gut finde: Im Rahmen des Jahressteuergesetzes haben wir Steuererleichterungen für die verbilligte Überlassung von Werkswohnungen beschlossen. Dadurch sollen Anreize geschaffen werden, dass private Unternehmen jetzt wieder betriebseigene Wohnungen bauen und diese dann günstig an ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vermieten. Die rot-schwarze Bundesregierung hat in dieser Legislaturperiode schon viel für die Mieterinnen und Mieter getan, und wir haben auch noch einiges vor. Ich bitte Sie um Ihre Unterstützung, und ich bitte Sie: Bleiben Sie gesund! Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Ulli Nissen. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Daniel Föst. ({0})

Daniel Föst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004716, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ohne Zweifel stellt die Coronakrise die Bürgerinnen und Bürger vor existenzielle Herausforderungen: Viele sind in Kurzarbeit, Selbstständigen brechen die Einnahmen weg, das verfügbare Einkommen schmilzt. – Es ist unsere Aufgabe, so zu helfen, dass sich niemand in der Coronakrise entscheiden muss: Gehe ich einkaufen, oder zahle ich Miete? Darum ist es gerade jetzt so gut, dass es eine direkte Unterstützung wie das Wohngeld bei der Miete gibt. Es dürfte jetzt wirklich auch dem Allerletzten klar geworden sein, dass eine direkte Unterstützung der Menschen, also die Subjektförderung, sinnvoller ist als das Vergraben von Steuergeld in Beton und Stahl. ({0}) – Frau Nissen, es freut mich, dass Sie jetzt aufgewacht sind. ({1}) Werte Kolleginnen und Kollegen, es steht zu befürchten, dass viele Menschen in Deutschland das Wohngeld kennenlernen werden. Das ist eine schlechte Nachricht; denn wir wollen, dass so wenig Menschen wie möglich Hilfe vom Staat beziehen. Aber es ist in der aktuellen Krise wirklich ein Segen, dass es das Wohngeld gibt, dass es Anfang des Jahres noch mal erhöht wurde und dass es endlich auch dynamisiert wurde, was wir Freie Demokraten schon lange gefordert haben. Der Gesetzentwurf, den wir heute debattieren, ergänzt die jüngste Wohngeldreform um einen CO2-Ausgleich. Diese Unterstützung wurde notwendig, weil ab nächstem Jahr die CO2-Bepreisung die Heizkosten und damit die Wohnkosten noch einmal in die Höhe treibt und gerade einkommensschwache Haushalte stark belastet. Und Sie merken den Fehler: Wohnen in Deutschland muss günstiger werden und nicht teurer! ({2}) Gleichzeitig helfen Sie mit Ihrer CO2-Bepreisung im Mietwohnsektor dem Klima überhaupt nicht. Die grundlegende Idee der CO2-Bepreisung ist ja, den Ausstoß von Klimagasen zu verteuern und damit die Investitionen in klimafreundliche Technik und CO2-Sparen zu fördern. Damit kommen wir zum größten Problem Ihrer Gesetze: Bei Mieterhaushalten, und das sind fast 60 Prozent aller Haushalte in Deutschland, ist Ihre CO2-Steuer als Anreiz für Investitionen in den Klimaschutz völlig wirkungslos; denn alles, was der Mieter tun kann, um Heizkosten zu sparen, ist, die Heizung runterzudrehen und sich wärmer anzuziehen. Er kann nicht selbst in die Heizung investieren, er kann keine neuen Glasscheiben kaufen, er kann nicht in bessere Technik investieren. Das kann nur der Eigentümer der Immobilie. Aber warum sollte er das tun? Die CO2-Ersparnis käme dem Mieter zugute. Solange dieses Mieter-Vermieter-Dilemma nicht gelöst ist, ist der CO2-Preis im Mietwohnbereich völlig wirkungslos. Ich habe bis heute nichts, aber auch wirklich überhaupt nichts von der Bundesregierung gehört, was dieses Dilemma auflöst. Zusammengefasst: Dieses Update des Wohngeldes muss sein, um die einkommensschwachen Haushalte vor der verfehlten Klimapolitik der Bundesregierung zu schützen. Das ist bitter, aber notwendig. Vielen Dank. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Daniel Föst. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Caren Lay. ({0})

Caren Lay (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004088, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ein Zuschuss zu den Heizkosten beim Wohngeld ist dringend notwendig und auch längst überfällig. ({0}) Das fordern wir als Linksfraktion seit Langem, und zwar völlig unabhängig vom Klimapaket; denn der Heizkostenzuschuss wurde schon 2011 abgeschafft. ({1}) Das ist ungerecht. Es wird höchste Zeit, das zu korrigieren. Für uns als Linke ist klar: Es müssen die tatsächlichen Wohnkosten, und zwar warm, bezuschusst werden. Ein warmes Zuhause ist ein Menschenrecht. ({2}) Wir werden dem Gesetz heute zustimmen, weil es armen Haushalten ein wenig hilft – besser als nichts –, aber – das möchte ich betonen – mit Bauchschmerzen. Denn das Versprechen der Bundesregierung, das Klimapaket würde dadurch sozial abgefedert, wird durch diese kleine Verbesserung nicht gehalten. Wir als Linke wollen einen engagierten Klimaschutz und finden, dass man auch an die Häuser, an die Wärme ran muss. Das muss jedoch sozial ausgestaltet werden. Aber mit dem Weg, den Sie gewählt haben, nämlich der CO2-Bepreisung, gelingt das nicht. Wenn man einfach den Verbrauch von Heizkosten zusätzlich verteuert, belastet man arme Haushalte mit vielen Kindern in alten Häusern mehr als wohlhabende Singles oder Paare in gut sanierten Wohnungen. Das ist doch völlig ungerecht. ({3}) Es belastet die Mieterinnen und Mieter mit Ölheizungen stärker, schafft aber keinerlei Anreize für Vermieter, eine alte Ölheizung auszutauschen. So gewinnt man die Menschen nicht für Klimaschutz, und das finde ich wirklich schade. ({4}) Der Deutsche Mieterbund kritisiert zu Recht, dass dieses Gesetz nicht ausreicht, um die Preissteigerung durch das Klimapaket abzufedern. Wir Linke haben einen Aktionsplan für mehr Klimagerechtigkeit vorgelegt mit vielen Vorschlägen, wie es besser geht. Ich kann in drei Minuten nur auf einen eingehen: Eine echte Klimakomponente beim Wohngeld wäre deutlich besser gewesen; denn auch für Mieterinnen und Mieter mit kleinem Einkommen müssen die Kosten für eine energetische Modernisierung kompensiert werden. Ansonsten führt das Klimapaket dazu, dass diese Mieterinnen und Mieter weiter verdrängt werden, und das ist unverantwortlich. ({5}) Die Coronakrise darf die Mietenkrise nicht verstärken. „Stay at home“ heißt eben auch: Niemand darf in der Krise seine Wohnung verlieren. Und deswegen brauchen wir endlich auch ein Verbot von Zwangsräumungen. ({6}) Wir brauchen in dieser Krise einen Stopp von Mieterhöhungen und einen Härtefallfonds für Mieterinnen und Mieter sowie Vermieterinnen und Vermieter, die in wirtschaftliche Notlagen geraten sind. Eines sollte klar sein: Die Kosten für diese Krise dürfen nicht alleine auf die Mieterinnen und Mieter abgewälzt werden. Auch die Vermieterseite muss sich endlich angemessen beteiligen; denn sonst fliegen viele aus ihren Wohnungen, und viele kleine Gewerbetreibende müssen dichtmachen. Das können wir alle nicht wollen. Vielen Dank. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Caren Lay. – Nächster Redner: für Bündnis 90/Die Grünen Chris Kühn. ({0})

Christian Kühn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004333, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! In Zeiten von Quarantäne und Kontaktbeschränkungen wird die Frage nach der Wohnung existenziell, ja elementar. Wohnen ist in der Krise systemrelevant, und die Coronapandemie verschärft die soziale Situation auf den Wohnungsmärkten. Sinkende Einkommen und stagnierende Mieten werden dazu führen, dass am Ende diejenigen, die schon jetzt von den Wohnkosten überlastet sind, noch stärker belastet sind. Jeder 15. Mieterhaushalt in Deutschland gibt aktuell an, dass er nicht in der Lage ist, die Miete zu zahlen, rund jeder 6. Haushalt sagt, dass er es in Zukunft nicht kann, wenn die Krise länger andauert. Das sind brutale Existenzängste, die im Augenblick ausgelöst werden. Das ist Gift für den sozialen Zusammenhalt. Deswegen ist das, finde ich, was wir heute hier beraten, ganz ehrlich, viel zu wenig. ({0}) Ja, wir Grüne tragen diesen Gesetzentwurf mit; das ist eine Vereinbarung aus dem letzten Dezember. Aber wenn man das Wohngeld jetzt anpackt, hätte man angesichts der Coronapandemie noch mal etwas drauflegen müssen. Wir stehen auch zu den Vereinbarungen, die wir getroffen haben. Wir hätten uns einen höheren CO2-Preis gewünscht. Wir hätten uns gewünscht, dass wir die sozialen Kosten anders verteilen, nämlich über ein grünes Energiegeld pro Kopf. Das wäre sozial gerechter und zielgenauer gewesen. ({1}) Und wir hätten nicht nur 15 Euro für 3 Prozent der Haushalte in Deutschland bereitgestellt. Wenn wir vertragstreu sind, erwarten wir das auch von Ihnen. Bei den Verhandlungen ging es ja nicht nur um das Wohngeld und um die Pendlerpauschale; es ging ja auch um die Erhöhung des CO2-Preises. Ich glaube, hier muss die Große Koalition endlich liefern. Für uns Grüne ist klar: Gerade beim nationalen Emissionshandel müssen wir jetzt das Zeichen setzen, dass wir nach der Coronakrise anders wirtschaften als davor. ({2}) Dieser Gesetzentwurf ist zu wenig – ich habe es schon gesagt –; das Wohngeld braucht viel mehr. Kollegin Lay hat gesagt, man müsse eine Klimakomponente beim Wohngeld einführen; das ist richtig. Mit der Heizkostenkomponente wird heute ja nur ein kleiner Schritt gemacht. Eigentlich bräuchte es jetzt einen Erwerbstätigenfreibetrag, damit wir die Menschen nicht alle in die Grundsicherung drücken, also in Hartz IV. Vielmehr müssten wir das Wohngeld erweitern; das wäre sinnvoll gewesen. Die entsprechenden Vorschläge liegen auf dem Tisch. Sie haben leider nicht die Kraft gehabt, sie einzuführen. Das wäre notwendig gewesen, um den Menschen klarzumachen: Das Wohngeld ist ein Sicherungssystem, das jetzt in der Krise wirklich hilft. Sie haben wirtschaftspolitisch die Bazooka rausgeholt und viele Milliarden Euro in den Markt gedrückt. Ich glaube, das ist richtig. Beim Wohnen hätten wir das auch machen müssen. Wir hätten deutlich mehr drauflegen müssen als die Beträge, die wir heute beschließen. Ich finde es sehr schade, dass das nicht gelungen ist. Zum Schluss möchte ich sagen: Werte Kollegin Nissen, wenn Sie wirklich gewollt hätten, dass alle Mieterinnen und Mieter in Deutschland von der Mietpreisbremse profitieren, dann hätten wir gemeinsam auf Bundesebene – so haben wir es ja auch damals beantragt – eine bundesweit einheitliche Regelung zu den Mietpreisbremsen beschließen können. Dann würde sie nämlich überall gelten, und wir hätten auch nicht die Probleme, die wir in vielen Bundesländern gerade haben, nämlich zum Beispiel in Ländern, wo die Mietpreisbremse zwar gesetzlich eingeführt ist, aber nicht gilt, weil sie gerichtlich beklagt wird. Wir hätten eine deutschlandweit einheitliche Regelung beschließen müssen. Das liegt in der Verantwortung der SPD. Deswegen ertrage ich es, ehrlich gesagt, manchmal nicht, dass Sie an einem solchen Tag aus taktischen Gründen immer wieder mit dem Finger auf uns Grüne zeigen. Danke schön. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Christian Kühn. – Nächste und letzte Rednerin in dieser Debatte: Dr. Weisgerber für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Anja Weisgerber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004440, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Als Klimabeauftragte der Unionsfraktion freue ich mich, dass wir heute einen weiteren Baustein aus unserem Klimaschutzprogramm umsetzen. Wir werden heute ein Gesetz final beraten und verabschieden, mit dem wir Wohngeldbezieher gezielt finanziell entlasten. Mit diesem Gesetz werden wir die Auswirkungen der CO2-Bepreisung auf die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen spürbar abmildern. Wir schaffen damit auch genau den von uns stets geforderten Ausgleich zwischen Klimaschutz auf der einen und dem Sozialen auf der anderen Seite. Damit sorgen wir dafür, dass die im Kontext der CO2-Bepreisung möglicherweise entstehenden sozialen Härten reduziert werden, und das ist gut so, meine Damen und Herren. ({0}) Mit dem Brennstoffemissionshandelsgesetz wird ab 2021 eine CO2-Bepreisung – keine Steuer – für die Sektoren Verkehr und Wärme eingeführt. Damit werden die Heizkosten moderat steigen. Im gleichen Zug werden Wohngeldempfängerinnen und ‑empfänger ab dem 1. Januar 2021 entlastet. Wir haben immer versprochen, dass wir die Einnahmen aus der Bepreisung von CO2 den Bürgerinnen und Bürgern durch Förderanreize und durch Entlastungen zurückgeben, und genau das tun wir. Die Entlastung erfolgt zum Beispiel durch die Senkung der EEG-Umlage, durch die Erhöhung der Pendlerpauschale und auch durch die Erhöhung der Entlastung beim Wohngeld, die wir heute beschließen. Die Gelder, also die Einnahmen, fließen in mehrerlei Hinsicht wieder an die Bürgerinnen und Bürger zurück, und genau das ist der richtige Weg: Bepreisung, Förderanreize und Entlastung. Denn wir müssen die Bürger beim Klimaschutz mitnehmen, meine Damen und Herren. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich meine Rede mit einem allgemeinen Statement zum Klimaschutz fortführen. Der Klimawandel ist spürbar – jedes Jahr immer wieder und teilweise auch immer stärker. Der dritte Dürresommer in Folge kündigt sich an. Die ersten Waldbrände hat es bereits gegeben, und es ist erst April. Die Coronakrise lehrt uns, dass wir uns besser vorbereiten müssen. Wir müssen präventiv, vorausschauend und nachhaltig handeln.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Frau Dr. Weisgerber, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung von Herrn Hilse?

Dr. Anja Weisgerber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004440, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, ich würde meine Rede gerne erst einmal fortführen. Er kann ja eine Kurzintervention im Anschluss machen.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Das schauen wir dann.

Dr. Anja Weisgerber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004440, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der Klimawandel findet statt. Von der Wissenschaft wird er viel klarer und deutlicher vorhergesagt, als dass bei der Coronakrise der Fall war. Werden Kipppunkte erreicht, sind die Folgen des Klimawandels unumkehrbar. Deshalb gilt es, weiterhin konsequent zu handeln. Ich werde mich in der politischen Diskussion dafür starkmachen, dass wir aus der aktuellen Coronakrise Zukunftsimpulse mitnehmen. ({0}) Wir müssen die Digitalisierung besser nutzen. Wir müssen die Konjunkturprogramme jetzt eben genau so aufsetzen, dass wir anders als nach der Finanzkrise gezielte Anreize beim Klimaschutz setzen. ({1}) Dafür werde ich mich wirklich mit Vehemenz einsetzen. Denn nur dann werden wir die Chancen nutzen und Deutschland in jeder Hinsicht auch für eine kommende Krise und eben auch angesichts der Menschheitsherausforderung Klimawandel nachhaltig und klimafreundlich aufstellen können. Wir sind auf einem guten Weg – das noch zum Schluss –, wir werden – das war schon vor der Coronakrise klar – das 40-Prozent-Ziel wahrscheinlich doch erreichen, und wir haben auch bei den erneuerbaren Energien erfreuliche Nachrichten. Für dieses Jahr haben sie einen Anteil von 54,4 Prozent an der Bruttostromerzeugung. Wir haben einen CO2-Preis, keine Steuer eingeführt. Wir sind auf einem gemeinsamen guten Weg, und wir entlasten mit dem Gesetz, das wir heute verabschieden, gezielt die Wohngeldbezieherinnen und Wohngeldbezieher; denn wir müssen die Menschen beim Thema Klimawandel mitnehmen. Der Klimawandel macht keine Pause – auch nicht in Zeiten von Corona. Herzlichen Dank. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frau Dr. Weisgerber. – Das Wort zu einer Kurzintervention hat Karsten Hilse. ({0})

Karsten Hilse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004752, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, Frau Präsidentin, dass Sie die Kurzintervention zulassen. – Das eigentliche Dilemma, das wir hier immer wieder sehen, ist, dass Sie Klima und Wetter verwechseln. Sie haben das Klima erwähnt. Deswegen will ich es einfach noch mal richtigstellen. ({0}) – Es ist eine Kurzintervention, und die Präsidentin hat sie mir erlaubt. Klima – das sind lokale Wetterdaten, über 30 Jahre erhoben und gemittelt. Wenn Sie einen oder zwei oder drei Dürresommer haben – wir wissen ja noch gar nicht, ob wieder einer kommt –, können Sie damit nicht den Klimawandel erklären. ({1}) Wir haben schon im Jahr 2018 gefordert, einen sogenannten Klimawandelfolgen-Anpassungsfonds zu bilden, um negative Auswirkungen des derzeit stattfindenden, vollkommen natürlichen Klimawandels abzufedern. ({2}) Es wäre schön, wenn sich die CDU oder die gesamte Koalition diesem Vorschlag vielleicht einmal nähern würde, ({3}) damit wir uns an den Klimawandel anpassen können. Vielen Dank. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke, Herr Hilse. – Frau Dr. Weisgerber, wenn Sie mögen.

Dr. Anja Weisgerber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004440, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Kollege Hilse! Klar ist, dass die Zunahme der Extreme – das sagt auch die Wissenschaft – mit dem Klimawandel zu tun hat. Klar ist auch, dass der Klimawandel durchaus auch menschengemacht ist. Interessant ist, dass sich auch Ihre Fraktion dieser Ansicht immer mehr annähert. Ihre Fraktion sagt jetzt auch: Der Klimawandel findet statt. – Ihre Fraktion, zumindest Teile Ihrer Fraktion sagen jetzt auch, dass er zumindest zum Teil, wenn auch nur ganz geringfügig, auch auf den Menschen zurückzuführen ist. – Also, Sie nähern sich immer mehr der Wissenschaft. Vertrauen Sie doch auf das, was die Wissenschaft uns sagt! ({0}) Die Wissenschaft sagt uns – viel stärker als bei der Coronakrise –, dass der Klimawandel, der zum Teil auch menschengemacht ist, stattfindet. Das merken wir doch. Wir merken es doch ganz aktuell. Deswegen müssen wir uns nicht nur anpassen – das müssen wir auch –; wir müssen uns widerstandsfähig machen – ganz klar –, aber wir müssen auch bei unseren Zielen auf Kurs bleiben; denn die Kosten und die Auswirkungen auf die Menschheit wären, wenn wir nichts tun würden, viel höher. Deswegen werden wir unseren Kurs jetzt ganz klar fortsetzen. Wir werden Vorreiter in Deutschland, in Europa und in der ganzen Welt sein. Dafür werde ich mich auch ganz persönlich einsetzen. Vielen Dank. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank. – Damit schließe ich die Aussprache.

Detlev Spangenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004898, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! „Coronakrise bewältigen – So viel Freiheit wie möglich, nicht mehr Einschränkungen als nötig“, so der Titel. Wenn ich zusammenfasse, was in den letzten Wochen passiert ist, was die Regierung und die sie tragenden Parteien so getan haben, sage ich: Zu spät gehandelt, dann panisch überzogen und dann zögerliches Weiterführen der Situation. ({0}) Am 1. Dezember 2019, als der erste Coronafall in China bekannt wurde, haben andere Länder den Einsatz von Wärmebildkameras an Flughäfen eingesetzt und haben Isolierstationen geschaffen, um Patienten gegebenenfalls aufnehmen zu können. Daraus folgte für uns, für die AfD, als erste Fraktion im Deutschen Bundestag am 12. Februar der Antrag „Bekämpfung der Seuchenausbreitung in Deutschland“ als Sechs-Punkte-Programm, den Sie logischerweise abgelehnt hatten – wie immer. Darin kam unter anderem vor: Bereithalten von ausreichend Isolierbetten, Impfstoffforschung durch den Bund forcieren, nationale Hygieneaufklärungskampagne starten. Und zur gleichen Zeit stellten wir den Antrag, die Medikamentenproduktion von China nach Deutschland und Europa zurückzuholen, weil wir auch da schon dieses große Problem voraussahen. Das sehen Sie jetzt mittlerweile auch. Es ist jetzt bekannt, dass die Basisreproduktionszahl bereits am 22. März 2020 unter 1 lag, und trotzdem halten Sie die Einschränkungen der Freiheitsrechte und die Einschränkungen bei der Wirtschaft im Wesentlichen weiterhin aufrecht und nehmen damit billigend den Ruin ganzer Wirtschaftszweige in Kauf. ({1}) Sie haben bis jetzt keine Bildung eines Gremiums aus führenden Wissenschaftlern durchgeführt, damit auch mal andere Meinungen zu Wort kommen. Gestern, bei der Regierungsbefragung, kam zum Ausdruck: Lieber vorsichtiges Handeln, als irgendwelche Risiken eingehen. – Wenn Sie das wollen, vorsichtiges Handeln, dann hätten Sie unserem Sechs-Punkte-Plan zustimmen können. Wir waren die Ersten. Dann hätten Sie vorsichtig gehandelt, dann hätten wir vielleicht solche Auswirkungen gar nicht gehabt, wie wir sie jetzt haben, meine Damen und Herren. ({2}) Aber ich kann das ja teilweise auch verstehen, weil Sie natürlich einen Koalitionspartner haben. Der wird zum Beispiel hier vertreten durch einen Herrn Helge Lindh, der am 12. März sagte in Bezug auf eine Rede der AfD: Die größte Herausforderung, der gefährlichste Virus in diesem Land bei allen Bedrohungen, die wir haben, ist nicht Corona. Das ist der Virus des Hasses, – durch die AfD – den solche Anträge und solche Reden … verbreiten. Das ist viel schlimmer. ({3}) – Da hat er recht? Das sehe ich bei Ihnen genauso. Sie setzen lieber die Gesundheit der Bevölkerung aufs Spiel, als dass Sie mal einer Opposition normal Rede und Antwort stehen können. Eine ganz traurige Sache, meine Damen und Herren. ({4}) Hass und Hetze in diesem Raum kommen von Ihnen, nicht von der AfD. ({5}) – Lachen Sie ruhig. Wann haben wir das schon mal gemacht? Gucken Sie sich mal an. Gucken Sie mal Ihre Reden an. Meine Damen und Herren, wir haben im Ausschuss für Gesundheit die Schutzmaßnahmen mitgetragen; aber die Fortführung von Einschränkungen in dieser Form halten wir für unverantwortlich. Kein Ende der Beschränkungen wird benannt. Wie sollen denn die Betriebe planen? Sie haben Chaos weiterhin vorprogrammiert, nicht aufgehoben. ({6}) Und, meine Damen und Herren, nicht nachvollziehbar ist: Die Frau Kollegin Weisgerber hat ja eben gesagt: Wir wollen uns besser vorbereiten. – Das hätten Sie machen können; denn in 2012 gab es eine Studie der Bundesregierung zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz. Kennen vielleicht einige von Ihnen. ({7}) Da ist im Auftrag der Bundesregierung ein Szenario entwickelt worden, das haargenau auf die Zeit der Coronakrise passt. Hintergrund dieser Analyse oder dieses Szenarios war: Ein SARS-ähnliches Virus verbreitet sich von Asien weltweit, und dabei geraten die Gesundheitssysteme schnell an ihre Grenzen. – Genau, passt. Mehr infizierte Personen reisen ein, die WHO warnt zu spät. Passt auch, meine Damen und Herren. Genau das ist eingetreten. Die WHO hat zu spät gewarnt. Die WHO hat noch am 24. Januar erklärt: „Angesichts der bisher vorliegenden Informationen über dieses Ereignis rät die WHO derzeit von Reise- oder Handelsbeschränkungen für China ab.“ Dann ist doch wohl die Kritik an der WHO verständlich. ({8}) Ich höre nichts. Sie protestieren jetzt gar nicht, meine Damen und Herren. Wir fordern mit unserem Antrag, dass Hotel- und Gastronomiebetriebe, Handelsunternehmen, unabhängig von der Größe, und Kulturbetrieb und Dienstleister unter Beachtung von Hygienemaßnahmen wieder tätig werden dürfen. Wir fordern Maßnahmen zum Schutz der Risikogruppen sowie Forschung und Untersuchungen zum Virus SARS-CoV-2 durchzuführen. Wir fordern weiter, dass das RKI und der Gemeinsame Bundesausschuss Handlungsanweisungen für Pflegeheime, Rehaeinrichtungen, Pflegedienste erarbeiten, um den Schutz für Bewohner, Patienten und Personal gewährleisten zu können. Meine Damen und Herren, diese Triage, dieses Auswählen, allein dass dieses Wort überhaupt in diesem Lande genannt wird, finde ich, ist eine Schande. ({9}) Sie hätten schon längst Vorbereitungen treffen können, dass diese Menschen geschützt werden. Es gibt mittlerweile auch Briefe von Bürgern in dieser Altersgruppe, die sich sehr unsicher in diesem Land fühlen, meine Damen und Herren.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit? Sie sind weit drüber.

Detlev Spangenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004898, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Meine Damen und Herren – letzter Satz –, wir möchten in aller Deutlichkeit sagen: Grundrechtseinschränkungen laut § 5 des Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite – das kennen wir ja alle – sind klar zu befristen. Es gibt für uns keine Einschränkungen der Grundrechte durch die Hintertür bei besonderen Maßnahmen. Das lehnen wir ab, meine Damen und Herren. Vielen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Rudolf Henke. ({0})

Rudolf Henke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das Glas ist ein bisschen leer. Ich bin nicht sicher, ob daraus schon getrunken wurde. Ist das Wasser frisch?

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Selbstverständlich haben Sie frisches Wasser. Wir haben das Glas nur nicht so vollgeschenkt. ({0})

Rudolf Henke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Alles gut, ich habe es nicht verfolgt. So frei wie möglich, so wörtlich wie nötig. Das war der Spruch meines alten Lateinlehrers – neun Jahre Latein –, der uns immer gesagt hat, wie man übersetzen muss. So frei wie möglich, so wörtlich wie nötig. Und deswegen ist mir die Überschrift des Antrags, den wir jetzt hier diskutieren, erst mal sehr sympathisch. So viel Freiheit wie möglich, nicht mehr Einschränkungen als notwendig. Wer wollte dem widersprechen? Aber was sich widerspricht, liebe Kolleginnen und Kollegen, die diesen Antrag einbringen, ist doch: Was stimmt denn jetzt? Entweder war die Bundesregierung mit ihren Entscheidungen zu spät, entweder war sie zu zögerlich oder das, was Sie jetzt vorschlagen, ist Unsinn, weil Sie darin ja geradezu vorschlagen, für alle Bereiche des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Handelns jetzt die Öffnung zu ermöglichen. Und das, finde ich, widerspricht sich total. Denn Sie sagen ja: Am Anfang wart ihr nicht vorsichtig genug, und wir haben gemahnt, ihr müsstet vorsichtiger sein. – Sie kritisieren die Weltgesundheitsorganisation dafür, nicht vorsichtig genug gewesen zu sein. Nachdem wir mit Aufwand und Mühe – übrigens ohne Ihre Zustimmung; denn hier im Plenum haben Sie sich enthalten – die Maßnahmen beschlossen haben, die jetzt gültig sind, und damit zu einer Reproduktionsrate von 1,0 gekommen sind, sagen Sie jetzt: Ihr müsst die Beschränkungen früher aufheben. ({0}) – Ja, die war vorher schon da. Und wer wusste das? Sie Schlauberger! Sie Schlauberger! Wann kam denn die Mitteilung des RKI? Ich habe hier das „Epidemiologische Bulletin“ des RKI. Welches Datum trägt das? 17. April 2020. Da steht es doch drin. ({1}) Sind Sie denn die Hellseher, die das am 22. März gewusst haben? Dann hätten Sie es uns doch am 22. März mal sagen sollen. Haben Sie aber nicht. ({2}) Damals haben wir Anstiege der Infektionsrate von 30 Prozent am Tag gehabt. Damals waren wir bei einem R0-Wert zwischen 2,6 und 3,8. ({3}) Und da sagen Sie jetzt, weil sich später herausgestellt hat, dass die Maßnahmen, die eingeleitet worden sind von der Bundesregierung und von den Bundesländern und die von uns gutgeheißen worden sind, eine Wirkung gehabt haben bis zum 22. März: Man kann jetzt alles wieder aufmachen. ({4}) Das ist unverantwortlich, weil Sie damit völlig an der Notwendigkeit vorbeigehen, Daten auch integriert und wissenschaftlich seriös zu interpretieren. Sie tun jetzt so, als hätte man hellsehen müssen, als wäre es so gewesen.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Entschuldigen Sie, Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage?

Rudolf Henke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, ich erlaube.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Gut. – Herr Spangenberg. ({0})

Detlev Spangenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004898, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Verehrter Kollege, ich habe gesagt: Nachdem das bekannt ist, halten Sie die Maßnahmen trotzdem aufrecht, obwohl wir bei einer Reproduktionsrate von unter 1 sind; deswegen brauchen wir diese Maßnahmen nicht mehr aufrechtzuerhalten. Das war meine Rede. Ich war nicht der Hellseher; das habe ich deutlich gesagt. Oder ich habe mich falsch ausgedrückt. Dann sage ich es noch einmal: Jetzt wäre das nicht mehr nötig. Das ist der dritte Punkt: erst zu spät, dann übertrieben und jetzt zögerlich. So ist es gesagt worden, und das bitte ich zu beachten. Vielen Dank. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Sie müssen noch stehen bleiben.

Rudolf Henke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Spangenberg, ich antworte Ihnen gerne, und ich erinnere an die Lage von Mitte März: Da betrug das tägliche Wachstum der Infektionen 30 Prozent. Bei einer Fortsetzung dieser Dynamik hätten wir zu Ostern eine völlige Überlastung aller gesundheitlichen Versorgungseinrichtungen in Deutschland erlebt. Wir hätten zu Ostern 10 Millionen Infizierte und einen gänzlich unerfüllbaren Bedarf an Intensivbetten von 140 000 gehabt. Und diese Gefahr bleibt, weil es ja jederzeit wieder mit einer vergleichbaren Dynamik in bestimmten Regionen oder auch flächendeckend losgehen kann. ({0}) – Noch nicht. Lieber Herr Spangenberg, Sie selbst trauen ja Ihren eigenen Worten nicht. Denn in Ihrem Antrag – neben diesem Ganzen „Öffnerei, Öffnerei und Öffnerei“ und „Reproduktionsrate 1“ und „Wir müssen uns keine Sorgen mehr machen“ – fordern Sie unter Punkt 8, „die getroffenen Maßnahmen wöchentlich zu überprüfen“ und: „Der Bundestag ist dabei, in angemessener Weise zu beteiligen.“ Werter Herr Kollege Spangenberg, wenn Sie das wöchentlich überprüfen wollen, wie sehr trauen Sie denn dann Ihren eigenen Aussagen? Das wäre doch dann gar nicht nötig. Das ist doch nur nötig, wenn Sie befürchten, dass es total schiefgehen kann. ({1}) Dann muss ich – und das ist der letzte Teil der Antwort – zur wöchentlichen Überprüfung, lieber Herr Spangenberg, bei allem Respekt sagen: Wir haben eine Inkubationszeit, die eher bei über einer Woche als unter einer Woche liegt. Wir haben dann eine asymptomatische Erkrankungsphase, an deren Ende der Höhepunkt der Infektiosität liegt. Dann kommen zum ersten Mal Symptome, sodass Tests durchgeführt werden können. Dann wird es noch ein paar Tage dauern, bis die Tests ausgewertet sind. ({2}) Am Ende dieser Tests beginnt dann der Meldeverzug, bis wir es in den Erhebungen erleben. ({3}) Deswegen brauchen Sie eine längere Beobachtungszeit, um zu beurteilen, ob eine Maßnahme sich deletär und fatal auswirkt oder nicht.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

So, jetzt ist es aber genug. Jetzt bitte hinsetzen. Jetzt geht die normale Rede weiter. ({0}) – Nein, Herr Spangenberg. – Bitte, Herr Henke.

Rudolf Henke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Deswegen sage ich, dass diese Gefahr, von der Sie selber ausgehen – sonst wäre ja keine wöchentliche Überprüfung der Maßnahmen nötig –, weiterhin besteht. Dass wir das Schlimmste abwenden konnten, ist eine riesengroße Gemeinschaftsleistung aller Bürgerinnen und Bürger, aller politisch Verantwortlichen im Land, von allen Aktiven in Gesundheitsberufen, aus der Wissenschaft, aus den Gesundheitsämtern. Natürlich verstehe ich, dass hier jetzt eine rege Debatte stattfindet. Aber welche Konsequenz tragen Sie denn bitte schön vor? Herr Gauland, Ihr Fraktionsvorsitzender, hat heute Vormittag hier gesagt – ich zitiere ihn –: Die Quarantänemaßnahmen laufen längst selbstorganisiert. Der Staat ist dabei weitgehend überflüssig. Es wird also Zeit, die Beschränkung der Grundrechte zu lockern und die Schutzmaßnahmen in die private Verantwortung der Bürger zu überführen. ({0}) Das heißt – auch nach Ihrem Applaus jetzt –, dass Sie das, was wir hier alles beraten – jeden Vorschlag, jede Kontroverse –, für überflüssig erklären und dass Sie sagen, der Staat habe da gar keine Funktion. Dem widerspreche ich ausdrücklich. Das halte ich für ein Taschenspielertum. ({1}) Und Sie glauben das auch nicht selbst. Sie tragen diesen Antrag nicht deswegen hier vor, weil Sie das Virus eindämmen wollen, sondern weil Sie die AfD ausbreiten und weil Sie dazu jeden Unmut in der Bevölkerung nutzen möchten, um Identifikation zu erzeugen. ({2}) Ich finde, das ist eine Art von Auseinandersetzung, die ich einfach nicht billigen und gutheißen kann. ({3}) Natürlich führen wir eine rege politische Diskussion; das ist gut so. Sowohl die Leopoldina als auch Experten der Helmholtz-Gemeinschaft haben systematische epidemiologische Analysen der Bevölkerung gefordert. Wir befürworten ein Infektionsmonitoring als Entscheidungs- und Bewertungsgrundlage. Wenn Sie mich als Arzt fragen, dann sage ich: Ich wünsche mir ein Dashboard mit den wichtigsten relevanten Daten, möglichst in Echtzeit, so realitäts- und tagesnah wie möglich: über Neuinfektionen, Verdopplungszeit, Reproduktionsrate, Todesfälle, verfügbare Betten, Intensivplätze, Übersterblichkeit, Beatmungsplätze, Menschen in häuslicher oder institutioneller Isolation oder Quarantäne, Informationen zur Nachverfolgbarkeit, Bewegungsdaten und, und, und. Aber Sie gaukeln eine falsche Sicherheit vor. Sie wollen Profit daraus schlagen und sagen: Wir öffnen jetzt einfach und haben dabei keine Sorgen. – Das, finde ich, darf nicht passieren. Wenn Sie als Kronzeugen den Präsidenten der Bundesärztekammer zitieren, dann zitiere ich aus dem, was er mir geschrieben hat. Er schreibt nämlich, dass eine rein politisch bzw. ökonomisch motivierte sofortige Wiederherstellung weiter Teile des öffentlichen Lebens, wie sie derzeit von verschiedenen Seiten gefordert wird, aus ärztlicher Sicht nicht verantwortbar ist. ({4}) Das ist die Antwort der Bundesärztekammer zu diesem Thema.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Kommen Sie jetzt bitte zum Schluss.

Rudolf Henke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Schluss. – Wahr ist natürlich auch, dass Arbeitslosigkeit, Armut, Überforderung, Repression und Angst krankmachen können. Und auch darauf muss man achten. Wirtschaft und Gesundheit sind keine Gegensätze, und manch einer müsste vielleicht klarer sagen, nach welchem Monitoringsystem man sich richten soll. Aber bei Ihnen sehe ich nur den Rückzug der staatlichen Verantwortung und nicht hinterlegte Öffnungsforderungen ohne Garantie für den Gesundheitsschutz der Beteiligten. Das kann ich nicht billigen, und deswegen bin ich sehr dafür, dass das Parlament den von Ihnen gestellten Antrag sorgfältig berät, aber dann ablehnt. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Den nächsten Redner sage ich mit großer Wehmut an. Es ist die letzte Rede eines sehr geschätzten Kollegen. ({0}) Ich weiß, wovon ich spreche, weil wir sehr intensiv, sehr gut und sehr kooperativ und konstruktiv in der Mitarbeiter- und Mitarbeiterinnenkommission zusammengearbeitet haben. Deswegen ist es die Wehmut. Gleichzeitig hoffe ich für Sie, dass Sie diesen Schritt nicht schrecklich bereuen werden – das werden Sie natürlich tun –, sondern dass Sie eine gute Zukunft vor sich haben. Wir werden Sie nicht vergessen. Der nächste Redner: für die FDP-Fraktion Dr. Stefan Ruppert. ({1})

Dr. Stefan Ruppert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004140, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ganz herzlichen Dank für die wertschätzenden Worte, die ich genau so auch zurückgeben kann. Lassen Sie mich in meiner letzten Rede vielleicht nur einen Satz zum vorliegenden Antrag sagen: ({0}) Wir haben einen Moment einer großen Krise erlebt. Hier wie im Alltag offenbaren sich dann politische Charaktere. Es gibt die einen, die Verantwortung im Moment der Krise übernehmen wollen. Auch eine Opposition macht sich Gedanken, fragt sich: „Wollen wir da nicht gemeinsam ein Signal der Geschlossenheit in der akuten Situation geben?“, und übernimmt Verantwortung, wohl wissend, dass ihre Aufgabe langfristig die Kritik der Regierung ist. Es gibt hier Fraktionen, die diese Verantwortung übernommen haben – auch aus der Opposition. Sie von der AfD haben sie nicht übernommen, sondern Sie lauern auf den Moment, wo Sie die bei solchen Gelegenheiten immer vorkommenden Fehler kritisieren können. Das offenbart Ihren Charakter und Ihre politische Qualität. ({1}) Auf Dauer braucht es die Legislative, um Krisen zu bewältigen. Sie ist am Puls der Bevölkerung. Sie kriegt die Impulse und nimmt sie wahr und spiegelt sie in das Parlament und in die Gesetzgebung zurück. Pluralität ist die Voraussetzung zur Bewältigung von Krisen. Es darf in solchen Momenten kein Wort der Alternativlosigkeit des einen einzigen richtigen Weges geben. ({2}) Ein Wort wie „alternativlos“ kommt im liberalen Sprachschatz, der immer auch die Meinung des Andersdenkenden respektiert, nicht vor. Hans-Dietrich Genscher hat es einmal so ausgedrückt: Zu einem immer neuen Gespräch, zu einer immer neuen Diskussion gibt es keine Alternative. – Dies ist also die einzige Verwendung dieses Worts. ({3}) Ich finde, wir brauchen und wir haben in Deutschland einen handlungsfähigen Staat; aber wir brauchen auch eine starke Bürgergesellschaft. Freiheit wird nicht von der Tribüne verteidigt. Insofern muss jeder Einzelne Verantwortung übernehmen. Das ist unser liberales Menschenbild. Verantwortung und Freiheit gehen Hand in Hand. Dafür kämpfen wir, dafür habe ich mich immer politisch eingesetzt und werde es auch wieder ehrenamtlich tun. ({4}) Wir werden diese Krise nicht ohne Vertrauen in jeden Einzelnen bewältigen. Ich habe bei meinen Kindern, meinen Doktoranden, meinen Mitarbeitern immer erlebt: Vertraue den Menschen, sie werden es dir danken. Dann werden sie Verantwortung übernehmen, dann werden sie das Beste aus sich machen, und dann werden sie auch Krisen und schwierige Situationen bewältigen. Ein Staat setzt Rahmenbedingungen, aber jeder Einzelne von uns übernimmt Verantwortung – für sich selbst, aber auch für andere. So bewältigen wir eine Krise. ({5}) Die soziale Marktwirtschaft, Bürgerrechte und Freiheit gehören untrennbar zusammen. Die Empirie unserer Geschichte zeigt: Immer dann, wenn wir eines dieser Elemente zurückgelassen haben, haben wir Schiffbruch erlitten. Deswegen: ein klares Plädoyer für die soziale Marktwirtschaft – zu der übrigens auch Friseure gehören, wie man dieser Tage merkt –, ({6}) für Freiheit und Bürgerrechte. Dafür kämpfen wir und viele andere in diesem Haus. Lassen Sie mich am Ende ein Zitat, das meine Eltern mir neulich aus einer Predigt mitgegeben haben, in leicht abgewandelter Form wiedergeben: Humor, Gelassenheit und Zuversicht sind die Kamele, die uns durch die Wüste tragen. – Mit Stolz und vor allem mit Dankbarkeit habe ich diesem Haus angehört. Wir haben ein großartiges Parlament, ein plurales Meinungsbild. Dafür bin ich unendlich dankbar. Wir leben in toller Verfassung. Deswegen ist mir in der Krise nicht bange. Ihnen alles Gute und Gottes Segen! Vielen Dank. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Ruppert, Sie sehen und hören es: Das gesamte Haus wünscht Ihnen alles Gute, auch für den neuen Lebensabschnitt. Persönlich sage ich auch Danke für die Zusammenarbeit in unterschiedlichsten Zusammenhängen, besonders auch bei den Themen, über die Sie gerade hier gesprochen haben. Alles Gute! ({0}) Das Wort hat der Kollege Johann Saathoff für die SPD-Fraktion. ({1})

Johann Saathoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004393, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will mehr als nur einen Satz zu dem Antrag sagen, aber nicht, weil er vom Inhalt her so viel Bestand hat, sondern weil er ein Stück weit auch Ihr Weltbild widerspiegelt. Dem vorliegenden Antrag ist zu entnehmen, dass die Maßnahmen zur Eindämmung der Coronapandemie jetzt aufgehoben werden können. Ich frage mich beim Lesen des Antrags, ob aus Sicht der AfD denn die Pandemie schon vorbei ist. Dazu steht in Ihrem Antrag nichts. Gibt es vielleicht auf der rechten Seite des Parlaments grundsätzlich neue Erkenntnisse, von denen wir bisher noch nichts gehört haben? In Ihrem Antrag finde ich jedenfalls dazu nichts. Wir stellen an dieser Stelle mal fest: Wir wissen erst sehr, sehr wenig über das Virus, Sie auch. Sie wissen fast nichts darüber, machen aber populäre Vorschläge, und das geht aus meiner Sicht überhaupt gar nicht. Ich rate jedem, das Gespräch sofort zu beenden, wenn jemand vor Ihnen sitzt, der den Anschein erweckt, er wüsste bereits alles über das Virus und wüsste auch, was zu tun ist. Beenden Sie das Gespräch. Das lohnt sich nicht. So einen Menschen gibt es auf der ganzen Erde nicht, auch nicht in der AfD-Fraktion. ({0}) Was wir allerdings wissen, ist, dass wir erst am Anfang der Pandemie stehen. Circa 2 bis 3 Prozent der Bevölkerung haben erst Antikörper, und selbst das ist nicht sicher. Was wir wissen, ist, dass die überwiegende Mehrheit der Menschen sich an die Regeln hält und sie für sinnvoll erachtet. Wir haben alle Menschen zu Hause, in unseren Familien, in unserem Bekanntenkreis, die einer Risikogruppe angehören und die wir nicht verlieren möchten. Was wir wissen, ist, dass die Folgen einer Lockerung – so wie Sie das vorschlagen – am Ende erst in 14 Tagen sichtbar oder in Leichen zählbar sein würden, weshalb sie sich aus unserer Sicht als völlig unverantwortlich darstellt. Wer jetzt großflächig Öffnungen fordert, den Menschen vormacht, es könnte bereits jetzt alles wieder so sein, wie es vor der Krise einmal war, der spielt nicht nur mit dem Feuer – er stellt auch alle bisherigen öffentlichen und privaten Investitionen ins Feuer und handelt damit aus meiner Sicht zutiefst unverantwortlich. ({1}) Sie behaupten, dass die Menschen erwarten, dass die Sanktionen umgehend gelockert werden. Auch ich nehme Fragen nach Lockerungen wahr – überhaupt kein Thema –; aber ich erlebe auch ein hohes Maß an Verständnis und an Solidarität der Menschen und bin dankbar dafür. Vielleicht ist im ländlichen Raum alles besser als da, wo Sie leben; aber ich erlebe Menschen, die privat etwas organisieren und soziale Medien plötzlich für wirklich soziale Zwecke nutzen. Sie kaufen für Menschen ein, bei denen das Risiko zu groß wäre, wenn sie selbst einkaufen würden. Davon steht in Ihrem Antrag nichts. Ich erlebe Kinder in Ostfriesland, die malen Karten oder schreiben Briefe für Menschen in Altenheimen und versüßen diesen damit den Tag. Ich höre von dieser Solidarität in Ihrem Antrag gar nichts. ({2}) Wenn ich mir aber Ihren Antrag angucke, dann lese ich: Sie sind dafür, die Grenzen zu schließen. Das überrascht jetzt nicht. Aber eine Öffnung für Erntehelfer, damit Sie noch Spargel auf dem Teller haben, finden Sie okay. Unter welchen Umständen die arbeiten und leben müssen – völlig egal! Hauptsache, der Spargel wird gestochen! ({3}) Das, meine Damen und Herren, zeigt Ihr Bild des Menschen, dessen Wert aus Ihrer Sicht im Wesentlichen von der Nationalität abhängt. Dafür tun Sie mir leid. ({4}) Die Pandemie ist nicht national zu bewältigen, sondern, im Gegenteil, nur mit internationaler Solidarität. Rolf Mützenich hat heute Vormittag eindrucksvoll darauf hingewiesen. Da sollten wir in Europa anfangen. Wir müssen die Forschungskooperation noch mehr stärken, und wir brauchen einen Fonds für Katastrophen. Das Vertrauen in Europa und dessen Lösungskompetenz muss gestärkt werden. Wir müssen unseren Beitrag leisten für stärkeres Vertrauen der Länder in Europa untereinander, auch gegenüber Deutschland. Die Pandemie, liebe Kolleginnen und Kollegen, legt Fehler in der Vergangenheit offen; ({5}) das ist gar keine Frage. Wir sollten die Fehler jetzt aber nicht zum eigenen politischen Zweck skandalisieren, sondern aus ihnen lernen. ({6}) Zum Beispiel sollten wir lernen, dass wir falsche Anreize im Gesundheitssystem gesetzt haben. Konkurrenzdruck und Preis sollten dort nicht Priorität haben. Dann hätten wir jetzt mehr Schutzausrüstung. ({7}) Zum Beispiel sollten wir lernen, dass unsere Lieferketten oftmals fragil sind – kein politischer, sondern eigentlich ein Managementfehler, wenn man so will. Das Lieferkettengesetz sorgt für eine verantwortliche und verantwortbare Lieferkette, wenn das Management nicht selber dafür sorgt. Es wird Zeit, dass wir das bekommen. Es geht aber nicht nur um Lieferketten, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wenn wir in Deutschland uns nicht solidarisch mit anderen Ländern in Europa zeigen, die es teils härter getroffen hat, dann brechen uns nicht nur die Lieferketten weg, sondern dann brechen uns auch sämtliche Absatzmärkte weg. Wenn wir also nicht aus Solidarität, aus Mitgefühl und aus Menschlichkeit unseren Nachbarn helfen wollen, dann sollten wir es wenigstens als wirtschaftliche Notwendigkeit erkennen. ({8}) Ihr Plan ist: Grenzen zu und Läden auf. – Meine Bewertung dazu: plakativer Populismus. Was wir tun müssen, ist, Hilfsmaßnahmen weiterzuentwickeln, insbesondere für Bereiche, die länger von den Schließungen betroffen sind, wie zum Beispiel die Tourismuswirtschaft. Was wir tun müssen, ist, uns um die Familien zu kümmern. Das Kindeswohl darf nicht aufs Spiel gesetzt werden. Es besteht die Notwendigkeit einer Kindergrundsicherung; das wird uns doch in diesen Tagen deutlicher denn je. Was wir tun müssen, ist, die Privatisierung der Daseinsvorsorge noch mal kritisch zu hinterfragen, liebe liberale Freunde. Es zeigt sich nämlich, dass auf den reinen Markt eben kein Verlass ist. ({9}) Ich jedenfalls verlasse mich lieber auf Kommunen. Wir müssen in die Zukunft investieren. Und wir müssen die Arbeitnehmer und Azubis im Blick haben, um ihnen durch diese Krise zu helfen. In Ostfriesland sagt man: Well sük nich to helpen weet, is nich weert, dat he in Verlegenheid kummt. – Wir Sozialdemokraten wissen uns zu helfen, mit Abstand, mit Anstand und mit Verstand. Herzlichen Dank. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. André Hahn für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. André Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004288, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir zu Beginn, den Muslimen in Deutschland zum heute beginnenden Ramadan die besten Wünsche zu übermitteln. Das verbinde ich mit dem Dank dafür, dass sich die Muslime seit Beginn der Coronakrise hier genauso solidarisch wie andere Religionsgemeinschaften verhalten haben. Sie haben sich solidarisch verhalten, sie haben ihre Moscheen und Gebetsräume geschlossen gehalten, und das in dem für sie so wichtigen Fastenmonat Ramadan, in dem das allabendliche gemeinsame Fastenbrechen ein ganz zentrales Element ist. Dafür herzlichen Dank! ({0}) Kurz zum Antrag der AfD. Die Coronakrise ist ohne Zweifel eine globale Herausforderung. Um sie zu bewältigen, braucht es Vernunft, Verstand und Solidarität. Die AfD hat nichts davon aufzuweisen. ({1}) Der Antrag ist ein Sammelsurium von zum Teil abstrusen Forderungen und dabei plump eingeflochtener Deutschtümelei. Dazu gehört die Forderung mit Bezug auf die EU-Notstandsklausel, die Grenzen für Schutzsuchende zu schließen und sie in Quarantänelagern zu kasernieren. Das gibt die Notstandsklausel gar nicht her, und das ist politisch wie epidemiologisch Unfug. Dass offene Grenzen für die AfD ein Gräuel sind, ist nichts Neues. Als Abgeordneter aus dem Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge weiß ich aber nur zu genau, wie viele Krankenhäuser und Arztpraxen bedroht wären, wenn das Personal aus Tschechien nicht mehr zur Arbeit kommen würde. Natürlich ist es die Aufgabe des Parlaments, das Regierungshandeln bei der Bekämpfung der Coronakrise kritisch zu begleiten, Einschränkungen an Bürger- und Freiheitsrechten hinsichtlich ihrer Angemessenheit und Wirkungen zu hinterfragen und eigene Vorschläge dagegenzusetzen. Deshalb hat meine Fraktion, Die Linke, allein in dieser Sitzungswoche 18 Anträge in den Bundestag eingebracht. Fakt ist: Im Namen des Infektionsschutzes sind in Deutschland seit über einem Monat zahlreiche Grundrechte massiv eingeschränkt, auch Grundrechte, die für eine demokratische Gesellschaft konstituierend sind, wie etwa die Versammlungsfreiheit. Zweifellos ist der angegebene Zweck, die Pandemie einzudämmen, legitim, aber der Entzug von Grund- und Freiheitsrechten auf längere Sicht ist für eine Demokratie nicht hinnehmbar. Die Behörden sind verpflichtet, nach Möglichkeit mildere Mittel zu wählen, um die Versammlungsfreiheit zu sichern. Die Umsetzung ist vielerorts fragwürdig. Ich finde, es darf nicht zur Regel werden, dass man erst das Verfassungsgericht anrufen muss, um friedlich und unter Einhaltung der Abstandsgebote demonstrieren zu können. ({2}) Deshalb fordern wir von Bund und Ländern, dass alle Verordnungen und Allgemeinverfügungen revidiert werden, die ein pauschales oder unverhältnismäßig weitgehendes Verbot von Versammlungen nach Artikel 8 Grundgesetz beinhalten. ({3}) Für uns als Linke steht jedenfalls fest: Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit darf auch in Zeiten wie diesen nicht zur Disposition gestellt werden. Wir alle haben eine gemeinsame Verantwortung, dass aus der Coronakrise nicht auch noch eine Krise der Demokratie entsteht. Herzlichen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Kirsten Kappert-Gonther für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Kirsten Kappert-Gonther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004773, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Stellen Sie sich vor, Sie befinden sich in einem Flugzeug, und das Flugzeug stürzt ab. Sie haben Glück im Unglück: Sie haben einen Fallschirm dabei. Sie legen ihn an. Der Fallschirm öffnet sich, wodurch sich der Fall verringert. Und mitten im Flug werfen Sie den Fallschirm ab und sagen: Super Maßnahme, hat geklappt, jetzt brauche ich ihn nicht mehr. – Wer würde das tun? ({0}) Es wundert uns gar nicht, dass von ganz rechts hier im Parlament wieder unausgegorene und wirklich menschenfeindliche Vorschläge kommen. Sie wollen quasi alle Schutzmaßnahmen sofort aussetzen und nehmen damit eine exponentielle Ausbreitung des Virus Covid-19 sehenden Auges in Kauf. Das ist verantwortungslos. ({1}) Wer die Gefahr dieses Virus unterschätzt, der gefährdet Leben. Gut, dass Sie in diesem Land weder im Bund noch in den Ländern, nirgendwo, Verantwortung tragen. ({2}) Sie wollen also pronto wieder alles auf Normalbetrieb umstellen, mit einer Ausnahme: Die Grenzen sollen nach Meinung der Nationalisten geschlossen bleiben – dauerhaft. Den Antrag der AfD kann man nicht anders lesen als: Wenn Deutsche Deutsche infizieren, ist das Virus nicht so schlimm. – Das ist zynisch, meine Damen und Herren. ({3}) Was Sie hier vorgetragen haben, sind alles Verwechslungen. Wir in Bremen sagen dazu: die Verwechslung von Gustav mit Gasthof. – So war Ihre Rede – die ganze Zeit. ({4}) Was wir stattdessen brauchen, ist eine vernünftige und sorgfältige Strategie, die Step by Step die Rückkehr in den Alltag ermöglicht und gleichzeitig weiterhin die Infektionsgefahren reduziert. Solange es keinen Impfstoff und keine wirksame Therapie gegen Covid-19 gibt, wird das Risiko der Ansteckung hoch bleiben. Genau wie Trump wollen Sie die Mittel für die WHO kürzen. Wir werden aber die globale gesundheitspolitische Zusammenarbeit verstärken müssen; denn nur durch ein international abgestimmtes und solidarisches Zusammenwirken kann der Gefahr von Pandemien begegnet werden. ({5}) Wir wissen, dass es in Krisen sehr schnell zu einer Sehnsucht nach Autorität kommt. Wie Kinder sehnen wir uns nach einem starken Elternteil, das alles wieder gutmacht. Doch ein Überbietungswettbewerb bei autoritären Maßnahmen ist falsch. Genauso falsch ist ein Überbietungswettbewerb bei der Aufhebung der notwendigen Schutzmaßnahmen. Es ist ein Dilemma, ja: Das Virus ist gefährlich, die Isolation ist es auch. Aber diesem Dilemma werden wir nur mit Sorgfalt begegnen können. Markige Sprüche helfen nicht weiter, sie sind sogar gefährlich, wie wir hier heute gesehen haben. Abschließend: In der Psychotherapie gibt es eine sehr schöne Übung. Wir stellen uns vor, wie wir in fünf Jahren auf diese Krise zurückblicken. Ich wünsche mir, wir wünschen uns, dass wir dann auf gegenseitige, auf anhaltende Solidarität schauen und feststellen, dass wir den Fallschirm eben nicht zu früh abgelegt haben. Danke schön. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Stephan Pilsinger für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Stephan Pilsinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004853, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In den vergangenen Wochen und Monaten dieser Krise haben die Menschen in unserem Land unter Beweis gestellt, dass wir als Gesellschaft in der Lage sind, füreinander einzutreten: gemeinsam, entschlossen und solidarisch. An dieser Stelle möchte ich zunächst ausdrücklich den Einsatz und das unermüdliche Engagement der Beschäftigten in unserem Gesundheitswesen hervorheben. Sie leisten in diesen Tagen Beispielloses und verdienen unseren Respekt, unsere Anerkennung und vor allem unsere Unterstützung. ({0}) Neben meinem Bundestagsmandat bin ich weiterhin als Hausarzt tätig. Über die zurückliegenden Wochen konnte ich mir also selbst ein Bild davon machen, mit welch außergewöhnlichem Einsatz sich alle Beteiligten vor Ort um die Erkrankten kümmern. Ich bin überzeugt: Ohne unser hervorragend funktionierendes Netz von ambulanten Praxen wären die Krankenhäuser innerhalb kürzester Zeit an ihre Belastungsgrenzen gestoßen. Im Gegensatz zu anderen Ländern können hierzulande sechs von sieben Patienten ambulant versorgt werden. Das ist ein entscheidender Vorteil. ({1}) Es ist auch dem Einsatz jeder einzelnen Praxis in Deutschland mit ihren Ärzten, Medizinischen Fachangestellten sowie Büro- und Reinigungskräften zu verdanken, dass wir immer noch über ausreichend Kapazitäten in unseren Krankenhäusern verfügen. Ganz besonders im Umgang mit dieser weltweiten Krise zeigt sich für mich, dass wir tatsächlich eines der besten Gesundheitssysteme dieser Welt haben. Das sehen wir nicht nur, wenn wir auf den Bereich der ambulanten Versorgung schauen. Das sehen wir auch daran, dass wir es innerhalb kürzester Zeit geschafft haben, unsere Intensiv- und Beatmungskapazitäten in den Kliniken entscheidend zu erhöhen. Das sehen wir aber auch an der Anzahl der Proben, die unsere Labore jeden Tag auf das Virus testen, und das sehen wir im Engagement der Apotheken vor Ort und im unermüdlichen Einsatz unserer Forscherinnen und Forscher. Diesen Menschen gilt heute mein ausdrücklicher Dank. ({2}) Ein zu selten genannter, aber entscheidender Aspekt ist auch: Der gesellschaftliche Zusammenhalt erlaubt uns, mit Zuversicht in die Zukunft zu schauen; denn gemeinsam können wir diese Krise überwinden. Dazu brauchen wir in den kommenden Wochen aber die Unterstützung jedes Einzelnen. Geben Sie also weiterhin aufeinander acht, und vermeiden Sie, wann immer möglich, die physische Nähe zu anderen; denn so können wir erreichen, dass die bisherigen Erfolge zur Abflachung der Ausbreitungskurve nachhaltig sind. ({3}) Die in der vergangenen Woche erlassenen Handlungsempfehlungen und Verhaltensvorgaben haben sich als sehr wirkungsvoll erwiesen und werden von Bund und Ländern regelmäßig kritisch überprüft und nach Möglichkeit angepasst. Das zeigt sich auch im besonnenen Umgang mit der schrittweisen Lockerung einiger Maßnahmen. Mit ihrem vorliegenden Antrag möchte sich nun auch die Fraktion der AfD in die Debatte um eine Aufhebung geltender Maßnahmen einbringen. Grundsätzlich ist das ja zu begrüßen, im konkreten Fall aber leider handwerklich einfach schlecht gemacht. Zuallererst: Die Regelungen, die Sie hier einfordern, kann der Bund überhaupt nicht erlassen – anscheinend fehlt Ihnen das nötige Grundverständnis der föderalen Strukturen unseres Staates –; denn zuständig sind in diesem Fall laut Infektionsschutzgesetz die Länder. Die Entscheidungshoheit der Länder ist hier durchaus sinnvoll; denn in der Bundesrepublik ist das Infektionsgeschehen nicht überall gleich ausgeprägt. Die ergriffenen Maßnahmen können daher nicht in jedem Bundesland gleich sein. Zudem wurde ein Großteil der Maßnahmen, die Sie in Ihrem Antrag einfordern, bereits in enger Abstimmung mit der Bundesregierung durch die Länder ergriffen. Insofern leistet Ihr Antrag aus meiner Sicht keinen gewinnbringenden Beitrag zur derzeitigen Debatte um eine wirksame und nachhaltige Eindämmung der Infektion. Vielmehr müssen wir nun weiter daran arbeiten, die geltenden Einschränkungen in kleinen Schritten zurückzunehmen und die Auswirkungen dabei jeweils genauestens zu überprüfen. Nur so können wir auch in Zukunft die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger in unserem Land bestmöglich schützen. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache.

Hubertus Heil (Minister:in)

Politiker ID: 11003142

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Deutsche Bundestag debattiert heute fast schon den ganzen Tag – wie könnte es anders sein? – die Folgen der Coronapandemie. Wir alle wissen: Wir haben erhebliche wirtschaftliche Folgen, und zwar weltweit. Eine Zahl aus den Vereinigten Staaten hat mich heute regelrecht erschreckt: In den USA sind in den letzten vier Wochen sage und schreibe 26 Millionen Arbeitsplätze verschwunden. Wir müssen das feststellen. Das wird übrigens auch wirtschaftliche Folgen für uns haben, wenn wir an den Handel, an die zukünftige Nachfrage nach unseren Produkten aus den USA denken. Aber während dieser vier Wochen, in denen in den USA 26 Millionen Arbeitsplätze verschwunden sind, waren und sind wir in unserem Sozialstaat in der Lage, mit den Wirtschaftshilfen, aber vor allen Dingen den veränderten Regeln zur Kurzarbeit Millionen von Arbeitsplätzen zu sichern. Das ist ein wichtiges Signal für unser Land, meine Damen und Herren. ({0}) Ich bin deshalb froh, dass gestern der Koalitionsausschuss Beschlüsse gefasst hat, die deutlich machen, dass Kurzarbeit ein wichtiges Instrument ist, um Arbeitsplätze zu sichern. Die Beschlüsse zeigen gleichzeitig, dass wir nicht blind sind, sondern sehen, dass diese Beschäftigten, wenn sie sehr lange in Kurzarbeit sind, erhebliche Gehaltseinbußen hinnehmen müssen, während laufende Kosten – Mieten, Pachten, Zinsen, Kredite – weiterlaufen. Deshalb ist es ein wichtiges Signal, dass diese Koalition mit den veränderten Regeln zur Kurzarbeit auch unverhältnismäßige Lohneinbußen abfedern wird. ({1}) Diese Maßnahmen, die ich eben beschrieben habe, sind Akutmaßnahmen, die wir jetzt brauchen. Wir alle wissen aber, dass diese Krise wahrscheinlich den Strukturwandel unserer Wirtschaft, in dem wir schon seit geraumer Zeit stecken, massiv beschleunigen wird. Man sieht das am Thema Digitalisierung. In dieser Krise arbeiten derzeit wahrscheinlich ungefähr 25 Prozent der Beschäftigten in Deutschland im Homeoffice, viele freiwillig, viele unfreiwillig. Dass Homeoffice übrigens nicht immer ein Zuckerschlecken ist, erleben im Moment viele, die das machen. Ich erwähne das, weil wir an diesem kleinen Beispiel erleben, wie sich die Wirtschaft verändern wird. Die Wirtschaft, die wirtschaftliche Struktur, die Struktur der Arbeit wird nach dieser Krise nicht mehr dieselbe sein wie vorher. Bestimmte Trends, die es vorher schon gegeben hat – Digitalisierung, technologische Veränderungen –, werden uns rasanter erreichen, als wir das vor der Krise gedacht haben. Umso wichtiger ist, dass wir jetzt mit diesem Gesetz, mit dem Arbeit-von-morgen-Gesetz, unseren Beitrag dazu leisten, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von heute durch Qualifizierung die Chance haben, die Arbeit von morgen zu machen. Auch an diese Phase müssen wir denken. ({2}) Ich bin den Koalitionsfraktionen, aber auch dem ganzen Bundestag sehr dankbar dafür, dass wir in diesen Zeiten, gerade in diesen Zeiten, dieses Gesetz beschließen. Im Einzelnen geht es um verschiedene Elemente. Es geht darum, dass wir das, was wir mit dem Qualifizierungschancengesetz verbunden haben, nämlich die Unterstützung von Unternehmen und Beschäftigten im Strukturwandel, was Investitionen in Weiterbildung betrifft, massiv verstärken. Wir wissen doch aus der Automobilindustrie, wenn es zum Beispiel um neue Antriebe oder um Digitalisierung geht, wie wichtig es ist, dass wir dafür sorgen, dass die Beschäftigten nicht den Anschluss verlieren. Es geht um veränderte Regeln zu Transfergesellschaften. Wenn Arbeitsplätze abgebaut werden, wollen wir die Transfergesellschaften stärker zur Qualifizierung nutzen. Und ja, wir wollen Kurzarbeit besser mit Qualifizieren verbinden. Ich hätte mir gewünscht, wir hätten das schon vorher hingekriegt; dann wären wir jetzt in der Lage, Qualifizierung und Kurzarbeit besser zu verbinden. Aber es ist gut, dass wir auch dieses Instrument heute geschaffen haben. ({3}) Meine Damen und Herren, in diesem Gesetzentwurf steckt auch etwas drin, worüber seit Jahren diskutiert wurde, etwas, das ich sehr wichtig finde: der Rechtsanspruch auf die Finanzierung des Nachholens eines Berufsabschlusses. Wir dürfen gerade in dieser Zeit nicht die Menschen vergessen, die trotz aller Anstrengungen einen Berufsabschluss verpasst haben, weil sie möglicherweise aus sozialen Verhältnissen kommen, in denen es nicht ganz einfach war. Diesen Menschen eine zweite und dritte Chance zu geben, alle Chancen zu entfalten, damit Menschen in geregelte Arbeit kommen, auch dazu leistet dieses Gesetz einen Beitrag, und auch dafür bin ich den Koalitionsfraktionen sehr dankbar. ({4}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Entstehungsprozess dieses Gesetzes hat weit vor Corona begonnen, mit der Nationalen Weiterbildungsstrategie, die ich mit den Sozialpartnern und der Kollegin Karliczek auf den Weg gebracht habe. Wir haben im letzten Sommer die Eckpunkte vorgestellt und im November den Gesetzentwurf gemacht; übrigens war vieles davon nicht im Koalitionsvertrag von vor zwei Jahren vorausgedacht. Ich bin sehr dankbar dafür, dass wir in guter Arbeit der Koalitionsfraktionen CDU/CSU und SPD und unter Beratung und Zustimmung vieler Oppositionsfraktionen im Ausschuss ein wirklich gutes Gesetz geschaffen haben, damit die Beschäftigten von heute im Strukturwandel die Chance haben, die Arbeit von morgen zu machen. Herzlichen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Martin Sichert für die AfD-Fraktion. ({0})

Martin Sichert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004892, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ein gutes Gesetz definiert sich dadurch, dass es relevante Herausforderungen löst. Sie legen mitten in der Wirtschaftskrise ein Gesetz vor, mit dem Unmengen an Geld für Leute ausgegeben wird, die nicht in der Lage oder nicht willens sind, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. ({0}) Ihr Gesetz ist ein gigantisches Beschäftigungsprogramm für Sozialpädagogen. ({1}) Wenn das, wie Sie behaupten, die Arbeit von morgen sein soll, dann gute Nacht, Deutschland! Sie schreiben: Junge Menschen sind förderungsberechtigt, die ihren Wohnsitz und ihren gewöhnlichen Aufenthalt außerhalb von Deutschland haben. Diese Förderung umfasst sozialpädagogische Betreuung, Maßnahmen zur Stabilisierung des Berufsausbildungsverhältnisses, Angebote zum Abbau von Bildungs- und Sprachdefiziten. – Auf gut Deutsch: Für Ausländer, die eine miserable Bildung und kaum Deutschkenntnisse haben, im Leben nicht zurechtkommen und mit der Arbeitsmentalität in Deutschland ein Problem haben, wollen Sie eine Menge Steuergeld ausgeben. ({2}) Sie gehen sogar noch weiter: Jeder, der selbstverschuldet keine Berufsausbildung aufnimmt oder in der Arbeitswelt keinen Fuß auf den Boden bekommt, soll künftig eine staatlich finanzierte Individualseelsorge durch einen Sozialpädagogen erhalten. Der fleißige Arbeiter, Angestellte oder Selbstständige soll dafür bezahlen, dass andere selbstverschuldet den Hintern nicht hochbekommen. Dafür fehlt mir jegliches Verständnis. ({3}) – Ja, Sie kämpfen seit Jahren dafür. Aber haben wir denn keine anderen Probleme im Land? Wir stecken in einer der größten Wirtschaftskrisen der Geschichte, die durch Ihre verfehlte Politik verursacht wurde. ({4}) Obwohl schon vor über einem Monat anhand der Daten aus Ländern wie Taiwan ersichtlich war, dass man mit strikten Einreisekontrollen, ({5}) ausreichender Mundschutzproduktion im Land und dem Tragen von Mundschutz das Virus stoppen kann, haben Sie sich dafür entschieden, stattdessen die deutsche Wirtschaft lahmzulegen. Während in Taiwan bis heute nur sechs Menschen wegen Corona starben und die Wirtschaft die ganze Zeit läuft, verursacht Ihre Politik Tausende Tote und Hunderttausende vernichtete Existenzen. ({6}) Zahllose Hochqualifizierte werden arbeitslos, und Ihr Gesetz macht nichts für diese Leistungsträger, sondern es sorgt für weitere Belastungen. Es ist nicht gerecht, dass der Einzelne die Hälfte seines jährlichen Einkommens mit dem Staate teilen muss. – Diese Erkenntnis hatte schon Friedrich der Große. Sie sind in Ihrem Umgang mit Steuergeldern rückschrittlicher als ein absolutistischer Monarch von vor 250 Jahren. ({7}) Darüber sollten Sie einfach mal nachdenken. Die Sozialpädagogen und Genderforscher, die werden Deutschland nicht retten. Es sind die Handwerker, die Arbeiter, die Ingenieure, die Mittelständler, die das Rückgrat unseres Wohlstands bilden. ({8}) Viele dieser Leistungsträger verlieren gerade ihre Existenz, auch weil sie wegen der hohen Steuer- und Abgabenlast überhaupt nicht in der Lage waren, irgendwelche Rücklagen zu bilden. Für Sie sind diese Leistungsträger nur Melkkühe. Bestes Beispiel dafür ist auch wieder das Kurzarbeitergeld. Jene in der freien Wirtschaft bekommen 60 Prozent, Beschäftigte im öffentlichen Dienst 95 Prozent. Statt Probleme zu lösen, schaffen Sie ständig nur neue Ungerechtigkeiten. ({9}) Einen positiven Punkt haben Sie aber im Gesetz: Bürger können sich künftig elektronisch arbeitslos melden. Ich weiß, es muss ein großer Schritt gewesen sein für eine Regierung in einem Land, in dem die Meldung von Coranaerkrankungen immer noch per Fax erfolgt. Deutschlands Verwaltung muss viel digitaler, viel unbürokratischer und viel bürgerfreundlicher werden. ({10}) Denn Stand jetzt gilt: Wäre der Staat ein Unternehmen im Wettbewerb, wäre er aufgrund der massiven Bürokratie und rückschrittlichen Technik, mit der in vielen Ämtern gearbeitet wird, längst vom Markt verdrängt worden. In diesem Sinne: Schaffen Sie einen schlanken – –

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung aus der SPD-Fraktion?

Martin Sichert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004892, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ja.

Rainer Spiering (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004410, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe mich zu der Frage entschlossen, weil ich anders als Sie aus dem Hochschulwesen komme. Ich bin Oberstudienrat an einer berufsbildenden Schule und habe 30 Jahre junge Menschen ausgebildet. Haben Sie nur annähernd eine Vorstellung, wie viel junge Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland in den letzten 30 Jahren dieses System am Leben gehalten haben? Wie können Sie eigentlich mit einer derartigen Infamie über diese jungen Menschen bar jeder Kenntnis sprechen? ({0})

Martin Sichert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004892, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Wie können Sie hier Äpfel mit Birnen vergleichen? Im Gesetz steht – ich zitiere extra noch einmal für Sie –: ... junge Menschen [sind] förderungsberechtigt, die ... ihren Wohnsitz und ihren gewöhnlichen Aufenthalt außerhalb – außerhalb! - von Deutschland haben … ({0}) Es geht hier nicht um die Migranten, die seit 30 Jahren hier leben, die gut integriert sind, die Teil dieser Leistungsgesellschaft sind, sondern es geht darum, dass wir als Staat und dass die Regierung hier ständig Geld ausgibt für Leute aus dem Ausland, und das mit dem hart verdienten Geld der deutschen Steuerzahler, ({1}) die überhaupt nicht wissen, woher sie noch irgendwelche Rücklagen bilden sollen. Das ist der Skandal an dieser Stelle, und das ist das, was auch in diesem Gesetz wieder eine völlig falsche Lenkungswirkung hat. ({2}) – Ich habe Sie auch lieb; aber wenn Sie etwas sagen wollen, machen Sie doch eine Zwischenfrage. In diesem Sinne fasse ich alles noch einmal kurz zusammen: ({3}) Schaffen Sie bitte einen schlanken, digitalisierten Staat; aber hören Sie auf, ({4}) ständig mit unnötigen Förderungsmaßnahmen neue Belastungen für die Steuerzahler einzuführen. Vielen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich werde schauen, welche Bemerkung von der Regierungsbank gemacht wurde. Ich mache darauf aufmerksam, dass es nicht üblich ist, von der Regierungsbank Zwischenrufe zu machen. Sollte es inhaltlich noch etwas zu bemerken geben, werde ich das nachreichen. Jetzt hat das Wort die Kollegin Antje Lezius aus der CDU/CSU-Fraktion. Bitte schön. ({0})

Antje Lezius (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004341, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Sichert, zu Ihrer Rede habe ich nur einen Satz: Ich empfehle Ihnen dringend, eine qualifizierte Weiterbildung zu machen. ({0}) Derzeit richtet sich unser aller Hauptfokus auf die Bewältigung der Coronapandemie – zu Recht. Auch der vorliegende Gesetzentwurf beinhaltet notwendige Anpassungen für die Zeit, in der Beschäftigung in Kurzarbeit verbreitet ist und Betriebsräte nicht zusammenkommen können. Im Kern jedoch geht es in diesem Gesetzentwurf um die richtigen Antworten auf den Strukturwandel, eine Frage, die zum Glück nicht unsere Gesundheit betrifft, aber unseren Arbeitsmarkt und unseren Wohlstand. Dass Wirtschaft, Ausbildung und Beschäftigung einem stetigen Wandel unterzogen sind, ist nicht neu. Die Geschwindigkeit, mit der dies geschieht, nimmt jedoch immer stärker zu, gerade auch, weil sich der technische Fortschritt beschleunigt. Technologiezyklen werden immer kürzer. Gleichzeitig verändern sich Tätigkeiten immer schneller. Studien ergeben, dass zwei Drittel der Arbeitnehmer ihre Kompetenzen fortdauernd anpassen müssen, um auch künftig auf dem Arbeitsmarkt erfolgreich tätig sein zu können. Schon heute arbeitet nur knapp jeder zweite junge Erwerbstätige mit dualer Ausbildung noch im erlernten Beruf. Die Arbeitswelt wandelt sich. Wir werden viele neue Tätigkeitsfelder, nicht jedoch weniger Arbeit haben. Dadurch liegt es in unser aller Hand, diesen Wandel positiv zu gestalten. Betriebliche Weiterbildung ist Sache der Arbeitgeber. Jedes Jahr wird hierfür ein zweistelliger Milliardenbetrag aufgewendet. Dies ist gut und richtig so. Die Unternehmen wissen am besten, was in den Betrieben an Fachwissen benötigt wird. Neben der betrieblichen Weiterbildung sind jedoch auch weiterführende Aus- und Weiterbildungen und die Erlangung neuer Kompetenzen notwendig. Wir können, sollten und dürfen es uns als Volkswirtschaft nicht leisten, diese Maßnahmen erst dann anzugehen, wenn Arbeitslosigkeit bereits eingetreten ist oder sich sogar verfestigt hat. Durch den vorliegenden Gesetzentwurf sollen weitere zielgerichtete Qualifizierungsmaßnahmen ermöglicht und so die langfristige Beschäftigungsfähigkeit gesichert werden. Der Gesetzentwurf beinhaltet höhere Zuschüsse, wenn ein größerer Teil der Beschäftigten eines Betriebes einer Anpassung der beruflichen Kompetenz bedarf. Er vereinfacht das Antrags- und Bewilligungsverfahren zur Förderung der beruflichen Weiterbildung für Arbeitgeber und Beschäftigte. Er verbessert die Qualifizierungsmöglichkeiten in einer Transfergesellschaft und fördert die Qualifizierung aller Beschäftigten, unabhängig von Alter und bisheriger Qualifikation. Geringqualifizierte, die besonders stark von Arbeitslosigkeit betroffen sind, erhalten Anspruch auf Förderung einer berufsabschlussbezogenen Weiterbildung. Auch die Ausbildungsförderung wird weiter gestärkt. Welche Ziele leiten uns dabei? Wichtig ist, dass Beschäftigte in den von Strukturwandel, Digitalisierung und Automatisierung betroffenen Branchen bereits frühzeitig Förderungsangebote wahrnehmen können, Personen ohne abgeschlossene Berufsausbildung mehr lernen, verdienen und auch sicherer beschäftigt werden können, Auszubildende noch besser unterstützt werden können. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, meine erste Weiterbildung habe ich vor 35 Jahren absolviert, meinen Betriebswirt mit Ende 40 abgelegt, meine Ausbildung zum Executive Coach vor fünf Jahren abgeschlossen. Wenn ich also sage: „Ja, lernen ist oft anstrengend, Neues ist oft anstrengend, Unbekanntes ist oft anstrengend“, dann weiß ich, wovon ich spreche. Aber sowohl persönlich als auch fachlich bin ich davon überzeugt, dass lebensbegleitendes Lernen wichtig für unsere Volkswirtschaft, aber auch wertvoll für jeden Einzelnen ist. Die Digitalisierung fordert uns hier, indem sie neue Kompetenzen verlangt; aber sie schafft auch neue, großartige Möglichkeiten, ist selbst ein hilfreiches Instrument, etwa durch digitale Lernplattformen. Wir müssen Weiterbildung umfassender denken. Wir brauchen eine Kultur der Weiterbildung. Der Gesetzentwurf ist hierbei ein weiterer wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Herzlichen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Johannes Vogel für die FDP-Fraktion. ({0})

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Sichert, ich glaube, Sie brauchen in erster Linie eine Weiterbildung zu diesem Gesetzentwurf; denn wenn Sie die Änderungen, die im Laufe der Woche vorgenommen wurden, gelesen hätten, hätten Sie festgestellt, dass sich dieser Gesetzentwurf an ganz vielen Stellen natürlich um diese Krise kümmert, und das auch zu Recht, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Koalition. So weit volle Zustimmung! ({0}) – Applaus von der Koalition bekomme ich auch nicht immer. – Dieses Gesetz schafft zum Beispiel neue Hinzuverdienstmöglichkeiten für Kurzarbeiter, die richtig sind und über die wir hier schon lange gesprochen haben. Dieses Gesetz sorgt für einige überfällige Digitalisierungen, die in dieser Krise relevant sind. Ich habe schon am 12. März hier im Deutschen Bundestag darauf hingewiesen, dass zum Beispiel der Anachronismus, dass Betriebsräte gar nicht rechtssicher digital tagen dürfen, in dieser Krise umso dringender abgeschafft gehört, weil die Betriebsräte kurzfristig über Kurzarbeit entscheiden müssen. Während sich der Arbeitsminister noch einen Monat lang über Arbeitsrechtler in diesem Land beschwert und gesagt hat, diese sollten sich bitte nicht so anstellen, hat er jetzt ein Einsehen gehabt. Hier schaffen wir eine überfällige Modernisierung; denn Deutschland ist auch in der Krise ein Rechtsstaat, und genau dieser muss seine Handlungsfähigkeit beweisen. ({1}) Was allerdings weniger überzeugend ist, ist, dass Sie das nur bis zum Ende des Jahres befristen. ({2}) Wir kommen nach der Krise ja nicht in die analoge Zeit zurück. Richtig wäre es, sich jetzt zu fragen, wo wir überall digitalisieren können. ({3}) Denn in dieser Krise zeigt sich, dass ganz viel möglich ist, was angeblich gar nicht möglich war. Menschen können sich digital arbeitslos melden. Sie können digital ihr Hochzeitsaufgebot bestellen. Sie können jetzt alle möglichen Behördengänge von zu Hause erledigen, was vorher angeblich nicht ging. Deshalb sollten wir grundsätzlich alle Schriftformerfordernisse, alle Vorspracheerfordernisse aus den Gesetzen tilgen und ein digitales Zeitalter auch bei den Bürgerämtern einläuten. ({4}) Richtig ist, dass Sie endlich auch die digitale Arbeitslosmeldung in das Gesetz schreiben. Falsch ist, dabei stehen zu bleiben; denn ein digitaler Behördengang macht noch kein digitales Bürgeramt. Da wollen wir nach der Krise mehr sehen. ({5}) In der letzten Minute noch ein paar Worte zum ursprünglichen Zweck des Gesetzes. In der Tat glaube ich, dass diese Krise für eine Beschleunigung der digitalen Transformation sorgen wird. Ja, wir sind auch der Meinung: Es ist richtig, jedem und jeder das Versprechen zu geben, durch Weiterbildung gut teilhaben zu können. Deshalb unterstützen wir ausdrücklich, dass Sie hier vorangehen mit diesem Gesetz. Wir haben schon das Qualifizierungschancengesetz unterstützt. Es ist auch zum Beispiel richtig, dass es jetzt einen Rechtsanspruch auf Nachholen eines Berufsabschlusses gibt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist richtig, der Bundesagentur für Arbeit hier eine Aufgabe zu geben. Aber falsch ist, bei der Bundesagentur für Arbeit stehen zu bleiben. Die Haltung „Wir haben eine neue Herausforderung; dann rufen wir nach einer Behörde“ ist zu wenig, lieber Bundesminister Heil. Was wir brauchen, ist ein großer Wurf, eine echte nationale Weiterbildungsstrategie. Warum nicht neue Instrumente schaffen wie ein Freiraumkonto, mit dem die Bürger, steuerlich gefördert, ganz einfach Bildungssparen betreiben können? Warum nicht endlich ein Midlife-BAföG einführen, zu dem wir Ihnen ein konkretes Konzept vorgelegt haben? Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, da werden wir nach der Krise mehr sehen müssen, um wirklich zu einem großen Wurf bei der Weiterbildung und dem lebenslangen Lernen, zu einem echten zweiten Bildungssystem zu kommen. Vielen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Die Linke hat nun die Abgeordnete Sabine Zimmermann das Wort. ({0})

Sabine Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003869, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Coronapandemie trifft uns alle hart. Die Wirtschaft bricht ein. Die Kurzarbeit erreicht Rekordhöhen. Die Arbeitslosigkeit wird steigen. Corona konnte niemand vorhersagen. Aber, meine Damen und Herren der Bundesregierung, damit können Sie sich nicht herausreden; denn dass es irgendwann wieder einmal eine Wirtschaftskrise gibt, das ist im Kapitalismus sehr wohl vorhersehbar. ({0}) Man muss nicht den Anlass oder den Zeitpunkt kennen, um sich darauf angemessen vorzubereiten. Wenn Sie einmal politische Ökonomie gehabt hätten, würden Sie das wissen. ({1}) Deshalb haben wir die Senkung des Arbeitslosenversicherungsbeitrages abgelehnt. Deshalb haben wir eine höhere Rücklage für die Bundesagentur für Arbeit gefordert, für genau solche Zeiten. ({2}) Jetzt gilt es, die Rezession zu begrenzen und die wirtschaftliche Transformation unabhängig von Corona arbeitsmarktpolitisch abzufedern. Die Linke fordert: Die Arbeitslosenversicherung muss wieder gestärkt werden. ({3}) Wir wollen ein höheres Arbeitslosengeld: 68 Prozent vom letzten Netto. In diesem Monat dürfte eine Viertelmillion Menschen arbeitslos geworden sein. Sie erwarten zu Recht, dass das Arbeitslosengeld ihren Lebensstandard sichert. Also: Rauf mit dem Arbeitslosengeld, meine Damen und Herren! ({4}) Viele haben aber nicht einmal Anspruch darauf oder haben nur für kurze Zeit Anspruch. Deshalb muss man dauerhaft das Arbeitslosengeld leichter und länger beziehen können ({5}) und im Anschluss das von uns geforderte Arbeitslosengeld Plus. Das wäre eine gute Absicherung in so schweren Zeiten. ({6}) Genauso wichtig ist es, die Weiterbildung zu stärken. Corona bringt eine Rezession. Der Klimawandel bleibt ganz oben auf der Agenda, und die Digitalisierung schreitet voran. All das ist eine Riesenherausforderung für die Beschäftigten. Doch die Bundesregierung hängt die Hürden für das Recht auf Weiterbildung so hoch, dass die wenigsten davon profitieren werden. Das wird dem Ernst der Lage nicht gerecht. Hier müssen Sie dringend nachbessern. ({7}) Wir wollen einen echten Rechtsanspruch auf Weiterbildung und ein Weiterbildungsgeld, 90 Prozent vom letzten Netto; denn Weiterbildung muss sich finanziell rechnen. Das wäre ein richtiges Signal. ({8}) Wir fordern ein Transformationskurzarbeitergeld, verbunden mit einem Rechtsanspruch auf Qualifizierung, bei dem der Betriebsrat mitbestimmt. ({9}) Denn wir wollen die Transformation aktiv gestalten: mehr Mitbestimmung in den Betrieben, mehr Regeln für gute Arbeit und mehr Tarifbindung. Nach dem Bezug von Transformationskurzarbeitergeld, aber auch grundsätzlich nach jedem Kurzarbeitergeld wollen wir betriebsbedingte Kündigungen ausschließen. Nur so kann es gehen, meine Damen und Herren. ({10}) Zum Schluss: In der Finanzkrise 2009 wurden die Verluste vergesellschaftet und die Gewinne privatisiert. Das darf es in dieser Krise nicht wieder geben. ({11}) Nicht die Schwächsten, sondern die Starken müssen die Lasten tragen. Dafür wird Die Linke weiterhin kämpfen. Danke. ({12})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003888, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das WZB, das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, hat kürzlich einen Text unter der Überschrift veröffentlicht: „Die COVID-19-Krise nutzen: Es ist Zeit für eine Arbeitsversicherung“. Das Zentrum hat recht. Wir müssen noch einmal grundsätzlich über die Weiterentwicklung der Arbeitslosenversicherung nachdenken. Wir Grüne haben einen Antrag zum vorliegenden Gesetzentwurf gestellt, mit dem Ziel, die Arbeitslosenversicherung zu einer Arbeitsversicherung weiterzuentwickeln. Darin fordern wir zum Beispiel einen besseren Zugang zur freiwilligen Arbeitslosenversicherung für Selbstständige. Wenn Selbstständige schon Mitglied in der Arbeitslosenversicherung wären, wären sie jetzt besser abgesichert. Ich glaube, es ist eine wichtige Folgerung aus der Krise, dass wir im Nachhinein schauen, wie wir Selbstständigen es besser ermöglichen, sich freiwillig in der Arbeitslosenversicherung zu versichern. ({0}) Der zweite Punkt unseres Antrags ist: Auch arbeitslose Beschäftigte, die Beiträge in die Arbeitslosenversicherung zahlen, sollen einen leichteren Zugang zum Arbeitslosengeld I bekommen, nicht erst nach zwölf Monaten Beitragszahlung, sondern schon früher, nach vier Monaten, dann allerdings für eine verkürzte Zeit. Das wäre schnell machbar. Wenn diese Leute jetzt nicht in das Arbeitslosengeld II rutschen, sondern Arbeitslosengeld I bekommen würden, würde das den Menschen helfen und gleichzeitig die Jobcenter entlasten. Das wäre schon kurzfristig machbar. ({1}) Aber im Kern geht es sowohl im Gesetzentwurf als auch in unserem Antrag darum, die zentralen Zukunftsherausforderungen anzugehen. Bereits in dieser Krise an die Arbeit für morgen zu denken, ist wichtig. Wir unterstützen das, was der Gesetzentwurf enthält, genauso wie wir das Qualifizierungschancengesetz unterstützt haben. Aber wir müssen ein Jahr nach der Einführung des Qualifizierungschancengesetzes sagen: So richtig läuft es noch nicht. Deswegen sind die Nachbesserungen richtig, die darin enthaltenen Maßnahmen noch nachzuschärfen. Auch die anderen Maßnahmen im Gesetzentwurf sind überwiegend richtig; aber aus unserer Sicht reicht das nicht. Wir müssen viel grundsätzlicher darüber nachdenken, wenn es um das Thema Weiterbildung geht. Wir brauchen einen Rechtsanspruch auf Weiterbildung; das ist eine zentrale Forderung. ({2}) Das darf nicht nur auf dem Papier stehen, sondern das muss mit der Möglichkeit unterlegt werden, sich freistellen zu lassen, mit der Möglichkeit von Weiterbildungsteilzeit und mit einer besseren sozialen Absicherung in den Weiterbildungsphasen. Auch das ist ein ganz wichtiger Punkt, damit sich auch die Menschen mit geringem Einkommen Weiterbildung leisten können. Solche Maßnahmen fehlen noch in dem Gesetzentwurf. Ebenso ist wichtig, dass wir über Strukturen neu nachdenken. Wir fordern deswegen in unserem Antrag, dass es neben Arbeitsagenturen auch Bildungsagenturen als zentrale Anlaufstellen für die Weiterbildung gibt, wo die Menschen sich dann einfach zur Weiterbildung beraten lassen können, um zu wissen, wie sie sich fördern lassen können, weil viele da jetzt noch nicht durchblicken. Deswegen müssen wir auch über strukturelle Maßnahmen nachdenken. ({3}) Das jetzt Genannte betrifft Punkte, die wir nicht auf einmal hinbekommen. Es ist eher ein umfangreiches Programm, das über längere Zeit läuft. Aber zum Schluss äußere ich noch einen konkreten Vorschlag, wie wir in der jetzigen Zeit die Weiterbildung stärken können. Wir sollten – das hat der Herr Minister eben schon gesagt – schauen, dass wir Kurzarbeit und Weiterbildung stärker miteinander verknüpfen. Dafür braucht es technische Voraussetzungen; die müssen noch geschaffen werden. Aber wir sollten auch darüber nachdenken, ob wir die Idee des Weiterbildungsgeldes nicht schon kurzfristig umsetzen können, indem wir bei Menschen, die Arbeitslosengeld I, Arbeitslosengeld II oder Kurzarbeitergeld beziehen, wenn sie sich weiterbilden wollen und an Weiterbildungsmaßnahmen teilnehmen, einen Aufschlag von 200 Euro zahlen. Dadurch würde die Nachfrage nach Weiterbildung steigen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Strengmann, kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003888, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Dann müsste man auf der Angebotsseite noch etwas machen. Das könnte einen Schub auch für die Weiterbildung jetzt in der Krise bringen. Das ist zum Schluss noch einmal ein konkreter Vorschlag. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Martin Rosemann für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Martin Rosemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004389, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Sozialstaatskonzept der SPD hat zwei zentrale Begriffe, das Recht auf Arbeit und der Sozialstaat als Partner. Das ist ein großer Anspruch, und der Anspruch beweist sich als Allererstes in der Krise. Wir merken auch in dieser Krise: Kurzarbeit ist eines der zentralen Instrumente, um diesen Anspruch einzulösen, um Arbeitsplätze zu sichern und Arbeitslosigkeit zu verhindern. Deswegen haben wir die Kurzarbeit erleichtert und flexibilisiert, und wir flexibilisieren das Instrument mit dem Arbeit-von-morgen-Gesetz noch einmal. Im Ergebnis sichert somit Kurzarbeit in dieser Krise Beschäftigung und Einkommen für rund 4 Millionen Männer und Frauen und ihre Familien. ({0}) Ich will in diesem Zusammenhang im Namen meiner Fraktion auch deutlich sagen: Es ist ein wichtiges Zeichen, dass gestern im Koalitionsausschuss die Aufstockung des Kurzarbeitergeldes verabredet worden ist. Das ist vor allem für die Beschäftigten wichtig, die nur geringe Einkommen haben und bei denen die Arbeitgeber nicht in der Lage sind, das aus eigener Kraft aufzustocken. Das ist eine wichtige soziale Leistung, ein wichtiger sozialer Fortschritt, meine Damen und Herren. ({1}) Das heißt ganz konkret: Sozialstaat als Partner, der das Recht auf Arbeit sichert. Was in der Krise gilt, das gilt erst recht im Strukturwandel. Mehrere Vorrednerinnen und Vorredner haben schon darauf hingewiesen, dass die Coronakrise die Herausforderungen durch die Digitalisierung und den technologischen Wandel eher noch beschleunigen wird. Dieser Strukturwandel wird mit aller Macht auf die Betriebe und ihre Beschäftigten zukommen. Entscheidend wird sein, dass wir die richtigen Instrumente haben, die für die Herausforderungen in unterschiedlichen Branchen flexibel genug sind und die vor allem sicherstellen, dass jede und jeder Beschäftigte die Unterstützung bekommt, die er oder sie im Wandel braucht. Ganz konkret geht es darum, sicherzustellen, dass die Beschäftigten von heute die Arbeit von morgen machen können, und Weiterbildung ist der Schlüssel dazu, meine Damen und Herren. ({2}) Deshalb stärken wir mit dem Arbeit-von-Morgen-Gesetz heute die Weiterbildung an unterschiedlichen Stellen: Wir stärken die Weiterbildung in der Kurzarbeit und in Transfergesellschaften. Wir schaffen einen Rechtsanspruch auf die Förderung beim Nachholen eines Berufsabschlusses für Geringqualifizierte, und vor allem stärken wir die Unterstützung von Beschäftigten bei der Weiterbildung. Wir öffnen die Förderung der Bundesagentur für Arbeit für hochschulische Inhalte, wir erhöhen die Kostensätze, die notwendig sind, damit die Qualität der Weiterbildung stimmt. Wir vereinfachen die Antragstellung, wir reduzieren die für die Förderung erforderliche Stundenzahl. Vor allem erhöhen wir die Fördersätze, wenn ganze Teile von Belegschaften von Weiterbildung profitieren sollen. Schließlich, meine Damen und Herren, stärken wir mit diesem Gesetz die Sozialpartnerschaft bei der Organisation von Weiterbildung in den Betrieben, indem wir dort Zuschläge einführen, wo es Betriebsvereinbarungen zur Weiterbildung gibt oder wo Tarifverträge zur Weiterbildung gelten; denn wir wissen, dass dieser große Transformationsprozess nur von den Arbeitgebern und ihren Beschäftigten gemeinsam bewältigt werden kann. Wir wollen weiterhin daran arbeiten, dass der Sozialstaat als Partner an der Seite der Beschäftigten und ihrer Unternehmen steht. Herzlichen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Stephan Stracke für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Stephan Stracke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004169, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Grüß Gott, Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die abschließenden Beratungen des vorliegenden Gesetzentwurfs waren eigentlich schon vor einem Monat angesetzt. Aber dann kam die Coronakrise mit voller Wucht, und wir haben hier im Parlament auch ein sehr wuchtiges Maßnahmenpaket geschaffen und auf den Weg gebracht, um die Ausbreitung des Coronavirus in der Gesellschaft, in der Wirtschaft und natürlich auch im Gesundheitssystem entsprechend abzumildern. Natürlich ist Corona auch in der heutigen Debatte allgegenwärtig. Wir erleichtern deshalb beispielsweise Bestimmungen unter anderem im Betriebsverfassungsgesetz, damit Betriebsräte auch per Video- oder Telefonkonferenz tagen können. Damit tragen wir den derzeitigen Schwierigkeiten von Präsenzsitzungen angesichts der Coronapandemie Rechnung und sorgen auch für Rechtssicherheit. Mit der vollständigen Freistellung von Minijobs in systemrelevanten Branchen und Berufen schaffen wir weitere Hinzuverdienstmöglichkeiten. Der Koalitionsausschuss hat sich gestern auf weitere, bis Ende dieses Jahres befristete Änderungen verständigt, die wir aber erst in einem späteren Gesetzgebungsverfahren umsetzen werden. So werden die Erleichterungen beim Hinzuverdienst neben Kurzarbeitergeld künftig auf alle Berufe erstreckt. Bisher profitieren davon nur die Berufe, die systemrelevant sind. Das Kurzarbeitergeld hilft Unternehmen, anhaltende Auftragsflauten zu überbrücken und dabei so weit wie irgend möglich die Beschäftigten im Betrieb zu halten. Deswegen ist unser Fokus richtig, auf Kurzarbeit und das Kurzarbeitergeld zu setzen. Wir wollen, dass bei einem Arbeitsausfall von mindestens 50 Prozent das Kurzarbeitergeld je nach Dauer in zwei Stufen auf bis zu 80 bzw. 87 Prozent angehoben wird. Damit unterstützen wir vor allem diejenigen, die mit niedrigen Einkommen jetzt durch die Krise besonders belastet sind. Das ist keine pauschale Erhöhung, sondern eine, die nicht wie aus der Gießkanne wirkt und somit vor allem denjenigen zugutekommt, die Kurzarbeit null haben. Das Arbeitslosengeld wird für Menschen, die sonst in das Hartz-IV-System fallen, um drei Monate verlängert, weil die Vermittlungsbemühungen durch die Arbeitsagenturen aufgrund des Gesundheitsschutzes derzeit sehr eingeschränkt sind. Alles das sind wichtige Änderungen, die die Einkommenssituation der betroffenen Menschen gerade in schwierigen Zeiten verbessern. Folgendes sei ganz am Rande erwähnt: Die Coronakrise führt auch dazu, dass wir längst überfällige Entwicklungen im Arbeitsmarkt letztendlich beschleunigen. Notgedrungen nimmt das Thema Flexibilität in der Arbeitsgestaltung einen höheren Stellenwert ein, und diese Lösungen bleiben sicherlich auch in der Zukunft bestehen. Das zeigt auch, wie wichtig es ist, hier beispielsweise die Weiterentwicklung des Arbeitszeitrechtes ebenfalls noch in Angriff zu nehmen. Bereits vor der Coronakrise gab es im verarbeitenden Gewerbe, insbesondere in der Automobilindustrie und bei den Zulieferern, schwerwiegende wirtschaftliche Probleme angesichts der zunehmenden Digitalisierung und Dekarbonisierung. Im Zuge des Klimawandels stecken viele Betriebe mitten in einem strukturellen Umbruch. Hier gibt es erheblichen Anpassungsbedarf. Wir unterstützen die Unternehmen und Beschäftigten dabei so gut wie möglich. Der Schlüssel liegt in Innovation, der Schlüssel liegt in technischem Fortschritt, in Kreativität und neuen Ideen. Eine gute Basis hierfür bieten Weiterbildung und Qualifizierung der Beschäftigten. Wir wissen: Weiterbildung und Qualifizierung schützen am besten vor Arbeitslosigkeit und Fachkräftemangel. Wir wollen sicherstellen, dass die Beschäftigten von heute auch die Arbeit von morgen leisten können. Deswegen haben wir jetzt ein ganzes Bündel an Maßnahmen geschnürt, um die bestehenden arbeitsmarktpolitischen Instrumente weiterzuentwickeln und insbesondere um das Qualifizierungschancengesetz, das wir am 1. Januar 2019 in Kraft gesetzt haben, gangfähiger zu machen und so die Weiterbildung zu erleichtern. Der Gesetzentwurf enthält Verbesserungen der Weiterbildungsförderung der Beschäftigten, die Einführung von Sammelanträgen in der Förderpraxis, die Änderung bei der Zulassung von Maßnahmen im Bereich der Arbeitsförderung und der Grundsicherung für Arbeitsuchende und auch eine Erhöhung der durchschnittlichen Kostensätze, um Qualität entsprechend abbilden zu können. Die Schaffung eines Rechtsanspruches auf Förderung des Nachholens eines Berufsabschlusses ist richtig, um den Einstieg in qualifizierte Arbeit zu erleichtern. Und: Wir fördern auch diejenigen, die Grenzgänger sind. Wenn hier beispielsweise vonseiten der AfD angemerkt wird, dass das etwas sei, was Ausländern zugutekäme, und Verschleuderung von Beitragsmitteln bedeute, dann ist dies falsch. Denn diejenigen, die wir fördern, arbeiten in Deutschland, zahlen hier entsprechend ihre Steuern und auch ihre Abgaben – etwas, was Deutschland nutzt, und nicht, was Deutschland schadet; deswegen machen wir das. ({0}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir erweitern die Förderung der beruflichen Qualifizierung der Beschäftigten in Transfergesellschaften, und damit schaffen wir auch einen guten Start ins Berufsleben, was alles andere als einfach ist, gerade dann, wenn Arbeitsplätze in Gefahr stehen. Im parlamentarischen Verfahren haben wir jetzt noch weitere Verbesserungen des Gesetzentwurfs auf den Weg gebracht. Mit der Reduzierung der Mindestdauer der Weiterbildungsmaßnahmen von 160 auf 120 Stunden schaffen wir mehr Beschäftigung und dass mehr Menschen in Weiterbildung qualifiziert werden können. Mit der Möglichkeit der Überschreitung der durchschnittlichen Kostensätze schaffen wir eine höhere Flexibilität und einen größeren Entscheidungsspielraum für die fachkundigen Stellen. Und was uns als Union besonders wichtig ist: Kleine und mittlere Betriebe erhalten einen besseren Zugang zu Förderleistungen bei Weiterbildungen und Arbeitsentgelt, gerade dann, wenn der betriebliche Anpassungsbedarf nicht wie bisher bei 25 Prozent, sondern lediglich bei 10 Prozent liegt. Insgesamt ein Gesetzentwurf, der ausgewogen ist, der gut ist und der den Blick auf die Zukunft richtet. Ich bitte um Zustimmung. Herzliches Dankeschön. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache.

Karsten Möring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004356, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst eine kurze persönliche Bemerkung: Ich bedanke mich bei meinem Kollegen Loos, der mit mir eben die Rednerreihenfolge getauscht hat, obwohl der Wirtschaftsausschuss federführend ist, weil ich am Ende dieser Sitzung ein extremes Zeitproblem mit dem Weiterfahren habe. Danke schön! Zur Sache selbst. Wir haben heute die zweite und dritte Lesung eines sehr wichtigen Gesetzes, das seine Wichtigkeit aber nicht primär aus dem Bereich der Geologie oder der Wirtschaft, sondern aufgrund seiner Bedeutung für das Standortauswahlverfahren für das Endlager bekommt. Vor diesem Hintergrund bedaure ich es sehr, dass die Grünen angekündigt haben, den sogenannten großen Kompromiss zum Thema Endlagersuche aufzukündigen. Ich hoffe nicht, dass es dabei bleibt. ({0}) – Pardon, pardon, pardon! Sie haben erklärt, es zu tun, wir nicht. Darauf bezog ich mich. ({1}) Ich bedaure, dass wir nicht zu einem Kompromissergebnis gekommen sind, ({2}) möchte aber begründen, woran das liegt und warum ich der Auffassung bin, dass wir trotzdem ein Gesetz gemacht haben, das maximale Transparenz bei der Standortsuche erreicht. Unser Leitgedanke ist die maximal mögliche Transparenz, und deswegen können wir auch den Änderungsanträgen der FDP im Ausschuss nicht folgen, die diese Transparenz nicht als primäres Leitmotiv akzeptieren. ({3}) Gleichwohl haben wir ein entscheidendes Problem zu lösen gehabt, und das ist das Problem zwischen dem Privateigentum an Daten und dem öffentlichen Anspruch der Nutzung dieser Daten. In der Abwägung dieser beiden Fragen sind wir zu dem Ergebnis gekommen, dass es für den Eigentümer von Daten zum Zweck des Standortauswahlverfahrens hinnehmbar sein muss, dass seine Daten öffentlich gemacht werden. Andere Daten, die nicht diesen Bezug haben, bleiben auf andere Weise geschützt. Gleichwohl sind auch sie in erheblichem Umfang öffentlich. Um nur einmal die Dimension der Zahlen aufzuzeigen, um die es dabei geht: Es gibt in Deutschland ungefähr 16 000 Bohrungen. Bis auf 400 sind diese Daten öffentlich. Das Problem, das uns und die Grünen hier auseinandergetrieben hat, bezieht sich praktisch nur auf die erste Phase, nämlich auf den Zwischenbericht, der im Herbst vorgestellt werden muss; denn für alle Daten, die für die BGE bei der Standortauswahl notwendig und entscheidungserheblich sind, gilt: Die sind öffentlich. Das ist ein maximales Maß an Öffentlichkeit. Die Erwartung, die darüber hinausgeht, dass man auch die Daten öffentlich macht, die nicht für diese Entscheidung erheblich sind oder benötigt werden, kollidiert mit dem berechtigten Interesse der privaten Dateninhaber, und da ist eine verfassungsrechtliche Abwägung notwendig zwischen dem, was man machen kann, und dem, was man nicht mehr machen kann. Diesen Grat haben wir bis aufs Letzte ausgelotet und sind zu dem Ergebnis gekommen, wie es vorliegt. Die Vorstellung der Grünen war geleitet von etwas anderem, nämlich davon, durch Fristenfestlegung zu sagen: Alle Daten, die älter sind als …, sind auf jeden Fall öffentlich. – Diese Entscheidung, die dann wirklich ins Privateigentum in einem Maße eingreift, das nicht mehr durch das Standortauswahlverfahren gedeckt ist, können wir nicht mitmachen. Das ist unser Problem gewesen. Die Lösung, die wir jetzt gefunden haben – das hat auch innerhalb der Koalition durchaus zu intensiven Gesprächen zwischen den Vertretern der Wirtschaftsseite und den Vertretern der Umweltseite geführt –, der Kompromiss, den wir intern gefunden haben, ist, glaube ich, für ein transparentes Auswahlverfahren ganz wesentlich und hilfreich. Wer darüber hinaus sagt: „Das reicht uns aber noch nicht“, der muss auch die Frage beantworten, ob er es verantworten möchte, trotz dieser weitgehenden Transparenz, die wir hier in diesem Gesetz stehen haben, das Verfahren aufzuhalten und die öffentliche Einsehbarkeit der Daten auf der Basis dieses Gesetzes so weit zu verzögern, dass für die Prüfung des Zwischenberichts nur wenig Zeit vorhanden ist oder eine solche Prüfung nur im Nachhinein funktionieren kann. Ein Satz zur Entschließung, die die Koalition vorgelegt hat. Selbstverständlich wollen wir die Länder dabei unterstützen, diese Maßnahmen begleiten zu können, und haben eine finanzielle Zuwendung vorgeschlagen. Da muss noch Feinarbeit geleistet werden. Zunächst einmal ist hier also ein Prüfauftrag an die Ministerien ergangen, wie man das finanzieren kann. Alles das bringt mich zu dem Ergebnis, Sie zu bitten, diesem Gesetz zuzustimmen und damit eine transparente Suche nach einem Atommüllendlagerstandort auf den Weg zu bringen. Den ersten Schritt machen wir im Herbst, aber es ist nicht der letzte. Und für alle weiteren Schritte gilt, dass dann in der Tat alle Daten zugänglich sind und nicht nur die, die jetzt für die Frage entscheidungsrelevant sind, ob ein Gebiet wegen fehlender Eignung ausgeschlossen oder seine Eignung weiter geprüft wird. Ich hoffe, wir kommen heute zu einer guten Entscheidung. ({4}) Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Leif-Erik Holm für die AfD-Fraktion. ({0})

Leif Erik Holm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004761, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Bürger! Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin wirklich gespannt, wie und wann dieses Gesetzes jemals in Kraft treten wird. Wir merken es hier ja schon: Die Positionen sind extrem weit aufgespannt. Die Grünen haben angekündigt, das so nicht mitmachen zu wollen, und auch wir werden diesem Entwurf nicht zustimmen, obwohl wir grundsätzlich ein modernes Geologiedatengesetz befürworten. Aber wir glauben, dass die Korrekturen, die jetzt ins Gesetzgebungsverfahren eingebracht wurden, immer noch massiv in die Eigentumsrechte der betroffenen Unternehmen eingreifen. Das wollen wir nicht, und wir glauben auch nicht, dass das Bestand haben wird. ({0}) Genau diese Eingriffe haben ja auch die Experten in der Anhörung kritisiert. Es gab große Zweifel daran, dass das Gesetz verfassungskonform sein würde. Wir sehen diese Probleme nach wie vor nicht behoben. Das Gesetz darf nicht dazu führen, dass viele Unternehmen ihren teuer erworbenen Wissensschatz verlieren und damit faktisch teilenteignet werden. Man muss sich das wirklich einmal vorstellen: Eine Firma investiert aufwendig, betreibt Bohrungen, um exklusive Erkenntnisse über den Boden zu gewinnen und damit natürlich auch Geld zu verdienen, und dann kommt der Staat und sagt: Du hast da interessante Informationen. Gib mal her! Die Öffentlichkeit interessiert das auch. – Das ist wirklich schwierig. So, meine Damen und Herren, kann es nicht gehen. ({1}) Es handelt sich um wertvolle private Daten; die sind das Kapital dieser Firmen. Wenn Sie diesen Unternehmen ihren selbst erarbeiteten Vorsprung nehmen, dann werden die ihr Geschäftsmodell überdenken müssen; dann werden in Zukunft eben keine Erkundungen mehr in Angriff genommen, wird nicht mehr investiert. Das schädigt das Vertrauen und wäre mit Sicherheit nicht der Weg zu Wachstum und mehr Beschäftigung. Hinzu kommt, dass der Bund wieder einmal eine Menge Bürokratiekosten schafft. Der Erfüllungsaufwand liegt geschätzt bei einer guten Million Euro. „Entbürokratisierung“ ist hier also auch wieder nur eine Worthülse der Regierung. Tatsächlich passiert das Gegenteil, und das ausgerechnet in einer schwierigen Zeit, in der die Wirtschaft jede Entlastung mehr als dringend bräuchte. Das halten wir für den falschen Weg. Noch einmal zum Thema Endlager. Ja, es ist tatsächlich eine schwierige Abwägung zwischen dem öffentlichem Interesse und dem Geheimhaltungsbedürfnis der Unternehmen. Nur schaffen, wie gesagt, Ihre bisherigen Änderungen am Entwurf unserer Meinung nach da keinen ausgewogenen Ausgleich. Ein Expertengremium, das die Notwendigkeit der Veröffentlichung von privaten Daten beurteilen soll, wird nicht ausreichen, damit das Gesetz verfassungskonform wird. ({2}) Es gab einen Vorschlag, für den wir durchaus Sympathie hatten: von Professor Rossi. In der Anhörung hat er genau das angesprochen: ein abgestuftes Verfahren, mit dem wir vorgehen könnten, also erst sozusagen per Ausschlussverfahren horizontal und vertikal Standorte auszuschließen, die nicht infrage kommen, und dann die wenigen übriggebliebenen Standorte tatsächlich näher zu untersuchen und da gegebenenfalls verhältnismäßig – die Verhältnismäßigkeit ist das Entscheidende – einzugreifen, wenn es denn wirklich notwendig sein sollte. Vielleicht auch dies noch: Wenn wir schon über ein Endlager diskutieren, müssen wir heute immer die Alternativen mit auf dem Schirm haben; denn diese Alternativen kommen langsam. Ich habe das in der ersten Lesung schon angesprochen: Es ist durchaus anzunehmen, dass wir ein solches Endlager in einigen Jahren vielleicht gar nicht mehr brauchen; denn die Stimmen mehren sich, dass moderne Verfahren – Stichwort: Transmutation – oder moderne Reaktortypen es möglich machen, auch die Reststoffe noch zu verwerten. ({3}) Meine Damen und Herren, eines zum Schluss: Sie wollen möglichst viel Transparenz bei der Endlagersuche herstellen, und das ist ja auch eine gute Idee. Nur, aus unserer Sicht ist die naiv. Wir erleben das ja auch jetzt in der Diskussion: Die Grünen wettern jetzt schon gegen den Entwurf. Es ist doch klar – für mich jedenfalls ist es klar –: Die Antikernkraftlobby in diesem Land wird sich dadurch sicherlich nicht besänftigen und schon gar nicht überzeugen lassen. Das wird sicherlich ein Wunschtraum bleiben. Danke schön. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun der Abgeordnete Timon Gremmels das Wort. ({0})

Timon Gremmels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004732, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Entwurf des Geologiedatengesetzes wird endlich das vorkonzeptionelle Lagerstättengesetz von 1934 ersetzt. Es wird ein moderner Gesetzentwurf vorgelegt, durch den uns Erkenntnisse über die Geologie, über die Daten zum Untergrund und über dessen Nutzbarmachung ermöglicht werden. Das ist ein wichtiger Gesetzentwurf und ein großer Fortschritt für viele Bereiche. Bei Bau- und Infrastrukturprojekten können nun alle Beteiligten bereits vor dem Beginn der jeweiligen Projekte und Maßnahmen wichtige geologische Daten einsehen. Hier können immense Ressourcen gespart werden, und es ist naturschonend und nachhaltig, wenn dort, wo bereits Daten vorliegen, die für alle zugänglich sind, auf Bohrungen und andere Arbeiten verzichtet werden kann. ({0}) Wichtig sind die Daten auch für die Land- und Forstwirtschaft sowie für die Wasserwirtschaft – um nur einige Bereiche zu nennen. Ich finde, bei aller Diskussion sollte man auch diesen Aspekt dieses Gesetzentwurfs betonen. Er wird aus meiner Sicht in der öffentlichen Debatte immer zu sehr auf die Frage der Endlagersuche verkürzt. Ja, auch für die Endlagersuche ist das ein wichtiger Baustein, ein wichtiger Gesetzentwurf und eine wichtige Grundlage. Wir haben sehr intensiv miteinander diskutiert und auch gerungen. Das sage ich auch für die SPD ganz deutlich. Ehrlich gesagt – das sage ich auch zu meinem Kollegen Möring, den ich sehr schätze – glaube ich, wir sollten uns jetzt nicht gegenseitig unterstellen – weder wir den Grünen noch die Grünen uns –, dass wir an dem Endlagerkompromiss irgendeine Schraube drehen oder irgendein Jota davon abweichen. Das tun wir nicht. Wir stehen dazu! Wir stehen zum Endlagersuchverfahren, das vereinbart worden ist. Das sage ich ganz klar und deutlich, ({1}) und ich bitte, dass wir uns nicht gegenseitig unterstellen, das nicht zu tun. Das sage ich auch in Richtung Frau Kotting-Uhl, die das ja bei der dpa getan hat. Ich finde, das ist nicht legitim. Wir hatten hier in der Tat eine schwere Abwägung zu treffen. Wir wollen ja ein Gesetz machen, das am Ende des Tages auch vor dem Bundesverfassungsgericht standhält. Deswegen, finde ich, sollten wir uns hier die Mühe machen, Abwägungen zu treffen und Kompromisse zu suchen, und nicht immer sagen: Das wird Karlsruhe am Ende des Tages richten. Wir haben hier einen Weg gefunden und gesagt: Es gibt wirtschaftliche Interessen derer – das hat die Anhörung auch gezeigt –, die die Daten erhoben haben. Das ist nach Artikel 14 Grundgesetz auch geschützt. Natürlich spielt das Allgemeinwohl eine sehr große Rolle, und das ist auch gut so. Wir müssen aber auch gucken, dass bei der Abwägung auch die berechtigten Interessen der Firmen zur Geltung kommen. Wir haben jetzt etwas geschaffen, was, glaube ich, sehr sinnvoll ist. Wir haben einen Datenraum gefunden, in dem bestimmte Daten von unabhängigen Experten, die vom Nationalen Begleitgremium benannt werden, eingesehen werden können. Damit wird auf der einen Seite eine gewisse Öffentlichkeit hergestellt, zum anderen werden die Daten aber auch geschützt. Wir reden hier von einer Größenordnung von höchstens bis zu 5 Prozent der entsprechenden Daten. Ich glaube, das ist ein sinnvoller Weg. Ich möchte daran erinnern, dass es das Nationale Begleitgremium war, das in seiner Empfehlung an den Bundestag vom 19. September 2019 auf Seite 5 unter Punkt 5 gesagt hat: Das NBG drängt darauf, einen Weg zu finden, damit auch diese im Ausnahmefall geschützten Daten eingesehen und deren Auswertung im Standortauswahlverfahren durch die Vorhabenträgerin BGE auf Antrag kontrolliert werden können. Hierzu könnte(n) ein unabhängiges vereidigtes Vertrauensgremium oder vereidigte Vertrauenspersonen eingesetzt werden. Wir haben hier genau so etwas vorgeschlagen. Wir haben ein solches Gremium eingeführt – genau so, wie es das Nationale Begleitgremium will –, das diese sensiblen Daten, die wirklich nur einen Bruchteil ausmachen, einsehen kann. Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Wenn die Bundesländer aus legitimem Interesse andere Dinge fordern, haben wir in unserem föderalen System einen ganz einfachen Weg. Wenn der Bundesrat in seiner Mehrheit sagt, er könne dem Gesetz nicht folgen, dann wird der Vermittlungsausschuss angerufen, und dann beschäftigt sich der Vermittlungsausschuss damit. Das ist aus meiner Sicht ein gangbarer Weg. Ich glaube, dass wir Ihnen hier heute als Große Koalition einen Gesetzentwurf vorgelegt haben, der zu Recht als Informationsfreiheitsgesetz gewertet werden darf. Dies ist ein großer Fortschritt. Vielen Dank und Glück auf! ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Marcel Klinge für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Marcel Klinge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004782, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Der vorgelegte Gesetzentwurf zeigt einmal mehr, dass der Großen Koalition das Gespür für die Eckpfeiler der sozialen Marktwirtschaft, nämlich für den Schutz von privatem Eigentum, Rechtssicherheit und faire Wettbewerbsbedingungen, verloren gegangen ist. ({0}) Sie hatten die Aufgabe und immerhin drei Jahre dafür Zeit, eine vernünftige Balance zwischen einem transparenten Auswahlverfahren für die Atommüllendlagersuche einerseits und den berechtigten Interessen der deutschen Bergbauindustrie andererseits zu finden. Dieser Versuch ist, wie ich finde, gründlich danebengegangen. ({1}) Lassen Sie mich das an drei Punkten illustrieren. Erstens. Sie starten mit Ihrem Gesetzentwurf einen Frontalangriff auf die Eigentumsrechte privater Bergbauunternehmen, Herr Kollege. Sie wollen nämlich, dass der Staat auf faktisch alle Forschungsdaten und damit auf vertrauliche Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse vollumfänglich zugreifen kann. Dabei ist dieser Rundumschlag gar nicht notwendig; denn viele Informationen sind für die Endlagersuche nicht ausschlaggebend. Ich möchte Sie daran erinnern: Ihre eigene Behörde, die Bundesgesellschaft für Endlagerung, verweist zum Beispiel darauf, dass Geologiedaten, die bis zu einer Tiefe von 300 Metern ermittelt wurden, hier überhaupt nicht von Relevanz sind. ({2}) Und daher frage ich Sie: Warum wollen Sie diese Informationen eigentlich weiterhin erheben und veröffentlichen? Ich finde, das ist nicht nachvollziehbar. ({3}) Zweitens. Mit Ihrem Gesetzentwurf schwächen Sie die Wettbewerbsfähigkeit unserer Bergbauunternehmen. Diese haben in den vergangenen Jahrzehnten in Deutschland milliardenschwere Investitionen getätigt – und das im legitimen Vertrauen darauf, dass ihre Geschäftsgeheimnisse staatlich geschützt bleiben. Genau an dieser Stelle wollen Sie diese Daten jetzt für jedermann ins Schaufenster stellen. Das ist doch geradezu eine Einladung für die ausländische Konkurrenz, die Situation für sich auszunutzen. Mit kluger Standortpolitik hat das auf jeden Fall nichts zu tun. ({4}) Drittens. Die Große Koalition arbeitet mit einem – ich würde sagen – sehr eigenwilligen Verständnis von Transparenz. Meine Kritik zielt hier nicht nur auf Schwarz-Rot, sondern auch auf die Kollegen der Grünen ab. Die geschätzte Kollegin Kotting-Uhl hat hier bei der letzten Debatte zu diesem Thema ja in freundlich-lehrerhaftem Ton noch mal ausgeführt, was ihr Verständnis von Transparenz ist, und das dann, wie es sich für die Grünen gehört, für allgemeinverbindlich erklärt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Transparenz heißt bei dieser wichtigen Frage doch nicht, dass wir die Bürgerinnen und Bürger mit möglichst vielen Informationen zuschütten. ({5}) Wem, bitte, bringt die Suche nach der Nadel im Datenheuhaufen etwas? ({6}) Sinnvoller wäre es aus Sicht der FDP-Fraktion, wenn wir uns hier auf die wirklich entscheidungsrelevanten Daten konzentrieren würden. Qualität vor Quantität bei den Daten ist der bessere, weil verständlichere Weg bei der Endlagerkommunikation. ({7}) Deswegen werden wir Freie Demokraten dem heutigen Gesetzentwurf nicht zustimmen, sondern uns enthalten. Union und SPD haben bei diesem wichtigen Thema die große Chance vertan, Umweltschutz und wirtschaftliche Fairness in Einklang zu bringen. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Ralph Lenkert für die Fraktion Die Linke. ({0})

Ralph Lenkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004091, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Welche entscheidende Rolle geologische Daten spielen, liegt auf der Hand. Am 25. Juli 1969 explodierte bei Lenzen im heutigen Brandenburg – damals lag es einen Kilometer neben der Staatsgrenze der BRD zur DDR – ein Bohrturm. Die DDR hatte unter dem Salzstock nach Erdgas gesucht und fand es im Salzstock, mit katastrophalen Folgen: ein Toter, sechs Verletzte, eine Woche brannte es. Trotzdem beschloss die Bundesregierung 1977, im selben Salzstock bei Gorleben das Atommüllendlager zu errichten, weil dieser Zipfel so schön in die DDR hineinragte, dünn besiedelt war und man nicht mit Widerstand rechnete. Das war eine rein politische Entscheidung. Bis 2012 wurde trotz des Wissens aus der DDR dort weitergearbeitet. Erst dank des Widerstandes im Wendland und der Veröffentlichung der Linken zum Methan im Salzstock wurde 2012 die Arbeit gestoppt. Das Standortauswahlgesetz war ein Neustart, um transparent und wissenschaftlich den besten Standort in Deutschland zu finden. Ja, dafür sind Geodaten erforderlich. Aber während in Niedersachsen, in Thüringen, in Brandenburg diese Daten der Öffentlichkeit und den Behörden zur Verfügung stehen, muss man woanders auf die Daten privater Firmen zurückgreifen. Deswegen ist das Geologiedatengesetz der Rahmen, damit Firmen diese Daten herausgeben müssen. Gut so, sagt die Linke. ({0}) Dass jedoch die Firmendaten nach dem Desaster von Gorleben nur Behörden und ausgewählten Personen zur Verfügung stehen sollen, ist uns zu wenig. Im Herbst 2020 sollen die Regionen für die erweiterte Suche festgelegt werden; es soll festgelegt werden, welche Standorte für das Atommülllager infrage kommen. Aber frühestens im Juni wird dieses Gesetz verabschiedet. Als Techniker bin ich mir sicher: Eine Auswertung der umfangreichen Firmendaten bis Herbst ist nicht möglich. Dann kann es passieren, dass ganze Bundesländer wegen fehlender Datenbasis aus der Standortsuche herausfallen. Und gerade Bayern, das besonders vom Atomstrom profitierte und besonders viel Atommüll produzierte, könnte dann wegen der fehlenden Daten aus der Untersuchung herausfallen. So wäre das Verfahren mit Transparenz und Offenheit von vornherein gescheitert. Deswegen fordert die Linke die Verschiebung des Termins für die Festlegung der Standortregionen, an denen gesucht wird. Nur so kann sichergestellt sein, dass alle Daten ausgewertet sind. ({1}) Klar ist aber auch: Egal welche Region benannt wird, sie wird ab dem Zeitpunkt der Benennung Nachteile haben, sowohl bei der Ansiedlung von Industrie als auch im Tourismus und bei der Gewinnung von Fachkräften. Deswegen ist es zwingend erforderlich, dass die Kompensations- und Ausgleichsmaßnahmen festgelegt sind, bevor die Regionen benannt werden. Das fordert die Linke. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie diesen Weg mitgehen, wird es möglich sein, den besten Ort für den Atommüll in Deutschland zu finden, akzeptiert und transparent. Vielen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Sylvia Kotting-Uhl für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Sylvia Kotting-Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003792, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Standortauswahlgesetz haben wir in einem breiten Konsens von Bundesländern und Fraktionen im Bundestag beschlossen. Uns leiteten Kompromiss und Konsens, weil wir wussten, dass ein politischer Konsens unverzichtbar ist als Voraussetzung für den gesellschaftlichen Konsens, den wir brauchen, um die Endlagerung hochradioaktiven Mülls angehen zu können. ({0}) Wir wussten um die Wichtigkeit absoluter Transparenz, um Bürgerinnen und Bürger für die Auswahl gewinnen zu können. Wissenschaftsbasiertheit, Transparenz und Partizipation wurden so zu den Schlüsselbegriffen des Gesetzes. Ihr Gesetzentwurf zur Veröffentlichung geologischer Daten, also Daten, die über die Auswahl von Standorten in der Endlagersuche entscheiden, genügt dem nicht. ({1}) Sie ignorieren einfachste Logiken. Entscheidungserhebliche Daten sind für die Kommunen und die Bürgerinnen und Bürger eben nicht nur die Daten, die sie in der Endlagersuche lassen, sondern auch die Daten, die dazu führen, dass andere Regionen herausgenommen werden. ({2}) Und der Datenraum, Herr Gremmels, war vom Nationalen Begleitgremium nicht für den jetzt vorgesehenen Aufgabenwust vorgeschlagen. Ich will Ihnen noch mal ein paar Stimmen aus der Anhörung im Wirtschaftsausschuss in Erinnerung bringen. Steffen Kanitz, Geschäftsführer der Bundesgesellschaft für Endlagerung: Natürlich ist es von erheblicher Relevanz, dass Bürgerinnen und Bürger nachvollziehen können, wie wir eigentlich zu Teilgebieten gekommen sind und ob das richtig ist, wie wir vorgegangen sind. – Oder Klaus Töpfer: Wir müssen dahin kommen, dass Entscheidungen möglichst breit verstanden werden. – Beide übrigens Mitglieder Ihrer Partei, Herr Möring, Herr Bareiß. – Und der Verfassungsrechtler Professor Wieland: Hier ist das Interesse der Allgemeinheit vorrangig. ({3}) Es geht im Kern um die Auslegung von Artikel 14 Grundgesetz, der das Eigentum des Einzelnen schützt, aber eben nicht unbeschränkt. Absatz 1 Satz 2 besagt: Inhalt und Schranken des Eigentums werden durch den Gesetzgeber bestimmt. – Er verfügt hier über politische Gestaltungsfreiheit. ({4}) Und beim Abwägen zwischen Privatinteressen und öffentlichem Interesse gewinnt keineswegs immer das Privatinteresse. Es gewinnt nicht beim Straßenbau, nicht bei Flughäfen; in der Finanzkrise wurde die Enteignung von Finanzinstituten zulässig. Und wer zählt die Menschen, die wegen des Kohleabbaus umgesiedelt wurden, ob sie wollten oder nicht? Und jetzt, angesichts einer Aufgabe mit höchstem gesellschaftlichem Spaltungspotenzial, lassen Sie sich von Wirtschaftslobbyisten den Schneid abkaufen. ({5}) Für die Anhörung luden Sie als Gegenpart zum Verfassungsrechtler Wieland den Verwaltungsrechtler Rossi ein, der in gleicher Sache ein Rechtsgutachten für den BDI und die Erdöl-, Bergbau- und Kaliwirtschaft erstellt hatte. ({6}) Den Blick dieser Wirtschaftsverbände haben Sie sich weitgehend zu eigen gemacht. Eigene Kontrolle wird den Bürgerinnen und Bürgern nicht ermöglicht. Ihr Gesetzentwurf liefert nicht, was das Standortauswahlgesetz verlangt. Ebenso fatal: Sie missachten den Wert des Konsenses von Parteien und Ländern und verlassen damit den Pfad breit getragener Entscheidungen bei der Endlagersuche. Möglicherweise hält nun der Bundesrat das Gesetz auf. Ansonsten obliegt das Gelingen einer vergleichenden, ergebnisoffenen Endlagersuche dann dem Betreiber, der Behörde, dem Nationalen Begleitgremium und der Zivilgesellschaft, wenn Politik an dieser Stelle versagt hat. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Frau Kollegin, achten Sie bitte auf die Zeit.

Sylvia Kotting-Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003792, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Es ist zu hoffen, dass der Geist der Endlagerkommission und des Standortauswahlgesetzes dort präsenter bleibt als hier bei der Koalition und in den Ministerien. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Bernhard Loos für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Bernhard Loos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004806, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute ein Gesetz, dessen große Bedeutung sich für viele erst auf den zweiten Blick erschließt. Nur wenn die Beschaffenheit des geologischen Untergrunds in Deutschland bekannt ist, kann ein geeigneter Standort für ein atomares Endlager mit bestmöglicher Sicherheit gefunden werden. Damit aber die BGE schon im Herbst den ersten Schritt gehen kann und bestimmte Regionen Deutschlands ausschließen kann, brauchen wir das Geologiedatengesetz jetzt rasch. Ich sage es gleich zu Beginn – ich hoffe, dass die Bundesländer dies auch so sehen –: Wir im Deutschen Bundestag sind uns dieser zeitlichen Verantwortung bewusst. Wir haben daher das Geologiedatengesetz trotz Coronakrise ({0}) unter Berücksichtigung einiger Änderungswünsche aus den Ländern zur zweiten und dritten Lesung gebracht. Wir erwarten aber auch, dass die Länder Wünschen des Bundestages, die zu mehr Rechtssicherheit führen, zustimmen werden. Eine Verweigerung würde dazu führen, dass der ganze Fahrplan zur Endlagersuche schwieriger würde. Das kann niemand wollen. Insbesondere für die Veröffentlichung von Daten aus kommerziellen Erkundungen musste daher eine tragfähige Rechtsgrundlage geschaffen werden. Daten und Geschäftsgeheimnisse gegen den Willen der Eigentümer öffentlich zu machen, ohne dass die Unternehmen zumindest die Möglichkeit eines effektiven Rechtsweges im Sinne eines Eilrechtsschutzverfahrens nach § 80 Absatz 5 Verwaltungsgerichtsordnung haben, verstieße aus unserer Sicht gegen das Grundgesetz. Auch können nicht die Unternehmen das Risiko tragen, dass Gerichte überlastet sind und keine Eilentscheidung rechtzeitig getroffen wurde. Daher haben wir jetzt in § 34 Absatz 3 des Gesetzentwurfs festgelegt, dass den Unternehmen nach einer Anhörung sechs Wochen vor der öffentlichen Bereitstellung der Daten die Entscheidung mitzuteilen und zu begründen ist. Damit besteht die Möglichkeit der Inanspruchnahme eines Eilrechtsschutzverfahrens nach § 80 Absatz 5 Verwaltungsgerichtsordnung. Zudem wird im neuen § 35 Absatz 2 des Gesetzentwurfs festgelegt, dass gerichtsstrittige Daten nach Ablauf der sechswöchigen Frist, sollte noch keine Entscheidung im Eilrechtsschutzverfahren vorliegen, vom Vorhabenträger nach dem Standortauswahlgesetz in dem nach Absatz 3 und 5 neu einzurichtenden geschützten Datenraum einzustellen sind. Damit werden Eigentumsschutz und Transparenzinteresse effektiv ausgeglichen. Erst damit ist das Geologiedatengesetz aus unserer Sicht verfassungssicher. Diese Notwendigkeit hat auch die Anhörung am 9. März gezeigt. Dies kommt allen Unternehmen gleichermaßen zugute, nicht nur einzelnen Bereichen, wie dies bei der Tiefen-Ausnahmeregelung der Fall gewesen wäre. Insofern kann ich einige überraschende Überlegungen der Grünen im Bundesrat nicht nachvollziehen, bestimmte Unternehmen im Bereich zwischen über 100 Metern bzw. unter 1 500 Metern zu privilegieren. Dies widerspricht jeder Form von Transparenz, auf die Sie doch so großen Wert legen. ({1}) Durch die in § 2 Absatz 5 des Gesetzentwurfs vorgesehene Länderöffnungsklausel für eine Bagatellgrenze wird der Bauwirtschaft Rechnung getragen, wie auch den unterschiedlichen Bedürfnissen von Stadtstaaten und Flächenländern. Weiter haben wir als Koalition zusätzliche Verbesserungen integriert: die Übernahme der Kosten in Höhe von 350 000 Euro für jedes Land für die Digitalisierung im Wege einer Entschließung, die Festschreibung der Evaluierung nach vier Jahren im Gesetzestext und die Beiziehung von fünf externen beauftragten wissenschaftlichen Sachverständigen für die Arbeit des Nationalen Begleitgremiums. Ich möchte noch ein Wort zu den Vorstellungen der Opposition sagen. Die Forderungen der Grünen, nach fünf Jahren alle Daten zu veröffentlichen, eine vorherige Anhörung des Unternehmens ins Ermessen zu stellen und keinen effektiven Rechtsschutz zu gewähren, gehen aus unserer Sicht in die Richtung einer unangemessenen Enteignung. Geschäftsgeheimnisse durch eine Definition zu schützen, geht an der Realität vorbei; denn was öffentlich ist, wird natürlich auch genutzt. Die FDP-Überlegungen gehen uns in die andere Richtung viel zu weit, wobei man von ihr überhaupt sehr wenig gehört hat. Transparenz ist wichtig für die öffentliche Akzeptanz. ({2}) Bei der AfD macht man sich nicht mal die Mühe – so ist mein Eindruck –, sich konkret inhaltlich mit dem Gesetz zu beschäftigen, sondern sie wollte die Bundesregierung in einem ursprünglichen Entschließungsantrag einfach auffordern, „potenziell verfassungswidrige Bestandteile“ zu entfernen. Welchen Paragrafen wollen Sie konkret wie geändert haben? Das hätte mich natürlich interessiert. Wir schaffen heute einen Dreiklang aus Transparenz und damit Akzeptanz, aus öffentlicher Geologiedatenerfassung und damit moderner Rohstoffnutzung sowie aus Rechtssicherheit und Eigentum. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Nina Scheer für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Nina Scheer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004396, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat erkenne ich in diesem Gesetzentwurf, den wir heute verabschieden, einen wichtigen Fortschritt in puncto Standortauswahlverfahren. Da ich, wie alle Redner vor mir heute, wenig Zeit habe, möchte ich nicht die Dinge wiederholen, die schon vielfach gesagt wurden. Es ist klar, was in dem Gesetzentwurf steht. Die Kategorisierung der verschiedenen Datentypen ist erläutert worden. Einzig und allein möchte ich hier doch noch mal die Kritik aufgreifen, die auch vonseiten der Opposition, insbesondere vonseiten der Grünen, an diesen Gesetzentwurf herangetragen wurde; denn ich erkenne darin ein erhebliches Misstrauen gegenüber diesem Prozess. Ich will nicht von Aufkündigung des Prozesses sprechen, aber von einem Misstrauensvotum. Dieses Misstrauen ist genau das Gegenteil dessen, was wir alle doch im Zuge des Standortauswahlprozesses wollen. ({0}) Ich möchte noch mal ganz kurz qualifiziert darauf eingehen, was denn eigentlich an den Vorhalten dran ist. In der Tat gibt es gewisse Daten, die noch nicht gleich alle öffentlich sein werden. Das sind im Geologiedatengesetz, um es zu konkretisieren, die sogenannten Bewertungsdaten. Die machen nach Adam Riese 3 bis 5 Prozent aller Daten aus; die werden in der Tat noch nicht gleich öffentlich sein. Aber da mit der großen Keule zu kommen und zu sagen, dass die Transparenz nicht gewahrt sei, dass da keine Öffentlichkeit stattfinde, ({1}) ist insofern nicht gerechtfertigt, als dass alle Daten dem Nationalen Begleitgremium zur Verfügung stehen, auch den Experten, die das Nationale Begleitgremium hinzuziehen kann. Außerdem kann die Bundesgesellschaft für Endlagerung dann noch entscheiden, und zwar unter Rückgriff auf das Standortauswahlgesetz, wann der Fall eintritt, dass das öffentliche Interesse die privaten Interessen überwiegt. Also können sehr wohl auch im Rahmen dieser übrigbleibenden paar Prozentpunkte noch Entscheidungen gefällt werden, und das pro Öffentlichkeit, pro öffentlichem Interesse, also dass weiter gehend veröffentlicht wird. ({2}) Insofern halte ich es für absolut verfehlt, diesem Gesetzentwurf diesen Malus zu unterstellen, wie er hier heute unterstellt wurde; von politischem Versagen und dergleichen war ja die Rede. Ich möchte dann auch noch darauf eingehen, inwiefern sich in den Alternativen, nämlich den Vorschlägen, die uns Dienstag früh, also vorgestern, um 8 Uhr in der Telefonschalte unterbreitet wurden, in puncto Transparenz eine Verbesserung ausgedrückt hätte. So wie ich es verstanden habe, wären die Grünen dazu bereit gewesen, den Gesetzentwurf mit zu verabschieden, wenn wir eine Veränderung vorgenommen hätten, die da lautet: Es gibt eine Regelung für Altdaten. Diese Altdatenregelung wäre in der Tat ein Mehr an Veröffentlichung, weil dann nämlich Daten noch nach 30 Jahren, wenn sie schon lange nicht mehr in Nutzung sind – also sogenannte Altdaten –, zur Verfügung gestellt werden sollen. Ich frage mich wirklich: Ist der Umgang mit sogenannten Altdaten, die in der Tat jetzt nicht erfasst werden, dies wert? Die 3 bis 5 Prozent, die ich genannt habe, sind in den Altdaten enthalten.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Scheer, achten Sie auf die Zeit. Sie müssen zum Schluss kommen.

Dr. Nina Scheer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004396, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gut. Die drei Minuten sind schon um. – Jedenfalls: Es handelt sich um wenige Prozent an Daten, die hier in Rede stehen. Die hätten Sie angeblich mit veröffentlicht. Das ist aber faktisch nicht der Fall. Insofern halte ich den Vorhalt auch nicht für angebracht und bedaure, dass der Konsens aufgekündigt wurde. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich erteile das Wort zu einer Kurzintervention der Kollegin Kotting-Uhl.

Sylvia Kotting-Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003792, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Ich möchte das nur ergänzen, nachdem Nina Scheer schon teilberichtet hat, was das Kompromissangebot war. Kompromiss heißt immer, dass man bis an die Schmerzgrenze geht. Dazu waren wir bereit, weil für uns Grüne ein Kompromiss, ein Konsens, der eine möglichst breite Zustimmung findet, der die Länder umfasst, sodass nicht die Drohung mit dem Vermittlungsausschuss im Raum steht, und der auch hier breiter ist, als er es jetzt tatsächlich sein wird, sehr wichtig war. Deswegen wären wir bis an die Schmerzgrenze gegangen. Das eine sind die Altdaten. Daten, die älter als 30 Jahre sind, sind in der Tat was anderes als Daten, die 5 Jahre alt sind, was wir eigentlich für angemessen halten. Das war weit entgegenkommend, wäre aber dynamisch gewesen. Das heißt, es ginge nicht nur um Daten, die heute älter als 30 Jahre sind, sondern um Daten, die grundsätzlich älter als 30 Jahre sind. Im Verlauf der Zeit hätte das viel eingeholt. Das andere, was aber genauso wichtig ist, bezieht sich auf die zweite Phase. Die zweite Phase der Standortauswahl ist um einiges entscheidender als die erste; denn da geht es bereits richtig zur Sache. Für diese zweite Phase wollten wir eine Einfügung im Gesetz, und zwar gerade da, wo es um die Abwägung der Bundesgesellschaft für Endlagerung zwischen dem öffentlichen Interesse und dem privaten Interesse geht. Wir als Gesetzgeber wollten in das Gesetz hineinschreiben, dass ab der zweiten Phase davon auszugehen ist, dass hier das öffentliche Interesse überwiegt. Das waren die beiden Änderungsvorschläge, die wir gemacht haben und die Sie leider abgelehnt haben.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie haben das Wort zur Erwiderung.

Dr. Nina Scheer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004396, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich muss dazu wirklich in der Sache erwidern; denn es ist nicht korrekt, wie Sie es darstellen. – Wenn unterstellt wird, dass diese Daten, um die es geht, nur dann veröffentlicht werden könnten, wenn man eine solche Altdatenregelung einfügen würde, ist das einfach falsch. Denn es besteht sehr wohl die Möglichkeit, dass in Abwägung des öffentlichen Interesses mit der Gesetzesfassung, wie wir sie jetzt verabschieden, tatsächlich pro diese Daten entschieden werden kann. Ich halte es im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens auch für gefährlich, hier im Bundestag zu unterstellen, dass das Gesetz so nicht auszulegen sei. Mit dieser Unterstellung machen Sie auch Gesetzesmaterie; denn damit geben Sie auch Auslegungsmaterial an die Hand. Insofern finde ich das problematisch. ({0}) – Nein. Das geht alles in Auslegungsmaterialien mit ein. Die Interpretation, die hier in Rede steht, ist sehr gewagt. Ich möchte dieser Interpretation entschieden entgegentreten, da sie nämlich bedeutet, dass all die Möglichkeiten, die im Gesetz stehen, die in öffentlicher Güterabwägung in Bezugnahme auf das Standortauswahlgesetz getroffen werden können, nicht gegeben sind. ({1}) – Nein, ich verlaufe mich überhaupt nicht. Ich konkretisiere nur die Kritik, und ich weise sie zurück, weil sie einfach sachlich falsch ist. ({2}) Im Übrigen waren es nicht nur zwei Vorschläge. Es gab auch einen dritten Vorschlag, der gestern unterbreitet wurde. Der dritte Vorschlag hätte eine Fristverlängerung bedeutet. Wenn wir noch auf den letzten Metern diese Dinge beschlossen hätten, hätte das möglicherweise zu einer Verschlimmbesserung geführt. Insofern weise ich die Kritik zurück. Im Interesse einer breitestmöglichen Transparenz möchte ich auch noch mal darauf hinweisen, dass die Veröffentlichungsmöglichkeiten sehr wohl viel größer sind, als hier dargestellt. Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache.

Stefan Liebich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004093, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin mir sicher, dass Sie alle einen engen und kurzen Draht zu den Regionen haben, aus denen Sie kommen, zu den Städten und Gemeinden, zu den Landkreisen, dass Sie Gespräche mit den Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern führen, vielleicht selber Kommunalabgeordneter oder Vorsitzender Ihrer Partei vor Ort sind und deshalb wissen, was sich im Moment mit Blick auf die Coronakrise in den Kommunen zusammenbraut: Die Einnahmen sinken, die Ausgaben steigen. Wenn wir eine Katastrophe verhindern wollen, dann müssen wir jetzt sofort handeln. Dazu fordern wir Sie mit unserem Antrag auf. ({0}) Ich will ein Beispiel nennen. Ich habe vor einigen Tagen mit der Oberbürgermeisterin der schönen Wartburgstadt Eisenach, Katja Wolf, gesprochen. Katja Wolf sagte mir, dass die Gewerbeeinnahmen in Eisenach um 50 Prozent gesunken sind, weil im Moment eben logischerweise kaum Gewerbe stattfindet, dass sie monatlich 40 000 Euro – das ist viel für eine Stadt – an Einnahmen aus der Tourismusförderabgabe, besser bekannt als Übernachtungssteuer, verliert und dass das reale Konsequenzen hat: dass eine dringend notwendige Schulsanierung im Moment nicht möglich ist. Sie und alle anderen Kommunen befürchten, dass die Ausgaben steigen werden; denn wenn die Arbeitslosigkeit ansteigen sollte, dann werden auf Dauer die Kosten der Unterkunft, also Heizung und Wohnen, für diejenigen, die sich das nicht leisten können, zum großen Teil von den Kommunen übernommen werden müssen. Damit können wir Eisenach und alle anderen Kommunen in Deutschland nicht alleinlassen. ({1}) Ich habe gestern im Finanzausschuss nachgefragt, ob die Bundesregierung einen Schutzschirm für die Kommunen plant. Die Antwort war Nein, und auch Alternativen waren leider nicht erkennbar. Sie dürfen jetzt aber nicht auf Zeit spielen, sondern Sie müssen zügig handeln; denn sonst hat das Konsequenzen. ({2}) Wir schlagen Ihnen mit unserem Antrag – deshalb haben wir auch die Debatte zu diesem Tagesordnungspunkt beantragt – fünf Punkte vor: Erstens. Bringen Sie endlich die Verhandlungen zur Lösung des Altschuldenproblems zu Ende. Zweitens. Legen Sie einen Solidarpakt III für strukturschwache Kommunen auf, um gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz Deutschland zu sichern. Unterstützen Sie drittens die Länder mit Ergänzungszuweisungen. Setzen Sie viertens die vierteljährlichen Abschlagszahlungen von Gewerbesteuern der Kommunen an den Bund aus. Und fünftens. Erarbeiten Sie einen Nachsorgeplan für all die Kosten, die jetzt durch die Entscheidung der Länder und des Bundes mit Blick auf Corona auf die Kommunen zukommen. Es muss auch hier gelten: Wer bestellt, der bezahlt. ({3}) Und wenn Ihnen unsere vielen tollen Ideen nicht gefallen, dann können Sie gerne eigene entwickeln; aber wichtig ist im Moment, dass etwas vorgeschlagen wird. Ich bringe ein Beispiel: Mein Kollege Fabio de Masi hat in der letzten Woche gesagt, Deutschland müsse Dänisch lernen. Er hat damit Bezug genommen auf die Entscheidung, dass in Dänemark keine Staatshilfen an Unternehmen gezahlt werden, die Dividenden ausschütten oder ihren Sitz in Steueroasen haben. Aber es gibt noch einen anderen guten Grund. Der dänische Finanzminister Nicolai Wammen hat in der letzten Woche gesagt: Setzen wir uns zum Jahresende zusammen, ziehen wir einen Strich und schauen, wie groß die Rechnung ist. Das, was Corona betrifft, wird die Regierung übernehmen, damit sich die Kommunen damit nicht belasten müssen. – Und er hat auch gleich eine Vereinbarung mit den Kommunen getroffen, nämlich eine Garantie der Übernahme der außergewöhnlichen Covid-19-Ausgaben. Und er hat ausdrücklich davon abgeraten, dass jetzt freiwillige Ausgaben reduziert werden. Das passiert nämlich, wenn wir jetzt keine Lösung vorschlagen. Nicolai Wammen war vor seiner Zeit als Finanzminister Bürgermeister von Aarhus. Da fällt uns was ein: Unser Finanzminister war auch Bürgermeister, also sollte er wissen, was in den Kommunen los ist. Ich finde, er sollte genauso handeln. ({4}) Die Kommunen in Deutschland sind das Rückgrat unserer Demokratie. Viele große Unternehmen beantragen in diesen Tagen Schutzschirme, und sie bekommen Schutzschirme. Aber ich finde, Eisenach und alle anderen Kommunen in Deutschland sollten uns mindestens so wichtig sein wie beispielsweise die Lufthansa. Lassen wir sie nicht allein. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Christian Haase das Wort. ({0})

Christian Haase (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004286, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der schwedische Arzt Hans Rosling beschrieb in seinem Buch „Factfulness“, wie er in den 80er-Jahren in Mosambik mit einer größeren Zahl von Todesfällen unbekannter Ursache konfrontiert war und dem Bürgermeister ohne weitere Überlegung empfahl, Straßensperren zu errichten, um die Ausbreitung der unbekannten Krankheit zu verhindern. Am nächsten Abend fand Rosling rund 20 tote Frauen und Kinder am Ufer des nahegelegenen Sees. Es stellte sich heraus, dass die Menschen, die zum Überleben darauf angewiesen waren, ihre Waren auf dem Markt zu verkaufen, wegen der Straßensperre nicht den Bus, sondern Fischerboote als Transportmittel ausgewählt hatten. Die überladenen Boote kenterten, und Frauen und Kinder, die nicht schwimmen konnten, ertranken. Die unbekannte Krankheit erwies sich kurz darauf als eine Form der Lebensmittelvergiftung. Die Sorge vor einer Ansteckung, der Grund für die Straßensperre, war also unnötig. Rosling schreibt: Ich konnte kaum fassen, was ich angerichtet hatte. Warum hatte ich zum Bürgermeister gesagt: „Sie müssen etwas unternehmen“? Ich stelle diese reale Geschichte voran, weil wir aktuell mit immer mehr Forderungen, etwas zu unternehmen, konfrontiert sind, und weil Roslings Buch uns sehr eindrücklich vor Augen führt, dass wir gerade in Krisenzeiten nicht unseren dramatischen Instinkten folgen sollten, namentlich dem Instinkt der Dringlichkeit, der Angst und der Schuldzuweisung, sondern sorgfältig und ruhig überlegen müssen, welche Daten wir zur Verfügung haben, wie wir sie nutzen, welche Optionen uns zur Verfügung stehen und welche Risiken dem Nutzen jeder Maßnahme gegenüberstehen. ({0}) Einfach nur etwas zu unternehmen und in Aktionismus zu verfallen, kann fatale Folgen haben. ({1}) Dieser Maßstab gilt letztendlich auch für die Auswirkungen der Coronakrise auf die kommunale Seite. Jetzt nur zu rufen: „Wir brauchen einen Rettungsschirm“, wird der Lage nicht gerecht. Fest steht: Wir brauchen Unterstützung. Aber was, wie viel, wann und durch wen, das bedarf einer sorgsamen Diskussion. Hier gilt es, seriös vorzugehen und auch die Steuerschätzungen im Mai abzuwarten. Meine Damen und Herren, in der Krise glänzen manche besonders hell. Dazu gehören neben dem medizinischen Bereich an vorderster Front unsere Gesundheitsämter. Sie leisten gerade zusammen mit den Ordnungsämtern herausragende Arbeit, so zum Beispiel durch Kooperation mit ambulanten Ärzten und den Krankenhäusern. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des öffentlichen Gesundheitsdienstes arbeiten hervorragend, aber am Anschlag. Deshalb ist der Ansatz des Bundesgesundheitsministers, hier zu helfen, richtig und wichtig. Meine Damen und Herren, Daten sind nicht nur die Währung von morgen, sondern die Entscheidungsgrundlage von heute. Das Fax, das 1843 erfunden wurde, hat jetzt ausgedient. Die finanzielle Unterstützung von je 150 000 Euro für IT vom Gesundheitsministerium ist daher gut angelegtes Geld. ({2}) Richtig und wichtig ist auch die personelle Aufstockung der Gesundheitsämter. ({3}) Fünferteams je 20 000 Einwohner sind wichtig, um Infektionsketten zu verfolgen. Bund und Länder unterstützen hier zu Recht; denn vor Ort gibt es schon keine Personalreserve mehr. Ich komme über die Personalkosten zum Geld. Die Sorgenfalten der Kämmerer sehen schon aus wie Ackerfurchen im Frühjahr: ({4}) Steuerausfälle auf allen Ebenen, Mindereinnahmen im Kernhaushalt und bei städtischen Einrichtungen. Das BMF sieht im Augenblick rund 17 Milliarden Euro Mehrbelastung auf der kommunalen Seite. Jetzt muss zunächst Liquidität her, damit die Zahlungsfähigkeit kurzfristig gegeben ist. Immerhin halten die Kommunen das gesellschaftliche Leben aufrecht. Leider sind nicht alle der dafür zuständigen Länder dazu bereit. Mein Appell an die Länder: Lassen Sie Ihre Kommunen jetzt nicht im Regen stehen! ({5}) Dann, meine Damen und Herren, hört es mit Rettungsschirmen schon auf. Was wir dann brauchen, ist die Einhaltung der Verfassung. Dort ist nämlich der Anspruch der Kommunen auf finanzielle Mindestausstattung niedergelegt. Jedes Land ist verpflichtet, seinen Kommunen die notwendigen finanziellen Mittel zur Verfügung zu stellen – nicht mehr und nicht weniger ist der kommunale Anspruch. Das ist eine Daueraufgabe und nicht nur Krisenaufgabe. Das heißt: Keine Kredite für Kommunen, sondern echte Mittel. Aber auch der Bund darf nicht die kalte Schulter zeigen. ({6}) Das beziehe ich ausschließlich auf die erhöhten KdU-Kosten. Das geht meines Erachtens am besten über eine reformierte Umsatzsteuerverteilung. Fassen wir zusammen: Erstens. Die Kommunen zeigen in der Krise wieder einmal ihre Leistungsfähigkeit: „Auf uns ist Verlass.“ Zweitens. Die Länder müssen nun dafür sorgen, dass sie auch finanziell handlungsfähig bleiben. Drittens. Nach der Krise stehen die Kommunen für die Unterstützung bei Konjunkturimpulsen bereit, wenn die finanziellen Rahmenbedingungen gegeben sind. Das bedarf – darauf möchte ich noch mal hinweisen – besonnener Lösungen und keines Aktionismus. Vielen Dank. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Haase. – Da einige Mitglieder der Fraktion Die Linke der Auffassung waren, dass das Faxgerät nicht 1843 erfunden wurde, sondern später, Herr Kollege Dehm, muss ich Sie eines Besseren belehren. Der schottische Uhrmacher Alexander Bain hat 1843 einen Apparat entwickelt, der als Vorläufer des heutigen Faxgerätes gilt. Insofern lag der Kollege der Union richtig. ({0}) Als nächster Redner hat der Kollege Kay Gottschalk von der AfD-Fraktion das Wort. ({1})

Kay Gottschalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004731, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuhörer! Herr Haase, gut gebrüllt! Aber an der Stelle muss auch ich Sie korrigieren. Sie wissen – darauf komme ich in meiner Rede gleich zu sprechen –: Es gibt Verteilungsschlüssel. Wenn den Kommunen in Teilen die Einnahmen wegbrechen, werden sie auch den Ländern wegbrechen. ({0}) Insoweit ist das ein schönes Verteilspiel an dieser Stelle. Heute reden wir also über den Antrag der Linken „Schutzschirm für Kommunen in der Coronakrise“. Diese Debatte verfolgt uns schon seit Längerem. Herr Scholz stand ja auch schon hier am Rednerpult und hat hierzu Vorschläge gemacht. Insoweit ist es leider alter Wein, aber in neuen Schläuchen, die notwendiger denn je sind. Bereits die Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ kam zu der Empfehlung, dass überschuldeten Kommunen – und die haben wir nun mal, und da nützt es auch nichts, wenn Sie die Leistungsfähigkeit und die Grenzfähigkeit dieser Kommunen hier preisen – vom Bund geholfen werden soll. Hierzu legte das Bundeskabinett am 10. Juli 2019 – immerhin, meine Damen und Herren, Juli 2019! – Maßnahmen der Bundesregierung zur Umsetzung der Altschuldenpolitik vor. Seitdem ist auch viel passiert. Umgesetzt wurde aber leider nichts – vielleicht ein Mantra dieser Regierung Merkel. Erst am 11. März 2020 konnte man in der Zeitschrift „Der Neue Kämmerer“, die viele hier, die in der Kommunalpolitik tätig sind, kennen – das ist die Hauspostille aller kommunalen Finanzer –, lesen: „Altschulden-Einigung liegt erst mal auf Eis“. Im Weiteren möchte ich deshalb auch nicht auf das Für und Wider der Maßnahmen zur Eindämmung von Corona eingehen. Ob sie nun wirksam sind oder nicht, das werden andere dann klären. Das überlasse ich den Gesundheitsexperten. Als Finanzer bin ich aber schon der Meinung, dass unsere Aufgabe darin besteht, verehrte Kollegen, über die Folgen dieser Maßnahmen zu sprechen. Als Bundestagsabgeordnete haben wir nämlich die verdammte Pflicht, über die anstehenden Auswirkungen uns jetzt, hier und heute, zu unterhalten und für geeignete Maßnahmen zu sorgen. Ja, Frau Merkel – sie ist jetzt nicht hier –, diese Diskussionsorgie müssen wir in der Tat führen. Als Mann der Zahlen möchte ich die heute schon bestehende Problematik – darauf sind Sie leider nicht eingegangen, Herr Haase – einfach mal anhand von Zahlen verdeutlichen; denn Zahlen lügen nicht. Aus dem Bericht der Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ lässt sich nämlich auch herauslesen, dass die Verschuldung der kommunalen Kernhaushalte beim öffentlichen und nichtöffentlichen Bereich in den vergangenen 20 Jahren um rund 35 Prozent gestiegen ist – 35 Prozent! Während der Bund seine Neuverschuldung tatsächlich unter die magische 60-Prozent-Grenze drücken konnte, ist in vielen Kommunen die Verschuldung der Kernhaushalte gestiegen. Ich rechne da nicht, wie hier in Berlin üblich, die Schattenhaushalte und die kommunalen Unternehmen mit hinein, in denen auch gerne mal die eine oder andere Geschichte versteckt wird. Meine Damen und Herren, das liegt daran, dass die Kassenkreditbestände gestiegen sind. Diese haben sich von 1997 bis 2014 verzehnfacht. Wir sprechen hier von 49,7 Milliarden Euro. Diese Kassenkredite dienen eben nicht investiven Aufgaben, sondern sie wurden rein zur Deckung der laufenden Verpflichtungen aufgenommen. Jeder bei uns in NRW kann das bewundern, wenn er über kaputte Brücken – von Brücken, die nicht gebaut werden können, ganz zu schweigen – oder über Schlaglöcher zur Arbeit fährt. Meine Damen und Herren, was denken Sie denn, was passiert, wenn jetzt noch die Coronamaßnahmen das Land treffen? Was wird dann bei den Kommunen geschehen? Schauen Sie dazu in den aktuellen Bericht des Bundesfinanzministeriums. Aus dem geht hervor, dass bereits im März die Gewerbesteuerumlage um 54,5 Prozent eingebrochen ist. Sie ist ein guter Indikator dafür, dass man wohl davon sprechen kann, dass die Gewerbesteuereinnahmen der Gemeinden im wahrsten Sinne des Wortes wegbrechen werden. Ich zitiere auch hier aus der Ausgabe des „Neuen Kämmerers“ von gestern: Zu Monatsbeginn machte bereits der Deutsche Städtetag auf die drohende finanzielle Notlage vieler Kommunen aufmerksam. Damals sagte Burkhard Jung, Präsident des Städtetags und Leipziger Oberbürgermeister, dass der Verband für das Jahr 2020 ein Defizit der deutschen Kommunen in zweistelliger Milliardenhöhe befürchte.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Kay Gottschalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004731, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ich komme zum Ende, ja. – Bevor Sie also großzügig über 500 Milliarden Euro, wie es heute in der Presse stand, oder viele Dinge für Europa nachdenken – das mag schön und gut sein –, denken Sie zunächst mal darüber nach, –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege.

Kay Gottschalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004731, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

– wie Sie in der Heimat und den vielgepriesenen Kommunen und damit den Einrichtungen wie Bibliotheken vor Ort helfen können. Wir jedenfalls stimmen der – – ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, ich habe Ihnen gerade das Wort entzogen, weil Sie bereits 40 Sekunden über der Zeit sind. Als nächste Rednerin hat für die SPD-Fraktion die Kollegin Elisabeth Kaiser das Wort. ({0})

Elisabeth Kaiser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mir geht es wahrscheinlich wie vielen im Land: Wenn ich wissen will, welche Coronamaßnahmen bei mir vor Ort gelten, wende ich mich an meine Stadt oder meine Gemeinde. Die Menschen erwarten, dass ihr Bürgermeister oder die Landrätin alles tun, um ihre Fragen zu beantworten und auch die heimische Wirtschaft zu retten. So erlebe ich das bei mir zu Hause. Bürgermeister verschicken Infobriefe, veröffentlichen tägliche Videobotschaften oder laden zu digitalen Bürgersprechstunden ein. Sie erläutern ihren Bürgerinnen und Bürgern geduldig, wie die umfassenden Maßnahmenpakete von Bund und Land ihnen in ihren individuellen Lagen helfen können. Als erster Ansprechpartner und steuernde Kraft sind sie die Krisenmanager vor Ort, die gerade derzeit Außergewöhnliches leisten. Und dafür möchte ich auch mal Danke sagen: Danke an die Oberbürgermeister von Gera, von Altenburg, von Schmölln und von Wünschendorf und viele mehr! ({0}) Ihr und eure Verwaltungen machen gerade einen verdammt guten Job. Aber die Coronakrise bringt unsere Städte, Gemeinden und Landkreise auch an ihre Belastungsgrenze. Landräte und Bürgermeisterinnen sind im Dauereinsatz. Gesundheits- und Ordnungsämter schieben Überstunde um Überstunde. Aber es sind vor allem die finanziellen Folgen durch Corona, die den Kommunen Sorge bereiten. Die Einnahmen brechen weg, die Ausgaben steigen. So müssen Städte und Gemeinden mit enormen Steuereinbußen rechnen. Einnahmen aus Kindergartenbeiträgen, Schwimmbädern oder Theatern fallen weg. Die Unterhaltungskosten aber bleiben. Zudem steigen die ohnehin schon sehr hohen Sozialkosten, weil eben auch mehr Menschen Leistungen der Grundsicherung in Anspruch nehmen müssen. Fakt ist aber auch, dass viele Kommunen schon vor der Coronakrise trotz vieler Förderprogramme schwer zu kämpfen hatten. Umso mehr gilt es jetzt, sie zu unterstützen; denn individuelle Lebensqualität und damit auch die Zufriedenheit der Menschen hängen maßgeblich vom Zustand und von der Leistungsfähigkeit unserer Kommunen ab, und damit diese nicht zusammenbrechen, braucht es jetzt einen Rettungsschirm für die Kommunen. Auch wir fordern das schon länger. ({1}) Die SPD steht immer schon an der Seite der Kommunen. Genau deshalb fordern wir auch weiterhin, eine Lösung für die Altschuldenproblematik aufgrund von Kassenkrediten zu finden. Wir kennen die Situation der betroffenen Kommunen, deren Lage nur noch prekärer wird. Wir kennen auch die schwierige Situation der kommunalen Unternehmen. Veranstaltungszentren und Bäder oder Kultureinrichtungen sind durch Einnahmeausfälle bedroht. Finanzminister Olaf Scholz hat hier schnell reagiert und ihnen einfachen Zugang zu Coronahilfen ermöglicht. Nun gilt es, weitere Maßnahmen auf den Weg zu bringen. In der SPD-Fraktion gibt es da unter anderem auch den Vorschlag, die direkt an Kommunen gerichteten Fördermaßnahmen zu entfristen und Nachweispflichten zur Mittelverwendung zu vereinfachen. ({2}) Das wäre zum Beispiel eine Maßnahme beim Programm DigitalPakt oder bei Programmen des Sports, der Kultur oder des Städtebaus. Aber vor allen Dingen ist es jetzt wichtig, die Kommunen endlich bei den Sozialkosten zu entlasten. Bund und Länder könnten ihre Anteile oder die absoluten Beiträge daran deutlich erhöhen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gilt nun, gemeinsam mit den Ländern schnelle und pragmatische Lösungen zu finden. Dazu eignet sich der Antrag der Linken leider nicht so gut. Aber unterstützen Sie uns doch gerne dabei, einen Rettungsschirm für die Kommunen aufzuspannen; –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Elisabeth Kaiser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

– denn sie sind „too important to fail“. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Kaiser. – Nächste Rednerin ist für die FDP-Fraktion die Kollegin Ulla Ihnen, die noch einen kleinen Moment wartet, bis hier vorne die Hygienemaßnahmen abgeschlossen sind. ({0}) Darauf lege ich auch großen Wert. – Bitte schön, Frau Kollegin. ({1})

Ulla Ihnen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004765, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir leben in ernsten Zeiten, und in diesen Zeiten müssen sich Bund, Länder und Kommunen jeweils als Teil einer großen föderalen Familie bewähren. Familienmitglied zu sein, bedeutet Verantwortung und Geborgenheit zugleich. Alle Mitglieder dieser föderalen Staatsfamilie sind von der Krise betroffen. Es fehlen Gebühren, es fehlen Steuern, Pandemiekosten explodieren. Auf Bundesebene haben wir parteiübergreifend einen Nachtragshaushalt in Höhe von 156 Milliarden Euro und die entsprechende Verschuldung dazu beschlossen sowie den Garantierahmen im Bundeshaushalt auf über 1 Billion Euro ausgeweitet. Das sind noch nie dagewesene Summen. Der Bund tut also, was er kann. Aber der Bundeshaushalt ist auch kein Goldesel. ({0}) Die Linke fordert mit ihrem Antrag unter anderem einen Altschuldenfonds, einen Solidarpakt III, eine Gewerbesteuerumverteilung, die Durchsetzung des Konnexitätsprinzips und Geld vom Bund für die Länder, alles zugunsten der Kommunen. Da, muss ich sagen, liebe Parteikollegen der Linken, verlieren Sie jedes Augenmaß; denn es gibt auch Regeln zu beachten. ({1}) Die Länder als Teil der Familie sind nach unserer föderalen Verfassung für die sachgerechte Mittelausstattung der Kommunen verantwortlich. Der Bund hat bereits seit Jahresbeginn rund 9,6 Milliarden Euro mehr Anteile aus den Steuereinnahmen an die Länder abgegeben. Die Coronapandemie macht Ihren alten Vorschlag eines Altschuldenfonds nicht sinnvoller. Er ist auch ungerecht; denn viele Länder haben erfolgreich ihre Kommunen entschuldet. Auch profitieren die Kommunen insgesamt zum Beispiel davon, dass der Bund sich jetzt mit 2 Milliarden Euro zusätzlich an den Kosten für Unterkunft und Heizung beteiligt. Seit gestern Abend gibt es das mit 500 Millionen Euro dotierte Sofortausstattungsprogramm für Schulen. Kommunale Unternehmen profitieren auch von Steuerstundungen, Regelungen zum Kurzarbeitergeld und vom Wirtschaftsstabilisierungsfonds. Es gibt also jetzt schon Hilfe für Kommunen. Auch wenn wir Freien Demokraten der Auffassung sind, dass das Konnexitätsprinzip – also: wer bestellt, bezahlt – besser durchgesetzt werden muss: Die Priorität der gesamten Staatsfamilie muss doch jetzt sein, Gesundheit, Freiheitsrechte und Wirtschaft zu schützen und miteinander in Einklang zu bringen. Später können wir darüber reden, wer in der Familie welchen Anteil an der Finanzierung zu tragen hat, und wir werden dabei alle Mechanismen der Finanzbeziehungen im Blick behalten müssen. Jetzt mit Einzelvorschlägen vorzupreschen, wird der Dimension der Verschuldung und des Problems nicht gerecht. ({2}) Liebe Kollegen von der Linken, es nutzt nichts, das Tempo zu erhöhen, wenn man zur falschen Zeit in die falsche Richtung läuft. Wir werden Ihren Antrag ablehnen. Vielen Dank. Bleiben Sie gesund. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Ihnen. – Nächster Redner ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Stefan Schmidt, der sich auch noch einen kleinen Moment geduldet. ({0}) Herr Kollege Schmidt, Sie haben das Wort.

Stefan Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004877, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Coronapandemie verlangt von vielen gerade Höchstleistungen. Unsere Städte, Gemeinden und Landkreise leisten Außergewöhnliches, um diese beispiellose Krise zu bewältigen. Gleichzeitig leiden die Kommunen besonders unter dieser Krise. Die Einnahmen brechen ein, die Ausgaben steigen, die Fixkosten bleiben, und zwar bei allen Kommunen, egal ob reich oder arm, klein oder groß, ländlich oder städtisch. Die kommunalen Spitzenverbände rechnen mit Mindereinnahmen im zweistelligen Milliardenbereich, und schon Mitte Mai werden die ersten Kommunen wahrscheinlich vor leeren Kassen stehen. Schon heute werden Haushaltssperren verhängt. Länger zuwarten geht da also nicht. ({0}) Es ist höchste Zeit, dass Bund und Länder – und ich sage ausdrücklich: auch der Bund; ein Appell, wie Herr Haase ihn an die Länder gerichtet hat, reicht mir da nicht – da zusammenkommen, entschlossen reagieren und unterstützen. Gemeinsam müssen wir die krisenbedingten finanziellen Lasten den Kommunen ein Stück weit abnehmen; denn sie müssen in dieser Krise handlungsfähig bleiben. ({1}) Drei Punkte sind mir dabei besonders wichtig: Erstens. Der Bund muss den Kommunen die zusätzlichen krisenbedingten Sozialkosten abnehmen. Wir haben hier im Bundestag das Sozialschutzpaket beschlossen. Insofern finde ich es nur naheliegend, dass die 2,1 Milliarden Euro, die zusätzlich auf die Kommunen zukommen, auch vom Bund entsprechend übernommen werden – entsprechend einem vernünftigen Verteilschlüssel, nicht mit der Gießkanne. Das ist mir besonders wichtig, und ich habe die Ankündigungen der Koalition dazu mit Freude gehört. ({2}) Zweitens. Kommunale Unternehmen müssen uneingeschränkten Zugang zu Liquiditätshilfen und Krediten von Bund und Ländern bekommen. Das hat Die Linke in ihrem Antrag leider komplett vergessen. ({3}) Für uns Grüne ist hier klar: Kommunale Unternehmen dürfen gegenüber den privaten nicht benachteiligt werden. ({4}) Drittens. Wir brauchen endlich eine Lösung bei den kommunalen Altschulden. Es wurde angesprochen, wie lange daran schon gearbeitet wurde. Es ist höchst fahrlässig, bereits verschuldete Kommunen jetzt weiter in neue Kredite zu drängen, so wie es beispielsweise Schwarz-Gelb in Nordrhein-Westfalen tut. Das geht nicht. Hier müssen wir wirklich darauf achten, dass die Kommunen handlungsfähig bleiben, dass der Bus nicht noch seltener fährt, dass das Freibad nicht nicht mehr saniert wird oder ganz schließt und dass auch soziale Angebote nicht weiter ausgedünnt werden. So weit werden wir es nicht kommen lassen. ({5}) Abschließend. Wir alle sind gefordert. Der Bund darf sich hier nicht mit Verweis auf die Länder wegducken. Bund und Länder müssen die Kommunen gemeinsam unterstützen. Wir Grüne sind bereit, konstruktiv an einem Hilfspaket oder Schutzschirm – oder wie auch immer wir es nennen wollen – mitzuarbeiten. Vielen Dank. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Schmidt. – Nächster Redner für die CDU/CSU-Fraktion ist der Kollege Sebastian Brehm. ({0})

Sebastian Brehm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004682, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist das Privileg der Oppositionsparteien, dass man ein Stück weit Vorschläge machen kann, ohne sich den Kopf darüber zerbrechen zu müssen, wie man die Vorschläge eigentlich finanzieren und umsetzen will. Frei von Regierungsverantwortung kann man so tun, als könnte man jeden Euro zweimal oder dreimal ausgeben. Mit Regierungsverantwortung ist die Perspektive anders. Hier muss man sich Gedanken darüber machen, wie man am Ende die Ausgaben zusammenbindet, wie man am Ende den Bundeshaushalt bereinigt. Wenn man den wöchentlichen Strom von Oppositionsanträgen gerade in der jetzigen Zeit sieht, dann ist es gut, sich manchmal auch an diesen Unterschied zwischen Opposition und Regierungsverantwortung zu erinnern. Wir als CDU/CSU nehmen die Regierungsverantwortung ernst; ich glaube, das hat auch die Kanzlerin heute in ihrer Regierungserklärung sehr gut und sehr differenziert gemacht. Wir sehen die Probleme. Wir handeln. Wir setzen um, und das, meine ich, in einer klugen und verantwortungsvollen Weise, auch im Sinne des Haushalts. Wir steuern täglich nach, um die maximale Hilfe zu ermöglichen. Alleine der Nachtragshaushalt von 156 Milliarden Euro zeigt auf, vor welchen enormen Herausforderungen wir stehen. Dennoch: Natürlich wollen wir uns mit dem Antrag auch beschäftigen und ernsthaft auseinandersetzen. In Ihrem Antrag suggerieren Sie – ich glaube, zu Unrecht und aus meiner Sicht sehr undifferenziert –, dass der Bund die Verantwortung gegenüber Ländern und Kommunen nicht übernimmt. Das Gegenteil ist der Fall. Natürlich ist es unzweifelhaft, dass die Kommunen in der Coronakrise unter erheblichen Steuerausfällen leiden. Das sehen wir; das ist uns bewusst. Aber bei einer differenzierten Betrachtung gehört zur Wahrheit, dass nach dem Grundgesetz die Verantwortung zunächst bei den Ländern liegt. Die Länder haben mithilfe des kommunalen Finanzausgleichs dafür zu sorgen, dass alle Gemeinden die Finanzausstattung, die sie brauchen, auch erhalten, übrigens auch in der Zeit von Corona. Sie haben das Konnexitätsprinzip – wer bestellt, bezahlt – angesprochen: Ich weiß nicht, ob wir als Bund die Coronakrise bestellt haben. Herr Kollege Liebich, Eisenach ist in Thüringen, und da ist der Ministerpräsident Bodo Ramelow. Fragen Sie doch mal nach, ob er die Hilfe leistet! Bei uns in Bayern, muss ich sagen, da funktioniert es, und da werden wir auch dafür sorgen, dass die Kommunen unterstützt werden. ({0}) Zur Wahrheit, liebe Kolleginnen und Kollegen, gehört auch, dass man gerade in der Zeit vor Corona, was die Kommunen und Länder angeht, an die Schmerzgrenze hinsichtlich des Haushalts gegangen ist. Ich will mal sagen, was eigentlich alles gemacht worden ist: Der Bund hat in diesem Jahr Regionalisierungsmittel in Höhe von 9 Milliarden Euro bereitgestellt. Gemeindeverkehrsprogramm: 665 Millionen Euro. Gemeindeverkehrsentflechtungsmittel: 1,34 Milliarden Euro, allein in diesem Jahr. Im Rahmen der Bundesinvestitionshilfen für finanzschwache Kommunen flossen 7 Milliarden Euro seit 2015 für Infrastruktur und Schulsanierung. 4,4 Milliarden Euro für den Kitaausbau; den haben wir bezahlt. 5 Milliarden Euro für den DigitalPakt Schule. Und jetzt kommen 500 Millionen Euro für den digitalen Unterricht dazu. Das wurde gestern Abend im Koalitionsausschuss besprochen. 2 Milliarden Euro für die Ganztagsschulbetreuung ab diesem Jahr. 2 Milliarden Euro für den Zeitraum 2020/2021 für den sozialen Wohnungsbau. Diese Liste könnte man fortsetzen. Die Posten auf meiner Liste machen allein schon über 32 Milliarden Euro aus, die direkt an die Kommunen gehen. Jetzt kommen noch die Coronasoforthilfe, Kurzarbeitergeld und alles, was wir für die kommunalen Unternehmen finanzieren, dazu. Also: Wir leisten für unsere Kommunen das Maximum dessen, was möglich ist. Ich glaube, darüber hinaus ist es derzeit schwierig, zumal wir auch die Gesamtverantwortung für den Haushalt im Blick haben. ({1}) Darüber hinaus existiert auch der bundesstaatliche Finanzausgleich. Da kommen ja noch mal viele Milliarden Euro an die Länder und Kommunen dazu. In diesem Jahr wird der kommunale Finanzausgleich sogar noch stärker als bislang berücksichtigt. Es gibt neue und höhere Zuweisungen für Länder mit besonders steuerschwachen Kommunen. Auch hier gibt es noch mal 9 Milliarden Euro; das ist ja schon angesprochen worden. Wenn man das Thema differenziert betrachtet, dann sieht man: Wir tun das Maximale. Natürlich bleiben bei den Kommunen die großen Herausforderungen wegen Corona. Aber auch beim Bund, beim Land und in Europa haben wir maximale Herausforderungen aufgrund von Corona. Deswegen, glaube ich, müssen wir täglich neu betrachten, wie die Situation ist. Wir müssen täglich steuern und gucken, was möglich ist. Deshalb lassen Sie uns klug, mit Sachverstand und mit Sorgfalt die Herausforderungen schultern. Ich glaube, die eine Ebene gegen die andere auszuspielen, wie Sie es im Antrag zu suggerieren versuchen, bringt uns nicht weiter. Lassen Sie uns gemeinsam die Herausforderungen in Angriff nehmen und dann gucken, wie die Hilfsmaßnahmen wirken. Herzlichen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Brehm. – Letzter Redner zu dem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Klaus Mindrup, SPD-Fraktion. ({0})

Klaus Mindrup (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004354, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Coronakrise trifft auch die Kommunen mit beispielloser Wucht. Mein herzlicher Dank gilt in dieser schwierigen Zeit den Tausenden ehrenamtlichen Kommunalpolitikern, die in der Pandemie eine herausragende Arbeit leisten. ({0}) Mein Dank gilt auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Kommunen und in den kommunalen Unternehmen. Ver- und Entsorgung funktionieren. Busse und Bahnen fahren, und die kommunalen Verwaltungen arbeiten unter Hochdruck an der Auszahlung der Hilfen für die Bürgerinnen und Bürger. Herzlichen Dank! ({1}) Dabei ist eines klar: Vor allem die Sozialausgaben der Kommunen steigen stark. Zugleich sinken die Einnahmen dramatisch. Es ist daher selbstverständlich und notwendig, dass wir in Deutschland Rettungsschirme für die Kommunen brauchen. Das ist ganz eindeutig. ({2}) Vom Grundgesetz her stehen hier in erster Linie die Bundesländer in der Verantwortung. Wir als Bund müssen aber auch noch aktiver werden. Ich möchte an die Ansprache der Bundeskanzlerin von heute Morgen erinnern. Sie hat gesagt: Eigentlich sind nach dem Infektionsschutzgesetz formal die Länder für die Beschaffung der Schutzausrüstung zuständig. Aber Sie hat gesagt: Wir sind als Bund tätig geworden, weil sie es nicht geschafft haben. – Vielleicht hängt das auch mit den Hilferufen nach China vom Landrat in Heinsberg zusammen. Aber: Was für die Schutzausrüstung gilt, gilt auch für die Kommunen. Wir müssen hier mithelfen. ({3}) Gerade in der Pandemie brauchen wir als Gemeinwesen gut arbeitende und gut ausgestattete Kommunen. Ich möchte daran erinnern: Am 16. März wurden die Beschlüsse zu den Kontaktsperren von den Bundesländern beschlossen. Dort hatten wir 7 200 nachgewiesene Infizierte. Heute sind es 49 000 nachgewiesene Infektionen in Deutschland. Das heißt, die Gefahr ist weiterhin da, und die Gefahr ist riesig. Wir sind in der Pflicht, zu handeln gegen diese Pandemie. Denn wenn wir nicht handeln, werden die Folgekosten für alle viel höher ausfallen. ({4}) Die Schlüsselrolle dabei werden in Zukunft viel stärker noch als in den letzten Wochen die Kommunen haben. Es ist in der Strategie von Wissenschaftlern beschrieben worden, dass wir die Strategie „Hammer und Tanz“ umsetzen müssen. Wir haben den Hammer angewandt. Jetzt kommen wir aber in eine Situation, wo wir viele kleine wirksame Hämmer brauchen. Wir werden viel mehr in den Kommunen schauen müssen: Wie ist das Verbreitungsgeschehen? Wir werden untersuchen und die notwendigen Maßnahmen ergreifen müssen, und das kostet auch Geld. Das, was wir jetzt mit den Gesundheitsämtern machen, ist ein erster Schritt. Aber vollkommen klar ist: Die Kommunen sind in der heutigen Zeit systemrelevant, und wer systemrelevant ist, der muss geschützt werden. Da darf es kein Verantwortungsbingo zwischen Bund und Ländern geben. Alle müssen da gemeinsam handeln, und deswegen kommt auf uns eine ganze Menge Beratungsbedarf zu. Denn wir müssen in dieser Frage erfolgreich sein, und die SPD steht da zu den Kommunen; das kann ich an dieser Stelle ganz klar sagen. Ich weiß, dass wir die vielen Bürgermeisterinnen und Bürgermeister und die ehrenamtlichen Kommunalpolitiker in dieser Frage hinter uns haben. Ich hoffe, dass unser Koalitionspartner sich da gemeinsam mit uns bewegt. Unser Finanzminister wird auch entsprechende Vorschläge machen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Glück auf und vor allen Dingen Gesundheit! ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Mindrup. – Damit schließe ich die Aussprache.

Heiko Maas (Minister:in)

Politiker ID: 11004809

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden heute viel von Social Distancing, von Physical Distancing. Mittlerweile gibt es auch so was wie Reality Distancing. Mit Letzterem meine ich, dass eine Krise, ein Krieg, ein Konflikt – davon gibt viel zu viele auf der Welt – nicht verschwindet, nur weil sich das Scheinwerferlicht der internationalen Aufmerksamkeit verlagert. Ganz im Gegenteil: Die Coronapandemie droht gerade die globalen Krisenherde zu ganz besonders gefährlichen Infektionsherden zu machen, und das im wahrsten Sinne des Wortes in allen Beziehungen. Selbst jetzt, wo das Coronavirus Kämpfer und Zivilisten gleichermaßen bedroht, geht etwa der Konflikt in Libyen mit unverminderter Härte weiter und erschwert die Pandemiebekämpfung, und zwar mit unkalkulierbaren humanitären und politischen Konsequenzen. Meine Damen und Herren, wenn man sich anschaut – und das trifft ja nicht nur für Libyen zu, sondern das trifft auch für Syrien zu und das trifft auch für Afghanistan zu –, dass es auf der Welt anscheinend einige gibt, die diese Krise nutzen wollen, um in dem Konflikt, in dem sie engagiert sind, militärische Vorteile zu erzielen, dann kann man das nicht anders als pervers bezeichnen. Deshalb sollten all diejenigen, die versuchen, die Coronakrise auszunutzen, um militärische Fakten zu schaffen, wissen, dass die internationale Staatengemeinschaft nach der Krise nicht bereit sein wird, diese Fakten anzuerkennen. ({0}) Meine Damen und Herren, das gilt auch für Libyen. Man muss in aller Offenheit sagen, dass sich die Erwartungen, die wir angesichts der Libyen-Konferenz in Berlin und des Berliner Prozesses insgesamt hatten, in den letzten Wochen und Monaten nicht erfüllt haben. Die Coronakrise – das Virus verbreitet sich auch in Libyen mit rasender Geschwindigkeit – hat daran ihren Anteil. Meine sehr verehrten Damen und Herren, auch wenn all diese Probleme, die es gibt, und all die Dinge, die nicht umgesetzt worden sind, zu beklagen sind, will ich trotzdem darauf hinweisen – es gibt viele, die jetzt diskutieren: ist dies das Ende des Prozesses? nein, das ist es nicht –: Wir haben bei Weitem nicht all das erreicht, was wir erreichen wollten, aber es gibt Dinge, die umgesetzt worden sind. Und die sollte man noch einmal erwähnen. Trotz der Coronakrise hat das internationale Follow-up-Komitee der Berliner Konferenz längst seine Arbeit aufgenommen, auch wenn in der Coronakrise physische Treffen nicht mehr möglich sind. Es gab dazu gerade erst Anfang dieses Monats ein virtuelles Treffen. Es hat auch Verhandlungen gegeben, und zwar zwischen den libyschen Konfliktparteien: über einen Waffenstillstand, über wirtschaftliche und politische Themen. Die Komitees, die wir bei der Konferenz vereinbart haben, sind einberufen worden. Und sogar zum Waffenstillstand liegt ein beschlussfähiges Papier vor, bei dem nur noch die Unterschriften beider Seiten fehlen. Letztlich, meine Damen und Herren, sind auch beim Treffen der Außenminister am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz die einzelnen Schritte weiter konkretisiert worden, und es wird weiter an ihnen gearbeitet. Dennoch – auch das muss man sagen –: Wenn man regelmäßig bei solchen Treffen dabei ist und Leuten gegenübersitzt, die Verstöße gegen das Waffenembargo beklagen, aber man ganz genau weiß, dass sie diejenigen sind, die gegen das Waffenembargo verstoßen, dann hat man irgendwann die Nase voll von all diesen Lippenbekenntnissen. ({1}) Deshalb ist es wichtig, dass wir jetzt Instrumente schaffen, die effektiv geeignet sind, dieses Waffenembargo besser zu überwachen. Das tun wir mit dieser Mission, über die wir heute diskutieren und entscheiden. ({2}) Meine Damen und Herren, die Europäische Union hat sich in den letzten Wochen nach zugegebenermaßen schwierigen Beratungen darauf verständigt, eine führende Rolle zu übernehmen. Dem dient die neue Mission Irini, die das Waffenembargo überwachen und Verstöße aufdecken soll. Darüber hinaus soll die Mission gegen den Ölschmuggel vorgehen und auch das grausame Geschäft der Menschenhändler stoppen. Darauf liegt das ganze Augenmerk auch bei der Ausbildung der libyschen Küstenwache und Marine. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, als Initiator des Berliner Prozesses – und das sind wir von der Bundesregierung gewesen – tut auch Deutschland gut daran, sich an dieser europäischen Mission zu beteiligen, zunächst mit einem Aufklärungsflugzeug und Stabspersonal, später aber auch mit einem Schiff der Marine. Wenn wir darüber reden, wo wir Verantwortung übernehmen können oder dass wir mehr Verantwortung auf der Welt übernehmen müssen, ist dies ein Beispiel dafür, dass wir es tun, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({3}) Das ist nicht nur ein essenzieller Beitrag zur Stabilität in unserer unmittelbaren Nachbarschaft, sondern es ist auch ein wichtiges Signal europäischer Geschlossenheit und Handlungsfähigkeit, gerade in Zeiten wie diesen. Meine Damen und Herren, bei alldem haben wir aber auch diejenigen im Blick, die am meisten unter dem Konflikt leiden: Es sind Zehntausende Flüchtlinge und die libysche Zivilbevölkerung. Über den UNHCR hat Deutschland deshalb in den letzten Jahren mehr als 40 Millionen Euro zum Schutz von Flüchtlingen zur Verfügung gestellt. Hunderte besonders Schutzbedürftige – das wird teilweise in der aufgeregten Öffentlichkeit überhaupt nicht mehr wahrgenommen – haben durch die Vermittlung des UNHCR einen sicheren Zufluchtsort in Deutschland gefunden, und die Aufnahme von 300 weiteren steht kurz bevor. Über den EU-Nothilfefonds für Afrika unterstützen wir mit mehr als 70 Millionen Euro die Arbeit von IOM und geben damit Hilfen bei der freiwilligen Rückkehr von Migranten und für Schutzmaßnahmen in Libyen. Natürlich kann eine solche Hilfe das Leid der Menschen in Libyen bestenfalls lindern. Umso wichtiger bleibt deshalb der Einsatz für einen dauerhaften Frieden; denn wir wissen, dass all das, was wir dort tun und was wir humanitär umsetzen wollen, und all das, was wir zur Bekämpfung des Virus in Libyen beitragen wollen – entsprechende Angebote haben wir gemacht –, voraussetzt, dass vor Ort die Rahmenbedingungen dafür geschaffen werden. Und die Voraussetzung dafür ist, dass die Waffen schweigen. Mit der Libyen-Konferenz in Berlin haben wir dazu einen wichtigen Beitrag geleistet. Wir haben weiterhin viel Arbeit vor uns. Damit die Ergebnisse jetzt auch greifen, müssen wir vor allen Dingen die Einhaltung des Waffenembargos überwachen. Den Worten müssen endlich Taten folgen. Deshalb bitte ich Sie um die Unterstützung dieses Mandates. Herzlichen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Minister. – Nächster Redner ist der Kollege Petr Bystron, AfD-Fraktion. ({0})

Petr Bystron (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004692, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lieber Heiko Maas, was für eine Mogelpackung servieren Sie uns hier? Für wie dumm halten Sie uns eigentlich? Für wie dumm wollen Sie die Menschen in diesem Land verkaufen? Wir alle wissen, dass Irini der Ersatz für die gescheiterte Mission Sophia ist. Und Sie erzählen uns hier heute – genauso wie zuvor fünf Jahre lang bei Sophia –, dass es darum ginge, Waffenschmuggel zu unterbinden, den Ölschmuggel aus Libyen zu unterbinden und Menschenschlepperei im Mittelmeer zu bekämpfen. Dabei ist schon Sophia von der damaligen italienischen Regierung mithilfe unseres Freundes Matteo Salvini versenkt worden, da nachgewiesen wurde, dass mit den Schiffen nur Migranten aus Afrika nach Europa geschmuggelt wurden. ({0}) Wenn Sie hier über Erfolge sprechen, haben wir uns gedacht: Okay, wenn Sie diese Geschichte nach fünf Jahren noch einmal auftischen, dann fragen wir doch das Verteidigungsministerium: Was wurde denn erreicht? Zeigen Sie uns mal die beschlagnahmten Waffen! – Und wissen Sie, was das Verteidigungsministerium uns geantwortet hat? Nichts! Sie haben in fünf Jahren 85 Millionen Euro verballert und können uns nicht mal präsentieren, was Sie beschlagnahmt haben. Es wurde kein einziger Waffenschmuggler gefangen. Das ist ja auch kein Wunder: Denn die Schiffe haben munter Migranten aus Afrika nach Europa geschmuggelt. Hierzu gibt es allerdings eine Zahl: 49 000 Migranten haben sie nach Europa geschafft. ({1}) Ich fasse mal zusammen: Sie erzählen uns, bei dieser Mission gehe es darum, Öl- und Waffenschmuggel zu unterbinden. Das Ergebnis aber ist: 49 000 Migranten wurden nach Europa gebracht. Noch einmal: Was für eine Mogelpackung! Und ich wiederhole: Für wie dumm halten Sie uns eigentlich? ({2}) Wir von der AfD haben das illegale Shutteln von Migranten aus Afrika nach Europa von Anfang an bekämpft. Wir von der AfD haben Strafanzeigen gegen alle deutschen NGOs gestellt, die diesen Menschenschmuggel betreiben. Und wir haben zusammen mit unseren italienischen Freunden dafür gekämpft, dass die Boote von Menschenschmugglern beschlagnahmt wurden und dass Leute wie Carola Rackete und Claus-Peter Reisch ins Gefängnis gewandert sind. ({3}) Wir haben all das sicher nicht deswegen gemacht, damit wir Ihnen hier und heute einen Persilschein dafür ausstellen, dass Sie mit den Schiffen der deutschen Marine weiterhin Menschenschmuggel betreiben. ({4}) Wir lehnen die Mission logischerweise ab. Wir werden gegen diese Politik auch weiter ankämpfen. Wir werden auch weiter Ihre Lügen aufdecken. Wir werden auch weiterhin mit unseren Freunden aus Österreich, Ungarn, Italien und Polen Widerstand gegen Ihre Open-Border-Policy aufrechterhalten. Spätestens dann, wenn unser Freund Matteo Salvini in Italien wieder an der Regierung ist, werden wir die Mission wieder versenken. Danke schön. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Tja. – Als nächster Redner hat für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Jürgen Hardt das Wort. ({0})

Jürgen Hardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004050, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte gerne zum Thema des Mandats und zum Thema Libyen reden. ({0}) Denn das ist der Grund, warum wir heute hier sind und warum die Regierung einen Antrag zu einem Mandat einbringt. Libyen ist ein Schlüsselstaat in Nordafrika. Darüber haben wir in diesem Bundestag schon oft geredet. Es war gut, dass die deutsche Bundesregierung die diplomatische Initiative ergriffen hat und es ihr im Januar gelungen ist, alle diejenigen, die in der einen oder anderen Weise bürgerkriegsbeteiligte Kräfte in Libyen unterstützen, in Berlin an einen Tisch zu bringen. Vorangegangen war die Analyse, dass das Zusammentreffen der beiden Hauptprotagonisten des Bürgerkriegs in Libyen, Haftar und Sarraj, wohl zunächst nicht zum Erfolg führen könnte. Aber die Idee der Libyen-Konferenz der Bundesregierung war ja, den Bürgerkrieg dadurch auszutrocknen, dass man diejenigen, die auch durch Waffenlieferungen die Akteure vor Ort unterstützen, dazu bringt, das zukünftig sein zu lassen. Das ist zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht gelungen. Ich glaube, dass wir auch auf der diplomatischen Ebene weiter intensive Gespräche mit Freunden wie Mitwirkenden an diesem Prozess führen müssen, damit sie ihre Aktivitäten an den gemeinsamen Vereinbarungen der Libyen-Konferenz, die im Übrigen auch UN-indossiert sind, also einen völkerrechtlichen Rang haben, ausrichten. Ich finde es wichtig, dass Deutschland Ernst macht mit einer konkreten Beteiligung an der europäischen Irini-Mission; denn dieser europäische Beitrag soll tatsächlich ein verlässliches, lückenloses Lagebild über die Bewegungen von Schiffen in der Region, die möglicherweise illegal entsprechende Waffen an Bord haben, liefern. Sie soll auch Schiffe durchsuchen und umleiten können. Sie soll darüber hinaus das fortsetzen, was die Operation EUNAVFOR MED Sophia bereits gemacht hat, nämlich die Ausbildung der libyschen Küstenwache und die Unterbindung von Schlepperaktivitäten. Ich glaube, dass das Mandat ein ziemlich robustes ist; wenngleich ich mir keine Illusionen mache, dass wir nun jede Menge Schiffe dort durchsuchen werden. Aber es ist doch immerhin so, dass diejenigen, die das Embargo brechen oder im Verdacht stehen, es gebrochen zu haben, öffentlich benannt werden können und sich öffentlich rechtfertigen sollen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hampel?

Jürgen Hardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004050, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte.

Armin Paulus Hampel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004735, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, Herr Kollege, dass ich die Möglichkeit habe, eine Frage zu stellen. Ich hatte die Frage schon im Ausschuss gestellt, aber sie ist mir leider nicht beantwortet worden. Wie stellen Sie sich das eigentlich persönlich vor, wenn man im Zuge der Irini-Mission, sagen wir mal, einen russischen Frachter vor sich hat? Der Kommandant funkt ihn also an: Lieber Herr Kapitän des russischen Frachters, haben Sie Waffen an Bord? Dann wird der wahrscheinlich sagen: Nein. Und was machen wir dann? Eine ganz praktische Frage. Wie stellen Sie sich das vor? Ich stelle es mir so vor, dass der russische Kapitän Nein sagt, der Kommandant sich herzlich für die Auskunft bedankt, das in sein Logbuch einträgt und der russische Kapitän weiterfährt. Aber wie stellen Sie es sich vor, Herr Hardt?

Jürgen Hardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004050, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Regeln für diese Art von Operationen sind klar. ({0}) Das ist ein Punkt, den ich auch gerade ansprechen wollte. Es ist so, dass die Schiffe angehalten werden dürfen und ein Durchsuchungsersuchen vorgetragen werden kann. ({1}) Über die Erlaubnis, zu durchsuchen, entscheidet nicht der Kapitän des Schiffes. Vielmehr hat der Flaggenstaat des Schiffes – in diesem Fall wäre es Russland – die Gelegenheit, innerhalb von einer festgesetzten Frist von vier Stunden der Durchsuchung des Schiffes zu widersprechen. Wenn das nicht erfolgt, findet die Durchsuchung des Schiffes statt. Wenn Widerspruch seitens Russlands kommt – Sie haben Russland als Beispiel gewählt, deswegen bleibe ich dabei –, dann wird Russland sich öffentlich und vor der diplomatischen Community dafür rechtfertigen müssen, warum sie das getan haben und damit einen politischen Preis zahlen müssen. Staaten, die das dann tun, können nicht mehr wie bisher unbemerkt und unbeobachtet Waffenlieferungen nach Libyen bringen. Ich finde, das ist schon ein entscheidender Fortschritt gegenüber der bisherigen Situation, wie wir sie zum Beispiel im Augenblick im Mittelmeer haben. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Hardt, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage aus der Fraktion Die Linke? – Herr Bystron, ich lasse danach keine weiteren Zwischenfragen mehr zu. ({0}) Wir können alle hypothetischen Möglichkeiten durchspielen, aber das hilft uns heute nicht weiter. – Herr Neu, Sie haben das Wort.

Dr. Alexander S. Neu (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004361, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege Hardt, ich war gerade etwas überrascht, als Sie die Regeln angesprochen haben. Das Problem ist: Wir kennen die Regeln nicht, weil sie bislang immer noch nicht in der Geheimschutzstelle ausgelegt sind. ({0}) Haben Sie da einen Informationsvorsprung? Haben Sie die Regeln? ({1}) Wir würden sie auch gerne haben; denn wir werden demnächst darüber abstimmen, und normalerweise ist es so, dass die Rules of Engagement, also die Regeln, vorab den entsprechenden Ausschüssen in der Geheimschutzstelle zur Kenntnis gegeben werden. Also, Sie haben die Regeln, wir nicht. Wie kommt das? ({2})

Jürgen Hardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004050, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das sind keine Regeln speziell für diesen Einsatz, sondern generell geltende Regeln für die Durchsuchung von Schiffen im Falle von Embargos dieser Art. Sie wurden nicht speziell für den Irini-Fall geschaffen sind, sondern sie richten sich analog an dem aus, was bisher für vergleichbare Fällen vereinbart war. Ich halte das für gut. Ich glaube, dass wir nicht daran vorbeikommen – es muss eine entsprechende Unterstützung der Staaten geben, die das etwas anders sehen als wir –, dass man den Flaggenstaat fragen muss. Aber es muss, wie ich finde, dann eben auch dokumentiert, publiziert und diskutiert werden, warum, wieso, weshalb ein Land den Zugriff auf das Schiff verweigert. Ich glaube, dadurch wird die Hemmschwelle höher, als es heute der Fall ist; denn, wie gesagt, man zahlt einen politischen Preis, wenn man sich für den Bruch eines Abkommens rechtfertigen muss, unter das man in Berlin am 19. Januar seine Unterschrift gesetzt hat. Immerhin waren das die Staats- und Regierungschefs bzw. die Außenminister. ({0}) – Die Regeln, so wie ich sie gerade dargestellt habe, gelten nicht nur für den Irini-Fall, sondern sind gemäß Völkerrecht in vergleichbaren Fällen bereits früher angewendet worden. Das war eine weitere Antwort auf die Antwort. Ich komme jetzt zurück zu meinem kurzen, knappen Manuskript. Ich möchte gerne meine Erwartung zum Ausdruck bringen, dass Deutschland sich an Irini vernünftig, kraftvoll, mit hochwertigen Fähigkeiten beteiligt. Wir tun das vermutlich mit einem Seefernaufklärer. Das ist tatsächlich eine Hochwehrfähigkeit, die wir da bereitstellen können. Wir tun das mit hochqualifiziertem Personal im Stab in Rom. Ich würde mir wünschen, dass wir uns im Hinblick auf die Weiterführung des Mandats – es soll ja zunächst einmal bis Ende April in dieser Form laufen; die EU wird das voraussichtlich in den nächsten Jahren fortführen; Deutschland sollte dann entsprechend mitwirken – auch mit einer seegehenden Einheit, also mit einem Schiff, an diesem Mandat beteiligen. Ich warte mit Spannung und Zuversicht auf die Pläne des Bundesverteidigungsministeriums, das ja wohl ins Auge gefasst hat, sich möglicherweise ab Spätsommer mit einem Schiff zu beteiligen. Es wurde im Zusammenhang mit diesem Mandat natürlich auch wieder darüber diskutiert – das wurde vorhin auch in diesem Hause angesprochen –, ob von einer solchen Marineoperation im Mittelmeer ein Pull-Effekt ausgehen könnte, also quasi eine Motivierung von Schleppern und Schleusern damit einhergehen könnte, Menschen zu überreden, ihnen Geld dafür zu geben, dass sie mit Nussschalen, mit Schlauchbooten aufs Mittelmeer gebracht werden, so nach dem Motto: Dort wartet die europäische Marine, um euch aufzunehmen. – Ich glaube, dass ein Pull-Effekt in dieser Form nie wirklich die Entwicklung dominiert hat. Es wird sicherlich Einzelfälle geben, in denen das der Fall ist. Ich glaube aber, dass die Entscheidung eines Menschen, sich in eine solch lebensgefährliche Situation zu bringen, nicht durch die bloße Überredungskunst eines Schleppers hergestellt werden kann. Dennoch enthält dieses Mandat der Europäischen Union einen Mechanismus, der vorsieht, dass, falls ein Staat der Auffassung ist, dass ein solcher Pull-Effekt doch entsteht bzw. ausgelöst wird, auf Wunsch dieses einen Staates die Operation für zunächst acht Tage unterbrochen wird. Dann berät das PSK-Gremium, das Politische und Sicherheitspolitische Komitee der Europäischen Union, darüber und entscheidet, ob und in welcher Form die Operation wieder aufgenommen wird. Im Zweifel, wenn sich das wiederholt und häuft, muss die Mission von den Außenministern weiterentwickelt werden. Ich glaube und hoffe aber, dass das niemals eintritt und diese Operation vielmehr vernünftig durchgeführt werden kann – mit Beteiligung der Bundeswehr. Herzlichen Dank. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Hardt. – Nächster Redner ist der Kollege Bijan Djir-Sarai, FDP-Fraktion. ({0})

Bijan Djir-Sarai (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004029, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Während wir uns in Deutschland, Europa und eigentlich überall auf der Welt mit den Folgen des Coronavirus beschäftigen, tobt der Krieg in Libyen im Schatten der Coronakrise weiter. Gerade vor dem Hintergrund des grausamen Krieges in Syrien war sich die internationale Gemeinschaft einig: Libyen darf kein zweites Syrien werden, und es darf vor der Haustür Europas keinen weiteren Stellvertreterkrieg geben, der zu Tod, Flucht und Vertreibung führen wird. Doch wie sieht die Realität heute vor Ort aus? Entgegen dem UN-Waffenembargo und den Ergebnissen der Berliner Libyen-Konferenz finden weiterhin Rüstungsgüter und inzwischen auch Kämpfer bzw. Söldner den Weg ins Land. Die militärischen Auseinandersetzungen nehmen wieder zu. Schon längst ist der Konflikt zu einem Stellvertreterkrieg geworden. Die Türkei, Russland, die Vereinigten Arabischen Emirate, Ägypten, Katar – alle haben sich auf verschiedenen Seiten positioniert. Und die Europäer, die sonst gerne von einer Gemeinsamen Europäischen Außen- und Sicherheitspolitik sprechen, finden hier keine gemeinsame Linie. Schauen Sie sich beispielsweise die Politik Italiens oder die Politik Frankreichs in Libyen an; da bleibt man selbst als überzeugter Europäer oft ratlos zurück. Die Mission Irini ist trotzdem ein erster und richtiger Schritt in Richtung einer Überwachung des Waffenembargos. Sie darf jedoch nur ein erster Schritt von vielen sein; denn die Mission ist in ihrer jetzigen Fassung eine einseitige Maßnahme. Das wird deutlich, wenn man sich die vielfältigen Schmuggelrouten und Konfliktlinien einmal genauer ansieht. Es besteht also Nachbesserungsbedarf, sofern man verhindern möchte, dass diese Mission zu einer Alibimission verkommt, die lediglich den Schein einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik wahrt. ({0}) Trotzdem ist es gut, dass die Europäische Union erkannt hat, dass dringender Handlungsbedarf besteht. Libyen befindet sich in unserer direkten Nachbarschaft, und alles, was dort passiert, betrifft unsere europäischen Interessen und hat unmittelbar Auswirkungen auf die deutsche Politik, auf die Innenpolitik in Deutschland. Meine Damen und Herren, es muss noch einiges getan werden, damit sich die Lage in Libyen verbessert. Politische Erfolge können nur erzielt werden, wenn die Europäer die Ergebnisse der Berliner Libyen-Konferenz nicht nur als Theorie verstehen, sondern sie auch tatsächlich umsetzen. Die Konferenz war ein Erfolg. Sie wird aber nichts bringen, wenn die Umsetzung vor Ort ausbleibt. Diese Bundesregierung war bei der Organisation der Konferenz federführend, aber sie ist bei der Umsetzung zurückhaltend. Hier muss mehr Engagement erfolgen. Die Rahmenbedingungen für Diplomatie waren vor der Coronakrise schon schwierig, besonders in Libyen, und sie werden nach der Coronakrise nicht einfacher werden. Ein letzter Satz, Herr Präsident: Deutschland und Europa dürfen sich trotzdem in der Libyen-Frage nicht aus der Verantwortung ziehen; denn ein weiterer Krieg vor der Haustür Europas ist inakzeptabel und muss dringend beendet werden. Vielen Dank. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Djir-Sarai; das war ja sehr geschickt. – Als nächste Rednerin hat für die Fraktion Die Linke die Kollegin Sevim Dağdelen das Wort. ({0})

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist schon bemerkenswert, dass in dieser schweren Krise die Bundesregierung weiter auf kostspielige Auslandseinsätze der Bundeswehr setzt. Das bedauern wir. Auch dieser Auslandseinsatz der Bundeswehr ist wieder einmal abenteuerlich, aberwitzig und absurd. Sie geben vor, das Waffenembargo zur See gegen Libyen überwachen zu wollen. Dabei wollen Sie mit der Ostküste nur die Vordertür bewachen, in Kenntnis, dass die Hintertüren, nämlich alle Luft- und Landgrenzen und die ganze Westküste, sperrangelweit offen stehen. Es kommt doch auch einem Schildbürgerstreich gleich, gemeinsam mit Italien und Frankreich dieses Waffenembargo durchsetzen zu wollen. Ausgerechnet Italien und Frankreich, die, weil es um die Interessen ihrer Ölkonzerne Eni und Total geht, die jeweils andere Seite im libyschen Bürgerkrieg unterstützen, sollen ihre jeweiligen Freunde daran hindern, an frische Waffen zu kommen? Das glauben Sie doch selbst nicht, Herr Maas! Wer wie die Bundesregierung meint, solche Brandstifter bei so einem Einsatz zu Feuerwehrleuten machen zu müssen, der handelt in hohem Maße aberwitzig. ({0}) Herr Maas, Sie wollen uns doch auch nicht wirklich weismachen, dass Sie in Zukunft einen einzigen islamistischen Söldner aus Syrien oder eine einzige Waffe auf einem türkischen Schiff oder einen einzigen mit Waffen beladenen Militär-Airbus Ihres NATO-Partners Türkei aufhalten wollen. Die Wahrheit ist doch, dass Sie nicht nur zugeschaut haben, als die Türkei die von den Muslimbrüdern unterstützte Regierung in Tripolis in den letzten Jahren hochgerüstet hat, sondern dass Sie auch der Türkei in der ganzen letzten Zeit auch weiterhin fleißig Waffen geliefert haben und das immer noch tun. Wenn Sie wirklich etwas dagegen tun wollten, dass frische Waffen diesen libyschen Bürgerkrieg nähren, dann könnten Sie endlich damit anfangen, die deutschen Waffenexporte in am Libyen-Krieg beteiligte Staaten zu stoppen. ({1}) Deshalb fragen wir Sie, Herr Maas: Warum liefern Sie weiter Waffen an die Türkei, an Katar, an Ägypten und an die Emirate, also an Länder, von denen Sie wissen, dass sie ihre Waffen weiter nach Libyen bringen? – Ihr sogenannter Friedenseinsatz ist so lange nichts anderes als eine Showveranstaltung, wie Sie an beide Seiten der jeweiligen Kriegskoalition weiter Waffen liefern. Deshalb ist das absurd. Herr Maas, Sie sagten in Ihrer Rede: Den Worten sollen Taten folgen. – Da bin ich ganz bei Ihnen. In der ARD-Sendung „Anne Will“ haben Sie noch im Januar auf die Frage, ob Sie eine Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache verantworten wollen, gesagt – ich zitiere –: Nein, das können wir nicht; das wollen wir auch nicht. – Wieso dann jetzt, Herr Maas? Wieso wollen Sie diese Schergen, diese islamistische Räuberbande, die schwerste Menschenrechtsverletzungen gegen Flüchtlinge begeht, jetzt hier ausbilden, ausrüsten und unterstützen? Das ist abenteuerlich.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss.

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Das ist politisch und auch moralisch eine Bankrotterklärung. Die Linke lehnt diesen üblen Einsatz ab. Stattdessen fordern wir den Stopp der Waffenlieferungen an im Libyen-Krieg beteiligte Staaten und ein ziviles Seenotrettungsprogramm für das Mittelmeer, was bitter nötig ist. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Dağdelen. – Als nächster Redner spricht zu uns der Kollege Omid Nouripour, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Omid Nouripour (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003881, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vorab zum Mandat selbst: Ein Mandat weniger als 24 Stunden vor einer Plenardebatte vorzulegen, ist entweder kein guter Stil oder handwerklich nicht sauber. Ein Mandat nicht nur ohne Einsatzregeln, sondern auch ohne einen Operationsplan vorzulegen, ist entweder schlechter Stil oder handwerklich nicht sauber. Aber was es, ehrlich gesagt, auf die Spitze treibt, ist: Wir haben eine Vereinbarung hier im Hohen Hause, dass, wenn Einsätze beendet werden, ein Abschlussbericht vorliegt. Wir wollen ja eigentlich auch eine Evaluation, um daraus zu lernen. Jetzt haben Sie einen Einsatz beendet, aber es gibt keinen Abschlussbericht und erst recht keine Evaluation, und schon sollen wir über das nächste Mandat sprechen. Das ist entweder schlechter Stil oder handwerklich extrem schlecht gemacht. ({0}) Die Libyen-Konferenz haben wir sehr begrüßt, weil die Bundesregierung endlich ins Tun kam und auch diplomatisch initiativ wurde. Es gab ja zwei maßgebliche Ziele, über die es auch Vereinbarungen gegeben hat: keine Waffen mehr ins Land und Beendigung der Gewalt. Die Gewalt ist massiv eskaliert, nicht erst seitdem, aber seitdem auch zunehmend. Es gewinnt mal die Haftar-Seite, mal die Sarraj-Seite; derzeit ist die Sarraj-Seite mit der Hilfe der Türkei auf dem Vormarsch. Vor einer Woche war Haftar noch dabei, die Hauptstadt Tripolis zu belagern. Die Ziele sind derzeit leider weit entfernt davon, realisiert zu werden, zum Leiden der Menschen in Libyen. Es bleibt aber die Frage der Waffenlieferungen. Es ist eindeutig, dass die Europäische Union durch ihre Uneinigkeit ein Vakuum hinterlassen hat, das gerade an dieser Stelle massiv von Staaten gefüllt worden ist, die nicht dieselben Interessen vertreten wie wir und die auch nicht im Sinne des Wohlbefindens der Menschen in Libyen arbeiten. Deshalb ist es gut, dass die Europäische Union jetzt endlich eine Einigung gefunden hat. Wir freuen uns, dass jetzt überhaupt eine Position gefunden wurde; das ist gut. Jetzt gibt es auch ein Mandat, das vorliegt. Der Vorteil von diesem Mandat gegenüber dem letzten ist, dass die Landkomponente nicht mehr enthalten ist. Das ist schon mal ein Fortschritt. Nichtsdestotrotz finde ich das vorliegende Mandat, das wir noch miteinander beraten müssen werden, nicht zustimmungsfähig. Es gibt so verdammt viele zentrale Fragen, die einfach schlicht unbeantwortet sind, die wir selbstverständlich in den Ausschüssen noch mal thematisieren müssen. Wenn dieser merkwürdige Mechanismus zur Beruhigung von Orban und Kurz jetzt tatsächlich dazu führt, dass einzelne Staaten, speziell Ungarn und Österreich, alle acht Tage einmal anrufen und sagen: „Hier gibt es einen Pull-Effekt“, und dann das Mandat automatisch ausgesetzt wird und der Einsatz aufhört: Was bedeutet das? Wie gehen wir denn eigentlich damit um? Was passiert dann? Wie wollen Sie denn eigentlich bei der Küstenwache, die tatsächlich voller zweifelhafter Personen ist – da gibt es Kommandeure, die mal auf der Terrorliste der Vereinten Nationen waren –, eine Menschenrechtserziehung machen? Wie wollen Sie denn mit der Einseitigkeit umgehen? Die, die über Land liefern, beliefern die eine Seite; alle anderen beliefern die andere Seite über die Luft und das Land. Aber nur die Meeresseite soll jetzt überwacht werden. Wie wollen Sie das denn eigentlich machen? Vor allem, Herr Außenminister: Wenn Sie sagen, es ist wirklich schwer auszuhalten, wenn man mit Leuten zusammensitzt, die sagen: „Wir wollen, dass die Waffenlieferungen aufhören“, obwohl wir wissen, dass sie weiter Waffen liefern, dann stellt sich die Frage, warum Sie nach diesen Treffen mit diesen Leuten gemeinsame Statements abgeben. Genau das wertet sie doch auf.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, würden Sie zum Schluss kommen.

Omid Nouripour (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003881, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Benennen Sie endlich auch diese Leute! Es ist höchste Zeit, dass die Vereinigten Arabischen Emirate, Russland, Ägypten und die Türkei als die hauptsächlichen Brecher des Waffenembargos benannt werden. Das wäre ein Riesenschritt nach vorne, um die Waffenlieferungen nach Libyen endlich einzudämmen. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank, Herr Nouripour. – Nächster Redner ist der Kollege Roderich Kiesewetter, CDU/CSU-Fraktion. ({0}) Keine Hektik.

Roderich Kiesewetter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004068, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Danke, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die heutige Debatte hat durchaus gezeigt, dass es zur Durchführung des Mandats noch eine Reihe von Fragen gibt. Allerdings hat unser Bundesaußenminister – Sie, Herr Maas – vorhin auch sehr klar und nüchtern das Mandat analysiert. Ich glaube, Sie haben das Licht da etwas unter den Scheffel gestellt. Es ist schon ein Zeichen von diplomatischer Leistungsfähigkeit in Zeiten von Corona, dass wir innerhalb von drei Monaten nach dem Berliner Prozess, nach dem Aussetzen der eigentlich gescheiterten Mission Sophia wieder einen Einstieg schaffen für ein wirksames europäisches Handeln. Das, glaube ich, sollten wir heute auch unterstreichen. ({0}) Uns sollten einige Punkte hierbei wichtig sein: Erstens. Jürgen Hardt hat es angesprochen: Wir steigen mit hochwertigen Fähigkeiten ein, mit luftgestützter Seeaufklärung. Allerdings muss uns schon auch bewusst sein – Jürgen Hardt hat es angesprochen –, dass wir damit auf Dauer nicht ausreichend den Einsatz unterstützen können. Wir sollten innerhalb der Mandatsobergrenzen durchaus auch in der Lage sein, ein Schiff bereitzustellen. Zweitens. Wir werden sehr rasch feststellen, dass der Fokus dieser Mission eben nur einen Ausschnitt von dem darstellt, was letztlich zu überwachen ist, um den Berliner Friedensprozess am Laufen zu halten. Wir haben den Fokus auf dem Mittelmeerraum. Wir haben den Fokus nicht auf der Grenze zwischen Libyen und Ägypten. Das kann man sicherlich durch Luftaufklärung lösen. Aber wir müssen uns bewusst sein, dass wir innerhalb Europas auch zwei Dinge durchsetzen müssen, erstens eine ganz klare Ahndung von Embargoverstößen, und zweitens müssen wir alles tun, dass Europa insgesamt, also alle EU-Mitgliedstaaten, den Friedensprozess unterstützen. Das führt mich zu einem dritten Punkt. Bisher hat die Mission Sophia unter der Uneinigkeit Europas in der Migrationsfrage gelitten. Das Problem ist – der Außenminister hat es angesprochen – immer noch nicht gelöst. Wir haben hier wirklich viel zu leisten, auch als Bundesrepublik Deutschland, weil wir hier vielfach gegenüber anderen Ländern in Vorleistung gegangen sind. Aber wir haben hier auch sehr klar darauf zu achten, dass Europa diese Mission nicht an der Migrationsfrage scheitern lässt. Ein Letztes: Die Mission ist ein Einstieg in ein glaubwürdiges Handeln Europas; sie bietet die Chance dazu. Aber wenn wir das wirklich wollen, müssen wir auch dazu in der Lage sein – das sage ich im Widerspruch zu Omid Nouripour –, dass wir die Mission auch mit Blick auf die Grenze zu Ägypten erweitern. Denn es kann nicht sein, dass eine Mission ausschließlich eine Konfliktpartei bevorzugt oder eine benachteiligt; das klang ja auch gestern im Auswärtigen Ausschuss durch. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, in diesem Sinne unterstützen wir die Mission, sehen aber auch noch Klärungsbedarf bis zur abschließenden Beratung. Herzlichen Dank. ({2})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Kiesewetter. – Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Henning Otte, CDU/CSU-Fraktion. ({0}) – Das liegt an der Größe der Fraktion, Frau Kollegin, nicht an meinem Willen.

Henning Otte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003821, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Bundesaußenminister hat heute das Mandat für EUNAVFOR MED Irini eingebracht, eine EU-Operation. Wir werden es im parlamentarischen Verfahren jetzt miteinander beraten. Es ist geplant, die Mandatsobergrenze bei 300 Soldatinnen und Soldaten für die Bundeswehr festzulegen, um uns mit dem Seefernaufklärer P-3C „Orion“ zu beteiligen. Wir prüfen auch im Verteidigungsministerium, ob ungefähr ab August noch ein Schiff zur Verfügung gestellt werden kann. Mit dem „fliegenden Auge“ der Marine, mit dem Seefernaufklärer, wollen wir einen Beitrag in der Gemeinschaft zur Umsetzung eines Waffenembargos leisten, um deutlich zu machen: Verstöße gegen das Waffenembargo, das vereinbart ist, müssen geahndet werden. Und wir wollen Kontrollmaßnahmen auf See deutlich machen. Es geht auch darum, dass verhindert werden soll, dass es illegale Ausfuhren von Erdöl aus Libyen gibt. Meine Damen und Herren, wir versuchen, ein engmaschiges Lagebild zu erzeugen, auch um festzustellen: Wie ist die Schleppersituation auf dem Mittelmeer? Es ist aber auch deutlich geworden, dass es viele Fragen gibt. Fragen müssen wir uns auch, ob Europa alles Mögliche in diesem Einsatz tut und ob Europa genügend Handlungsfähigkeit abbildet. Denn immerhin baut sich dort ein schwerwiegender Konflikt auf, in dem die Libysche Nationale Armee gegen die Regierung des Nationalen Einvernehmens steht. Hier müssen alle Vermittlungsversuche nach dem Berliner Prozess genutzt werden, damit das Land nicht noch weiter destabilisiert wird. Ich sage aber auch sehr deutlich, dass wir das große Bild sehen müssen. Wir stellen fest, dass Russland abermals versucht, sich einzubringen, strategisch aufzustellen und dort einen regionalen Einfluss weiterhin geltend zu machen. Wir stellen aber auch fest, dass die Türkei dort sehr engagiert und aktiv ist. Wir müssen als Europa ein eigenes Handlungskonzept aufstellen, damit wir nicht passiv, sondern aktiv sind. Schließlich geht es auch um die Sicherheit unseres Landes. Deswegen ist dieser Beitrag für Deutschland wichtig. ({0}) Wichtig ist auch, dass wir die offenen Fragen beantworten und deutlich machen, dass dieses Mandat einen Mehrwert hat und einen Beitrag leistet, um die europäische Handlungsfähigkeit abzubilden. Wir müssen aufpassen, dass wir über Sicherheitspolitik nicht zu abstrakt diskutieren – PESCO, CARD, Europäischer Verteidigungsfonds –, sondern dass wir auch konkrete Antworten geben. Dies ist eine konkrete Antwort. Wir wollen nichts unversucht lassen, um hier eine Verbesserung der Situation zu erzielen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Bitte kommen Sie zum Schluss.

Henning Otte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003821, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir stellen fest, dass bei den Linken die Fragen der Menschenrechte überhaupt keine Rolle spielen, dass sie das per se ablehnen. Die AfD lehnt sowieso alles, was über den eigenen Tellerrand hinausgeht, ab, auch dieses Mandat.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss!

Henning Otte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003821, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Grünen wissen vielleicht gar nicht, wie sie abstimmen werden. Die FDP hat viele Fragen. Deswegen ist es gut, dass wir als Koalition –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, ein letzter Satz jetzt.

Henning Otte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003821, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

– Handlungsfähigkeit beweisen und dieses Mandat voranbringen. Danke schön. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Damit schließe ich die Aussprache.

Peter Boehringer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004675, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir können heute feststellen, dass die apokalyptischen Coronaprognosen der Regierung, mit denen hier Ende März die gewaltigen Einschränkungen der Bürgerrechte und der superteure Shutdown begründet wurden, unzutreffend waren, zum Glück natürlich, aber nicht bedingt durch den verfügten Stillstand.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, erlauben Sie eine kurze Zwischenbemerkung? Die Redezeit ist angehalten. – Herr Kollege Hardt, Sie können Ihre Besprechung bitte mit gehörigem Abstand auch draußen fortsetzen. Es macht keinen guten Eindruck, wenn ausgerechnet die CDU/CSU-Fraktion die Abstände nicht einhält.

Peter Boehringer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004675, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Es ist schade, dass es keine Zwischenfrage gab; denn ich hätte zu diesem Thema gern mehr Redezeit gehabt. Jedenfalls wurde der Shutdown erst verfügt, als die Seuche bereits beherrscht wurde bzw. fast beherrscht war. Die AfD hat darum zu Recht am 25. März hier beantragt, die Maßnahmen zeitlich streng auf maximal vier Wochen zu befristen, sie dann zu evaluieren und gegebenenfalls zügig aufzuheben – sehr zu Recht, wie wir heute wissen. Vor diesem Hintergrund plant nun auch noch die EU eigene billionenschwere Coronakrisenprogramme. Das ist grotesk. Corona ist ein symmetrischer Schock, für alle Länder der EU gleich. Das Virus darf darum keine asymmetrischen Geldtransfers zulasten Deutschlands begründen. ({0}) Die EU will wieder einmal mit deutschem Geld ihre Existenzberechtigung zurückkaufen, die sie längst verloren hat. Die EU hat bereits Maßnahmen für gewaltige 500 Milliarden Euro beschlossen: erstens ein 200-Milliarden-Euro-Programm der Europäischen Investitionsbank – dieses steht in direkter Haushaltskonkurrenz zu nationalen Maßnahmen der KfW für Mittelständler –; zweitens 200 Milliarden Euro an ESM-Krediten, ein Transfermechanismus wie immer von deutschem Geld für die Euro-Südländer; drittens ein EU-Kurzarbeiterprogramm SURE. Das ist schlicht illegal. Die geplanten Garantien der Mitgliedstaaten begründen eine nach Artikel 125 AEUV verbotene Gemeinschaftshaftung. Daran ändert auch der vielzitierte Artikel 122 nichts. Weiterhin ist die Arbeitsmarktpolitik gemäß EU-Verträgen überhaupt nicht vergemeinschaftet. Es fehlt somit eine Rechtsgrundlage für die EU, hier überhaupt tätig zu werden. Zudem ist nach Artikeln 124 und 311 AEUV auch noch die Kreditaufnahme verboten. Das ist also schon als Kreditfinanzierung verboten, also multipel illegal. ({1}) Auch SURE steht in direkter Konkurrenz zu nationalen Regelungen. In Deutschland reden wir bei derzeit über 15 Millionen Kurzarbeitern von einem Geldbedarf, der die in langen guten Jahren angesparte Milliardenrücklage der Bundesagentur schon im Frühjahr aufbrauchen wird. Der Bund wird hier also einspringen müssen. Unser Beitrag zu SURE für südeuropäische Kurzarbeiter fehlt dann im deutschen Haushalt. Die AfD spricht sich in diesem Konflikt um Mittel ganz klar für die Rettung der deutschen Arbeitnehmer und Unternehmen aus. ({2}) Viertens nenne ich noch den gerade jetzt in dieser Stunde verhandelten Recovery Fund, finanziert über deutsche Haushaltsmittel und deutsche Bonität. Auch ohne explizite Coronabonds wäre der Fonds ein Dammbruch. Ein billionenschwerer Anschlag kommt jetzt auf den deutschen Letzthafter zu. Noch nie in der Finanzgeschichte hat es funktioniert, wenn die einen haften und dann andere über die generierten Finanzmittel verfügen. Es behaupte bitte niemand, dieser kommende Fonds habe nichts mit Euro-Bonds zu tun. Sogar die Fraktion der Sozialdemokraten im EU-Parlament hat diesen Fonds genau als das bezeichnet, was er ist, als einen riesigen Euro-Bond. Das ist natürlich illegal; das übrigens auch in Richtung des Kollegen Rehberg, der erst heute Vormittag an dieser Stelle staatstragend die Verfassungsmäßigkeit aller Maßnahmen beschworen hat. Darüber sprechen wir bitte noch einmal im Ausschuss. Natürlich ist bei diesem Fonds Deutschland Haupthafter ebenso wie bei Krediten des ESM, der EIB, der EZB oder der EU-Kommission. Es ist immer dasselbe. Auch Macron sagt jetzt ganz offen: „Ohne Finanztransfers“ – deutsche natürlich – „scheitert die EU.“ Macron-Zitat! Dummerweise sind diese aber illegal. Geschäftsgrundlage für EU und Euro seit 1991 war immer offiziell: Niemals eine Haftungsgemeinschaft! Die Euro-Rettung führt uns also immer weiter in den Unrechtsstaat. ({3}) Sogar ohne EU-Programme ist ein weiterer deutscher Nachtragshaushalt auf Pump bereits absehbar. Keinesfalls hat also der deutsche Steuerzahler noch mehr Geldmittel für EU-Programme. Das Geld würde gemäß mir vorliegenden Papieren übrigens verwendet für noch mehr Bürokratie, für mehr CO2-Religion, für die berüchtigte Agenda 2030, für den Green Deal, für noch mehr Immigration, noch mehr Milliarden für die sogenannten Partnerländer Äthiopien, Senegal, Türkei, Albanien, Kosovo, sogar für Venezuela und die karibischen Länder, all das gemäß offizieller EU-Papiere. Für all diese Länder will man – ich zitiere – „kohärente Finanzpakete schnüren“. Doch will das der deutsche Bürger? Nein, natürlich nicht! Die Menschen verstehen sich nicht als EU-europäische oder gar als globale Schicksalsgemeinschaft, wie es heute Morgen wieder einmal von der Kanzlerin behauptet wurde. Nur eine massenmedial unterstützte weltferne supranationalistische Elite kann glauben, dass Schuldenmacherei und Planwirtschaft die EU oder gar die Welt aus der Krise führen werden.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Peter Boehringer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004675, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Was schon vor Corona illegal und grundlegend falsch war, wird keinesfalls durch Corona legitimer und sinnvoller. Die AfD lehnt alle Hilfsansätze über die europäischen Institutionen ab. Herzlichen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Boehringer. – Nächster Redner ist der Kollege Alois Karl, CDU/CSU-Fraktion, ({0}) der bitte gemächlichen Schrittes zum Podium kommt. Einen kleinen Moment, bitte! Herr Kollege Karl, nicht so nah an unsere Mitarbeiter! – Sie haben das Wort, Herr Kollege.

Alois Karl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003784, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In Europa befinden wir uns in der Krise; das ist allenthalben bekannt. Wir fühlen mit Hunderttausenden von Kranken mit. Wir betrauern Tausende von Toten in allen Ländern Europas. Wir sind sicher, dass sich die Krise wieder lösen wird. Wir sind eine stabile Gesellschaft in Deutschland. Die Menschen üben Verzicht und zeigen gegenseitigen Respekt. Wir sind wirtschaftlich ein starkes Land, und zwar deshalb, weil wir in den letzten sechs Jahren ausgeglichene Haushalte auf den Weg gebracht haben, keine neuen Schulden gemacht haben, Rücklagen angelegt haben, Haushalte mit Überschüssen ausgewiesen haben und die Sozialversicherungssysteme wieder auf hervorragende Fundamente gestellt haben. Viele Notmaßnahmen sind angelaufen; das wissen Sie. Wenn man alles zusammenzählt, die Hilfen und die Bürgschaften des Bundes und der bundeseigenen KfW-Bank, sind es mehr als 1,4 Billionen Euro. Wir unterstützen geradezu auf jedem Gebiet – Familien und Alleinerziehende, Künstler, Solo-Selbstständige, Start-ups, größere und kleinere Unternehmungen –, und wir verschulden uns natürlich, sodass einem Haushälter fast schwindelig werden könnte. Wir wissen aber, dass wir uns gegen diese Pandemie und die wirtschaftlichen Folgen stemmen müssen. Wir sind ein exportstarkes Land. Jeder dritte Arbeitsplatz hängt mit dem Export zusammen. 60 Prozent unserer Exporte gehen nach Europa. Wir wissen aber auch, meine Damen und Herren, dass es unvorstellbar ist, dass wir unseren deutschen Wohlstand künftig wieder haben werden, wenn es nicht auch den europäischen Partnern gut geht. Wohlstand zum Nulltarif wird es nicht geben. Unser Wohlstand hängt untrennbar mit dem wirtschaftlichen Aufschwung in anderen Ländern zusammen. Im letzten Jahr hatten wir Handelsüberschüsse von 276 Milliarden Euro, und der italienische Ministerpräsident wirft uns deswegen auch Egoismus vor; wir würden zu sehr auf eigene Vorteile schauen. Conte vergisst allerdings, dass wir in Europa der größte Zuschussgeber sind, dass wir die größten Haftungszusagen machen und dass wir auch in der jetzigen Situation gewillt sind, die Bewältigung der europäischen Krise mit zu finanzieren. Der Antrag der AfD-Fraktion ist dagegen geradezu grotesk, geradezu beschämend, möchte ich sagen. Ihr Antrag ist in einem einzigen Duktus gehalten: keine europäische Hilfestellung unter deutscher Beteiligung, in der jetzigen Notsituation keine weiteren Kreditlinien, in der jetzigen Notsituation keine neuen Garantiefonds, in der jetzigen Notsituation keine Finanzhilfen, in der jetzigen Notsituation keine weiteren Ankäufe der Europäischen Zentralbank. Das zeigt das Bild der AfD. Es zeigt Ihr wahres Gesicht. Es ist entlarvend, meine Damen und Herren. ({0}) Ihr Ansatz ist abgrundtief falsch. Wir verschreiben uns schon einer europäischen Solidarität. Wir sind Europäer, und wir sind nicht Egoisten und nicht Egomanen. Wir wissen, dass wir in den letzten 60 Jahren gerade durch ein vereintes Europa die besten Jahre in der jüngeren Geschichte hatten. Anstelle von „Deutschland, Deutschland über alles“ singen wir lieber die Europahymne, in der es heißt: „Wem der große Wurf gelungen, eines Freundes Freund zu sein“, und wir haben viele Freunde in Europa. ({1}) Darauf sind wir stolz, und das möchten wir auch in den nächsten Jahren so halten. Wir haben anderen viel zu verdanken. Ich erwähne bloß beispielhaft den Marshallplan oder ERP-Darlehen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, unsere politische Ausrichtung ist eine europäische. Das ist die Philosophie, unsere Politik, das Credo und unser europäischer Kompass. Glücklicherweise sind wir vereint, in der Tat. Wir sind Europäer und keine Egomanen – ich habe das schon gesagt –, und Ihr Antrag, den Sie gerade noch einmal zum Schluss zusammengefasst haben, beinhaltet, dass wir eigenbrötlerisch tätig sein sollen, aber nichts mit Europa und mit unseren Partnern zu tun haben sollen. Wir unterstützen die europäischen Finanzminister mit ihrem 500-Milliarden-Euro-Programm, das sie vorgeschlagen haben. Im Gegensatz zur AfD sind wir für die Reaktivierung des ESM mit mehr als 400 Milliarden Euro Ressourcen, die dort geparkt sind. Im Gegensatz zur AfD unterstützen wir einen neuen EU-Fonds SURE für die Kurzarbeiterregelung in anderen Ländern. Im Gegensatz zur AfD kommen wir auch der Europäischen Investitionsbank zu Hilfe, wenn ein neuer Garantiefonds aufgelegt wird. Dies bringt viele Milliarden mit geringen Garantiesummen und hohen Hebelwirkungen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir alle müssen wissen: Auch bei diesen Hilfsprogrammen profitieren ebenfalls wir Deutsche. Die Krise ist auch eine Chance für uns. In China gibt es ein Schriftzeichen, das „Chance“ und „Krise“ beinhaltet. Wir müssen diese Chancen, die uns gegeben sind, jedoch nutzen, auch mit unserem Geld. Meine Damen und Herren, wir gehen Risiken ein; das wissen wir. Aber eines machen wir nicht, nämlich dass wir Risiken eingehen, bei denen wir in unbegrenzter Höhe und gesamtschuldnerisch haften. Bonds, ob sie Corona- oder Euro-Bonds oder sonst wie heißen, lehnen wir rundweg ab. Es würde nicht weiterhelfen, die Diskussion so zu führen, aber auch die Anträge der AfD helfen nicht weiter. Denn man darf Partner in Europa nicht dazu anhalten, wie Sie das schreiben, aus dem Euro auszutreten.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege.

Alois Karl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003784, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das ist doch das Gegenteil von europäischer Solidarität, und deswegen werden wir Ihren Antrag samt und sonders ablehnen. Ihr Antrag bedeutet, Pest oder Cholera zu wählen. Wir wählen natürlich keines von beiden. Wir wählen die politische Prosperität in Europa.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, bitte.

Alois Karl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003784, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir wählen ein weiter zusammenwachsendes Europa. Ich danke Ihnen herzlich. – Wir haben ein gutes Parlament, lieber Herr Präsident, –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Das rettet Sie jetzt auch nicht mehr. ({0})

Alois Karl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003784, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

– mit Abstand das beste. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Karl, meine Güte ist heute nahezu unendlich. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen noch vor 20 Uhr nach Hause. Als nächster Redner hat für die FDP-Fraktion der Kollege Konstantin Kuhle das Wort. ({0})

Konstantin Kuhle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004796, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die aktuelle Coronakrise ist eine große Herausforderung für die Mitgliedstaaten der Europäischen Union, aber auch für die Institution als solche, und deswegen ist jetzt die Stunde europäischer Solidarität. Ich glaube, dass in der aktuellen Krise eines zu oft vergessen wird, und das ist der Fakt, dass alle Europäerinnen und Europäer und auch die Mitgliedstaaten der Europäischen Union mit Kooperation besser dran sind als ohne. Deswegen wollen wir Freie Demokraten und wollen viele Kolleginnen und Kollegen hier im Haus – so schnell es geht, so schnell es vertretbar ist – zurück zu einer Europäischen Union, in der die Grundfreiheiten auch gelebt werden und in der beispielsweise die Binnengrenzen geöffnet sind. ({0}) Jetzt gibt es leider Vorschläge hier im Haus, die unter europäischer Solidarität nur ein einziges Instrument verstehen, und das ist das Thema Coronabonds oder Euro-Bonds. Abgesehen davon, dass dieses Instrument in der Sache falsch ist, weil es Fehlanreize setzt, gibt es für dieses Instrument in der Europäischen Union überhaupt keine Mehrheit. Deswegen ist der Vorschlag der Grünen in Richtung Coronabonds falsch, weil er akut gegenüber den betroffenen Mitgliedstaaten überhaupt keinen Mehrwert mit sich bringt. Deswegen ist das kontraproduktiv und muss heute auch im Europäischen Rat von der Bundesregierung abgelehnt werden. ({1}) Lieber Kollege Karl, es ist interessant, dass Sie da so optimistisch sind. Ich würde nicht den Fehler machen und hier im Parlament schon vor dem Vorliegen des Verhandlungsergebnisses des Europäischen Rates sagen, dass man damit einverstanden ist. Wir wollen mal sehen, was dabei am Ende herauskommt, und dann kann das Parlament hinterher sagen, ob es das akzeptiert, was dort verhandelt worden ist. Aber einen Blankoscheck für gemeinschaftliche Schuldenaufnahme darf es vom Deutschen Bundestag nicht geben, meine Damen und Herren. ({2}) Deswegen setzen sich die Freien Demokraten dafür ein, dass wir in Richtung der Ertüchtigung des Europäischen Stabilitätsmechanismus, in Richtung der Europäischen Investitionsbank und in Richtung des europäischen Haushalts gehen, und wir werden darauf achten, dass in all diesen Verfahren die Parlamentsbeteiligung gewahrt ist und dass die Bedingungen, die in den Verträgen hinterlegt sind, auch gewahrt bleiben. ({3}) Bei der Parlamentsbeteiligung kommt dann ein Aspekt zum Tragen, unter dem Sie, liebe Kollegen von der AfD, das Thema hier vorgebracht haben, nämlich nationalstaatliche Souveränität. Deswegen redet hier auch ein Innen- und Europapolitiker zu einem haushaltspolitischen Thema. Wir dachten, es gehe hier um Souveränität und Subsidiarität. Dann haben wir uns Ihren Antrag angeschaut und müssen jetzt feststellen: Ihr Begriff von Souveränität ist, dass die Europäische Union überhaupt nicht in der Lage ist, in dieser Krise zu handeln. Das ist ein Begriff von Souveränität, der nicht zugunsten der Europäischen Union, nicht zugunsten der Interessen der Bundesrepublik Deutschland ist, sondern das ist ein Begriff von Souveränität im Sinne von Herrn Putin. Als dessen Spracherohr kommen Sie hier im Deutschen Bundestag auch wieder um die Ecke. Wenn Ihr Souveränitätsbegriff angelegt werden würde, dann entscheiden über das Schicksal der Europäer nicht Berlin, nicht Brüssel, nicht Warschau, nicht Rom und nicht Paris, sondern Moskau und Peking. Und deswegen lehnen wir Ihren Antrag ab. Vielen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Kuhle. Sie müssen mir noch verraten, wie Sie trotz der geschlossenen Frisiersalons so einen wunderbaren Haarschnitt hinbekommen haben. ({0}) Als nächster Redner spricht für die SPD-Fraktion der Kollege Andreas Schwarz. ({1}) Herr Kollege Schwarz, Sie haben das Wort.

Andreas Schwarz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004407, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Na gut, da kann er uns vielleicht beraten. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Corona macht vor Grenzen natürlich nicht halt. Die Folgen der Pandemie erreichen viele Menschen in allen Ländern dieser Erde. Gerade wir Europäer haben aber jetzt die große Chance, diese Viruskrise gemeinsam zu bewältigen und der Welt zu zeigen, dass Europa zueinandersteht, zueinanderhält und sich vor allen Dingen auch gegenseitig hilft. Wir sind in Europa eine Schicksalsgemeinschaft. In dieser Situation kommt nun der heute vorliegende Antrag der AfD, der mal wieder nichts anderes macht, als antieuropäische Thesen zu produzieren. Liebe Bürgerinnen und Bürger, wenn ich den dreiseitigen Antrag für Sie vor den Bildschirmen auf den Punkt bringen darf, dann würde ich ihn so beschreiben: Die AfD hat das System von Europa und das System von Solidarität nicht verstanden. ({0}) Es ist schon ein trauriges Bild, dass Rechtspopulisten in ganz Europa so gar keine Antworten auf die aktuelle Krise entwickeln, keine Antworten hinsichtlich unserer Zukunft geben können und – wie dieser Antrag wieder zeigt – zynisch mit den Herausforderungen dieser von allen unverschuldeten Krise in Europa umgehen. ({1}) Gerade in dieser Krise zeigt sich, dass alle aufrechten demokratischen Kräfte in Europa zusammenhalten und ungeheure Anstrengungen unternehmen, Arbeiternehmer, Unternehmen, Kranke und viele mehr zu schützen und, so gut es geht, auch wirtschaftlich aufzufangen. Die AfD kann doch nicht ernsthaft fordern, dass Deutschland einen Rettungsschirm über unser Land spannt und die Nachbarn im Regen stehen lässt. ({2}) 60 Prozent unserer Exporte gehen an unsere europäischen Freunde. Viele für unsere Volkswirtschaft dringend notwendigen Lieferketten haben ihren Ursprung bei unseren europäischen Nachbarländern. Nehmen wir doch nur mal Norditalien für die Automobilindustrie. Deshalb, meine Damen und Herren der AfD: Ihre antieuropäische Haltung ist keine Antwort auf die Probleme der Krise; sie ist Ausdruck Ihrer permanenten Hilflosigkeit. Das ist letztendlich Ihr Geschäftsmodell: spalten und ausgrenzen. Das kennen wir von Ihnen, und ehrlich gesagt, erwarten wir auch nichts anderes mehr. Aber was erwarten die Menschen in diesem Land von uns? Sie wollen mit ihren Sorgen und Nöten eben nicht alleingelassen werden. Die Menschen müssen im Moment ein anderes Leben organisieren. Das fängt bei der Kinderbetreuung an, geht über den Erhalt des Arbeitsplatzes oder der Existenz und endet sicherlich nicht nur damit, dass man sich Gedanken darüber macht, ob man gesund bleibt. Wir haben viele Helden des Alltags, und sie verdienen unsere Solidarität. Und diese Helden des Alltags gibt es natürlich auch in ganz Europa. Unsere Bundesregierung hat hier schnell, umfassend und mit großer Verantwortung reagiert, und das auch mit den Stimmen der Opposition. Das ist Solidarität, und daran könnte sich die AfD mal ein Beispiel nehmen. Genauso erwarten die Menschen in Europa natürlich auch Hilfe, die von der europäischen Idee der Solidarität getragen ist. „Helfen“ heißt natürlich auch „Risiko“, heißt „Kosten“, bietet aber auch Chancen. Die Welt wird sicher nach der Coronakrise eine andere sein. Wir haben aber jetzt die große Chance, unsere Welt besser und zukunftsfähiger zu machen. Deutschland als guter Nachbar hat ein elementares Interesse an einem starken Europa. Die EU ist trotzt kultureller Unterschiede und unterschiedlicher Mentalitäten eine politische Stabilität und ein verlässlicher Partner in der Welt. Sicherlich verrate ich kein Geheimnis, wenn ich sage, dass unser Finanzminister Olaf Scholz zusammen mit seinem französischen Amtskollegen dafür gesorgt hat, die unterschiedlichen Interessen Europas zu bündeln und ein erstes gemeinsames Konzept im Kampf gegen die Krise zu erarbeiten, ein Konzept, meine Damen und Herren, das richtige Antworten liefert und die Menschen in ganz Europa nicht im Regen stehen lässt. Diese Anstrengungen in Europa können sich sehen lassen. Was wurde mit dem Unterstützungspaket in Höhe von 540 Milliarden Euro erreicht? Erstens. 200 Milliarden Euro für die Investitionsbank, damit Unternehmen der gesamten EU unterstützt werden können, analog zu unserer KfW. Zweitens. 100 Milliarden Euro für den SURE-Fonds, um das Kurzarbeitergeld zu finanzieren. Drittens. 240 Milliarden Euro aus dem Europäischen Stabilitätsmechanismus werden für medizinische Hilfen im Zusammenhang mit der Pandemie zur Verfügung gestellt. Jedes Land kann bis zu 2 Prozent des BIP als Hilfe beantragen. Allein für Italien würde das 39 Milliarden Euro an zusätzlicher Hilfe bedeuten. Dass die Rechtspopulisten der italienischen Fünf-Sterne-Bewegung dieses Geld ablehnen, erstaunt angesichts des hier vorliegenden Antrags der AfD nicht wirklich. Sie sehen also, meine Damen und Herren: Rechtspopulisten sind nicht nur in Deutschland hilflos; sie sind es auch anderswo in der Welt. Nachbarschaftliche Solidarität ist wesentlicher Bestandteil der Beseitigung der Pandemie. Das gehört zum europäischen Gedanken. ({3}) Wir werden auch zukünftig Ideen entwickeln, die wahrscheinlich über die bestehenden Programme hinausgehen müssen, und Denkverbote über die Ausgestaltung und Finanzierung der Hilfen sollte es, anders als in Ihrem Antrag formuliert, liebe Kolleginnen und Kollegen der AfD, nicht geben. ({4}) Ob konditionierte Darlehen, Beteiligung, wie wir es hier in Deutschland machen – über alles müssen wir nachdenken. Sicher muss dies auf Grundlage der europäischen Verträge und auf Grundlage des Grundgesetzes passieren, und sicherlich wird das Parlament hier das letzte Wort haben wollen. Zum Schluss. Was fühlen die Menschen in diesem Land? Wir handeln hier mutig, verantwortungsbewusst und entschlossen, und wir haben gute und richtige Lösungen. Meine Damen und Herren, Solidarität ist die politische Form der Nächstenliebe. Diese Koalition und große Teile dieses Parlamentes leben diese Solidarität. Herzlichen Dank. Und bleiben Sie gesund! ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Schwarz. – Nächster Redner ist für die Fraktion Die Linke der Kollege Alexander Ulrich. ({0})

Alexander Ulrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003858, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, es ist ein aberwitziger Antrag der AfD. Aber es überrascht nicht, dass sie uns auch in dieser Krise mit noch mehr Spaltung, nationalem Egoismus und Ausländerfeindlichkeit beschäftigt. Man ist fast schon beschämt, wenn man den Inhalt dieses Antrags liest. Denn es kommt einem wirklich so vor, als glaube die AfD, sie wäre auf einer einsamen Insel und der Wohlstand in Deutschland würde dadurch entstehen, dass man die Grenzen schließt, auch die Grenzen der Solidarität. Es gehört zur Wahrheit dazu, dass auch wir als Linke dem Rettungspaket zugestimmt haben. Wir haben vieles zu kritisieren, wir haben zu Detailfragen, auch jetzt wieder bei der Kurzarbeit, ganz andere Vorschläge; vieles geht uns nicht weit genug. Aber eines ist doch relativ klar: Jeder Euro, der in Deutschland für die Arbeitsplätze, für die Zukunft unseres Landes bewegt wird, nützt doch nichts, wenn wir zusehen, wie die Nachbarländer kaputtgehen. ({0}) Deshalb braucht es mehr europäische Solidarität. Ja, auch Deutschland muss mehr Geld in die Hand nehmen, um Europa hier nach vorne zu bringen. Deshalb ist der AfD-Antrag nicht das Papier wert, auf dem er steht, und er wird von uns natürlich abgelehnt. ({1}) Das Problem ist aber, dass in der Bundesregierung insbesondere die CDU/CSU nicht gerade immer europäisch-solidarisch handelt. Und zur Wahrheit gehört auch dazu: Dass wir in Deutschland die schwarze Null hatten und wir die Schuldenbremse eingehalten haben, war wahrscheinlich weniger Ergebnis guter Regierungspolitik, sondern Ergebnis der europäischen Finanz- und Euro-Krise, aufgrund derer wir durch die Niedrigzinspolitik laut „Handelsblatt“ – Stand Dezember – 440 Milliarden Euro zusätzlich gewonnen haben, weil wir durch die niedrigen Zinsen, die nicht unserer Wirtschaftsleistung entsprachen, von der Schwäche anderer europäischer Länder profitiert haben. Und wenn wir durch die Schwäche anderer europäischer Länder 440 Milliarden Euro bekommen haben, ist es doch richtig, dass von uns aus Solidarität ein Teil dessen wieder in diese Länder zurückfließt. ({2}) Ich will Ihnen ganz ehrlich sagen: Wer kam auf die Idee, den ESM wieder zu bemühen? Der ESM ist gerade bei südeuropäischen Ländern so was wie das schlimmste Instrument, das man zur Anwendung bringen kann; ({3}) die Troika und die EU-Kommission haben gewütet. Allein zwischen 2008 und 2011 hat die EU-Kommission dafür gesorgt, dass in diesen Ländern 63-mal Kürzungen im Gesundheitswesen umgesetzt werden mussten. Also: Der ESM ist gerade das Gegenteil von Solidarität. ESM bedeutet Austerität, Sozialabbau und noch weniger Gleichheit in der Europäischen Union. Dass diese Länder den ESM ablehnen, ist völlig klar, und es wird auch von uns unterstützt, dass in dieser Krise die Mittel nicht aus dem ESM kommen. Wir bräuchten ein solidarisches Europa. Wir könnten das auch umsetzen, wenn wir eine Finanzierung der öffentlichen Haushalte direkt über die Europäische Zentralbank hätten, wie es so ähnlich auch in den USA passiert. Das geht bei uns leider nicht; aber es wäre durchaus möglich, Coronaanleihen über die Europäische Investitionsbank umzusetzen. Das erlaubt das europäische Recht, und das ist unser Vorschlag und auch der anderer europäischer Parteien. Deshalb: Mehr Solidarität bedeutet weniger Politik der AfD, aber auch weniger Blockadehaltung der CDU/CSU in dieser Bundesregierung. Vielen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Ulrich. – Nächster Redner wird der Kollege Sven-Christian Kindler sein, Bündnis 90/Die Grünen, wenn wir mit den Hygienemaßnahmen hier vorne fertig sind. ({0}) – So. Herr Kollege Kindler, Sie haben das Wort.

Sven Christian Kindler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004070, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In vielen Ländern Europas wütet die Pandemie mit Zehntausenden Toten. Es gibt Millionen Arbeitslose. Viele Kleinunternehmerinnen und ‑unternehmer in Italien oder Spanien sind von der Insolvenz bedroht. Und was ist die Antwort der AfD in ihrem Antrag heute? Sie lehnt jegliche europäische Hilfe kategorisch ab. Nennen wir es doch beim Namen: Es geht hier um Menschen, Menschen in Europa. Ich finde: Was Sie hier vorlegen, das ist kaltherzig, das ist unmenschlich. ({0}) Die Antwort der Rechtsradikalen in Deutschland, aber auch in anderen Ländern ist Nationalismus, und das bei einer internationalen, einer grenzüberschreitenden Krise. Das Coronavirus macht doch nicht halt an nationalen Schlagbäumen. Deswegen sagen wir auch sehr klar: Diese Krise betrifft uns in Europa gemeinsam. Wir brauchen jetzt gemeinsame europäische Antworten und keine nationale Abschottung. ({1}) Noch ein Wort zur FDP. Es stimmt einfach nicht: Viele europäische Länder haben sich für gemeinsame Anleihen, haben sich für Coronabonds ausgesprochen. ({2}) Deutschland und die Niederlande haben sich dabei isoliert. ({3}) Nicht nur in dieser Debatte, sondern in vielen anderen Debatten im Deutschen Bundestag der letzten Jahre haben Sie immer groß die proeuropäische Fahne geschwungen, aber wenn es konkret wird, hat man von der FDP immer nur gehört: Nein, nein, nein! Blockade! ({4}) Das ist nicht proeuropäisch, was die FDP hier vorschlägt. ({5}) Machen wir uns doch mal ehrlich: Reden wir doch mal über die Haftung für Schulden in Europa! ({6}) Der Grund, warum aus der dramatischen Coronakrise bisher keine dramatische Euro-Krise geworden ist, ist, dass die EZB mal wieder die Kohlen aus dem Feuer geholt hat. Das ist doch die Wahrheit!

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Kindler, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fricke? Ich halte die Uhr auch an.

Sven Christian Kindler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004070, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr gerne.

Otto Fricke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003530, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Kindler, weil Sie erneut versuchen, andere, die sagen: „Wir wollen als Europäer helfen“, als Antieuropäer darzustellen, weil sie nicht so helfen wollen, wie Sie sich Hilfe vorstellen ({0}) – da kann man auch einfach zuhören –, will ich Sie jetzt einfach mal klar und deutlich etwas fragen. Ich sage das gerne noch mal für meine Fraktion: Wir müssen als starkes Land, als ein Land, das durch gutes finanzielles Gebaren in den letzten Jahren aufgefallen ist, den schwachen Ländern Europas helfen. Das ist unbestritten, und das ist entsprechend unserer großen Stärke auch notwendig. Ich frage Sie jetzt: Wenn Sie von gemeinschaftlicher Haftung reden und, sagen wir mal, ein Betrag von 1 Milliarde Euro Haftungsvolumen aussteht, an dem sich Deutschland entsprechend seiner Stärke mit, sagen wir, 30 Prozent beteiligt, sind Sie dann der Meinung, dass ein Gläubiger von Deutschland diese 30 Prozent und nur diese 30 Prozent verlangen kann, oder sind Sie der Meinung, dass Deutschland erst mal die gesamte Summe zahlen muss, wenn Europa helfen muss? ({1}) Das ist der wesentliche Unterschied. ({2}) Ich bitte Sie um eine Antwort: Muss Deutschland dann erst mal alles zahlen, oder muss Deutschland entsprechend seiner Stärke verantwortungsvoll in Europa handeln? ({3})

Sven Christian Kindler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004070, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Erstens, Kollege Fricke: Danke für diese kritische Zwischenfrage. Ich wollte noch mal auf die Frage der Haftung in Europa eingehen. ({0}) – Danke schön, Kollege Dürr. Ich antworte jetzt auf die Frage des Kollegen Fricke. ({1}) Ich glaube, Sie sind gerade nicht dran und haben auch keine Redezeit. Der Punkt ist: Wenn wir über gemeinsame Haftung reden – und das ist der FDP ja sehr wichtig; das haben der Kollege Kuhle und auch der Kollege Fricke noch mal betont –, dann muss man sich die Frage stellen: Wie funktioniert eine Währungsunion, und kann man eine Währungsunion ohne gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik und ohne gemeinsame Haftungsmechanismen aufrechterhalten? De facto ist es bisher so, dass die EZB quasi als gemeinsame Haftungsunion die Kohlen aus dem Feuer holt. Das ist die Wahrheit, wenn man über die Verschuldung von Europa redet. ({2}) Das Zweite zur Frage der gemeinsamen Haftung: Wenn man nicht will, dass die EZB immer wieder die Kohlen aus dem Feuer holt, dann muss man eine gemeinsame fiskalische Antwort geben. ({3}) Unser Vorschlag ist, solange wir die EU-Verträge haben und solange wir auch die Vorgaben des Grundgesetzes hier im Deutschen Bundestag nicht geändert haben, einen großen gemeinsamen Recovery Fund aufzulegen. Das Volumen läge bei 1 Billion Euro, nicht 1 Milliarde Euro. Das kann man absichern über Garantien des europäischen Haushaltes, und dafür wird Deutschland anteilig haften, wie andere Länder auch. Das ist ein pragmatischer Vorschlag: Solange wir die Verträge nicht ändern können, solange wir sie nicht geändert haben, legen wir gemeinsame Anleihen auf. Es gibt jetzt schon gemeinsame Anleihen im Rahmen des europäischen Haushaltes: beim EFSM, beim Balance-of-Payments-Programm, bei der Macro-Financial Assistance. Alles das sind gemeinsame Anleihen. Dafür wird Deutschland teilschuldnerisch haften, nicht gesamtschuldnerisch; das war die Antwort auf Ihre Frage. Aber trotzdem sind es gemeinsame Anleihen. Da werden Schulden in Europa in einer nennenswerten Größenordnung, die wir brauchen, gemeinsam aufgenommen. Das wollen wir Grüne. Diesen Weg hat die Bundesregierung bisher versperrt; sie hat sich der Diskussion verweigert, viel Porzellan zerschlagen und viel Vertrauen in Europa zerstört. Wir fordern, dass das endlich aufhört und dass es jetzt eine große gemeinsame Antwort in Europa gibt. ({4}) Die Frage, die sich SPD und Union stellen müssen, ist doch: Will man, dass die EZB in Europa weiter alles aufkauft, um die Spreads niedrig zu halten, ohne gemeinsame Regeln, ohne dass wir dafür Vorgaben machen können, oder will man das gemeinsam fiskalisch machen? Bisher haben die Kanzlerin, aber auch der Finanzminister und die Unionsfraktion gesagt: Wir wollen das nicht. Wir wollen, dass die EZB weiter die Kohlen aus dem Feuer holt, den Karren aus dem Dreck zieht, und wollen nicht das ökonomisch Notwendige tun. – Ich finde: Das ist doch der eigentliche Moral Hazard in der Euro-Zone. Die Staaten, besonders Deutschland, handeln nicht fiskalisch, aber am Ende muss es die EZB machen. Man zeigt immer mit dem Finger auf die EZB, entweder auf Herrn Monti oder – in der Zukunft – auf Lagarde, und sagt: „Oho, die Zinsen in Deutschland sind so niedrig! Die armen Sparer!“, aber de facto ist man nicht bereit, die fiskalischen Antworten zu geben, die jetzt notwendig sind, mutig zu sein in Deutschland und auch Tabus zu brechen und über den eigenen Schatten zu springen. Das ist der eigentliche Moral Hazard in der Euro-Zone. Ich finde das extrem scheinheilig. ({5}) Wir Grüne sagen auch sehr klar, was jetzt notwendig ist. Wenn die ganze Straße brennt in Europa, dann kann ich doch nicht sagen: „Jeder soll sein eigenes Haus löschen“ und: „Jeder muss für sich selber sorgen“. Nein, dann muss ich dafür sorgen, dass die Feuerwehr jetzt genug Löschwasser hat, um schnell und entschlossen zu handeln und zu agieren. Darum geht es jetzt in Europa. Dafür muss sich die Bundesregierung endlich einsetzen. Vielen Dank. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Kindler. – Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Matern von Marschall, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Matern Marschall von Bieberstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004349, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin dankbar, dass wir, wenn auch in dieser besonderen Weise, zusammenkommen können, damit die parlamentarische Debatte wieder an Fahrt aufnimmt; das hat sie ja heute auch getan. Ich bin aber auch dankbar, weil wir als Vertreter der Regierungskoalition, der CDU/CSU-Fraktion, selbstverständlich – um dieses Thema geht es heute natürlich auch – unser Königsrecht, das Haushaltsrecht, sehr bewusst wahrnehmen wollen und werden. Ich habe wie viele von uns, wie viele von Ihnen in den letzten Wochen erlebt, wie ungeheuer intensiv die Zusammenarbeit mit den Menschen vor Ort ist, wie ungeheuer leistungsfähig und leistungsbereit die Verwaltungen und all diejenigen, die in vielen Bereichen der Gesellschaft Hilfe leisten, sind. Das war für mich eine außergewöhnliche Erfahrung, die ich hier mitgeben möchte, weil sie auch zur parlamentarischen Arbeit gehört, aber auch, weil sie gerade in dieser Zeit aus technischen Gründen wenig sichtbar gewesen ist. Wir – der Kollege Petry sitzt auch hier – haben gerade eben eine Konferenz mit dem Ausschuss für Grenzüberschreitende Zusammenarbeit verlassen. Da ging es um die Frage: Wie können wir allmählich – im Falle meiner Heimat zwischen dem Elsass und Baden – wieder eine halbwegs erträgliche Durchlässigkeit der Grenze gerade für die vielen Pendler auf dem Weg zur Arbeit ermöglichen? Man sah also sofort: Diese Krise ist eben keine nationale, sondern sie ist eine, die alle Menschen gleichermaßen trifft, weil der Virus keine Grenzen kennt. Deswegen müssen wir hier deutsch-französisch, müssen wir hier europäisch zusammenarbeiten und können uns nicht einigeln in die Kaltherzigkeit des Nationalismus, die aus Ihrem Antrag spricht, den wir schon aus diesem Grunde rundheraus ablehnen werden. ({0}) Ich will ganz deutlich sagen: Die von den Finanzministern und heute auf dem Europäischen Rat verabschiedeten drei Programme, über die gesprochen worden ist, sind gut. Wir werden auch hier im Bundestag nochmals darüber beraten, weil der Bundestag in allen diesen Punkten zustimmungspflichtig ist. Dann werden wir ganz genau sehen, welche Beträge, welche Haftungsrisiken auf Deutschland entfallen und ob wir das für verantwortbar halten und dem dann auch zustimmen können. ({1}) Ich bin ziemlich sicher, dass es gut ist, dass wir einen Teil des ESM der Bekämpfung von Corona widmen. Und zwar geht es ja hier vor allen Dingen darum, dass Ländern, die dies vielleicht allein nicht schaffen würden, Marktzugang und Zugang zu Geld verschafft wird. Das ist aber ein sogenanntes vorbauendes Verfahren, damit nicht irgendwelche Spekulanten gegen diese Märkte spekulieren, um dann künstlich die Zinsen hochzutreiben. Das ist schon mal gut. Das Zweite, was gut ist, ist, dass die EIB Kredite an Unternehmen vergibt. Das ist das, was wir hier in Deutschland mit der KfW machen. Insofern drücken wir hier jetzt mit dem, was wir aus eigener Stärke heraus leisten können – andere können das nicht unbedingt leisten –, unsere Hilfsbereitschaft aus. Das finde ich sehr vernünftig, ausgesprochen hilfsbereit und gut. Zum Dritten. Auch das Programm SURE ist ja ein wenig – ich sage es jetzt mal so – von unserem Kurzarbeitergeld abgekupfert. Das soll jetzt vorübergehend auch zur Verfügung stehen. ({2}) – Herr Boehringer, hören Sie doch einfach mal zu. Jetzt will ich ganz klar sagen: Diese Dinge sollen vom Betrag und vom zeitlichen Umfang her scharf begrenzt sein und dem Zweck dienen, den Europäern, die in dieser Situation, in dieser Krise besonders leiden, zu helfen. Dann sollen sie aber auch wieder verschwinden; das ist doch ganz klar. ({3}) Die Phantasien der Linken und der Grünen von den Billionenpaketen wollen wir uns mal ganz genau anschauen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das, was wir brauchen, ein Programm ist, das der wirtschaftlichen Produktivität der europäischen Länder hilft. Daran mangelt es nämlich. Es mangelt an wirtschaftlicher Prosperität, an Wachstum und an Leistungsfähigkeit. Dafür die Rahmenbedingungen zu verändern, daran sollten wir arbeiten. Wir sollten den Markt nicht mit Geld überschwemmen. Es hilft am Ende überhaupt niemandem, wenn dahinter keine leistungsfähigen Wirtschaften sind. Dafür wollen wir uns einsetzen, und ich glaube, das werden wir da, wo wir gemeinsamen europäisch arbeiten – und das sind ja viele von uns, auch über Fraktionen hinweg –, sicher auch gemeinsam europäisch hinbekommen. Ich bin sehr enttäuscht, dass schon am Beginn dieser Herausforderungen, die wir jetzt bewältigen müssen, Einzelne – namentlich die AfD-Fraktion – diese schwierige Bewährungsprobe dazu nutzen, ihre eigene scheußliche nationalistische Suppe zu kochen. Das werden wir nicht akzeptieren. Zum Abschluss, Herr Präsident: Wir dürfen auch die Ärmsten in der Welt nicht vergessen. Es ist unsere Aufgabe, gerade denen, die am wenigsten Schutz vor dieser Krise haben, zu helfen. Deswegen: Lassen Sie uns die WHO stärken! Lassen Sie uns die Menschen insbesondere in Afrika im Blick haben, die besonders stark leiden werden, weil sie am wenigsten geschützt werden! Herzlichen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege von Marschall. – Damit schließe ich die Aussprache.

Christian Dürr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004705, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Bei der Vorstellung dessen, was die Bundesregierung machen will, hat der Bundesfinanzminister Olaf Scholz vor etwa vier Wochen davon gesprochen, dass er jetzt die Bazooka auf den Tisch gelegt hat. Nach vier Wochen der Coronahilfe in Deutschland fragen sich viele mittelständische Unternehmerinnen und Unternehmer, ob diese Bazooka Ladehemmungen hat. Dabei ist sie eigentlich gut gefüllt: 155 Milliarden Euro im Nachtragshaushalt, 1 Billion Euro beträgt allein der Haftungsrahmen des Bundes und 55 Milliarden Euro im Rahmen einer sogenannten globalen Mehrausgabe für den Bundesfinanzminister. Eigentlich liegt es nicht an der Ladung, aber diese Bundesregierung feuert nicht, um mal im Bild zu bleiben. Diese Hilfen kommen bei den Unternehmerinnen und Unternehmern nicht in ausreichendem Maße an; denn für die Unternehmer mit einer Mitarbeiterzahl zwischen 11 und 249 gibt es kein eigenes Bundesprogramm. Sie werden ausschließlich auf Kredite der KfW verwiesen. Das, was Sie machen, provoziert gerade im deutschen Mittelstand eine Krise nach der Krise, weil Unternehmen verschuldet aus dieser Krise heraustreten werden, und darauf hat diese Bundesregierung keine Antwort. ({0}) Deswegen machen wir Ihnen einen konkreten Vorschlag; den haben wir schon vor einigen Wochen gemacht. Wir sagen: Es braucht direkte, schnelle Hilfen, und zwar direkt ausgezahlt über die Finanzämter, eine unbürokratische Liquiditätshilfe. Wir haben das „negative Gewinnsteuer“ genannt. Es besteht eine Finanzbeziehung zwischen Unternehmen und Finanzämtern. Diesen Kanal müssten Sie nutzen, um zur Auszahlung zu kommen. Am heutigen Tag stellen wir Ihnen eine zweite Stufe vor, nämlich ein Versprechen, was mit einer solchen Auszahlung verbunden sein sollte. Wir sagen: Einen Teil des Gewinnrückgangs bzw. des entgangenen Gewinns, einen Teil dessen, was die Unternehmer in diesem Jahr nicht umsetzen, was dazu führt, dass sie Verluste erleiden, muss der Steuerstaat ihnen zurückerstatten; denn diese Unternehmer waren in den vergangenen Jahren solidarisch mit dem Steuerstaat. Jetzt muss der Steuerstaat solidarisch mit dem deutschen Mittelstand sein. ({1}) Deswegen sage ich Ihnen: Union und SPD lassen die mittelständischen Betriebe hier leider weiter im Regen stehen. Nach der Krise werden Tausende Unternehmen trotz kurzfristiger Liquiditätshilfe vor der Pleite stehen, und deswegen braucht es eine solche nachträgliche Steuersenkung. In diesem Zusammenhang fand ich die Bemerkung des Fraktionsvorsitzenden der SPD, des Herrn Dr. Mützenich, heute Morgen bei der Regierungserklärung sehr spannend. Er hat nämlich gesagt: Steuersenkungen kommen nicht in Frage. – Ich frage mich, wo er gestern Abend beim Koalitionsausschuss war, wo Sie ja zumindest einen kleinen ersten Schritt in Form einer erweiterten Verlustverrechnung für Unternehmen gemacht haben. Da sind nur 4,5 Milliarden Euro vorgesehen. Im Vergleich zu den 55 Milliarden Euro, die zur Verfügung stehen, ist das nicht mal ein Tropfen auf den heißen Stein. Aber ich sage Ihnen in aller Klarheit: Wir haben seit Wochen darüber gesprochen, und gestern ist ein Minischritt gemacht worden. Den stellt die SPD schon wieder infrage. So kann man Sicherheit für die mittelständischen Unternehmen in Deutschland jedenfalls nicht herstellen. ({2}) Das, was wir hier vorschlagen, findet Zuspruch bei Ökonomen. Der Präsident des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel, Professor Felbermayr, hat beispielsweise gesagt: Das ist genau das richtige Instrument in der Krise. Jetzt muss Unternehmen mit Liquidität geholfen werden. Deswegen bitte – ich sage das ganz deutlich in Richtung Union und SPD und beispielsweise der Niedersächsischen Landesregierung, der Großen Koalition in Hannover –: Hören Sie damit auf, über Abwrackprämien zu sprechen! Hören Sie auf, über irgendwelche Konjunkturprogramme zu philosophieren! Dieses Geld, was wir gemeinsam, mit Unterstützung der Freien Demokraten zur Verfügung gestellt haben, muss jetzt dem deutschen Mittelstand, der in dieser Krise leidet, zur Verfügung gestellt werden. Keine staatlichen Programme! Die Mittelständler brauchen das Geld. ({3}) Zum Schluss, Herr Präsident: Denken Sie über eine echte Öffnung bei Einhaltung der Infektionsschutzregeln nach! Die Gastronomie ist jetzt besonders betroffen. Auch andere Unternehmen des Mittelstands mit einer Ladenfläche von über 800 Quadratmetern – sie sind oftmals inhaber- und familiengeführt – sind betroffen. Ich sage Ihnen zu dem Vorschlag von gestern, als gesagt wurde, dass Sie die Mehrwertsteuer von 19 Prozent auf 7 Prozent senken werden: Auch ein Steuervorteil von 12 Prozentpunkten auf null Umsatz bleibt leider null.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss.

Christian Dürr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004705, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Hier muss die Große Koalition umdenken. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Dürr. – Ich finde es mittlerweile ja begeisternd, dass alle Redner „Ich komme zum Schluss, Herr Präsident“ sagen, um dann nicht zum Schluss zu kommen. Das ist ja bei allen so. ({0}) – Es ist demnächst Vorgabe, dass Sie zum Schluss kommen. – Ich kann das deshalb sagen, weil wir noch ein bisschen warten müssen. Der nächste Redner ist für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Fritz Güntzler. ({1})

Fritz Güntzler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004285, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der ganze Tag ist dadurch geprägt, dass wir uns selbstverständlich über die Folgen der Coronapandemie unterhalten. Wir haben über die gesundheitlichen Folgen debattiert und heute Morgen auch die Regierungserklärung der Frau Bundeskanzlerin dazu gehört. Es ist deutlich geworden, dass sie auch wirtschaftliche Folgen haben wird, und darum ist es richtig, dass wir heute auch darüber diskutieren, wie steuerliche Maßnahmen im Zusammenhang mit der Coronapandemie aussehen können. Wenn wir beobachten, dass es Umsatzeinbußen und Gewinneinbrüche gibt und dass Absatzmärkte komplett verschwinden, dann wissen wir, dass den Unternehmen dreimal was fehlt, nämlich Liquidität, Liquidität, Liquidität! Deshalb ist es wichtig, dass wir gemeinsam einen umfassenden Schutzschirm aufgespannt haben, um diese Unternehmen zu retten und sie mit der notwendigen Liquidität zu versorgen, damit sie nicht in die Insolvenz gehen müssen. Wir haben einen Mehrstufenplan. Er beinhaltet zunächst die Soforthilfe, die angesprochen worden ist, durch die der Bund 50 Milliarden Euro für Unternehmen mit einer Beschäftigtenzahl von 1 bis 10 zur Verfügung stellt. Das ist völlig richtig, Herr Kollege Dürr, aber die Erwartung des Bundes bei der Vereinbarung mit den Ländern war, dass die Länder darüber hinaus auch Programme auflegen. ({0}) Wir beide kommen aus Niedersachsen und haben dort sogar mal zusammen regiert; das war übrigens gar nicht so schlecht. ({1}) In Niedersachen gibt es ein Programm für Unternehmen mit einer Beschäftigtenzahl von bis zu 49, aber das Land Rheinland-Pfalz zum Beispiel, wo Sie einen FDP-Wirtschaftsminister stellen, hat in diesem Punkt gar nichts gemacht. ({2}) Von daher wäre es klug, wenn Sie da mit Herrn Wissing vielleicht noch mal ins Gespräch gehen würden. Ich kann Ihnen nur sagen: Die Soforthilfen, die wir ins Schaufenster gestellt haben und bei denen es am Anfang Kritik gab, weil sie nicht abgeflossen sind, sind mittlerweile auf den Konten der Betroffenen angekommen. Die Rückmeldungen – jedenfalls bei mir im Wahlkreis – zeigen, dass diejenigen, die die Gelder bekommen, sehr zufrieden sind. Es gibt einen Punkt, der diskutiert wird – den haben auch die Grünen in ihrem Antrag formuliert –; das ist die Frage der Lebenshaltungskosten. Darüber debattieren wir auch in unserer Fraktion: Ist es richtig oder nicht richtig, sie zu berücksichtigen? Wir verweisen darauf, dass die Grundsicherung für Selbstständige verbessert worden ist: Die Vermögensprüfung ist für sechs Monate ausgesetzt worden; andere Dinge sind dort gemacht worden. Trotzdem ist das ein Punkt, der zu diskutieren ist – insbesondere wenn wir sehen, dass das Land Baden-Württemberg 1 180 Euro hereinrechnet, die Freie und Hansestadt Hamburg ein eigenes Programm hat, Nordrhein-Westfalen ein eigenes Programm hat. Ich glaube, dass die Länder hier doch noch einmal gefordert sind, gemeinsam ein Programm zu machen. ({3}) Darüber hinaus gibt es die KfW-Kredite. Auch da ist es am Anfang nicht so schnell losgegangen. Ich kann Ihnen aus meiner eigenen Beratungspraxis erzählen, dass das mittlerweile super klappt: Wir haben Mandanten, die innerhalb von 48 Stunden die Kreditzusagen bekommen. ({4}) Die Banken vor Ort können in die Vorfinanzierung gehen. Von daher ist das Sofortprogramm ein gutes Programm, und das Schnellprogramm wird noch besser werden. Wir haben den WSF, den Wirtschaftsstabilisierungsfonds, der zur Genehmigung bei der Kommission liegt. Er wird, glaube ich, noch eine wichtige Rolle spielen. Und dann haben wir – und darüber wollen wir ja reden – die steuerlichen Maßnahmen. Es gibt erhebliche Sofortmaßnahmen, die auch sofort umgesetzt worden sind. Es wird oft kritisiert, dass die Finanzverwaltung in Deutschland zu langsam arbeitet. Aber bereits am 30. März gab es das erste BMF-Schreiben mit umfangreichen Aussagen, wie die Stundung von fälligen Steuern aussehen kann – alle Steuern betreffend: Einkommensteuer, Umsatzsteuer, Körperschaftsteuer –, wie die Anpassung von Vorauszahlungen aussehen kann, das Ganze ohne einen wertmäßigen Nachweis, sondern nur mit einem Hinweis, dass man von der Coronapandemie betroffen ist, und einer Darstellung, warum es zu Umsatzeinbußen gekommen ist. Wir haben da sehr, sehr schnell geholfen, bis zur Herabsetzung der Sondervorauszahlung bzw. zur Dauerfristverlängerung bei der Umsatzsteuer; selbst da hat das BMF innerhalb kürzester Zeit reagiert. Heute haben wir gerade aktuell noch ein BMF-Schreiben bekommen, dass die Lohnsteueranmeldung bis zu zwei Monate später abgegeben werden kann – wieder Liquidität, die zwei Monate später abfließt. Also man kann hier nicht sagen, dass die Finanzverwaltung untätig ist, sondern ganz im Gegenteil, hier wird tolle Arbeit geleistet zwischen Bund und Ländern. Dafür auch ein herzliches Dankeschön! ({5}) Natürlich diskutieren wir, ob es weitere Maßnahmen geben muss, jetzt schnell. Wir haben heute Morgen vernommen, dass im Koalitionsausschuss eine Verständigung zur Verlustverrechnung erfolgt ist, was die Vorauszahlungen 2019 angeht. Ich gebe zu, dass das für die Finanzpolitiker der CDU/CSU-Fraktion noch nicht weit genug geht. Ich glaube, man sollte einmal darüber nachdenken, ob es wirklich ausreicht, wenn man 15 Prozent der Vorauszahlungen im Ergebnis nur erstattet und nicht mehr, wenn die Verluste weitaus höher sind. Wir wissen, dass das Geld über die Veranlagung 2020, die 2021 erfolgen wird, dann sowieso an die Unternehmen zurückfließen wird; wir reden also über temporäre Räume. Von daher, glaube ich, könnten wir hierüber noch einmal nachdenken. Es gibt das Modell einer sogenannten Coronarücklage, einer steuerfreien Rücklage; auch der Beirat beim Bundesministerium der Finanzen hat diese vorgeschlagen. Von daher sollten wir noch einmal darüber nachdenken, ob wir da im Gesetzgebungsverfahren etwas machen. Insgesamt geht es um die Verbesserung der Verlustvorträge, aber dazu jetzt keine Einzelheiten. Aber ich möchte noch, weil die Zeit natürlich davonrennt, kurz etwas zu dieser negativen Gewinnsteuer sagen. Das hört sich ja alles ganz schön an. Aber, Herr Kollege Dürr, unbürokratisch ist das zum Beispiel gar nicht. Und wissen Sie, was mich am meisten an dem ganzen Projekt stört? Mich stört, dass Sie selber nicht sagen, was es wahrscheinlich kosten wird, und dass Sie auch Unternehmen fördern wollen, die trotz Coronapandemie noch Gewinne machen. ({6}) Auch die sollen 80 Prozent ihrer Gewinnunterschiede bekommen. ({7}) Also auch Unternehmen, die noch positive Ergebnisse ausweisen, positiven Cashflow ausweisen, sollen Ihrer Meinung nach 80 Prozent ihres Gewinnunterschiedes bezahlt bekommen, Geld, das sie dann womöglich auch noch für Ausschüttungen benutzen können. Also, wir sollen solidarisch sein; es geht darum, Unternehmen zu retten – aber nicht mit einem Schrotschuss. Wir haben „Bazooka“ gesagt, also zielgerichtet. ({8}) Keine Schrotflinte herausholen, Herr Dürr, nicht auf alles streuen! Von daher: Zielgerichtet können wir das hinbekommen, aber nicht mit einer negativen Gewinnsteuer.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss.

Fritz Güntzler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004285, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir werden weitere steuerliche Maßnahmen diskutieren müssen; da gibt es vieles, was wir machen können. Die negative Gewinnsteuer ist, glaube ich, genau der falsche Weg, Herr Kollege Dürr. Herzlichen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Güntzler. – Nächster Redner für die AfD-Fraktion ist der Kollege Albrecht Glaser. ({0})

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zur Abmilderung der Folgen der Coronakrise haben die Bundesregierung und die Landesregierungen Konzepte vorgelegt, die auf Existenzsicherung von Unternehmen und Unternehmern zielen und mit denen die Arbeitnehmer, soweit eine Weiterbeschäftigung unmöglich wird, durch Lohnersatzleistungen von bis zu 87 Prozent der bisherigen Nettoverdienste unterstützt werden. Von den 2 Billionen Euro öffentlicher Schulden, die wir seit der Finanzkrise 2008/2009 angehäuft haben, ist seither nichts getilgt worden. Die stets wiederholte Behauptung der Regierung, man habe in den vergangenen Jahren gut gewirtschaftet, ist daher – vorsichtig ausgedrückt – kühn. Ohne eine solche Vorbelastung hätten wir jetzt andere Handlungsmöglichkeiten. Kleinbetrieben und Selbstständigen soll durch nichtrückzahlbare Zuschüsse die Last fixer und remanenter Kosten erleichtert werden. Dafür werden 50 Milliarden Euro bereitgestellt. Mittel- und Großunternehmen werden staatsverbürgte Kredite im Volumen von 600 Milliarden Euro angeboten, um Insolvenzen zu vermeiden. Verbunden mit dieser Liquiditätshilfe, meine Damen und Herren, ist jedoch automatisch der Anstieg der Fremdkapitalisierung aller Programmteilnehmer, weil Erlösausfälle kompensiert und nicht etwa Investitionen mit den neu aufgenommenen Schulden finanziert werden. Die im internationalen Vergleich unterfinanzierte deutsche Wirtschaft wird durch die zusätzlich steigende Fremdfinanzierung Ertragskraft verlieren. Die Sicherung der Fremdmittelversorgung muss daher flankiert werden durch ein Bündel fiskalischer Maßnahmen – diese Diskussion fängt an, sich durchzusetzen; vor ein paar Tagen war davon überhaupt noch nicht die Rede –, welche die Ertragskraft der Unternehmen stärken. Denn nur das wird weiterhelfen. Solche Maßnahmen werden auch bewirken, dass weniger Darlehen in Anspruch genommen werden. Wir fordern daher eine erleichterte Umstellung von der Soll- auf die Istbesteuerung nach § 20 Umsatzsteuergesetz und eine Erhöhung der Umsatzgrenze für die Istbesteuerung; eine Anhebung der Kleinunternehmergrenze nach § 19 Umsatzsteuergesetz – ganz nebenbei wäre das eine hochwirksame Hilfe für alle Kleinunternehmer, Selbstständigen und Kulturschaffenden, und zwar viel wirkungsvoller als das, was die Grünen beantragt haben –; obligatorische Erstattung der Sondervorauszahlung der Umsatzsteuer und das Verrechnungsmodell für die Einfuhrumsatzsteuer. Meine Damen und Herren, die Fachleute wissen, worum es dabei geht: Diese beiden Maßnahmen haben sofort eine Liquiditätswirkung für die Unternehmen, und sie sind mit wenig Verwaltungsaufwand und ohne fiskalische Belastung zu machen. Es wäre unintelligent, es nicht zu tun. Wir fordern des Weiteren: die Verbesserung des Spendenabzugs nach § 10b Einkommensteuergesetz für Coronahilfen; die Zulassung des Rücktrags von Verlusten – auch da beginnt die Diskussion, gottlob – für das Wirtschaftsjahr 2020, und zwar bei allen drei Ertragsteuerarten, Einkommensteuer, Körperschaftsteuer und Gewerbesteuer; die Öffnung der vollen Verlustverrechnung aus dem Wirtschaftsjahr 2020 für die Folgejahre – es ist makaber, jetzt in die Verluste zu fahren und nächstes Jahr nicht die volle Verlustverrechnung zuzulassen, wie es derzeit geltende Rechtslage ist –; Aussetzung der Zinsschranke nach § 4h Einkommensteuergesetz bzw. nach § 8 Absatz 1 des Körperschaftsteuergesetzes – auch das eine Behinderung in der Verlustverrechnung, tatsächlich sich selbst helfen zu können –; Beseitigung der zweiten Hälfte der Solibelastung; Indexierung des Formeltarifs der Einkommensteuer gemäß Kaufkraftverlust, um endlich die heimlichen Steuererhöhungen zu verhindern; und schließlich für die Nachfrageseite und zur Kompensation des Kaufkraftverlustes breiter Schichten der Bevölkerung durch Corona Ermäßigung der Umsatzsteuer in toto um 4 Prozent beim normalen und um 2 Prozent beim ermäßigten Steuersatz. Eine vorübergehende Entlastung für die Gastronomie, soweit sie überlebt, wird kaum Wirkung entfalten. Das kann man machen, oder man kann es lassen; es hat keine Auswirkungen. Wir fordern ferner eine sofortige gesetzgeberische Absenkung der Nachzahlungszinsen von 6 Prozent auf normales Marktzinsniveau; das ist wahrscheinlich verfassungsrechtlich ohnehin geboten.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ein letzter Satz. In der Tat, die Idee mit der negativen Gewinnsteuer – wir haben sie genau analysiert, verehrter Herr Dürr –, ist wirklich unter Ihrem Niveau. Es kann nicht funktionieren, dass Unternehmen, –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege.

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

– die weniger Gewinn machen, durch Krisenhilfen geholfen werden muss. ({0}) – Das steht so drin.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Glaser, ich muss Ihnen gleich das Wort entziehen.

Albrecht Glaser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004727, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Das ist keine Lösung, für nix. Deshalb ist es leider auch gar nicht wichtig. ({0}) Aber flankierende Steuermaßnahmen sind wichtig, und zwar die ganze Reihe, die ich Ihnen genannt habe. Herzlichen Dank. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Nächster Redner für die SPD-Fraktion ist der Kollege Lothar Binding. ({0})

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Ich möchte zunächst einmal allen danken, die in der Krise wirklich helfen, also von der Krankenschwester bis zum Bundesfinanzminister, von der Pflegerin bis zum Wasserwerker, vom Steuerzahler bis zur Steuerzahlerin. ({0}) Denn die sind dafür verantwortlich, dass wir jetzt überhaupt diese Finanzkraft, diese enormen Volumina bereitstellen können. Was heißt „wir“? Wir als Politiker nehmen ja das Geld der Leute, die es uns vorher gegeben haben; wir verteilen es nur neu. ({1}) Denen wollte ich danken; denn das sind die ehrlichen Steuerzahler, nicht die Steuerhinterzieher. Das sind diejenigen, die keinen Kassenbetrug machen, die ehrliche Kassen aufstellen. Das sind diejenigen, die keine Schwarzarbeiter beschäftigen usw. ({2}) Also, den Ehrlichen verdanken wir alles, ({3}) und die haben auch unseren Dank verdient. Es ist interessant, dass die FDP immer nervös wird, wenn ich so etwas sage; ich danke den Ehrlichen, und ihr werdet nervös. ({4}) Übrigens, der Christian Dürr hat ja gesagt: Da gibt es eine Ladehemmung. – Ich fand gut, was der Fritz Güntzler darauf gesagt hat, nämlich: Da gibt es eine Ladehemmung bei den Ländern. – Die Verabredung muss noch kommen. ({5}) Aber jetzt schauen wir doch mal, wie das Instrument funktioniert trotz Ladehemmung. Für Coronahilfe für Unternehmen liegen gegenwärtig Anträge mit einem Volumen in Höhe von 26 Milliarden Euro vor. Also 26 Milliarden Euro sind da schon in Bewegung. Schauen wir mal bei den Soforthilfen für kleine Unternehmen und Selbstständige. Ich zitiere mal die „Rundschau“ vom 23. April. Es wurden 1,7 Millionen Anträge gestellt und 1,1 Millionen Anträge mit einem Volumen in Höhe von 9 Milliarden Euro bewilligt – das alles innerhalb von vier Wochen nach der Gesetzgebung. Wo gibt es denn so was? Ein Parlament und eine Regierung sind in dieser Geschwindigkeit in der Lage, das zu leisten, während Länder mit FDP-Regierung immer noch nicht in die Gänge kommen. ({6}) Da sieht man schon: Das ist gar nicht ganz so einfach. ({7}) – Der Herr Wissing. Dabei hat Herr Wissing extra eine Lehre gemacht in unserem Finanzausschuss, und jetzt so was. Mir geht es auch um das Verhältnis von Staat und dem Einzelnen. Übrigens, was ist der Unterschied zwischen Staat und Steuerstaat? Den habe ich nicht verstanden. ({8}) Die FDP spricht immer von Steuerstaat. Da will ich doch mal fragen, ob es nicht auffällig ist, wie der Staat im Moment in Mode kommt, also derjenige, der den Bürgern immer in die Tasche greift, stets und überall nur Geld will, der den Mittelstand mit Bürokratie überzieht, der zu hohe Steuern ausquetscht. ({9}) Ist es nicht auffällig, dass dieser Staat jetzt permanent um Hilfe gebeten wird? Und was macht dieser Staat? Er gewährt die Hilfe. Ja, er gewährt die Hilfe in Form von Zuschüssen, Krediten, Fazilitäten, Kurzarbeitergeld. Er gewährt die Hilfe in einer gigantischen Dimension. Und manche, die zuvor um ein Zehntel für ihr Privates gekämpft haben, sind die Ersten, die jetzt auf der Matte stehen und die Gemeinschaft um Hilfe bitten. ({10}) Da merkt man eine gewisse Asymmetrie in der Gemeinschaft – der Verantwortung fürs Gemeinwesen – und darin, was passiert, wenn der Staat wirklich hilft. Was ist eigentlich nach der Krise? Nach der Krise – da bin ich ganz sicher – werden bestimmte Leute, und zwar die gleichen, auf die Schulden des Staates schimpfen. Sie werden darauf schimpfen, dass es keine Steuersenkungen gibt. ({11}) Sie werden sagen: Es ist alles in Ordnung, wenn wir die Gewinne in die Oasen verschieben. – Sie werden sagen: Ein bisschen Schwarzarbeit ist nicht so schlimm. Kassenbetrug? Ist ja alles Ameisenkriminalität. ({12}) Wir sehen, dass das Gemeinwesen die Verantwortung übernimmt, und wir sehen, dass der Staat in der Krise seine Aufgaben wahrnimmt. Wer ist eigentlich der Staat? Das sind wir alle, auch wir, die wir hier sitzen. ({13}) Ist es nicht auch auffällig, dass die Leute mit den höchsten Einkommen und den größten Boni – das sind die Verantwortungsträger – jetzt gar keine Antworten geben? Antworten müssen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geben, indem sie zum Beispiel auf 30 oder 40 Prozent ihres Einkommens verzichten. Ich kenne Leute, die verzichten nicht auf so viel Einkommen; ({14}) ein paar sitzen hier, ein paar sitzen woanders. Ich glaube, da muss man schon gucken. Die Verantwortungsträger sollten jetzt Antworten geben. Das wäre eine sehr gute Sache. ({15}) Eine Sache gefällt mir bei der Überlegung des FDP-Antrags gut, nämlich dass er den Blick auf die Übergangsphase – von der Krise aus der Krise – wirft. Diese Phase müssen wir auch in den Blick nehmen. Das Stichwort „Liquidität“ wurde schon mehrfach genannt; das sehen wir ganz genauso. Es ist aber unklug, ein Instrument zu nehmen, das überhaupt nicht unternehmensspezifisch reagiert. Auch wenn jemand weniger Gewinn macht, kann es ihm vielleicht wunderbar gehen. Wenn er letztes Jahr einen hohen Gewinn hatte, dieses Jahr einen niedrigeren Gewinn, dann wollen Sie ihm Geld geben. Der kommt vielleicht wunderbar durch die Krise, bezahlt seine Arbeitnehmer, stockt vielleicht sogar noch ein bisschen das Kurzarbeitergeld auf. Alles wunderbar; dem würde ich gar nichts geben. Aber andere, die viel mehr bräuchten, denen geben Sie zu wenig. Diese unspezifische Förderung ist schlecht. Deshalb ist die Idee, die Verlustverrechnung so zu organisieren, dass man eine Erstattung der Vorauszahlungen aus dem Jahr 2019 bekommt, viel klüger. Die ist punktgenau und auf die unternehmerische Situation bezogen. ({16}) Übrigens hat der BDI an dem Tag, an dem wir es im Finanzausschuss besprochen haben, sofort geschrieben: Das ist eine supergute Idee, aber wir wollen viel mehr. – Auch Fritz Güntzler hat gesagt: Wir wollen viel mehr. – Wenn man jetzt noch sagt, wie es finanziert wird, dann ist das eine gute Sache. Eine Sache hat mich sehr geärgert. Wir haben gar kein Problem, die Verlustverrechnung zu machen. Wir haben auch sonst kein Problem, hier und da noch ein paar Milliarden Euro auszugeben, für eine Branche 5 Milliarden Euro. 5 Milliarden Euro sind kein Problem, aber 1,5 Milliarden Euro für die Grundrente, das ist ein echtes Problem. Diese Rechnung kann ich nicht verstehen. ({17}) Ein abschließender Satz: Die AfD hat ja eben ein Supersteuersenkungsprogramm in Höhe von ungefähr 150 bis 200 Milliarden Euro angekündigt. Wir warten nur noch auf die Antwort, wie es finanziert werden soll. Das gehört zu seriöser Politik dazu. Vielen Dank. ({18})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Binding. Ich bin mal wieder begeistert, wie es Ihnen auch zu vorgerückter Stunde gelingt, den abgesunkenen Adrenalinspiegel der Kolleginnen und Kollegen wieder drastisch zu heben. Vielen Dank dafür. Als nächster Redner hat der Kollege Fabio De Masi, Fraktion Die Linke, das Wort. ({0})

Fabio De Masi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004817, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Unternehmen, Selbstständigen und Freiberuflern in Not muss schnell und wirksam geholfen werden; denn wenn der Staat nicht hilft, wird die Krise teurer als nötig. Dann brechen nämlich Existenzen weg, Jobs werden vernichtet, und die Steuereinnahmen von morgen fehlen. Wenn man aber hier den Mund so voll nimmt, wie die FDP das getan hat, dann muss man auch darüber sprechen, was in Rheinland-Pfalz gerade passiert. Dort sagt man nämlich nicht mehr „Soforthilfe“, sondern „Zu-spät-Hilfe“, weil der Wirtschaftsminister bei der FDP ist. Herr Glaser – er ist nicht mehr da; ich weiß nicht, was er zu tun hat –, ({0}) darauf, sich hierhinzustellen und zu sagen: „Es ist egal, ob die Kneipen in Deutschland offen oder zu haben“, muss ich entgegnen: In welchem Land sind wir denn? Ich habe schon Albträume, dass die Kneipen nach der Coronazeit wieder aufmachen, man ein Getränk nach alphabetischer Reihenfolge bestellen darf und mein Name Zinedine Zidane ist. ({1}) Der vorliegende Vorschlag der FDP ist eine negative Gewinnsteuer. Der will ich mich jetzt widmen. Erstens: zur Liquiditäts-Soforthilfe. Die Idee dahinter, jetzt schnell Verluste aus 2020 mit Gewinnen aus 2019 zu verrechnen, ist in der Tat eine sinnvolle Maßnahme, weil sie Liquidität sichert. Allerdings muss man auch hier sagen: Sie nützt natürlich vor allem Unternehmen, die bereits 2019 höhere Gewinne hatten und Rücklagen bilden konnten. – Von daher ist die Auffassung meiner Fraktion: Wirklich zielgenau sind nur schnelle und direkte Zuschüsse. ({2}) Zweitens: zur erweiterten Verlustverrechnung nach Ende der Coronakrise. Auch darüber kann man sprechen, finde ich. Allerdings sollte dies auf coronabedingte Verluste begrenzt bleiben; denn diese Regeln im Steuerrecht dienen eben auch der Vermeidung von Steuertricks. Jetzt zu dem Punkt, der mich an Ihrem Antrag wirklich stört: Das ist die Solvenzhilfe. Das ist nämlich eine Steuersenkung, die erst im nächsten Jahr greift und die durchaus perverse Effekte hat. Sie wollen nämlich für jeden Euro weniger Gewinn, den ein Unternehmen in diesem Jahr gemacht hat, eine negative Steuerzahlung, also dass dieses Unternehmen zum Beispiel 80 Cent erhält. Der Gewinn 2020 soll dafür mit dem Gewinn 2019 verglichen werden. So weit, so gut. Wenn jetzt – das ist der Maßstab – der Gewinn für die gesamte Branche im Durchschnitt ermittelt wird und ein Unternehmen höhere Gewinne als im Durchschnitt macht, dann bekommt es trotzdem den Verlust, den die Branche gemacht hat, erstattet. ({3}) Das heißt, ein Unternehmen, das einen weniger starken Einbruch bei den Gewinnen verzeichnet hat, profitiert natürlich von dieser Regelung. Was heißt das aber konkret? Im FDP-Beispiel, das auch in Ihrem Antrag aufgeführt ist, wird zum Beispiel ein Gewinnrückgang von 30 Prozent im Branchentrend unterstellt bei einem Unternehmen, das selbst aber nur einen 10-prozentigen Gewinnrückgang hatte. Nach dem FDP-Ansatz rechnet man dann 30 Prozent mal 80 Cent. Dabei kommt 24 Prozent Gewinnrückgangsausgleich raus. Das heißt in der Summe, dass ein Unternehmen 114 Prozent des Gewinns von 2019 erhält. Es ist nicht die Aufgabe des Staates, die Gewinne von Unternehmen zu subventionieren, und es hilft auch nicht bei der Überwindung der Coronakrise. Vielen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege De Masi. – Als nächste Rednerin hat für die Fraktion Bündnis 90 die Grünen die Kollegin Claudia Müller das Wort. ({0})

Claudia Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004830, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Liebe FDP, uns eint ja die Sorge um die Liquidität der Unternehmen und die Situation der Solo-Selbstständigen. Aber der Vorschlag, den Sie machen – das ist hier schon mehrfach gesagt worden –, ist schlicht und ergreifend nicht ausgereift. Ihr Vorschlag der negativen Gewinnsteuer benachteiligt die Unternehmen, die 2019 eine hohe Investitionsquote hatten und deswegen weniger Gewinne ausschütten. Sie nehmen die Sozialunternehmen nicht in den Blick; Sie nehmen gemeinnützige Unternehmen nicht in den Blick, und Sie nehmen die Start-ups, die noch nicht in der Gewinnzone sind, ebenfalls nicht in den Blick. Sprich: Die Unternehmen, die schon jetzt Probleme haben, Unterstützung zu bekommen, lassen Sie mit Ihren Vorschlägen weiterhin im Regen stehen. ({0}) Aber zu Ihrem Antrag wurde genug gesagt. Ich möchte den Blick auf ein Thema lenken, das mich besonders umtreibt, nämlich die Situation der Solo-Selbstständigen; das wird die Mehrheit von Ihnen nicht überraschen. 2,3 Millionen Solo-Selbstständige haben große Existenzängste. An die Koalition: Sie haben zum Verlustvortrag Beschlüsse gefasst. In dem Papier, das ich gesehen habe, sprechen Sie nur von Unternehmen. Ich hoffe, dass Sie Selbstständigen im Bereich der Einkommensteuer ermöglichen, ihre Vorauszahlungen entsprechend geltend zu machen. Das wäre wichtig an dieser Stelle. Bitte vergessen Sie bei diesem Thema die Selbstständigen nicht. ({1}) Zu den sogenannten Soforthilfen. Als sie beschlossen wurden, waren wir alle, glaube ich, sehr positiv gestimmt und haben gedacht: Genau das ist es. Dann hat man es sich genau angeschaut und musste feststellen, dass es für viele Solo-Selbstständige, besonders im Kulturbereich, im Bildungs- und Sozialbereich, eine herbe Enttäuschung ist; denn sie haben keine Möglichkeit, diese Gelder abzurufen. ({2}) Denn viele von ihnen haben schlicht und ergreifend keine Betriebsausgaben. Ihre Ware ist ihre Expertise; ihr Geschäft sind ihre Ideen. ({3}) Ein Großteil der Bundesländer hat das ursprünglich genauso gesehen. Es war möglich, diese Kosten zu erstatten. Die Verwaltungsverordnung der Bundesregierung hat genau das zunichtegemacht; das war ein Schlag ins Gesicht der Betroffenen. ({4}) Ich will gar nicht verhehlen, dass es durchaus Solo-Selbstständige gibt, die mit der Möglichkeit, in die Grundsicherung zu gehen, ganz gut versorgt sind. Aber für viele, und zwar insbesondere für Familien, ist das nicht der Fall. Ich will Ihnen das anhand eines Beispiels deutlich machen: Die junge Musikerin, allein lebend, möglicherweise noch mit einigen Rücklagen – es gibt ja keine Vermögensprüfung –, bekommt jetzt Grundsicherung, die gesamte Miete, Krankenkassenbeiträge und wird wahrscheinlich relativ gut durch die Krise kommen. Der freiberufliche Maskenbildner aber, verheiratet mit einer Altenpflegerin, bekommt nichts wegen der Bedarfsgemeinschaft, der Einkommensprüfung. Diese Person lassen Sie im Regen stehen. Sie lassen Familien im Regen stehen. Ich möchte jetzt keinen Verweis auf das Wohngeld hören; denn Sie wissen: Man muss bei der Grundsicherung erst abgelehnt werden, um Wohngeld zu beantragen. Das bedeutet mehr Bürokratie, mehr Aufwand, mehr Unsicherheit. Das muten Sie diesen Menschen zu. ({5}) Lassen Sie mich am Schluss noch einen Punkt nennen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Claudia Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004830, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Der letzte Punkt.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Nicht der letzte Punkt, sondern der letzte Satz.

Claudia Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004830, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Es wäre relativ simpel: Sie müssten einzig und allein die Durchführungsvereinbarung mit den Ländern an dieser Stelle korrigieren. Lassen Sie zu, dass eine entsprechende Entnahme in Höhe von 1 180 Euro möglich ist, das ist der Pfändungsfreibetrag. ({0}) Das würde vielen helfen. Das wäre unbürokratisch, zielgenau und im Übrigen nicht teurer als Ihr jetziges System. Vielen Dank. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Müller. – Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt, letzter Redner des heutigen Tages ist der Kollege Sebastian Brehm, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Sebastian Brehm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004682, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Coronapandemie ist die wirtschaftlich größte Herausforderung nach dem Zweiten Weltkrieg. Deswegen ist das Gebot der Stunde, wirklich jeden Tag aufs Neue zu prüfen, ob alle getroffenen Maßnahmen auch wirklich zielgenau ankommen, ob alle getroffenen Maßnahmen richtig sind, um den Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit in unserem Land für unsere deutsche Wirtschaft und den Erhalt der Arbeitsplätze zu sichern. Ich glaube, man muss auch einmal anerkennen, was bisher in einem Rekordtempo erreicht worden ist: Wir haben die kombinierten Soforthilfen des Bundes und der Länder. In Bayern ist das eine große Hilfe; in anderen Bundesländern – das haben wir gehört – ist noch nachzubessern. ({0}) Wir haben die Möglichkeit geschaffen, laufende Steuerzahlungen zinslos zu stunden. Das wäre jetzt übrigens auch für den Kollegen Glaser interessant; aber anscheinend ist er schon zu Hause. Das hätte einen Lerneffekt; ({1}) denn das, was er fordert, haben wir schon umgesetzt. ({2}) Ich denke an die vereinfachte Möglichkeit der Herabsetzung von Steuervorauszahlungen, die Rückerstattung der Umsatzsteuersondervorauszahlungen bzw. die Dauerfristverlängerung, die Erweiterung des Kurzarbeitergeldes mit der Rückerstattung der vollständigen Sozialversicherungsbeiträge, die Möglichkeit, vereinfachte Darlehen in Anspruch zu nehmen, übrigens bis hin zu 100 Prozent Haftungsfreistellung beim KfW-Schnellkredit und natürlich auch die steuerfreien Auszahlungsmöglichkeiten an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Diese Maßnahmen werden um die Beschlüsse des gestrigen Koalitionsausschusses ergänzt: die Erhöhung des Kurzarbeitergeldes ab dem vierten Monat auf 70 bzw. 77 Prozent und ab dem siebten Monat auf 80 bzw. 87 Prozent , die Absenkung der Mehrwertsteuer für die Gastronomie auf 7 Prozent, ({3}) der pauschalisierte Verlustrücktrag; ich gebe zu, darüber muss man wirklich noch einmal nachdenken, weil die 15 Prozent pauschalisierter Verlustrücktrag wahrscheinlich nicht ausreichend sind. Das alles sind Maßnahmen, die in einem Rekordtempo geschafft worden sind, um die drohende Zahlungsunfähigkeit von Unternehmerinnen und Unternehmern zu verhindern. Deswegen ein großer Dank an Bund und Länder, an alle Akteure, die hier mitgewirkt haben. Aber wir brauchen, glaube ich – deswegen muss man auch Ihre Anträge prüfen –, noch weitere Maßnahmen, zum Beispiel bei der Hotellerie, bei der Reisebranche, aber auch bei den Schaustellern, die von dieser Pandemie natürlich extrem betroffen sind. Hier müssen aus meiner Sicht noch Sonderhilfsprogramme auf den Weg gebracht werden. ({4}) Wir müssen aber auch mit Blick auf die Künstlerinnen und Künstler überlegen – übrigens machen sie derzeit im Netz wundervolle Aktionen –, wie wir gerade bei diesen Solo-Selbstständigen außerhalb von ALG II, außerhalb der Grundsicherung noch nachschärfen können. Ich denke, da kommen wir miteinander ins Gespräch. ({5}) Wir müssen wirklich täglich mit Sorgfalt, aber auch mit Schnelligkeit prüfen, was veranlasst wurde, damit das Geld auch dort ankommt. Wir müssen auch überlegen, wie wir Liquidität in den Unternehmen erreichen. Das schaffen wir mit Maßnahmen, die wir schon ergriffen haben. Wir müssen aber auch darüber nachdenken, wie wir weitere Liquidität zur Verfügung stellen können. Das müssen natürlich Dinge sein, die über die Krise hinausgehen. Wir brauchen Liquidität in den Unternehmen natürlich für notwendige Investitionen – wir haben ja jetzt gemerkt, dass Digitalisierung ein ganz wesentlicher Faktor ist –; aber wir brauchen natürlich auch Liquidität, um den Kapitaldienst für die jetzt in Anspruch genommenen Darlehen zahlen zu können. Insofern brauchen wir eine Modernisierung der Unternehmensbesteuerung. ({6}) Mein Kollege Fritz Güntzler und ich haben hier weitreichende Vorschläge gemacht. Der erste Punkt ist zum Beispiel die vollständige Abschaffung des Solidaritätszuschlags noch in diesem Jahr. Ich glaube, dass wir auch noch einmal darüber reden müssen – wir haben den Vorschlag gemacht –, thesaurierte, also nicht entnommene Gewinne aus den Unternehmen, begünstigt zu besteuern. Übrigens: Hätten wir das schon früher gemacht, hätten die Unternehmen jetzt auch mehr Liquidität. Also, darüber müssen wir noch einmal nachdenken, das müssen wir schnellstmöglich umsetzen, ebenso wie die Begrenzung der Unternehmensbesteuerung auf maximal 25 Prozent . Die Einführung der degressiven Abschreibung für Investitionen – das alles sind Drohverlustrückstellungen, auch in der Steuerbilanz – und die Rückgängigmachung der Vorfälligkeit der Sozialversicherungsbeiträge sind Maßnahmen, die Liquidität in die Unternehmen bringen und dafür sorgen, dass der Kapitaldienst geleistet werden kann. ({7}) Übrigens: Es gibt ja Selbstfinanzierungseffekte; wir haben das in der Diskussion um die Unternehmensbesteuerung auch schon dargestellt. Ich glaube, eines müssen wir uns noch vornehmen: Wenn wir jetzt dem Gastronomen oder dem Einzelhändler oder jemand anderem vorschlagen, er soll bis zum 30. September eine neue Kasse kaufen, dann ist das, glaube ich, völlig kontraproduktiv. ({8}) Deswegen müssen wir bei den administrativen Einschränkungen einen Verzicht vornehmen. Das heißt, wir verschieben die Anzeigepflicht für grenzüberschreitende Steuergestaltungen. Wir verschieben die Kassenpflicht für die TSE-Kassen, die zum 1. September eingeführt werden müssen, und wir erleichtern die Fristen bei den Finanzämtern und verzichten auf weitere Verschärfungen im Steuerrecht. ({9}) Ich glaube, das ist geboten. Wenn wir diese Chance nutzen, dann können wir die Krise gut bewältigen, und dann machen wir unsere Unternehmen stark für den Wettbewerb und sorgen dafür, dass keine ausländischen Unternehmer unsere deutschen Unternehmen kaufen und dass wir im Land wieder mehr produzieren können. Deswegen lassen Sie uns die Chance nutzen und unsere Maßnahmen gemeinsam umsetzen; wir werden miteinander ins Gespräch kommen. Herzlichen Dank, und bleiben Sie gesund! Eine gute Heimfahrt!

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Brehm, herzlichen Dank für Ihre Worte. – Damit schließe ich die Aussprache.