Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 3/12/2020

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Christian Lange (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003168

Vielen Dank. – Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor einer Woche haben wir an gleicher Stelle über die Folgen der rassistischen Morde von Hanau debattiert. Den Menschen, die sich vor Rassismus und Rechtsextremismus fürchten, haben wir damals eines versprochen: Wir nehmen den Kampf gegen diese Bedrohung auf! Meine Damen und Herren, heute zeigen wir, dass wir es ernst meinen. ({0}) Gemeinsam wollen wir das Gesetz gegen Rechtsextremismus und Hasskriminalität auf den Weg bringen. Wenn ich „wir“ sage, dann meine ich nicht nur die Bundesregierung und die Regierungsfraktionen, die den Entwurf gemeinsam vorlegen; ich baue auch auf ein großes „wir“, auf ein „wir“ aller demokratischen Fraktionen in diesem Haus. ({1}) Wir können den Kampf gegen Hass und Hetze nur gewinnen, wenn wir an einem Strang ziehen. Weil das so ist, freue ich mich ganz besonders über den großen politischen und gesellschaftlichen Rückenwind, den wir bei unserem Vorhaben bekommen. Der Herr Bundespräsident, der Herr Bundestagspräsident, die großen Kommunalverbände, der Deutsche Richterbund wie auch der Deutsche Juristinnenbund, der Zentralrat der Juden oder die Diakonie und nicht zuletzt die vielen zivilgesellschaftlichen Organisationen, die tagtäglich gegen Hass kämpfen, alle sind sich im Grundsatz einig: Der Hass ist ein Angriff auf unsere Meinungsfreiheit, unsere Demokratie. Er bildet den Nährboden für die furchtbaren rechtsextremistischen Gewalttaten. Dem müssen wir dringend Einhalt gebieten, und deswegen sind die Maßnahmen, die wir ergreifen, richtig. ({2}) Meine Damen und Herren, ich weiß, unser Gesetzentwurf ist keine Wunderwaffe. Wir werden den Rechtsextremismus nicht von heute auf morgen besiegen. Dafür ist die rechtsterroristische Bedrohung zu groß, und dafür ist der Rassismus zu weit in unsere Gesellschaft vorgedrungen. Aber wir geben unseren Sicherheitsbehörden ein wirksames Mittel an die Hand, um den Hass und die Gewalt wirksam einzudämmen. Zwei Punkte sind wesentlich: Erstens. Wir sorgen dafür, dass Hasskriminalität konsequent strafrechtlich verfolgt werden kann. Die Meinungsfreiheit endet dort, wo das Strafrecht beginnt. Das muss der Rechtsstaat durchsetzen – auch im Internet. ({3}) Daher müssen die sozialen Medien, müssen die sozialen Netzwerke Postings mit besonders üblem Hass künftig nicht nur löschen, sondern auch dem BKA melden. Wir sprechen von Volksverhetzungen, von Mord- und Vergewaltigungsdrohungen. Außerdem können die Strafverfolgungsbehörden von Internetplattformen künftig die Herausgabe von Daten verlangen, die sie brauchen, um die Täter zu identifizieren. Es ist wie im echten Leben, meine Damen und Herren: Straftäter haben kein Recht auf Anonymität! ({4}) Zweitens. Wir ermöglichen es den Gerichten, härter gegen Gewalthetze vorzugehen. Öffentliche Beleidigungen, gerade im Netz, sind besonders laut und aggressiv. Deshalb werden sie künftig schärfer bestraft. Außerdem bieten wir jedem Einschüchterungsversuch die Stirn. Rechtsextremisten drohen allen, die ihnen nicht passen, mit körperlicher Gewalt oder damit, ihre Autos und Häuser zu demolieren. Nicht einmal vor Familien und Kindern machen sie halt. Und in ihrem Hass gegen Frauen drohen sie mit sexuellen Übergriffen. Diese widerwärtigen Drohungen stellen wir nun unter Strafe. ({5}) Schließlich setzen wir ein deutliches Zeichen gegen den wachsenden Antisemitismus. Antisemitische Motive machen wir zu einem eigenständigen Strafschärfungsmerkmal. Doch wir fokussieren uns nicht nur auf die Täter. Wir wollen auch die Opfer des Hasses besser schützen. Es kann nicht sein, dass Adressen von gesellschaftlich und politisch engagierten Menschen als Drohkulisse im Netz kursieren. Daher ändern wir das Melderecht. ({6}) Ganz besonders schützen werden wir die Menschen, die sich in vorderster Reihe für unser Gemeinwesen engagieren. Ich spreche von den Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitikern. Wie brisant die Situation ist, zeigt eine ganz aktuelle Untersuchung: Zwei Drittel aller Bürgermeister wurden bereits beleidigt, beschimpft oder tätlich angegriffen. Das ist unfassbar! Unser Bundespräsident hat es auf den Punkt gebracht – ich zitiere ihn –: Wir dürfen nicht zulassen, dass Kommunalpolitikerinnen und ‑politiker in unserem Land zu Fußabtretern der Frustrierten werden. ({7}) Darum reagieren wir: Wer Unwahrheiten oder Lügen über Kommunalpolitikerinnen und ‑politiker verbreitet, um diese herabzuwürdigen und verächtlich zu machen, muss künftig mit sehr viel schwereren Strafen rechnen. Die Städte und Gemeinden sind – auch da hat der Bundespräsident recht – „die Wurzel unserer Demokratie“. Mit unserem Gesetz gegen Rechtsextremismus und Hasskriminalität geht es uns genau darum: Wir werden unsere Demokratie mit allen Mitteln des wehrhaften Rechtsstaates verteidigen. Darum bitte ich Sie um Unterstützung. Herzlichen Dank. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Roman Reusch, AfD. ({0})

Roman Johannes Reusch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004863, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als dieser Gesetzentwurf im Vorfeld mehrfach von verschiedenen Seiten angekündigt wurde, teils mit durchaus martialisch klingenden Ausführungen, war ein Gesetz zur AfD-Bekämpfung zu erwarten, vielleicht sogar die Wiedereinführung des Tatbestands der staatsfeindlichen Hetze. Ein Blick in den Gesetzentwurf zeigt: Nichts davon. Die strafrechtlichen Änderungen im StGB sind teilweise völlig in Ordnung, teilweise jedenfalls vertretbar. Durchgreifenden Bedenken begegnen Sie jedenfalls nicht. Dies verhält sich völlig anders mit dem zentralen Punkt dieses Gesetzentwurfs: der Anzeigepflicht. Die Beurteilung, ob ein Anfangsverdacht vorliegt, ist eine klassische Aufgabe der Strafverfolgungsbehörden, beschrieben in § 152 Absatz 2 StPO. Hier wird sie vorverlagert auf Private – ein merkwürdiger Vorgang. Die Anzeigepflicht ist ein Bruch mit unserer Rechtstradition. Grundsätzlich ist niemand in Deutschland verpflichtet, eine begangene Straftat anzuzeigen. Niemand! Nicht einmal einen Mord. ({0}) Jetzt soll hier für Telemedienbetreiber – so ekelhaft die Bedrohungen im Einzelfall sind; aber das ist ein Massendelikt – ({1}) eine Anzeigepflicht eingeführt werden. Das ist ein Wertungswiderspruch, den Sie mir bitte mal erklären müssen. ({2}) Das ist zudem auch völlig unnötig. Denn gerade im Internetbereich ist es so leicht wie sonst was, eine Anzeige zu erstatten: Screenshot, URL-Kopie, rein in die Eingabemaske der nächsten Internetwache, einen Satz dazu schreiben, Entertaste – zack, die Anzeige ist erstattet. Das dauert fünf Minuten. Das kann jeder Mann, jede Frau, sogar jedes Kind. ({3}) Mit der Einrichtung einer Zentralstelle kreiert man einen Flaschenhals, der besonders gefährlich wird in den Fällen, in denen es um die Ermittlung derjenigen geht, die hinter bestimmten IP-Adressen stecken. Da haben wir ja, weil es keine Vorratsdatenspeicherung gibt, ein ganz kleines Zeitfenster von wenigen Tagen. Wenn ich jetzt bundesweit Tausende Fälle auf einen Schreibtisch lege, kann ich nur sagen: Gute Nacht, Marie. ({4}) - 300 Schreibtische. Toll. Dann suchen Sie sich auch noch das BKA aus. Das BKA hat ganz andere Aufgaben. Da sind hochqualifizierte und hochspezialisierte Kriminalbeamte am Werk. Die als Poststelle zu missbrauchen, ist Verschwendung von Ressourcen. Zu den Passwörtern. Wir müssen gucken, wie sich das mit der Verschlüsselungspflicht nach der DSGVO verträgt. Das werden wir alles im Ausschuss sehen. Insgesamt ist dieser Gesetzentwurf eine Mogelpackung. Denn es wird bei den Antrags- und Privatklagedelikten nichts unternommen. Die bleiben außen vor. Zur bloßen Erhöhung der Höchststrafe: Es ist ein alter, unausrottbarer Politikerirrglaube, dass sich dadurch in der Praxis irgendwas ändert. Nichts ändert sich da in der Praxis. Das haben wir x-fach gehabt. Das ist typisch: Wenn Politiker mal wieder ein Zeichen setzen wollen, dann erhöhen sie die Höchststrafen. – Danke für das Gespräch. Das bringt nichts. Mehr hätte es gebracht, wenn man sich die RiStBV, die Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren, angeschaut hätte. – Der ehemalige Justizminister lächelt kundig. – In den Nummern 86 f., 229 RiStBV ist nämlich geregelt, wann die Staatsanwaltschaft das öffentliche Interesse anzunehmen hat und wann nicht. Da könnte man einige klarstellende Formulierungen reinsetzen, und schon würde man die Zahl der Anklagen in solchen Bereichen spürbar erhöhen können – alles ohne Gesetz. Da reicht eine einfache Richtlinie. Da reicht es, dass sich die Justizministerin mit ihren Länderkollegen zusammensetzt und das vereinbart, und schon wird das Wirklichkeit. Die Überschrift – und deshalb „Mogelpackung“ – lautet: Rechtsextremismus. – Ich habe nichts gesehen, womit Rechtsextremismus bekämpft wird. Hasstiraden und Hasspostings gibt es nicht nur innerhalb der Politik in allen Lagern; die gibt es auch außerhalb der Politik reichlich. Schauen Sie sich mal den Fußball an. Schauen Sie sich mal Privatfehden an. Das ist also ein ubiquitäres Phänomen und keineswegs eine Domäne des Rechtsextremismus. ({5}) Also: Ich bin gespannt, was die Sachverständigen dazu sagen werden. Danke für die Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort Herrn Staatsminister Georg Eisenreich. ({0})

Not found (Gast)

Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren Abgeordnete! Hass und Hetze haben in der Zwischenzeit ein erschreckendes Ausmaß angenommen. Insbesondere im Internet braut sich etwas zusammen, was eine echte Gefahr für unsere Demokratie darstellt. Geistige Brandstifter, Demagogen und Mitläufer machen gemeinsam Stimmung gegen Minderheiten, gegen Andersdenkende, gegen Politiker und gegen unsere Demokratie. Deswegen muss unser Rechtsstaat wehrhaft sein. Er muss hinschauen, und er muss durchgreifen. Ich freue mich, dass der Konsens unter den demokratischen Parteien hier so groß ist. Hass im Netz vergiftet das gesellschaftliche Klima und unterdrückt die Meinungsfreiheit anderer. Ich will das klar sagen: Wer strafbaren Hass bekämpft, schränkt die Meinungsfreiheit nicht ein; er schützt sie. ({0}) Für mich ist die Bekämpfung von Hass zugleich Extremismusbekämpfung. Die Länder können hier bei der Strafverfolgung viel tun. In Bayern machen wir vieles: Wir haben zum Beispiel die Ermittlungsstrukturen optimiert. Wir haben bei allen Staatsanwaltschaften spezialisierte Sonderdezernate zur Bekämpfung von Hass eingerichtet. Ich habe zudem einen Hate-Speech-Beauftragten bei der Generalstaatsanwaltschaft ernannt. Und: In Bayern ist die Strafverfolgung im öffentlichen Interesse – das ist bereits angeordnet worden –; denn wir wollen Hasskriminalität mit Nachdruck verfolgen. Für gute Strafverfolgung brauchen wir allerdings auch gute Rahmenbedingungen. Ich begrüße daher ausdrücklich, dass der Bundesgesetzgeber jetzt handelt. Heute liegt ein sehr guter Gesetzentwurf vor, der Entschlossenheit zeigt. Herzlichen Dank dafür! ({1}) Ein Thema ist unserem Ministerpräsidenten Dr. Markus Söder und mir persönlich besonders wichtig: Es ist unsere Verantwortung, den Judenhass an den Rändern, aber auch in der Mitte unserer Gesellschaft und auch unter den zu uns Geflüchteten zu erkennen, zu benennen und zu bekämpfen. Es ist daher unser Ziel, dass antisemitische Straftaten härter bestraft werden. Eine antisemitische Motivation des Täters wird nun im Gesetz ausdrücklich als strafschärfend genannt. Das ist nicht nur ein klares Signal gegen Judenfeindlichkeit und Ausgrenzung. Ich bin mir sicher: Diese Wertung des Gesetzgebers wird auch zu härteren Strafen führen. Ich freue mich, dass die Bundesregierung den bayerischen Vorschlag, der im Bundesrat einstimmig beschlossen worden ist, in den Gesetzentwurf aufgenommen hat. Es ist auch gut und richtig, dass der Gesetzentwurf das Beleidigungsstrafrecht nachschärft. Insbesondere die Beleidigungen im Internet müssen dabei im Fokus sein, und der Strafrahmen muss angehoben werden. Ich fordere das schon länger. Denn in der Anonymität des Netzes sind Beleidigungen oft viel enthemmter. Nach meiner Überzeugung wäre aber statt punktueller Änderungen eine umfassende Modernisierung des Beleidigungsstrafrechts notwendig. Zum Beispiel müssen auch Fälle von Hasskriminalität – Beleidigungen von Politikern, die ja auch einen Angriff auf unsere Demokratie darstellen, Cybermobbing – besser erfasst und auch härter geahndet werden können. Ich habe dazu letztes Jahr einen Diskussionsentwurf vorgelegt. ({2}) Ich bedanke mich bei den Abgeordneten Frei und Luczak und der CSU-Landesgruppe, dass sie diesen Diskussionsentwurf unterstützen. Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie in Ihren Beratungen diese Vorschläge berücksichtigen könnten. In der Praxis läuft die Zusammenarbeit zwischen unseren Ermittlern und den Plattformen, den sozialen Netzwerken, unbefriedigend; das muss ich leider klar sagen. Teilweise werden die Anfragen verspätet, teilweise gar nicht, teilweise unvollständig beantwortet. Das muss sich ändern; denn wir wollen Hasskriminalität bekämpfen, und dazu brauchen wir die Urheber. Die Änderungen im Telemediengesetz sind gut. Offen bleibt aber: Was ist, wenn der Firmensitz oder die Server im Ausland sind? Ich habe dazu eine klare Haltung – eine alte Forderung von mir –: Auskunftsverlangen der Staatsanwaltschaften müssen ohne Wenn und Aber beantwortet werden, egal wo der Firmensitz ist und egal wo die Server stehen. ({3}) Dazu sollten wir zum Beispiel das Marktortprinzip einführen. Die sozialen Medien müssen ihrer Verantwortung noch stärker gerecht werden. Wir brauchen hier eine höhere Kooperationsbereitschaft. Die sozialen Medien verdienen viel Geld – sehr viel Geld –; das ist auch in Ordnung, sofern die Folgen, die Kosten, die Probleme nicht hauptsächlich Staat und Gesellschaft tragen müssen. Was nicht geht, ist, dass Gewinne privatisiert, aber Probleme für Demokratie und Rechtsstaat sozialisiert werden, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({4}) Deshalb möchte ich die Bundesregierung bitten, über diesen sehr guten Gesetzentwurf hinaus die sozialen Medien noch viel stärker in die Pflicht zu nehmen. Zum Abschluss noch mal herzlichen Dank für diesen wirklich hervorragenden Gesetzentwurf und den breiten Konsens, der hier im Hohen Haus besteht. Wir müssen gegen Extremismus und Hasskriminalität entschlossen vorgehen, und wir müssen dabei gemeinsam handeln. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Jürgen Martens, FDP. ({0})

Dr. Jürgen Martens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004816, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Hasskriminalität und Rechtsextremismus gehören in der Tat heute leider oft zusammen. Wir alle können nur friedlich zusammenleben, wenn jeder von uns sich sicher sein kann, dass ihm ein Mindestmaß an Respekt entgegengebracht wird. Leider fällt es Mitbürgerinnen und Mitbürgern zunehmend schwer, anderen diesen so zwingend notwendigen Respekt entgegenzubringen. Es wird die Verrohung in der Sprache beklagt. Aus ihr folgt Hass. Er schlägt um in Bedrohung, und hieraus wird dann, so müssen wir feststellen, immer häufiger Gewalt. Dieser Gewalt müssen wir entgegentreten, aber auch vorher schon den Mechanismen, die zu solcher Gewalt führen: der Bedrohung, der Beschimpfung, dem Schüren von Ängsten. Meine Damen und Herren, Hass fällt nicht vom Himmel. ({0}) Man kann ihn erzeugen. Es heißt so schön: Nichts ist schneller erzeugt als Empörung. – Man kann Ängste schüren, man kann sie instrumentalisieren, man kann sie nutzbar machen für seine politischen Zwecke. Das Internet potenziert die Wirkung von Fake News, von Beschimpfungen, Verleumdungen und Bedrohungen. Dass dagegen der Gesetzgeber einschreitet, ist notwendig und angemessen; es ist geboten. ({1}) Wir als Liberale sehen positiv die Vorschriften zur schärferen Ahndung von öffentlichen Beleidigungen und die Erweiterung des Kataloges von Straftaten, deren Androhung strafbar sein soll. Es ist auch nicht einzusehen, warum Telemedien nicht die gleiche Qualifikation erfahren wie Telekommunikation. Und – das ist leider notwendig –: Auch die Ausweitung des Schutzes von Kommunalpolitikern ist geboten, so leid einem das tun mag. ({2}) Auch die FDP hat hierzu im Gesetzgebungsverfahren den Vorschlag eingebracht, das Melderechtsrahmengesetz des Bundes und die Meldegesetze der Länder entsprechend anzupassen, sodass Auskunftssperren auch für kommunalpolitisch tätige, ehrenamtlich tätige Mitbürger ausgesprochen werden können. ({3}) Gleichwohl gibt es auch einige Punkte, über die man noch diskutieren muss. So möchte ich dem Eindruck entgegentreten, dass nur durch die ausdrückliche Benennung antisemitischer Motive in § 46 des Strafgesetzbuches eine besonders harte Verfolgung antisemitischer Straftaten erfolgen könne. Nein, diese Wertung ist längst getroffen, und die Gerichte treffen sie auch. Ich möchte hier noch mal betonen: Antisemitische Straftaten sind welche, die auf einem besonders niedrigen sittlichen Niveau stehen und deswegen zu Recht schon immer in besonderer Weise die Aufmerksamkeit der Strafverfolgungsbehörden nach sich gezogen haben, meine Damen und Herren. ({4}) Problematisch sehen wir die Meldepflicht für Plattformbetreiber. Hier wird eine zusätzliche Komplikation eingebaut, die der Verfolgung solcher Taten nicht unbedingt dienlich ist, wenn nicht zugleich auch bei den Verfolgungsbehörden der Flaschenhals der personellen Kapazität vergrößert wird, meine Damen und Herren. Die Passwortherausgabe ist in der Tat ein sehr schwerer Eingriff in die Rechte von Nutzern von Plattformen. Vor allen Dingen sehen wir kritisch, dass sie jetzt generell anwendbar sein soll und nicht nur im Bereich der Hasskriminalität und des Rechtsextremismus. Aber eins ist wichtig – das hat Herr Lange in der Einbringungsrede hier klargemacht –: Wir müssen zeigen, dass wir es ernst meinen. Verbote auszusprechen, ist leicht. Sie durchzusetzen, ist das Schwierige. Und: Es gäbe nichts Schlimmeres, als wenn Bürger von einer Anzeige wegen Bedrohungen und Beleidigungen absähen aus der „Erwartung“ – in Anführungszeichen –, es käme am Ende eh nichts dabei heraus. ({5}) Das wäre in diesem Fall ein schlimmes Versagen des Rechtsstaates. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Pau, Die Linke. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Besucherinnen und Besucher! Schauen Sie mit mir zurück – nicht weit, lediglich vier Wochen. In nur zehn Tagen im Februar 2020 kam es zu folgenden rechtsextremen, rassistisch motivierten Gewalttaten: In Hanau wurden zehn Menschen ermordet. Zwölf militante Nazis planten Anschläge auf Politiker, Geflüchtete und Moscheen. Ein versuchtes Sprengstoffattentat auf die KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora. Eine Drohmail gegen eine Moschee in Bremen. Hakenkreuze an einer Moschee in Emmendingen. Schüsse auf eine Shishabar in Stuttgart. Ein Brandanschlag auf eine Shishabar und einen Dönerimbiss in Döbeln. Bombendrohungen gegen Moscheen in Essen, Unna, Hagen, Bielefeld. Eine Bombendrohung gegen eine Moschee in Pforzheim. – All das ereignete sich innerhalb von zehn Tagen im Jahr 2020. Hinzu kommen Attacken zum Beispiel gegen Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker. Das alles ist rechtsextremer Alltag und nicht hinnehmbar. ({0}) Spuren rechtsextremer Täter und militanter Gruppen ziehen sich durch die Geschichte der Bundesrepublik von Beginn an. Ich erinnere nur an das Oktoberfestattentat in München 1980 und an die bundesweite NSU-Nazimord-, ‑überfall- und ‑anschlagserie inklusive unserem Versagen, inklusive dem Staatsversagen von 1998 bis 2011. Gleichwohl deutet vieles darauf hin, dass die rechtsextreme Gefahr und die Attentatsdichte aktuell zunehmen. Dem gilt es aktiv zu wehren, von Staats wegen und in der Gesellschaft. ({1}) Bundesinnenminister Seehofer hat jüngst betont – ich zitiere –: „die höchste Bedrohung in unserem Lande geht vom Rechtsextremismus aus“, vom Rechtsterrorismus. Es macht mich nicht glücklich, dass Die Linke das seit Langem sagt; aber umso mehr begrüße ich, wenn es nun auch in der Bundesregierung diese Einschätzung gibt. ({2}) Nun gilt allerdings auch, dass dieser Erkenntnis, dass den Worten Taten folgen müssen. Heute liegen dem Bundestag zahlreiche Anträge zu diesem Thema vor. Auch Die Linke fordert in zehn Punkten Maßnahmen; diese sind nachlesbar. Deshalb möchte ich hier nur fünf hervorheben: Erstens. Fälle von rechtsextremem Terror dürfen nicht vorschnell als Einzelfälle und die Täter nicht als Einzeltäter verharmlost werden. ({3}) Zweitens. In Abstimmung mit den Bundesländern ist die Neonazi-Szene zu entwaffnen, und Reichsbürgern und anderen sind waffenrechtliche Erlaubnisse zu entziehen. ({4}) Drittens. Gegen demokratiefeindliche Tendenzen in staatlichen Behörden ist konsequent vorzugehen. ({5}) Viertens. Wir brauchen eine unabhängige Beobachtungsstelle gegen Rechtsextremismus, Antisemitismus und Rassismus; diese muss endlich eingerichtet werden. Und fünftens – Sie kennen das schon von mir –: Zivilgesellschaftliche Initiativen, die sich im Alltag für Demokratie und Toleranz engagieren, müssen ausreichend und verlässlich gefördert werden, auch finanziell; sie müssen wertgeschätzt werden. ({6}) Ich erinnere zudem an den Abschlussbericht aus dem ersten und zweiten Untersuchungsausschuss des Bundestages zur NSU-Nazimordserie. Der erste enthielt 48 Maßnahmen, die fraktionsübergreifend beschlossen, aber bislang mitnichten vollständig umgesetzt wurden. Mit anderen Worten: Wir sollten uns selbst ernster nehmen, und die Bundesregierung sollte den Bundestag ernst nehmen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Kollegin Pau, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Von wem?

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Von dem Kollegen Jens Maier aus der AfD-Fraktion.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Nein, gestatte ich heute nicht. ({0}) Abschließend: Rechtsextremismus ist eine Gefahr für Leib und Leben und für die Demokratie. Das gilt für die Täter, aber genauso für deren rassistische und nationalistische Stichwortgeber – auf der Straße und auch in den Parlamenten. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort die Kollegin Renate Künast, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Rechtsextremismus tötet! Er hat seit 1990, also seit der Einheit, fast 200 Menschen getötet. Es hat nicht erst in Kassel, in Halle, in Hanau angefangen, sondern es hat im November 1990 mit der Ermordung von Amadeu Antonio in Eberswalde angefangen. Es gab die Brandanschläge in Mölln, in Solingen. Es gab den NSU, der zehn Menschen in ganz Deutschland getötet hat, und vielleicht gibt es diesen NSU heute immer noch. 2016 gab es 995 registrierte Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte. Die Bedrohung ist also weitaus größer; Frau Pau hat es auch gesagt. Das sind nur die wenigen registrierten Fälle, die öffentlich bekannt sind. Tatsache ist: Jeden Tag werden in diesem Land rassistische, antisemitische, antiziganistische, antimuslimische, frauenfeindliche, homo- und transphobe und behindertenfeindliche Diskriminierungen und Übergriffe getätigt. Jeden Tag findet Entmenschlichung statt, und dem müssen wir alle gemeinsam entgegentreten. ({0}) Rechtsextremismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit sind nicht wirklich neu. Neu ist nur ihr Gewand. Sie kommen nicht mehr mit Bomberjacken und Springerstiefeln daher, sondern mit weißem Kragen und Tweedjacket. Sie haben gelernt, das Netz strategisch zu nutzen, sich zu vernetzen, um zu rekrutieren. Das reicht von Reden in Parlamenten bis hin zu Organisationen wie der Bundeswehr mit ihren Spezialeinheiten. Sie alle haben sich miteinander vernetzt, und ihr Ziel ist, die Demokratie zu zerstören. Unser Ziel ist, nun endlich gemeinsam dagegenzuhalten. ({1}) Es trifft nicht nur uns als Politikerinnen, sondern viele engagierte Menschen, denen wir übrigens danken müssen, weil sie seit Jahrzehnten gegen Rechtsextremismus arbeiten und Schutz aufbauen. ({2}) Sie selbst sind auch persönlicher Gefahr ausgesetzt und leiden darunter. Das betrifft auch demokratische Institutionen, es trifft Journalistinnen und Journalisten. Das, was da passiert, bietet den Nährboden für Taten: Es fängt mit Worten an und endet mit Taten, die manche Menschen das Leben kosten. In diesem Lichte müssen wir heute auch die Gesetzentwürfe und unsere Maßnahmen diskutieren. Wenn ich mir den Gesetzentwurf ansehe, muss ich sagen, dass er leider noch zu kurz greift. Ich will Ihnen sagen, warum. Wir haben eine ganzheitliche Strategie dem gegenübergestellt. Wir dürfen nicht nur die Folgen bekämpfen mit der Ultima Ratio Strafrecht und BKA; vielmehr müssen wir mehr tun, als nur den Täter zu bestrafen. Wir müssen die Opfer und die NGOs, die heute aktiv sind, in den Mittelpunkt stellen. ({3}) Deshalb brauchen wir im Kampf gegen Rechtsextremismus Prävention und Opferschutz. Lassen Sie uns doch damit anfangen, dass wir ein Zeichen setzen und das Wort „Rasse“ aus der Verfassung streichen. ({4}) Warum? Es gibt keine Menschenrassen. Wir sind alle Menschen. Es gibt aber rassistische Diskriminierung und rassistische Übergriffe. ({5}) Wir brauchen ein Demokratiefördergesetz. Ich bin es, ehrlich gesagt, leid, dass wir seit Jahrzehnten dafür kämpfen, dass NGOs und Antifagruppen, die sich engagieren, nicht immer um ihr Geld ringen müssen und nur auf ein Jahr befristete Arbeitsverträge abschließen können. ({6}) Das reicht nicht. Sie brauchen eine verlässliche Finanzierung. Wir sind es leid, dass zwischendurch einigen das Geld gestrichen wird, dann wird es wieder angeglichen, dann reden Sie über ein Demokratiefördergesetz. Wir wollen endlich dieses Gesetz. Es gehört zur Bekämpfung des Rechtsextremismus dazu. ({7}) Wir brauchen Institutionen, die unabhängig wissenschaftlich arbeiten. Wir brauchen ein restriktives Waffenrecht. ({8}) Da geht es eben nicht nur um Sport und sportliche Interessen. Es geht um Menschenleben, meine Damen und Herren! Und diese zu schützen, ist unsere Pflicht. ({9}) Wir brauchen Anlaufstellen und Beratungsstellen, weil Menschen, die Opfer von Rechtsextremismus und Hass sind, alleingelassen werden – im wahrsten Sinne des Wortes. Ich will auch einmal eines loben in Ihrem Gesetzentwurf, in dem so vieles fehlt: Das Melderecht ist jetzt immerhin drin – gut so. Ich will auch loben, dass Sie den Auskunftsanspruch für zivilrechtliche Maßnahmen erleichtern. Aber es braucht noch mehr. Es braucht mehr als Strafrechtsänderungen. Es braucht eine breite Struktur, damit sich die Menschen, die Gesellschaft wehren können; ({10}) Denn das Sich-Wehren passiert im Alltag. Denken wir an den Satz von Herrn Böckenförde, dem Verfassungsrichter, der gesagt hat, dass der demokratische Rechtsstaat von Voraussetzungen lebt, die er selber nicht herstellen kann; das ist eine Zivilgesellschaft, die sich engagiert, und die müssen wir institutionell und in Beratungen unterstützen. ({11}) Wir werden Ihren Gesetzentwurf auch im Hinblick auf das Strafrecht und das BKA kritisch begleiten. Ich sage Ihnen: Es gibt für Strafrechtsverschärfungen gar keine kriminologischen Daten, die besagen, dass dadurch Straftaten verhindert werden. Strafrahmenerhöhungen helfen nicht, wenn es erst gar nicht zu Anklagen kommt, sondern Ermittlungsverfahren eingestellt werden. Deshalb meine ich, dass wir die Strafverfolgungsbehörden, Polizei, Staatsanwälte, Gerichte ermutigen und ertüchtigen müssen, in diesem Bereich gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit tatsächlich auch einmal Anklageschriften zu verfassen. Wir müssen sie qualifizieren. ({12}) Das Einzige, was ich dazu gefunden habe, ist die Broschüre „Rassistische Straftaten erkennen und verhandeln“. Wir brauchen diese Fortbildung. Wir brauchen aber keine Vorverlagerung von Strafbarkeit, wie Sie es bei den §§ 140 oder 241 StGB machen. Die bayerischen Vorschläge im Hinblick auf Beleidigung sind übrigens sogar besser. Wir brauchen beim BKA – das will ich durchaus loben – eine zentrale Stelle – Herr Reusch hat es nicht verstanden; das wundert mich nicht –, ({13}) die eben keine Poststelle ist, die weiterleitet, sondern die selber Lagebilder und Analysen erstellt, wo sich das Zentrum des Rechtsextremismus befindet. Das ist richtig. ({14}) Falsch ist, dass sämtliche Daten – am Anfang noch einschließlich der Passwörter – sofort von jedem übermittelt werden dürfen, meine Damen und Herren. Wir brauchen eine Klarstellung dazu, was Bestandsdaten sind. Wir brauchen ein zweistufiges System. Wir brauchen eindeutige Löschungspflichten an dieser Stelle. Warum?

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Kollegin Künast.

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Mein letzter Satz – wirklich!

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr.

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir müssen Rechtsextremismus mit allen Mitteln bekämpfen. Wir müssen die Opfer stärken, aber die Bürgerrechte erhalten. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort die Kollegin Ute Vogt, SPD. ({0})

Ute Vogt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002823, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist vielleicht kein Zufall, dass ich ähnlich wie die Kollegin Künast beim Blick auf dieses Thema an Amadeu Antonio gedacht habe. Am 24. November 1990 wurde er in Eberswalde so zusammengeschlagen, dass er nach elf Tagen im Koma am 6. Dezember 1990 gestorben ist. Amadeu Antonio steht stellvertretend für über 200 Opfer rechtsextremistischer Gewalt, die den Tod fanden, dadurch dass Rechtsextremisten als Andersdenkende, als Menschen anderer Herkunft oder einfach als Menschen mit anderer Meinung und Grundhaltung erkannt worden sind und entsprechend getötet wurden. Es ist nicht allein diese erschreckende Zahl von Todesfällen, die uns bewegt, wenn wir in diesen Tagen diese Gesetzesinitiative ergreifen. Es ist auch die Tatsache, dass über diese Rechtsradikalen und rechtsextremistischen Ideologien Gift in unsere Gesellschaft sickert. Herr Reusch hat vorhin gesagt: Hasskommentare gibt es überall. – Dazu sage ich Ihnen: Drei Viertel der von der Polizei registrierten Hasskommentare sind von Rechtsextremisten und Rechtsradikalen verursacht. ({0}) Das Thema ist in der Tat nicht neu; es beschäftigt uns seit Jahrzehnten. In der „taz“ war im Dezember letzten Jahres ein interessanter Artikel, in dem das Stichwort „Baseballschlägerjahre“ genannt wird. Ich will ausdrücklich sagen, die „Baseballschlägerjahre“ waren sicherlich im Osten extrem, aber es ist nicht so, dass es im Westen nicht auch rechtsextremistische und rechtsextreme Gruppen gab und gibt. Viele von denen, die wir heute im Osten erleben, sind übrigens aus dem Westen dorthin gewandert, um dort ihr Unwesen zu treiben. Das, glaube ich, muss man der Redlichkeit halber sagen, wenn man das diskutiert. Die „taz“ schreibt unter dem Titel „Sie waren nie weg“ – ich möchte aus dem Artikel zitieren –: Jene, die als Gewaltakteure in den 1990ern agierten, sind heute erwachsen und Eltern geworden. Allzu sichtbare Bezüge zum Neonazismus sind verschwunden. Ihre rassistische Gesinnung aber ist geblieben. Diese geben sie an ihre Kinder und deren Umfeld weiter. Sie haben gelernt, sich öffentlich zurückzunehmen. Aber bei einem Elternabend, bei dem es um ein Schulfest mit Flüchtlingen geht, reden sie rassistischen Klartext. Liebe Kolleginnen und Kollegen, darum geht es eben auch, dem Alltagsrassismus, der sich einschleicht durch solche Ideologien, durch Hass und weil Menschen das Unsagbare herauskrakeelen, um andere herabzuwürdigen, ein Ende zu bereiten. Ich bin froh, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass es eine breite Mehrheit in diesem Hause gibt, die das in diesen Tagen so sieht, und dass wir uns einig sind, dass wir den Rechtsextremismus eben nicht unterschätzen dürfen. ({1}) Mit dem heutigen Maßnahmenpaket zeigt unser Rechtsstaat klare Kante. Ich finde, liebe Kollegin Künast, das ist auch ein Signal an die Justiz, und so wollen wir das auch verstanden wissen. Wir haben klare Gesetze gemacht und Strafverschärfungen vorgesehen, damit das Signal, dass es uns damit ernst ist, auch in die Gesellschaft geht. Wir schweigen nicht und schützen die Menschen, und zwar gerade die, die sich in der Zivilgesellschaft und als Kommunalpolitiker für unsere Demokratie einsetzen. ({2}) Wir schauen nicht weg; wir schauen hin. Wir schweigen nicht länger und nutzen alle Mittel des demokratischen Rechtsstaates, um dem Rechtsextremismus und den Rechtsextremisten, die ihn tragen, keinen Fuß breit in unserer Gesellschaft zu überlassen. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Stephan Brandner, AfD. ({0})

Stephan Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004678, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Guten Morgen, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Ziel, die Bekämpfung des Extremismus, ist dringend und zwingend. Sie dient dem Schutz unseres Staates, der freiheitlichen Gesellschaft und der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Das Ziel der Bekämpfung muss aber auch sein, die Personen zu schützen, und zwar in besonderem Maße, die sich in besonderer Weise für unser Gemeinwesen einsetzen und deshalb täglich Gefahren durch Angriffe von Kriminellen, psychisch Auffälligen und Extremisten ausgesetzt sind. Beispielhaft genannt seien hier vor allem zunächst die Ehrenamtlichen, die ehrenamtlichen Richter, die Schöffen, die Kommunalpolitiker, denen ich von hier aus meinen Dank ausspreche und die ich ermutige, weiterzumachen. ({0}) Aber auch die hauptamtlich Tätigen, Richter, Staatsanwälte, Soldaten, Mitarbeiter im öffentlichen Dienst, müssen geschützt werden. Deshalb legen wir unseren Gesetzentwurf vor, der den Gesetzentwurf der Bundesregierung in sinnvoller Art und Weise ergänzt und ausweitet; denn das, was die Bundesregierung und die FDP jeweils aufgeschrieben haben, geht nicht weit genug. Sie vergessen die Richter, sie vergessen die Soldaten, sie vergessen die Mitarbeiter im öffentlichen Dienst, und sie vergessen vor allem auch die Angehörigen, über die ja – quasi über Bande – herausgefunden werden kann, wo wer wohnt. Unser Gesetzentwurf, meine Damen und Herren, soll diesem betroffenen Personenkreis zusätzlich ermöglichen, vereinfacht Schutz durch Melderegisterauskunftssperren zu erhalten. Zugegeben, Herr Lange, unser Gesetzentwurf ist auch keine Wunderwaffe – ich war schon etwas erstaunt, dass Sie den Begriff „Wunderwaffe“ hier vorne überhaupt erwähnen –; aber unser Gesetzentwurf ist ein wichtiges Mosaiksteinchen im Bereich der inneren Sicherheit. Das sind wir – ich denke, das sollte uns alle hier im Deutschen Bundestag einen – den Personen, die täglich, auch ehrenamtlich, Leib und Leben – auch ihrer Familien – aufs Spiel setzen, schuldig. Deshalb bitte ich Sie herzlich, unserem Gesetzentwurf und dem Antrag zur Änderung der Bundeswahlordnung zuzustimmen. Unser Antrag füllt eine Lücke und sorgt dafür, dass man als Bewerber für Mandate die Anschrift seines Hauptwohnsitzes nicht mehr offenlegen muss. Ich bitte Sie um Zustimmung. Ich denke, das dürfte im Sinne aller Bürger unseres Landes sein. Vielen Dank. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Thorsten Frei, CDU/CSU. ({0})

Thorsten Frei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004276, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist in der Tat ein starkes Zeichen dieses Hauses, dass wir nicht nur in der letzten Woche über das schreckliche Verbrechen in Hanau diskutiert haben, sondern dass wir auch gemeinsam als Koalitionsfraktionen – SPD, CDU und CSU – heute diesen Gesetzentwurf zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität einbringen. Natürlich ist es richtig, dass die Dinge, die wir in diesem Artikelgesetz zusammengefasst haben, für alle Phänomenbereiche des Extremismus und des Terrorismus gelten. Aber es stimmt eben tatsächlich – Sie, liebe Frau Vogt, haben es gesagt –: Die größte Bedrohung unseres Staates, unseres Landes geht vom Rechtsextremismus und vom Rechtsterrorismus aus. Deswegen ist es richtig, das auch in der Überschrift dieses Gesetzes zu adressieren. ({0}) Rechtsextremisten hassen. Sie hassen unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung. Sie hassen unsere offene Gesellschaft. Sie hassen alles, was sie selbst als fremd identifizieren. Deshalb müssen wir diesem Hass etwas entgegensetzen. Wir können ihn nicht per Gesetz verbieten. Diesen Anspruch hat dieses Artikelgesetz auch überhaupt nicht. Wir haben aber sehr wohl die Chance, mit unserem Rechtsrahmen und unserer Rechtsordnung letztlich Wert- und Unwerturteile zu sprechen und darüber hinaus den Raum für Hass und Hasskriminalität so weit wie irgend möglich einzuengen. Genau das tun wir. Es stimmt natürlich: Hass äußert sich in unterschiedlicher Art und Weise. Hass ist ein Gift, das langsam in die Gesellschaft geträufelt wird. Deshalb ist es richtig, dass wir die Prävention in den Mittelpunkt rücken. Dafür brauchen wir kein Demokratiefördergesetz. Wir haben Programme, die wir finanziell gestärkt haben, wie „Zusammenhalt durch Teilhabe“ oder „Demokratie leben!“. Schauen Sie sich die Bundeszentrale für politische Bildung, unseren präventiven Verfassungsschutz, an. Sie wurde in den vergangenen Jahren sowohl personell aufgestockt als auch mit erheblichen zusätzlichen Mitteln versehen. Das ist unser Beitrag zum präventiven Verfassungsschutz. ({1}) Das ist eine Aufgabe, die wir nicht nur als Bund, sondern auch als Länder, als Kommunen und – das ist richtig – auch als Zivilgesellschaft haben. Von dieser Aufgabe kann sich keiner von uns frei machen. ({2}) Und wir erleben, dass Gedanken des Hasses zu Worten des Hasses werden. Aus Worten des Hasses werden schlimme und schlimmste Straftaten. Hier müssen wir mit den Möglichkeiten unseres Strafrechts und der Rechtsordnung insgesamt unmissverständlich klarmachen, wo wir die Grenze ziehen. Deswegen haben wir beispielsweise personell die notwendigen Voraussetzungen geschaffen, übrigens nicht nur beim Bundeskriminalamt und beim Verfassungsschutz, sondern mit dem Pakt für den Rechtsstaat zwischen Bund und Ländern auch im Bereich der Justiz, der Richter und Staatsanwälte. Es ist natürlich zwingend notwendig, dass wir hier Gesetze nicht nur verabschieden, sondern dass sie am Ende auch durchgesetzt werden. Nur dann ist der Rechtsstaat glaubwürdig. Dafür haben wir die Voraussetzungen geschaffen. ({3}) Wir haben derzeit vier Sicherheitsgesetze auf dem Tisch liegen. Ich will nur ein Beispiel nennen. Der Bundesinnenminister hat im März 2019 einen Ressortentwurf für ein Verfassungsschutzgesetz vorgelegt. Auch hier will ich nur einen Punkt herausgreifen, nämlich die Einbeziehung von Einzeltätern in die Beobachtung durch den Verfassungsschutz. Hier müssen wir die Hürden absenken. Die Beispiele von Halle und Hanau zeigen, dass Radikalisierungsverläufe ruhig und introvertiert vonstattengehen. Wir müssen dafür sorgen, dass der Verfassungsschutz auch die Informationen besorgen kann, die wir von ihm verlangen. Das ist unsere Pflicht. Deswegen sollten wir alles dafür tun, dass dieses Gesetz durch das Hohe Haus bis zur Sommerpause verabschiedet ist. ({4}) Zum Gesetz, über das wir heute sprechen, sind viele richtige Punkte genannt worden. Ich finde es richtig, dass wir die geltende Rechtslage, dass antisemitische Motive bei Straftaten besonders strafschärfend berücksichtigt werden, noch einmal klarstellen. Es ist auch eine Antwort darauf, dass in Deutschland die Zahl antisemitischer Straftaten seit 2013 um 40 Prozent gestiegen ist. Dem müssen wir etwas entgegensetzen. Wir haben darüber hinaus die Beleidigungstatbestände im Bereich der Kommunalpolitiker neu geordnet, damit die Qualifikation von übler Nachrede und Verleumdung auch für Kommunalpolitiker gilt. Ich unterstütze, Herr Staatsminister Eisenreich, mit unserer Fraktion ausdrücklich den sehr guten Bundesratsvorschlag des Freistaats Bayern, im Bereich der Beleidigungstatbestände weiter nachzuschärfen, aber vor allen Dingen auch, dieses altehrwürdige Gesetz in diesem Bereich systematisch wieder in eine gute Ordnung zu bringen. Es sind gute Vorschläge. Ich würde mir sehr wünschen, dass wir es schaffen, das auch in diesem Gesetzgebungsverfahren noch einmal klarzustellen und deutlich zu machen. ({5}) Im Bereich des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes geht es darum, dass wir das, was im analogen Bereich selbstverständlich strafbar ist, auch im digitalen Bereich strafbar machen. Es ist mir vollkommen klar, dass es mit der Ausleitungsverpflichtung allein nicht getan ist, sondern dass wir darüber hinaus schauen müssen, dass die Justiz in den Ländern auch in die Lage versetzt wird, diese Herausforderung zu bewältigen. Wenn man davon ausgeht, dass beim Bundeskriminalamt zusätzlich 250 000 bis 300 000 Hass-Postings auflaufen und sich daraus etwa 150 000 Ermittlungsverfahren ergeben, dann ergibt sich daraus bei den Ländern ein finanzieller Aufwand von etwa 40 Millionen Euro. Es ist unsere gemeinsame Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass dieses Gesetz nicht nur schön auf dem Papier steht, sondern dass es am Ende auch mit Leben erfüllt wird. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Konstantin Kuhle, FDP. ({0})

Konstantin Kuhle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004796, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sprechen heute über die Themen „Rechtsterrorismus“ und „Hasskriminalität“. Natürlich hängt beides miteinander zusammen und muss gemeinsam diskutiert werden. Während wir das tun – das muss ich schon sagen –, bekümmert es mich, wie schnell wir nach den Taten von Halle und Hanau wieder zur Tagesordnung übergegangen sind. Deswegen gilt neben der Debatte über das materielle Recht auch ein ganz wichtiges Augenmerk der tatsächlichen Durchsetzung des Rechts, deswegen braucht es nach diesen Taten nach wie vor einen Sicherheitsdialog mit den Menschen, die sich besonders bedroht fühlen. Das sind in erster Linie die Juden und Muslime in Deutschland. Wir brauchen einen Sicherheitsdialog mit diesen Gruppen. Es darf uns nie wieder passieren, dass die Sicherheitsbehörden, dass die Politik und dass die Mitte der Gesellschaft unterschätzen, was solche Taten bei diesen Gruppen auslösen, meine Damen und Herren. ({0}) Der zentrale Gegenstand des heute vorliegenden Gesetzentwurfes der Koalition ist eine Meldepflicht für Straftaten, die in den sozialen Netzwerken begangen werden. Wir sind skeptisch, ob eine solche Meldepflicht der richtige Weg ist; denn es mangelt in der Praxis nicht an zu wenigen Anzeigen, es mangelt an zu wenig Richtern und Staatsanwälten, um diese zu bearbeiten. ({1}) Es ist kein Wunder, wenn Tweets ausgedruckt, abgeheftet und mit dem Aktenwagen durch die Gegend geschoben werden, dass diese Verfahren länger dauern als notwendig und dass Dinge gar nicht mehr zur Anzeige kommen. Deswegen ist es schön, lieber Kollege Frei, dass Sie den Pakt für den Rechtsstaat erwähnen. Aber es nützt nichts, nur zusätzliche Stellen zu schaffen; diese Stellen müssen auch besetzt werden. Erst dann kommen wir dazu, dass die bestehenden Gesetze angewandt werden und dass das Vollzugsdefizit beseitigt wird. Das gilt für den Bereich der Justiz. Das gilt aber auch für den gesamten Bereich der inneren Sicherheit. Wir als Parlament haben im Bereich des Bundeskriminalamtes und im Bereich des Bundesamtes für Verfassungsschutz neue Stellen ausgewiesen, auch mit Unterstützung der Freien Demokraten. Wenn ich aber sehe, dass wir – Stand Anfang des Jahres – knapp 500 offene Haftbefehle im Bereich des Rechtsextremismus haben, dann stelle ich fest: Wir haben hier ein Vollzugsdefizit. Das muss dringend angegangen werden, wenn wir dieser Gefahr Herr werden wollen. ({2}) Ich bin Ihnen, lieber Kollege Frei, auch dankbar – ich habe es ehrlicherweise gehofft –, dass Sie das Thema „Verfassungsschutzgesetz und Bundespolizeigesetz“ ansprechen. Wir werden es nicht mitmachen, dass man nach solchen Taten wie in Hanau, in Halle oder wie der Ermordung Walter Lübckes die Aufregung in der Gesellschaft nutzt, um den Souverän mit Bürgerrechtseinschränkungen zu überrumpeln. Der Souverän muss überzeugt werden von Eingriffen in die Bürgerrechte, aber nicht nach solchen Taten überrumpelt werden. Es hätte nichts, rein gar nichts gebracht, bei einem Täter, der dem Verfassungsschutz nicht bekannt war, eine Quellen-TKÜ oder eine Onlinedurchsuchung wie in Hanau zu machen. Das gehört auch zur Wahrheit. Deswegen müssen wir das besonnen miteinander besprechen, aber nicht nutzen, um im Schnellverfahren, am besten noch vor der Sommerpause, die Bürgerrechte einzuschränken. Darauf werden wir achten. ({3}) Eine letzte Bemerkung muss noch gemacht werden. Wir unterstützen die Ausdehnung des strafrechtlichen Schutzes von Kommunalpolitikern. Auch im Melderecht muss es zu Veränderungen kommen. Die Kommunalpolitiker müssen auch wissen, an wen sie sich wenden können. Sie wissen teilweise gar nicht, ob sich hinter einer Drohung eine tatsächliche Gefahr verbirgt. Deswegen brauchen wir eine Ombudsstelle. Wir brauchen eine niedrigschwellige Anlaufstelle, damit wir herausfinden können, ob sich dahinter tatsächlich eine Gefahr verbirgt, damit sich wieder mehr Menschen in der Kommunalpolitik engagieren und nicht durch Hass und Hetze davon abgehalten werden. Vielen Dank. ({4})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Ingmar Jung, CDU/CSU, ist der nächste Redner. ({0})

Ingmar Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich darf als elfter Redner, wenn ich richtig gezählt habe, vor Ihnen stehen. Ich gebe offen zu: Ich bin vom bisherigen Verlauf der Debatte positiv überrascht. Nach den Zuschriften, die ich in den letzten Tagen zu diesem Gesetzentwurf bekommen habe, die teilweise außerordentlich kritisch waren, in denen vorgeworfen wurde: „Ihr wollt die Meinungsfreiheit einschränken“, „Ihr wollt als Staat zensieren“, „Ihr wollt als Staat klarmachen, dass nur eure Meinung gesagt werden darf“, bin ich überrascht, wie breit der Konsens in diesem Hause ist und dass dieser Laden an wichtigen Stellen zusammenhält und wir wissen, dass wir gemeinsam etwas tun müssen. Meine Damen und Herren, man kann eines nicht bestreiten – wir haben einige Beispiele gehört; nehmen Sie nur den Fall um Walter Lübcke oder das, was wir in Hanau und Halle erlebt haben –: Es mögen Taten sein, bei denen kein innerer Zusammenhang besteht, aber alle diese Taten eint doch eins: Sie fußen auf einem Fundament von Hass, von Hetze, von einem gesellschaftlichen Klima, das solche Taten erst möglich macht. Da sind wir gefragt. Wir müssen gemeinsam agieren. Ich bin positiv überrascht und erfreut, wie groß der Zusammenhalt in diesem Hause ist und dass wir dieses Thema gemeinsam angehen. Herzlichen Dank dafür. ({0}) Lassen Sie mich einen Punkt ansprechen, der aus meiner Sicht besonders wichtig ist. Wir haben ihn schon, ein-, zweimal gehört. Dass wir jetzt gesetzlich klarstellen, dass wir mit „Politik“ auch die Kommunalpolitik meinen, ist eigentlich ein Wahnsinn. Aber es gibt tatsächlich Rechtsprechung, die sich an der Stelle nicht so ganz sicher war. – Das ist wirklich mehr als überfällig. Das muss man sich vielleicht manchmal vergegenwärtigen, auch gerade hier im Bundestag: Das politische Leben ist nicht immer so wie hier – mit den schönen blauen Stühlen, den tollen Büros, dem schicken Rednerpult und dem Bundesadler hier im Rücken. Die, die unser demokratisches Zusammenleben, dieses ganze System, die Repräsentation bis in die tiefste Ebene erhalten, sind am Ende andere. Und da sieht es manchmal anders aus. Wer schon mal in einer Stadtverordnetenversammlung in einer Kleinstadt war, der weiß, wie es da abläuft: meistens miefige Verhandlungsräume, fünf Stunden Tagesordnung, 25 Euro Sitzungsgeld, schwierige Themen und im Zuschauerraum die drei, die immer da sitzen. ({1}) Und es gibt trotzdem welche, die sich alle drei Wochen da hinsetzen und das machen, weil sie es aus Überzeugung tun, nicht weil sie dafür irgendwas kriegen oder was wiederbekommen. Wenn es am Ende dazu kommt, dass die, die unser demokratisches Zusammenleben an der Basis aufrechterhalten, irgendwann keine Lust mehr haben, weil sie bedroht werden, weil sie Hass und Hetze ausgesetzt sind, dann haben wir was falsch gemacht. ({2}) Deswegen ist es richtig, dass wir genau an der Stelle so deutlich reagieren. Ich gebe ganz offen zu: Natürlich gibt es in dem Gesetzentwurf noch ein, zwei Dinge, bei denen man genauer hinschauen muss. Wir haben eben von Herrn Kuhle die Frage der Meldepflicht gehört. Lassen Sie uns im Verfahren darüber reden, ob man das anders gestalten kann. Lassen Sie uns darüber reden, wie wir denn auf andere Weise die Straftaten tatsächlich in die Verfolgung kriegen. Dann brauchen wir aber auch eine bessere Lösung. Ich gebe auch zu: Bei dem einen oder anderen materiellen Straftatbestand habe ich zumindest einen gewissen Aufklärungsbedarf. Was ist denn eine Billigung von Straftaten nach § 140 StGB am Ende genau? Ist es der Klick auf den Like-Button, oder muss ich dafür noch was anderes tun? Oder: Wann erfüllt man denn jetzt den neuen Bedrohungstatbestand im Bereich der Gefährdung der körperlichen Unversehrtheit oder von bedeutenden Sachwerten? Das sind Sachen, da habe ich auch noch die eine oder andere Frage. ({3}) Aber genau dafür ist doch dieses parlamentarische Verfahren da. Die Fragen können wir dort gemeinsam klären. Wir werden mit Sicherheit zu einer guten Lösung kommen. Wenn Sie die Verfolgung ansprechen, dann muss ich sagen: Es ist ein wichtiges Signal, dass Herr Staatsminister Eisenreich bis eben da war und der Debatte nicht nur gefolgt ist, sondern auch als Landesminister klargemacht hat, dass wir hier nicht in die üblichen Mechanismen zwischen Bund und Ländern zurückfallen dürfen, wie es so oft bei diesen Fragen geschieht, und durch seine Anwesenheit und seine Rede hier dokumentiert hat, dass es eine gemeinsame Aufgabe ist und wir da hoffentlich nicht in die klassischen Bund-Länder-Diskussionen verfallen werden, sondern es gemeinsam angehen wollen, weil es alle so sehen und die Unterstützung der Länder da ist. Das ist eine wichtige Sache. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Abschluss noch eines sagen, weil mich die Zuschriften, die ich dazu kriege, massiv ärgern: Es heißt da, wir wollten hier zensieren und die Meinungsfreiheit und Ähnliches einschränken, immer unter dem Stichwort: Man wird doch wohl noch mal was sagen dürfen. – Wissen Sie, was das Besondere an diesem Rechtsstaat ist? Man darf hier wirklich jeden Unsinn sagen; das sollten sich einige mal gelegentlich vergegenwärtigen. Nur, eine Grenze ist da zu ziehen, wo man andere bedroht, wo man andere einschüchtert, ({4}) sodass die am Ende vielleicht nicht mehr bereit sind, sich zu engagieren und was zu tun. Da ist die Meinungsfreiheit bedroht – so und nicht umgekehrt, meine Damen und Herren. Ich bin froh, dass der Konsens im Haus offenbar so groß ist, und freue mich auf die Beratungen. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Uli Grötsch, SPD. ({0})

Uli Grötsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004282, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte aus einer aktuellen Morddrohung gegen unsere SPD-Vorsitzende Saskia Esken zitieren. „Das Todesschwadron88“ schreibt: Mit einem schönen scharfen Beil werden wir Dir ein Hakenkreuz in Dein Gesicht schneiden. Deine Lippen werden wir dir auch entfernen … Ich würde den Briefkasten vor deiner Tür abbauen lassen. Nicht dass sich dort eine Rohrbombe wiederfindet … Auch Deine Angestellten im Abgeordnetenbüro stehen auf unserer Liste. Auch ich und viele Kolleginnen und Kollegen hier im Saal kennen solche Morddrohungen. Mehr als zwei Drittel aller von der Polizei registrierten Hasskommentare sind rechtsextremistisch. Unser Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität, das wir hier heute beraten, soll diesen Spuk beenden. Denn wer im Netz künftig hetzt und droht, wird härter bestraft und effektiver verfolgt. ({0}) Dieses Gesetz ist ein Nulltoleranzgesetz gegen rechts. Löschen war gestern, liebe Kolleginnen und Kollegen. Künftig sind Facebook, Twitter und YouTube verpflichtet, diese widerlichen Neonazi-Postings und Mord- und Vergewaltigungsdrohungen dem Bundeskriminalamt zu melden. Hier werden 300 Beamtinnen und Beamte in der Zentralstelle zur Bekämpfung von Hasskriminalität die gemeldeten Posts prüfen und gegebenenfalls an die Staatsanwaltschaften weiterleiten. Denn Morddrohung ist eben Morddrohung, egal ob in der analogen Welt oder in der digitalen Welt. Deshalb wird das künftig auch gleich behandelt. Das Internet ist kein straffreier Raum. ({1}) Dieses Gesetz zeigt auch, dass wir als Staat schnell und konsequent handlungsfähig sind. ({2}) Wir wollen und werden die sozialen Netzwerke nicht rechten Trollen überlassen, weil sich sonst normale Nutzer womöglich aus Angst zurückziehen. Wir erleben eine beispiellose Spirale von Hass und Gewalt in einem durch Rechte vergifteten Klima. Jeden Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen – jeden Tag! –, gibt es zwei rechte Gewalttaten in Deutschland. Wir werden bei der Präventionsarbeit und der Deradikalisierung von Rechten besser werden und mehr Geld in die Hand nehmen müssen. Denn wie aus Worten Taten werden, mussten wir alle beim durch einen Rechtsterroristen ermordeten Kasseler Regierungspräsidenten erfahren. Ich wünschte mir, wir hätten schon damals einen besseren Schutz von Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitikern gegen Diffamierungen und Anfeindungen gehabt. So etwas – da sind wir uns alle einig – darf nie wieder passieren. Das sind wir auch Herrn Dr. Lübcke schuldig. ({3}) Für die einen – das sei am Ende gesagt – ist das Gesetz nicht gut genug, für die anderen gibt es datenschutzrechtliche Probleme bei der Passwortherausgabe an die Sicherheitsbehörden. Ich sage Ihnen: Es ist fünf vor zwölf. ({4}) Und wenn sich herausstellt, dass an der einen oder anderen Stelle sinnvoll nachjustiert werden muss, dann lassen Sie uns darüber reden. Dafür bringen wir das Gesetz heute in den Bundestag ein, und dafür gibt es das parlamentarische Verfahren. Am Ende möchte ich sagen: Ich bin Bundesjustizministerin Christine Lambrecht und allen, die an diesem Gesetz beteiligt waren, sehr dankbar, dass sie das Gesetz so schnell erarbeitet und so klar formuliert haben. Ich bitte Sie alle um Unterstützung für ein zügiges Verfahren, wegen nichts Geringerem als dem Schutz unserer freiheitlichen Demokratie. Vielen Dank. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Tankred Schipanski, CDU/CSU. ({0})

Tankred Schipanski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004143, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich zum Schluss der Debatte die digitalpolitische Sichtweise auf diesen Gesetzentwurf aufzeigen. Der Gesetzentwurf dient auch der Anpassung des sogenannten Netzwerkdurchsetzungsgesetzes, eines Gesetzes, das die Große Koalition 2017 auf den Weg gebracht hat. Wir haben im Koalitionsvertrag verabredet, dass wir dieses Gesetz evaluieren und dann novellieren. Nunmehr erfolgt eine erste Anpassung. Die zweite Novelle liegt bereits als Referentenentwurf vor. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat in mehreren Fachgesprächen mit den vom Netzwerkdurchsetzungsgesetz betroffenen Akteuren den Reformbedarf beim sogenannten NetzDG herausgearbeitet und aufgezeigt, in welchen Punkten wir dieses Gesetz nachbessern müssen. Daraus haben wir ein Positionspapier entwickelt. Die Gesetzentwürfe, die vorliegen, müssen sich daran messen lassen. Das heißt natürlich auch, dass wir die sozialen Netzwerke mit Augenmaß regulieren. Es bleibt festzuhalten, dass das NetzDG wirkt, dass das befürchtete Overblocking nicht stattfindet und dass die Systematik dieses Gesetzes vielen anderen Ländern als Vorbild dient, um Hasskriminalität und Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zu bekämpfen. Wichtig ist – das möchte ich noch mal betonen –: Das NetzDG begründet keine neue Strafbarkeit, sondern es befördert die Rechtsdurchsetzung. ({0}) Meine Damen und Herren, es ist lobend zu erwähnen, dass in einigen Bundesländern Zentralstellen zur Bekämpfung der Internetkriminalität bei den Staatsanwaltschaften gebildet wurden. Es sind Hessen, NRW und selbstverständlich auch der Freistaat Bayern zu erwähnen; der Staatsminister hat es bereits ausgeführt. Ein ausdrückliches Lob geht an diese Bundesländer; denn es geht, wie der Name des NetzDG schon ausdrückt, um eine bessere Rechtsdurchsetzung, die letztendlich in den Zuständigkeitsbereich der Bundesländer fällt. Von daher ist es grundsätzlich zu begrüßen, wenn der Bund im Bereich der Rechtsdurchsetzung nunmehr mithilfe des BKA unterstützen möchte. Es ist jedoch zu beachten, dass sich diese Hilfe in das bestehende System der Strafverfolgung einfügt. Der Branchenverband Bitkom wie auch der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit legen bei ihren Stellungnahmen zu diesem Gesetzentwurf den Finger in die Wunde. Es geht um das Meldesystem, ein Kernstück des Regierungsentwurfs. § 3a Absatz 4 Nummer 2 NetzDG-Entwurf sieht für die Übermittlung der Anbieter unter anderem vor, die IP-Adressen einschließlich der Portnummern, die der Nutzer verwendet hat, an das BKA zu übermitteln. Diese Daten sind herauszugeben, bevor überhaupt das Vorliegen eines Anfangsverdachts von einer Strafverfolgungs- oder Polizeibehörde geprüft wurde. Ich denke, diese Regelung müssen wir im Gesetzgebungsverfahren sehr kritisch durchleuchten. Der Vorschlag des Bundesdatenschutzbeauftragten, dass die Plattform die IP-Adressen einfriert und nur deren Inhalt erst einmal weiterleitet und erst nach Feststellung eines Anfangsverdachts die IP-Adresse an die Ermittlungsbehörden bzw. Strafverfolgungsbehörden weiterleitet, ist dringend zu prüfen. Ein weiterer berechtigter Kritikpunkt ist die unklare Formulierung mit Blick auf die Löschverpflichtung aufseiten des BKA. Ich verweise hier auf die unzureichenden Ausführungen auf Seite 16 der Gesetzesbegründung sowie wiederum auf die Stellungnahme des Bundesdatenschutzbeauftragten. Fraglich ist, wie das BKA mit den Meldungen der Anbieter eigentlich weiter verfahren soll. Ich zitiere mit der Erlaubnis des Präsidenten aus der Stellungnahme des Bundesdatenschutzbeauftragten: Das BKA könnte auf der einen Seite nur kurz prüfen, welche Landesbehörde zuständig ist, den Sachverhalt an das Land abgeben und gleichzeitig die Daten aus dem eigenen Bestand löschen. Auf der anderen Seite könnte das BKA die Daten aber nach … § 18 Abs. 3 BKAG … – als Prüffall – in das Informationssystem eingeben und Querverbindungen suchen. Das zeigt, dass eine Klarstellung der Löschungsverpflichtung explizit im Gesetz erfolgen muss. Meine Damen und Herren, ich habe für die Unionsfraktion noch offene Punkte angesprochen. Lassen Sie mich zum Abschluss auf einen Punkt eingehen, der in der Öffentlichkeit besonders kritisch betrachtet wird: die Passwortherausgabe. Ich möchte ausdrücklich sagen, dass der Gesetzentwurf für die Passwortherausgabe einen Richtervorbehalt vorsieht. Das ist meines Erachtens auch erforderlich und richtig. Es handelt sich um einen schweren Grundrechtseingriff, und wir werden uns über die genauen Voraussetzungen der Passwortherausgabe in den Beratungen zu verständigen haben. Sie sehen: Es gibt viele konkrete Punkte, die wir gemeinsam diskutieren wollen. Von daher freue ich mich auf die Beratungen in den Ausschüssen und danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Damit schließe ich die Aussprache.

Dr. Gottfried Curio (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004698, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! In die Augen, in den Sinn: Plötzlich bringen die Bilder von der türkischen Grenze das Problem wieder ins Bewusstsein: die permanente illegale Migration, die Verweigerung des Grenzschutzes. Wir erinnern uns: Alle, die europäische Grenzen verletzen, kommen vorher über sichere Drittstaaten, sind beim Grenzübertritt ohne Anspruch auf Schutzaufnahme. Schon im Irak und in Afghanistan gibt es Fluchtalternativen, und der Krieg in Syrien, wo ein Erdogan ihn nicht befeuert, ist längst weitgehend aus. ({0}) 2017 sagte der türkische Außenminister: Heilige Kriege werden bald in Europa beginnen. – Und Erdogan zur EU: Wenn ihr euch weiter so benehmt, wird morgen kein einziger Europäer irgendwo auf der Welt sicher einen Schritt auf die Straße setzen können. – Jetzt sammeln sie sich aus Idlib, dem letzten Widerstandsnest der islamistischen Aggression, und es sammeln sich Migranten, die schon lange in der Türkei leben und sich dort versorgen. Alle wollen sich absetzen ins gelobte Land, ins Sozialparadies Europa, ins Schlaraffenland Deutschland. Vor Ort befragt, erzählen sie: Ihr Ziel ist schlicht, hier besser zu leben. – Fluchtursachen bekämpfen? Die Fluchtursache heißt Deutschland: opulentes Sozialsystem bei laxen Asylbedingungen. Und wer will wieder am besten alle reinholen? Die Grünen, mit denen die Union demnächst dieses Land lenken will. Schwarz-Grün, das Wort „Gruselkabinett“ bekommt da eine ganz neue Bedeutung. ({1}) Nur da, wo jetzt die Migrationsbewegung wieder optisch sichtbar wird: da gibt man sich mal zugeknöpft – vor einer bayerischen Kommunalwahl. Aber gleichzeitig schreibt man genau diese Politik im Koalitionsvertrag fest, wo man 200 000 Illegale pro Jahr erwartet. Was für ein verlogener doppelter Standard! Auf einmal ist man sehr wohl bereit, auch robusten Grenzschutz gutzuheißen, während gleichzeitig die deutsche Grenze wegen angeblicher Unzumutbarkeit solcher Bilder widerrechtlich ungeschützt bleibt. Wo es dem Bürger ins Auge fällt, gibt man sich hart; wo er es nicht sieht, ist Polen offen. Was für ein verlogener doppelter Standard, was für eine unehrliche Politik! ({2}) Die Türkei forciert den Syrien-Krieg, fördert islamistische Kämpfer. Sie hat die Flüchtlingsströme mit hervorgerufen, für die wir zahlen sollen. Deutschland lässt sich von Erdogan am Gängelband führen, wird zum Spielball fremder Interessen. Der deutsche Steuerzahler darf Milliarden blechen für Merkels Weigerung, die eigenen Grenzen zu sichern. Billiger wäre: effektiver Grenzschutz, nur Sachleistungen, schnellere Abschiebungen. Das nähme Deutschland seine falsche Anziehungskraft. Das hielte Wirtschaftsmigranten von der Reise ab. ({3})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Curio, erlauben Sie eine Zwischenfrage? – Keine Zwischenfrage?

Dr. Gottfried Curio (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004698, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Nein. – Niemand von denen steckt irgendwo fest. Sie alle können zurück in ihre Heimatregion. Und auch geholfen wird vor Ort hundertmal effektiver. Und wen immer wir von den Inseln holen: Neue Kinder werden vorgeschickt, neuer Familiennachzug schon geplant. Warum gibt es da wohl überhaupt unbegleitete Kinder? Wer hat sie wofür dahingelotst? Unsere Regierung fällt Griechenland in den Rücken, erzeugt per Abnahme neuen Migrationsdruck. Wir machen wieder den Tugendweltmeister, andere dürfen den bösen Grenzschützer geben. Wir sagen: Familienzusammenführung ja, aber richtig: Die Kinder, missbraucht als Quartiermacher – für die Tränendrüsenbilder –, zurück zu ihren Familien, in ihre heimische Kultur, zu ihren Verwandten. ({0}) Jetzt rennen sie gegen die Grenze an, mit Steinen und Brandflaschen, mit Tränengasgranaten und Bolzenschneidern. Wollen wir diese gewalttätigen Leute hier haben? ({1}) Kein Durchwinken, dieses Mal Griechenland unterstützen, die Türkei raus aus Syrien, Wiederaufbau beginnen, klare Signale an unseren Grenzen: Illegale Migration zahlt sich nicht aus. – Und wenn die jetzt so lautstarke Migration an der EU-Grenze zu verhindern ist, dann bitte so was auch nicht heimlich, still und leise täglich an der deutschen Grenze. Wenn 13 000 an der griechischen Grenze schlimm sind – und sie sind schlimm –, dann bitte auch keine 13 000 an der deutschen Grenze, und das jeden Monat. Bleiben Sie gesund. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Armin Schuster, CDU/CSU. ({0})

Armin Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004149, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben mit Corona, Börsenabsturz, Türkei/Syrien – was soll ich alles aufzählen? – nun wirklich schwere Zeiten, krisenhafte Zeiten. Welche Antwort hat die AfD? Sicherung der Grenzen. ({0}) Kollegen, Ihre inhaltliche Hilflosigkeit erzeugt eigentlich bloß noch Mitleid. Das Beste, was wir tun können, ist, Ihren Antrag aus Mitleid abzulehnen. ({1}) Meine Damen und Herren – vor allem Sie auf den Tribünen und an den Fernsehschirmen –, es gibt Hoffnung in diesen ganzen Krisen. Die Union regiert seit 14 Jahren dieses Land. Ich habe das Gefühl, wir managen permanent Krisen, und das mit großem Erfolg. ({2}) Egal was in den letzten 14 Jahren passiert ist, Deutschland ging aus diesen Krisen immer stärker hervor. ({3}) Ja, die europäische Außengrenze steht unter Stress, aber sie steht. ({4}) Und dass sie steht, liegt daran, dass Deutschland eine klare Haltung hat. Die ist in den letzten Wochen von Bundesminister Seehofer ganz klar formuliert worden, auch von der Unionsfraktion: Wir stehen hinter den Griechen. ({5}) Ich möchte die Griechen mal loben für das, was sie da tun. ({6}) Die neue griechische Regierung verfolgt eine andere Politik, und das spürt man. Was wir tun – das werden Sie heute und wahrscheinlich auch in den nächsten Jahren nicht verstehen –, ist ein Fächer von Maßnahmen: Vor-Ort-Hilfen für Griechenland, ob Bundespolizei, THW, Frontex, Hilfsgüter. Es geht um Kinder, ja, und das Kontingent, das wir jetzt vorsehen, ist ein europäisches. Und genau das ist das Signal, das Deutschland erzeugen wollte: ({7}) Kein Alleingang, keine deutsche Initiative; wir wollen, dass Europa funktioniert. – Und das ist ein Erfolg. Wir haben es geschafft; vielleicht werden es zwei Handvoll Länder sein. ({8}) Ja, wir haben auch Erdogan gegenüber eine klare Haltung gezeigt. ({9}) Es wird eine Fortsetzung dieses Abkommens geben. Aber Erdogan hat eine klare Sprache. Jetzt sage ich mal ans ganze Haus: Alle Fraktionen haben Innenpolitiker und Mitglieder des Parlamentarischen Kontrollgremiums. Es wäre wichtig, sich künftig, ehe man emotionalisiert – das haben viele getan –, bei den Fachpolitikern zu informieren: Was für Bilder sind das eigentlich wirklich, die da gezeigt werden? Und wie viel Choreografie steckt dahinter? Dann könnte man viel cooler an manche Dinge herangehen. Das Gemeinsame Europäische Asylsystem: Großes Lob an den Bundesinnenminister. Wir geben nicht nach; wir wollen dieses Europäische Asylsystem – für mich überhaupt die Lösung aller Probleme. Auch bezüglich der deutschen Grenze ist die Sprache der Unionsfraktion und des Bundesinnenministers vollkommen kompromisslos: Sollte die Außengrenze nicht halten, dann wird es an der deutschen Binnengrenze ein bestimmtes Regime geben, ({10}) und das wird in jedem Fall auch Zurückweisungen bedeuten. Diese Aussage mache ich aber nicht in Richtung Flüchtlinge. Diese Aussage mache ich in erster Linie an unsere europäischen Partner. Wir müssen ein klares Signal senden, dass wir an der deutschen Binnengrenze gegebenenfalls nicht so agieren werden, wie wir das schon getan haben, damit Frankreich, damit Spanien, damit Dänemark, damit die Beneluxstaaten kapieren: ({11}) Die Deutschen lösen es für uns nicht mehr; wir müssen uns mit ihnen arrangieren, und das Zauberwort heißt „Gemeinsames Europäisches Asylsystem“. Wir machen flexible, lageangepasste Schwerpunktkontrollen auf der Grenzlinie schon seit November. Über 400 Zurückweisungen von Menschen mit Aufenthalts- oder Einreiseverbot sind eine klare Sprache. Wir haben Asylzahlen, die relativ normal sind, nur gering über dem, was Deutschland sonst hat. Bitte, außer dem ganz großen Kaliber gibt es auch noch das feine Florett, ({12}) und wenn man alles richtig macht, dann erreicht man mit einer Politik der Mitte das, was wir gerade erreichen: hohe Aufgriffszahlen, Asylzahlen, die fallen. ({13}) Meine Damen und Herren, ich will noch einen Satz zu Corona sagen. Ich komme aus einer Region, in der jetzt viele nach Grenzschließungen rufen – übrigens ein Wort, das auch im Parlament inflationär oft gebraucht wird. Ich darf Sie mal daran erinnern, dass Grenzschließungen Nordkorea macht, vielleicht auch Trump. ({14}) Das kann nicht die Methode sein, die wir jetzt aus dem Köcher holen, auch nicht bei Corona. Ich setze mich, lieber Herr Staatssekretär, seit Montag intensiv dafür ein, dass wir die Grenzkontrollen zu den Hochrisikogebieten an der deutsch-österreichischen, deutsch-schweizerischen und deutsch-französischen Grenze intensivieren, ja, auch mit Coronabezug. ({15}) Aber das gesamte Land oder gar Europa lahmzulegen, die Börsen auf Talfahrt zu schicken, indem ich Grenzen schließe, das fiele mir angesichts der momentanen Lage nicht ein. Ich bin der festen Überzeugung: Intensive Grenzkontrollen, ja; aber bitte nicht Grenzen schließen. Der Kollateralschaden wäre immens. Letzte Bemerkung. Peter Altmaier kümmert sich um die wirtschaftlichen Folgen. Jens Spahn macht einen Bombenjob als Krisenmanager Gesundheit. ({16}) Horst Seehofer ist seit einem Dreivierteljahr fast nur noch mit dem Thema befasst, um das es in dem Antrag geht; er hat damit viel, viel früher als die meisten hier im Haus angefangen. Auch er hat die Lage im Griff. ({17}) Ursula von der Leyen – wissen Sie, wo sie herkommt? - ({18}) ist an Klarheit im Moment nicht zu überbieten. Und, meine Damen und Herren, nur weil Angela Merkel nicht jeden Tag jedem hier das Köpfchen streichelt, müssen Sie nicht unterstellen, dass sie die Fäden nicht in der Hand hat. Ich glaube – das besagt ja auch das Wort „Union“ –, wir stehen in Krisen zusammen, ({19}) wir werden sie meistern. Das ist auch mein Tipp an die Bevölkerung: Wie die Union in diesen Zeiten zusammenstehen! ({20}) Danke schön. ({21})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Linda Teuteberg, FDP. ({0})

Linda Teuteberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004913, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Ereignisse, die Bilder, die wir derzeit sehen, der Zynismus Präsident Erdogans, der mit dem Leben, dem Schicksal Tausender Migranten spielt – das ist traurig und erschütternd. Und die Antwort auf diese menschenverachtende Provokation kann nicht sein, dass wir, Deutschland und Europa, dieser erpresserischen Politik nachgeben. Die Antwort muss sein, dass wir endlich die notwendigen Konsequenzen ziehen. ({0}) Denn die Wahrheit ist auch: Für das, was wir heute erleben müssen, tragen auch Europa, auch Deutschland, auch die Bundesregierung Verantwortung. Das gilt zum einen außen- und sicherheitspolitisch: Deutschland und Europa stehen am Seitenrand, während Assad, Putin und Erdogan Fakten schaffen. Es gilt aber auch für die Hausaufgaben der Bundesregierung in der Innenpolitik und beim Gemeinsamen Europäischen Asylsystem. Union und SPD haben es seit 2015 nicht geschafft, in Europa die notwendigen Reformen anzuschieben, das europäische Asylsystem zu reformieren, Frontex auszubauen und mit einem gewichtigeren Mandat auszustatten. Spätestens jetzt muss die Bundesregierung endlich mit einem neuen Realismus an die Migrationspolitik herangehen, und zwar sowohl aus humanitären Gründen als auch aus europäischer Verantwortung. Wir dürfen illegale Migration, wir dürfen die Erpressung Erdogans nicht hinnehmen oder gar belohnen. Denn hier nachzugeben, würde erst recht dazu führen, dass sich Hunderttausende weitere Migranten auf den Weg nach Europa machen und Tausende dabei ihr Leben riskieren und verlieren. ({1}) Wir brauchen eine Weiterentwicklung des Abkommens mit der Türkei, die aber klar macht: Provokationen und Aggressionen an der Grenze werden nicht hingenommen. Und: Vereinbarungen müssen eingehalten werden. Wer aber glaubt, seine Vorstellungen von ungesteuerter Migration unseren europäischen Nachbarn aufdrücken zu können, der gefährdet wiederum das Projekt Europa; denn für die Naivität, die da von einigen – auch hier im Haus – gepflegt wird, gibt es nicht nur in Warschau und Budapest, sondern auch in Paris, Madrid, Stockholm und Amsterdam kein Verständnis. Wir müssen mit den Partnern den Kompromiss suchen, die eine gemeinsame europäische Migrationspolitik wollen, und wir dürfen die nicht durch Alleingänge aus der Verantwortung entlassen, die sich dem noch versperren. ({2}) Wenn sich 2015 nicht wiederholen darf, wenn dieser Satz auch 2020 stimmen soll, dann dürfen wir eben keine deutschen Sonderwege einschlagen. Wir müssen eine Arbeitsteilung auch in Europa haben, wo alle für Ordnung und Humanität zuständig sind und wir nicht darauf hoffen, dass andere uns unangenehme Aufgaben abnehmen. Stichwort „Arbeitsteilung“, da lohnt auch ein Blick nach Österreich: Die Grünen sind heute schnell dabei, das Wort „Ordnung“ in Überschriften immer wieder zu benutzen. Aber wenn es konkret wird, Vorschläge zur rechtsstaatlichen Ordnung zu machen und vor allem mitzumachen bei sinnvollen Maßnahmen, dann schlagen sie sich in die Büsche. Den Bereich Ordnung kann man nicht wie in Österreich als koalitionsfreien Raum definieren – Humanität und Ordnung gehören auch im Handeln zusammen, liebe Kollegen von den Grünen. ({3}) Wir brauchen da einen humanitären Realismus. Das heißt, Flüchtlingen zum Beispiel in Syrien und der Türkei schnell und wirksam zu helfen. Das heißt, legale Wege für Migration zu schaffen. Es heißt aber gleichzeitig, unsere europäischen Partner und gerade Griechenland in diesen Tagen konkret und tatkräftig zu unterstützen. Kritik an Griechenland ist angebracht, was die Zustände in den Lagern angeht. Aber beim Schutz der Außengrenzen, da verdient Griechenland in Wort und Tat unsere Solidarität. ({4}) Denn es gibt keinen völkerrechtlichen Anspruch auf gewaltsame Grenzdurchbrüche. Wir müssen an einem rechtsstaatlichen wirksamen Außengrenzschutz arbeiten, gerade wenn wir nicht wollen, dass sich die Frage nach Zurückweisung an der deutschen Grenze stellt. ({5}) Wir wollen Freizügigkeit in Europa. Deshalb brauchen wir einen wirksamen Schutz der Außengrenzen. ({6}) 2020 muss das Jahr werden, in dem wir in Deutschland und in Europa mit einer verantwortungsvollen Migrationspolitik endlich Ernst machen – frei von Naivität, dafür mit Realismus, mit Humanität und Ordnung. Vielen Dank. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Uli Grötsch, SPD, hat als Nächster das Wort. ({0})

Uli Grötsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004282, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erstens. In den hier vorliegenden drei Seiten AfD-Text steht das Wort „illegal“ an sage und schreibe 19 Stellen, ({0}) 19-mal auf drei Seiten, und das im Zusammenhang mit Menschen. Lassen Sie mich deshalb gleich zu Beginn meiner Rede in aller Deutlichkeit eines sagen: Menschen sind nicht illegal, ({1}) niemals und nirgendwo auf der Welt. ({2}) Die Bilder der letzten Tage – von wem auch immer sie erzeugt wurden – von der türkisch-griechischen Grenze haben uns alle erschüttert. Wer da nicht Gänsehaut bekommt, wen das kalt lässt, der ist kein Mensch, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich sage es Ihnen ganz klar: Ich habe mich nicht an solche Bilder gewöhnt, und ich will mich nicht an solche menschenunwürdigen Zustände gewöhnen, wie sie seit einigen Tagen an der türkisch-griechischen Grenze zu sehen sind. ({3}) Deshalb bin ich sehr froh, dass auf Druck der SPD am letzten Wochenende im Koalitionsausschuss beschlossen wurde, dass Deutschland schwerkranke und unbegleitete Kinder – und sehr zum Erschrecken der AfD auch deren Eltern – von den griechischen Inseln und aus dem Grenzgebiet zwischen Griechenland und der Türkei aufnehmen wird, weil es buchstäblich um Leben und Tod geht. ({4}) Lassen Sie uns deshalb an allen Stellen alles dafür tun, damit wir lieber gestern als heute diese Kinder aus dieser Misere befreien; denn sie können rein gar nichts dafür, dass sie zum Spielball eines geopolitischen Konfliktes geworden sind. Am Ende noch ein Satz zu Ihrem Antrag: Sie bedienen naturgemäß, schon wieder, Ihre rechte Klientel: „Ansturm“, „Migrantenströme“, „gefährliche Migrantengruppen“, „Kämpfer“ usw.; das ist blanker Unsinn. ({5}) Frontex verzeichnet weniger unerlaubte Grenzübertritte nach Europa, wir reden von 92 Prozent weniger als zu Hochzeiten der Flüchtlingsbewegung im Jahr 2015 – 92 Prozent weniger! ({6}) Auch in Deutschland sinkt die Zahl der unerlaubten Einreisen. Wir haben immer weniger Asylanträge zu verzeichnen. ({7}) Aber Fakten interessieren Sie nicht, ich weiß. ({8}) Was Sie versuchen, ist einfach nur billig und schäbig, und es gelingt Ihnen auch dieses Mal nicht. ({9}) Vor allem ist das, was Sie da schreiben, schlichtweg unwahr. Sie hätten gestern im Innenausschuss aufpassen sollen; da haben Ihnen der Staatssekretär im Bundesinnenministerium und der Vertreter des Auswärtigen Amtes noch erklärt, dass sich die Situation an der Grenze seit einigen Tagen komplett beruhigt hat, und dass kein einziger Asylsuchender auf den griechischen Inseln neu angekommen ist, und dass die Türkei wieder das EU-Türkei-Abkommen anwendet und die rückgeführten Migranten aufnimmt. ({10}) Wir haben außerdem zehn Beamte vor Ort zur Unterstützung von Frontex. Auch an der bulgarisch-türkischen Grenze war und ist wieder Ruhe eingekehrt. Warum sollte Frontex also diese Grenze sichern? Die Beamten haben sicherlich Besseres zu tun, als an menschenleeren Grenzübergängen auf einen Migranten zu warten. Was Sie schreiben, ist deshalb einfach Unsinn. Deshalb fordere ich Sie auf, gerade in diesen Zeiten verbal abzurüsten – wenn das bei Ihrem Geschäftsmodell überhaupt möglich ist. ({11}) Mein letzter Punkt, den ich noch ansprechen möchte: Wir haben immer gesagt: Zur Sicherung eines Europas ohne Grenzen gehört ein wirksamer Schutz der europäischen Außengrenzen. Wir wollen daher Frontex stärken und zu einer echten, leistungsfähigen Grenzschutzpolizei weiterentwickeln. Richtig verstandener Schutz bedeutet aber nicht das Abriegeln von Grenzen. Wir brauchen mehr Kontrolle und Ordnung bei der Bekämpfung von Menschenschmugglern und Schleusern. Ein besserer Grenzschutz muss mit Partnerschaften mit den Transitländern und den Herkunftsstaaten einhergehen, unter anderem über legale Zuwanderungsmöglichkeiten und wirtschaftliche Hilfen. Auch bei mehr Grenzschutz werden Menschen aus Sorge um ihr Leben oder ihre Freiheit berechtigterweise Schutz suchen. Für Verfolgte und Flüchtlinge aus Krisengebieten muss Europa offen bleiben; denn Asyl ist ein Menschenrecht. ({12}) Für diese Fälle brauchen wir gemeinsame Anstrengungen aller, aber mindestens der willigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Wir zählen auf das Bundesinnenministerium und alle beteiligten Ressorts, dass sie den Koalitionsbeschluss deshalb zügig umsetzen. Vielen Dank. ({13})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Dr. André Hahn, Die Linke. ({0})

Dr. André Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004288, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Antrag der AfD zeigt einmal mehr, wofür diese Partei im Kern steht. ({0}) Die AfD steht für Ausgrenzung, ({1}) Abschottung und Rassismus, und nicht nur Die Linke, sondern die große Mehrheit in diesem Haus stellt sich dem entschieden entgegen. ({2}) Fakt ist: An der türkisch-griechischen Grenze spielen sich gegenwärtig dramatische Szenen ab: Familien mit kleinen Kindern werden von der griechischen Polizei mit Tränengas und Blendgranaten beschossen. Die griechische Küstenwache gibt, anstatt zu helfen, Warnschüsse auf Flüchtlingsboote ab und riskiert mit gefährlichen Manövern, dass diese kentern. In einem beispiellosen Vorgang setzt die griechische Regierung das Asylrecht außer Kraft und lässt Schutzsuchende, die es nach Europa geschafft haben, ohne Prüfung der Fluchtgründe zurück in die Türkei abschieben. Dieses Vorgehen der griechischen Regierung ist zutiefst inhuman, weil es die Not der betroffenen Menschen, die erst auf Geheiß des türkischen Präsidenten Erdogan an die Grenze verbracht wurden, ignoriert und sie weiter in die Verzweiflung treibt. ({3}) Das Vorgehen Griechenlands ist zudem eklatant rechtswidrig, und die Bundesregierung weiß das ganz genau. Ich zitiere aus einer vom Innenministerium erstellten Weisung vom 4. März für den Sonderrat der EU für Justiz und Inneres. Dort heißt es – Zitat –: Artikel 78 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU stellt aus deutscher Sicht keine Rechtsgrundlage für einseitige Maßnahmen der Mitgliedstaaten dar (hier: Aussetzung der Annahme von Asylanträgen). Humanitäres Völker- und Unionsrecht gebietet das Recht auf Asyl. Griechenland bricht also EU-Recht. Doch anstatt das öffentlich oder wenigstens diplomatisch zu kritisieren, nennt Innenminister Seehofer das Vorgehen Griechenlands an der Grenze „sehr gut“ und bezeichnet die Aussetzung des Asylrechts wider besseres Wissen gar als „in Ordnung“. Das ist völlig inakzeptabel. ({4}) Unsere Forderung als Linke ist ganz eindeutig: Die EU-Kommission muss endlich auf die Einhaltung europäischer und internationaler Regeln drängen. Die illegalen Zurückweisungen an der griechischen Grenze müssen sofort gestoppt werden. ({5}) Mein erkrankter Fraktionskollege Michel Brandt, der heute eigentlich auch reden wollte, war gerade vor Ort und hätte Ihnen mit Sicherheit schlimme Schicksale von dort schildern können. Höchst dramatisch ist nach wie vor auch die Situation auf den griechischen Ägäis-Inseln. Das Flüchtlingslager Moria war ursprünglich für 3 000 Menschen ausgelegt. Derzeit leben dort circa 25 000 Menschen unter unwürdigen Bedingungen – ohne absehbare Perspektive, ohne ausreichenden Zugang zu medizinischer Versorgung, zu Lebensmitteln oder zu Strom. In einer Reportage der ZDF-Sendung „Frontal 21“ von dieser Woche erklärte eine Frau: „Wir leben hier wie die Tiere. Ach, nicht einmal Tiere leben so wie wir.“ Ich sage: Wir dürfen vor diesem Leid nicht länger die Augen verschließen. ({6}) Auf Lesbos kontrolliert ein rassistischer Mob Teile der Insel. Schulen und Unterkünfte werden angezündet. Rechtsextreme machen Jagd auf Journalisten und humanitäre Helfer. Manche Hilfsorganisationen haben schon aufgegeben und ihre Mitarbeiter evakuiert. Es sind inzwischen eine Handvoll Leute, linke Humanisten, die ehrenamtlich versuchen, auf Lesbos das letzte bisschen Menschlichkeit zu wahren. Ein guter Bekannter von mir, der dort mithilft, wurde kürzlich von einem achtjährigen Jungen gefragt, ob er nicht sein Vater sein wolle. Ich finde das erschütternd. ({7}) Der Antrag der AfD dagegen ist frei, frei von jeglicher Empathie für die Situation der Schutzsuchenden und rückt diese sogar noch pauschal in die Nähe von kriminellen oder terroristischen Organisationen. Dass die AfD so argumentiert, überrascht mich nicht. Bei anderen erwarte ich jedoch mehr Sensibilität. ({8}) Deshalb sage ich auch in Richtung von Frau von der Leyen: Fliegen Sie nicht mit dem Hubschrauber über die Grenze und die Flüchtlingslager, sondern informieren Sie sich persönlich vor Ort. ({9}) Dann werden auch Sie begreifen, dass die Zustände dort schlichtweg unhaltbar sind und die EU ihre Strategie korrigieren muss. ({10}) Unsere Position als Linke ist klar: Der sogenannte Flüchtlingsdeal war ein schwerer Fehler. Wir dürfen uns von Erdogan weder erpressbar machen noch erpressen lassen. Schon deshalb verbietet sich jede Neuauflage oder Überarbeitung dieses Abkommens. ({11}) Nehmen Sie endlich zur Kenntnis: Trotz aller, zum Teil auch rechtswidriger Bestrebungen, Geflüchtete vom Zugang nach Europa abzuhalten, ist die Hilfsbereitschaft in Deutschland weiterhin erfreulich groß. Rund 140 Kommunen in Deutschland haben sich zu sicheren Häfen und damit zur weiteren Aufnahme von Geflüchteten bereit erklärt. ({12}) Allein die rot-rot-grün regierte Bundeshauptstadt hat aktuell 2 000 Plätze angeboten. ({13}) Dagegen ist das Geschacher der Großen Koalition um die Anzahl und Aufnahme unbegleiteter Kinder, die von den griechischen Inseln geholt werden sollen, einfach nur unwürdig. ({14}) Meine Damen und Herren, wir dürfen nicht warten, bis es irgendwann vielleicht eine europäische Lösung und eine Verteilung gibt, die immer wieder gefordert wird. Die Bundesregierung muss jetzt handeln und die Zusammenarbeit mit den aufnahmebereiten Kommunen suchen. Die Zustände auf den Inseln und an der griechischen Grenze sind unhaltbar. Die Aufnahme der dort Gestrandeten gebieten das Recht und die Menschlichkeit. ({15})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Annalena Baerbock, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Annalena Baerbock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004245, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Dass Sie hier als Rechtsaußen die größte Lehre aus unserer Geschichte kaputtmachen wollen, Demokratie, die allgemeine Verbindlichkeit von Menschenrechten, das wissen wir leider alle. ({0}) Wir hier gemeinsam im Parlament – das ist der Auftrag unseres Grundgesetzes – wollen genau das Gegenteil: ({1}) dieses gemeinsame Europa als Einheit in Vielfalt, als Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts bewahren und schützen. Aber dafür, meine sehr verehrten Damen und Herren, reicht es in diesen Tagen auch in einer solchen Debatte nicht, sich selber auf die Schulter zu klopfen und zu sagen: Es ist schon alles gut. – Nichts ist gut, gerade an der europäischen Außengrenze. Schauen Sie sich die Bilder an – ja, man muss sie sich anschauen –: Nicht nur die griechischen Inseln, sondern auch das Wertefundament dieser gemeinsamen Europäischen Union stehen dieser Tage in Flammen. Das Gewaltmonopol des Staates ist ausgesetzt, und zwar auf der Grundlage dessen, dass Versprechen, die wir als Deutsche, als Europäer zu geordneten Strukturen gegeben haben, nicht eingehalten wurden. Die Zusage von 2016, von den griechischen Inseln immer wieder Kontingente zu übernehmen, wurde nicht eingehalten. Das ist Teil dieses Problems der heutigen Tage. ({2}) Journalisten, NGOs, Geflüchtete werden auf Lesbos angegriffen. ({3}) Wenn die Polizei angerufen wird, dann wird aufgelegt. „One Happy Family“, ein Familienzentrum, in dem Schulbildung, Gesundheitsversorgung geleistet wurde, stand vor Tagen in Flammen. ({4}) In Moria auf Lesbos leben 20 000 Menschen im Dreck, ausgelegt war das Lager für 3 000 Menschen. Traumatisierte Kinder spielen zwischen Müllbergen, etliche sind suizidgefährdet. Eigentlich müsste diese ganze Insel angesichts der dortigen Sicherheitslage evakuiert werden. ({5}) Wir haben daher hier letzte Woche vorgeschlagen, 5 000 Kinder als deutschen Anteil aufzunehmen, und zwar nicht nur aus Gründen der Humanität – alle zitieren hier ja gerne „Humanität und Ordnung“ –, sondern auch aus Gründen der Sicherheit, der Rechtsstaatlichkeit und der geordneten Strukturen vor Ort. ({6}) Humanität und Ordnung: Das ist kein Gegensatz, das bedingt einander. Das sehen wir nicht nur auf Lesbos, das sehen wir auch an der griechisch-türkischen Grenze. Das menschenverachtende Spiel von Herrn Erdogan funktioniert doch vor allem, weil die EU deswegen in Angst und Schrecken verfällt und weil sie in einer solchen Situation mit Tränengas und Blendgranaten auf Männer, Frauen und Kinder schießt. Das ist das Gegenteil von Ordnung. Das ist Chaos, meine sehr verehrten Damen und Herren. Das ist ein massiver Verstoß gegen Grundrechte. Das ist beschämend. ({7}) Ja, ich sage es hier ganz deutlich, weil Sie – auch in Teilen der Regierungsfraktionen – gerne die intellektuelle Fähigkeit nicht nur von uns Grünen – das können wir verkraften –, sondern auch von vielen Menschen in diesem Land offensichtlich unterschätzen. ({8}) Niemand sagt: Das heißt offene Grenzen. – Grenzschutz ist wichtig und richtig. Europa ohne Binnengrenzen funktioniert nur mit einer Kontrolle der gemeinsamen Außengrenze. ({9}) Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist das Wesen einer Grenze, dass es legale Grenzübergänge gibt. Es wird ja dieser Tage auch vonseiten der Regierung hier immer wieder das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zitiert. Bitte lesen Sie das einmal genau! Wir sind ein Rechtsstaat. Da kann man das Recht nicht auslegen, wie es einem gerade passt. ({10}) – Können Sie einmal den Mund halten, meine Güte? ({11}) Dieses Urteil macht mehr als deutlich: Schutzbedürftigkeit nach Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention bedeutet einen effektiven Zugang über Einreisewege. Lesen Sie die Randnummern 201 und 212! Da steht ganz explizit drin: Auch an der europäischen Außengrenze darf es kein Niemandsland und rechtsfreie Räume geben, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({12}) Daher hätte ich von Ihnen als Regierungsfraktion in dieser Debatte erwartet, hätte ich von dieser Bundesregierung erwartet, dass sie klar und deutlich macht: Eine komplette Abriegelung der Grenzübergänge, systematische Push-Backs, Aussetzung des Asylrechts, da sagt man nicht: Da stehen wir in Sympathie daneben, sondern: Das ist nicht vereinbar mit dem Grundsatz der Zurückweisung aus der Genfer Flüchtlingskonvention. ({13}) Die Europäische Menschenrechtskonvention wird hier gebrochen. Es ist nicht vereinbar mit der EU-Grundrechtecharta.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Kollegin Baerbock, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin von Storch?

Annalena Baerbock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004245, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nein. – Und es ist nicht vereinbar mit Ihrer viel zitierten Frontex. Artikel 36 und 43 der Frontex-Verordnung basieren darauf, dass die Europäische Menschenrechtskonvention eingehalten wird, meine sehr verehrten Damen und Herren von der CDU. ({0}) Ich sage an dieser Stelle auch deutlich: Wer das Recht ignoriert, weil es politisch nicht opportun ist, der verabschiedet sich von einem Rechtsstaat und stärkt den Rechtsstaat an dieser Stelle nicht. ({1}) Diese Äußerung hätte ich mir von der EU-Kommissionspräsidentin gewünscht, von Ihnen als Regierungsfraktionen gewünscht. Was sagt der, der heute Artikel 18 der Europäischen Grundrechtecharta aussetzt, wenn morgen Artikel 14 oder Artikel 12 ausgesetzt wird, wenn das Recht auf Meinungsfreiheit ausgesetzt wird? Wir können den viel beschworenen Rechtsstaatsmechanismus der EU in die Tonne treten, meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn wir anfangen, Grundrechte einseitig auszusetzen. ({2}) Wir haben zahlreiche Vorschläge gemacht, heute zu handeln. Es reicht nicht, ein neues Asylsystem zu beschwören. Sie müssen im Hier und Heute mit der Türkei darüber sprechen, dass die Versorgung vor Ort gesichert wird, dass wir fixe Kontingente aufnehmen und dass wir zu unserem Grundrecht stehen. Ich sage an dieser Stelle abschließend auch sehr deutlich: Dieses Wegschauen hat auch dramatische innenpolitische Sicherheitsfolgen. Es sind gerade Rechtsextreme auf die Inseln nach Griechenland gefahren. Einer hat auf Facebook gepostet: Gebt mir ein M60 und ausreichend Munition. Ich werde den ganzen menschlichen Abschaum an der Grenze abknallen. Liebe Bundesregierung, wie kann es sein, dass Identitäre, dass Rechtsextreme in diesen Tagen nach Lesbos ausreisen dürfen? ({3}) Wir brauchen in diesen Tagen Ausreisesperren für Extremisten, die gewaltbereit sind. ({4}) Das ist unsere Verantwortung als Deutscher Bundestag und als deutsche Bundesregierung. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Detlef Seif, CDU/CSU. ({0})

Detlef Seif (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004152, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! In einem Punkt ist dem vorliegenden Antrag natürlich recht zu geben: Das Verhalten der Türkei ist unzumutbar. ({0}) Es ist nicht hinnehmbar, dass die Türkei den Grenzschutz zur griechischen Grenze vorübergehend aussetzte und aktiv – wir haben Erkenntnisse darüber – an der Verbringung von Migranten an die türkisch-griechische Grenze mitwirkte. Aber nicht akzeptabel ist genauso auch, dass fortdauernde Beleidigungen und Rhetorik gegenüber Griechenland erfolgen, vor allem die Aufforderung an die Griechen, die Migranten ziehen zu lassen; denn sie wollten ja ohnehin nicht in Griechenland bleiben. Herr Erdogan, lassen Sie diese Rhetorik, lassen Sie diese Beleidigungen, diese Bedrohungen und diese nicht hinnehmbaren Maßnahmen, und kommen Sie zurück zu einem Verhalten, das wir unter Freunden und Partnern erwarten dürfen! ({1}) Das jüngste Verhalten darf uns aber nicht über eines hinwegtäuschen: Die Türkei leistet bei der Bewältigung der Migrationsströme Großartiges. Sie leistet bei der Aufnahme und Versorgung von Flüchtlingen einen großen Beitrag, nach Angaben der Vereinten Nationen fast 3,6 Millionen syrische Flüchtlinge und fast 330 000 Flüchtlinge aus anderen Ländern. Die Unterstützung der EU hat geholfen, dass über 100 Projekte auf den Weg gebracht werden konnten: Flüchtlingszentren, 180 Schulen wurden neu gebaut, 179 Krankenhäuser und Gesundheitszentren sind bereitgestellt, und weitere Infrastruktur ist entwickelt. Aber trotz erheblicher Eigenleistung der Türkei reichen die finanziellen Mittel nicht aus, um allen Kindern Bildung zu ermöglichen, was aufgrund der Perspektivlosigkeit natürlich ein großes Maß an Radikalisierungsgefahr bedeutet. Hier muss dringend nachgebessert werden. Diejenigen, die behaupten, dass das EU-Türkei-Abkommen tot sei, sollten sich vor Augen halten: In letzter Konsequenz würden wir alle Flüchtlinge, die sich zurzeit in der Türkei aufhalten, im Stich lassen, und wir würden große zusätzliche Migrationsströme in Bewegung setzen. ({2}) Meine Damen und Herren, das jüngste Verhalten der Türkei hat uns aber auch nochmals deutlich und zum wiederholten Male vor Augen geführt, wie schnell sich die Verhältnisse an der EU-Außengrenze ändern können. Wenn man einmal genau hinschaut – ich habe hier heute wieder die Begriffe „Schutzsuchende“ und „Flüchtlinge“ so oft gehört –, handelte es sich nach den vorliegenden Erkenntnissen zumindest weit überwiegend bei den 16 000 Menschen vor Ort um Menschen, die in der Türkei bereits Schutz gefunden hatten und versorgt wurden. Es sind keine Flüchtlinge, es sind keine Personen, die nach dem Geist Europas bei uns Schutz beanspruchen sollen. Nennen wir es beim Namen: Es handelt sich ganz überwiegend um Menschen, die ihre Lebenssituation verbessern wollen, um Menschen, die Wirtschaftsmigration betreiben wollen. ({3}) Das können wir nicht unterstützen. Wir wollen diejenigen unterstützen, die unseren Schutz brauchen und die tatsächlich verfolgt sind. Sie merken nicht, dass Sie durch das Übermaß verhindern, dass die tatsächlich Verfolgten diesen Schutz erhalten. ({4}) Bei den Menschen, die nicht verfolgt sind, wollen wir, will die Europäische Union entscheiden, wer zu uns kommt, in Deutschland zum Beispiel nach dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz und nach der Blue-Card-Richtlinie. Wir entscheiden das – und nicht die Menschen, die ihre Lebenssituation verbessern wollen. ({5}) Die EU-Kommission sollte prüfen und ihr sei dringend anzuraten, dem positiven Vorschlag der Bundesregierung, dem Konzeptpapier, zu folgen. Denn nur mit einer verbindlichen, vollständigen Erfassung, Registrierung, Vorprüfung an den Grenzen und auch Zurückschiebung derjenigen Menschen vor Ort, die erkennbar keinen Schutzanspruch haben, können wir dem Missbrauch wirksam begegnen. ({6}) Eigentlich – da werden Sie von der AfD mir jetzt nicht zustimmen – ist die Bundesregierung auf einem guten Weg und macht bereits das, was Sie hier als Kernforderungen aufstellen. Deutschland wird selbstverständlich Griechenland weitere, zusätzliche Unterstützungsleistungen zukommen lassen. Der Bundesinnenminister hat mit seinem Tweet, dass die Grenzen Europas für die Flüchtlinge aus der Türkei nicht geöffnet sind und dass das auch für Deutschland gilt, ein klares und wirkungsvolles Signal gesendet. Wir wissen, wie groß sich kleine Botschaften in der heutigen Welt entfalten und entwickeln können. Das war genau der richtige Hinweis. Bei fortdauernden Mängeln – das hat der Kollege Schuster auch schon gesagt – werden wir natürlich innerhalb Deutschlands, wenn Mängel bei der EU-Außengrenze bestehen, die Maßnahmen fortführen. Wir wissen, die Kommission kritisiert das – wir haben Freizügigkeit –; aber dennoch geht das klare Signal an die Kommission: Wir sind auf einem guten Weg, aber wir erwarten, dass die EU-Außengrenzen insgesamt wirksam geschützt werden. Deshalb abschließende Bemerkung: Die Bundesregierung leistet gute Arbeit und braucht nun wirklich keine Unterstützung durch die AfD und Aufrufe. Vielen Dank, meine Damen und Herren. ({7})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Armin Hampel, AfD. ({0})

Armin Paulus Hampel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004735, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Gäste im Deutschen Bundestag! Die Bundesregierung, meine Damen und Herren, muss mit dem Klammerbeutel gepudert sein, überhaupt noch mit Herrn Erdogan zu verhandeln, wenn wir uns die Situation vorstellen, dass ein türkischer Staatspräsident militärisch und völkerrechtswidrig in einem Nachbarland interveniert, dadurch einen Flüchtlingsstrom erzeugt und wir diese Flüchtlinge jetzt auch noch mit Milliardenunterstützung für Herrn Erdogan in Europa aufnehmen sollen. Hirnrissiger kann die deutsche Politik nicht handeln, meine Damen und Herren. ({0}) Es wurde eben zu Recht mehrfach erwähnt: Sie können das in allen deutschen Sendern sehen. Da werden von den Journalisten die Migranten interviewt, und sie sagen es offen: Keiner sagt, er kommt als Flüchtling. Jeder sagt, er möchte in Deutschland arbeiten, er hätte keine schöne Ausbildung, man könnte gut wohnen in Deutschland. Nicht einer beruft sich auf den Asylartikel des Grundgesetzes. Lernen Sie von den Flüchtlingen und lernen Sie ihre Ziele kennen. Sie selber definieren es so. Dann ist in der Tat zwanghaft für die Bundesregierung, dass wir zum einen die Griechen unterstützen müssen und natürlich zum anderen auch unsere eigenen Grenzen, sollte es nicht funktionieren, sichern müssen. Allerdings müssen wir sehen, was wir derzeit in Griechenland leisten. Wir waren dort gewesen. Wir waren in Kroatien, wir waren in Bosnien und waren zum Schluss auf Samos in Griechenland. Da konnten Sie sehen, was die Deutschen derzeit leisten, mit einem Boot aus Rostock, deutsche Bundespolizisten, ganz wackere Kerle, die das da gesteuert haben, aber eingeschränkt von all den Restriktionen, die sie akzeptieren mussten. Sie haben uns genau erklärt, dass von der türkischen Grenze, 1,6 Kilometer – das ist knapp eine Seemeile – von den griechischen Inseln entfernt, die Flüchtlinge herübertransportiert werden, morgens und abends. 40 000 Dollar ist ein Transport mit 40 Personen; manchmal sind es auch 70 bis 80, und dann ist es noch mehr Geld. Die türkischen Behörden kassieren mit. Das ist die Realität derzeit in der Türkei. Wir unterstützen nicht nur Herrn Erdogan, wir unterstützen die Schlepperbanden und Kriminellen mit unserer hinhaltenden Politik. ({1}) Dann ist es unsere Aufgabe, meine Damen und Herren, die Griechen viel stärker zu unterstützen: mit Hundertschaften der Bundespolizei, mit Bundesbooten, die dort unten mit den Griechen gemeinsam zum Einsatz kommen, um diesen Ansturm abzuwehren. Ich kann Ihnen nur eines sagen: Die Griechen sind ein weltoffenes Volk, eine alte Seefahrernation. Die haben uns erzählt: Am Anfang haben sie viele Flüchtlinge aufgenommen. Sie kennen das seit ein paar Tausend Jahren; das muss man noch dazusagen. Heute sagen sie: Wir können das nicht mehr. Wir sind völlig überlastet, auf Lesbos, auf Samos und anderswo. – Dann sehen Sie bei den Griechen nicht irgendwelche radikalen Gruppen. Es sind die Menschen auf den Inseln, die auf die Straße gehen und sagen: Nein, wir wollen diese Migrationsflut nicht mehr auf unseren Inseln haben. – Da haben sie völlig recht, und das müssen wir unterstützen, meine Damen und Herren. ({2}) Last, not least: Es hat schon einmal ein Land gegeben, das genau diese Migrationspolitik sehr erfolgreich verhindert hat. Das ist Australien. Der Slogan lautete: You will never make Australia home. – Das hat man im gesamten asiatischen Raum verstanden, nachdem man alle zurückgeschickt hat, die einmal versucht haben, an australischen Gestaden zu landen. Man hat es in den Ländern propagiert. Es wäre eine Aufgabe der deutschen Botschaften, die Kunde zu tun, im Nahen Osten, in allen Ländern: You will never make Germany your home. – Dann funktioniert das auch, meine Damen und Herren. Das wäre die Politik der Bundesregierung. Danke schön. ({3})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Der nächste Redner ist für die Fraktion der SPD der Kollege Helge Lindh. ({0})

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Grenzen und damit auch Grenzsetzungen und Grenzöffnungen sind vielleicht die zentralen Fragen dieser Tage. Deshalb erlauben Sie mir, bevor ich eine entsprechende Grenzziehung gegenüber der AfD vornehme, kurz noch etwas zu den Ausführungen von Frau Baerbock zu sagen. Zwei Anmerkungen. Erstens. Sie erweckten leicht den Eindruck, dass die Bundesregierung irgendwie dafür verantwortlich sei, dass Rechtsextreme aus Deutschland und Europa auf die griechischen Inseln reisen. Ich halte das für ein nicht legitimes Argument, ({0}) zumal beispielsweise auch in Dortmund gerade die Polizei alles tut, um Gruppen daran zu hindern. Wenn jemand in einen Verantwortungszusammenhang gebracht werden kann, dann bei Reden wie der von der AfD, wie wir sie gerade gehört haben, und bei solchen Anträgen, wie wir sie gerade beraten. Das ist die Kausalkette. ({1}) Das Zweite. Sie führten ja aus, was Sie sich von den Koalitionsfraktionen und von der Regierung gewünscht und erwartet haben, und haben viele richtige humanitäre und auch rechtliche Forderungen genannt. Ich erinnere mich gut, wie wir bei dem Thema der Seenotrettung überfraktionell zusammengearbeitet haben, um gegen die Kriminalisierung der Seenotrettung anzukämpfen und für einen Verteilungsmechanismus zu arbeiten. Ich hätte von Ihnen erwartet, dass Sie diese Form der Kollegialität im Parlament auch in Bezug auf die Situation in Griechenland ausüben. Stattdessen verlangt die Grünenfraktion eine namentliche Abstimmung. ({2}) Und nicht nur das: Sie haben dann auch in Schaubildern kenntlich gemacht, wer wie abgestimmt hat. ({3}) Ich finde, dass diese Art der Auseinandersetzung einem gemeinschaftlichen Ergebnis nicht zwingend förderlich und zuträglich ist. Das ist meine Wahrnehmung. ({4}) Sie dient durchaus der Selbstprofilierung, aber sie ist ein Bärendienst gegenüber denen in der SPD-Fraktion und auch in der Unionsfraktion, die natürlich inhaltlich mit dieser Frage ringen. Wie sollte es auch anders sein? Jeder in diesem Raum muss in dieser Situation mit sich ringen. Es gibt eben nicht die einfache rettende Antwort darauf. ({5}) Jetzt aber zur Grenzziehung in Bezug auf die AfD-Fraktion und ihren Antrag, der ja trunken ist von Formulierungen wie „Ansturm“, „Menschenströme“ und in dem systematisch „Flüchtlinge“ durch „illegale Migranten“ ersetzt sind. ({6}) Man schaue sich einmal den offiziellen AfD-Film zur Vorstellung dieses Antrages „Grenzen sichern“ an. Dann guckt man in die Kommentare: Da findet sich unter anderem die Formulierung eines Schreibers namens Stoertebekerxyz, der darin deutlich ausführt: Was soll der Blödsinn mit den Kindern? Die holen doch sowieso ihre ganzen Clans nach. Familienzusammenführung für Muslime heißt nicht nur Ehefrau, Mann und Kinder, sondern Neffen, Nichten, Großeltern usw. – So führt er das aus. Das ist eine eindeutige Verlängerung Ihrer Diktion. ({7}) Ich fasse zusammen: Die AfD ist mit diesem Antrag der parlamentarische Vorhof von Hasskriminalität. Insofern ist dieser Antrag auch in einem direkten Zusammenhang mit unserer vorherigen Debatte zu sehen. ({8}) Dann verweise ich noch auf einen zweiten Kommentar – er ist nicht gelöscht worden –, von Gunfighter. Er lautet folgendermaßen – bezogen auf die Ausführungen von Herrn Curio –: Schicken wir doch 30 000 Soldaten nach Griechenland. – Ich zitiere: Knallen Sie das ganze Gelumpe ab! Wenn millionenfach illegal die Grenze durchbrochen wird, dann rechtfertigt das den Einsatz von Napalm, Maschinengewehr und Panzern, egal ob Baby, Frau oder feiger Kerl. – So etwas steht unter dem Video zum Antrag der AfD-Fraktion. ({9}) Wer jetzt noch als besorgter Bürger diese Partei unterstützt und wählt, der tritt auch in eine Verantwortungsgemeinschaft mit denen, die solche Ausführungen machen. ({10}) Insofern sollten wir ernsthaft eine Gesetzgebung zur Bekämpfung der Untergrabung der Demokratie und der Menschlichkeit innerhalb des Parlaments beraten. ({11}) Noch Weiteres dazu. Mit dieser Diktion befördern Sie ja geradezu jede Form der Verhetzung auch in diesem Land. Sie beschleunigen all das Denken, was Sie vermeintlich anprangern wollen. Sie sagen: Grenzen sichern. – Aber Sie wünschen sich doch: Grenzen öffnen. – Und Sie schicken heimlich doch Dankesbriefe an Herrn Erdogan. Denn das ist doch, was Sie wollen: Sie wollen diese Bilder in Griechenland, und Sie wollen Flüchtlinge in diesem Land, damit Sie Ihre Hetzpolitik weiterbetreiben können. ({12}) Wir aber – das habe ich betont – können es uns nicht einfach machen. Wir sind tatsächlich als Koalition nicht der Meinung, dass Freizügigkeit global ist, weil wir glauben, dass Freizügigkeit ein Bürgerrecht ist – bezogen auf Deutschland, auf die EU –, aber kein Menschenrecht. Das bedeutet aber auch, dass solche Grenzen, wenn wir sie setzen, durchlässig sein müssen in Bezug auf ein geltendes Asylrecht und auch durchlässig in Bezug auf Arbeitsmigration. Das ist genau die Aufgabe. Deshalb können wir nicht dauerhaft akzeptieren und werden auch nicht akzeptieren, dass zuerst in Ungarn und jetzt auch in Griechenland das Asylrecht außer Kraft gesetzt wird, dass das Verbot kollektiver Ausweisung, dass das Gebot, Asylverfahren durchzuführen, und dass Rechtsschutz nicht gelten. ({13}) Wenn wir das nicht tun, verkauft Europa in der Tat seine Seele und sein Gewissen. Genau deswegen arbeiten wir – das ist keine triviale Aufgabe – für ein funktionierendes Europäisches Asylsystem. Deshalb haben die Regierungsfraktionen sich zu einem Aufnahmeprogramm für 1 500 Personen entschlossen, das aber nicht die abschließende Antwort sein kann. Und deshalb ringen wir darum, dass wir sichere Außengrenzen haben, aber solche, an denen die Menschenrechte gelten, und dass die Binnengrenzen in diesem Land offen bleiben. ({14}) Herr Schuster sprach von Corona. Wir sind ja alle getrieben davon. Die AfD schämt sich nicht mal, sogar das Thema Corona in Bezug auf Flüchtlinge zu instrumentalisieren. Aber täuschen wir uns nicht: Die größte Herausforderung, der gefährlichste Virus in diesem Land bei allen Bedrohungen, die wir haben, ist nicht Corona. Das ist der Virus des Hasses, den solche Anträge und solche Reden, wie wir sie gerade gehört haben, verbreiten. Wenn wir gegen diesen Virus nicht ein Schutzprogramm entwickeln, dann ist es um Europa geschehen, wegen der Rechtsextremisten in diesem Parlament, in diesem Land und in vielen anderen europäischen Ländern. Vielen Dank. ({15})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der FDP der Kollege Benjamin Strasser. ({0})

Benjamin Strasser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Kollegin Linda Teuteberg hat in ihrer Rede sehr richtig den Zusammenhang zwischen offenen Grenzen innerhalb Europas und dem Schutz der EU-Außengrenze herausgestellt. Es ist richtig, dass wir heute noch mal intensiv über dieses Thema diskutieren. Offene Grenzen innerhalb Europas sind eine zentrale Errungenschaft der Europäischen Union. Sie sind aber auch eine zentrale Errungenschaft für meine Generation. Hier in diesem Haus sitzen Kolleginnen und Kollegen wie ich, die mit solchen offenen Grenzen aufgewachsen sind. Ich mag verstehen, dass alte weiße Männer am rechten Rand nicht begreifen wollen, was offene Grenzen für die Lebenschancen von Jugendlichen hier in Deutschland bedeuten. Aber dass diese Bundesregierung in den letzten Jahren so zögerlich war bei einer gemeinsamen europäischen Strategie, dass sie so zögerlich ist, wenn es um die Steuerung und Ordnung von Migration geht, und dass sie so zögerlich ist, wenn es um den Erhalt offener Binnengrenzen geht, das ist für mich wirklich unverständlich. ({0}) Die Situation, die wir in Griechenland erleben, hängt auch damit zusammen, dass man in den letzten Jahren offensichtlich untätig war, was europäische Lösungen angeht. Schon vor 2015 war klar, dass Dublin III reformbedürftig ist. Seit fünf Jahren ist uns klar, dass wir dringend eine gemeinsam abgestimmte europäische Migrations- und Flüchtlingspolitik brauchen. Geschehen ist aber leider kaum etwas, und dort, wo etwas geschieht, dauert es mindestens zehn Jahre, bis wir in die Umsetzung kommen. Lieber Herr Kollege Schuster, Sie haben vorhin auf die Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit innerhalb der Unionsfraktion rekurriert. Wenn ich noch mal erinnern darf: 2018, so viel war da nicht mit Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit, wenn wir gucken, was für einen bizarren Streit wir innerhalb der Unionsfraktion erlebt haben, mit einem Innenminister Seehofer, der ja Ihre Fraktionsgemeinschaft verlassen wollte und wenige Monate nach Antritt der Bundesregierung diese wieder sprengen wollte wegen einer Handvoll Flüchtlinge an der deutschen Binnengrenze. Aber beide haben ja danach betont – sowohl die Frau Bundeskanzlerin als auch der Bundesinnenminister –: Wir wollen in Europa jetzt ein GEAS, wir wollen jetzt eine Weiterentwicklung von Dublin, wir wollen jetzt den Aufbau einer gemeinsamen Grenzschutzagentur Frontex. Was ist denn in den letzten zwei Jahren passiert, wenn wir uns mal Ihre Leistungsbilanz anschauen nach diesem Sturm im bayerischen Wasserglas? Fehlanzeige! Gemeinsames Europäisches Asylsystem: Fehlanzeige! Dublin IV: Fehlanzeige! Aufbau Frontex: fast Fehlanzeige! Sie haben sich jetzt darauf verständigt, bis 2027 eine volle Mannstärke von 10 000 Kräften zu installieren; wir müssen aber in der gleichen Innenausschusssitzung noch aus Reihen der Unionsfraktion hören, eine Abordnung von Bundespolizisten in Richtung Frontex sei eine Schwächung der Sicherheit Deutschlands. Das Gegenteil ist richtig: Die Abordnung ist eine Stärkung Deutschlands. Es ist in unserem Interesse, dass Frontex gestärkt wird. ({1}) Wir erwarten, dass die europäische Ratspräsidentschaft im Herbst dazu genutzt wird, endlich eine gemeinsame europäische Linie zu finden. Die Vorzeichen sind schlecht. Wir haben eine Bundeskanzlerin, die im Jahr 2015 unabgestimmt gehandelt hat; das hängt uns bis heute nach. Wir haben an den entscheidenden Stellen im Kanzleramt und im Innenministerium Personen, die jetzt schon angekündigt haben, in einem Jahr gar nicht mehr in diesen Positionen sein zu wollen. Unter diesen Bedingungen eine Lösung zu erreichen, ist schwierig. Sie haben uns aber an Ihrer Seite. Es ist dringender denn je. Vielen herzlichen Dank. ({2})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Josef Oster für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Josef Oster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004845, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Dieser Antrag bringt für mich vor allem eines zum Ausdruck: Enttäuschung, Enttäuschung der AfD darüber, dass es eben nicht zu einer neuen großen Flüchtlingsbewegung in die Europäische Union gekommen ist, und Enttäuschung darüber, dass Griechenland seine Grenze konsequent geschützt hat. Das sind Erfolge, meine sehr geehrten Damen und Herren, die der AfD nicht gefallen können. ({0}) Die Zahlen sind eindeutig: Weniger als 100 Menschen haben in dieser Phase die türkisch-griechische Grenze illegal überschritten. Die konsequente Haltung Griechenlands war notwendig, und ich gebe zu: Das hätte ich in dieser Form den Griechen gar nicht zugetraut. Aber sie verdienen dafür unseren Respekt und unseren Dank, ({1}) auch wenn die Bilder uns alle bewegen und teilweise sicherlich auch erschrocken haben. Nur so war es möglich, dass Präsident Erdogan schnell eingelenkt hat. Meine Damen und Herren, zu dieser schnellen Beruhigung der Lage hat ganz maßgeblich die geschlossene Haltung der Europäischen Union beigetragen. Daher gehen für mich von diesen Wochen drei zentrale Botschaften aus. Die erste Botschaft lautet: Auf Europa rollt eben keine neue Flüchtlingswelle zu, und die Grenzen sind eben nicht offen. Das hätte die AfD zweifellos gerne gesehen, Linke und Grüne auch, zugegebenermaßen aus ganz anderen Beweggründen. ({2}) Die zweite zentrale Botschaft: Europa hat sich nicht von Präsident Erdogan erpressen lassen. Eine wichtige Botschaft dieser Woche! Und die dritte Botschaft: Europa verschließt nicht die Augen vor der Not der Menschen und hilft aktuell insbesondere den Kindern. Das sind drei ganz zentrale und bedeutsame Botschaften dieser Phase. ({3}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Leidtragenden sind die Menschen, die verzweifelt versuchen, nach Europa zu gelangen. Und wer sind die Schuldigen für diese Entwicklung? Ganz bestimmt nicht die Griechen, ganz bestimmt nicht die Europäische Union und erst recht nicht Deutschland. Schuldig ist die perfide Politik der türkischen Regierung, die den Zustrom, wie wir gesehen haben, von Flüchtlingen und Migranten ganz gezielt organisiert hat. Und ursächlich ist der Krieg in Syrien. Das menschenverachtende Handeln vor allem von Putin und Erdogan führt zu den Zuständen, die wir jetzt in Griechenland erleben. Auch diese Verantwortlichkeiten gehören zu dieser Debatte dazu, und die unsägliche Rolle Russlands blendet insbesondere die AfD ja sehr gerne aus. ({4}) Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, die letzten beiden Wochen haben gezeigt, wie wichtig der konsequente Schutz der europäischen Außengrenzen ist. Nur wenn der Schutz unserer Außengrenzen wirklich funktioniert, können europäische Werte wie Asylrecht und Genfer Flüchtlingskonvention eine sinnvolle Anwendung finden. Das Thema Migration – davon bin ich überzeugt – wird mittel- und langfristig die vielleicht größte Herausforderung für Europa sein. Daher ist eine starke und handlungsfähige Grenzschutzagentur Frontex von immenser Bedeutung für die Zukunft der gesamten Europäischen Union. Frontex muss stark werden durch mehr Personal, und Frontex muss handlungsfähig werden durch mehr Befugnisse. Deshalb muss der europäische Grenzschutz – das ist meine Überzeugung – bei der kommenden Finanzplanung der Europäischen Union eine ganz herausgehobene Rolle spielen, und dafür muss Deutschland sich mit Nachdruck einsetzen. ({5}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die beste Grenzsicherung aber ist für mich ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem mit klaren Regeln und schnellen Verfahren. ({6}) Dann wird der Druck illegaler Migration nachlassen, und Bilder wie die der vergangenen Wochen bleiben uns hoffentlich erspart. Wenn Asylsystem und Grenzschutz europäisch funktionieren, dann kann sich die EU auch wieder mehr auf andere Schwerpunkte konzentrieren. Dazu gehört für mich eine noch stärkere humanitäre Hilfe in den Krisengebieten vor Ort, und dazu gehört für mich auch eine viel aktivere Außen- und Sicherheitspolitik. Unser wichtigstes Ziel muss es doch sein, humanitäre Katastrophen wie jetzt in Syrien gar nicht erst entstehen zu lassen. Vielen Dank. ({7})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Michael Kuffer. ({0})

Michael Kuffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004795, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren von der AfD, es ist für Ihr politisches Hauptgeschäftsmodell, nämlich der Pflege von Empörung, natürlich irgendwie blöd, aber ich glaube, Sie merken selber, dass es zu Empörung heute einfach keinen Anlass gibt. Die richtige Lösung besteht darin, zwischen Hilfe in der Not und illegaler Migration sauber zu trennen und dies möglichst an der EU-Außengrenze zu klären. Genau das passiert aktuell. Griechenland hat bereits 37 000 illegale Grenzübertritte verhindert. Die EU-Innenminister haben die Linie letzte Woche noch einmal sehr klar formuliert – ich zitiere –: „Illegale Grenzübertritte werden nicht toleriert.“ Es werden „alle nötigen Maßnahmen“ ergriffen, um die EU-Grenzen zu schützen. Richtig ist auch, dass wir uns innerhalb der EU nicht mehr auseinanderdividieren lassen. Genau das passiert aktuell ebenfalls. Deutschland handelt in enger Abstimmung mit den europäischen Partnern. Die EU vertritt in dieser Frage geschlossen eine Position. Und dies führt, liebe Kolleginnen und Kollegen, zu einem weiteren wichtigen Punkt, der unser aktuelles Vorgehen kennzeichnet. Und ich sage ganz deutlich – das schreiben wir auch unserem Rumpelstilzchen am Bosporus ins Stammbuch –: Wir werden diesem Versuch, die EU und Deutschland zu erpressen, nicht nachgeben. ({0}) Es ist weiterhin richtig, Griechenland in einer gemeinsamen europäischen Anstrengung mit allen Mitteln zu unterstützen. Auch hier zeigt sich Deutschland vorbildlich – ich muss das jetzt nicht alles vorbeten; Sie wissen das –: Es gibt 55 Lkws mit Hilfsgütern – Zelte, Betten –, einen großen Einsatz des THW, von Polizeibeamten aus Bund und Ländern, von Zollbeamten, von Polizeibooten und demnächst wahrscheinlich von Helikoptern. ({1}) Das, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, zeigt vor allem auch eines: Es ist keineswegs so, dass die einzige humanitäre Lösung immer nur darin besteht, Menschen nach Deutschland zu lassen ({2}) oder, so wie Sie es am liebsten hätten, auch noch nach Deutschland zu holen! ({3}) Zum Antrag der AfD nur mit einigen knappen Worten. Sie wollen, dass wir der türkischen Regierung unmissverständlich klarmachen, dass wir die Grenzöffnung verurteilen. Sie wollen, dass die Bundesregierung klarmacht, dass ab sofort keine illegale Einwanderung über die Bundesgrenze mehr zugelassen wird. Was soll ich dazu sagen? Die Bundeskanzlerin hat sich Anfang der Woche klar geäußert, hat das Verhalten der Türkei als inakzeptabel verurteilt und hat über den Außenminister Herrn Erdogan ausrichten lassen, dass er mit unserem Widerstand rechnen könne. Die Kanzlerin hat bei dem Treffen mit Ministerpräsident Mitsotakis nochmals ausdrücklich den Schutz der Außengrenze betont. Der Regierungssprecher hat am 2. März – auch an die Adresse potenzieller Migrantinnen und Migranten gerichtet – in die Welt hinaus gesagt, der Weg in die EU sei nicht offen. ({4}) Jetzt wollen Sie auch noch – so schreiben Sie –, dass durch Erklärung der Bundeskanzlerin klargemacht werden solle, „dass ab sofort keine illegale Einwanderung“ mehr zugelassen werde. Das „ab sofort“ können Sie streichen. Illegale Einwanderung wird nicht zugelassen. Da brauchen wir nicht nur die Erklärungen der Bundesregierung und der Bundeskanzlerin zu zitieren, die hier keinen Interpretationsspielraum lassen, sondern eine noch deutlichere Sprache sprechen die ergriffenen Maßnahmen der letzten zwei Jahre und deren Erfolge. Damit sind auch Ihre restlichen Fragen beantwortet. Wir haben die Binnengrenzkontrollen vorübergehend wieder eingeführt und erhalten sie aufrecht. Wir haben die Möglichkeit der Zurückweisung im Transitverfahren eingeführt und werden auf dieses Instrument rekurrieren, wenn sich die Notwendigkeit dazu ergibt. Das ist genau das, was Sie postulieren. Das ist aber bereits alles hergestellt. Wir haben im Dezember die Grenzkontrollen auf alle Luft-, Land- und Seegrenzen ausgeweitet. Auf dieser Basis wurden bereits in wenigen Wochen über 1 000 Zurückweisungen ausgesprochen. Nebenbei gab es noch sogenannten Beifang, indem Personen festgenommen werden konnten, zu denen offene Haftbefehle und dergleichen vorlagen. Wir haben eine Reihe von effektiven Instrumenten eingeführt, die sozusagen als Back-up zum Schutz der EU-Außengrenzen national greifen werden. ({5}) Sie wissen vielleicht, dass eine sagenumwobene Partei aus Bayern daran nicht ganz unmaßgeblich beteiligt war, wenn ich das an dieser Stelle sagen darf. Ich möchte zum Schluss – und damit komme ich zum Ende – noch einen Punkt ansprechen, den Sie in Ziffer 4 Ihres Antrags nur andeuten, aber Gott sei Dank nicht aussprechen. Bei den 1 000 bis 1 500 Kindern, die sich Deutschland zusammen mit anderen europäischen Partnern bereit erklärt hat aufzunehmen, handelt es sich um Kinder, die entweder wegen einer schweren Erkrankung dringend behandlungsbedürftig sind oder unbegleitet und jünger als 14 Jahre alt sind, die meisten davon Mädchen. Es geht um 1 000 Kinder! Wir haben in Deutschland 11 000 Gemeinden. Was das bedeutet, können Sie sich ausrechnen. Deshalb sage ich Ihnen zum Schluss: Die Grenze muss hart sein – und das wird sie auch –, aber das Herz nicht! Vielen Dank. ({6})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe deshalb die Aussprache.

Christoph Matschie (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001434, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute abschließend über die Fortsetzung unseres Engagements bei der Militärmission UNAMID. Ich möchte den Blick noch einmal zurücklenken auf deren Beginn. Als 2007 der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und die Afrikanische Union gemeinsam beschlossen haben, diese Mission auf den Weg zu bringen, waren wir schockiert von den Bildern aus Darfur, von den grausamen Auseinandersetzungen, vom Leiden der Zivilbevölkerung. UNAMID war die Antwort darauf, dieses Leiden zu beenden. Ich will an dieser Stelle noch einmal sagen: Ich danke allen, die sich dort eingesetzt haben. Sie haben unsere Unterstützung verdient. Sie haben dafür gesorgt, dass in den vergangenen Jahren viele, viele Menschenleben gerettet werden konnten. ({0}) Inzwischen hat im vergangenen Jahr im Sudan eine friedliche Revolution stattgefunden. Die Menschen sind auf die Straße gegangen und haben den Diktator verjagt, eine zivile Übergangsregierung ist in Verantwortung. Diese Übergangsregierung hat uns gebeten, dieses Mandat fortzusetzen, aber gleichzeitig auch, das Mandat neu zu verhandeln. Dazu gibt es im Moment intensive Gespräche. Mir ist ganz wichtig, dass die Fortführung des Mandats – es wird ein eher politisch ausgestaltetes Mandat sein – zu zwei Dingen einen Beitrag leistet: Das eine ist die Absicherung des innersudanesischen Friedensprozesses, eine der Prioritäten der neuen Regierung. Das andere ist die Unterstützung des politischen und gesellschaftlichen Transformationsprozesses im Sudan. Beides muss das neue Mandat leisten. Dazu braucht es auch die deutsche Unterstützung. ({1}) Wie fragil die Situation im Sudan ist, hat sich in den letzten Tagen noch einmal gezeigt, als es einen Anschlag auf Premierminister Hamdok gegeben hat. Er ist bei diesem Anschlag zum Glück nicht verletzt worden. Aber es war ein Signal, dass dieser politische Prozess, dieser Veränderungsprozess unsere Unterstützung braucht. Wir haben hier schon häufiger darüber diskutiert, dass Frieden und gesellschaftliche Stabilität ganz viel mit Entwicklung, mit den Lebenschancen der Menschen zu tun haben. Deshalb war es richtig, dass wir hier im Bundestag im letzten Monat den Antrag beschlossen haben, die offizielle Entwicklungszusammenarbeit mit Sudan wieder aufzunehmen; denn es geht nicht nur um die militärische Absicherung von Friedensprozessen, sondern auch um die ökonomische Unterstützung und die Verbesserung der konkreten Lebenssituation. ({2}) In solchen Umbruchsphasen ist es aber auch wichtig, dass die politische Kommunikation funktioniert. Deshalb will ich an dieser Stelle sagen: Ich bin sehr dankbar, dass Deutschland hier sehr klare Signale gesetzt hat. Heiko Maas war der erste europäische Außenminister, der unmittelbar nach der friedlichen Revolution und nach dem Amtsantritt der neuen Regierung im Sudan war und Unterstützung signalisiert hat. Bundesentwicklungsminister Müller war inzwischen im Land. Vor zwei Wochen war Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Khartum und hat deutlich gemacht, dass Deutschland diesen Prozess unterstützt. Ich finde das gut; das möchte ich ausdrücklich sagen. ({3}) Am Ende ist es wichtig, dass wir bei den positiven Entwicklungen, die wir auf unserem Nachbarkontinent Afrika sehen – sei es im Sudan oder in Äthiopien –, nicht am Rand stehen und abwarten, ob es gut ausgehen wird, sondern dass wir unsere Möglichkeiten nutzen, diese Demokratisierungsprozesse, diese gesellschaftlichen Veränderungsprozesse mit aller Kraft zu unterstützen. UNAMID ist ein Baustein im Rahmen dieser Unterstützung. Deshalb stimmt die SPD der Verlängerung dieses Mandats zu. Herzlichen Dank. ({4})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der AfD der Kollege Gerold Otten. ({0})

Gerold Otten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004846, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Hybride Mission der Vereinten Nationen und der Afrikanischen Union in Darfur ist für die Bundeswehr eher eine Kleinstmission. Gegenwärtig erfüllen drei Offiziere und ein Unteroffizier, darunter eine Soldatin, den Auftrag, der ihnen mit dem aktuellen Mandat übertragen wurde. Sie erfüllen in den Strukturen von UNAMID Führungs-, Beobachtungs- und Unterstützungsaufgaben. Am 15. Februar meinte der ehemalige Stellvertretende Gemeinsame Sonderbeauftragte von UNAMID, Peter Schumann, in einem Interview mit der Deutschen Welle – ich zitiere –: Es gibt keinen Grund, die Mission einen Tag länger laufen zu lassen. Sie hat in den vergangenen Jahren keinen einzigen Übergriff gegen die Zivilbevölkerung behindert. Das ist ein vernichtendes Urteil, noch dazu von jemandem, der weiß, wovon er spricht. Noch vernichtender ist die folgende Aussage: Selbst der Sturz al-Baschirs habe, so Schumann, daran nichts geändert. Er resümierte: „Das Regime ist weg. Dann muss auch diese Mission weg.“ ({0}) In der Tat: UNAMID hatte den Auftrag, bei der Umsetzung des Friedensabkommens von Mai 2006 zu helfen. Außerdem sollte UNAMID Schutzaufgaben erfüllen und humanitäre Aufgaben und Maßnahmen unterstützen, damit Flüchtlinge sicher in ihre Heimatregionen zurückkehren können. UNAMID konnte die Gewalt und die Massaker aber nicht beenden. Schlimmer noch: Das al-Baschir-Regime hatte UNAMID den Zugang zu Orten und Regionen wiederholt verwehrt, wollte beispielsweise den Funkverkehr mithören und verweigerte Überflugrechte. Dadurch war die Mission weder imstande, ihren Schutzauftrag zu erfüllen, noch konnte sie den Zugang zu monetärer Hilfe gewährleisten. Nicht einmal das Dokumentieren von Verbrechen war möglich. Die Verringerung der Stärke der bis dahin größten und teuersten Mission im Jahr 2018 sowie deren geplantes Ende in diesem Jahr waren folglich ein Eingeständnis der Realitäten vor Ort. Aus diesem Blickwinkel gesehen ist das Urteil des ehemaligen Stellvertretenden Gemeinsamen Sonderbeauftragten verständlich. Aber gilt es auch heute noch? Ich glaube, es herrscht hier weitgehende Einigkeit, dass nun ein hoffnungsvoller Prozess begonnen wurde. Es besteht Vertrauen in die Bereitschaft der neuen Regierung des Sudan, der Mission nicht mehr im Wege zu stehen, Unterstützung anzunehmen und ein demokratisches, säkulares politisches Gemeinwesen aufbauen zu wollen. Wir sind bereit, die bisher funktionierende Kooperation zwischen Übergangsregierung und Souveränitätsrat zu unterstützen, um den demokratischen Übergang im Sudan zu begleiten. Eine Sache möchte ich aber nicht unerwähnt lassen: Immer wieder wird betont, wie wichtig die Schaffung von Stabilität im Sudan für die Region insgesamt ist. Im Fokus steht dabei die Migrationspolitik. In der ersten Beratung haben zwei Redner dasjenige aufgegriffen, worauf ich schon im Jahr 2018 hingewiesen hatte: dass Deutschland nämlich der einzige Staat Europas ist, der sich innerhalb der Strukturen von UNAMID engagiert. Was von Ihnen besonders lobend erwähnt wird, ist in meinen Augen ein Armutszeugnis für die EU und die allseits betonte deutsch-französische Partnerschaft. Meine Damen und Herren, es ist nicht die Verantwortung Deutschlands, sich alle Not der Welt auf die Schultern zu laden. Das Diktum grenzenloser Verantwortung ist grenzenlos verantwortungslos gegenüber den Menschen in unserem Land. Das gilt nicht nur für dieses Mandat. Wenn das Schicksal des Sudan angeblich so wichtig ist für die Stabilität der Region und für eine Beendigung der Migrationsproblematik, dann ist auch mehr Engagement unserer Nachbarn gefragt, insbesondere vonseiten Frankreichs. Setzen Sie sich dafür ein! Sonst könnte leicht der Eindruck entstehen, Frankreich interessiere sich nur für die Sahelzone, sofern rein französische Interessen in deren früheren Kolonien betroffen sind. Noch sind das Land und die Region Darfur nicht befriedet. Selbst wenn ein umfassender Friedensvertrag abgeschlossen wird, ist es ein langer Weg zu stabilen politischen und ökonomischen Verhältnissen. Um dies zu erreichen, braucht es Beharrungsvermögen, ökonomische Weitsicht und militärische Begleitung. Daher werden wir der Verlängerung des Mandats zustimmen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Dr. Andreas Nick. ({0})

Dr. Andreas Nick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004362, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! UNAMID ist eine gemeinsame Mission der Vereinten Nationen und der Afrikanischen Union. Sie hat den Auftrag, die Zivilbevölkerung in Darfur zu schützen, humanitäre Hilfe zu gewährleisten und zwischen den Konfliktparteien im Sudan zu vermitteln. Seit 2012 beteiligt sich Deutschland daran mit Führungs-, Verbindungs-, Beratungs- und Unterstützungsaufgaben und Hilfe bei technischer Ausrüstung und Ausbildung. Unser herzlicher Dank gilt unseren Soldatinnen und Soldaten für ihren Einsatz vor Ort unter durchaus schwierigen Rahmenbedingungen. ({0}) Unsere heutige Entscheidung erfolgt zu einem kritischen Zeitpunkt für den Sudan. Knapp ein Jahr nach dem Sturz des langjährigen Diktators Omar al-Baschir, der Übernahme der politischen Kontrolle durch den Souveränen Rat und die zivil-technokratische Regierung unter Premierminister Hamdok stehen zwei Ziele im Vordergrund: die Überwindung der wirtschaftlichen und institutionellen Krise und der Abschluss der Friedensverhandlungen mit den bewaffneten Gruppierungen in der Region Darfur. Unser deutsches und europäisches Interesse ist dabei deutlich: Wir wollen zu einer nachhaltigen Stabilisierung in Darfur beitragen und die demokratische Transition im gesamten Sudan begleiten und unterstützen. Mit unserer heutigen Entscheidung übernehmen wir konkret Verantwortung, indem wir den Vereinten Nationen durch die Bereitstellung von Personal auch Planungssicherheit für ein Folgemandat geben. Denn wie der Sudan selbst befindet sich auch die Mission UNAMID derzeit in einer entscheidenden Umbruchphase. Bis zum 31. März will der UN-Sicherheitsrat über eine weitere Verkleinerung sowie eine Folgemission mit politischem Schwerpunkt entscheiden. Diesen Übergang gestalten wir als verantwortungsbewusstes Mitglied des UN-Sicherheitsrates mit. Dort hat Deutschland gemeinsam mit Großbritannien die Federführung für das Dossier Sudan inne. Eine Folgemission muss drei Zielen gerecht werden: den Transitionsprozess zur Demokratie begleiten, zur Konsolidierung des Friedensprozesses in Darfur beitragen, aber auch dort, wo es in Darfur weiterhin notwendig ist, den Schutz von Zivilisten gewährleisten. Letzteres wird nach heutigem Stand wohl eher eine polizeiliche als eine rein militärische Aufgabe sein. Meine Damen und Herren, der Sudan bleibt einer der ärmsten Staaten der Welt. Zugleich ist er aber das viertgrößte Aufnahmeland von Geflüchteten weltweit. Auch deshalb ist der Einsatz der Bundeswehr im Rahmen von UNAMID in den vernetzten Ansatz eingebettet. Mit dem Beschluss des Bundestages vom 13. Februar haben wir die Bundesregierung aufgefordert, die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit mit dem Sudan wiederaufzunehmen. Das BMZ und das Auswärtige Amt sind nun gefordert, gemeinsam Konzepte und Strategien für die Umsetzung dieser Entscheidung zu entwickeln. Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Zentrum unserer Politik muss auch künftig die Beilegung des Konflikts zwischen der Regierung und den bewaffneten Gruppen in Darfur und darüber hinaus stehen. Nur so können wir einem Wiederaufflammen des Konflikts nach dem Ende der Mission UNAMID vorbeugen. Dazu ist die heutige Mandatsverlängerung ein wichtiger Schritt. Die CDU/CSU-Fraktion stimmt der Verlängerung des Mandates daher zu. ({1})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächster hat das Wort für die Fraktion der FDP der Kollege Christian Sauter. ({0})

Christian Sauter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004871, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Die Bundeswehr beteiligt sich infolge der Mandate derzeit mit mehreren Tausend Soldaten an internationalen Einsätzen. Wenn in der öffentlichen Debatte über die Auslandseinsätze der Bundeswehr gesprochen wird, stehen häufig die truppenstarken Einsätze wie die in Mali und Afghanistan im Vordergrund. Doch wenngleich diesen Einsätzen mehr Aufmerksamkeit zuteilwird, schmälert dies nicht den Wert der zahlenmäßig kleineren Beteiligungen. UNAMID ist einer dieser kleinen Auslandseinsätze der Bundeswehr. Bei UNAMID sind derzeit eine Soldatin und drei Soldaten für Deutschland im Rahmen dieser Mission im Sudan im Einsatz, im Hauptquartier in Zalingei und im rückwärtigen al-Faschir. Die Reduzierung der Obergrenze von 50 auf 20 im Mandatstext ist deshalb folgerichtig. Dennoch leisten diese Experten dort eine wichtige Unterstützung, hier vor allen Dingen die Wahrnehmung von Führungs-, Verbindungs- und Unterstützungsaufgaben in den Führungsstäben sowie Hilfestellung in Technik und Ausbildung für andere Nationen und der UN im Bedarfsfall. Das sind wichtige Aufgaben, die in hervorragender Weise durch die Soldatinnen und Soldaten vor Ort geleistet werden und wurden. An dieser Stelle unser aller Dank dafür! ({0}) Mit Masse sind an diesem UN-Einsatz jedoch mit derzeit mehreren Tausend beteiligten Kräften vor allem die afrikanischen Nachbarstaaten beteiligt. Deutschland ist jedoch das einzige europäische Land – das ist eben schon deutlich geworden –, welches sich an UNAMID militärisch beteiligt. Unser Einsatz hat deswegen auch eine europäische Bedeutung. Im Sudan wird das geschätzt. Umso positiver ist es, dass nach 13 Jahren UN-Friedensmission in der jüngeren Vergangenheit Erfolge in Darfur erzielt werden konnten, auch durch friedliche Proteste der Bevölkerung. Neben den Friedensgesprächen in Katar, an deren Ermöglichung Deutschland beteiligt war, ist vor allen Dingen die beschlossene Auslieferung des ehemaligen Diktators al-Baschir an den Gerichtshof in Den Haag ein deutliches Zeichen in die richtige Richtung. ({1}) Unser Anspruch sollte es deswegen auch in Zukunft sein, diesen Friedensprozess vor Ort zu unterstützen; denn es liegt auch im deutschen Interesse, den Sudan in seiner geografischen Lage angesichts der Migrationsbewegungen zu stabilisieren. Die Ablösung der UNAMID-Mission durch eine Nachfolgemission wird derzeit vorbereitet und ist folgerichtig. Die verkürzte Mandatsverlängerung um neun Monate statt, wie üblich, um zwölf Monate wird hoffentlich ausreichend sein, um einen geordneten Übergang zu schaffen. Unsere Fraktion wird dem Antrag der Bundesregierung zur Verlängerung des Mandates UNAMID zustimmen als einem Baustein für einen möglichst langfristig anhaltenden Frieden im Sudan. Vielen Dank. ({2})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächste spricht für die Fraktion Die Linke die Kollegin Christine Buchholz. ({0})

Christine Buchholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004022, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es war nicht die UNAMID-Militärmission, an der sich die Bundeswehr beteiligt, die die Schrecken des Baschir-Regimes im Sudan beendet hat. Es war die Revolution von 2019, die Baschir gestürzt hat. Die sudanesische Bevölkerung hat gezeigt, was Die Linke seit Beginn der Militärmission wiederholt hat: Frieden und Freiheit wird es nicht durch Militär geben; Frieden und Freiheit können nur von innen wachsen. ({0}) UNAMID ist einer der teuersten UN-Einsätze aller Zeiten. Gleichzeitig ist die Lage in Darfur weiterhin nicht stabil und nicht sicher. Auch das haben wir immer wieder kritisiert. Um UNAMID und die Beteiligung der Bundeswehr daran zu rechtfertigen, behauptete Außenminister Maas in der ersten Lesung vor einem Monat, in dem derzeitigen Übergangsprozess im Sudan würden – Zitat – „Militär, alte Eliten und die junge Zivilgesellschaft zusammenarbeiten“. Ich finde, diese Einschätzung ist naiv und zugleich gefährlich. Erst vor drei Tagen gab es einen Mordanschlag auf Abdalla Hamdok, den zivilen Ministerpräsidenten der Übergangsregierung. Noch laufen die Ermittlungen, wer den Anschlag verübt hat. Aber eins ist klar: Das sudanesische Militär und die alten Eliten haben sich nicht mit Hamdok und der Revolution arrangiert. Sie wollen die Errungenschaften dieser Revolution zurückdrängen. Eine Außenpolitik, die das nicht klar und deutlich sieht, droht die alten Kräfte zu stärken. ({1}) Und das passt gewissermaßen auch ins Bild. Zur Wahrheit gehört: In den letzten Jahren vor seinem Sturz ist Diktator al-Baschir vom Feind zum Partner des Westens geworden. EU und Bundesregierung haben Zigmillionen Euro lockergemacht, damit das sudanesische Regime das dreckige Geschäft der Flüchtlingsabwehr für sie verrichtet. Damit muss Schluss sein. ({2}) Es gibt einiges zu tun, um die zivilen Kräfte im Sudan zu unterstützen. Wir fordern die Bundesregierung und die EU erstens auf, weder direkt noch indirekt mit dem Militär und der Nachfolgeorganisation der Dschandschawid-Milizen, die ja an der Regierung sind, zu kooperieren. ({3}) Zweitens. Das Auswärtige Amt darf die Lage vor Ort nicht beschönigen, um die richtigen Schlüsse für ihr politisches Handeln zu ziehen, aber auch um sudanesische Flüchtlinge hierzulande zu schützen. Das niedersächsische Innenministerium zum Beispiel beruft sich auf die Lageeinschätzung des Auswärtigen Amtes, um den Abschiebestopp in den Sudan aufzuheben. Diese Entscheidung ist ein Schlag gegen die Demokratiebewegung. Wir sagen: Der Abschiebestopp in den Sudan darf nicht aufgehoben werden! ({4}) Drittens braucht es einen umfassenden Schuldenerlass und gerade keine neoliberalen Strukturanpassungsprogramme, die die soziale Lage im Sudan weiter verschlimmern würden. ({5}) Viertens. Die Verlängerung des UNAMID-Mandates stärkt nicht die zivilen Kräfte im Sudan. Wir lehnen die Mandatsverlängerung ab. ({6})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächste spricht die Kollegin Agnieszka Brugger für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Agnes Malczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004106, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit Blick auf die aktuelle Weltpolitik gibt es nicht allzu viele positive Entwicklungen, die man begrüßen kann. Umso mehr müssen und sollten wir auch über die Good News sprechen. Es waren im Sudan vor allem die jungen Menschen und die Frauen, die monatelang auf der Straße protestiert haben. Sie haben die Diktatur von Omar al-Baschir friedlich gestürzt, der über 30 Jahre lang das Land unterdrückt und in Darfur einen mörderischen Krieg geführt hat. Sie haben die Machtteilung und eine zivile Übergangsregierung erreicht, und das war ein extrem wichtiger Schritt für alle Menschen im Sudan. Meine Damen und Herren, nun hat die Übergangsregierung beschlossen, al-Baschir endlich an den Internationalen Strafgerichtshof auszuliefern. Das ist schon lange überfällig. Es ist aber auch eine mahnende und wichtige Botschaft an alle Kriegsverbrecher dieser Welt. ({0}) Die nächsten Monate und Jahre im Sudan werden die entscheidenden sein. Das Militär bleibt ja weiter mächtig, die Machtteilung ein politischer Drahtseilakt. Viele Stützen des alten Regimes sind immer noch in mächtigen Positionen und hoffen nur darauf, dass die zivile Übergangsregierung scheitert. Aber ein Zurück zu Diktatur und Menschenrechtsverletzungen kann und darf doch niemand wollen. ({1}) Die Versorgungslage im Sudan ist nach wie vor sehr schlecht. Wir haben ja in der letzten Sitzungswoche, als wir über das Mandat gesprochen haben, auch mit einem Antrag begrüßt, dass die Entwicklungszusammenarbeit wieder aufgenommen werden soll. Zwei Dinge sind für den Sudan aber von besonderer Bedeutung: Die Bundesregierung muss sich dafür einsetzen, dass dem Sudan die Schulden erlassen werden, damit diese Regierung überhaupt eine Chance bekommt. ({2}) Die positiven Entwicklungen im Sudan müssen aber auch international von allen anerkannt werden. Setzen Sie sich deshalb gegenüber den USA dafür ein, dass der Sudan von der US-Terrorliste gestrichen wird! Meine Damen und Herren, die Friedensmission UNAMID, über die wir heute hier beraten, soll in diesem Jahr enden. Die zivile Übergangsregierung hat um diese internationale Unterstützung gebeten; das muss man an der Stelle auch mal zur Kenntnis nehmen. Es ist richtig, dass Deutschland bei diesem letzten Mandat noch mal einen – wenn auch bescheidenen – personellen Beitrag leistet. Wir sind uns auch alle einig: Konflikte können nicht militärisch gelöst werden. Deshalb kommt es ja entscheidend auf die zivilen, auf die politischen und diplomatischen Beiträge an. Der Sudan und seine Regierung brauchen in diesem Bereich viel Unterstützung, die Zivilgesellschaft ebenso. Trotzdem bitte ich die Bundesregierung, die gemeinsam mit Großbritannien für das Dossier verantwortlich ist, das die Nachfolgemission von UNAMID ausgestaltet: Prüfen Sie sehr genau, wie diese Mission aufgestellt wird. Schließen Sie nicht von Vornherein eine Blauhelmkomponente aus. Der Schutz der Zivilbevölkerung – es wird nämlich weiter gekämpft, es wird weiter vertrieben – bleibt eine wichtige Aufgabe. Hören Sie da auf die Stimmen der klugen Expertinnen und Experten, meine Damen und Herren! ({3}) Gerade Deutschland hat durch seine Rolle die Möglichkeit, die Menschen im Sudan zu unterstützen, die diesen beeindruckenden Wandel in den letzten Jahren auf den Weg gebracht haben. Nutzen Sie diese Chance! Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({4})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Markus Koob. ({0})

Markus Koob (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004331, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bürgerkriege gehören zweifelsohne zu den übelsten, verheerendsten und verlustreichsten Arten von Kriegen, die wir kennen. Vergewaltigungen, Vertreibungen, Verschleppungen, Massenmorde, wirtschaftliche Einbrüche, Armut, Hunger und Tod – schlicht eine Katastrophe für den betroffenen Staat, für die Wirtschaft, für die Region und vor allem für die Menschen, die es betrifft. Wir alle kennen aus der Vergangenheit viele – in meinen Augen: zu viele – Beispiele solcher Bürgerkriege: Ruanda, Sri Lanka, Liberia, Bosnien, Sierra Leone, Kosovo, Syrien und eben auch Darfur. Das Schwierigste an der Bewältigung von Bürgerkriegen sind dabei nicht in erster Linie die materiellen Schäden, die ergangen sind, wie der Verlust von Hab und Gut oder des eigenen Arbeitsplatzes, sondern es sind die seelischen Wunden, die aktuell bestehen und die in der Regel über viele Jahre bei den Menschen anzutreffen sind. Verluste im eigenen Leben, das erfahrene Leid, die familiäre Situation führen über Jahre hinweg zu Konfrontationen mit den eigenen Mitbürgern. Bei Nachbarn, Freunden und Familie weiß man nicht mehr: Waren sie Teil des Geschehens? Sind sie betroffen? Bürgerkriege ruinieren diese Gesellschaft nachhaltig, weil das Vertrauen einfach nicht mehr vorhanden ist. Es ist deshalb ein mühsamer, schwerer und für viele auch ein riesengroßer Schritt, wieder Vertrauen zu schaffen, um eine Gesellschaft nach einem Bürgerkrieg wieder zu befrieden und zu einen. In Darfur, worüber wir heute reden, dem Ort des Bürgerkriegs im westlichen Sudan, wurde dieser Schritt vor mittlerweile gut zehn Jahren nach einer langen Übergangsphase gegangen. Seit mittlerweile 13 Jahre befinden sich Truppen der UN-Mission UNAMID in Darfur, um die Region zu sichern und zu stabilisieren. Wenn Sie mich fragen: Sie tun das mit Erfolg. Auch wenn man aus heutiger Sicht sagen kann, dass damals zu lange gezögert wurde, so wird heute mehr als deutlich, dass es richtig war, dort auch militärisch einzugreifen, um Menschenleben zu retten. Zum damaligen Zeitpunkt waren einfach schon zu viele Menschen gestorben. Das zeigt die Tatsache, dass Darfur mit seinen 300 000 Todesopfern auch heute noch für einen der schlimmsten Bürgerkriege der jüngsten Geschichte steht. UNAMID hat eine Rückkehr zur Sicherheit in Darfur ermöglicht und damit die Basis für die positive Entwicklung geschaffen, die von den Vorrednern hier auch schon betont worden ist. Mittlerweile werden die Lager von UNAMID sukzessive an die sudanesische Regierung zurückgegeben. Auch die politische Entwicklung im Sudan stimmt mich positiv. Die Absetzung des langjährigen Staatschefs al-Baschir schafft Vertrauen in der vom Bürgerkrieg betroffenen Gesellschaft und ermöglicht einen politischen Neuanfang. Aber – auch das haben die Vorredner bereits richtigerweise angesprochen – wir sehen, wie fragil das Ganze ist. Das Attentat auf den sudanesischen Ministerpräsidenten Hamdok vor wenigen Tagen hat uns deutlich vor Augen geführt, wie gefährlich die Sicherheitslage nach wie vor ist und wie fragil die politische Lage im Sudan auch heute noch ist. Deshalb ist es richtig, dass im Anschluss an die Präsenz von UNAMID darüber geredet wird, wie es im Sudan weitergeht. Ohne eine Folgepräsenz besteht die Gefahr, dass dieses zarte Pflänzchen, das in Darfur zu sehen ist, wieder zertrampelt wird, dass diese positive Entwicklung keine Fortsetzung findet. Es ist unser aller Aufgabe, dafür zu sorgen, dass dieses Schicksal Darfur erspart bleibt. Im Moment – darauf ist ebenfalls schon hingewiesen worden – verrichten vier deutsche Soldatinnen und Soldaten ihren Dienst. Die Höchstgrenze ab April auf 20 abzusenken, ist deshalb logisch und folgerichtig. Ich möchte an dieser Stelle, wie viele meiner Vorredner auch, die letzten Worte dafür nutzen, den Soldatinnen und Soldaten, die dort unten ihren Dienst tun, sehr herzlich für ihren Einsatz zu danken, mit dem sie nicht nur in Darfur, sondern der ganzen Region und damit auch Afrika ein Stück Hoffnung in schwierigen Zeiten geben. Wir werden dem Antrag zustimmen. Vielen Dank. ({0})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der SPD der Kollege Dr. Eberhard Brecht. ({0})

Dr. Eberhard Brecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000254, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich gebe zu: Eine Zustimmung zum heutigen UNAMID-Mandat fällt mir nicht ganz leicht. Dieser UN-Einsatz kann eben nicht die verheerenden Folgen des Klimawandels im Sudan abwenden. Er kann nicht die Auswirkungen des US-Embargos kompensieren. UNAMID trägt nur marginal zur Bekämpfung der Korruption im Lande bei. Und dieser Einsatz war und ist nicht in der Lage, die Gewaltexzesse in Darfur zu beenden. Und dennoch: In Erwartung eines verbesserten Folgemandats, nämlich der Special Political Mission, durch die Vereinten Nationen wäre es fahrlässig, jetzt den demokratischen Kräften des Landes und den Vereinten Nationen die Unterstützung für einen fragilen Friedensprozess zu verweigern. ({0}) Nun haben Sie von der Linkspartei einige Argumente gegen eine weitere deutsche Beteiligung an UNAMID vorgetragen; das war ja die Wiederholung dessen, was Sie schon in der ersten Lesung gesagt haben. Aber wie sollen wir Ihnen glauben, dass Sie heute aufgrund Ihrer Einwände mit Nein stimmen? Sie haben doch mit einem Parteitagsbeschluss von 2013 gegen jegliche Friedenseinsätze der Bundeswehr gestimmt und das Ganze noch mal mit einem fraktionsinternen Papier bekräftigt. ({1}) Das nährt doch den Verdacht, dass Sie diese Grundsätze heute zur Grundlage Ihres Abstimmungsverhaltens machen und nicht Ihre Argumente, die Sie heute vorgetragen haben, als ausschlaggebend betrachten. ({2}) Nehmen Sie doch endlich wahr, was deutsche Soldatinnen und Soldaten für eine Befriedung innerstaatlicher Konflikte weltweit bislang geleistet haben! Lösen Sie sich doch endlich von der abstrusen Behauptung einer Militarisierung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik! ({3}) – Ich verstehe ja Ihre Erregung. – Verstehen Sie doch endlich, dass Ihre Verweigerungshaltung bei Blauhelmeinsätzen und Ihre gleichzeitige Forderung nach einem Austritt Deutschlands aus der NATO auf eine Renationalisierung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik hinauslaufen. ({4}) Da haben Sie natürlich eine gewisse Parallelität zu einer anderen Fraktion in diesem Haus. ({5}) Folgen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion, doch Paul Schäfer, Gregor Gysi und Stefan Liebich, die für sich in Anspruch nehmen, eine Einzelfallprüfung vorzunehmen und danach zu entscheiden, ob sie einer Blauhelmmission zustimmen wollen oder nicht. ({6}) Erst dann sollten wir uns mit Ihren Argumenten auseinandersetzen. Ich bedanke mich und danke auch den Kräften in Darfur, die für uns in Deutschland die Fahne hochhalten. Vielen Dank. ({7})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Dr. Reinhard Brandl für die Fraktion CDU/CSU. ({0})

Dr. Reinhard Brandl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Bei UNAMID in Darfur sind im Moment drei bis vier deutsche Soldaten eingesetzt. Wenn ich das in Veranstaltungen vorstelle, kommt sofort die Frage: Lohnen sich dieser Einsatz, der Aufwand, die Abstimmung heute, die Parlamentsdebatte überhaupt? Ich möchte Ihnen drei Gründe nennen, warum es sich lohnt. Der erste Grund ist: Mit dieser Debatte rücken wir die Situation im Sudan und insbesondere in Darfur wieder in die Öffentlichkeit. In dem Land sind im Moment 1,8 Millionen Menschen binnenvertrieben. Es ist eine humanitäre Katastrophe, die sich jeden Tag dort abspielt; darüber wird in Deutschland kaum berichtet. Die Flüchtlinge sind so arm, sie kommen gar nicht bei uns an. Es gab im Januar, glaube ich, 36 Asylbewerber aus dem Sudan. Wir müssen uns darum kümmern. Es ist gut, dass wir heute auch diskutieren, dass das BMZ die Entwicklungszusammenarbeit mit dem Sudan wieder aufnimmt. Der zweite Grund ist: UNAMID, die Mission, ist wichtig für die Stabilität in Darfur. Die Entwicklung in Darfur ist wichtig und entscheidend dafür, wie es im Sudan insgesamt weitergeht. Es ist vielfach angesprochen worden: Der Sudan ist im Moment in einer Transition. Der schreckliche Machthaber al-Baschir, der international gesucht worden ist, wurde letztes Jahr gestürzt. Im Moment gibt es eine Balance zwischen Militär und ziviler Übergangsregierung. Die Frage, ob es im Sudan tatsächlich zu einem Systemwechsel im Sinne eines inklusiven partizipativen Systems kommt, wird auch davon abhängen, ob es gelingt, die Region Darfur zu befrieden und mit den Rebellen dort zu einer Übereinkunft zu kommen. Dazu leistet Darfur einen wichtigen Beitrag. Drittens. Die Mission in Darfur ist auch wichtig als Symbol für das Engagement Deutschlands. Wir fordern immer, dass sich die Vereinten Nationen viel stärker engagieren müssen. Wir sind mit einer der größten Zahler; deswegen ist es auch wichtig, dass wir uns personell sichtbar engagieren. Wenn Sie mich persönlich fragen: Unser Einsatz bei UNAMID und auch bei UNMISS, den wir jetzt gleich debattieren, könnte auch noch deutlich größer sein. Aber wichtig ist: Wir sind dabei. Und wir sind auch diejenigen, die jetzt gemeinsam mit Großbritannien im UN-Sicherheitsrat in den nächsten Wochen darüber verhandeln, wie die Mission ausgestaltet werden kann. Wenn wir jetzt aussteigen würden, dann wäre das ein Signal an die ganze Welt und auch an die Region, dass wir nicht an den Erfolg und nicht an die Zukunft des Sudans glauben. Das wäre das falsche Signal; deswegen sollten wir heute zustimmen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Deshalb schließe ich die Aussprache.

Dr. Daniela De Ridder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004386, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben heute darüber zu beschließen, ob wir das sogenannte UNMISS-Mandat um ein weiteres Jahr verlängern wollen. Bei diesem UN-Mandat, das auf den Resolutionen 2057 und 2132 beruht, geht es darum, ob wir unsere Bundeswehr mit maximal 50 Soldatinnen und Soldaten in die noch junge Republik Südsudan entsenden wollen. Worum geht es bei diesem Mandat? Was sind die Ziele und Aufgaben dieser Mission? Es geht zunächst, liebe Kolleginnen und Kollegen, um den Schutz von Zivilpersonen vor Gewalt. Es geht aber auch um die Abschreckung und die Verhütung – dieser Punkt ist mir besonders wichtig – von sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt. Es geht außerdem um humanitäre Hilfe, und – das sage ich in meiner Funktion als stellvertretende Vorsitzende des Unterausschusses für Zivile Krisenprävention, Konfliktbearbeitung und vernetztes Handeln – es geht um die Unterstützung bei der Entwicklung von Abkommen zum Abbau von Feindseligkeiten. Wir als Bundestag haben ja nicht nur eine Verantwortung für die Prävention von Krisen, sondern auch für die Nachsorge in Postkonfliktländern. Ich habe, wenn ich auf den Südsudan blicke, Hoffnung, nicht nur, weil der Präsident Salva Kiir dem Oppositionsführer Riek Machar zum Friedens- und Versöhnungsprozess die Hand gereicht hat, nein, die beiden haben sich sogar umarmt – zugegeben: Das war, liebe Kolleginnen und Kollegen, vor Corona. Dennoch dürfen wir nicht vergessen, dass die Welt dort nicht in Ordnung ist – kein Konflikt darf vergessen werden –; denn es gibt hier 200 000 Binnenvertriebene, die der humanitären Hilfe bedürfen. Deshalb will ich – Ihr Einverständnis voraussetzend – nicht nur unseren Soldatinnen und Soldaten dort Dank sagen, sondern auch den Hilfs- und Mittlerorganisationen, die dort tätig sind. ({0}) Ich bin stolz darauf, dass wir vor Ort Hilfe bei der Nahrungsmittelversorgung und vor allem bei der Trinkwasserversorgung leisten können, dass wir einen Beitrag zur Wiederbelebung der Landwirtschaft leisten; denn es ist essenziell, dass die Menschen sich dort ernähren können. Damit leisten wir ergänzend zu dem World Food Programme, das dort hilft, einen substanziellen Beitrag. Lassen Sie mich auf einen Punkt, den ich erwähnt habe, kurz zurückkommen. Ja, es geht um den besonderen Schutz von Frauen, Kindern und Jugendlichen im Rahmen der Resolution 1325 „Frauen, Frieden und Sicherheit“. Ich bin sehr dankbar, lieber Außenminister Heiko Maas, dass Sie dieses zentrale Thema auch mit Blick auf die junge Republik Südsudan im Sicherheitsrat immer wieder ansprechen. Ich finde, dafür gebührt Ihnen ein ausdrücklicher Dank. Danke, Herr Maas, dass Sie sich dafür so einsetzen. Die Frauen, die jungen Mädchen, aber auch die Männer, die unter patriarchaler Gewalt leiden, haben dies verdient. Danke, dass Sie ihren Blick genau auf diese Thematik lenken. ({1}) Das ist gerade im Südsudan besonders notwendig. Es ist ein ermutigendes Beispiel, dass auch Frauen – das reklamieren auch wir immer wieder für uns – an diesen Friedensprozessen und Missionen ganz besonders beteiligt werden, anfangs etwa Hilde Johnson, die Norwegerin, die die Missionsleitung übernommen hatte, und ihr folgend ihre dänische Kollegin Ellen Loj, die das mit unterstützt hat. Ich freue mich darauf, dass wir – so ist jedenfalls die Planung – vielleicht mit einer kleinen Frauendelegation den Südsudan noch in diesem Jahr besuchen können. Deshalb habe ich abschließend eine Bitte, liebe Kolleginnen und Kollegen: Lassen Sie uns im Interesse von leidenden Menschen überall auf der Welt, deren Konflikte und Not wir nicht vergessen dürfen, gesund bleiben. Bitte lassen Sie sich nicht in Panik versetzen! Ernähren Sie sich gut! Trinken Sie viel Wasser! Schlafen Sie viel! Wir brauchen Sie! Danke schön. ({2})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist für die AfD der Kollege Gerold Otten. ({0})

Gerold Otten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004846, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die meisten Redner in der heutigen Beratung werden genügend Argumente anführen, warum sie einer erneuten Verlängerung des Mandats zustimmen wollen. Die Kollegin De Ridder hat ja bereits damit begonnen. Wir werden über die katastrophale humanitäre Lage im Südsudan hören, von der Not der Binnenvertriebenen und der Flüchtlinge, von den Verteilungskämpfen zwischen Dinka und Nuer, die trotz Friedensvertrags andauern und nicht zuletzt in sexualisierter Gewalt und Morden enden. Sicher werden auch der Friedensvertrag von 2018 und die Hoffnung, die durch die jüngsten Ereignisse geweckt werden, Erwähnung finden. Es wird dann heißen, UNMISS sei zentraler Beitrag, um den Friedensprozess zu begleiten, die Lage der Einwohner zu verbessern und die Situation der Flüchtlinge zu stabilisieren. Das alles ist richtig und wird auch von unserer Fraktion nicht bezweifelt. Eines sollten wir aber nicht unbeachtet lassen: De facto hat der Friedensvertrag zunächst nur den Status quo ante wiederhergestellt. Bereits nach der Unabhängigkeit war Salva Kiir Präsident und Machar der Vizepräsident, ein Dinka als Präsident und ein Nuer als Vize; das war der Kompromiss von 2011. Verteilungskämpfe zwischen den Volksgruppen sind allerdings nicht beendet. Im Gegenteil: Die gegenwärtig unterhalb der politischen Ebene lodernde Glut ethnischer Spannungen kann sich jederzeit wieder entzünden. Die jüngsten Kämpfe im Bundesstaat Jonglei zeugen davon. Damit aber eine positive Entwicklung im Land vorangetrieben werden kann, ist ein internationales Engagement im Südsudan weiterhin richtig und wichtig. Doch ich meine, wir sollten uns vor allem damit beschäftigen, welchen Auftrag wir unseren Soldaten mit diesem Mandat erteilen und ob dieser Auftrag mit militärischen Mitteln umsetzbar ist. Gegenwärtig sind zwölf Soldaten im Südsudan im Einsatz. Vier Soldaten nehmen Stabsaufgaben wahr; die übrigen sind als UN-Militärbeobachter eingesetzt. Sie sollen dort unter anderem Beratungs-, Beobachtungs- und Unterstützungsaufgaben wahrnehmen sowie Hilfe bei der technischen Ausrüstung und Ausbildung leisten. Dieser Beitrag ist innerhalb der Führungsstruktur der Mission wichtig. Daher ist der militärische Auftrag ebenso sinnvoll wie die politische Absicht, die mit UNMISS verfolgt wird. Kritik am Mandat wurde bei der ersten Beratung aus zwei Richtungen angebracht. Die Linke meint, für die humanitäre Hilfe brauche man keine Soldaten. Die Grünen wollen mehr Soldaten mit einem robusten Mandat zur Demilitarisierung des Südsudans. Die Position der Linken in ihrer klassenkämpferischen Traumwelt zwischen dem Weltfrieden und der Liquidierung von 1 Prozent der Kapitalisten war vorhersehbar. Wenn Sie aber wollen, dass humanitäre Hilfe auch bei denen ankommt und denen zugutekommt, für die sie bestimmt ist, ist militärische Rückendeckung unumgänglich. Der Vorschlag der Grünen dagegen ist an Heuchelei kaum zu überbieten. Ich zweifle daran, ob sie den militärischen Auftrag wirklich durchdacht haben und am Ende bereit sind, die Verantwortung für die Opfer zu übernehmen, die ein solcher Auftrag mit Sicherheit fordern würde. Dieser Vorschlag kommt ausgerechnet aus der politischen Ecke, die sonst kein Problem hat, Soldaten als Mörder zu bezeichnen und den Soldaten das militärische Wesen zu nehmen, indem die Bundeswehr mit marodem Material ausgestattet bleibt. ({0}) Die Bundesregierung hebt zu Recht das militärische, zivile und nicht zuletzt das finanzielle Engagement Deutschlands hervor. Aus dem Failed State Südsudan soll bestenfalls ein funktionierendes politisches Gemeinwesen werden. Bekanntlich hat die Sahelzone aber auch eine strategische Priorität der EU. Neben Deutschland beteiligen sich unsere skandinavischen Nachbarn sowie Polen, Rumänien und Großbritannien militärisch und bzw. oder zivil an UNMISS. Was ich vorhin für den Sudan gesagt habe, gilt auch für den Südsudan: Wo sind diejenigen, die es als Erste angehen müsste, wenn es um die Stabilität der Sahelzone geht? Beschränkt sich hier etwa Frankreichs Interesse nur auf die vormaligen französischen Kolonien und ihre Rohstoffe? Wenn das Schicksal des Südsudans so eng mit der Sicherheit der EU verbunden ist, dann setzen Sie sich dafür ein, auch weitere Staaten mit ins Boot zu holen. Unsere Stimme für die Fortsetzung des Mandats haben Sie. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Nikolas Löbel. ({0})

Nikolas Löbel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004805, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit 2011 ist der Südsudan unabhängig, und dennoch herrscht seit 2013 ein gewaltsamer Konflikt, der bereits viel zu viele Menschen das Leben gekostet und Millionen Menschen zu Flüchtlingen gemacht hat. Die erste Euphorie über die Unabhängigkeit ist leider der Ernüchterung gewichen, dass eine Unabhängigkeit allein nicht reicht, um den etwa 12 Millionen Menschen Sicherheit vor Verfolgung und Gewalt zu garantieren. Der Südsudan kommt einfach nicht zur Ruhe. Da können auch die bislang halbwegs haltende Waffenruhe und vermutlich auch die gerade erst unter langen Verhandlungen gebildete Regierungskoalition erst einmal keine gravierenden Veränderungen hervorbringen. Korruption, Inflation, hohe Ausgaben für das Militär und ein ungebremstes Bevölkerungswachstum sind die gravierendsten Probleme, denen sich dieses Land ausgesetzt sieht, zumal der Südsudan doppelt so groß ist wie Deutschland. Hinzu kommen eine katastrophale wirtschaftliche Lage, Mangelernährung – etwa 50 Prozent der Menschen im Land leben unterhalb der Armutsgrenze und sind akut von Hunger bedroht – und mangelnde Infrastruktur; besonders der Zugang zu Wasser und zu Sanitärversorgungen sind einfach katastrophal. Eine friedliche Beilegung von Konflikten lässt sich leider nur schwerlich zwischen den unterschiedlichen Volksgruppen durchsetzen. Nur ein Drittel der Bevölkerung kann überhaupt lesen und schreiben. Das sind die Bedingungen, die in diesem Land vorherrschen und die für eine Befriedung des Landes nicht wirklich günstig sind. Dabei ist das Land eigentlich reich an Öl und anderen Rohstoffen. Doch es leidet unter dem berühmten Rohstofffluch. Es kommt einem so vor, als ob der Südsudan aktuell nichts hat außer seiner Unabhängigkeit. Denn an der nötigen Stabilität, die es braucht, um den eigenen Reichtum zum Wohle der Bevölkerung zu nutzen, fehlt es leider. Um diese Stabilität geht es beim UNMISS-Mandat. Der Friedensprozess von 2018 und die lange verschobene, aber nun endlich im Februar geglückte Bildung einer Regierung erscheinen nach langer Zeit wie ein kleiner Hoffnungsschimmer. Doch wie stabil die Koalition zwischen den eigentlichen Rivalen – Kiir als Präsident und Machar als Vizepräsident – sein wird, muss sich auf Zeit zeigen. Experten sind einigermaßen pessimistisch. Das Panel of Experts on South Sudan der Vereinten Nationen war lange der Meinung, dass die Unterzeichner des Friedensabkommens gar keinen politischen Willen besitzen, den Konflikt wirklich beenden zu wollen und Kompromisse herbeizuführen. Friedenssicherung und Konfliktbeobachtung bedürfen also der Präsenz von Friedenssicherungstruppen der UNMISS-Mission. Die deutschen Soldaten leisten dabei einen ganz wesentlichen und wichtigen Beitrag. Der UNMISS-Einsatz leistet einen Beitrag, und er sichert fast 200 000 Menschen, zumeist vor Gewalt geflohenen Menschen, eine sichere Unterkunft in UN-Lagern. UNMISS sichert den Zugang zu humanitärer Hilfe. UNMISS überwacht die Einhaltung von Menschenrechten. Dies gilt es, auch künftig zu unterstützen. Uns in Deutschland ist dabei klar, dass wir in der Welt eine immer stärkere Rolle spielen müssen und wollen und mehr Verantwortung übernehmen müssen. Deshalb ist UNMISS unser Beitrag für einen kontinuierlichen Einsatz für mehr Frieden. Ich bin froh, dass dieser UNMISS-Einsatz unserer Bundeswehr fast über alle Fraktionen hier im Haus eine Unterstützung erfährt. An dieser Stelle einen herzlichen Dank an die zwölf Soldatinnen und Soldaten, die im Rahmen dieses UNMISS-Mandats ihren Dienst leisten. Das Mandat ist es wert, dass wir es heute um ein Jahr verlängern. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der FDP der Kollege Ulrich Lechte. ({0})

Ulrich Lechte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004799, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Gäste auf den Tribünen! Der Frieden zwischen den Konfliktparteien im Südsudan ist keine Selbstverständlichkeit. Wir müssen uns stets vor Augen halten, dass der Frieden im Südsudan nicht deswegen zustande kam, weil die Bürgerkriegsparteien diesen wollten, sondern weil sich die internationale Gemeinschaft eingesetzt hat und den Druck auf die Konfliktparteien erhöht hatte, dass dieser Konflikt endlich aufhören müsse. Doch obwohl die Kampfhandlungen zwischen Dinka und Nuer aufgehört haben, ist der Südsudan immer noch in einem verheerenden Zustand, und das Friedensabkommen steht auf wackligen Beinen. Ein Drittel der Bevölkerung ist auf der Flucht, die Hälfte der Bevölkerung ist auf humanitäre Hilfe angewiesen, Naturkatastrophen gefährden die Lebensgrundlagen der Menschen vor Ort, und innerhalb der Einheitsregierung sind die Gräben tief. In Kürze: Der Südsudan ist zu fragil, als dass er von der internationalen Gemeinschaft alleingelassen werden könnte. Deshalb ist es wichtig und richtig, dass die internationale Gemeinschaft im Rahmen des UN-Mandates den Schutz der Zivilbevölkerung gewährleistet und humanitäre Hilfe möglich macht. ({0}) Auch Deutschland leistet einen wichtigen Beitrag für Frieden und Sicherheit, den die Konfliktparteien in sieben Jahren Bürgerkrieg nie leisten konnten, aber hoffentlich im Zuge dieser Einheitskoalition endlich leisten werden. Doch die Vergangenheit scheint alle Parteien früher oder später einzuholen. So sprach die Vorsitzende der Menschenrechtskommission im Südsudan in ihrem am 9. März vorgestellten Gutachten davon, dass Tötungen, Folter, Vergewaltigungen, Einschüchterungen, Vertreibung, Entführungen und Korruption immer noch die Norm in dem jahrelang vom Bürgerkrieg gezeichneten Staat sind. Darüber hinaus hätten sich beide Konfliktparteien der gezielten Herbeiführung von Hungersnöten verantwortlich gemacht; quasi Hunger als Waffe. Rechtlich mag es zwar noch eine Auseinandersetzung geben – unglaublicherweise –, ob gezielt herbeigeführte Hungersnöte als Kriegsverbrechen einzustufen sind, aber sicherlich nicht menschlich. Für mich waren, sind und bleiben diese Taten verabscheuenswürdige Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung. ({1}) Für das internationale Rechtssystem wird es höchste Zeit, dass das gezielte Herbeiführen von Hungersnöten in kriegerischen Auseinandersetzungen nicht nur vage in anderen Paragrafen als Kriegsverbrechen wiederzufinden ist, sondern unmissverständlich als Kriegsverbrechen anerkannt wird. Der Herr Außenminister hat das bestimmt gehört. Hoffentlich könnten wir mit unseren Partnern in der Welt entsprechend vorgehen und die Paragrafen ändern. Es darf nicht das Zeichen ausgehen, dass man straflos und ungeschoren mit seinen Taten davonkommt. Hieran muss die gesamte internationale Gemeinschaft arbeiten. Die Freien Demokraten stimmen für die Fortsetzung von UNMISS und dies unmissverständlich. Vielen Dank. ({2})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner für die Fraktion Die Linke ist der Kollege Tobias Pflüger. ({0})

Tobias Pflüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004852, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Bundeswehrmission im Südsudan soll heute erneut um ein Jahr verlängert werden. Als Linke haben wir bei den vorherigen Debatten immer wieder zivile Hilfe angemahnt und betont, dass es eine politische Lösung braucht. Das gilt heute umso mehr. ({0}) Am 22. Februar – es war schon die Rede davon – ist die Übergangsregierung der nationalen Einheit gebildet worden, ein wichtiger Schritt. Wir bleiben skeptisch. Allerdings ist es eine wichtige Voraussetzung, damit das 2018 geschlossene Friedensabkommen endlich umgesetzt wird. Wir begrüßen, dass es zu diesen Schritten gekommen ist. Wir werden sie politisch unterstützen. ({1}) Der Bürgerkrieg im Südsudan hat allerdings zu nichts anderem geführt als zu Hunger und Tod und muss endlich beendet werden. ({2}) Um aber einen dauerhaften Frieden zu erreichen, braucht es mehr, als die jetzt 35 Ministerien zu besetzen und die Bundesstaaten neu zu ordnen, was offensichtlich gerade auf der Tagesordnung steht. Vor allem muss das Militär reformiert werden, das heißt konkret, die verschiedenen Armee- und Rebellenverbände müssen zusammengeführt und zugleich abgerüstet werden. Das Land muss nach Jahren des Bürgerkrieges endlich demilitarisiert werden. ({3}) Das alles reicht aber nicht, der Staat muss auch dringend reformiert werden. Ende Februar ist eine dreiköpfige Expertenkommission des UN-Menschenrechtsrates, die UN-Kommission für Menschenrechte im Südsudan, in das Land gereist. Was sie herausfand, ist erschütternd. Die Menschen im Südsudan sind vom Hunger bedroht, weil korrupte Eliten ihnen gezielt Nahrungsmittel vorenthalten. Hunger wird als Waffe in politischen und ethnischen Konflikten eingesetzt. Das ist unerträglich. ({4}) 6,5 Millionen Menschen leiden unter Hunger, besagen die neuesten Zahlen. Da ist es von zentraler Bedeutung, dass gegen die Regierungsbeamten, die sich offensichtlich die Millionen zuschustern, endlich vorgegangen wird. Ich zitiere die Vorsitzende der Kommission, die Menschenrechtsanwältin Yasmin Sooka: Korrupte Staatsangestellte haben schamlos Millionen von Dollar geraubt und damit Millionen südsudanesische Zivilisten um den Zugang zur Grundversorgung gebracht; sie sind strengem Hunger ausgeliefert, während die Korruption eine kleine Gruppe von Staatsbediensteten extrem reich gemacht hat. Das ist eine traurige Bilanz – fast neun Jahre nachdem der Südsudan unabhängig wurde; übrigens mit großer Unterstützung des Westens, auch der deutschen Regierung. Die Bundeswehr ist im Moment im Rahmen von UNMISS mit zwölf Soldaten im Einsatz; möglich wären 50. Wir sehen, dass dieser Militäreinsatz nichts zur konkreten Verbesserung der Situation der Menschen vor Ort beiträgt. Das ist der falsche Ansatz. Wir werden gegen diesen UNMISS-Einsatz stimmen. Er hilft den Menschen vor Ort nicht. Vielen Dank. ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Dr. Frithjof Schmidt. ({0})

Dr. Frithjof Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004145, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mich in den drei Minuten auf drei Punkte konzentrieren. Erstens. Auch wenn bei der UNMISS-Mission viele Fehler gemacht wurden, war und ist sie absolut notwendig. Über 7 Millionen Menschen, rund zwei Drittel der Bevölkerung des Südsudans, sind nach wie vor auf humanitäre Hilfe angewiesen. Die Sicherheitslage dieser Menschen ist prekär. Deshalb ist meine Fraktion dafür, dass Deutschland diese Mission weiter unterstützt, und wird dem Mandat zustimmen. ({0}) An die Kollegen der Linken: Ich habe nicht gehört, ob Sie denn jetzt die UN-Mission überhaupt unterstützen oder nicht. Sie mögen ja zur deutschen Beteiligung noch eine andere Meinung haben; aber es wäre doch wichtig, das mal von Ihnen in Erfahrung zu bringen. Dann müssten Sie gegebenenfalls immer noch erklären, warum Sie an einer sinnvollen Mission, die Sie unterstützen, nicht teilnehmen wollen. ({1}) Zweitens. Dass es vor Kurzem gelungen ist, sich auf eine Einheitsregierung zu einigen, bietet die Chance, die Kämpfe des schrecklichen Bürgerkriegs einzudämmen und vielleicht auch dauerhaft zu beenden. Dafür ist die Fortsetzung von UNMISS unbedingt notwendig. Zugleich schafft diese Situation für die internationale Gemeinschaft aber auch ein politisches Dilemma. Präsident Kiir und Vizepräsident Machar, auf denen einerseits die Hoffnung auf Frieden ruht, sind andererseits beide die schlimmsten Schurken und Kriegsverbrecher des Bürgerkriegs. Sie sind als Chefs der Kriegsparteien verantwortlich für Vertreibungen und Massaker und den Einsatz des Hungers als Waffe. Die Vereinten Nationen müssen mit ihnen kooperieren, um jede Chance auf Frieden für die geschundene Bevölkerung zu nutzen. Zugleich ist aber klar, dass diese beiden Warlords vor den Internationalen Strafgerichtshof gehören. ({2}) Deswegen muss sich die Bundesregierung – drittens – in der UNO für eine Doppelstrategie gegenüber der neuen Einheitsregierung einsetzen. Straflosigkeit für die beiden Kriegsverbrecher, die vor den Internationalen Strafgerichtshof gehören, darf es nicht geben. Es ist auch symbolisch von höchster Bedeutung, dass wir in solch einer Situation nicht sagen: Das können wir jetzt nicht händeln; es gibt halt Straflosigkeit. ({3}) Auch wenn die beiden diejenigen sind – oder vielmehr: gerade weil sie es sind –, die die Geschicke des Südsudans und des Friedensprozesses in der Hand haben, ist es von zentraler Bedeutung, dass wir die Kritik an ihnen nicht aus diplomatischen Gründen unter den Tisch fallen lassen. Diese Kritik muss international aufrechterhalten und fortgeführt werden. Man hat auch lange im Sudan darüber diskutiert, wie man damit umgeht, dass Baschir vom Internationalen Strafgerichtshof gesucht wurde. Man hat jetzt gesehen: Er wird ausgeliefert. – Das ist von hoher symbolischer Bedeutung. Wir sollten in diesem Sinne aktiv weiter Politik machen. Ich erwarte auch von der Bundesregierung, dass sie sich dafür einsetzt. Die hungernde und kriegsmüde Bevölkerung des Südsudans hat es verdient, dass es einen gerechten Friedensprozess gibt. Danke für die Aufmerksamkeit. ({4})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Thomas Erndl. ({0})

Thomas Erndl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004709, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Soldatinnen und Soldaten! Die Hoffnung nie aufgeben – dieser Ausspruch ist bezeichnend für den Südsudan. Nach dem jahrelangen Bürgerkrieg mit über 400 000 Opfern wurde Ende Februar eine Einheitsregierung gebildet. Es ist der 13. Versuch. Zur Wahrheit gehört: Die Einheitsregierung kam nur auf internationalen Druck zustande. Hoffentlich gelingt dieses Mal eine positive Wende für die kriegsmüde Bevölkerung. Die Südsudanesen hegen die Hoffnung, dass der blutige Machtkampf um Einfluss und Ressourcen nun endgültig beigelegt werden kann. Und wir geben nicht auf, wir unterstützen diese Hoffnung weiterhin aktiv. ({0}) Dabei sind die Herausforderungen zahlreich: Erstens: eine immer noch katastrophale humanitäre Versorgungslage. Überschwemmungen, jetzt die Heuschreckenplage: 7 Millionen Menschen sind weiterhin auf humanitäre Hilfe angewiesen. Zweitens: die fragile Sicherheitslage. Es kommt immer wieder zum Ausbruch ethnischer Gewalt. Drittens: die Stabilität der neuen Einheitsregierung. Präsident Kiir und Vizepräsident Machar müssen erst mal dauerhaft akzeptieren, dass militärische Gewalt nicht zur Bewältigung der Herausforderungen führt. Sie müssen die nationale Armee vereinen, sie müssen Streitigkeiten um Bundesstaaten, um die Kontrolle wichtiger Städte lösen, Frieden mit Rebellengruppen schließen, die sich dem 2018 geschlossenen Friedensabkommen verweigert haben. Gleichzeitig werden beide von Hardlinern ihrer jeweiligen Ethnie unter Druck gesetzt, Pfründe zu sichern. Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch wenn der Südsudan über 5 000 Kilometer von uns entfernt liegt – bei der geschilderten Lage können und wollen wir uns weiterer Unterstützung nicht verschließen. Kriegerische Auseinandersetzungen, Not, Elend, mangelnde Perspektiven – das kann nicht das Bild dieser Region bestimmen. Es liegt in unserem Interesse, die Schaffung von Frieden und Sicherheit in der Region zu unterstützen. Wir müssen die Sahel-Sahara-Region stabilisieren, Gewalt, Terrorismus, Migration und humanitäre Katastrophen bekämpfen und verhindern. Wir unterstützen ja nicht nur militärisch bei UNMISS, sondern auch umfassend auf ziviler Seite, mit humanitärer Hilfe und zum Beispiel beim Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen, im Lichte unseres vernetzten Ansatzes. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Ostafrika befindet sich insgesamt in einem positiven Wandel. Der Ausgang im Südsudan ist jedoch noch offen. Wir brauchen weiterhin politischen Druck der internationalen Gemeinschaft auf alle Konfliktparteien. Wir brauchen weiterhin UNMISS, weil die humanitäre Versorgung der Bevölkerung gesichert werden muss und ein Sicherheitsrahmen vorhanden sein muss. Die Präsenz der Blauhelmsoldaten verhindert eine Wiederentfesselung der Gewalt und schützt die Zivilbevölkerung. Ich danke allen Soldatinnen und Soldaten im Einsatz und bitte um Zustimmung zur Verlängerung des Mandats. Herzlichen Dank. ({1})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächstes spricht für die Fraktion der SPD die Kollegin Siemtje Möller. ({0})

Siemtje Möller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004826, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Vereinten Nationen sind ein zugegebenermaßen nicht perfektes, aber unersetzliches Instrument für die gemeinsame Arbeit der Nationen an einer gerechteren und sichereren Weltordnung. Das sagte niemand Geringeres als Dag Hammarskjöld, Friedensnobelpreisträger und Generalsekretär ebendieser Vereinten Nationen. Diese unersetzlichen Vereinten Nationen versuchen, ihrem Auftrag über unterschiedliche Instrumente gerecht zu werden. Ein Instrument sind die friedensbildenden oder sogar friedensschaffenden Maßnahmen in Kriegsgebieten. Denn Frieden stellt sich nicht von allein her. Er ist mühsam erarbeitet, in kleinstteiligen Gesprächen und Verhandlungsrunden aufgebaut. Er will gebildet oder geschaffen werden. Er muss erhalten und stabilisiert werden. Frieden, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, fällt leider nicht vom Himmel. Frieden muss von uns Menschen ermöglicht, er muss von uns gemacht werden. ({0}) Die sogenannten Missionen der Vereinten Nationen haben einen solchen friedensbildenden Charakter. Frieden und Sicherheit für die Bevölkerung zu schaffen, ist dabei oberste Priorität. Mittel und Wege sind zum Beispiel die Schaffung rechtsstaatlicher Strukturen und der Schutz der Zivilbevölkerung. Eine ebensolche Mission ist UNMISS im Südsudan, eine jahrzehntelang von Diktatur und Bürgerkrieg zerfressene Region, ein Land, das sich nun hoffentlich auf den Weg zu machen scheint zu einem friedlicheren Zusammenleben, wo das tägliche Leben noch immer von bitterster Armut und Hunger geprägt ist. Es ist wichtig und richtig, unseren Beitrag im Rahmen von UNMISS weiterhin zu leisten, damit wir dazu beitragen, dass es den Menschen vor Ort ein kleines bisschen bessergeht. ({1}) Unser Beitrag besteht darin, mit bis zu 50 Soldatinnen und Soldaten vor Ort den Friedensprozess zu begleiten, zu beraten, auszubilden und die Konfliktparteien zu beobachten. Es handelt sich vorrangig um Einzelpersonal, das in Stäbe und Hauptquartiere der Vereinten Nationen entsandt wird. Das Mandat soll unter anderem dafür sorgen, dass die Menschenrechte gewahrt werden, die Bevölkerung geschützt wird, ein sicheres Umfeld für Geflüchtete geschaffen wird. Es soll außerdem der Rechtsstaat aufgebaut werden und die Regierung unterstützt werden. Diese hier im Mandatstext festgelegten Aufgaben gehören zur Kernarbeit der Vereinten Nationen und der Friedensarbeit. Sie beschreiben, wie Frieden geschaffen werden kann, und sie beschreiben auch den Kern unseres eigenen Anspruchs an unsere Friedensarbeit. Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor fünf Jahren sagte der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier anlässlich 70 Jahre Vereinte Nationen – ich zitiere mit Ihrer Erlaubnis, Herr Präsident –: Heute, wo die Welt zwar kleiner, aber die Krisen eher größer geworden sind, ist es an der Zeit, aufs Neue zu bekräftigen: Wir Deutschen wollen ein Volk guter Nachbarn sein, für die nahen und die fernen gleichermaßen. Lassen Sie uns in diesem Sinne gute Nachbarn sein, lassen Sie uns diesen kleinen, aber feinen Beitrag weiterhin im Südsudan leisten, um der jüngsten Nation zu einer hoffnungsvolleren Zukunft zu verhelfen. Vielen Dank. ({2})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Jens Lehmann. ({0})

Jens Lehmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004800, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute entscheiden wir über die Fortsetzung des Bundeswehreinsatzes im Südsudan. Nach Jahren des Bürgerkriegs gibt es nun zaghafte Anzeichen auf Frieden. Die Bildung einer neuen Regierung der nationalen Einheit unter Einbeziehung der bisherigen Oppositionsführer ist ein Lichtstreifen am Horizont. Wie mein Kollege Nikolas Löbel bereits erläutert hat, leidet das Land massiv unter den Folgen des jahrelangen Bürgerkriegs. Die Wirtschaft ist trotz großer Erdölvorkommen nahezu vollständig zerstört, auf vielen Ebenen herrscht Korruption im Land. Millionen Menschen sind vor dem Bürgerkrieg geflohen. Dies alles schafft keine Stabilität. Der einzige stabilisierende Faktor im Südsudan ist die UN-geführte Mission UNMISS. Es ist deshalb wichtig, dass wir unseren Beitrag zur Stabilisierung der Lage im jüngsten Staat der Erde leisten. Ich möchte Ihnen auch sagen, warum. Auf Vermittlung und Druck der internationalen Staatengemeinschaft regieren Präsident Kiir und der bisherige Oppositions- und Rebellenführer Machar zusammen und bilden jetzt die lang erwartete Einheitsregierung. Das ist ermutigend. Doch nicht nur mit der neuen Einheitsregierung, sondern vor allem auch mit den Soldaten der UNMISS-Mission verbinden die Menschen die Hoffnung auf Stabilität und Sicherheit im Südsudan; denn sie sind erschöpft vom jahrelangen Krieg, sie sind erschöpft von der bitteren Armut im Land, und sie sind erschöpft von den instabilen Verhältnissen. Die Menschen wollen endlich eine Perspektive. Sie wollen eine gute Regierungsführung. Sie wollen vor allen Dingen Sicherheit. Dies alles geht natürlich nicht von heute auf morgen. Die Ausbalancierung der Interessen der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen im Land ist und bleibt ein Kraftakt für die Regierung, an der sie in der Vergangenheit zu oft gescheitert ist. Deshalb ist es umso wichtiger, den Menschen im Südsudan zu zeigen: Wir unterstützen euch, wir unterstützen die Regierung, damit Frieden im Land Einzug hält. Das Beispiel Kosovo zeigt, dass eine internationale Mission ein Land befrieden, stabilisieren und innerstaatliche Konflikte beilegen kann. ({0}) Dies alles ist auch in unserem Interesse; ({1}) denn der Bürgerkrieg hat zu Tausenden Binnenflüchtlingen geführt, weitere Tausende Menschen sind aus dem Land geflohen. Mit dem Einsatz vor Ort können wir die Lage verbessern und somit den Menschen eine Rückkehr in ihre Heimat ermöglichen. Mir ist bewusst, dass das kleine Kontingent der Bundeswehrsoldaten bei UNMISS keine Wunder bewirken kann. Aber auch wenn die Höchstgrenze von bislang 50 Soldaten noch nicht ausgeschöpft ist – wobei ich die Bundeswehr im Übrigen dazu ermuntere –, sind die Bundeswehrsoldaten im Südsudan wichtig für die Mission und bewirken viel. Die dort eingesetzten Stabsoffiziere führen Männer und Frauen der internationalen Truppe und tragen somit Stück für Stück zur Verbesserung der Lage im Land bei. Dafür möchte ich mich ausdrücklich bei den Soldaten bedanken. ({2}) Deswegen, meine Damen und Herren, unterstützen wir diesen Einsatz. Stimmen auch Sie für die Verlängerung der Mission! Es ist noch ein langer Weg, bis das Land befriedet ist und sich die Situation vor Ort verbessert. Mit Ihrer Zustimmung zur Mission nutzen wir den Schwung im Friedensprozess, der durch die Bildung der nationalen Einheitsregierung entstanden ist. Stimmen Sie zu! Danke schön. ({3})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Deshalb ist die Aussprache beendet.

Harald Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004186, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Gestern bei der Debatte über die Krankenhausfinanzierung hatte ich so ein Déjà-vu-Erlebnis: Nur wenige Rednerinnen konnten zugeben, dass da in der Krankenhauspolitik der letzten 15 Jahre doch einiges heftig schiefgelaufen ist und die Politik daran einen erheblichen Anteil hatte und hat. Der Personalnotstand in den Krankenhäusern, der durch die Zange von Finanzierung mit diagnosebezogenen Fallpauschalen und mangelhafter Investitionsförderung der Länder herbeigeführt worden ist, wird nach wie vor in seiner Dramatik unzureichend wahrgenommen. Zwar ist ein simples Leugnen, so wie ich es noch in den Debatten 2010 erlebt habe, nicht mehr möglich – dafür haben die Proteste und Aktionen der Betroffenen inzwischen zum Glück gesorgt –, ({0}) aber die Maßnahmen kommen zu zaghaft und sehr zögerlich. Die Arbeitsbedingungen in der Pflege müssen jedoch jetzt durchgreifend verbessert werden. Die Bezahlung muss jetzt deutlich nach oben. ({1}) Das ist jetzt notwendig – im Wortsinne: um die Not zu wenden –, damit der „Pflexit“, die Flucht aus dem Beruf, gestoppt und Pflegekräfte wiedergewonnen werden können, die bereits weggegangen sind. ({2}) Und ein Baustein, der die Bedingungen positiv beeinflussen kann, ist die Pflegepersonalregelung 2.0, die in unserem Antrag im Mittelpunkt steht. Es ist doch ein bemerkenswerter Vorgang gewesen, wie man immer wieder betonen muss, dass eine Gewerkschaft, nämlich Verdi, ein Interessenverband der Arbeitgeberseite, nämlich die Deutsche Krankenhausgesellschaft, und eine berufsständische Organisation, nämlich der Deutsche Pflegerat, sich im Rahmen der Konzertierten Aktion Pflege auf ein gemeinsames Konzept für eine bedarfsgerechte Pflegepersonalbemessung haben einigen können. Dass es überhaupt so weit gekommen ist, ist der Erfolg der Kämpfe und Aktionen gegen den Pflegenotstand, die in den letzten Jahren vor allem von den Pflegekräften selbst geführt worden sind. ({3}) Das Motto des ersten Streiks an der Charité „Mehr von uns ist besser für alle!“ ist inzwischen landauf, landab gegangen. Mittlerweile sind in 18 Krankenhäusern Tarifverträge oder vergleichbare Vereinbarungen erzielt worden, die die Entlastung der Beschäftigten und damit eine bessere Patientenversorgung festschreiben. In Berlin, Hamburg, Bremen und Bayern hat es Volksentscheide und Volksbegehren gegeben, die diese Forderung nach einem bedarfsgerechten Pflegepersonalbemessungsinstrument in den Krankenhäusern zum Inhalt hatten. Und auch wenn sie am Ende in der Mehrheit rechtlich verhindert worden sind, so gab es doch insgesamt über 200 000 Menschen, die das mit ihrer Unterschrift unterstützt haben, alleine in diesen drei Städten und einem Flächenland. ({4}) Erinnert sei auch an die Petition von Verdi vor fünf Jahren zu dieser Frage, die mit über 190 000 Mitzeichnungen eine der erfolgreichsten Petitionen gewesen ist. Nun direkt zu unserem Antrag. Als Weiterentwicklung der bis 1996 geltenden Pflegepersonalregelung wäre die PPR 2.0 unmittelbar einsatzfähig, zumal sie als alte PPR in vielen Häusern im Hintergrund immer noch angewendet wird. Und dass dies geht, bestätigt die Testphase, die im November 2019 in bundesweit 44 Krankenhäusern durchgeführt wurde. Maßnahmen wie die Pflegepersonaluntergrenzen-Verordnung und das Pflegepersonal-Stärkungsgesetz zeigen, dass die Bundesregierung und die Koalition das Problem inzwischen erkannt haben und reagieren. Beide Maßnahmen decken jedoch zunächst einmal die Probleme in den Krankenhäusern schonungslos auf, die aus der jahrelangen Wirkung der erwähnten Zange entstanden sind. Die Anteile in den DRGs, die für die Pflege vorgesehen waren, sind über die Jahre zweckentfremdet worden, um mangelnde Finanzierung der Investitionen durch die Länder zu kompensieren. Wenn jetzt die Pflegekosten aus den DRGs rausgerechnet werden, wird dieser Umstand zunächst einmal in Form einer Finanzierungslücke in den Krankenhäusern sichtbar, und das bringt Krankenhäuser natürlich in schwierige Situationen. Wichtige pflegeintensive Stationen in den Krankenhäusern werden mit viel zu wenig Pflegepersonal betrieben, Patientengefährdung inklusive. Das darf nicht so weitergehen! ({5}) Vor inzwischen sechs Wochen hat Staatssekretär Dr. Gebhart auf eine Frage von mir geantwortet – ich zitiere –: „Die Bundesregierung wird das … vorgestellte Pflegebedarfsbemessungsinstrument PPR 2.0 einer zeitnahen und umfassenden Prüfung unterziehen“, und – ich zitiere –: „die Ergebnisse der Prüfung werden zeitnahe kommuniziert.“ ({6}) Ich habe großes Verständnis dafür, dass angesichts der Coronapandemie aktuell die Prioritäten anders gesetzt werden – nicht dass ich da falsch verstanden werde: Ich habe großes Verständnis dafür. – Aber ich habe auch erlebt, dass die mit Corona begründete generelle Aussetzung der Pflegepersonaluntergrenzen-Verordnung bei den betroffenen Pflegekräften überhaupt nicht gut angekommen ist. Deshalb wäre es ein wichtiges und starkes Signal an die Pflegekräfte, wenn unser Antrag von allen demokratischen Fraktionen dieses Hauses und auch der Bundesregierung wohlwollend und ernsthaft beraten und beschieden würde. ({7}) Die Pflegekräfte in diesem Land sind jetzt, angesichts der Pandemie, zusätzlich gefordert. Sie haben es verdient, dass jetzt ernsthaft darüber geredet wird. ({8}) Und ein Letztes: Wir müssen der fortschreitenden Privatisierung und Kommerzialisierung von Gesundheits- und Pflegedienstleistungen ein Ende setzen. Daseinsvorsorge gehört in die öffentliche Hand! Vielen Dank. ({9})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Alexander Krauß. ({0})

Alexander Krauß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004793, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Arbeit der Krankenschwestern in unserem Land ({0}) hat in den vergangenen Monaten eine deutlich größere Wertschätzung erfahren; das war auch notwendig. Das ist gut so, das ist richtig so; denn die Krankenschwestern bei uns im Land machen einen Spitzenjob. Sie gehören zu den Leistungsträgern in unserer Gesellschaft. Seit vorigem Jahr greift unser Sofortprogramm Pflege. Wir haben ja beschlossen, dass jede zusätzliche Pflegekraft voll finanziert wird. Einerseits wird jede Krankenschwester, die zusätzlich eingestellt wird, voll finanziert, und auf der anderen Seite wird jede Tarifsteigerung eins zu eins finanziert. Das war die einschneidendste Verbesserung in den vergangenen Jahren im Krankenhausbereich. Wie war die Situation vorher? Auf der einen Seite haben die Krankenhäuser über die Jahre mehr und mehr Ärzte eingestellt, weil die Ärzte diejenigen sind, die Leistungen abrechnen können. Auf der anderen Seite ist der Umfang des Pflegepersonals bestenfalls gleich geblieben, zum Teil aber auch reduziert worden, weil manche Krankenhäuser in den Krankenschwestern eine Kostenstelle mit zwei Ohren gesehen haben. ({1}) Das war eine vollkommen falsche Einschätzung, angesichts der wir gesagt haben: Wir müssen hier korrigierend eingreifen. – Das haben wir getan, und ich glaube, das war auch richtig so. ({2}) Jetzt liegt ein Vorschlag auf dem Tisch, wie man den Bedarf an Pflegepersonal bemessen kann. Ich danke den Akteuren, die daran mitgewirkt haben; das war ja ein Auftrag aus der Konzertierten Aktion Pflege. Wir sind aufgerufen, diesen Vorschlag zu prüfen, und wir werden ihn auch, Herr Kollege Weinberg, wohlwollend prüfen; dem steht selbstverständlich nichts entgegen. Das heißt aber noch lange nicht, dass wir Ihrem Antrag dann auch wirklich zustimmen. Wir müssen zuerst eine Frage klären: Woher nehmen wir die Pflegekräfte? ({3}) Der Vorschlag besagt, dass man bis zu 80 000 neue Pflegekräfte braucht. Ich sage ganz deutlich: Woher nehmen, ohne zu stehlen? Ich möchte nicht, dass wir Pflegekräfte aus Rehaeinrichtungen oder der Altenpflege absaugen, wo wir 15 000 unbesetzte Altenpflegestellen haben. ({4}) Das möchte ich nicht; vielmehr müssen wir uns da schon ein bisschen mehr Gedanken machen. Wir müssen uns auch mal anschauen, wie die Situation jetzt in den Krankenhäusern ist. Laut Deutschem Krankenhausinstitut gab es im Dezember 17 000 unbesetzte Stellen in der Pflege im Krankenhausbereich. Und einen Monat später kam die Deutsche Krankenhausgesellschaft mit dem Vorschlag, 40 000 bis 80 000 neue Stellen zu schaffen. Wir müssen schon mal gucken, wie wir das übereinanderbringen. Deswegen erwarte ich von der Deutschen Krankenhausgesellschaft, dass sie ein stimmiges Konzept vorstellt, wie sie diese Stellen besetzen möchte. ({5}) Und dieses Konzept – das sage ich auch ganz deutlich in Richtung der Deutschen Krankenhausgesellschaft – darf nicht im Elfenbeinturm in Berlin erstellt werden, sondern das muss mit den Krankenhäusern vor Ort abgestimmt werden, die die Praxis wirklich kennen. Das ist der Auftrag an die Deutsche Krankenhausgesellschaft. Ich möchte nicht verhehlen, was meine Priorität bei dem Ganzen ist. Wenn jetzt 17 000 Stellen in den Krankenhäusern unbesetzt sind, dann erwarte ich, dass diese 17 000 Stellen zuerst besetzt werden, dass man Anstrengungen unternimmt, um das hinzubekommen. Wir haben dazu auch Anregungen durch die Konzertierte Aktion Pflege erhalten; so wurde gesagt, dass wir durch die Ausbildungsoffensive Pflege die Zahl der Auszubildenden erhöhen wollen. Das ist sinnvoll. Das sind aber nur 2 400 pro Jahr. Da bleibt eine kleine Lücke bis 80 000. Wir haben auch gesagt, dass wir mehr ausländische Bildungsabschlüsse anerkennen wollen. Da hat sich die Zahl binnen zwei Jahren auf 10 000 pro Jahr verdoppelt. Aber das reicht alles nicht aus. Wir müssen insofern schon auf die Zahlen schauen und das durchrechnen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich muss leider auch noch auf einen kleinen Schönheitsfehler des Vorschlags hinweisen: Es hängt kein Preisschild dran. – Ich finde, dass die Arbeitnehmer, dass die Arbeitgeber, dass auch die Krankenkassen ein Recht haben, wenn Vorschläge unterbreitet werden, zu erfahren, wie viel die kosten. ({6}) Wenn mir jemand ein Auto verkaufen möchte, dann möchte ich nicht nur wissen, inwieweit die Kosten für die Serviceleistungen steigen, sondern auch, was das Auto eigentlich kostet. Insofern möchte ich auch hier wissen, was es kostet. ({7}) Der Kollege Weinberg hat richtigerweise darauf verwiesen, dass 1993 die Pflegepersonalregelung 1.0, so könnte man sagen, eingeführt worden ist. Sie ist nach drei Jahren beerdigt worden, weil es erhebliche Mehrkosten gab, die man nicht gesehen hat. Das darf uns nicht noch einmal passieren. Es muss, wenn man eine Reform macht, solide durchgerechnet werden, was sie kostet. Lassen Sie mich zusammenfassen: Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir werden den Vorschlag der Krankenhausgesellschaft, des Pflegerates und der Gewerkschaften sehr gern prüfen, weil es gut ist, dass Vorschläge gemacht werden. Bislang handelt es sich um einen Wunschzettel. Die Forderung der Linken ist jetzt, dass wir den Wunschzettel eins zu eins in Gesetzesform gießen. Da wir aber weder Weihnachtsmann noch Osterhase sind, wird das nicht so einfach gehen, sondern wir müssen uns da ein bisschen mehr Gedanken darüber machen: Was ist wirklich realistisch? Was ist machbar? Ich erwarte jetzt, dass zuerst die Krankenhausgesellschaft ihre Aufgaben macht, dass sie uns ein Konzept vorlegt, wie sie die 17 000 unbesetzten Stellen besetzen will und woher sie das Personal nehmen will. Dann können wir auch gern über die Weiterentwicklung sprechen. Auf die entsprechende Diskussion freue ich mich. Vielen Dank und Glück auf! ({8})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist für die Fraktion der AfD der Kollege Detlev Spangenberg. ({0})

Detlev Spangenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004898, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Bedarfsgerechte Personalbemessung in Krankenhäusern einführen, so der Antrag der Linken. Die Linke greift, es wurde eben gesagt, ein Konzept der Deutschen Krankenhausgesellschaft, des Deutschen Pflegerats und der Gewerkschaft Verdi auf. Für mich stellt sich die Frage, warum dieser Antrag überhaupt eingebracht wird, obwohl doch Mitte Januar offiziell die Pflegepersonalregelung im Rahmen der Konzertierten Aktion Pflege, KAP, vorgestellt wurde. Das Bundesministerium für Gesundheit hat doch bereits, wie eben auch gehört, eine Überprüfung bzw. Mitarbeit angekündigt. Insofern ist es nicht nachvollziehbar, warum Sie das jetzt hier einbringen. ({0}) Sie fordern dabei auch noch, dass eine Verordnungsermächtigung durch das Bundesministerium mit eingeführt werden soll. Damit können Sie ja nur leichte Regelungen durchführen. Ich kann auch dabei den Sinn nicht erkennen. Ich möchte darauf hinweisen, dass die AfD auf Drucksache 19/15790 vom 11. Dezember bereits einen Antrag eingebracht hat, aufgabengerechte Personalvorgaben für alle im Krankenhaus tätigen Berufsgruppen einzuführen. Diesen Antrag haben Sie natürlich auch schon wieder abgelehnt. Das ist ja typisch: Wenn es nicht von Ihnen kommt oder von der AfD, muss es abgelehnt werden. Das kennen wir ja. ({1}) Jetzt meine Stellungnahme zu dem, was Sie hier vorschlagen. Die Einführung dieser neuen Regelung würde aus unserer Sicht voraussichtlich mehr Personal kosten, was entweder zur Folge hat, dass bei der gleichen Anzahl von Patienten mehr Pflegepersonal eingestellt werden muss – aber wie? – oder, im Umkehrschluss, bei der gleichen Anzahl von Pflegepersonal weniger Patienten behandelt werden können. Die Nachteile der jetzigen Untergrenzen würden womöglich bestehen bleiben, wobei die Behandlung von weniger Patienten in unserem Gesundheitssystem – ich denke, da sind wir uns einig – nicht vorgesehen ist. Wir sehen es so, dass die Problematik des Personalbedarfs sich nicht nur auf die Kliniken bezieht, sondern auf alle bettenführenden Einrichtungen, zum Beispiel auch auf die Altenpflege. Hierzu gibt es zahlreiche Berichte von Pflegeverbänden, welche eine zu hohe Belastung des Pflegepersonals beklagen. Weiterhin müssen die Einrichtungen auch in der Lage sein, hausinterne Engpässe selbstständig und flexibel zu lösen. Der Präsident der DKG, Gerald Gaß, sprach sich für das sogenannte Ganzhauskonzept aus. Es gibt viele andere Berufsgruppen in den Krankenhäusern, auf welche die Personalbemessung ebenfalls angewendet werden müsste. ({2}) Meine Damen und Herren, allerdings ist eine zeitnahe Umbesetzung dieser neuen Personalregel für die Pflege in allen Klinikbereichen mit Vorbehalt zu betrachten. Es kann kein benötigtes Personal eingesetzt werden, welches auf dem Arbeitsmarkt nicht vorhanden ist; wir haben ja keines. ({3}) – Ich komme noch dazu. – Der Pflegemarkt ist deutschlandweit leergefegt, so ebenfalls Präsident Gerald Gaß, und es ist fraglich, ob diese von Ihnen vorgeschlagene Regelung eine sinnvolle Alternative zur jetzigen Pflegepersonaluntergrenzen-Regelung darstellt. Die Einführung einer generellen Personalbemessung in den Kliniken ist stufenweise – wenn Sie es überhaupt machen wollen – umzusetzen, um den Arbeitgebern die Möglichkeit zu geben, Personal neu zu gewinnen bzw. bedarfsgerecht auszubilden. Meine Damen und Herren, sieht man sich das geplante Regelwerk an, drängt sich der Eindruck auf, dass bei dieser Regelung ein erheblicher Teil der Arbeitszeit des Pflegepersonals für bürokratische Formalien aufgewendet werden muss. ({4}) Zu nennen ist hier vor allem ein sehr hoher Aufwand für Dokumentationspflichten. Dieser verkürzt die effektive Arbeitszeit mit den Patienten. Ich habe Ihnen einmal das Blatt mitgebracht; das kennen Sie ja. Also ich finde das ganz doll. Ich bin Diplom-Betriebswirt und kriege die Krise, wenn ich das lese – sage ich ganz ehrlich –: Es erfolgt eine tägliche Einstufung der Patienten in 4 Leistungsstufen der allgemeinen Pflege (A1 Grundleistungen bis A4 hochaufwändige Leistungen) sowie in 4 Leistungsstufen der speziellen Pflege (S1 bis S4). Jeder A- und S-Leistungsstufe sind entsprechende Minutenwerte zugeordnet. Zudem gibt es für jeden Patienten einen Grundwert pro Tag und einen einheitlichen Fallwert. Die allgemeine Pflege umfasst dabei die Leistungsbereiche der Körperpflege, Ernährung, Ausscheidungen und Mobilisation. – Sagen Sie mal, Sie müssen ja drei Leute haben, die nur mit dem Zettel herumrennen und das alles auflisten. ({5}) Das ist doch Wahnsinn, was hier los ist! ({6}) Also, meine Damen und Herren, dem, der so etwas auflegt, kann ich nur sagen: Katastrophal! ({7}) Sie haben anscheinend noch nie in der Wirtschaft gearbeitet. Das System muss ja pleitegehen, das kann ja gar nicht klappen, wenn Sie so etwas machen. ({8}) Meine Damen und Herren, wünschenswert wäre ein System, welches weniger Bürokratie erfordert. Mit der Kritik an der von der Bundesregierung bisher bevorzugten Lösung, ausländische Arbeitskräfte anzuwerben, steht die AfD nicht allein da. Erfahrungen zeigen inzwischen, dass diese scheinbare Lösung nicht hält, was sie bringen soll; Andreas Mogwitz, Universitätsklinikum Dresden, Marco Schüller, Universitätsklinikum Leipzig, bestätigen diese Ansicht. ({9}) Zielführend ist primär eine Verbesserung der Arbeitssituation für die Pflegekräfte – da können Sie ja wenigstens einmal zustimmen – und damit der Erhalt von aktiven Pflegekräften im Land, meine Damen und Herren. Es gibt immer noch zu viele aktive Pflegekräfte, welche aus dem Beruf herausgehen. ({10}) Sie brechen die Ausbildung ab und stehen damit nicht mehr zur Verfügung. Es sollte vorrangig – das ist unsere Meinung – die Nutzung der potenziellen Ressourcen im eigenen Land mal geprüft werden. ({11}) Wir haben über 2 Millionen, ich glaube 2,4 Millionen, Arbeitslose in Deutschland. Vielleicht können wir mit denen einmal reden, vielleicht kann man denen eine Perspektive aufzeigen. Allemal besser als das, was Sie immer so vorschlagen. ({12}) Meine Damen und Herren, wir sehen es so, dass zuerst sämtliche Mittel der Hilfe zur Selbsthilfe im Inland ausgenutzt werden sollten, und erst wenn diese ausgeschöpft worden sind, dann können wir über weitere Maßnahmen nachdenken. ({13}) Man sollte bedenken, dass die Anwerbung von Pflegekräften aus dem Ausland einen Pflegekräftemangel in denjenigen Ländern hervorruft, aus denen Sie die Pflegekräfte abziehen. Was Sie da machen, ist Neokolonialismus: Wir schicken Entwicklungshilfe hin und holen die Arbeitskräfte raus. – Das ist doch völlig sinnlos, was Sie hier aufziehen. ({14}) Meine Damen und Herren, im Kosovo beispielsweise ist laut Medienberichten – und wir wissen ja, die Medien sagen nur Wahres; „Lügenpresse“ gibt es ja nicht – inzwischen ein tiefgreifender Mangel an medizinischen Fachkräften entstanden. Das ist Folge Ihrer Politik: Entwicklungshilfe rein und dafür Arbeitskräfte wieder raus. Meine Damen und Herren, wir dürfen die Schwierigkeiten bei uns nicht auf Kosten anderer Länder beheben. Letzter Satz. Zu berücksichtigen ist auch, dass die angeworbenen Pflegekräfte vorrangig wegen der besseren Bezahlung nach Deutschland kommen. Das ist klar. Aber hier stehen wir in Konkurrenz mit der Schweiz, mit Österreich, mit Skandinavien, mit Holland. Die haben teilweise noch bessere Entlohnung und bessere Bedingungen. Das heißt also, die angeworbenen Kräfte könnten gegebenenfalls nur kurz bei uns bleiben und gehen dann in diese Länder oder zurück in die Heimat. Ich muss noch einmal eines sagen: Was wir hier haben, ist – da gebe ich Ihnen recht – hausgemacht; es ist ja schon seit vielen Jahren Thema. Ich frage mich, was Sie überhaupt bisher gemacht haben, wo Sie regiert haben. Wir haben Universitäten, wir haben Hochschulen, wir haben doch Statistikerlehrstühle; die können Prognosen erstellen, die können genau ausrechnen anhand der Bevölkerungsentwicklung, wie alt die Leute werden, was für Krankheiten sie bekommen, was sie brauchen. Das gleiche Problem wie bei Lehrern: Sie sind unfähig, den Laden zu regieren. Vielen Dank, meine Damen und Herren. ({15})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der SPD der Kollege Dr. Edgar Franke. ({0})

Dr. Edgar Franke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004033, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gute Pflege im Krankenhaus braucht immer einen fairen Rahmen. Eine bedarfsgerechte Pflegepersonalbemessung könnte Teil eines solchen Rahmens sein – das sage ich ausdrücklich Richtung Harald Weinberg –; denn Pflegekräfte, das ist so, stehen in unseren Krankenhäusern unter großem Druck. Warum ist das so? Auch Harald Weinberg hat es angesprochen: Weil die Einnahmen der Krankenhäuser aus den Fallpauschalen tatsächlich zweckentfremdet werden, und zwar für Investitionen; ich habe es gestern gesagt. Und zuständig für Investitionen sind eigentlich die Bundesländer. Für diese Investitionen sind die Fallpauschalen nämlich nicht gedacht – und trotzdem muss aus diesen viel Geld dafür erwirtschaftet werden. Das ist ein Strukturproblem. Meine sehr verehrten Damen und Herren, man rechnet ungefähr, dass dieses Jahr oder letztes Jahr 4 Milliarden Euro im Jahr fehlten; hochgerechnet auf die letzten zehn Jahre fehlten 30 Milliarden Euro. Diese Unterfinanzierung haben in der Vergangenheit – auch das muss man ausdrücklich sagen – die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Krankenhäusern und die Patienten ausbaden müssen. Deshalb müssen die Länder endlich mehr Geld in die Hand nehmen. Und wir müssen dafür sorgen, dass sich die Länder um eine bedarfsnotwendige Finanzierung der Krankenhäuser nicht drücken können. Sonst – das sage ich hier auch – ist die duale Krankenhausfinanzierung nicht mehr zu halten; das muss man hier im Bundestag ganz klar sagen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, Verdi mahnt zu Recht an: Viele Pflegekräfte haben mit enormer Arbeitsverdichtung zu kämpfen. Wir als Politik, auch wir als Große Koalition, wir als Bund, wenn Sie so wollen, haben – Herr Krauß hat es gesagt – gehandelt. Wir haben die Pflegekosten aus den Fallpauschalen herausgelöst. Wir finanzieren komplett die Tarifsteigerung. Auch jede neue Pflegestelle wird zu 100 Prozent refinanziert. Wir haben zusätzlich in allen bettenführenden Abteilungen Personaluntergrenzen eingeführt. Also, es lohnt sich in Krankenhäusern nicht mehr, auf Kosten des Personals zu sparen, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({0}) Auch dafür haben wir als Große Koalition gesorgt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, inzwischen refinanzieren wir also die Pflege ab diesem Jahr komplett. Das bedeutet: Egal wie viele Pflegekräfte eingestellt werden, sie werden von den Kassen bezahlt. ({1}) Das ist gut, und das ist richtig. Aber wir brauchen auch ein Korrektiv, sonst haben wir einen Vertrag zulasten Dritter. Die Kassen sollen ja nur die bedarfsnotwendige Pflege bezahlen müssen. Das, glaube ich, ist nachvollziehbar. Insofern könnte die an den tatsächlichen Bedürfnissen der Pflege ausgerechnete Personalbemessung ein ideales Korrektiv sein, um das zu begrenzen. Auch deswegen, aber nicht nur deswegen begrüßen wir als SPD-Fraktion grundsätzlich den Vorschlag der Pflegepersonalregelung, die PPR 2.0. Der Vorschlag – auch das hat Harald Weinberg gesagt – wurde gemeinsam von der Deutschen Krankenhausgesellschaft, dem Deutschen Pflegerat und Verdi entwickelt – eine überraschende Koalition. Man fragt sich schon, wie der Hintergrund ist. Auf jeden Fall lohnt es sich, auf diesen Vorschlag einen Blick zu werfen. Wir wissen ja, dass der Pflegebedarf im Krankenhaus auf Basis von Minutenwerten gemessen wird. Das ist sicherlich sinnvoll. Diese Minutenwerte sollen auch den individuellen Pflegebedarf der Patienten ermitteln, und sonstige Aufgaben ohne direkten Patientenbezug sollen hier eingerechnet werden. Wir haben schon gehört, liebe Kolleginnen und Kollegen: Dem Gesundheitsministerium liegt der Vorschlag vor. Das Gesundheitsministerium hat dankenswerterweise festgestellt, dass es sich mit diesen Vorschlägen auseinandersetzen will. Wir Sozialdemokraten jedenfalls sind der Meinung: Der Vorschlag geht zumindest in die richtige Richtung. Wir müssen sicherlich immer aufpassen, dass solche Instrumente nicht zu unnötiger Bürokratie führen. Aber man braucht auch ein Stück weit Bürokratie, um zu dokumentieren, Herr Spangenberg. Es ist so, dass wir klären müssen, ob wir die Personaluntergrenzen, die rote Haltelinie, vor Ort noch brauchen. Das muss sicherlich geprüft werden. Sie wissen: Aktuell haben wir diese Untergrenze ausgesetzt, um die Krankenhäuser im Zusammenhang mit dem Coronavirus zu unterstützen, um möglicherweise, wenn es ernst wird, einen flexiblen Pflegeeinsatz zu gewährleisten. Das ist vorausschauend und hat nichts mit der täglichen Praxis zu tun. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, es ist richtig, wenn wir uns alle an einen Tisch setzen, wenn wir zusammen Pflegepersonalbemessungsinstrumente diskutieren; denn Pflegekräfte brauchen etwas, was ihnen im Pflegealltag oftmals fehlt, nämlich Zeit; Zeit, um dem Patienten mehr Zuwendung entgegenzubringen. Ich muss eins ganz klar sagen: Empathie, menschliche Zuwendung lassen sich nicht durch Effizienz, nicht durch Standardisierungen und auch nicht durch noch so genaue Pauschalen ersetzen, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende.

Dr. Edgar Franke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004033, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Schluss. – Wir Sozialdemokraten wollen die Rahmenbedingungen in der Pflege weiter verbessern. Mehr Pflegekräfte, bessere Arbeitsbedingungen und auch mehr Geld in der Pflege: Das ist und bleibt der rote Faden sozialdemokratischer Gesundheitspolitik, aber das ist auch, denke ich, ein roter Faden unserer Koalitionsarbeit, die wesentlich besser ist, als sie manchmal dargestellt wird. Danke schön. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Kollege. – Für die FDP-Fraktion hat das Wort der Kollege Professor Dr. Andrew Ullmann. ({0})

Prof. Dr. Andrew Ullmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004922, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ja, wir brauchen mehr Pflegekräfte. Der Mangel ist groß. In der Coronapandemie wird dies noch deutlicher werden. Gerade Pflegekräfte auf der Intensivstation brauchen wir dringend, um diese noch anlaufende Pandemie zu meistern. Doch wo stehen wir heute? Das PpSG ist meiner Meinung nach bereits gescheitert. Der Personalnotstand in der Pflege hat sich in Deutschland nicht ausreichend geändert; denn die Gründe des Pflegenotstands wurden nicht beseitigt. Seit Jahren klagen die Pflegekräfte über unhaltbare Zustände in den deutschen Krankenhäusern, und geändert hat sich bislang nichts. Kolleginnen und Kollegen, als ich vor zwei Jahren in den Bundestag gewählt wurde, wurde ich von meiner Station mit den Worten verabschiedet: Bitte vergiss uns nicht. – Das kam vor allem von den Pflegekräften. Mir ist sehr bewusst, auch als Arzt: Die machen einen Superjob, arbeiten bis an ihre Leistungsgrenze. Es ist an der Zeit, dass wir endlich Danke sagen; denn diese Menschen halten dieses marode System aufrecht. ({0}) Mutig müssen wir die Herausforderungen anpacken; denn die Zeit drängt. Hauptursache dieser Probleme im stationären Sektor sind die zu hohen Fallzahlen und zu viele Leistungen in zu vielen deutschen Kliniken. Die seit Jahren – Herr Franke hat es gerade angesprochen – ungenügende Finanzierung seitens der Länder, die auch die Unikliniken betrifft, wurde durch Mengenausweitungen und Personaleinsparungen, insbesondere bei Pflegekräften und anderen nichtärztlichen Kräften, kompensiert. Das geschah in den Kliniken freilich nicht in böser Absicht, sondern um Standorte am Leben zu erhalten, die für die medizinische Versorgung vielfach nicht ausreichend ausgestattet sind. Ausgelaugte und an ihren Kapazitätsgrenzen arbeitende ärztliche und nichtärztliche Kräfte sind demnach in diesen hochtourig laufenden Hamsterrädern gefangen. Doch durch die zunehmende Arbeitsverdichtung driften für viele im Krankenhaus Tätige das persönliche Berufsverständnis und die medizinische wie auch pflegerische Realität immer weiter auseinander. Es bleibt kaum noch Zeit für die Patienten, keine Zeit für sprechende und zuwendende Medizin. Da hat Edgar Franke recht: Daran ist sicherlich auch die duale Finanzierung mit schuld. Das müssen wir gemeinsam ändern. Ich habe mich gefreut, als ich die Signale von der SPD gerade gehört habe. ({1}) Durch die Personaluntergrenzen hat sich die Versorgungssituation verschlechtert. Pflegebereiche kannibalisieren sich gegenseitig. Pflegekräfte werden aus der ambulanten Versorgung in Krankenhäusern abgeworben. Andere Krankenhäuser bekommen keine Bewerbungen. Intensivbetten, und das gerade in der Coronakrise, werden wegen der Nichteinhaltung der Personaluntergrenzen geschlossen. ({2}) – Schauen wir mal. Das zeigt, wie unflexibel das System mit sturen planwirtschaftlichen Elementen ist. ({3}) – Wenn Sie eine Frage haben, können Sie eine Frage stellen. Ansonsten möchte ich gerne weitermachen. Per se ist die PPR 2.0 brauchbar. In der Planung ist es gut, zu wissen, welches Personal notwendig ist, um eine qualitativ hochwertige gesundheitliche Versorgung zu gewährleisten. Doch wir gehen nicht an die Ursache. Auf dem freien Markt fehlen Fachkräfte. Herr Krauß hat es richtig gesagt: Bis zu 80 000 Fachkräfte fehlen in den Krankenhäusern und für die Pflegestellen. Meine Frage ist: Woher sollen wir diese Kräfte nehmen? Das PpSG war bisher nicht erfolgreich. PPR 2.0 wird diesen Mangel auch nicht kompensieren. Regelungen mit solchen planwirtschaftlichen Elementen, meine Damen und Herren, sind zum Scheitern verurteilt. Es gilt vielmehr, das Grundübel zu beseitigen. ({4}) – Wenn Sie eine Frage haben, dann fragen Sie bitte. – Das sind die fehlende Krankenhausstrukturreform, schlechte Finanzierung der Krankenhäuser, fehlende Fachkräfte und fehlende Ausbildungsinitiativen. Was wir jetzt brauchen, liebe CDU, ist eine echte Pflegeausbildungsoffensive. Die Pflegeausbildungsoffensive, die wir bisher haben, ist ein Tropfen auf den heißen Stein. Wer wirklich eine nachhaltige Gesundheitsversorgung haben will, muss sich von den liebgewonnenen Planelementen verabschieden und muss neben einer Krankenhausstrukturreform in die Ausbildung eines attraktiven und zukunftsorientierten Berufes investieren. Ich wünsche Ihnen: Bleiben Sie bitte gesund. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Kollege. – Die nächste Rednerin: die Kollegin Kordula Schulz-Asche, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Kordula Schulz-Asche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004405, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die ganze Welt redet heute darüber, wie wir die Coronaepidemie in den Griff bekommen. ({0}) Ich glaube, wir werden dafür alle zusammenwirken. Aber ein wichtiger Teil, um dieses Problem zu lösen, ist Solidarität; Solidarität mit den betroffenen Menschen; Solidarität aber auch mit den Menschen, die im Gesundheitsbereich arbeiten. Das gilt auch ganz besonders für die Pflegekräfte; denn das sind die Personen, die am meisten Kontakte mit den Patienten und Patientinnen haben. ({1}) Meine Damen und Herren, die besondere Rolle der Gesundheitsberufe müssen wir tatsächlich ansprechen, insbesondere die Pflege, insbesondere die Fachpflege, und zwar nicht nur die in den Krankenhäusern, sondern auch diejenige in den Heimen und im häuslichen Bereich. Meine Damen und Herren, ohne eine gute Pflege werden wir es nicht schaffen, die demografischen und auch unsere aktuellen Probleme zu lösen. Wir brauchen starke Pflegekräfte. ({2}) Ich – aber nicht nur ich – beklage hier an diesem Pult seit Jahren, dass die Pflege nicht ernst genommen wird, dass die Pflegekräfte nicht mehr ausreichen. Ich habe eine Kollegin, die mir gerade erzählt hat, dass sie gestern bei einer Veranstaltung mit 1 000 Pflegeschülern war. ({3}) – Entschuldigung, mit 100 Pflegeschülern. ({4}) – Sonst hätten wir ein Problem; Entschuldigung. – Auf die Frage, wer von diesen Pflegefachschülern überhaupt in den Beruf gehen will, haben sich nur 10 Prozent der Anwesenden gemeldet. Das ist die Situation, die wir im Moment haben. ({5}) Deswegen müssen wir daran arbeiten, dass es bessere Arbeitsbedingungen gibt. Deswegen bin ich so froh, dass Bündnis 90/Die Grünen jetzt die 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich fordert. Ich glaube, wir müssen endlich ernsthaft darangehen; denn wir brauchen ein ganzes Bündel von Maßnahmen – dazu gehören auch Fachkräfte aus dem Ausland –, wenn wir den Pflegenotstand endlich beenden wollen. ({6}) Nun kann man tatsächlich nicht sagen, dass diese Regierung nichts getan hat, um dagegen etwas zu unternehmen. Ein Beispiel ist das, worüber wir gerade reden bzw. worauf sich der Antrag der Linken bezieht, nämlich die Personaluntergrenzen in den Krankenhäusern für bestimmte Fachabteilungen. Kollege Weinberg, ich bin ein bisschen verwundert, weil ich mich gut erinnern kann: Als wir das Gesetz hier beraten haben, haben Sie das auch sehr kritisch gesehen. Heute haben Sie es verteidigt. Das fand ich jetzt etwas erstaunlich. Meiner Meinung nach ist das ein falscher Ansatz; denn wir haben gesehen, dass die Personaluntergrenzen zum faktischen Standard bei der Personalbedarfsbestimmung wurden, und das ist genau das Problem, das wir mit diesen Untergrenzen haben. ({7}) Meine Damen und Herren, wir brauchen keine Untergrenzenfestlegung, keine Verschiebung zwischen einzelnen Fachbereichen und Berufsgruppen in der Pflege, sondern wir brauchen dringend eine ganz konkrete Personalbemessung, die sich am tatsächlichen Pflegebedarf orientiert. Dafür gibt es Instrumente, und diese Instrumente müssen jetzt schnell eingeführt werden. ({8}) Der Standard, den wir brauchen, ist nicht die Untergrenze; der Standard, den wir brauchen, ist gute Pflege. ({9}) Wir werden dem Antrag der Linken zustimmen, ({10}) weil wir der Meinung sind, dass im Rahmen der Konzertierten Aktion Pflege tatsächlich das Ziel war, Vorschläge zu entwickeln. Wir haben hier einen Vorschlag vorliegen, der jetzt von der Linken per Antrag eingebracht wird. Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Das ist nicht die Lösung, aber es ist ein wichtiger Zwischenschritt, und deswegen werden wir ihm zustimmen. ({11}) Wir müssen doch endlich begreifen, dass wir in diesem Bereich nicht mehr weiter reden können, sondern dass wir handeln müssen. Das heißt, dass wir auch sicherstellen, dass die Finanzierung der Pflege auf eine andere Grundlage gestellt wird, als wir das bisher haben. Wir haben das Problem, dass jede Qualitätsverbesserung, wenn wir sie dann durchbekommen, im Moment in bestimmten Bereichen ausschließlich von den Pflegebedürftigen bezahlt wird. Auch das ist eine Verwerfung in der Finanzierung unseres Systems, also nicht nur die unzureichende Finanzierung der Krankenhäuser, sondern auch die unglaublich ungerechte Finanzierung der Pflege in Pflegeheimen und in der häuslichen Pflege. ({12}) Deswegen brauchen wir eine grundsätzliche Debatte über die Finanzierung von guter Pflege. Meine Damen und Herren, die Gesellschaft braucht nicht nur beste Pflegefachkräfte – das gilt immer, aber erst recht in der aktuellen Situation –, sondern wir brauchen als ganze Gesellschaft gute Pflege. Ich danke Ihnen. ({13})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der Kollege Dr. Roy Kühne hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Roy Kühne (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004334, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gleich zu Anfang möchte ich ganz deutlich betonen: Ich bin dankbar für den Antrag der Linken, weil er sich mit einem Thema beschäftigt, das draußen nicht mehr wegzudiskutieren ist und das unmittelbar sehr viele Menschen betrifft. Ich glaube, jeder spürt in seinem unmittelbaren Umfeld täglich: Mangel an Pflege, demotivierte Pflegekräfte, Pflegekräfte, die nach fünf bis acht Jahren, statistisch gesehen, zu 50 Prozent diesen Beruf verlassen und lieber ungelernt irgendwo weitermachen, anstatt sich einem zukünftigen Burn-out hinzugeben. Deshalb sehe ich diesen Antrag erst einmal als sehr löblich. Ich finde ihn auch deshalb gut, weil wir – ich sage es noch einmal – gar nicht aufhören können, uns mit diesem Thema zu beschäftigen, solange wir nicht sicherstellen können, dass draußen die Pflege für unsere Angehörigen, für unsere Eltern gewährleistet ist, und solange nicht ausgeschlossen ist, dass am Ende des Tages dann wieder eine Pflegekraft zu ihrem Arbeitgeber geht und sagt: Schluss, aus, ich will hier nicht weitermachen. Deshalb sage ich hier noch einmal explizit: Danke für den Antrag, aber auch in aller Öffentlichkeit ein Dank an alle fleißigen Pflegekräfte draußen, die in dieser politisch wie medizinisch momentan sicherlich schwierigen Situation bewunderungsvoll ihren Job machen, an vielen Patienten arbeiten, natürlich auch im Kontext von Corona. ({0}) Bei näherer Betrachtung, liebe Kolleginnen und Kollegen, kann ich sagen, dass der Antrag einige Dinge enthält, die wir sicherlich bedenkenlos unterschreiben können. Aber bei vielen Dingen birgt er auch Gefahren. Ich will es einmal so formulieren: Vielleicht ist er auf der einen Seite zu kurz gedacht, vielleicht auf der anderen Seite aber auch falsch gedacht. Es wurde schon mehrfach gefragt – die von mir sehr geschätzte Kollegin Kordula Schulz-Asche hat das eben auch gesagt –: Was ist mit dem Rest? Auf wessen Kosten wird eine solche Personaluntergrenze, also diese Personalreserve, denn gemacht? Wir sehen es draußen. Es treibt wirklich verschiedenste Blüten. Ich möchte in diesem Zusammenhang ganz kurz aus dem Antrag zitieren: „Hierbei ist besonders zu beachten, dass die vollständige Refinanzierung der Pflegepersonalkosten sichergestellt wird …“ Das ist natürlich löblich, führt aber wiederum zu der zweiten Frage – auch das wurde bereits gesagt –: Wie soll das bezahlt werden? Wir haben Stilblüten. Ich möchte aus dem Internet zitieren, ohne jetzt den Namen der Klinikkette zu nennen: …-Kliniken kämpfen mit Geldprämien gegen Personalmangel Suche Pfleger, biete 8 000 Euro Und weiter: Die Willkommensprämie ist gestaffelt von 2 000 bis 8 000 Euro. Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger erhalten bis zu 8 000 Euro, Krankenpfleger bis zu 6 000 Euro, Altenpfleger bis zu 2 000 Euro, medizinisch-technische Assistenten und operationstechnische Assistenten bis 4 000 Euro und Arzthelfer und medizinische Fachangestellte im OP bis zu 2 000 Euro. Demjenigen, der wirbt, winkt ein „Kopfgeld“ von 1 000 Euro. Das will ich nicht – das sage ich Ihnen ganz offen –, weil das natürlich zu einer Verschiebung führt. Wenn dann der Wettbewerb auf Kosten der Ambulanz stattfindet, müssen wir uns selbstverständlich auch die Frage gefallen lassen: Wer ergreift denn hier die Initiative für Frau Meier, die nach einer Hüftoperation zu Hause ambulant versorgt werden will? Frau Meier ist 80 Jahre und hat einen Mann gleichen Alters und möchte ganz gern zu Hause gepflegt werden, noch dazu in einer ländlichen Region. Es ist keiner da, weil vorher der ambulante Pflegedienst seine Fachpflegekräfte aufgrund solcher Werbung an Akutkrankenhäuser verloren hat. Weiterhin nenne ich die junge Frau, 35 Jahre, doppelte Brustamputation wegen einer Krebserkrankung. Sie kann nicht Auto fahren und lebt ebenfalls in einer ländlichen Region: Wer versorgt diese Frau mit Pflege? Ganz ehrlich: Ich möchte keinen Wettstreit zwischen der ambulanten und der stationären Versorgung haben. Natürlich verstehe ich es, wenn Krankenhäuser, Verdi und DKG sagen: Jawohl, wir wollen die Pflegepersonalregelung, wir wollen diese Zahlen haben. -Aber noch mal: Ich bitte, bis zum Schluss zu denken und zu gucken, welcher Dominostein denn am Ende umfällt. Dies hier – und es findet täglich statt – ist übrigens nicht das Ergebnis von heute, sondern einer Praxis in der Vergangenheit, nämlich dass seit ein paar Jahren schon aktiv Kopfgeld gezahlt wird. Wir müssen aufpassen, dass es da nicht eine stationäre Versorgung auf Kosten der ambulanten gibt. Bei allem Respekt: Die Versorgung im Krankenhaus ist immens wichtig; aber wir können nicht den Schritt machen, dass wir in den Bereich Krankenhaus investieren und im ambulanten Bereich die Kräfte verlieren. Sie können draußen niemandem erklären, dass Telefonanrufe für Betroffene so enden: Tut uns leid, wir haben leider keine Pflegekräfte; die sind übrigens gestern ins Krankenhaus gewechselt. 80 Prozent der pflegebedürftigen Menschen in Deutschland werden in der ambulanten Pflege versorgt. Wir sind ein ländlich geprägtes Land. Ja, wir haben Ballungszentren, München etc. pp. Aber viele wohnen halt schlichtweg in der ländlichen Region, und da gehört Fahrzeit dazu. Und deshalb müssen wir genau diesen Ansatz fahren, für einen fairen Wettbewerb zu sorgen. Ich frage mal: Wer ist denn der sogenannte Lobbyist? Offensichtlich sind es nicht die Krankenhausgesellschaft, Verdi und Co, die für die ambulante Versorgung von Frau Meier und der Oma eintreten. Hier muss ebenfalls eine gerechte Lösung gefunden werden. Wir müssen auch weiter dem Umstand Rechnung tragen, dass natürlich Wettbewerb stattfindet. Bestes Beispiel: Die Mutter arbeitet im Krankenhaus, ist dort entsprechend auch gut situiert, kriegt entsprechend TVöD-Gehalt. Die Tochter hat diesen Beruf über die Mutter kennengelernt, übt ihn ebenfalls aus, findet aber nur in der ambulanten Versorgung einen Arbeitsplatz. Wie ist dort die Frage der Rechtfertigung? Beide treffen sich, reden über Ausbildung, reden über Fortbildung, reden über Gehalt. Ich kann verstehen, dass irgendwann die Tochter sagt: Na ja, Schluss, aus – wie soll es hier denn weitergehen? Ich möchte meinen lieben und von mir geschätzten Kollegen Erwin Rüddel zitieren. Erwin, wir sprachen gestern über Krankenhausfinanzierung. Da hast du gesagt: Ich möchte keinen ruinösen Wettbewerb zwischen den Krankenhäusern. – Dieses würde ich ganz gern erweitern: Ich möchte keinen ruinösen Wettbewerb zwischen ambulanter und stationärer Versorgung. ({1}) Ich verweise weiterhin auf Rudolf Henke. Was ist gesagt worden? Wir haben gestern ebenfalls über das FKG geredet, also über das Fairer-Kassenwettbewerb-Gesetz. Wir reden dort über Wettbewerbsverzerrungen. Wir reden dort ganz gezielt über Punkte, bei denen Krankenkassen uns die Türen einrennen und sagen: Die kriegen mehr, die kriegen weniger, das Risiko ist dort höher, dort weniger hoch. – Lassen Sie uns doch bitte darüber nachdenken, wie wir über diese faire Gestaltung mal grenzüberschreitend diskutieren können, also nicht nur über eine faire Gestaltung zwischen Krankenhäusern, sondern wirklich zwischen den Leistungsanbietern, die im ambulanten und im stationären Bereich arbeiten. Wir müssen irgendwelche Anreize setzen, dass Leute nicht immer nur sagen: „Ich bleibe jetzt im Krankenhaus“ oder „Ich gehe nur ins Krankenhaus“, sondern wir müssen auch wertvolle Anreize monetärer Art setzen, damit Leute sagen: Ich bleibe in der ambulanten Versorgung, ich möchte nicht dieses Kopfgeld kriegen. – Dabei geht es natürlich darum – das wurde gestern auch gesagt –, sozusagen gleich lange Spieße zu setzen. Ich bin unserem Ministerium dankbar, dass hierüber wirklich die verschiedensten Ansätze diskutiert werden. Sprich: Das Gehör ist dafür offen. Es wurde auch schon mehrfach diskutiert, in welche Richtung wir gehen wollen. Lieber Edgar Franke, ich rede jetzt nicht von einem roten Faden, sondern ich rede von einem Faden, den wir im Rahmen der Arbeit der Großen Koalition durch das Gesundheitssystem ziehen wollen. Darüber gibt es natürlich auch eine entsprechende Diskussion mit den Ländern. Ja, vor dieser Diskussion mit den einzelnen Landesfürsten dürfen wir uns auch nicht scheuen. Na klar ist das immer in der Diskussion: Wie viel investieren wir jetzt in die Infrastruktur der Krankenhäuser? Ein weiterer Punkt ist – das wird auch getan, dafür bin ich auch dem Minister sehr dankbar – die Anerkennung ausländischer Fachkräfte. Es wurde mehrfach gesagt: Da müssen wir schneller werden, unbürokratischer werden. – Wir müssen auch Anreize setzen und uns um die Anerkennung für die ausländischen Fachkräfte hier kümmern. Motivation für Rückkehrer: Ja, natürlich, lassen Sie uns über Arbeitsstrukturen reden. Arbeitsstrukturen bedingen Entbürokratisierung mit; das wurde bereits gesagt. Fazit: Ich glaube, wir sind uns alle einig, dass wir sicherlich ganzheitlich dieses Thema angehen müssen. Es wurden jetzt mehrere Aspekte genannt, und wir wollen ja in die Richtung gehen. Ich glaube wirklich – darüber sind wir uns einig –, dass das die entscheidende Frage ist. Wir müssen jetzt gucken, dass wir zeitnah einen Plan festlegen, nicht morgen und nicht übermorgen. Irgendwelche parteiinternen Streitigkeiten oder parteiexternen Streitigkeiten sollten uns nicht davon abhalten, einen gemeinsamen Weg zu finden. Ich danke Ihnen, Herr Präsident. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Es war mir ein Vergnügen. – Kollegin Nicole Westig, FDP-Fraktion, ist die nächste Rednerin. ({0})

Nicole Westig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004931, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch wir begrüßen, dass die Forderungen von Verdi, der DKG und dem Deutschen Pflegerat heute hier diskutiert werden. Die alten Personaluntergrenzen führen genau dazu, wovor wir Freie Demokraten immer gewarnt hatten: Pflegepersonal wird innerhalb der Abteilungen verschoben, um die Vorgaben zu erfüllen. Statt Pflegekräfte in festen Arbeitsbereichen zu binden, müssen sie nun oftmals rotieren. Das haben sich die Pflegenden anders vorgestellt. Das dient auch nicht dem Patientenschutz. Aktuell sind die Untergrenzen aufgrund der Coronapandemie ausgesetzt. Wir unterstützen die Bundesregierung bei ihren pragmatischen Maßnahmen. ({0}) Aber – da gebe ich Harald Weinberg recht – wir sagen auch ganz deutlich: Die Aussetzung darf nicht von Kliniken ausgenutzt werden, die bislang gar nicht von Corona betroffen sind. Denn dies führt zu Frust bei den Pflegenden, und den, meine Damen und Herren, können wir uns momentan nun gar nicht leisten. ({1}) Wir brauchen statt der starren und willkürlichen Personaluntergrenze ein evidenzbasiertes Bemessungsinstrument. Wir brauchen eine flexible Regelung, die sich am tatsächlichen Bedarf echter Patientinnen und Patienten orientiert statt am Bedarf kalkulierter Musterpatienten. ({2}) Dieses Instrument darf kein neues bürokratisches Monster werden und muss auf der Basis der digitalen Pflegeplanung stetig weiterentwickelt werden. Ihr Antrag, liebe Linke, beschreibt jedoch nur die halbe Miete. Denn das beste Personalbemessungsinstrument ist wirkungslos, wenn die Fachkräfte dafür fehlen. Da hilft dann auch keine Refinanzierung, wie wir beim Pflegepersonal-Stärkungsgesetz sehen. Dieses sogenannte Sofortprogramm hat die Erwartungen bei Weitem nicht erfüllt. ({3}) Der Pflegeberuf muss attraktiver werden. Nur so können wir genügend Menschen dafür gewinnen. Wir brauchen eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen, flexible Arbeitszeitmodelle für Familien, mehr Karrierechancen für Pflegende. All das müssen wir besser vorantreiben; dies alles unterstützt durch die Möglichkeiten der Digitalisierung, um mehr Entlastung und mehr Zeit für Zuwendung zu schaffen. Daher: Bedarfsgerechte Personalbemessung ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Aber lassen Sie uns auch den Kern des Problems endlich angehen, damit daraus keine Sackgasse wird, nämlich endlich Sorge dafür zu tragen, dass wir mehr Menschen für den Pflegeberuf gewinnen. Vielen Dank. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die SPD-Fraktion hat das Wort die Kollegin Heike Baehrens. ({0})

Heike Baehrens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, wir brauchen mehr Pflegekräfte in unseren Krankenhäusern, und das nicht nur auf den sogenannten bettenführenden Stationen. ({0}) Jeder, der persönliche Erfahrungen gemacht hat, weiß um die wichtige Rolle der Pflege im Krankenhaus, weiß um die sehr unterschiedlichen Bedarfe auf den Stationen, weiß um das so wichtige Zusammenspiel unterschiedlicher Berufsgruppen im Team und hat schon ganz unmittelbar erlebt, was es bedeutet, wenn man auf Hilfe angewiesen ist und eben lange warten muss. Mit viel Einsatz und Kreativität überbrücken Pflegekräfte so manche Mangelsituation. Das kann zum Beispiel ein Löffel sein, der von außen auf die Türklinke gelegt wird, damit der Nachtdienst hört, wenn die Patientin mit fortgeschrittener Demenzerkrankung desorientiert das Zimmer verlässt. Aber wenn zum Beispiel eine Patientin mit einem Oberarmbruch auf die Operation wartet, reicht die Zeit nicht, in der Nacht Orientierung zu geben und sie durch die Nacht zu begleiten. Wenn man als Angehörige eine solche Nacht oder auch mehrere Nächte im Krankenhaus mit einer demenzerkrankten Frau verbringt, dann sieht man nicht nur in diesem Einzelfall, sondern darüber hinaus, wie schwierig die Personalsituation im Krankenhaus ist. Eine andere Situation habe ich vor Augen: drei Monate in der Kinderkardiologie, wo um das Leben eines neugeborenen Kindes gerungen wurde, von Ärzten, von Hebammen und vielen sehr qualifizierten Kinderkrankenschwestern, die sich Tag und Nacht gekümmert haben, wo ganz oft der Schichtplan nicht eingehalten werden konnte, weil die Personaldecke zu knapp bemessen war. Das waren nur zwei Beispiele vom Anfang und vom Ende des Lebens, die zeigen, wie wichtig es ist, gut ausgebildetes Personal in ausreichender Zahl zuverlässig im Einsatz zu haben. Internationale Studien belegen seit Langem den engen Zusammenhang zwischen guter Personalausstattung und qualitativ hochwertiger Versorgung. Mehr qualifiziertes Personal bedeutet weniger Todesfälle, weniger Komplikationen nach Operationen, weniger Decubiti, weniger Lungenentzündungen; man könnte die Liste fortsetzen. Darum ist für uns als SPD klar: Pflege im Krankenhaus darf kein Spielball sein, mit dem man je nach Kassenlage beliebig jonglieren kann. Pflege ist maßgeblicher Bestandteil des Leistungsgeschehens und unverzichtbar für Qualität und Erfolg der Krankenhausbehandlung. ({1}) Das Pflegepersonal-Stärkungsgesetz war ein wichtiger Schritt, um zusätzliche Personalstellen zeitnah in den Krankenhäusern besetzen zu können. Aber auf Dauer hilft nur eine verbindliche und gerechte Personalbemessung für alle Leistungsbereiche des Krankenhauses. Deshalb ist es gut, dass die Deutsche Krankenhausgesellschaft, Verdi und der Deutsche Pflegerat gemeinsam einen Vorschlag als Übergangslösung, sozusagen als Zwischenschritt, gemacht haben. Da schließe ich mich den Ausführungen von Kordula Schulz-Asche an: Es ist ein Zwischenschritt auf dem Weg hin zu einem wissenschaftlich fundierten, am Versorgungsbedarf der Patientinnen und Patienten orientierten Personalbemessungsverfahren, das aber alle Professionen einbeziehen muss, die am Gelingen des Pflegeprozesses beteiligt sind. ({2}) Ja, wir brauchen mehr Pflegekräfte in unseren Krankenhäusern, und dafür kämpfen wir als SPD. Insofern freuen wir uns auf die Diskussion über diesen Antrag. Vielen Dank. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Der nächste Redner: der Kollege Tino Sorge, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Tino Sorge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004409, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir sehen es dieser Tage sehr deutlich: Unser Land braucht eine leistungsfähige Krankenhaus- und Pflegelandschaft, gerade in der jetzigen Situation mit dem neuen Coronavirus. Ich möchte deshalb zuerst einmal einige Worte jenen widmen, die im Gesundheitswesen in diesen Tagen wirklich Außergewöhnliches leisten, die mit aller Kraft daran arbeiten, das Coronavirus zu bekämpfen: in Krankenhäusern, in Pflegeeinrichtungen, in Pflegediensten, in Laboren, in Arztpraxen, in Apotheken, im Öffentlichen Gesundheitsdienst und ebenso in vielen anderen Bereichen. Ein ganz großes Lob an Sie alle! Wir alle schauen auf Sie, wir sehen, was Sie leisten, und Sie haben unsere volle Unterstützung. Herzlichen Dank! ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, in der heutigen Debatte geht es aber ganz konkret um das Personal in den Krankenhäusern. Da gibt es diejenigen, die die Dinge sehr gern schlechtreden, und es gibt diejenigen, die die Dinge anpacken, die Probleme lösen wollen. Und weil die Kollegen der Linken es sehr gern verdrängen: Erinnern wir uns mal, wie sehr wir die Situation in den Krankenhäusern allein in den letzten Monaten verbessert haben. Wir haben mit dem Fairer-Kassenwettbewerb-Gesetz den Krankenhäusern zusätzlich 250 Millionen Euro zukommen lassen, das heißt eine Viertelmilliarde, mit der Tarifsteigerungen in der Pflege aufgefangen werden sollen. Wir haben mit dem MDK-Reformgesetz die Abrechnung tagesbezogener Entgelte erhöht; das heißt, der Pflegebasisentgeltwert steigt auf fast 150 Euro. Wir haben auch bei den pflegeentlastenden Maßnahmen nachjustiert; das heißt, hier gibt es noch mal 150 Millionen Euro mehr für die Kliniken. Nicht zu vergessen: das Pflegepersonal-Stärkungsgesetz, in dem wir festgeschrieben haben, dass jede neue Pflegestelle im Krankenhaus refinanziert werden soll. Ja – es ist hier in der Debatte auch angeklungen –, wir können uns Pflegefachkräfte nicht backen, leider. Wir müssen aber dafür sorgen, dass wir in den Diskussionen – da geht es auch um Sachlichkeit – nicht den Eindruck erwecken, als würden wir hier untätig sitzen und da nichts verbessern wollen. Das machen Sie als Opposition, gerade Sie von der linken Seite, ja sehr gern. Aber Sie wissen ja auch: Wir als Union und unser Minister Jens Spahn sind die, die liefern – selbstverständlich mit unserem Koalitionspartner, der SPD. Insofern: Lassen Sie uns da ein bisschen sachlicher bleiben. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Thema Personalbemessung ist ein Thema, über das wir häufig zu Recht sehr konstruktiv, gleichzeitig aber auch sehr kontrovers diskutieren; denn das ganze System lebt natürlich auch davon, dass man es laufend anpasst, dass man es weiterentwickelt. Das ist der Ansatz, den wir als Union verfolgen, und das ist auch ganz konkret der Ansatz unseres Bundesgesundheitsministers. Wir sehen es in der jetzigen Situation: Die Pflegepersonaluntergrenzen sind nicht statisch, sondern wir haben sie wegen der aktuellen Coronasituation ausgesetzt, und das ist auch gut. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, es ist ja immer ganz nett und gut gemeint, wenn Sie die Bundesregierung in Anträgen auffordern, neue Ideen zur Pflegepersonalbemessung in die Praxis umzusetzen. Aber Sie sind leider – wie meist – zu spät. Das BMG, das Bundesgesundheitsministerium, ist bereits seit Januar dabei – das wissen Sie auch –, die Vorschläge zu einem neuen Instrument zu bewerten. Das, was Sie hier fordern, sind mal wieder nur Schnellschüsse, und das ist das Letzte, was die Kliniken brauchen, das ist das Letzte, was die Pflegekräfte brauchen. Das erzählen Ihnen und uns im Übrigen auch die Pflegekräfte vor Ort. Liebe Kolleginnen und Kollegen, um es mal grundsätzlich zu sagen: Gute Krankenhauspolitik besteht auch darin, dass man das bestehende System kontinuierlich feinjustiert und nachbessert. Das, was Sie hier fordern, bedeutete natürlich auch einen überstürzten Wechsel von einem System zum nächsten. Das hilft weder den Krankenhäusern noch den Pflegerinnen und Pflegern vor Ort. Das ist leider wieder nur Aktionismus. ({3}) Insofern geht es darum, dass wir gerade auch bei der Frage der DRGs – darüber haben wir hier auch diskutiert; das ist völlig richtig – in Richtung Länder sagen: Die Länder müssen ihren Investitionskostenverpflichtungen nachkommen, damit wir eben nicht die Situation haben, dass aus diesen Fallpauschalen letztendlich die Investitionskosten herausgepresst werden. Da kann ich nur sagen: Das betrifft nahezu jedes Bundesland. – Herr Weinberg, da erwarte ich auch, dass Sie mit Ihren Kolleginnen und Kollegen in Berlin und mit Herrn Ramelow in Thüringen sprechen, damit man das, was Sie hier immer wohlfeil fordern, letztendlich dann auch in den Ländern, wo Sie mit in Regierungsverantwortung sind, umsetzt. Das wäre – der Ehrlichkeit halber – wichtig. ({4}) Um es ganz klar zu sagen: Der Antrag ist auch handwerklich unausgegoren. Da behaupten Sie zum Beispiel, dass die bisherigen Pflegepersonaluntergrenzen ohne pflegerische Expertise erarbeitet worden seien. Nur mal zur Erinnerung: Daran waren der Deutsche Pflegerat, der GKV-Spitzenverband, die Krankenhausgesellschaft, das BMG, Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände, Patientenvertreter und Fachverbände beteiligt. ({5}) Wollen Sie hier ernsthaft sagen, von all diesen Akteuren hätte nicht ein einziger pflegerische Expertise? Deshalb jetzt ganz konkret meine Frage: Wo sehen Sie denn pflegerische Expertise? Sehen Sie die bei Ihren Strategiekonferenzen, die Sie durchführen, oder wo sehen Sie die? ({6}) Insofern: Morgen ist zwar Freitag, der 13., aber lassen Sie uns doch ein bisschen sachlich bleiben und das nicht auf die Spitze treiben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, zur Wahrheit gehört auch dazu: Wir können noch so viel über die Bemessung von Personalbedarf sinnieren, aber angesichts der Realitäten des Arbeitsmarktes muss es uns doch auch darum gehen, dass wir die Priorität da setzen, wo es drauf ankommt, nämlich bei der Personalgewinnung. Insofern arbeiten wir als Union mit Hochdruck daran, die Personalgewinnung gerade in der Pflege voranzutreiben. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, unser klares Ziel ist dabei natürlich, möglichst viele junge Auszubildende, aber auch den einen oder anderen erfahrenen Rückkehrer – das ist genau die Diskussion, die wir führen – für diese Berufung zu gewinnen. Ja, das ist die entscheidende Stellschraube.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege Sorge, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin der Grünen? ({0})

Tino Sorge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004409, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Von Maria Klein-Schmeink natürlich, sehr gern.

Maria Klein-Schmeink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004072, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke sehr für die Zulassung der Frage. – Welches Signal geben Sie als Vertreter der Unionsfraktion denn den Nachwuchspflegekräften, wenn diese Sie fragen, was Sie ihnen zusichern können, was sich verändert, damit sie in diesem Beruf bleiben können? Dass nur 10 von 100 einer ganzen Jahrgangsstufe anschließend in diesem Beruf arbeiten wollen, hat mich gestern sehr erschüttert, muss ich sagen. Ich habe auch nachgedacht: Was sagen wir denen denn? Was ist an Sicherheit da, damit sich tatsächlich etwas in diesem Berufsfeld verändern wird? Was sagen Sie?

Tino Sorge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004409, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wie gesagt, ich war selbst letzte Woche bei mir im Wahlkreis auf einer Veranstaltung. Magdeburg ist eine der ersten Städte bzw. Sachsen-Anhalt neben Hamburg eines der ersten Bundesländer, die auf die generalistische Pflegeausbildung setzen. Ich war bei einer Veranstaltung, auf der eine Menge Pflegefachkräfte und Azubis waren. Natürlich geht es denen darum, Wertschätzung zu bekommen. Das ist ja genau das, was wir wollen. Wir sagen: Wer in die Pflege geht, wer als Pflegefachkraft arbeiten will, der ergreift einen super Beruf. Das ist ein Beruf mit Zukunft; das ist ein Beruf, bei dem man Empathie braucht; das ist ein krisenfester, zukunftssicherer Beruf. Wir helfen diesen Menschen nicht, wenn wir hier immer alles schlechtreden und sagen: Die Pflege ist schlecht; in der Pflege läuft alles schief. – Das ist nicht der richtige Weg. Was wir machen müssen, ist natürlich, die Verhältnisse in der Pflege zu verbessern. Da geht es um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Da geht es um Planbarkeit, um die Frage: Werde ich ständig aus meiner Freizeit geholt? Da geht es auch darum: Haben wir genug Pflegefachkräfte? Aber das eine bedingt das andere. Da gehört eine gute Bezahlung dazu. Da haben wir – Frau Klein-Schmeink, das wissen Sie doch auch; wir sind ja gar nicht weit auseinander – in den letzten Jahren doch viele gute Dinge auf den Weg gebracht. Also, lassen Sie uns darüber sprechen, was Gutes geschehen ist, und gleichzeitig auch darüber, was wir an den jeweiligen Stellen verbessern können, anstatt immer nur zu sagen: Alles ist schlecht, wir müssen das System komplett ändern, und das, was gemacht worden ist, ist sowieso nicht zielführend. Insofern lade ich Sie gern dazu ein: Arbeiten Sie weiter mit uns zusammen. Wir sind in vielen Bereichen überhaupt nicht weit auseinander. Wir alle wollen eine gute Pflege. Wir alle sind den Pflegefachkräften sehr, sehr dankbar, –

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Okay.

Tino Sorge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004409, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

– und ich hoffe, dass viele junge Menschen sich für diesen Job entscheiden; denn es ist ein toller Job. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Frau Klein-Schmeink, Sie können sich wieder hinsetzen.

Tino Sorge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004409, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Insofern darf ich noch mal darauf hinweisen – das war ja auch das Petitum –, dass wir letztendlich die eine Seite bespielen und sagen: Natürlich braucht es Wertschätzung und gleichzeitig die entsprechende Regelung; da sind wir momentan dabei. Da geht es um Personalgewinnung im Ausland genauso wie im Inland, und daran arbeiten wir mit Entschlossenheit, aber auch mit der nötigen Besonnenheit. Dazu lade ich Sie alle ein – sehr gern auch Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken und von der ganzen Opposition –, und dann werden wir da sicherlich auch zu einem guten Ergebnis kommen. Mehr Menschen, gerade junge Menschen, in die Pflege zu bekommen, das ist unser aller Ziel; das wollen wir alle. Insofern: Herzlichen Dank für Ihre Mithilfe! ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Kollege Sorge. – Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Dirk Heidenblut, SPD-Fraktion. ({0})

Dirk Heidenblut (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004295, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Zunächst mal bin ich ganz froh, weil ich den Eindruck habe, dass wir uns in einem Punkt alle einig sind, nämlich darin, dass die Menschen, über die wir hier reden – die Pflegefachkräfte in den unterschiedlichsten Bereichen des Gesundheitswesens –, ein zentraler Teil des Gesundheitswesens – wenn nicht das Rückgrat, der Kopf und das Herz des Gesundheitswesens – sind, und das ist ja erst mal ganz entscheidend. ({0}) Vor diesem Hintergrund bin ich auch sehr dankbar für den Antrag, der hier vorgelegt wurde. Ich bin auch dankbar dafür, dass sich der Deutsche Pflegerat, die DKG und Verdi auf so etwas wie das, was hier vorliegt, verständigt haben, weil ich das für eine richtige, eine gute, eine vernünftige und eine wegweisende Verständigung halte. ({1}) Wenn ich hier höre, dass alle auch Dank aussprechen – dem ich mich übrigens ausdrücklich anschließe; übrigens nicht nur in Bezug auf die Bewältigung der Coronakrise, sondern auch für das, was die Pflegekräfte und die Menschen im Gesundheitswesen insgesamt leisten und tun –, ({2}) muss ich eins für meine Fraktion aber ganz deutlich sagen: Für uns ist das, was hier vorgelegt wurde, keineswegs eine Wunschliste – ich finde auch den Begriff „Wunschliste“ an dieser Stelle völlig deplatziert –, ({3}) sondern das ist eine klare, strukturierte und vernünftige Forderung, ({4}) und sie richtet sich eben auch keineswegs an den Osterhasen oder den Weihnachtsmann – auch das zu behaupten, finde ich sehr deplatziert –, sondern sie richtet sich an uns als Gesetzgeber – das scheint der eine oder andere nicht zu wissen, oder er scheint sich als Gesetzgeber nicht in der Pflicht zu sehen –, und natürlich müssen wir da was tun. Vor diesem Hintergrund ist es auch richtig, den Finger in die Wunde zu legen. Das schmälert übrigens nicht, dass das Bundesministerium – davon gehe ich aus – bereits intensiv dabei ist, genau diese Frage auch anzugehen, und hoffentlich in Kürze auch einen Zeitplan und eine klare Struktur dazu vorlegen wird. ({5}) Trotzdem ist es richtig und gut, wenn auch wir als Parlament uns mit dieser Frage beschäftigen. Insofern freue ich mich. Kollege Weinberg, Sie können sicher sein: Wir werden das wohlwollend miteinander diskutieren. Ob wir das dann wohlwollend in genau Ihrem Sinne abschließen werden: Schauen wir noch mal. – Aber wir werden es diskutieren – vor allen Dingen wohlwollend im Interesse der Fachkräfte und der Patientinnen und Patienten; das darf ja nie vergessen werden – und müssen da auch zu einer Lösung kommen. Ich möchte die kurze Redezeit, die mir noch bleibt, gern für einen kleinen Seitenweg benutzen; denn wir haben bei diesem ganzen Paket einen großen Bereich von Kliniken nicht berücksichtigt, nämlich die psychiatrischen und psychosomatischen Kliniken. Da haben wir noch mal ein anderes System. Auch da gibt es eine Einigung, allerdings eine nicht so breite Einigung; denn die DKG war daran nicht beteiligt, oder zumindest war sie damit nicht sehr einverstanden. Aber es gibt zumindest – das haben wir als Koalition durchgesetzt – eine verbindliche Folgeregelung für die Psych-PV. Sie ist also nicht einfach, wie das vorgesehen war, ausgelaufen. An dieser Stelle müssen wir aber zwingend auch noch mal ansetzen. Auch da ist es wichtig, ein Personalbemessungsinstrument zu schaffen, das alle Berufsgruppen berücksichtigt. Insbesondere müssen auch noch mal die Fragen – ich finde, das wird aus dieser Richtung zu Recht immer wieder vorgebracht – im Zusammenhang mit den Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten beleuchtet werden; denn die sind tatsächlich schon in der alten Psych-PV nicht vernünftig abgebildet, und das Problem wird auch jetzt noch nicht wirklich gelöst. Hier müssen wir vorgehen, und ich würde mir wünschen, dass wir den G-BA sehr schnell und sehr konsequent beauftragen, in vernünftige Richtungen weiterzugehen. Es gibt hierzu aus den Fachkreisen ja gute Expertisen und auch vernünftige Vorlagen. ({6}) Ich wünsche mir natürlich auch, dass man sich das, was wir als Koalition schon auf den Weg gebracht haben – das steht auch als Auftrag schon im Gesetz –, bezogen auf die Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten noch einmal sehr genau anguckt und bei der Personalausstattung und insgesamt im Bereich der Psychotherapie vernünftig mit berücksichtigt. In diesem Sinne freue ich mich auf die weiteren Diskussionen. Ich glaube, wir tun alle gut daran, wenn wir uns mit dem Personal im Gesundheitswesen gut und intensiv beschäftigen. Übrigens: Wenn es darum geht, dass das Fachpersonal nicht da ist und ob wir dieses oder jenes machen, ist es ein bisschen wie bei dem Problem „Was kam zuerst: Henne oder Ei?“. Wenn wir nicht das Signal senden, dass es auf der Arbeitsstelle besser wird, dann wird auch das nicht dazu führen, dass wir mehr Fachkräfte bekommen. Insofern: Packen wir es an! Danke schön. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Kollege. – Ich schließe die Aussprache zu Tagesordnungspunkt 11.

Stephan Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004678, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Guten Tag, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bevor wahrscheinlich gleich wieder einer für alle von Ihnen redet, wie es immer so ist, wenn Ihnen die Sache peinlich ist, lassen Sie mich einige Dinge zu diesem Thema sagen. Es geht um den Entwurf für die Sitzungswochen des ersten Halbjahres 2021. Ich muss Ihnen sagen: Ich war, gelinde gesagt, überrascht, als ich diesen Entwurf das erste Mal gesehen habe. Ich habe festgestellt, dass im ersten Halbjahr 2021 von 26 Kalenderwochen lediglich 12 Sitzungswochen vorgesehen waren, und ich war noch überraschter, als ich dann gesehen habe, dass in den Monaten Januar und Februar, also in zwei kompletten Monaten, im kommenden Jahr nur drei Sitzungswochen vorgesehen waren. Ich muss Ihnen sagen: Das hat uns etwas unterfordert. Wir haben gefragt: Warum ist das denn so? Da wurde uns gesagt, ja, in der zweiten Kalenderwoche könne man nicht anfangen, weil traditionell die Altfraktionsmitglieder da Skiurlaub machten und Skiferien eingeplant hätten. Das war die Argumentation für dieses Jahr. Ich denke mal, im nächsten Jahr werden Sie wieder genauso argumentieren. Dann wurde gesagt: Nee, zwei bis drei Wochen Karnevalspause sollten auch schon sein. - ({0}) Das ist ein Relikt aus der Bonner Republik. Dabei verkennen Sie natürlich, dass in Berlin Karneval oder Fasching überhaupt gar keine Rolle spielt. ({1}) Ich glaube, Sie haben alle noch nicht begriffen, dass die Bonner Republik passé ist und nun die Musik hier in Berlin spielt. ({2}) Deshalb sagen wir Ihnen: Eine Karnevalspause von drei Wochen muss nicht sein. Dann kam das Argument aus der CDU: Ja, ihr seid ja gegen Karneval, ihr seid ja gegen deutsches Brauchtum, gegen deutsche Traditionen. ({3}) Nein! Ich kann Sie beruhigen: Dagegen sind wir nicht. Es geht hier ja auch nicht darum, den Karneval zu verbieten, sondern es geht hier einfach um eine nüchterne Abwägung, was uns wichtiger ist: Lustbarkeiten im Karneval oder vernünftige parlamentarische Arbeit? Wir haben uns halt für vernünftige parlamentarische Arbeit entschieden. Das sollten Sie auch tun, meine Damen und Herren. ({4}) – Was schreien Sie denn so? Sie fühlen sich wohl alle getroffen hier, oder? Lassen Sie mich doch in Ruhe ausführen. Ganz ruhig! Sonst muss ich auch lauter werden. Das schaukelt sich doch nur hoch. Dann wurde gesagt, Sie brauchten sehr viel Zeit für Ihre Wahlkreisarbeit. Die brauche ich auch. Aber dann sollten doch 11 Wochen für Wahlkreisarbeit im ersten Halbjahr reichen. Wir brauchen nicht unbedingt 14. Wir wollen die 12 Sitzungswochen, die Sie vorgesehen haben, angemessen erhöhen auf 15 Sitzungswochen im kommenden ersten Halbjahr. Warum? Weil wir meinen: Die Skiferien können entfallen; die brauchen wir nicht unbedingt. Wir können die Karnevalspause um eine Woche kürzen, und wir können auch die Pfingstpause um eine Woche kürzen. Wir brauchen nicht zwei Wochen Pfingstpause, sondern eine reicht völlig, meine Damen und Herren. Hinzu kommt ja noch, dass im zweiten Halbjahr die Anzahl der Sitzungswochen wahrscheinlich noch mal deutlich abnimmt, weil ein Bundestagswahlkampf geführt werden muss. Zudem leben wir mit dem Risiko, dass möglicherweise coronabedingt in diesem Jahr noch Sitzungswochen ausfallen, sodass ich Sie darum bitte, draußen nicht den Eindruck zu erwecken, wir würden hier mehr Freizeit und Pausen machen, als uns zustünden. Den Eindruck haben Sie ja schon mal erweckt, als Sie einfach die Redezeiten um 20 Prozent gekürzt haben. Sie haben aber nicht daran gedacht, die Diäten um 20 Prozent zu kürzen. Also: Arbeiten Sie vernünftig, meine Damen und Herren, wie man es von Abgeordneten verlangen kann, die vom deutschen Volk gewählt sind. Deshalb mein Appell an Sie: Lassen Sie uns nicht streiten. Lassen Sie uns nicht brüllen. Bleiben Sie ganz gelassen. Ziehen Sie die Drucksache einfach zurück.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, es sind drei Minuten beschlossen.

Stephan Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004678, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Lassen Sie uns im Ältestenrat noch mal in Ruhe darüber reden. Wir finden bestimmt einen vernünftigen Kompromiss. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die nächste Rednerin ist die Kollegin Britta Haßelmann, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Deutsche Bundestag ist ein Arbeitsparlament. In Sitzungswochen haben wir Plenum wie heute hier. Wir haben Ausschusssitzungen. Wir haben Anhörungen zu Gesetzentwürfen. Wir führen Fachgespräche. Die Untersuchungsausschüsse tagen. Wir führen Berichterstattergespräche zwischen den Fraktionen über wesentliche Fragen in Vorbereitung auf die Ausschüsse und die Gesetzgebungsverfahren. Wir haben Gespräche mit Bürgerinnen und Bürgern, mit Verbänden und Institutionen. ({0}) Das alles gehört zu unseren Aufgaben, meine Damen und Herren. Und: Wir Abgeordnete des Deutschen Bundestages – das sage ich jetzt mal für die Fraktionen der CDU/CSU, der FDP, der Linken, der Grünen und der SPD – ({1}) brauchen uns an dieser Stelle nicht zu verstecken, ({2}) schon gar nicht hinter dieser AfD. Meine Damen und Herren, viele von Ihnen machen diese Arbeit hier im Parlament mit großem Engagement, ({3}) mit großer Leidenschaft, mit großer Energie und großem Einsatz, weil wir finden, dass die parlamentarische Demokratie etwas Wunderbares ist, wofür es sich einzusetzen gilt. ({4}) Ich sage Ihnen an dieser Stelle: Sie werden es nicht schaffen, Zwietracht zu säen ({5}) zwischen den Abgeordneten, zwischen diesen Parlamentarierinnen und Parlamentariern, ({6}) so unterschiedlich unsere Auffassung bei manchen Sachfragen auch ist. Aber lassen wir uns nicht einreden von dieser Truppe, dieses Parlament hätte in irgendeiner Art und Weise nicht genug zu tun, würde nicht arbeiten oder sonst etwas. ({7}) Meine Damen und Herren, Kreuz gerade! Ich sage Ihnen eins: Sie wollen die demokratischen Institutionen – ob Bundespräsident, Bundesverfassungsgericht oder Parlament – mit Dreck überziehen. ({8}) Das machen wir nicht mit. Dem stellen wir uns klar entgegen, meine Damen und Herren. ({9}) An einer Stelle versucht doch jetzt der Abgeordnete Brandner, ({10}) hier so zu tun, als hätten wir nicht das ständige Spannungsfeld zwischen Tagungen hier, unseren Aufgaben hier und unseren Aufgaben im Wahlkreis. ({11}) Denn wir sind alle auch Abgeordnete in einem Wahlkreis, und dort arbeiten wir. Deshalb, meine Damen und Herren, teilen wir auch die Wochen in Sitzungswochen mit Präsenz im Arbeitsparlament und in Wochen, in denen wir im Wahlkreis arbeiten. ({12}) Dazu gehören Bürgergespräche, Besuche von Institutionen, Gespräche mit Initiativen und Verbänden. All das gehört dazu. ({13}) Und dann wird ein Schuh daraus. Wir nehmen unsere Arbeit sehr ernst. Wir tagen im Jahr 2021, wenn die nächste Bundestagswahl stattfindet, sogar eine Sitzungswoche mehr hier in Berlin ({14}) als bei der letzten Wahl 2017. Das ist längst vereinbart. ({15}) Also: Lassen Sie sich hier nichts einreden! Dieses Parlament ist ein Arbeitsparlament, und ich bin froh, so viele Kolleginnen und Kollegen zu kennen, die in aller Ernsthaftigkeit dieser Aufgabe nachkommen. Da könnten Sie sich eine Scheibe von abschneiden. ({16})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ältestenrats, die sich auf der Drucksache 19/17734 befindet. Wer für diese Beschlussempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. – Das sind alle Fraktionen mit Ausnahme der AfD. Gegenprobe! – Dagegen stimmt die AfD-Fraktion. Enthaltungen? – Keine. Die Beschlussempfehlung des Ältestenrates ist damit angenommen.

Kerstin Griese (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003440

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Heute bringen wir den Entwurf eines Siebten Gesetzes zur Änderung des SGB IV in den Bundestag ein, das sich auf viele Bereiche der Sozialversicherung auswirkt und damit auf vieles, womit Menschen im Laufe ihres Lebens in Kontakt kommen: die Krankenversicherung, die Unfallversicherung, die Arbeitslosenversicherung, die Rentenversicherung und die Pflegeversicherung. Im Sozialgesetzbuch IV geht es um einheitliche Vorschriften für diese fünf großen gesetzlichen Sozialversicherungen. Mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf stellen wir die Sozialversicherungen so auf, dass sie zur immer digitaler und flexibler werdenden Arbeitswelt passen; denn die Digitalisierung gibt uns die Chance, Sozialversicherungsleistungen effektiver zu gestalten und vor allem mit weniger Bürokratie auszukommen. Deshalb wollen wir bestehende Verfahren in der Sozialversicherung verbessern, vereinfachen und vor allem entbürokratisieren. Dabei nutzen wir die Chancen der Digitalisierung und legen konkrete Maßnahmen vor, um – das ist das Ziel – den Sozialstaat einfacher, zugänglicher, näher an den Menschen und für die Menschen zu gestalten. ({0}) Ich gebe zu: Vieles, was auf den 175 Seiten steht, klingt erst einmal sehr kleinteilig und technisch. Ich danke allen Abgeordneten, die sich intensiv damit beschäftigen und das durcharbeiten. Ich danke auch den Sozialversicherungsträgern, die viele dieser Vorschläge entwickelt haben, und natürlich dem Ministerium. „Entbürokratisierung“ heißt eben, sich gerade mit Details zu beschäftigen, um die Verfahren effektiver und einfacher zu gestalten. Das tun wir hier in acht Sozialgesetzbüchern. Der öffentliche Fokus unserer Gesetze liegt ja oft auf den Änderungen, die die Lebenslagen der Bürgerinnen und Bürger gerechter und besser machen sollen. Vielleicht mag dieser Gesetzentwurf nicht so spannend wirken; aber wir schaffen damit eine echte, große Bürokratieentlastung für die Bürgerinnen und Bürger, für die Arbeitgeber und für die Verwaltung. Zahlreiche Bescheinigungs- und Antragsverfahren, die heute auf Papier ablaufen, werden durch ein elektronisches Datenaustauschverfahren ersetzt. Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Heute müssen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihrem Arbeitgeber eine Bescheinigung über ihre Krankenkassenmitgliedschaft vorlegen. Zukünftig müssen sich die Bürgerinnen und Bürger darum nicht mehr selbst kümmern; denn dieses Papierverfahren wird durch ein digitales Meldeverfahren zwischen Arbeitgeber und Krankenkasse ersetzt. Ein anderes Beispiel zeigt, dass es auch eine gute Änderung für Kleinstarbeitgeber gibt. Für die 450 000 Arbeitgeber mit bis zu zehn Beschäftigten wird kostenlos ein Datenspeicher für ihre Entgeltunterlagen durch die Sozialversicherungsträger zur Verfügung gestellt. Das ist eine echte Unterstützung. Diese und weitere Erleichterungen führen zu einer Entlastung der Bürgerinnen und Bürger von perspektivisch rund 4 Millionen Stunden. 4 Millionen Stunden Zeit für wichtigere Dinge, und das Jahr für Jahr! Das ist doch wirklich eine gute Sache. ({1}) Auch die Arbeitgeber sparen kräftig; es sind jährlich mittelfristig 139 Millionen Euro an Entlastungen. Dazu kommen noch dauerhafte Entlastungen für die Verwaltungen des Bundes, der Sozialversicherungsträger und der Länder. Das, meine Damen und Herren, ist für mich auch ein Stück Sozialstaat der Zukunft. Es geht um die digitale Sozialversicherung, die Papierkram und Anträge erspart und die damit Freiraum schafft, sich um die Menschen zu kümmern, die Unterstützung brauchen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein ganz wichtiger Bereich dieses Gesetzes ist die Fortentwicklung des Berufskrankheitenrechtes in der gesetzlichen Unfallversicherung. Damit werden wir die Grundlagen schaffen, dass mehr Berufskrankheiten anerkannt werden und die Verschlimmerung von Krankheiten erfolgreich durch Prävention bekämpft werden kann. Dabei geht es um den Wegfall des sogenannten Unterlassungszwangs bei bestimmten Berufskrankheiten, der oft dazu geführt hat, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gar keine Leistung bekommen haben. Und noch eine wichtige Änderung – Sie sehen, das ist ein großer Omnibus oder sogar ein Güterzug, wie meine Kollegin Hiller-Ohm gesagt hat –: Wir wollen, dass Jugendliche nach der Schule die nötige Unterstützung beim Übergang in den Beruf erhalten. Dafür ermöglichen wir den Datenaustausch zwischen der Bundesagentur für Arbeit und den Bundesländern, sodass Jugendliche, die noch keine berufliche Anschlussperspektive haben, kontaktiert und über bestehende Beratungsleistungen der Bundesagentur für Arbeit informiert werden können. Noch ein Punkt: die Schließung des sogenannten Dienstordnungsrechtes. Da blicke ich in viele überraschte Gesichter; denn viele wussten nicht, dass es diese Sonderform des privatrechtlichen Beschäftigungsverhältnisses im öffentlichen Dienst noch gibt. Das zeigt, dass es richtig ist, nach der gesetzlichen Rentenversicherung und der Krankenkasse auch in der Unfallversicherung diese Sonderform abzuschaffen und – wie auch in anderen Sozialversicherungszweigen – vor allem auf gute Tarifverträge zu setzen. Zusammenfassend: Mit diesem umfangreichen und langen Gesetzentwurf setzen wir ein wichtiges Zeichen für den Sozialstaat der Zukunft. Es profitieren die Wirtschaft, die Verwaltungen, die Sozialversicherungen, und es profitiert nicht zuletzt jeder einzelne Bürger und jede einzelne Bürgerin, deren Anliegen im Sozialstaat schnell, sicher und zuverlässig behandelt werden. Vielen Dank. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. – Der nächste Redner: der Kollege Jörg Schneider, AfD-Fraktion. ({0})

Jörg Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004880, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Zuschauer! So ein Änderungsgesetz enthält immer sehr viele Punkte. Da sind natürlich auch einige dabei, die durchaus gut sind. Zum Beispiel ergibt es Sinn, dass zukünftig Schulen Informationen über Schulabgänger an die Bundesagentur für Arbeit weiterreichen sollen; denn es gibt viele Menschen, die ihre Schulausbildung abbrechen oder auch die Schule verlassen, ohne eine klare berufliche Perspektive zu haben. Dass wir hier eine engmaschige berufliche Beratung aufrechterhalten, ist gut. Nur: Es ist doch heute so, dass viele der Jugendlichen, die dort tatsächlich Probleme haben, aus Haushalten stammen, die von Sozialleistungen, sprich: von Hartz IV, leben. Da gibt es schon heute eine sehr engmaschige Betreuung durch die Jobcenter. Ich weiß tatsächlich nicht, ob wir diesen Jugendlichen einen Gefallen damit tun, wenn wir sie nun aus dem Betreuungsumfang der Jobcenter herausnehmen und ihre Betreuung bei der Bundesagentur für Arbeit ansiedeln. ({0}) Sie möchten das Kriterium „Migrationshintergrund“ in die Arbeitslosenstatistik einfügen. Ich habe bis zu meiner Wahl in den Bundestag als Lehrer an einem Berufskolleg gearbeitet und hatte dort durchaus auch Klassen in der Berufsvorbereitung. Das sind Schüler, die keinen guten Schulabschluss gemacht haben, oft auch gar keinen, die keinen Ausbildungsplatz haben, die dann vorbereitet werden und deswegen noch mal ein Jahr die Schulbank drücken. Wenn ich in diese Klassen kam, hatte ich den Eindruck: „Ups, die haben ja alle Migrationshintergrund“, bis ich dann irgendwann mal eine Statistik dieser Klassen sah: Knapp 50 Prozent hatten tatsächlich einen Migrationshintergrund. – Das hängt damit zusammen: Wir haben im Ruhrgebiet – ich komme aus Gelsenkirchen – die dritte Generation der Zuwanderer; da haben schon die Eltern – zumindest die meisten – einen deutschen Pass gehabt. Aber sie wohnen eben in ihren Parallelgesellschaften, zu Hause wird die Herkunftssprache gesprochen. ({1}) – Regen Sie sich nicht auf, ich bespreche das, was ich tatsächlich in meinem beruflichen Leben erlebt habe. ({2}) Ich habe andererseits auch Schüler erlebt, die nicht hier in Deutschland geboren waren und die perfekt deutsch sprachen. Alles, was ich damit sagen möchte, ist: Nehmen Sie das Kriterium „Migrationshintergrund“ ruhig in die Statistik auf; aber ich glaube, es wird kaum wesentlichen Erkenntnisgewinn bringen, weil es einfach sehr unscharf ist. ({3}) – Ich wurde hier gerade als Rassist bezeichnet, Herr Präsident. Das finde ich unverschämt angesichts dessen, ({4}) dass ich hier einfach nur aus meinem beruflichen Erfahrungsschatz erzähle. Das finde ich unerträglich! Immer diese Vorwürfe von Ihnen. Sie sollten sich schämen, so was ständig zu sagen. Ich bin alles andere als ein Rassist! Nehmen Sie das mal endlich zur Kenntnis! ({5}) Sie möchten in einem weiteren Punkt Zahlungen vereinfachen. Zukünftig soll man entscheiden können, auf welches Konto Sozialleistungen gezahlt werden können. Die Jobcenter haben heute schon Ausstände in Höhe von ungefähr 3 Milliarden Euro. Diese Ausstände sind dann besonders schwer zurückzufordern, wenn sich die Konten im Ausland befinden. Jetzt mögen Sie fragen: Was hat das eine mit dem anderen zu tun? In der Tat kann ich Ihnen das nicht beantworten. Es ist wirklich so, dass nicht erfasst wird, wie viel Prozent dieser Außenstände von ausländischen Konten zurückgefordert werden müssen. Deswegen stellen wir den Antrag, dies doch bitte zukünftig in die Statistik aufzunehmen. Ich denke, das ist eine sinnvolle Ergänzung, die sicherlich noch in dieses Änderungspaket hineinpasst. Dafür bitte ich Sie um Ihre Zustimmung. Ich danke Ihnen ganz herzlich. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist der Kollege Torbjörn Kartes, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Torbjörn Kartes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004774, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste auf den Tribünen! Wir bringen heute den Entwurf eines Siebten Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch in den Deutschen Bundestag ein. Das hört sich zunächst sehr technisch an. Wir sprechen damit über 51 Seiten Gesetzentwurf, 86 Seiten Gesetzesbegründung, 18 betroffene Gesetze, 8 geänderte Verordnungen, insgesamt 164 einzelne Paragrafen, die geändert, hinzugefügt oder gestrichen werden. Die Bürgerinnen und Bürger werden somit pro Jahr um circa 12 Millionen Euro an Sachkosten und insbesondere 4 Millionen Arbeitsstunden entlastet. Die jährliche Entlastung der Wirtschaft beläuft sich auf circa 140 Millionen Euro ; die jährliche Entlastung der Verwaltungen des Bundes und der Länder beträgt in etwa 55 Millionen Euro – alles in einem Gesetzgebungsverfahren, und das meiste davon wird wahrscheinlich mit großer Einigkeit hier im Haus beschlossen werden. Meine Damen und Herren, das ist solide Gesetzgebungsarbeit. Das ist teilweise echte Fleißarbeit; auch dafür steht diese Koalition. Mit diesem Gesetzgebungsverfahren wollen wir Deutschland ein bisschen schneller, digitaler, bürgernäher und kosteneffizienter machen. Dieses gute Gesetz bringen wir heute gemeinsam auf den Weg. ({0}) Hinter diesem Gesetzgebungsverfahren verbergen sich also Änderungen an diversen Sozialgesetzbüchern, Anpassungen im Sozialgerichtsgesetz, im Arbeitsgerichtsgesetz und im Berufskrankheitsrecht sowie bei der Alterssicherung. Gesetzgebung findet eben häufig im Detail statt: kleine Änderungen, die wenig Aufmerksamkeit erregen, die aber für diejenigen Menschen, die davon betroffen sind, konkrete Verbesserungen bedeuten. So wird zum Beispiel die elektronische Übermittlung von Mitgliedsbescheinigungen der Krankenkassen an Arbeitgeber allen Bürgern, der Verwaltung und auch der Wirtschaft viel Zeit und Geld ersparen. In diesem Sinne gibt es viele ganz kleine Schritte, die in die richtige Richtung gehen. Es gäbe viele Punkte, die ich an diesem Gesetzentwurf hervorheben könnte; aber ich will mich auf drei beschränken: Erstens. Wir sorgen dafür, dass Schülerinnen und Schüler, die schwierige Jobperspektiven haben, besser betreut werden, wenn sie von der Schule abgehen. Ich kenne das Problem auch aus meiner Heimatstadt Ludwigshafen. Dort sind 8 Prozent der Langzeitarbeitslosen unter 25, und mittlerweile sind fast 15 Prozent der jungen Menschen ohne Schulabschluss. Das ist fast doppelt so viel wie im Landes- und Bundesdurchschnitt. Natürlich habe ich mit der Bundesagentur für Arbeit in Ludwigshafen darüber schon mehrfach gesprochen. Sie haben mir gesagt: Wir bekommen überhaupt nicht mit, wer von der Schule abgeht, und wir bekommen erst recht nicht mit, wer ohne Schulabschluss von der Schule abgeht. Das ist deutscher Datenschutz. So ist das bisher. Deswegen wollen wir es den Bundesländern ermöglichen, Daten von Schulabgängern an die Bundesagenturen für Arbeit zu übermitteln, damit diese sich dann direkt an die jungen Menschen wenden und für sie Brücken in die Arbeitswelt bauen können. ({1}) Uns ist dabei wichtig, dass wir die Aufgaben zwischen Jobcentern und Arbeitsagenturen vor Ort weiter klar abgrenzen. Auch das – Herr Kollege Schneider, da muss ich Sie korrigieren – gewährleisten wir mit dieser nun gefundenen Regelung. Es besteht eine klare Abgrenzung: Diejenigen, die heute vom Jobcenter betreut werden, werden auch weiterhin vom Jobcenter betreut. Die Arbeitsagentur kümmert sich um diejenigen, die bisher nicht vom Jobcenter betreut werden. Das sollten Sie bei Gelegenheit vielleicht einmal nachlesen. ({2}) Bei 8 Prozent der Langzeitarbeitslosen in Ludwigshafen unter 25 Jahren kann ich nur sagen: Wir müssen die jungen Menschen eben da abholen, wo sie gerade stehen, und vor allem viel früher, nämlich bevor sie in der Grundsicherung landen. Das ermöglichen wir mit dieser Neuregelung. Zweitens. Wir schaffen die Voraussetzungen, dass die nächsten Sozialversicherungswahlen bei den Krankenkassen 2023 digital werden. Neben der herkömmlichen Stimmabgabe per Briefwahl soll fakultativ die Möglichkeit eröffnet werden, auch online zu wählen. Dieser Vorschlag geht in die richtige Richtung. Wir werden uns aber weiter dafür starkmachen – das sage ich auch ganz deutlich –, dass auch die Sozialwahlen bei der Rentenversicherung und die Betriebsratswahlen zukünftig online möglich werden. ({3}) Wir dürfen also nicht nur über Digitalisierung reden; wir müssen sie auch gemeinsam weiter vorantreiben. Drittens wollen wir den Migrationshintergrund als Merkmal der Arbeitsmarktforschung nutzbar machen. Die Zuwanderung aus den EU-Staaten und Drittstaaten nimmt zu. Entsprechend steigt auch das arbeitsmarktpolitische Interesse an Erkenntnissen zur Gruppe der Menschen mit Migrationshintergrund. Diese Erkenntnisse gibt es so bislang nicht, weil die Arbeitsagentur die Staatsbürgerschaft und den Aufenthaltsstatus dokumentiert, nicht aber den Migrationshintergrund. Diese Erkenntnislücke schließen wir jetzt. Dabei geht es nicht um Stigmatisierung, im Gegenteil: Es geht darum, dass wir zielgerichtet Erkenntnisse gewinnen und damit helfen können. Vor allen Dingen können wir so auch zeigen, wie viele Menschen schon heute erfolgreich in den Arbeitsmarkt integriert sind und einen unersetzbaren Beitrag zum Erfolg unserer Wirtschaft in Deutschland leisten. Abschließend möchte ich aus dem Bericht des Normenkontrollrates zitieren; das ist ein Expertengremium, das bei jedem einzelnen Gesetzgebungsvorhaben bewertet, welcher Aufwand mit der Einführung verbunden ist. Dieser Rat stellt der SGB-IV-Reform ein Gütesiegel aus. Ich zitiere: Im Gesetzentwurf wird die Digitalisierung einer Vielzahl bestehender Verfahren und Kommunikationswege im Bereich der Sozialversicherung vorangetrieben, dabei effektiver gestaltet und entbürokratisiert. Dem ist, denke ich, nicht viel hinzuzufügen. Ich wünsche uns in diesem Sinne gute Beratungen. Vielen Dank. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist für die FDP-Fraktion der Kollege Till Mansmann. ({0})

Till Mansmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004815, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Gesetzentwurf ist ausgesprochen umfangreich. In Anbetracht der Kürze der Zeit greife ich drei für uns wichtige Aspekte heraus. Beginnen wir mit den §§ 95a bis c SGB IV: Sie sehen darin eine Entbürokratisierung. Das ist im Ansatz richtig, aber im vollen Umfang bezweifeln wir das. Natürlich begrüßen wir, wenn Sie mithilfe der Digitalisierung versuchen, bürokratische Hürden abzumildern. Aber das heißt eben gerade nicht, einfach nur komplexe, ja oft geradezu unverständliche Papierformulare genauso komplex und unverständlich auf den Bildschirm zu verschieben. Natürlich kann Digitalisierung dabei helfen, Bürger und Unternehmen von Bürokratie zu entlasten, aber nur, wenn man die Prozesse insgesamt verbessert, nicht nur den Bearbeitungsweg. Das gilt auch für die geplanten Änderungen des § 28a im SGB IV. In der vorgeschlagenen Form könnte ein Unternehmer zwar weiterhin Dritte beauftragen, sie aber nicht mehr voll in die Pflicht nehmen, also die Haftungsrisiken übertragen. Das halten wir angesichts der bereits genannten und weiterhin leider zunehmenden Komplexität des Sozial- und Abgabenrechts wie auch im Hinblick auf unsere erfolgreiche arbeitsteilige Gesellschaft für problematisch. ({0}) Nehmen wir eine der wichtigsten Berufsgruppen in diesem Zusammenhang: die Steuerberater. Wenn ich einem solchen Spezialisten diese Aufgabe übergebe, dann fördert es die Qualität. Das bedeutet aber auch, dass ich diesen Dienstleister in die Pflicht nehmen kann, indem ich ihm auch die Haftung für seine Arbeit übergeben darf. Das ist geradezu Sinn und Zweck der Beauftragung eines solchen Profis. ({1}) Wenigstens bei hochqualifizierten Berufsgruppen ist es sinnvoll, die bisherigen Haftungsübertragungen unangetastet zu lassen. In einem wichtigen Bereich schlagen Sie einige Änderungen vor, die auch wir für richtig halten: die Unfallversicherung. Sie muss angepackt werden. Wir begrüßen es, dass Sie den medizinischen Sachverständigenrat professionalisieren wollen, auch wenn wir über Details im Ausschuss noch einmal sprechen müssen. Wir sehen die Verbesserungen bei Berufskrankheiten. Auch über den Unterlassungszwang zu sprechen, halten wir für sinnvoll. Bedauerlich ist aber, dass eines der drängendsten Probleme der Unfallversicherung nicht angepackt werden soll: die systematische Schwäche der Gewerbeärzte im ganzen Land. Deren Zahl hat sich in den letzten Jahren praktisch halbiert. ({2}) Sie haben im System der Unfallversicherung eine ganz wichtige Funktion, nicht zuletzt als unabhängige Kontrolleure der Gutachter. Hier müssen wir unbedingt eine intensive Diskussion darüber führen, wie der Bund die Länder bei der Aufrechterhaltung, ja eigentlich beim Ausbau dieser Institution unterstützen kann. ({3}) In diesem Zusammenhang nehme ich gerne noch Bezug auf den Antrag der Linken; den angekoppelten Antrag der AfD können wir nach kurzer Prüfung rechts liegen lassen. ({4}) Liebe Kollegen der Linken, ja, es ist eine andauernde und schwierige Frage, welche Schwellenwerte, welche Zeiträume usw. beruflich bedingte Erkrankungen von anderen abgrenzen. Es ist wichtig, dass wir uns damit auseinandersetzen. Aber man muss einfach sehen, dass es am Ende immer auch Fälle geben wird, die auf der anderen Seite der Abgrenzung landen. Auf dem Weg dahin geradezu eine Front zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern aufzubauen, erscheint uns nicht als sinnvoll. ({5}) Die gesetzliche Unfallversicherung hat den Auftrag des Ausgleichs und der Risikominimierung, dem sie im Grunde ganz gut nachkommt. Laden wir das nicht unnötig ideologisch auf. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die Kollegin Jutta Krellmann hat das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Jutta Krellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004080, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Arbeit darf nicht krank machen. ({0}) Deshalb rede ich hier über Berufskrankheiten. Tausende Beschäftigte erkranken jedes Jahr durch ihre Arbeit. Zu Beginn meiner beruflichen Tätigkeit als Chemielaborantin war das Thema „Benzol als krebserregendes Lösungsmittel“ überall präsent und wurde hoch und runter diskutiert. Aber Arbeit kann auch anders krank machen, zum Beispiel durch das Tragen schwerer Lasten, durch Lärm und durch Stress. In Deutschland haben wir ein System, das die Folgen gesundheitlicher Einschränkungen durch die Arbeit im Betrieb entschädigt. Dafür zuständig sind die gesetzlichen Unfallversicherungen. Deren Beiträge bezahlt nur der Arbeitgeber, und das, Kolleginnen und Kollegen, ist auch gut so. ({1}) Allerdings wird es Betroffenen schwer gemacht, ihre Erkrankungen anerkannt zu bekommen. Daran werden die Reformpläne der Bundesregierung leider nichts ändern. Das Berufskrankheitenverfahren gleicht praktisch einem Hürdenlauf. Nur jede vierte angezeigte Berufskrankheit wird überhaupt anerkannt. Versetzen Sie sich in die Lage einer Betroffenen. Sie ist Krankenschwester und durch ihre Arbeit schwer erkrankt, körperlich angegriffen, ausgebrannt und nicht mehr in der Lage, zu arbeiten. Sie will eine Berufskrankheit anerkannt bekommen. Jetzt steht sie vor drei großen Hürden. Die erste Hürde ist: Ihr Leiden kann nur anerkannt werden, wenn es auf der sogenannten Berufskrankheitenliste steht. Doch diese Liste hat viele Lücken; sie ist noch lange nicht im 21. Jahrhundert angekommen. Die Aufnahme neuer Krankheiten dauert viel zu lange. Psychische Erkrankungen wie Burn-out sucht man vergebens, und das muss sich ändern. ({2}) Wir brauchen mehr unabhängige Forschung. Auch Fachleute wie Psychologen müssen über moderne Berufskrankheiten mitentscheiden. Ein sozialpolitischer Ausschuss aus Arbeitgebern, Gewerkschaftern und Vertretern von Sozialverbänden muss einbezogen werden. ({3}) Das hilft unserer Betroffenen jedoch nicht, wenn sie eine sehr seltene Berufskrankheit hat. Damit komme ich zur zweiten großen Hürde: Seltene Krankheiten schaffen es kaum auf die Liste der Berufskrankheiten. Die wenigen Fälle erschweren den wissenschaftlichen Nachweis. Hier brauchen wir dringend eine Härtefallregelung. Wir brauchen sie auch für Krankheiten, die durch mehrere Ursachen ausgelöst werden. Die dritte große Hürde für die Krankenschwester ist das Berufskrankheitenverfahren an sich. Es dauert oft Jahre. Schwerkranke überfordert das absolut. Hier brauchen wir mehr Fairness und Transparenz. Deshalb schlagen wir als Linke vor: Gutachter müssen finanziell unabhängig von der Unfallversicherung sein. Runter mit den Hürden! Doch am besten ist es, wenn Berufserkrankungen überhaupt nicht mehr entstehen. ({4}) Hier sind in erster Linie die Arbeitgeber in der Pflicht. Sie müssen endlich für mehr Arbeitsschutz und Prävention in den Betrieben sorgen. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort die Kollegin Beate Müller-Gemmeke. ({0})

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Gäste! Auch ich konzentriere mich auf die Berufskrankheiten, weil sie auch uns ein besonderes Anliegen sind. Hier besteht schon lange Handlungsbedarf. Es geht darum, dass Beschäftigte bei arbeitsbedingten Krankheiten verlässlich entschädigt werden. Jetzt kommt endlich eine Reform, und diese ist dringend notwendig. ({0}) Bei den neun häufigsten Berufskrankheiten gab es bisher keine Entschädigung, wenn die Betroffenen weitergearbeitet haben. Dieser sogenannte Unterlassungszwang entfällt jetzt. Es wurde auch Zeit; denn wer gibt schon seinen Job auf, ohne zu wissen, ob er tatsächlich Anspruch beispielsweise auf eine Rente hat. Mit dieser Änderung werden hoffentlich mehr erkrankte Beschäftigte entschädigt. Das ist eine echte Verbesserung. ({1}) Positiv ist auch, dass der ärztliche Sachverständigenrat professionalisiert wird. Er bekommt eine eigene Geschäftsstelle, und seine Arbeit wird transparenter. Auch das unterstützen wir; auch das ist überfällig. Was jedoch bei dieser Reform fehlt, ist eine Härtefallregelung; denn manche arbeitsbedingte Krankheiten kommen sehr selten vor und werden deshalb dann eben nicht regulär als Berufskrankheit anerkannt. Die Folgen der Krankheiten sind aber für die Betroffenen gravierend. Es geht hier schlichtweg um Einzelfallgerechtigkeit. Diese Leerstelle kritisieren auch die Arbeits- und Sozialminister der Länder. Für seltene Krankheiten braucht es eine Härtefallregelung; alles andere ist nicht gerecht. ({2}) Wir kritisieren auch, dass die anerkannten Berufskrankheiten noch immer stark durch industrielle Berufe, also männlich, geprägt sind. Es fehlt der Blick auf die Dienstleistungsarbeit, insbesondere auf die Arbeit im Gesundheits- und Sozialwesen, und damit auf Frauen. Es reicht nicht, dass Daten geschlechtsspezifisch erfasst werden. Notwendig ist endlich auch eine Auseinandersetzung mit den Belastungen in frauendominierten Berufen, beispielsweise in der Pflege, und damit, wie Frauen auf Belastungen reagieren. Auch bei den Berufskrankheiten muss endlich die Geschlechterperspektive berücksichtigt werden. ({3}) Das Berufskrankheitenrecht beschäftigt sich außerdem zu wenig mit den Krankheitsbildern der heutigen Zeit. Bei 43 Prozent der Frühverrentungen geht es um psychische Erkrankungen. In der Liste der Berufskrankheiten gibt es aber diese Erkrankungen nicht, und das muss sich ändern. Es geht hier immerhin um Menschen, die arbeiten und die wegen ihrer Arbeit krank werden. Wenn sich die Arbeitswelt verändert, dann verändern sich auch die Erkrankungen der Beschäftigten, und dann muss das auch bei den Berufskrankheiten berücksichtigt werden, und zwar heute und nicht erst in 10, 15 oder 20 Jahren. Vielen Dank. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Meine sehr verehrten Damen und Herren, im Laufe der Aussprache hat der Kollege Strengmann-Kuhn von den Grünen den Kollegen Schneider von der AfD als Rassisten bezeichnet. Lieber Herr Strengmann-Kuhn, ich erteile Ihnen für diese persönliche Herabwürdigung des Kollegen Schneider einen Ordnungsruf. ({0}) Der nächste Redner ist für die SPD-Fraktion der Kollege Michael Gerdes. ({1})

Michael Gerdes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004039, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Zuschauer auf den Tribünen! Wir beraten heute einen Gesetzentwurf mit unterschiedlichsten Inhalten. Vieles davon ist sicher etwas für Bürokratiekenner und Digitalisierungsspezialisten. Ich möchte mich in meiner kurzen Redezeit auf die greifbaren Veränderungen im Bereich der Unfallversicherung konzentrieren; denn hier sehe ich erhebliche Verbesserungen, die sehr im Sinne der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind und offenbar auch hier in diesem Hause Konsens finden. Die gesetzliche Unfallversicherung hat bei uns eine lange und gute Tradition. Wer durch seine Arbeit krank wird, hat Anspruch auf Entschädigung. Gleichzeitig haben wir aber auch das Recht, vor gesundheitsschädlicher Tätigkeit geschützt zu werden. Die gesetzliche Unfallversicherung steht somit nicht nur für Rentenleistungen, sondern auch für Rehabilitationen und Reintegration ins Arbeitsleben. Das sind wichtige und sinnvolle Errungenschaften in unserem Sozialstaat. ({0}) Bei allem Lob: Selbstverständlich muss jedes System auf seine Tauglichkeit überprüft und gegebenenfalls verändert werden, und genau das tun wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf. Wir überarbeiten die Regeln zur Feststellung und Anerkennung von Berufskrankheiten. Zentrale Punkte sind der Wegfall des Unterlassungszwangs – darauf ist hier schon mehrfach hingewiesen worden –, die Stärkung der präventiven Maßnahmen zur Vermeidung von Berufskrankheiten, die rechtliche Verankerung des ärztlichen Sachverständigenbeirats, die Beweiserleichterungen durch gesetzlich geregelte Gefährdungskataster, die Möglichkeiten zur rückwirkenden Anerkennung von Bestandsfällen sowie eine erhöhte Transparenz in der Berufskrankheitenforschung. Ich begrüße diese Schritte ausdrücklich. ({1}) Insbesondere den Wegfall des Unterlassungszwangs bewerte ich positiv. Das wird dazu führen, dass mehr Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihr Recht auf Entschädigung einfordern bzw. erstmals einfordern können. Der Preis der bisherigen Regelung ist hoch. Wer die krankmachende Tätigkeit aufgeben muss, fragt sich, wovon er bzw. sie leben soll. Keine Arbeit – kein Lohn. Ein anderer Job findet sich nicht von heute auf morgen, und auch Umschulungen sind ein langer Weg. In meiner Zeit als Betriebsrat habe ich viele erkrankte Kolleginnen und Kollegen im Anerkennungsverfahren begleitet. Zusätzlich zu den Krankheitssymptomen und den Existenzsorgen ist dann für viele Betroffene vor allem das Warten auf eine Entscheidung sehr langwierig. Mir ist klar, dass es vonseiten der Sozialverbände und Gewerkschaften weiter gehende Forderungen zur Verbesserung des Berufskrankheitenrechts gibt. Damit werden wir uns im Rahmen des parlamentarischen Verfahrens selbstverständlich auseinandersetzen. Meiner Meinung nach haben wir eine große Baustelle bei den Faktoren „Stress“ und „psychische Belastungen am Arbeitsplatz“. Hier kommt es immer häufiger zu Krankheitstagen. Ich meine, das ist eine Entwicklung, die uns nicht ruhig bleiben lassen kann, die uns nicht gefallen kann, eine Entwicklung, die sich aus dem Wandel der Arbeitswelt ergibt. Sie bringt neue Krankheitsbilder mit sich. Hier brauchen wir dringend mehr Erkenntnisse. ({2}) Abschließend – wir haben es gerade gehört –: Bei den Sozialwahlen im Jahr 2023 soll das Onlinewahlverfahren modellhaft erprobt werden. Wir werden auf Barrierefreiheit, mehr Wahlbeteiligung und damit Stärkung der Selbstverwaltung achten. ({3}) Ich finde, das sind gute Ideen. Herzlichen Dank und Glück auf! ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Max Straubinger, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute das SGB-IV-Änderungsgesetz in der ersten Lesung. Der Inhalt wurde vielfältigst dargestellt. Es sind hier sehr viele Änderungen im Sozialrecht und in den einzelnen Sozialgesetzbüchern vorhanden, die sehr positiv aufzunehmen sind und einen Fortschritt in unserem Sozialstaat bedeuten. Die Vorredner haben insbesondere die Veränderungen im Berufskrankheitenrecht – das ist auch wichtig; das ist eine sehr positive Weiterentwicklung –, die Abschaffung des Unterlassungszwanges und die besseren Anerkennungsmöglichkeiten, die vorgesehen sind, herausgestellt. Ich begrüße dies ausdrücklich für unsere Fraktion. Das bedeutet auch – das möchte ich herausstellen –, dass die Sozialpartner dies in Einigkeit beraten und herbeigeführt haben und wir dies im Gesetzgebungsverfahren dementsprechend auch übernehmen. Das ist im Sinne der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Ich bin überzeugt, dass dies ein großartiger Fortschritt ist. Wir als Union bedauern – darüber müssen wir noch diskutieren, auch bei den anschließenden Beratungen – die Abschaffung des Dienstordnungsrechtes bezüglich der DO-Angestellten. Es ist wichtig, dass die übertragenen Aufgaben auch wirkungsvoll erledigt werden können. Unfallversicherungsschutz ist eine wesentliche Aufgabe, die wir den Betrieben geben. Die damit betrauten Personen müssen das auch wirkungsvoll tun können; denn es kann zu Betriebsschließungen führen. Dafür bedarf es meines Erachtens einer besonderen Stellung. Deshalb müssen wir überlegen, ob wir den Unternehmen nicht die Dienstordnungsfähigkeit geben. Denn wir müssen feststellen: Bei den Unfallversicherungsträgern in Bayern bzw. in Nordrhein-Westfalen übernehmen diese Tätigkeiten auch Beamte. Ich bin überzeugt, dass dies auf alle Unfallversicherungsträger auszuweiten ist. Das wollen wir in die Beratungen einbringen. Uns als Union ist es wichtig, zwei weitere Dinge aufzunehmen, die derzeit nicht vorgesehen sind. Es geht um die Aufnahme der Bergarbeiter im Rückbau. Es ist nicht nachzuvollziehen, dass Bergarbeiter, die jetzt den Rückbau durchzuführen haben, untertage arbeiten und Sicherungsmaßnahmen einleiten, nicht in die Knappschaft aufgenommen werden. Ihre Aufnahme wollen wir in dieses Gesetzgebungsverfahren einbringen. ({0}) Was mir und uns allen ein wichtiges Anliegen ist: Wir haben derzeit eine befristete Regelung für ehrenamtliche Bürgermeister. Wenn sie einer beruflichen Tätigkeit nachgehen, sind sie, wenn sie frühzeitig in Rente gehen, bei der Zuverdienstmöglichkeit beschränkt. Der Zuverdienst soll für die ehrenamtlichen Bürgermeister auch weiter möglich sein. Die jetzige Sonderregelung, die wir ja bereits haben, soll zum 30. September entfristet werden, sodass sie ab 1. Oktober unbefristet weiterläuft. Werte Kolleginnen und Kollegen, ich möchte mich auch noch mit dem Berufskrankheitenrecht befassen. Frau Kollegin Müller-Gemmeke hat vorgeschlagen, hier eine Härtefallregelung zu finden. Natürlich kann man sich eine solche Härtefallregelung vorstellen und sie vielleicht auch machen. Aber es ist schon richtig, dass es in der Sozialstaatlichkeit Grenzen gibt. Das müssen letztendlich Gerichte entscheiden. Es kann nicht sein, dass zuerst ein Gericht bemüht wurde und wir dann mit einer Härtefallregelung daherkommen. Das kann es nicht sein, Frau Kollegin. ({1}) – Ja, das Sozialrecht mag manchmal schwierig sein. Von daher können und werden wir im Ausschuss darüber diskutieren. Ich persönlich habe möglicherweise nicht die Offenheit für dieses Thema wie Sie. ({2}) Ein weiterer Punkt: der Antrag der Linken. Mir geht es hier um die Sprache und die Unterstellungen gegen Unternehmen. Ich lese, dass sich die Unternehmen mit der Haftungsregelung, die sie haben, ihrer sonstigen weiteren Aufgabe „entledigen“. Seien wir doch stolz darauf, dass wir die Unfallversicherungsgenossenschaften haben und dass sie von den Unternehmen getragen werden. Die „entledigen“ sich nicht ({3}) – ja, Sie schreiben, dass sie sich „entledigen“ –, sondern sie nehmen diese Aufgabe aktiv wahr, Herr Kollege Birkwald. Das ist das Entscheidende auch mit Blick auf sozialstaatliche Prinzipien.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende.

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja. – Dass möglicherweise Anträge abgelehnt werden, gibt es auch im Sozialrecht. Nicht jeder Wegeunfall ist dem Beruf zuzuordnen. Darüber gibt es Rechtsstreite und möglicherweise dann auch Ablehnungen. Das ist aber in unserem Rechtsstaat meines Erachtens die richtige Antwort. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Kollege Straubinger. – Ich schließe die Aussprache.

Veronika Bellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003501, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nach dem Planungsbeschleunigungsgesetz aus dem Jahr 2018 hat die Regierungskoalition bereits im Januar dieses Jahres weitere Schritte zur schnelleren Realisierung von Verkehrsprojekten vorgenommen. Das ist ein sehr dynamischer Prozess, den wir auch ohne die Anträge von AfD und FDP in Gang gesetzt haben. Beide Anträge bestehen letztendlich aus Vorschlägen, die entweder schon lange auf dem Tisch liegen, sich bereits in der Umsetzung befinden, durch ihre vagen, nicht rechtskonformen Formulierungen keinerlei praktische Lösungsvarianten enthalten, wie zum Beispiel der AfD-Vorschlag zur Einrichtung einer Zentralstelle, oder die hauptsächlich auf europäischer Ebene entschieden werden. Hier nenne ich das Stichwort „Verbandsklagerecht“. Es ist ein weiteres Mal, dass beide Fraktionen schnell noch auf den Zug aufspringen wollen, der von uns schon längst mit der richtigen Weichenstellung auf die richtige Schiene gesetzt wurde. ({0}) – Nicht rückwärts, Herr Kollege. – Nach Bauernprotesten und Landwirtschaft hat offenbar insbesondere die FDP die Verkehrsinfrastruktur als neue Bühne für einigermaßen durchsichtige Schauspielereien für sich entdeckt. Am deutlichsten wird dies an der Forderung nach mehr Personal für die Genehmigungsbehörden; denn die Regierungskoalition hat schon Ende 2019 mit dem Bundeshaushalt 2020 für das Eisenbahn-Bundesamt 109 und für die Wasserstraßenverwaltung 152 zusätzliche Stellen beschlossen, ({1}) einem Bundeshaushalt, den Sie als Oppositionsfraktionen komplett abgelehnt haben. Aber jetzt gleichlautende Forderungen zu stellen, grenzt schon an Beschäftigungstherapie, und die brauchen wir wahrlich nicht. ({2}) Prioritär ist für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion das Thema Präklusion. Wenn also jemand mit einem Einwand verspätet kommt oder ein Einwand abgearbeitet ist, dann ist man juristisch präkludiert und kann mit dem gleichen Einwand später das Verfahren nicht noch einmal aufleben lassen. Präklusion bewirkt eine wesentliche Beschleunigung von Genehmigungs- und Gerichtsverfahren. Sie ist quasi ein Planungs- und Baurechtsturbo. Allerdings ist hier zeitliches Augenmaß gefragt. Denn aktuell läuft zu einer entsprechenden Regelung aus den Niederlanden ein Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof. Wir tun gut daran, das Urteil abzuwarten, um dann darauf aufbauend eine europarechtskonforme Präklusionsregel hier bei uns im Lande aufzustellen. ({3}) Sehr geehrte Damen und Herren, wir bekommen dank des beharrlichen Einsatzes unserer Verkehrsminister Dobrindt und Scheuer gegenüber dem Bundesfinanzministerium und der Beschlüsse des Koalitionsausschusses zusätzlichen finanziellen Rückenwind von 8 Milliarden Euro für die verkehrliche Infrastruktur und 3 Milliarden Euro für die digitale Infrastruktur. Mehr Geld alleine aber nützt nichts, und der Investitionshochlauf kann auch nur gelingen, wenn Planungs- und Baurecht sowie die Umsetzung im vernünftigen zeitlichen Verhältnis zueinander stehen. Konkret bedeutet das, dass beim Ausbau von Schienenwegen Planfeststellungsverfahren entfallen können, dass Anträge zum Glasfaserausbau schneller geprüft werden oder dass bei kleineren Projekten und Ersatzinvestitionen keine Umweltverträglichkeitsprüfungen mehr notwendig sind, aber insbesondere, dass Dopplungen vermieden werden, Verfahren vereinfacht und miteinander verzahnt werden. Stichworte sind hier das Raumordnungs- und das Planfeststellungsverfahren. Es ist nicht einzusehen, warum im Raumordnungs- und später im Planfeststellungsverfahren erneut fast identische Verfahrensschritte doppelt nacheinander ablaufen und dann auch doppelt so viel Zeit benötigen. Es gilt also, hier Abläufe durch Prozessintegration zu straffen. Planung und Bau müssen für die Menschen in greifbarem Zusammenhang sichtbar bleiben. Dabei gilt für die Bürgerbeteiligung: so viel, aber so früh wie möglich und danach nur noch so viel wie nötig. Beispiel Sachsen: Ich nenne die Bürgerdialoge der Deutschen Bahn zu den Schienenverkehrsprojekten Chemnitz – Leipzig oder auch Dresden – Prag. Das waren gut besuchte Veranstaltungen mit sehr kreativen und initiativen Vorschlägen. Wir müssen endlich wieder zeigen, dass Deutschland ein Land ist, das in einem realistischen Zeitraum – vom Beschluss des Projektes über die Planung bis hin zum Bau – Projekte für Infrastruktur und die Mobilität der Zukunft umsetzen kann. ({4}) Deshalb begrüßen wir, dass Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer an Ergänzungen arbeitet, die beim Bau von Radwegen und bei der Elektrifizierung von Bahnstrecken nur noch vereinfachte Planverfahren vorsehen. ({5}) Ich hoffe, dass er dafür das zustimmende Votum des Bundeskabinetts und im Bundesrat die notwendige Mehrheit auch bei grün regierten bzw. grün mitregierten Bundesländern bekommt. Dann werden wir bis Ende des Jahres das Investitionsbeschleunigungsgesetz auf den Weg bringen können – das immerhin vierte Planungsbeschleunigungsgesetz in dieser Legislatur. Die vorliegenden Anträge von AfD und FDP enthalten dazu weder neue Ansätze noch einen inhaltlichen Mehrwert. Das ist leider so. Jetzt schlage ich noch mal einen Bogen zur Präklusion.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Aber sehr kurz, bitte. ({0})

Veronika Bellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003501, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Genau, mache ich. – Sie erinnern sich: Präklusion bedeutet, dass man, wenn ein Einwand bereits abgearbeitet ist, mit dem gleichen Einwand später das Verfahren nicht mehr unterbrechen oder gar aufhalten kann. Mit den Anträgen von FDP und AfD verhält es sich genauso: Sie sind kein Fall juristischer, wohl aber einer von politisch-populistischer Präklusion. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Frau Kollegin Bellmann. – Für die AfD-Fraktion hat das Wort der Kollege Dr. Dirk Spaniel. ({0})

Dr. Dirk Spaniel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004899, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die heutige Debatte befasst sich mit der Beschleunigung von Infrastrukturprojekten. Das ist ja sicherlich mal etwas, bei dem wir weitgehend einer Meinung sind. Wir sehen einen erheblichen Verbesserungsbedarf bei der schnellen und effizienten Realisierung von Straßen-, Schienen- und Wasserstraßenprojekten. Wenn man sich die Gesamtsituation in unserem Land anguckt, dann kann man zusammenfassend sagen, dass zu viel Verwaltung, fehlende Transparenz und ein ausuferndes Klagewesen durch sogenannte Umweltverbände ({0}) dafür sorgen, dass der Bauzeitraum und auch die volkswirtschaftlichen Kosten sehr oft aus dem Ruder laufen. Sonst gäbe es ja diese Änderungen gar nicht. Wir erinnern uns noch alle an das Chaos um Stuttgart 21. Ich betone hier noch einmal: Die AfD-Fraktion und ich stehen diesem Bahnhofsprojekt kritisch gegenüber, aus verschiedenen Gründen, und sicherlich hätte es dieses Projekt mit uns so nicht gegeben. Aber man muss auch einmal festhalten, dass die Umweltverbände, die Grünen und auch einige Gewerkschaften die Bevölkerung mit teilweise fadenscheinigen Begründungen gegen den Bahnhofsbau aufgehetzt haben. Wochenlang hat dieses Land über Juchtenkäfer diskutiert, und heute sind sie alle vergessen. ({1}) Ein solches Verhalten ist für eine moderne Industrienation im Einzelfall peinlich, und im Wiederholungsfall untergräbt es den Anspruch dieses Landes, eine führende Industrienation zu sein. Diesen Weg gehen wir nicht mit. ({2}) In Anbetracht des Infrastrukturstaus der letzten Jahre und Jahrzehnte können wir es uns in diesem Land einfach nicht mehr leisten, dass Planungs- und Genehmigungsverfahren verzögert werden. Um die gesellschaftliche Akzeptanz zu erhöhen – und das ist sehr wohl ein Unterschied zu Ihrem heutigen Wirken –, brauchen wir vernünftige Einspruchsmöglichkeiten. Wir müssen den Menschen in diesem Land vermitteln, warum wir das jeweilige Infrastrukturprojekt brauchen. Andere Industrieländer mit hohen Umweltschutzstandards wie beispielsweise Dänemark zeigen, dass sich Infrastrukturprojekte schnell realisieren lassen. Übrigens gilt in Dänemark genau das gleiche EU-Recht wie in Deutschland. ({3}) Wir als AfD-Fraktion haben ja gehofft, dass die Bundesregierung endlich ideologiefrei ({4}) die drängenden Themen im Verkehrsbereich angehen wird. Doch leider zeigt sich mal wieder, dass Vernunft und Weitsicht mit dieser Regierung ohne Weiteres nicht möglich sind. Die geplanten Modellvorhaben mit Gesetzesrang beschränken sich auf acht Schienen- und fünf Wasserstraßenprojekte, und die Straße fehlt komplett. ({5}) Das ist, gemessen an der verkehrspolitischen Bedeutung von Straßen – da darf ich noch mal daran erinnern, dass 92 Prozent unseres Verkehrsaufkommens im Personenverkehr auf der Straße abgewickelt werden –, völlig unverständlich. ({6}) Selbst das Bundesverkehrsministerium erwartet in der Verkehrsprognose bis 2030 einen noch stärkeren Verkehr auf der Straße. Wir fordern die Bundesregierung deshalb auf, dass dem Straßenbau endlich die Priorität eingeräumt wird, die ihm zusteht. ({7}) Die Regierung hat die Chance verpasst, Straßenprojekte per Gesetzesvorhaben vor ideologischen Umweltverbänden zu schützen, die mit allen Mitteln den Ausbau der Straßeninfrastruktur in diesem Land verhindern wollen. Wir fordern daher: Die Regierung muss endlich die ideologischen Scheuklappen ablegen und der Realität ins Gesicht sehen. Die Straße ist und bleibt für viele Jahre der wichtigste Transportweg für die Bürger und die Wirtschaft in diesem Land. ({8}) Wir brauchen jetzt endlich eine Investitionsoffensive für die Straße. Deutschland ist eine Autofahrernation, und wir sind die Interessenvertretung der Autofahrer. ({9}) Vielen Dank. ({10})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist der Kollege Mathias Stein, SPD-Fraktion. ({0})

Mathias Stein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004904, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Bürgerinnen und Bürger! Vor einem Monat berieten wir in diesem Haus bereits den vorliegenden Antrag der FDP-Fraktion mit dem Titel „Verkehrsprojekte schneller realisieren – Ein modernes Planungsrecht für das 21. Jahrhundert schaffen“, vor sechs Wochen den Antrag der AfD-Fraktion mit dem Titel „Wirksame Maßnahmengesetze – Beschleunigung durch echte Beteiligung der Öffentlichkeit erzielen“. Seinerzeit habe ich mich bereits ausführlich mit dem Antrag der FDP auseinandergesetzt. Es bleibt dabei: Ihre Überschrift verspricht mehr, als der Inhalt Ihres Antrages halten kann. Mal übernehmen Sie unsere Forderungen, mal bewirken Sie mit Ihren Forderungen Verzögerung statt Beschleunigung. Mit der Forderung nach der Einschränkung der Rechte der Umweltverbände reißen Sie neue Gräben in der Gesellschaft auf. ({0}) Die Legende, dass das Verbandsklagerecht alle Infrastrukturprojekte verzögert, schimmert auch beim AfD-Antrag durch, und bei der Rede von Herrn Spaniel eben schimmerte das nicht nur durch, sondern das war überdeutlich. ({1}) Konkret schreiben Sie in Ihrer Begründung: Verbandsklagen sind ein bekanntes Problem, das beständig die Fertigstellung von Infrastrukturprojekten verzögert. Damit erwecken Sie den Eindruck, dass das Verbandsklagerecht das zentrale Problem in Deutschland sei. ({2}) So ärgerlich es ist, wenn beim Planen und Bauen das Verbandsklagerecht zur Anwendung kommt: Nach einer Studie des Sachverständigenrats für Umweltfragen sind lediglich – jetzt halten Sie sich fest – 0,04 Prozent aller Verfahren vor Verwaltungsgerichten auf Verbandsklagen zurückzuführen. Das ist also nicht das zentrale Problem. ({3}) Die Frage, wie wir schneller Schienen, Wasserstraßen und Straßen erhalten, ausbauen und sanieren können, packen wir als Koalition an. Wir haben bereits zwei Planungsbeschleunigungsgesetze, ein Maßnahmengesetzvorbereitungsgesetz sowie einen Entschließungsantrag in diesem Haus beschlossen. Damit aber überhaupt gebaut und geplant werden kann, benötigen wir ausreichende finanzielle Mittel, sprich: Investitionen, für unsere Verkehrswege. Dabei bin ich besonders stolz, dass wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten beim Koalitionsausschuss am Sonntag durchgesetzt haben, die Investitionen des Bundes in den nächsten Jahren deutlich zu erhöhen. Bis zum Jahre 2024 werden wir allein für die Verkehrswege 8 Milliarden Euro zusätzlich im Bundeshaushalt bereitstellen. ({4}) Gleichzeitig ermuntern wir die Länder und Kommunen, in einer Nationalen Investitionsallianz dafür zu sorgen, dass marode Brücken saniert, Straßen und Schienen wieder fit gemacht und Wasserstraßen nachhaltig entwickelt werden. Denn gerade in den Jahren, als nicht genügend Geld im Bundeshaushalt für Verkehrswege bereitstand, wurden Planungen gestreckt, verzögert oder verstaubten gar in Aktenschränken. Dieses und der Personalabbau in den öffentlichen Infrastrukturverwaltungen begründen im Wesentlichen den Sanierungsstau und auch die langen Bau- und Planungsphasen. Deshalb ist es so wichtig, dass wir in den letzten Jahren das Personal bei der Bahn, beim Eisenbahn-Bundesamt, bei den Wasserstraßen und der Autobahngesellschaft aufgebaut, neue Stellen geschaffen und mit ordentlichen Tarifverträgen für anständige Arbeitsbedingungen gesorgt haben. ({5}) Für unser Ziel des schnellen und nachhaltigen Bauens liegen noch ein paar Brocken mehr im Weg. Das haben wir erkannt, und deshalb handeln wir. Die Bundesregierung wird bis Juli 2020 ein Investitionsbeschleunigungsgesetz in den Bundestag einbringen. Dort werden wir Raumordnungs- und Planfeststellungsverfahren besser verzahnen, um Doppelarbeit zu vermeiden. Wir wollen für eine positive Beteiligungs- und Planungskultur sorgen und beim Naturschutz besser werden. Außerdem werden wir dafür sorgen, dass die Bundesregierung Maßnahmen ergreift, um beim Vollzug der Gesetze besser und schneller zu werden. Die Bundeskanzlerin wird das Thema „Planungs- und Investitionsbeschleunigung“ regelmäßig mit den Ministerpräsidenten erörtern und darauf drängen, dass die Instrumente für Beschleunigung aktiv genutzt werden. Ebenso wird die Bundesregierung auf europäischer Ebene Vorschläge einbringen, wie dort das Planungsrecht vereinfacht werden kann. Wir haben in den letzten Monaten also mächtig etwas geschafft, und wir haben auch noch mehr vor. Wir werden das auch schaffen. In diesem Sinne freue ich mich auf den Entwurf des Investitionsbeschleunigungsgesetzes der Bundesregierung. Im Sommer dieses Jahres packen wir das an und beseitigen die Hürden im Bereich Planen und Bauen. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Kollege Stein. – Der Kollege Bernd Reuther hat das Wort für die FDP-Fraktion. ({0})

Bernd Reuther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004864, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich spreche heute in Vertretung für meinen Kollegen Torsten Herbst. Keine Sorge, es geht ihm gut. Es handelt sich um eine reine Vorsichtsmaßnahme. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, mitten durch meinen Wahlkreis geht die sogenannte Betuwe-Linie. Seit fast 30 Jahren reden wir über dieses Projekt. Erst am Montag gab es im Verkehrsministerium eine Runde mit den betroffenen Bürgermeistern und dem Kollegen Enak Ferlemann. Auf niederländischer Seite ist dieses wichtige Schienenprojekt seit 15 Jahren fertig, in Deutschland sind Teile noch immer nicht planfestgestellt. Das ist die Realität in diesem Land. ({1}) In meinem Wahlkreis beginnt das Westdeutsche Kanalnetz. Die dortigen maroden Schleusen sind ein weiteres Indiz für die schleppende Planung in unserem Land. Seit Jahren wurden diese Wasserstraßen von der Bundesregierung sträflich vernachlässigt. ({2}) Nun müssen Nadelöhre wie der Wesel-Datteln-Kanal – ich bin ausdrücklich dankbar, dass die Bundesregierung ihn in ihr Maßnahmengesetz aufgenommen hat – schnellstmöglich ertüchtigt werden; ansonsten drohen den ansässigen Industriestandorten Lieferengpässe. Derlei Beispiele finden Sie überall in dieser Republik: Gotthardtunnel, Rheintalbahn, Fehmarnbeltquerung. Ich glaube, jeder von Ihnen kann in seinem Wahlkreis ein Projekt nennen, dessen Planung bzw. Bau sich über Jahre verzögert haben. Wir müssen Tempo aufnehmen. Eine Exportnation wie die unsere ist auf eine bestmögliche Infrastruktur angewiesen. Wenn wir also weiterhin wettbewerbsfähig sein wollen, müssen wir wichtige Infrastrukturprojekte schneller planen und bauen. ({3}) Dabei ist das eigentliche Problem von den meisten erkannt: Das derzeitige Planungs- und Genehmigungsrecht ist der Flaschenhals. Es geht also nicht mehr um zusätzliche Mittel, sondern darum, diese zu verbauen. Zum Glück hat das auch der Koalitionsausschuss erkannt und Sonntagnacht sieben Seiten zur Planungsbeschleunigung verfasst. Besonders freuen wir Freie Demokraten uns über die beinahe wortgleiche Übernahme von insgesamt acht unserer Forderungen. Diese Art des Plagiatsversuchs finden wir ausdrücklich gut. ({4}) Wir begrüßen die Forderung nach einer frühen Bürgerbeteiligung. Dadurch wird die Akzeptanz von Infrastrukturmaßnahmen stark erhöht. Ein weiterer Punkt ist die Digitalisierung von Planungs- und Genehmigungsprozessen. Hier kann wertvolle Zeit zielgenau eingespart werden. Im 21. Jahrhundert dürfen keine Akten mehr versandt werden. Es gibt eine Erfindung namens E-Mail, die häufig und gerne genutzt werden sollte. ({5}) Unser Antrag enthält aber noch mehr Forderungen, die nicht aufgenommen wurden. Konkret meine ich die Vermeidung von Umweltdoppelprüfungen oder von neuen gerichtlichen Zuständigkeiten. Das sind Maßnahmen, die für die Umsetzung von Schienen- und Straßenprojekten enorm wichtig sind. ({6}) Wir haben die Hoffnung, dass vielleicht beim vierten Anlauf eine grundlegende Reform für schnelleres Bauen gelingt. Wir wollen in der Sache vorankommen und werden, wenn es vernünftig ist, die Bundesregierung hierbei unterstützen. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Kollege. – Für die Fraktion Die Linke hat das Wort die Kollegin Sabine Leidig. ({0})

Sabine Leidig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004089, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Der Linken ist es nicht egal, was gebaut wird, sondern wir sind ganz stark daran interessiert, dass die Verkehrsinfrastruktur umgebaut wird und dass wir mehr Kapazität auf der Schiene kriegen, damit wir von der Straße auf die Schiene verlagern und Klimaschutzziele einhalten können und damit wir die Menschen in den hochbelasteten Städten, zum Beispiel die Anwohnerinnen an den Straßen, entlasten können. ({0}) Damit Bahnprojekte schneller vorankommen, gibt es ganz unterschiedliche Maßnahmen. Einen Teil hat die Bundesregierung bzw. die Koalition jetzt in die Wege geleitet. Ich gebe Frau Bellmann an dieser Stelle recht, dass der Antrag der FDP irgendwie hinterhergeklappert wirkt und man nicht so richtig weiß, warum das Fass eigentlich noch mal aufgemacht werden muss. Tatsächlich ist es so, dass die Schienenprojekte in der Vergangenheit vor allen Dingen nicht vorangekommen sind, weil zu wenig Geld investiert wurde. Der sogenannte Investitionshochlauf für die Schiene ist ja noch gar nicht alt. Wir haben da in den letzten 30 Jahren wirklich ein Desaster erlebt, weil die jeweiligen Bundesregierungen viel zu wenig in die Schiene gesteckt haben. Ich will an einem Beispiel verdeutlichen, was unter anderem auch zu Verzögerungen führt: Die Mitte-Deutschland-Verbindung soll elektrifiziert werden. Dafür ist ein Zeitraum von zehn Jahren vorgesehen. Davon sind allein vier Jahre für die europaweite Ausschreibung eingeplant, nur eineinhalb Jahre für das eigentliche Planfeststellungsverfahren. – Allein das zeigt, dass es viel zu kurz gesprungen ist, nur Verbändebeteiligungen oder Bürgerbeteiligungen als Grund für Verzögerungen anzusehen. Diesen Punkt möchte ich betonen. Bei der Rheintalstrecke – das ist eine andere total wichtige Bahnstrecke, sozusagen die Verlängerung der Betuwe-Linie – ist der Erfolg eingetreten, als die Vorschläge der Bürgerinitiativen endlich umgesetzt werden konnten, weil mehr Geld für die Maßnahmen bereitgestellt wurde. Es ist eben total unsinnig, Güterverkehrsstrecken durch kleine Ortschaften zu leiten und große landwirtschaftliche Bereiche zu zerstören. Die Bürgerinitiativen haben sehr konkrete und gute Vorschläge erarbeitet. Wenn man früher auf sie gehört hätte, hätte man diese Maßnahmen zehn Jahre früher abschließen können. ({1}) Deshalb ist aus unserer Sicht Folgendes wichtig – das ist mein zweiter Punkt –: Die Beteiligung von Bürgern, Beschäftigten und Naturschutzverbänden hilft, gute Projekte zu realisieren. Sie ist keine Hürde und kein Hindernis. Wir wollen mehr Demokratisierung, und wir wollen nicht nur frühe Bürgerbeteiligung, sondern auch gute Bürgerbeteiligung. Die dafür geltenden Kriterien werden ganz oft noch nicht eingehalten. Mein letzter Punkt. Wir brauchen mehr Personal bei den Bahnunternehmen, aber auch in den Planungsbehörden. Die FDP hat sich in der Vergangenheit wirklich nicht dadurch ausgezeichnet, dass sie das befördert hat. ({2}) Ich hoffe, Sie lernen da um und erkennen, dass gute Verwaltungen und gute öffentliche Dienste wichtig sind. Da sind wir dabei. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Stefan Gelbhaar für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Stefan Gelbhaar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004726, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Damen und Herren! Sie kennen sicher den Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“ von 1993. In dem Film wiederholt sich derselbe Tag wieder und wieder. So ist es auch hier: Erst im Januar haben wir zwei Gesetzentwürfe zu genau demselben Thema hier im Bundestag beraten und abgestimmt. ({0}) Wenn ich Sie von der FDP und von der AfD daran erinnern darf: Sie haben diesen Gesetzentwürfen zugestimmt. Sie haben sie nicht abgelehnt, Sie haben sich nicht enthalten, ({1}) Sie haben keine Änderungsanträge gestellt, nein, Sie haben zugestimmt. ({2}) Und jetzt rufen Sie das Thema wieder auf. Das erschließt sich mir nicht. ({3}) Noch eines: Das war vor der Hamburg-Wahl. Sie haben Ihre Spitzenfrau aus Hamburg, Katja Suding, hierhingestellt, die hat das vorgetragen. ({4}) Dann ist sie an der Fünfprozenthürde gescheitert, und jetzt ist Katja Suding nicht hier. Das Thema scheint für sie doch nicht so relevant zu sein. ({5}) Diese beiden Anträge sind ebenso wie der Film irgendwie 90er-Jahre. Wenigstens von der FDP, den sogenannten digitalen Vorreitern, hätte ich da ein bisschen mehr Schwung erwartet oder, wie man in den 90ern sagte, etwas „Peppiges“. ({6}) Unter Punkt 3 fordern Sie beispielweise mehr Digitalisierung. Nur das steht da, keine weiteren Ideen, nichts Inspirierendes, nichts Ausführliches. ({7}) Wie sieht die Digitalisierung von Verkehrsprojekten im 21. Jahrhundert aus Sicht der FDP aus? Fehlanzeige! Dazu ist nichts zu lesen. Smart ist das nicht. Da steht nichts zu offenen Daten, nichts zu Open Source, nichts zu neuen Messtechniken. Die Chance wurde einfach verpasst. ({8}) In geradezu epischer Breite, ganz im Stil des vergangenen Jahrhunderts, widmen Sie sich dann den Prüfungen im Bereich Umwelt- und Naturschutz. Die halten Sie für überflüssig; die wollen Sie gerne abschaffen. Ich frage mich wirklich, ob Sie den ökologischen Wandel der letzten 30 Jahre völlig verpasst haben. Dann kommt die ewige Leier – wir haben es gerade wieder gehört – von den bösen Verbänden. Ich sage Ihnen: Die ohnehin sehr wenigen Verbandsklagen – Herr Stein hat es schon ausgeführt – sind in der Hälfte der Fälle sogar erfolgreich. Das heißt, in diesen Fällen haben die Planungsbehörden Recht gebrochen. Dieser Rechtsbruch wird durch diese Klagen behoben. Und das wollen Sie von der FDP abschaffen. Das ist doch irre! ({9}) Der richtige Weg ist die frühzeitige verbindliche Bürgerbeteiligung. „Beteiligen“ heißt, sich mit Alternativen ernsthaft auseinanderzusetzen. Hier fehlt es bisher gänzlich an Standards, was echte, transparente, auch digitale Bürgerbeteiligung bedeutet. Aber auch dazu kein Wort von Ihnen. Sie wollen schneller planen und umsetzen. Das wollen wir auch. ({10}) Dafür braucht es aber nicht mehr Buchstaben auf Papier. Dafür braucht es mehr Personal in den Ämtern und in den Gerichten. Das ist vielleicht der einzig wirklich überraschende Punkt in Ihrem Antrag: Sie von der FDP beklagen den schlanken Staat. – Das ist überraschend. Da reibt man sich die Augen. Aber wir sind beruhigt; denn es wird trotzdem kein Vorschlag zur Abhilfe gemacht. ({11}) Dann mussten Sie überlegen: Wie lassen wir diesen Antrag enden? Sie haben sich einen krönenden Abschluss überlegt: Straßenbauprojekte sollen künftig per Gesetz beschlossen werden können. Sie wollen auch hier der Überprüfung vor Gericht entgehen. Herr Reuther, Sie haben das sehr wacker vorgetragen, aber der Antrag ist inhaltlich so alt, dass er schon staubt. ({12}) Als Fraktion, die lieber die Zukunft gestalten will, als die Vergangenheit zu verwalten, lehnen wir diesen und den anderen Antrag ab. Vielen Dank. ({13})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Florian Oßner für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Florian Oßner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004366, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Geschätzte FDP, langsam wird es wirklich ein Kasperltheater mit Ihren Schaufensteranträgen. ({0}) Vor vier Wochen haben wir bereits über diesen Antrag debattiert. Damals wie heute gilt: Die Große Koalition hat mit den verabschiedeten Planungsbeschleunigungsgesetzen I und II alle Punkte abgearbeitet, weswegen Ihr Antrag völlig überflüssig ist und bleibt. ({1}) Da bringt es auch nichts, ihn völlig identisch ein zweites Mal auf die Tagesordnung zu setzen und auch noch eine namentliche Abstimmung zu beantragen, die heute allerdings entfällt. Ein überholter Antrag bleibt ein überholter Antrag. Das wird auch durch ständige Wiederholung nicht besser. ({2}) Verstehen Sie mich nicht falsch: Mir ist die Planungsbeschleunigung wirklich wichtig. Da ich selber aus der Baubranche komme, ist das eine Herzensangelegenheit für mich; das dürfen Sie mir glauben. ({3}) Was ich aber nicht mag, sind unnötige Debatten. Wenn man über ein Thema spricht, sollte das sinnvoll und vor allem ziel- und lösungsorientiert sein. Das hier gleicht eher einer Verzweiflungstat von FDP und AfD, um in der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden. Ich kann mir gut vorstellen, wie verdreht das in den sozialen Netzwerken dargestellt werden wird. Hören Sie bitte endlich auf, die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land derart an der Nase herumzuführen. ({4}) Für parteitaktische Spielchen, um von den eigenen Unzulänglichkeiten bzw. Einflusslosigkeit abzulenken, ist das Thema wirklich zu wichtig und die Zeit hier im Plenum einfach zu kostbar. Zudem sollte der Bundestag wahrlich nicht für diese Spielchen missbraucht werden. An die FDP gerichtet kann ich nur sagen: Sie hätten die Chance gehabt, mitzuregieren; aber Sie haben sich dagegen entschieden, ({5}) weil Sie nicht den Mut dazu gehabt haben. Jetzt schlaue Sprüche aus der Opposition heraus zu klopfen, finde ich mehr als unangemessen. ({6}) Gerne stelle ich Ihnen nochmals die Maßnahmen der Regierungskoalition vor. Mit den Planungsbeschleunigungsgesetzen haben wir eine entscheidende Reform zur schnelleren Realisierung von Verkehrsprojekten eingeleitet – das ist ein Paradigmenwechsel –: Planungsverfahren für Ersatzneubauten bei Straßen und Schienen werden verschlankt, auch im Zuge der Digitalisierung. Die Kommunen werden von Finanzierungsbeiträgen nach dem Eisenbahnkreuzungsgesetz entlastet. Die neuen Regelungen werden auf Straßen und U-Bahnen nach dem Personenbeförderungsgesetz übertragen. Und wir haben die Möglichkeit der Genehmigung von Verkehrsprojekten per Gesetz eingeführt. Das bedeutet im Klartext: Für 13 Infrastrukturmaßnahmen haben wir Baurecht gesetzlich geschaffen und diese aus dem sonst üblichen Verwaltungsverfahren herausgelöst. Damit sind langwierige Klageverfahren vor den Verwaltungsgerichten in diesen Fällen ausgeschlossen, und die Baumaßnahmen können zügig vorangebracht werden. Für mich ist das ein absolut entscheidender Punkt. Allen verantwortlichen Verkehrspolitikern möchte ich dafür herzlich danken. ({7}) Mit der im Gesetz verankerten sehr frühen Öffentlichkeitsbeteiligung haben wir zudem sichergestellt, dass rechtzeitig über das jeweilige Vorhaben informiert wird und sich die betroffenen Bürgerinnen und Bürger hierzu äußern können. Für unsere Kommunalpolitiker, die die Verantwortung zu Hause tragen, ist das ein Riesenschritt nach vorne, gerade auch was die Bahnkreuzungsbereiche anbelangt. Man sieht auch daran, wie eng die Bundespolitik mit der Kommunalpolitik verbunden ist. Ich kann also nur nochmals unterstreichen: Wir sprechen nicht nur die Probleme an, sondern schaffen konkrete Lösungen vor Ort. Dies sollte auch der Maßstab für derartige zukünftige Projekte sein. Ich kann nur jeden hier in diesem Haus dazu auffordern, hier mitzumachen, um unser Land vom ewigen Diskussionsmodus in den Umsetzungsmodus zu schalten. ({8}) Sie sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Das Thema „schnelles Planen und Bauen“ ist in den Händen der CDU/CSU, der gesamten Koalitionsfraktionen sehr gut aufgehoben. ({9}) Vielen Dank an dieser Stelle noch einmal an unser Bundesverkehrsministerium für die hervorragende Vorarbeit zu diesem eingeleiteten Reformprozess. Die beiden Anträge von AfD und FDP wirken vor all diesem Hintergrund daher völlig sinnentleert. Herzliches Dankeschön fürs Zuhören. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache.

Tabea Rößner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004138, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist nicht schwer, online einen Vertrag abzuschließen; das geht mit einem Klick. Seit 2012 müssen Unternehmen auf ihrer Webseite einen Bestellbutton für den Vertragsabschluss vorsehen. So weiß ich: Wenn ich jetzt hier klicke, dann gilt der Vertrag. – Das ist eine sinnvolle Regelung; die haben wir damals auch gefordert. Nicht so einfach ist es, aus einem so geschlossenen Zeitungsabo oder Handyvertrag wieder herauszukommen, schon gar nicht online. Viele Unternehmen bauen da zahllose Hürden auf oder verlangen eine schriftliche Kündigung. Das ist absurd, und das wollen wir ändern. ({0}) Einige Unternehmen bieten online einen Kündigungsvermerk an. Das heißt aber nicht, dass der Vertrag tatsächlich gekündigt wird. Nein, da meldet sich dann jemand vom Callcenter und zwingt dem Kunden einen unfreiwilligen Dialog auf, nach dem Motto: Wollen Sie wirklich kündigen? – Der Kündigungsprozess wird so zu einem unerwünschten Kundenbindungsprogramm. Dieser Spießrutenlauf wäre ganz einfach zu vermeiden, wenn es denn politisch gewollt wäre; aber genau da, meine Damen und Herren, liegt der Hase im Pfeffer. ({1}) Faire Verbraucherverträge hat sich das Verbraucherschutzministerium angeblich auf die Fahnen geschrieben. Seitdem folgt eine Ankündigung der anderen, aber es liegt bisher kein abgestimmter Gesetzentwurf vor. Das unionsgeführte Bundeswirtschaftsministerium blockiert den Vorschlag des SPD-Ministeriums. ({2}) Es wäre ja auch verwunderlich, wenn Verbraucherschutz auf der Prioritätenliste der Bundesregierung plötzlich vor dem Schutz der Wirtschaft stehen würde – vorher lernen Schweine fliegen. Bis dahin müssen wir Grüne uns für die Verbraucherrechte einsetzen. ({3}) Der Referentenentwurf ist nicht einmal mutig. Da fehlt zum Beispiel eine allgemeine Bestätigungslösung für Verträge, die einem am Telefon aufgeschwatzt werden, Sie wollen nur eine Branchenlösung. So wird das zum Verschiebebahnhof. Gerade der Telekommunikationssektor müsste aber dringend einbezogen werden; denn da bestehen die größten Probleme. Es gibt also ganz eklatante Lücken. Der Kündigungsbutton ist auch so eine. Dabei wäre eine solche Lösung doch sehr naheliegend. Zu diesem Ärgerthema gab es bereits mehrere Petitionen an den Bundestag. Die Bundesregierung hat dieses Thema wieder einmal komplett verschlafen. Wir wollen sie mit unserem Antrag aufwecken. Setzen Sie unsere Lösung um, und stärken Sie die Rechte der Verbraucherinnen und Verbraucher! ({4}) Wir Grüne haben uns des Themas angenommen und eine qualitative Studie in Auftrag gegeben, die zeigt: Der Kündigungsprozess wird unnötig erschwert. Die Unternehmen stellen perfide, ausgeklügelte Hürden auf, da sie die Kunden nicht aus den Verträgen entlassen wollen. Das ist aus Sicht der Unternehmen nachvollziehbar. Aber ich finde immer noch, Verbraucherinnen und Verbraucher sollten von der Qualität der Produkte überzeugt werden. ({5}) Wir Grüne stellen uns an die Seite der Verbraucherinnen und Verbraucher und fordern, dass Unternehmen auf ihren Webseiten einen einfach auffindbaren, barrierefreien und leicht verständlichen Kündigungsbutton vorsehen müssen, wenn dort für den Vertragsabschluss auch ein Bestellbutton vorhanden ist. Zudem schlagen wir weitere Verbesserungen im elektronischen Geschäftsverkehr vor, wie eine klar ersichtliche Empfangsadresse und eine automatische Empfangsbestätigung. Meine Damen und Herren, das alles ist kein Hexenwerk und wäre auch alles leicht umzusetzen. Wenn jetzt aber von Ihnen wieder hanebüchene Ausflüchte kommen, warum Sie diese Initiative nicht unterstützen können, dann dürfen Sie sich nicht wundern, wenn in Umfragen auch in Zukunft uns Grünen immer das stärkste Engagement für die Verbraucherinnen und Verbraucher zugestanden wird. Vielen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Sebastian Steineke das Wort. ({0})

Sebastian Steineke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004417, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörer! Die hier vorliegenden Anträge von Bündnis 90/Die Grünen und FDP sind ein bisschen spät gekommen. Wir müssen in den Ausschussberatungen sehen, wie wir damit zurande kommen. ({0}) – Wir haben noch nicht alles durchgearbeitet. – Die Anträge bieten uns grundsätzlich die Möglichkeit, uns zum Thema „Verbraucherschutz im Vertragsrecht“ auszutauschen. Wir haben, glaube ich, alle das Ziel und die Auffassung, dass Verbraucherinnen und Verbraucher vor unlauteren Geschäftsmethoden geschützt werden müssen. Wir haben das Thema Inkasso. Wir haben das Thema Telefonwerbung, und wir haben Themen wie Wucherpreise und sonstige Dinge. Eine große Zahl von diesen Punkten werden wir zum Beispiel in den nächsten Wochen und Monaten in dem Gesetz für faire Verbraucherverträge beraten. Die Ministerien haben sich weitgehend geeinigt, zumindest auf die Freigabe. Insofern: So schlimm, wie das die Kollegin beschrieben hat, ist es dann auch nicht. In dem jetzt von den Grünen insbesondere angesprochenen Themenbereich haben wir bereits 2011, übrigens unter einer von CDU/CSU und SPD geführten Bundesregierung, den Button für den Abschluss kostenpflichtiger Verträge eingeführt, also schon einen enormen Schritt im Verbraucherschutz gemacht. 2016 haben wir den nächsten Schritt gemacht und haben das Gesetz zur Verbesserung der zivilrechtlichen Durchsetzung von verbraucherschützenden Vorschriften des Datenschutzrechts beschlossen. ({1}) Auch da haben wir schon eine Menge Erleichterungen auf den Weg gebracht. ({2}) Dort haben wir zum Beispiel formuliert, welche Formanforderungen die Verwender durch Bestimmungen in AGBs, besonders in Verbraucherverträgen, vereinbaren können. Durch vorformulierte Vertragsbedingungen soll mit Verbrauchern nur noch Textform für Erklärungen vereinbart werden können, die der Verbraucher gegenüber dem Verwender oder einem Dritten abzugeben hat. Ein Unternehmer benötigt Kündigungen, andere Erklärungen, Widerrufe oder Anzeigen eines Verbrauchers nach § 309 BGB danach nicht mehr in Schriftform. Ob diese Bestimmungen so ausreichen – da kommen wir zusammen –, ist in der Tat zweifelhaft, wie die Praxis leider häufig zeigt. Das kann jeder, der selber kündigt, nachvollziehen. Wir haben dazu übrigens auch eine Regelung im Koalitionsvertrag. Die lautet: Wir erleichtern Verbraucherinnen und Verbrauchern die Rechtsdurchsetzung durch Digitalisierung, insbesondere bei smart contracts. Deshalb werden wir die Entwicklung der automatischen Vertragsentschädigung fördern und rechtssicher gestalten. Der Kollege Ullrich sagt dazu nachher noch ein paar Worte. Der Antrag greift damit auch unbestritten eine Forderung von uns auf. Wir als CDU/CSU verstehen unter dieser Formulierung ausdrücklich auch deutliche Erleichterungen für die Verbraucherinnen und Verbraucher bei den Kündigungen. Dort haben wir mit Sicherheit Nachholbedarf; soweit sind wir uns einig. Wir könnten uns auch hier als CDU/CSU eine deutlich stärkere Initiative des Ministeriums vorstellen; das können wir so klar sagen. Da hätte man auch bei den fairen Verbraucherverträgen schon einen Punkt setzen können. Da können wir durchaus mehr Verbraucherschutz wagen. ({3}) Nun direkt zum Antrag der Grünen. Der Ansatz, den Sie verfolgen – das habe ich schon gesagt –, ist grundsätzlich zu begrüßen. Sie fordern eine Verpflichtung für Unternehmen, einen einfachen und verständlichen Kündigungsbutton analog zum Bestellbutton aufzunehmen. Unternehmen, die einen Vertragsabschluss im elektronischen Geschäftsverkehr anbieten und ermöglichen, sollen zudem eine E-Mail-Adresse als Empfangsvorrichtung für Kündigung oder Widerruf klar und verständlich anbieten. Das ist durchaus nachzuvollziehen. Ja, der Kündigungsablauf oder die Kündigungswege sind zum Beispiel im Bereich des Mobilfunks laut Daten der Marktwächter – dazu gibt es eine repräsentative Umfrage – eines der Hauptärgernisse der Kunden. Das ist bei einer hohen Vertragswechselquote von bis zu 30 Prozent der Befragten im Telekommunikationsbereich schon eine erhebliche Anzahl. Wir haben aber neben der Kündigungshandlung selber – Sie haben es auch angesprochen – noch weitergehende Probleme, die vielleicht noch größer sind, zum Beispiel die Fragen: Was ist mit einem Sonderkündigungsrecht? Wann greift das genau? Was ist mit den Abläufen nach der Kündigung? Ich nenne hier nur einmal die Portierung von Nummern, ein ewiges Thema. Was ist mit dem Widerruf von Kündigungen, die man gemacht hat, weil man jetzt ein besseres Angebot vom alten Anbieter bekommen hat? Oder wie ist es mit den Beweispflichten in all diesen Fällen? Insofern greift Ihr Antrag eben nur einen Teilaspekt des ganzen Themas Kündigung auf. ({4}) – Ja, das wollen wir Ihnen zugestehen: Einen Teilaspekt haben Sie aufgegriffen. Deswegen gilt natürlich, liebe Kolleginnen und Kollegen: Auch wenn der Antrag diesen wichtigen Aspekt herausgreift und auch diskutabel ist – das ist ohne Weiteres so –: Ob jede einzeln formulierte Forderung der Grünen an die Bundesregierung zielführend ist, müssen wir diskutieren und müssen wir abwarten. ({5}) Insbesondere brauchen wir zu diesen anderen Punkten zeitnahe und rechtssichere Lösungen, gerade zum Thema Vertragswechsel. Ob der Antrag all dem gerecht wird, muss man sehen. Wir sind aber zuversichtlich, dass wir zu diesem Thema in diesem Hause noch vernünftige Vorschläge beraten werden. Wir haben das Thema „faire Verbraucherverträge“. Wir haben auch noch andere Gesetzentwürfe. Wir können im Rahmen dieses Gesetzentwurfes darüber diskutieren. Da passt dann aus unserer Sicht auch das Thema des FDP-Antrages wieder dazu, der im Rahmen der Laufzeitverträge zu diskutieren sein wird. Gerade bei diesem Gesetzesvorhaben sollten wir die Vorschläge gemeinsam diskutieren. Ich denke, wir werden dann auch zu guten Ergebnissen kommen. ({6}) Vielen Dank. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Lothar Maier für die AfD-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Lothar Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004812, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Allen Dauerschuldverhältnissen zwischen Verbrauchern und Unternehmen ist gemein, dass die Verträge sich in der Regel automatisch verlängern, wenn der Verbraucher nicht innerhalb einer bestimmten Frist diesen Vertrag kündigt. Will der Verbraucher kündigen, ist ihm oftmals nicht ohne Weiteres ersichtlich, an welche konkrete E-Mail-Adresse er diese Kündigung zu senden hat. Er muss also seinen Vertrag und insbesondere die AGB durchsehen, um die korrekte E-Mail-Adresse herauszufinden. ({0}) Deshalb ist der Gedanke, Verbrauchern, die mit Unternehmen auf elektronischem Wege ein Dauerschuldverhältnis eingegangen sind, die Möglichkeit zur Kündigung ihres Vertrages per Kündigungsbutton zu verschaffen, dem Grunde nach richtig. Auch der Pflicht für Unternehmen, die Vertragskündigung elektronisch zu bestätigen, stehen wir aufgeschlossen gegenüber. Leider ist nun der Forderungskatalog, den die Grünen hier aufstellen, so schlampig abgefasst, dass er den Respekt vor der Befassung durch dieses Hohe Haus vermissen lässt. ({1}) Hier ist erstens zu bemängeln, dass die Forderung, die eine Pflicht zum Vorhalten eines Kündigungsbuttons vorsieht, so dilettantisch formuliert ist, dass sie keine Unterscheidung trifft zwischen Vertragsverhältnissen von erstens Unternehmen mit Verbrauchern, zweitens Verträgen zwischen Verbrauchern, drittens Verträgen zwischen Unternehmen. Natürlich steht es auch Verbrauchern frei, den Abschluss von Verträgen über einen Onlinebutton anzubieten. Ebenso können Unternehmer gegenüber anderen Unternehmern diese Art des Vertragsabschlusses ermöglichen. Was wir aber nicht brauchen, sind weitere bürokratische Hürden für den Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen. Zweitens ist aus dem Antragstext nicht ersichtlich, ob er sich nur auf Verträge bezieht, bei denen das Recht zur ordentlichen Kündigung gegeben ist. Dies ist bei Verträgen zwischen Unternehmen, also Business-to-Business, aber nicht immer gegeben, sondern oftmals nur eine Kündigung aus wichtigem Grund nach § 314 BGB. Der Versuch, allein durch die Begründung, die ja nicht Bestandteil des Gesetzes wird, der Antragsforderungen eine Einschränkung zu erreichen, kann diesen Fehler nicht beheben. ({2}) Drittens scheint den Antragsstellern nicht klar zu sein, dass ein einfach auffindbarer Kündigungsbutton ein Missbrauchspotenzial in sich birgt. Es kann nicht sein, dass Dritte in meinem Namen einen Vertrag kündigen, wenn sie nur meinen Namen eingeben und einen Knopf drücken. Erforderlich wäre es gerade zum Schutz von Verbrauchern, dass diese sich über geheime Zugangsdaten einloggen, bevor ein Klick zur Kündigung führen kann. Davon ist im Antragstext nicht die Rede. Aber so etwas muss in einem solchen Fall in ein Gesetz aufgenommen werden. Viertens bleibt es das Geheimnis der Grünen, welche Art von Sanktionen ihnen für einen Verstoß gegen die Pflicht zur Vorhaltung eines Kündigungsbuttons als zweckmäßig erscheint. Wer Sanktionen fordert, sollte zumindest angeben, ob er an Geldstrafen und, wenn ja, in welcher Höhe oder an Haftstrafen oder was sonst immer denkt. Aus diesen zahlreichen Gründen werden wir Ihrem Antrag in den Ausschussberatungen nicht zustimmen können. Aber wenn Sie es noch einmal versuchen wollen: Wir können uns gerne zusammensetzen. Ich zeige Ihnen dann, wie es richtig geht. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Falko Mohrs für die SPD-Fraktion. ({0})

Falko Mohrs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004824, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin dann auf die Ergebnisse des Gespräches gespannt. Vielleicht bekommen wir ja einen kurzen Bericht darüber. Aber kommen wir zu den Anträgen zurück; denn in der Tat ist man – ich glaube, fast jeder von uns kennt es, und das ist hier angesprochen worden – oft viel schneller drin, in dem Fall in Verträgen – das haben schon andere festgestellt –, und dann wird es auf einmal kompliziert: Wie komme ich wieder raus? Wie sind vielleicht die kleingedruckten Bedingungen? All das ist oft in der Realität dann nicht besonders verbraucherfreundlich. Es gibt komplizierte Wege, um einen online eigentlich sehr einfach abgeschlossenen Vertrag zu kündigen, wenn man diesen Weg dann überhaupt versteht oder findet. Die Kollegin Rößner hat das, finde ich, sehr treffend beschrieben, was hier tatsächlich das Problem ist – ich glaube, die meisten von uns kennen es –, und das, obwohl es doch so einfach war, den betreffenden Vertrag abzuschließen. Oder: Telefonisch wird einem ein super Angebot gemacht, und bei kritischer Durchsicht aller Details im Anschluss stellt man fest: So richtig ultimativ gut war das Angebot dann irgendwie doch nicht, wie man es vielleicht vermutet hatte. Die tatsächlichen Kosten sind nicht transparent; die Vertragsbedingungen sind es nicht usw. Oder – auch das ein Problem, das angesprochen und erkannt wurde –: Die Verträge laufen über zwei Jahre, haben Vertragskündigungsfristen von drei Monaten, verlängern sich locker mal um weitere zwölf Monate. Auch das alles, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist nicht besonders verbraucherfreundlich. ({0}) Das ist übrigens oft in der Folge ein Problem, das insbesondere junge Menschen trifft – wir sehen das –, die dann besonders häufig von Verschuldung betroffen sind, weil vielleicht die vertraglichen Pflichten von Dauerschuldverhältnissen über lange Zeit angehäuft und nicht richtig durchblickt worden sind. Man sieht das auch daran, dass im Jahr 2018  27 Prozent aller Schuldnerinnen und Schuldner in der Schuldnerberatung jünger als 25 Jahre waren. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, zeigt doch ganz deutlich: Insbesondere für diese Zielgruppe gibt es Handlungsbedarf. ({1}) – Ja, wissen Sie, Hinweise von der AfD zur schlechten Schulbildung lassen wir bei Ihrem Historienverständnis, das Sie hier an den Tag legen, beiseite, und zwar auf der rechten Seite. ({2}) Es gibt aus dem Bundesjustizministerium einen Gesetzentwurf; er ist angesprochen worden. Das Faire-Verbraucherverträge-Gesetz steht an, und es ist – das zeigt ja auch die Vielzahl an Einwendungen, an Anmerkungen, die gekommen sind – ein Gesetzentwurf, der nicht gerade unumstritten ist. Ich nehme das, was der Kollege Steineke hier sehr positiv angemerkt hat, auf: Wir sind im Verfahren bereit, noch Verbesserungen aufzunehmen, vielleicht auch aus der Debatte heute. Der Parlamentarische Staatssekretär Lange hat sich vorhin auf den Hinweis von Herrn Steineke erfreut Notizen gemacht, ({3}) dass wir alle bereit sind, noch mehrere Dinge aus der Debatte hier aufzunehmen. Ich kann sagen: Wir sind offen dafür, nicht nur bei der Frage von Laufzeiten von Verträgen, bei der Verkürzung von Kündigungsfristen und bei der Begrenzung von automatischen Verlängerungen. Wir haben vorgeschlagen, dass die Verlängerung maximal drei Monate betragen darf. Wir sind eben auch bereit, darüber hinausgehende Verbesserungen für Verbraucherinnen und Verbrauer in dieses Gesetz aufzunehmen. Ich freue mich da wirklich auf die Beratungen, die wir auch nach der heutigen Diskussion hier führen können. Es gibt übrigens noch etwas, was in dem Vertrag vorgesehen ist. Ich glaube, auch das ist wichtig, und wir können gerne über weitere Dinge sprechen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir wollen eine Bestätigungslösung einführen, wonach Verträge, die über Telefon mit einem Strom- oder Gaslieferanten abgeschlossen wurden, erst nach Vorliegen einer entsprechenden Schriftform gültig werden. Wir hätten uns vorstellen können, dies übrigens auch für andere Branchen, in denen es Dauerschuldverhältnisse gibt, einzuführen. Ich finde, auch das ist etwas, bei dem wir im parlamentarischen Verfahren durchaus noch nachlegen können. Ich freue mich auf jeden Fall, wenn wir hier bis zur nächsten Beratung noch mehr Fleisch an den Gesetzentwurf bekommen. ({4}) Also, meine Damen und Herren, wir wollen ganz klar bei der Transparenz von Verträgen, bei der Möglichkeit, diese zu kündigen, die Rechte und Pflichten, die mit einem Vertragsabschluss verbunden sind, für Verbraucherinnen und Verbraucher stärken. Das Faire-Verbraucherverträge-Gesetz ist ein richtiger, ein wichtiger Schritt dazu. Wir sind bereit, da mit anzupacken. Ich freue mich auf die Beratungen. Eines sei vielleicht noch einmal gesagt, weil wir ja auf Ihren Antrag noch gar nicht so richtig eingegangen sind, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP: Mit Ihrem Antrag haben wir zwei ganz wesentliche Probleme. Erstens wissen Sie vermutlich auch, dass wir mit dem, was Sie hier ansprechen, dass Sie nämlich Durchschnittspreise am Anfang angeben wollen, so wie man im Supermarkt die 100-Gramm-Preise für jedes Produkt nachvollziehen kann, ein rechtliches Problem haben. Es ist national überhaupt nicht möglich, das einzuführen. Wir haben dort die Preisangabenrichtlinie; sie ist voll harmonisiert. Insofern würde ich sagen: Da sollte man erst noch einmal die Rahmenbedingungen klären. Das, was Sie dann wollen, sind aus meiner Sicht echt nur Nebelkerzen. Wir wollen dafür mehr Transparenz. Wir sind bereit, das im Verfahren noch zu verbessern. Ich freue mich auf die Beratungen. Alles Gute! Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun die Kollegin Katharina Willkomm das Wort. ({0})

Katharina Kloke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004783, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die fortschreitende Digitalisierung unseres Alltags ist eine feine Sache. Viele Verträge können heute schnell und unkompliziert im Internet geschlossen werden. Auch wenn verständlicherweise nicht jeder Ladenbesitzer über diesen Umstand glücklich ist, so hat der Onlinehandel doch etwas Wichtiges erreicht: Er sorgt für mehr Wettbewerb. Verbraucherinnen und Verbraucher haben dadurch ein breiteres Angebot und niedrigere Preise. Mit der Möglichkeit, Verträge bequem online zu schließen, stellt sich aber häufig das Kartoffelchipsproblem: Zugreifen ist einfach, Aufhören fällt schwer, ({0}) vor allem, weil immer noch so viele Anbieter die Kündigung von Verträgen bewusst verkomplizieren. Wer mit Wechselboni und unvernünftig niedrigen Einstiegspreisen Neukunden gewonnen hat, der gibt sie ungern wieder her. Kundenbindung heißt aber nicht, Verbraucher durch juristische Fallstricke und versteckte Kontaktdaten an einen Vertrag zu fesseln. Kunden bleiben, wenn gute Produkte einen dauerhaften Mehrwert bieten. ({1}) Die Grünen wollen jetzt das Kündigen einfacher machen. Ihr Kündigungsbutton ist tatsächlich ein vernünftiger Ansatz. ({2}) Einen solchen Button einzurichten, wird auch die Anbieter nicht überfordern. Bereits jetzt setzen etliche Unternehmen, allen voran die Streaming-Dienste, solche Kündigungsbuttons ein. Uns Freien Demokraten liegt neben einer verbraucherfreundlichen und rechtssicheren Kündigung von Langzeitverträgen aber noch etwas Wichtigeres am Herzen, nämlich die Frage: Was kostet der Spaß? Auf diese Frage bekommen Verbraucher meistens keine klare Antwort. In Werbeprospekten, auf Internetseiten oder Pappaufstellern springen den Verbrauchern übergroße Preisangaben ins Auge, die den neuen Handy- oder Fitnessstudiovertrag für eine Handvoll Euro im Monat bewerben. Das kleine Sternchen – und das gibt es immer – übersieht man leicht. Im Kleingedruckten offenbart sich dann gerne, dass der Preis nach den ersten drei oder sechs Monaten deutlich ansteigt. Außerdem sind zusätzlich Einrichtungsgebühren, Anschlussgebühren oder Gerätemieten zu zahlen. Mag der Anbieter auch gute Gründe haben, diese Nebenkosten nicht einfach einzupreisen, so hat diese Praxis für Verbraucher zwei erhebliche Nachteile: Sie können nur schwer überblicken, welche Gesamtkosten auf sie zukommen, und sie können Verträge schlecht vergleichen. Wir Freien Demokraten wollen daher mit unserem Antrag für Transparenz bei Langzeitverträgen sorgen. ({3}) Dazu sollen Anbieter von Langzeitverträgen bei der Werbung und bei der Vertragsanbahnung einen monatlichen Durchschnittspreis angeben müssen. Sprich: Alle Kosten, die beim Abschluss des Vertrages schon feststehen, werden zusammengerechnet und dann durch die Anzahl der Monate geteilt, die der Vertrag mindestens läuft. Diese Durchschnittspreisangabe wird neben dem Werbepreis angegeben. Genau wie am Supermarktregal genügt damit ein Blick für einen Vergleich, und man kann leicht einschätzen, ob man sich einen Vertrag wirklich leisten kann. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Niema Movassat für die Fraktion Die Linke. ({0})

Niema Movassat (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004114, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nie war es einfacher, Handyverträge, Versicherungen oder Zeitungsabos abzuschließen: Kurz ins Internet, und mit wenigen Klicks ist der Vertrag abgeschlossen. Während der Vertragsschluss kinderleicht ist, gestalten viele Unternehmen den Weg zur Kündigung für die Verbraucher wie ein Labyrinth. Ich musste das vor Kurzem selbst erleben. Ich wollte meinen Telefonvertrag kündigen. Ich konnte diesen Kündigungswunsch zwar im Kundenportal hinterlegen, aber ich musste zwingend innerhalb von zwei Wochen anrufen: Eine halbe Stunde in der Warteschleife des Anbieters, eine Diskussion mit dem Mitarbeiter des Unternehmens, und endlich war die Kündigung geschafft. Aber solche verbraucherfeindlichen Hürden müssen endlich weg. ({0}) Wenn ein Kunde kündigen will, dann muss das mit einem Klick möglich sein. Die Kündigung muss genauso leicht sein wie der Vertragsabschluss. ({1}) Die Realität sieht doch anders aus. Zwar bieten viele Telefon- und Versicherungsunternehmen mittlerweile Kundenportale im Internet an; aber kündigen kann man da nicht. Und per E-Mail kündigen? E-Mail-Adressen geben viele Unternehmen erst gar nicht heraus, damit man ihnen auch keine Kündigung per E-Mail schicken kann. Und wenn sie eine E-Mail-Adresse haben, dann antworten sie nicht, wenn man per E-Mail kündigt. Und telefonisch kündigen? Während Verträge am Telefon meistens über kostenlose Hotlines schnell und nach kurzer Wartezeit abgeschlossen sind, muss man bei der Kündigung die teure Hotline anrufen und ganz lange in der Warteschleife warten. Bei vielen Unternehmen ist es nach dem Vertragsschluss eine Tortur, mit ihnen in Kontakt zu treten. Besonders Unternehmen mit einer marktbeherrschenden Stellung wie die großen Telekommunikationsunternehmen sind ein Ausweis für schlechten Service und Kundenfeindlichkeit. Solche marktbeherrschenden Unternehmen haben eben keine Anreize, sich ihren Kunden gegenüber serviceorientiert zu verhalten. Denn die Kunden müssen ja zu den Unternehmen, weil sie die Leistung brauchen. Hier braucht es endlich klare Regulierung! ({2}) Das gilt übrigens auch für das Widerrufsrecht beim Kauf von Waren im Internet. Auch hier bauen einige Unternehmen Barrieren ein, indem sie an den Kunden E-Mails mit E-Mail-Adressen schicken, auf die der Kunde nicht antworten kann, sodass der Kunde sich fragen muss: Wo muss ich jetzt den Widerruf hinschicken? – Auch hier gilt: Ein Klick muss für den Widerruf reichen. ({3}) Deshalb, meine Damen und Herren, unterstützen wir den Antrag der Grünen. Ich will zwei zusätzliche Vorschläge machen, die der Antrag der Grünen nicht enthält. Die einfache Kündigung mit einem Klick soll es laut Ihrem Antrag ja nur für solche Verträge geben, die online abgeschlossen werden. Aber ich finde, im digitalen Zeitalter sollte jeder Vertrag online kündbar sein, auch wenn er offline abgeschlossen wurde. Und es sollte möglich sein, mit einem Klick alle Verbraucherrechte geltend zu machen, also nicht nur Kündigung und Widerruf, sondern auch Minderung oder Reklamation von Mängeln. Es geht um die Frage von Augenhöhe zwischen Unternehmen und Verbrauchern und darum, wie wir diese herstellen können. Ich muss sagen: Ich fand diese Debatte sehr sachlich. Ich bin froh, dass die Große Koalition sich auch vorstellen kann, Verbesserungen vorzunehmen. Das ist ein guter Schritt. Ich freue mich auf die weitere Debatte im Ausschuss. Danke schön. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Volker Ullrich für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im elektronischen Geschäftsverkehr brauchen wir Fairness und Transparenz zwischen Unternehmen und den Verbraucherinnen und Verbrauchern. Es geht darum, dass Vertragsschluss und Vertragskündigung auf Augenhöhe stattfinden können, ohne größere Hürden, sondern durch einfaches Zutun des Verbrauchers. Wir haben übrigens diesbezüglich bereits gehandelt. Bis 2016 waren in Deutschland der Vertragsschluss und die Vertragskündigung nach unterschiedlichen rechtlichen Regeln zulässig. Damals haben wir gesagt: Die Vertragskündigung muss nach den gleichen Regeln erfolgen wie der Vertragsschluss. Es darf kein strengeres Schriftformerfordernis geben, weil es oftmals so war, dass Sie mit einem einfachen Mausklick einen Vertrag schließen konnten; aber zur Kündigung mussten Sie einen Brief schreiben oder ein Fax schicken. Das haben wir bereits 2016 geändert. Tatsache ist aber auch, dass sich seitdem die Entwicklung im elektronischen Geschäftsverkehr nicht in allen Bereichen so verbraucherfreundlich gezeigt hat, wie wir uns das damals erhofft haben. Deswegen gibt es hier einen Regelungsbedarf. Diesem Regelungsbedarf wollen wir nachgehen. Wir wollen schlicht und einfach deutlich machen und zukünftig zum Gesetz erheben, dass auch die Kündigung eines Vertrages, eines Dauerschuldverhältnisses, mit den gleichen Möglichkeiten möglich sein muss wie der Vertragsschluss. Das ist eine Frage der Augenhöhe und der Transparenz im Verbraucherbereich. ({0}) Es kann nicht sein, dass Verbraucherinnen und Verbraucher über ein einfaches Design einen Vertrag eingehen, dass aber die Vertragskündigung dann aufgrund künstlich errichteter Barrieren nicht möglich ist und dass Verbraucher oftmals, wenn sie versäumen, ihren Vertrag zu beenden, ihre Rechte nicht wahrnehmen, weil es eine strukturelle Asymmetrie gibt zu Unternehmen, die viele Zehntausende oder Hunderttausende Verträge abgeschlossen haben, und schließlich sagen: Na gut, die 10 oder 20 Euro mehr pro Monat nehme ich hin und kündige demnächst. – Auch diese Kleinschäden sind auf Dauer nicht hinnehmbar und stören das Verhältnis zwischen Verbraucherinnen und Verbrauchern sowie Unternehmen. Deswegen sehen wir hier einen Regelungsbedarf. ({1}) Ich bin optimistisch, dass wir das in absehbarer Zeit im Rahmen eines umfassenden Gesetzespaketes im Deutschen Bundestag besprechen werden. Aber wir sollten uns Gedanken machen, ob wir nicht noch weitere Punkte aufnehmen. Eine Frage lautet, wie wir denn bei Schädigungen und Erstattungen vorgehen. Gerade wenn ein Konzert oder eine Kinoveranstaltung ausfallen, ein Flug oder eine Bahnfahrt nicht stattfinden können, bekommen Sie, wenn Sie mit einer Kreditkarte die entsprechende Leistung gebucht haben, nicht einfach eine Erstattung, sondern müssen meistens aufwendig mit einem Formular oder einer E-Mail Ihren Erstattungsanspruch deutlich machen. Auch das sollten wir ändern. Wir sollten darüber nachdenken, ob es nicht möglich ist, dass eine Erstattung überall dort, wo bereits Kreditkartendaten hinterlegt sind, bei klarer Rechtslage automatisch erfolgt. Das wäre eine Entlastung des Rechtsverkehrs ({2}) und würde in der Tat sehr viel Ärger wegnehmen. Ich glaube, dass wir insgesamt in dem Bereich des Verbraucherschutzes durch ein kluges Design der Verträge, durch ein In-die-Pflicht-Nehmen der Anbieter und durch Digitalisierung eine fairere Verteilung von Risiken und Chancen zwischen Verbrauchern und Unternehmern bekommen. Lassen Sie uns sehr konstruktiv über diesen Antrag und über weitere Anträge im Rechtsausschuss beraten. Herzlichen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache.

Fabio De Masi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004817, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Ich gebe zu: Es fällt mir schwer, in einer solchen Situation, in solchen Zeiten über Umsatzsteuern zu sprechen. Aber ich werde es trotzdem versuchen. ({0}) 50 Milliarden Euro Steuergelder stehlen Kriminelle mit Umsatzsteuerkarussellen in Europa jedes Jahr. Dabei werden Handys oder Autoteile durch Unternehmen in verschiedenen EU-Staaten im Kreis verkauft; daher der Name „Karussell“. Ein Unternehmen in der Kette stellt die Umsatzsteuer auf seine Verkäufe zwar in Rechnung, führt die Steuer aber nicht ab. Bis der Staat dem Unternehmen auf die Schliche kommt, hat es sich zumeist in Luft aufgelöst. Allein in Deutschland geht es um bis zu 14 Milliarden Euro jährlich, die für Krankenhäuser und Schulen fehlen. Wir müssen dagegen nationale Sofortmaßnahmen in Angriff nehmen, aber auch Reformen auf Ebene der EU; denn die Umsatzsteuerregeln werden auch in Brüssel gemacht. ({1}) Ein Münchner Staatsanwalt, der ein Experte für Umsatzsteuerkarusselle ist, hat in einer Anhörung des Bundestages auf Einladung meiner Fraktion folgende einfache Vorschläge für den Kampf gegen diese Finanzkriminalität gemacht. Erstens. Gemäß dem Bürokratieentlastungsgesetz sollen neugegründete Unternehmen ab 2021 wie übrige Unternehmen auch ihre Umsatzsteuern quartalsweise melden dürfen, sofern sie erwarten, dass sie weniger Umsatzsteuern als 7 500 Euro im Jahr vereinnahmen. Der Staatsanwalt fürchtet aber, dass damit die Erweiterung eines Schlupfloches für Kriminelle einhergeht. Sie verzeichnen dann Millionen Phoenix-Umsätze und verschwinden über Nacht wieder vom Markt. Der Schaden ist nach drei Monaten dann bereits enorm. Daher schlug der Staatsanwalt vor, dass nur die Finanzämter vor Ort über solche Befreiungen von der monatlichen Meldepflicht für neugegründete Unternehmen entscheiden sollten. Dies wäre ein minimalinvasiver Eingriff in das Gesetz, würde aber Strafermittlern enorm helfen. ({2}) Zweitens. Wir brauchen einen einheitlichen Umgang mit dem Entzug der Steuer- und Umsatzsteueridentifikationsnummer. Es darf nicht sein, dass Betrügern eine Nummer entzogen wurde, während sie die andere Nummer weiter nutzen dürfen. Drittens. Staatsanwälte müssen von Banken schneller Auskunft zu dubiosen Kontobewegungen erhalten. Wir wollen die Vorschrift in § 95 der Strafprozessordnung schärfen und zwei Wochen als maximale Antwortfrist für Banken gegenüber Staatsanwälten setzen. Wir brauchen ein kollektives Jagdfieber gegen Finanzkriminalität. Italien macht vor, wie Technologie im Steuervollzug helfen kann. Dort werden alle Umsatzsteuermeldungen elektronisch zentral erfasst und automatisiert geprüft, um Betrug zu bekämpfen. Schließlich müssen wir in der EU mit den großen Reformen weiterkommen. Ein sogenanntes Reverse-Charge-Verfahren könnte viele Probleme eindämmen. Dabei zahlt nur noch der Unternehmer Umsatzsteuer, der direkt an den Endkunden verkauft. Erstattungsanträge unter Zwischenhändlern, die bei den Karussellen zum Betrug genutzt werden, entfallen. Die Vorschläge unseres Sachverständigen – des Münchner Staatsanwalts – kommen aus der Praxis der Strafverfolgung. Leute wie er nehmen jeden Tag den Kampf gegen Umsatzsteuerkarusselle und Finanzkriminalität auf. Seine Vorschläge wurden im Bundestag von allen Fraktionen als diskussionswürdig kommentiert. Wir bringen sie heute als Antrag ein und hoffen, unser Antrag ist für Sie ebenso diskussionswürdig. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Abgeordnete Fritz Güntzler das Wort. ({0})

Fritz Güntzler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004285, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf der Tribüne! Beide Anträge sind eine gute Gelegenheit, heute wieder über ein wichtiges Thema zu debattieren. Herr Kollege De Masi hat darauf hingewiesen, welches Ausmaß der Umsatzsteuerbetrug europaweit erreicht. Er nannte 50 Milliarden Euro. Gewisse Schätzungen gehen sogar weit darüber hinaus und sprechen von einem Schaden von 60 Milliarden Euro. Man muss sich das mal vorstellen: Das sind über 100 Euro pro EU-Bürger, die den Staaten dadurch verloren gehen. ({0}) Wir haben in Deutschland Umsatzsteuereinnahmen von circa 240 Milliarden Euro. Das ist ein großes Stück des gesamten Steuerkuchens von ungefähr 740 Milliarden Euro. Man sieht daran also, dass das Thema eine gewisse Bedeutung hat. Ich bin wirklich dankbar für die beiden Anträge, weil sie sehr sachkundig und auch sehr sachlich sind und konkrete Vorschläge aufgreifen, über die wir diskutieren sollten. Denn unser gemeinsames Ziel muss sein: Umsatzsteuerbetrug muss verhindert werden. ({1}) Deshalb begrüße ich es auch sehr, dass sowohl in der Rede des von mir auch fußballerisch geschätzten Kollegen De Masi ({2}) als auch in den Anträgen auf die typische Rhetorik, die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen hätten nichts gemacht, verzichtet wurde. Das stimmt ja auch gar nicht, sondern – das kann ich auch gleich sagen – wir haben einiges gemacht. Dennoch ist es immer wieder unser Auftrag, noch mehr zu tun und sich auf mögliche Betrügereien einzustellen. Da gibt es immer neue Tricks, auf die wir reagieren müssen, und die Bundesregierung, die CDU/CSU und die SPD haben in der Vergangenheit eines gemacht. Wir waren alles andere als untätig. Aber wo liegt das Problem? Wir haben seit 1969 die sogenannte Allphasen-Netto-Umsatzsteuer. Das heißt, auch bei einer gewissen Fertigungstiefe – also bei Lieferungen von Unternehmen zu Unternehmen – wollen wir eine Umsatzsteuerbelastung letztendlich nur beim Endkunden, also beim Konsumenten, erzielen. Er soll die Umsatzsteuer zahlen. Das funktioniert so, dass der Unternehmer, der von einem anderen Unternehmen etwas erwirbt, die Umsatzsteuer, die er an dieses zahlt, als Vorsteuer wieder erstattet bekommt und nur die Umsatzsteuer abführt, die er wiederum dem nächsten Unternehmer in Rechnung gestellt hat. Das bedeutet eben: Der Unternehmer, der liefert, muss die Umsatzsteuer abführen, und ein anderer Unternehmer kann dann die gezahlte Umsatzsteuer als Vorsteuer geltend machen. Das Problem ist nun, dass das zwei verschiedene Personen sind, und das kennen wir aus einer anderen Situation, nämlich aus den Cum/Ex-Fällen. Hier wird dann auch etwas erstattet, ({3}) was nie gezahlt wurde, wenn das Karussellgeschäft funktioniert. Herr Kollege De Masi hat auch darauf hingewiesen: Das geschieht zumeist grenzüberschreitend. Stellen Sie sich Folgendes vor: Ein Unternehmer aus den Niederlanden verkauft Mobiltelefone – es sind meistens leichte, aber sehr werthaltige Waren; früher waren es häufig Mobilfunktelefone – in die Bundesrepublik Deutschland. Das nennt man „innergemeinschaftliche Lieferung“, bei der keine Umsatzsteuer anfällt. Der Unternehmer in Deutschland verkauft die Mobiltelefone weiter an den nächsten Unternehmer. Der Unternehmer, der die Umsatzsteuer abführen müsste – der erste in Deutschland –, wird das nicht tun. Das ist letztendlich Betrug, aber er tut es nicht. Das ist meistens ein Missing Trader, ein verschwundener Unternehmer; der wird später nicht mehr da sein. Diese Kette geht letztendlich so lange – Sie können das ganz lange so weitermachen –, bis die Mobilfunktelefone wieder in den Niederlanden gelandet sind, und im Ergebnis fehlen dann einmal 19 Prozent Umsatzsteuer. Das Perfide an der ganzen Situation ist, dass es sogar Unternehmen geben kann, die an dem Karussell teilnehmen, obwohl sie gar keine Fahrkarte für dieses Karussell gekauft haben. Sie wissen gar nicht, dass sie dabei sind, und befinden sich dann in dieser Situation. Darum müssen wir überlegen, wie wir dieses Problems Herr werden. Wir werden weiterhin nationale Maßnahmen ergreifen müssen. Wichtig ist aber, dass wir auch europäisch eine Lösung finden. Die Kommission hat ja schon im Jahre 2017 Vorschläge unterbreitet. Dabei geht es um das Bestimmungslandprinzip, um zertifizierte Steuerpflichtige. Diese Dinge werden wir uns ansehen. Die Zusammenarbeit in Europa ist besser geworden. Wir haben das Mehrwertsteuerfrühwarnsystem TNA, woran sich die Bundesrepublik Deutschland, nachdem nun die Rechtsgrundlagen dafür geschaffen worden sind, auch beteiligen wird, und wir haben eine Datenbank beim Bundeszentralamt für Steuern, auf die die Finanzämter bei Betrugsfällen zugreifen können. Da läuft also eine ganze Menge, und von daher sind wir auf einem guten Wege. Wir müssen aber weitergehen. Wir haben verfahrensrechtliche – Bußgelder – und materiell-rechtliche Maßnahmen ergriffen. Ich will sie nicht alle aufzählen, aber ich nenne zum Beispiel die Umsatzsteuernachschau, die wir eingeführt haben. Dadurch haben die Finanzämter die Möglichkeit, ziemlich zeitnah zu prüfen und Scheinunternehmen aufzudecken. ({4}) Das Entscheidende ist: Wir haben die Möglichkeit genutzt und in § 13b Umsatzsteuergesetz das Reverse-Charge-Verfahren eingeführt, was eben das Problem, das ich eingangs geschildert habe – dass der eine die Umsatzsteuer abführen muss und der andere sie erstattet bekommt –, aushebelt. Man führt das zusammen. Die Steuerschuld liegt dann beim Leistungsempfänger. Er führt die Umsatzsteuer nicht an den leistenden Unternehmer, sondern an das Finanzamt ab und hat gleichzeitig die Möglichkeit des Vorsteuerabzugs. Wir bringen die Dinge also zusammen. Leider ist es derzeit nicht möglich, dieses Verfahren in Europa generell einzuführen. Tschechien macht einen Probeversuch. Es gibt gewisse Kriterien, nach denen man das beantragen kann. Diese Kriterien der Mehrwertsteuersystemrichtlinie wird die Bundesrepublik Deutschland – das ist jedenfalls meine Auffassung – derzeit nicht erfüllen können. Deshalb ist es gut, dass wir dort, wo wir Probleme erkennen – siehe § 13b UStG –, entsprechende Regelungen vornehmen. Zuletzt waren es die Ökozertifikate. Wir haben auch einen sogenannten Schnellreaktionsmechanismus eingeführt, sodass wir ganz schnell reagieren können, wenn Betrugsfälle in diesen Bereichen auftreten. Von daher haben wir, glaube ich, eine ganze Menge gemacht. Herr De Masi hat die Dinge vorgetragen, die uns ein Sachverständiger in der Anhörung vom 15. Januar 2020 genannt hat. Dort wurde auch die monatliche Abgabe von Umsatzsteuer-Voranmeldungen bei Neugründungen genannt. Das ist der Regelfall. Im Bürokratieentlastungsgesetz III haben wir diesbezüglich eine begrenzte Ausnahmemöglichkeit eingeführt, um zu beobachten, ob das zu Missbräuchen führt. Hier befinden wir uns in einem Zwiespalt in Bezug auf die Bürokratie. Einerseits wollen wir Start-up-Unternehmen entlasten. Andererseits müssen wir die Sicherheit schaffen, dass die Umsatzsteuereinnahmen fließen. Darum haben wir diese Übergangsfrist eingeführt und werden wir uns das angucken. Ganz spannend finde ich folgenden Punkt – das ist auch der letzte Punkt, den ich ansprechen möchte –, den der Sachverständige aus München angeführt hat: die gesetzliche Normierung der Erteilung und der Entziehung von Umsatzsteuer-Identifikationsnummern. Es war mir nicht klar, dass das so ist. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir denjenigen, die mit einer solchen Identifikationsnummer durch die Gegend laufen, aber für Missbrauchsfälle bekannt sind, diese Nummer entziehen können. Das werden wir tun. Ich freue mich wirklich auf eine hoffentlich weiterhin sachliche Debatte im Finanzausschuss, und ich glaube, wir können da etwas Gutes erreichen. Herzlichen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Kay Gottschalk für die AfD-Fraktion. ({0})

Kay Gottschalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004731, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Heute sprechen wir über Umsatzsteuerkarusselle. Das klingt tatsächlich lustig, verehrte Damen und Herren – vor allen Dingen da draußen –, ist es aber nicht. Kollege De Masi hat es angeführt: Es wird geschätzt, dass hier für Deutschland ein hoher zweistelliger Milliardenbetrag und europaweit über 50 Milliarden Euro verloren gehen. Dieser Tatbestand ist aber, ähnlich wie viele andere Tatbestände, schon länger bekannt. Näher darauf eingehen möchte ich an dieser Stelle nicht, weil die Kollegen das perfekt beschrieben haben. Mir geht es um Lösungen, und die Debatte davor war schon sehr zielführend – auch die zum Verkehr. Sie kennen all die Probleme seit 20 Jahren, allein lösen tun Sie sie nicht. Ich werde hier zum Schluss einen Lösungsvorschlag machen, der für einige Herrschaften wahrscheinlich fast viel zu simpel ist. Kommen wir aber noch mal auf die Anhörung, die der Kollege Güntzler eben erwähnt hat, zu sprechen. Dort gab es nämlich einen Kollegen Eigenthaler und viele andere Kollegen, die die Dimension und die Höhe gar nicht greifbar machen konnten, auch das BZSt nicht. Komischerweise konnten es das Kieler Institut für Weltwirtschaft und viele andere. Das „Handelsblatt“ zitiere ich hier mit Erlaubnis der Präsidentin vom 11. Februar 2020: Umsatzsteuerkarusselle richten europaweit … einen gewaltigen Schaden an. Allein in Deutschland … – ich habe es eben gesagt – eine zweistellige Milliardensumme. Meine Damen und Herren, es geht hier um einen zweistelligen Milliardenbetrag durch Cum/Ex, Cum-Fake, Cum/Cum und viele andere Steuerhinterziehungen und ‑verkürzungen auf europaweiter Basis. Hier, meine Damen und Herren, könnten wir schon längst gehandelt haben. Der Soli wäre Geschichte, und wahrscheinlich könnten wir uns sogar darüber unterhalten, ob wir eine Körperschaftsteuerreform angehen, wie es die Franzosen gemacht haben, damit die deutsche Wirtschaft endlich wieder wettbewerbsfähig ist, verehrte Kollegen. ({0}) – Ich komme gleich dazu. Die Anträge der Linken und Grünen – das muss ich tatsächlich sagen – greifen viele Dinge aus dem Fachgespräch vernünftig und auch ordentlich und sachlich auf. Der Frage, ob das Reverse-Charge-System, was ja der amerikanischen Sales Tax sehr nahe ist, dann die Lösung bringt, stehen wir allerdings noch sehr kritisch gegenüber. So sagte nämlich der Kollege Eigenthaler von der Deutschen Steuer-Gewerkschaft auch – ähnlich wie bei einer anderen Sache, zu der ich gleich komme –: Es wird wieder die ehrlichen Unternehmer mit einem immensen Umstellungs- und Verwaltungsaufwand treffen. Denken Sie daran, was Sie mit der Bonpflicht für Bäcker angerichtet haben. Sie vertagen es ja täglich im Ausschuss. Ähnlich wird es mit diesem Verfahren sein. Lassen Sie es! Machen Sie es simpel! Dazu komme ich gleich noch. ({1}) Das Recherchenetzwerk Correctiv hat einen Bericht namens „Grand Theft Europe“ verfasst. Kommen wir zu den Tatsachen: Großbritannien hat nämlich mit einschneidenden Maßnahmen reagiert und hat damit in den letzten Jahren den Umsatzsteuerbetrug von 3,5 Milliarden Pfund auf derzeit 500 Millionen Pfund gedrosselt. Warum? Weil man organisierten Mehrwertsteuerbetrug dort mit bis zu lebenslänglicher Haft bestraft. Und hier in Deutschland – auch das hat der Staatsanwalt aus München gesagt – kommt so ein Gangster, so ein Steuerbetrüger mit fünf Jahren weg, kommt bei unserer Gerichtsbarkeit nach dreieinhalb Jahren wegen guter Führung raus, holt die 5 Millionen vom Panama-Konto und lacht sich auf Kosten der Steuerzahler schlapp und hat ein schönes Leben. Die deutsche Gesetzgebung ist eben in vielen Teilen – das gilt insbesondere für unsere Strafgesetzgebung – zu lasch. Das lädt geradezu zu Verbrechen ein, liebe Kollegen. ({2}) Sie wollten einen konkreten Vorschlag. Bitte schön; den können Sie haben. Seit 2006 – ich habe extra den Kommentar hier, falls Sie Schwierigkeiten haben, dem zu folgen – schlägt die deutsche Finanzverwaltung die IMEI vor. Die kennt jedes Kind. Die kennen Sie vom Handy. Die kennen Sie von vielen elektronischen Geräten. Und dort wird einfach und simpel vorgeschlagen, auf allen Handelsstufen entsprechend diese IMEI in den Rechnungen und Dokumenten zu vermerken. Das würde nämlich den größten Betrugstatbestand unterbinden, nämlich dass Gegenstände mehrmals, wie Sie es eben so schön – dafür bedanke ich mich, Herr Güntzler – beschrieben haben, gedreht werden können. Dann kann nämlich eine Uhr oder ein anderer Gegenstand nicht zehnmal von diesem Verkäufer in den Niederlanden, den Sie genannt haben, hier wieder aufschlagen. Denn dann fällt den Finanzämtern auf, dass das Produkt zum dritten oder vierten Mal nach Deutschland geliefert wird. Und wenn wir es, anstatt eine schwachsinnige Grundsteuerreform vom Zaun zu brechen, dann noch schaffen, wie in den Niederlanden – auch dafür bin ich Ihnen dankbar – unsere Beamten vielleicht nach drei, vier Wochen in neugegründete Unternehmen zu schicken – das schaffen die Niederländer nämlich nach drei Wochen –, dann könnte man vielleicht sogar schon sehr früh sehen, ob das ein Missing Trader ist oder nicht. Alles in allem: Seit über 14 Jahren liegen die Lösungen – simple Lösungen – auf dem Tisch. Aber wie beim Verkehr, wie bei anderen Steuern: Sie nehmen sie nicht wahr. Wir werden aber die Diskussion sehr kreativ und konstruktiv begleiten. Ich bedanke mich. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Ingrid Arndt-Brauer das Wort. ({0})

Ingrid Arndt-Brauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003422, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine Damen und Herren! Es gibt nicht immer für schwierige Probleme einfache Lösungen. Deswegen werde ich zu den Anträgen reden, die versuchen, ein sehr schwieriges Problem zu lösen, und deswegen bedanke ich mich bei der Opposition für diese Anträge. Der Antrag der Linken „Steuerbetrug durch Umsatzsteuer-Karusselle stoppen“ und der Antrag der Grünen „Umsatzsteuerbetrug wirksam bekämpfen“ deuten schon die Richtung an. Allgemein gilt – mein Kollege Güntzler hat es schon gesagt –: Der sogenannte Karusselbetrug ist eine leider weitverbreitete schwere Form der Steuerhinterziehung, bei der mehrere Unternehmen, meist in verschiedenen EU-Ländern, zusammenwirken und bestimmte Waren im Kreis handeln, wobei eines der beteiligten Unternehmen die Umsatzsteuer nicht an das Finanzamt abführt. Also obwohl man möchte, dass der Endkunde die Umsatzsteuer abführt, passiert das hier nicht. Wir rechnen EU-weit mit 50 Milliarden Euro an Steuerausfällen per anno. Die EU-Kommission hat das so geschätzt. Ich gehe mal davon aus, dass das richtig ist. Die systematische Schwachstelle ist, dass es zur Erstattung der Vorsteuer kommt, obwohl das leistende Unternehmen vorab keine Steuer ans Finanzamt abgeführt hat. Die SPD-Fraktion bekennt sich stets zur möglichst effektiven Bekämpfung von Umsatzsteuerbetrug im nationalen und im europäischen Raum. Hier hat es schon Verschärfungen gegeben. Wir haben auch schon andere, sehr gute Gesetze gemacht, die dazu geführt haben, dass wir Steuern eingenommen haben, wo es vorher gar keine einzunehmen gab. Ich erinnere mal an die sogenannte Plattformhaftung, mit der wir letztes Jahr dafür gesorgt haben, dass Plattformen nur noch mit Unternehmen Geschäfte machen können, die eine Umsatzsteuernummer haben. Da ist viel Umsatzsteuerbetrug bekämpft worden. Das war schon mal ein sehr gutes Gesetz in eine ähnliche Richtung. ({0}) Die Forderungen in den Anträgen sind teilweise sehr berechtigt und finden auch unsere Unterstützung. Wir haben nach derzeitigem Umsatzsteuerrecht ja folgende Situation: Der leistende Unternehmer, also der, der etwas liefert, hat die Umsatzsteuer vom Kunden einzunehmen und an das Finanzamt abzuführen. Der Kunde wiederum ist vorsteuerberechtigt, wenn er auch ein Unternehmen ist, und lässt sich vom Finanzamt die Steuer als Vorsteuer auszahlen. Wenn die beiden aber jetzt nicht ordentlich arbeiten und die ausgezahlte Vorsteuer nicht über den Liefernden ans Finanzamt abgeführt wird, dann entsteht ein Loch von 19 Prozent, und es entsteht Mehrwertsteuerbetrug. Deswegen wird immer wieder das sogenannte Reverse-Charge-Verfahren in die Diskussion geworfen. Hier findet eine Umkehrung der Steuerschuldnerschaft statt. Das heißt, es läuft genau umgekehrt: Nicht der Leistungsersteller, sondern der Leistungsempfänger schuldet die Umsatzsteuer. Wir werden dafür kämpfen, dass das Programm wird, und ich bin optimistisch, dass wir das schaffen. Wir werden ja die EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr innehaben. Ich denke, das ist ein wichtiger Punkt für diese Verhandlungen, und ich bin ziemlich optimistisch, dass wir es schaffen. Mit Unterstützung der Opposition – ich bedanke mich jetzt schon dafür – werden wir das hinkriegen. Vielen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Markus Herbrand für die FDP-Fraktion. ({0})

Markus Herbrand (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004745, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Viel zu oft reden wir in den letzten Monaten hier in diesem Parlament über organisierten Steuerbetrug. Für uns Freie Demokraten steht fest: Alle Arten von Steuerbetrug, ob Cum/Ex, Cum/Cum, Cum-Fake oder jetzt eben die Umsatzsteuerkarusselle, haben eins gemeinsam: Sie gehören mit allen Mitteln bekämpft, und zwar maximal schnell und auch maximal konsequent. ({0}) Beide Anträge bieten dafür eine sehr solide Grundlage. Dafür herzlichen Dank! Zunächst einmal ist es in der Tat so, dass schon alle erläutert haben, worum es sich bei Karussellgeschäften handelt. Das erspare ich uns dann ein weiteres Mal. ({1}) Ich möchte aber schon darauf hinweisen, dass die Gauner meist grenzüberschreitende Geschäfte nutzen, und zwar aufgrund der mangelhaften Kontrollen und Abstimmungen durch die Behörden in den verschiedenen Ländern. Bevor man ihnen bei diesem unglaublich komplexen System auf die Schliche kommt, sind sie über alle Berge, und zwar mit dem Geld der Bürgerinnen und Bürger. Und weil es sich um grenzüberschreitenden Betrug handelt, muss das Problem nach unserer festen Überzeugung auch grenzüberschreitend bekämpft werden. Auch wir sehen im Übrigen, dass durch diese Machenschaften in vielen Fällen die Marktwirtschaft geradezu systematisch untergraben wird. Denn schon wenn sich das Karussell nur einmal gedreht hat, entsteht ein beträchtlicher Wettbewerbsvorteil gegenüber den steuerehrlichen Unternehmern, und auch das kann niemand wollen. Wir stehen ja alle für fairen Wettbewerb. ({2}) Aber der geneigte Beobachter darf sich dann schon fragen, warum hier nicht schon längst mehr geschehen ist. Bisher wurden diese Probleme bestenfalls punktuell bekämpft, beispielsweise beim Zertifikatehandel. Die Bundesregierung muss sich jetzt rechtfertigen – aus meiner Sicht zu Recht –: Was ist eigentlich in den letzten Jahren unternommen worden, um dieses Missbrauchs Herr zu werden? Jahr für Jahr fehlen – es wurde schon gesagt – circa 14 Milliarden Euro in den Kassen, auch weil die Bundesregierung da nichts unternommen hat. Sie waren untätig; Sie haben aus meiner Sicht Ihre Hausaufgaben nicht gemacht. Diesen Vorwurf müssen Sie sich gefallen lassen. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden die Beratungen fachlich bereichern, wie Sie das von der FDP-Fraktion im Finanzausschuss gewohnt sind. Aus Sicht der FDP gilt es, vor allem folgende drei Ziele zu berücksichtigen: Erstens. Voraussetzung für die Inanspruchnahme des Vorsteuerabzugs muss die Abführung der Umsatzsteuer aus diesem Geschäft sein. Dabei kann die generelle Umkehr der Steuerschuldnerschaft, also die Vereinheitlichung dieser beiden Vorgänge auf ein Unternehmen, eine Riesenrolle spielen. Das ist in beiden Anträgen auch richtig intoniert. Zweitens. Wir müssen die bestehenden technischen Möglichkeiten zur effektiven Betrugsbekämpfung konsequenter nutzen; Stichwort „Datenaustausch in Echtzeit“. Und drittens muss diese Reform genutzt werden können, um gleichzeitig Vereinfachungen bei der Anwendung von Vorschriften für alle Unternehmer erreichen zu können. Das alles geht gemeinsam, und das alles geht auch europäisch abgestimmt. Da freue ich mich auf die Beratungen im Ausschuss. Herzlichen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Dr. Bayaz das Wort. ({0})

Dr. Danyal Bayaz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004664, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der US-Ökonom Peter Drucker hat mal den Satz geprägt: Do the right things, not the things right. – Was meint er damit? Er hat gemeint: Es macht wenig Sinn, sich mit Dingen zu beschäftigen, die zwar irgendwie effizient sind, die man aber eigentlich nicht braucht. Stattdessen soll man sich auf die Dinge konzentrieren, die wirklich wichtig und richtig sind. Was heißt das bezogen auf den Umsatzsteuerbetrug? Das heißt, wir könnten uns viele der Einzelmaßnahmen, über die wir regelmäßig im Ausschuss sprechen, sparen, wenn wir uns für die große, für die wirklich effektive Lösung entscheiden würden. Das heißt bei der Umsatzsteuer eben, dass wir sie von den Unternehmen zahlen lassen, die sie erstattet bekommen. So würden wir auch verhindern, dass sich die organisierte Kriminalität auf Kosten der Allgemeinheit bereichert, meine Damen und Herren. ({0}) Das haben wir heute ein paarmal gehört; neudeutsch nennt man das Reverse-Charge-Verfahren. Das nutzen wir mittlerweile in einzelnen Branchen; aber meistens ist es so, dass wir es zu spät nutzen und eben nicht überall. Deswegen ist der Schaden dann schon entstanden. Dieses Hase-und-Igel-Spiel zwischen Staat und Betrügern verlieren wir immer wieder. Wir in der Bundesrepublik beschließen ein Reverse-Charge-Verfahren für eine einzelne Ware oder Warengruppe, und die Betrüger weichen auf eine andere aus, oder sie weichen in ein anderes europäisches Land aus. Wir brauchen diesen generellen Systemwechsel bei der Umsatzsteuererstattung, um Betrug endlich wirksam zu verhindern, meine Damen und Herren. ({1}) Und ja, dagegen gibt es Einwände; die haben wir heute gehört. Die EU muss sich auf einen grundsätzlichen Systemwechsel einigen. Herr Güntzler, vielen Dank, Sie haben gesagt: Das war eine sehr sachliche Tonlage in den Anträgen. – Aber ein bisschen Kritik gehört eben auch dazu; denn es gab Zeiten, in denen Deutschland der Motor für europäische Reformen und für eine vertiefte europäische Integration war. Ich finde, das ist uns gerade in Finanzfragen abhandengekommen. Bei der Bekämpfung des Umsatzsteuerbetruges könnten wir ja endlich mal wieder die Vorreiterrolle einnehmen, meine Damen und Herren. Statt des Einsatzes für eine reine Aktiensteuer würde ich mir zum Beispiel wünschen, dass die Bundesregierung beim Europäischen Rat für einen Systemwechsel bei der Umsatzsteuer wirbt – „Do the right things!“, wie ich anfangs gesagt habe. Und wenn sich der Rat nicht einigt – Herr Güntzler, Sie haben das ja auch angesprochen –, weil das Einstimmigkeitsprinzip uns da zugegebenermaßen manchmal im Wege steht, ({2}) dann könnten wir auch darum bitten, eine nationale Ausnahmeregel zu bekommen. Die Tschechen machen das – Sie haben das gesagt –, die Italiener machen das. Bei denen funktioniert es auch wirklich gut: Rechnungen werden erst digital an das Finanzamt geschickt. Da werden sie dann von Algorithmen überprüft, und danach ist eine Vorsteuererstattung möglich. – Ich finde, diesem Vorbild sollten wir folgen, meine Damen und Herren. ({3}) Beim organisierten Umsatzsteuerbetrug geht es ja nicht nur um die auch heute wieder häufig zitierte zweistellige Milliardensumme, die die öffentlichen Haushalte als Schaden tragen müssen. Es geht auch um einen Schaden für Unternehmen, die unter diesen Dumpingpreisen leiden. Das zerstört Märkte, und das zerstört am Ende eben auch Arbeitsplätze. Lassen Sie uns da nicht länger tatenlos zusehen. Lassen Sie uns das Richtige machen. Do the right things! Das heißt in dem Fall: Stimmen Sie unserem Antrag zu! Herzlichen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Sebastian Brehm für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Sebastian Brehm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004682, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Steuerbetrug ist kein Kavaliersdelikt, und ich denke, wir sind uns einig – das hat die Diskussion auch gezeigt –, dass wir mit allen Mitteln des Rechts diesen Steuerbetrug bekämpfen müssen. Dabei kommt natürlich dem Umsatzsteuerbetrug eine erhebliche Bedeutung zu; die Zahlen sind schon genannt worden. Es gibt immer wieder neue Modelle des Steuerbetrugs, die es aufzudecken gilt. Wir konnten dies in der öffentlichen Anhörung am 15. Januar dieses Jahres auch mit Sachverständigen aus der Wissenschaft, der Steuerfahndung und aus Verbänden diskutieren. Ich glaube, so einfach, wie Sie sich das vorstellen, nämlich dass man einfach das Reverse-Charge-Verfahren, also die Umkehr der Steuerschuldnerschaft, einführt, geht es leider nicht. Es gibt den Artikel 199c der Mehrwertsteuersystemrichtlinie. Da die Umsatzsteuer materiellrechtlich eine harmonisierte Steuer in der Europäischen Union ist, können wir keinen Alleingang machen. In Artikel 199c sind die Bedingungen der Umkehr der Steuerschuldnerschaft geregelt. Wenn Sie schon den Kommentar aufgeschlagen haben, Herr Gottschalk, könnten Sie auch mal die wichtigen Dokumente lesen. ({0}) Da steht nämlich drin, dass diese Einführung nicht möglich ist, sondern an bestimmte Bedingungen geknüpft ist, die Deutschland leider nicht erfüllt. ({1}) Insofern muss es eine europäische Regelung geben. Die Bundesregierung hat übrigens schon im Jahr 2006 als Vorreiter versucht, ein generelles Reverse-Charge-Verfahren in Europa einzuführen. ({2}) – Das war damals nicht erfolgreich, weil nämlich die europäischen Partner noch verschiedene Probleme gesehen haben, zum Beispiel die Problematik der Abgrenzung zwischen Geschäftskunden und Privatkunden. Was passiert, wenn ein Privatkunde in einen Laden geht und sagt: „Ich bin Geschäftskunde“? Dann müsste er keine Steuer zahlen. Das ist derzeit noch gar nicht machbar. Deswegen setzen wir auf digitale Lösungen, zum Beispiel auf eine zentrale Meldung aller Rechnungen, sodass man wirklich prüfen kann: Ist er Unternehmer, ist er nicht Unternehmer? Fällt er unter das Reverse-Charge-Verfahren oder nicht? Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Wichtigste bei diesen Umsatzsteuerkarussellgeschäften ist, diese aufzudecken. Das ist gar nicht so einfach. Der Kollege Güntzler hat es ja beschrieben; ich will es wiederholen. Wenn zum Beispiel eine Firma aus den Niederlanden – er hat es erwähnt, dann erwähne ich das auch – eine Ware nach Deutschland liefert, ist es eine innergemeinschaftliche Lieferung. Insofern muss die niederländische Firma keine Mehrwertsteuer abführen. Die deutsche Firma ist aber die Betrugsfirma und führt überhaupt keine Steuer ab, sondern verkauft die Ware gleich wieder weiter. Derjenige, der in Deutschland diese Ware kauft – das kann ein ganz unbescholtener Unternehmer sein –, macht den Vorsteuerabzug geltend – das heißt, er lässt sich die 19 Prozent Mehrwertsteuer erstatten – und verkauft sie dann weiter, zum Beispiel wieder in die Niederlande. Das heißt, wenn bei der Firma in Deutschland, die vielleicht nach drei Monaten in der Insolvenz ist oder ihren Sitz ins Ausland verlegt hat, Betrug begangen wird, muss man erst mal herausfinden, dass es überhaupt ein Missing Trader ist. Das ist die Herausforderung bei diesem Thema. Wir haben einige Dinge auf den Weg gebracht. Es sind Datenbanken beim BZSt eingerichtet worden, wo alle Umsatzsteuerbetrugsfälle kenntlich gemacht werden, sodass man schnell reagieren kann. Dort gibt es auch eine Zentralstelle für Umsatzsteuersonderprüfungen. Wir müssen die Fahnder und die Finanzämter in die Lage versetzen, diese Karussellgeschäfte, diese Reihengeschäfte schnell zu erkennen. Das ist die Herausforderung in den nächsten Monaten für uns als Deutscher Bundestag: dass wir sie in ihren Möglichkeiten der Fahndung stärken. Ich glaube, langfristig – da gebe ich Ihnen recht – muss man auf das Reverse-Charge-Verfahren europaweit umswitchen, aber dazu bedarf es europaweit dieser Möglichkeiten und Voraussetzungen. Deswegen sollten wir die Ratspräsidentschaft nutzen, genau dies einzuführen und damit den Umsatzsteuerbetrug aktiv zu bekämpfen. Übrigens haben wir gemeinsam schon im letzten Jahr und in vielen Jahressteuergesetzen Umsatzsteuerbetrug bekämpft. Denken wir zum Beispiel an die Umsatzsteuermeldungen auf elektronischen Plattformen, die wir im Jahressteuergesetz 2018 geregelt haben. Herr Gottschalk, wenn Sie so einfache Lösungen wollen: Dieser einfachen Lösung, die wir vorgeschlagen haben, haben Sie nicht einmal zugestimmt. Wenn Sie Umsatzsteuerbetrug überhaupt aktiv bekämpfen wollen, dann müssen Sie auch handeln, und dann müssen Sie auch zustimmen. Nur reden und nicht handeln – gut, das ist vielleicht Ihr Prinzip – reicht nicht. Deswegen sollten Sie vielleicht im Kommentar noch ein bisschen nachlesen. ({3}) Wir kümmern uns darum. Wir werden gemeinsam in diesem Hause – ich glaube, übrigens mit allen Kräften, die wir haben – die notwendigen Maßnahmen ergreifen, um kurz- und mittelfristig und dann langfristig mit dem Reverse-Charge-Verfahren, der Umkehr der Steuerschuldnerschaft, Steuerbetrügereien endlich den Garaus zu machen. Dafür setzen wir uns gemeinsam ein, und dafür lohnt es sich auch sich einzusetzen. Herzlichen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Lothar Binding für die SPD-Fraktion. ({0})

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Als ich in den Finanzausschuss kam, dachte ich eigentlich, wir machen im Schwerpunkt Steuergesetzgebung und Regulierung am Finanzmarkt und kümmern uns um die Einnahmen des Staates. Man muss sagen: Mit jedem trickreichen Betrug an den Ehrlichen, an der Gesellschaft, werden unsere Systeme komplexer, und wir kümmern uns viel mehr darum, Betrug abzuwehren, als Steuern einzunehmen. Das ist wie bei einem Wohnungseinbruch. Wenn in die eigene Wohnung eingebrochen wurde, dann erhöht man die Sicherheitsmaßnahmen: ein besseres Schloss, elektronische Sicherheitstechnik. Dann kommt es zu einem weiteren Einbruch. Was macht man dann? Fensterläden, mehr elektronische Sicherung, Kameras – es wird komplexer und komplexer. Darunter leiden wir sehr. Aber die Gleichen, die hier jetzt sagen: „Es muss alles ganz einfach sein“, sagen auf der anderen Seite: Man soll den Betrug verhindern. – Jede Verhinderung von Betrug hat aber bürokratischen Aufwand zur Folge, erfordert Maßnahmen, so ähnlich wie ich, wenn ich meine Wohnung schützen will, auch komplizierte technische Vorrichtungen brauche. Wir haben schon viel über den Karussellbetrug gehört; das sind kriminelle Vereinigungen. Beim Kassenbetrug sind es viele kleine Betrüger; aber Hunderttausende von kleinen Betrügern verursachen jährlich einen riesengroßen Schaden. Bei den Schwarzarbeitgebern sind es ganz viele; sie verursachen jährlich einen großen Schaden. Bei Cum/Ex sind es gar nicht viele, nur einige Hundert. Sie verursachen einen riesigen Schaden – ganz wenige, mit hohen Beträgen. Es gibt auch Gewinnverlagerungen bei Konzernen; das sind durchschnittlich viele. Sie verursachen einen riesengroßen Schaden. Insgesamt geht es um Hunderte von Milliarden Euro. Das ZDF-Magazin „Frontal 21“ hat am 7. Mai 2019 sehr gut beschrieben, wie die Mehrwertsteuerbetrugssystematik funktioniert, und unsere Aufgabe ist jetzt, Gesetze zu machen, die die Ehrlichen schonen, aber die Gauner erwischen. Es ist gar nicht so einfach, das halbwegs ohne Kollateralschäden zu organisieren. Jetzt muss man überlegen: Ist eigentlich schon was passiert? – Es gibt eine Taskforce, die gemeinsam mit der europäischen Polizeibehörde Europol diese Betrügereien beobachtet. Es gibt eine Koordinierungsstelle für Umsatzsteuerbetrugsbekämpfung beim Bundeszentralamt für Steuern. Sie machen schon sehr viel. Es gibt eine zentrale Datenbank für Betrugsfälle. Es gibt eine gesetzliche Regelung zur unangekündigten Umsatzsteuernachschau. Es gibt das Reverse-Charge-Verfahren in Deutschland für Mobiltelefone, Tablets, Laptops, Spielkonsolen, Gas und Strom, Getreide und Rohstoffe, für Metalle, für CO2-Zertifikate. Man sieht: Es ist schon viel passiert. Und doch gibt es immer noch Betrug, und wir müssen noch einen Fensterladen hinzufügen. Das BZSt übrigens leitet den Eurofisc-Arbeitsbereich „Missing Trader Intra-Community Fraud“; also auch da wird der Karussellbetrug in den Blick genommen. Es passiert einiges. Trotzdem gibt es noch diesen Betrug, und wir müssen mehr machen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Binding, ich habe die Uhr angehalten, um Sie zu fragen, ob Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung des Abgeordneten Gottschalk zulassen.

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, ich denke, das werde ich nicht tun; denn das ist nicht zielführend. Ich wollte gerade die Anträge noch mal loben; sie wurden schon mehrfach gelobt.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ja, sechs Sekunden.

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie haben nur einen ganz kleinen Nachteil. Wenn wir sie jetzt beschließen würden, müssten wir eine Änderung der Mehrwertsteuersystemrichtlinie voraussetzen; das wurde schon mehrfach erklärt. Deshalb können wir heute nicht zustimmen. Trotzdem: Die Ideen sind gut, und da können wir an einem Strang ziehen. Eine schöne Gemeinsamkeit im Parlament ist ja auch etwas Nettes. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache.

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Viele Beschäftigte wollen ihre Arbeit flexibler gestalten. Sie wollen im Homeoffice und mobil arbeiten. In der Realität gehen aber Wunsch und Wirklichkeit weit auseinander: Mobiles Arbeiten ist immer noch ein Privileg für Wenige, und genau das wollen wir mit unserem Antrag verändern. ({0}) Viele Arbeitgeber zögern, obwohl auch sie davon profitieren können. Wenn sie mobiles Arbeiten ermöglichen, dann werden sie doch auch als Unternehmen attraktiv und können leichter Fachkräfte gewinnen und auch besser halten. Das Potenzial für mobiles Arbeiten ist groß. Es muss endlich genutzt werden, und zwar nicht nur in Zeiten von Corona. ({1}) Homeoffice geht natürlich nicht bei allen Tätigkeiten, und auch nicht alle Beschäftigten wollen mobil arbeiten. Aber mindestens 30 Prozent der Beschäftigten wollen mehr Zeitsouveränität. Für sie bedeutet mobiles Arbeiten mehr Freiheit und Selbstbestimmung. Es geht darum, dass Arbeit besser in ihr Leben passt. Dabei geht es um Familie, um Kinder oder Pflege, aber auch um Ehrenamt, politische Arbeit, Weiterbildung oder einfach nur um Freizeit. Wer im Homeoffice arbeitet, hat auch keine langen Fahrzeiten zum betrieblichen Arbeitsplatz. Das ist ökologisch sinnvoll. Außerdem haben die Beschäftigten weniger Stress und dafür mehr Zeit für Erholung. Alles zusammen erhöht die Lebensqualität und Zufriedenheit der Beschäftigten. ({2}) Deshalb ist es an der Zeit, dass die Beschäftigten, die mobil arbeiten können und wollen, mit einem Rechtsanspruch gestärkt werden. Aber natürlich braucht es auch klare Regeln: Homeoffice muss immer freiwillig sein, verbunden mit einem Rückkehrrecht, wenn die Beschäftigten merken, dass für sie die mobile Arbeit nicht das Richtige ist. Homeoffice soll es auch immer nur alternierend geben, als Ergänzung zum festen Arbeitsplatz; denn die Beschäftigten dürfen nicht unsichtbar werden, wenn es um Weiterbildung oder Aufstiegsmöglichkeiten geht. Natürlich gilt auch im Homeoffice das Arbeitszeitgesetz; denn auch jede mobile Arbeitsstunde muss entlohnt werden. Homeoffice darf auch nicht grenzenlos werden. Und deshalb muss auch mobile Arbeitszeit dokumentiert werden. ({3}) Gleichzeitig wollen wir aber auch die Hürden für die Unternehmen abbauen. Notwendig sind klare und vor allem praktikable Regelungen, beispielsweise beim Arbeitsschutz, bei der gesetzlichen Unfallversicherung, bei Haftungsfragen und Datenschutz. Alle Aspekte im Zusammenhang mit Homeoffice müssen klar geregelt werden. So erhalten die Beschäftigten Schutz und die Unternehmen Sicherheit im Umgang mit Homeoffice und mobilem Arbeiten. Beides ist also notwendig, dann wird mobiles Arbeiten auch attraktiv, und zwar vor allem für die Unternehmen. ({4}) Jetzt noch ganz kurz ein paar Worte zum Antrag der AfD. Wir reden heute über mobiles Arbeiten. Die AfD aber arbeitet sich am Telearbeitsplatz und an der Arbeitsstättenverordnung ab. ({5}) Sie fragt auch nach Erfahrungen der Bundesverwaltung. Lesen Sie doch einfach mal den Bericht zum Modellversuch Telearbeit, der von 1996 bis 1998 im Wirtschaftsministerium durchgeführt wurde! Die AfD lebt in der Vergangenheit. Wir wollen die Zukunft gestalten, damit von der Digitalisierung eben nicht nur die Unternehmen, sondern vor allem auch die Beschäftigten profitieren; denn Arbeitszeit ist Lebenszeit. Vielen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun die Abgeordnete Jana Schimke das Wort. ({0})

Jana Schimke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004398, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben es heute wieder mit zwei interessanten Anträgen – von der Grünenfraktion und von der AfD-Fraktion – zu tun. Man macht sich weitreichende Gedanken über die Tiefen der betrieblichen Personalpolitik, über die Tiefen unternehmerischen Handelns in Deutschland. Wie sieht es in Deutschland aus? Wir sind im Grunde genommen sehr gut aufgestellt. Wir haben eine Vielzahl an Gesetzen, die das Arbeiten regeln, so sehr regeln, dass man manchmal schon gar nicht mehr richtig arbeiten kann, ({0}) dass man eher gucken muss, wo man eigentlich entlasten, entschlacken und entbürokratisieren kann. Wir sind das Land in Europa, das mit anderen Ländern gemeinsam an der Spitze steht, wenn es um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie und die Vielzahl von Arbeitszeitformen oder Arbeitszeitmodellen geht. Wir sind auch Vorreiter beim Thema „Unternehmenskultur und Führungskultur“. ({1}) Meine Damen und Herren, eine Vielzahl von Unternehmen in Deutschland, große Vereine und Verbände kümmern sich den ganzen Tag um nichts anderes. Wie viel in Deutschland schon geschehen ist und wie unnötig solche Anträge wie die, die Sie heute einbringen, sind, können Sie in einer Vielzahl an Studien und in Berichten unserer Ministerien nachlesen. ({2}) Ich sage: Sie lösen mit Ihren Anträgen Probleme, die es nicht gibt. Die Bereiche der Telearbeit, des mobilen Arbeitens und der Bereich Homeoffice sind in der Datenschutz-Grundverordnung, im Datenschutzgesetz, bei den gesetzlichen Regelungen zur Arbeitszeit und natürlich auch zum Arbeitsschutz weitgehend geregelt. ({3}) Und was machen Sie in Ihren Entwürfen? Sie schaffen nichts anderes als Rechtsunsicherheit. Sie greifen wohlgemerkt auch in das sogenannte Weisungsrecht des Arbeitgebers ein. Das ist in der Gewerbeordnung geregelt und verfassungsrechtlich abgesichert. Was soll das? Meine Damen und Herren, last but not least: Offensichtlich wird auch Ihr sehr problematisches Verständnis gegenüber unserer sozialen Marktwirtschaft. Die Frage ist wirklich: Wie wichtig ist Ihnen der Wettbewerb in der deutschen Wirtschaft? Wie wichtig ist Ihnen die unternehmerische Freiheit, die wir brauchen? Wie wichtig ist Ihnen schließlich der unternehmerische Erfolg in unserem Land? Die AfD – das ist besonders interessant – verfolgt natürlich auch in diesem Antrag wieder das Ziel, Angst zu machen und Panik zu schüren, indem sie sagt: Oh, jetzt kommt die Digitalisierung, und ab morgen verlieren wir alle unsere Arbeitsplätze. – So ein Schwachsinn! Digitalisierung findet in Deutschland seit sehr vielen Jahrzehnten statt. Sie ist Gegenstand betrieblicher Personalpolitik an jedem Tag, auch durch Fortbildungen und die Vorbereitung auf digitale Veränderungsprozesse. Die Grünen beziehen sich auf einen Vergleich mit den Niederlanden. In den Niederlanden haben wir weitaus weniger Industrie als in Deutschland. ({4}) Da ist es natürlich klar, dass sie eine deutlich höhere Homeoffice-Rate als wir in Deutschland haben. Worauf kommt es letztendlich an? Homeoffice ist ein Instrument der betrieblichen Personalpolitik, bei dem es im Wesentlichen darum geht, Interessen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer auszubalancieren. Machen wir uns nichts vor: Natürlich ist das ein Konfliktfeld; das ist doch keine Frage. Diejenigen, die im Homeoffice sind, finden das auf der einen Seite gut, weil sie eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie und auch mehr Freiheit in ihrer persönlichen Arbeitsgestaltung haben. Aber auf der anderen Seite gibt es natürlich auch Ängste und Sorgen. Die Menschen sagen: Mensch, ich bin nicht bei meinem Team; ({5}) ich bin nicht in der Kaffeepause dabei; ich kann mit den Kollegen nicht reden. – Auch das gehört zur Wahrheit; so ist die Realität. Deswegen ist es gut, dass wir diese Prozesse weiterhin in der Entscheidungsfreiheit der Unternehmen belassen und kein Recht auf Homeoffice schaffen. Letztendlich wollen das zwei Drittel der Beschäftigen, die kein Homeoffice nutzen, auch nicht anders. Das ist gelebte Realität und der Wunsch der Beschäftigten in Deutschland. Ich möchte an unsere Kolleginnen und Kollegen appellieren: Meine Damen und Herren, vieles, was wir hier machen, ist wünschenswert; aber nicht alles ist regulierbar. Es ist auch nicht sinnvoll, alles zu regulieren. Wir können die Sorgen und Nöte, die das Leben, auch das Arbeitsleben, mit sich bringt, manchmal nicht bis in das letzte Detail regulieren bzw. lösen. Es gibt gewisse Dinge, bei denen müssen wir versuchen, durch positive Anreize Einfluss zu nehmen. Ich erinnere beispielsweise an das Elterngeld, ein Instrument, das man freiwillig in Anspruch nehmen kann. Es hat dazu geführt, dass heute weit mehr als 30 Prozent der Männer in Deutschland Elternzeit nehmen und Elterngeld beziehen. ({6}) Das ist fortschrittliche Politik. Man muss nicht immer alles vorschreiben oder verbieten.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Schimke, ich muss Sie jetzt darauf aufmerksam machen, dass Sie demnächst das Kontingent Ihrer Kollegen angreifen.

Jana Schimke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004398, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, unser Ansatz ist es, die Wirtschaft zu unterstützen und nicht zu regulieren. Wir brauchen weniger Bürokratie. Wir müssen etwas bei den Unternehmensteuern tun. Und wir brauchen vor allen Dingen mehr Vertrauen in die deutsche Wirtschaft und mehr Flexibilität bei allen arbeitsmarktpolitischen Instrumenten. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Enrico Komning für die AfD-Fraktion. ({0})

Enrico Komning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004787, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Wir reden heute über ein Thema, dessen Relevanz sich vielleicht nicht auf den ersten Blick jedem erschließt. Bei meinen Vorrednern haben Sie es gehört. Frau Müller-Gemmeke, Sie werfen uns vor, die Ewiggestrigen zu sein, wollen jedoch, dass wir in Berichte oder Gutachten der Regierung von 1996 bis 1998 schauen. Das passt irgendwie nicht zusammen. ({0}) Frau Schimke, Sie haben von der Digitalisierung der Wirtschaft und der Gesellschaft in Deutschland gesprochen. Ich weiß ich nicht, wo Sie leben. Gucken Sie sich mal an, wo wir in den Rankings zur Digitalisierung derzeit stehen! ({1}) Dennoch, meine Damen und Herren Kollegen, ist das gerade heute hier ein Thema, das in der jetzigen Corona-bedingt aufgeregten Zeit zur Lösung vieler Probleme beitragen kann und wie vieles andere auch von der Bundesregierung verschlafen zu werden droht. Telearbeit oder auch mobiles Arbeiten – das ist eben nicht nur Homeoffice – können dazu beitragen, viele Missstände in unserem Land wenn nicht zu beseitigen, dann doch wenigstens abzumildern. Nach Auskunft des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages wäre bei 40 Prozent der Arbeitsstellen in Deutschland keine dauerhafte Anwesenheit erforderlich. Auch das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung geht von einem Potenzial von 40 Prozent Telearbeitsplätzen für abhängig Beschäftigte aus. Realität in Deutschland ist, dass gerade einmal ein Achtel aller Arbeitnehmer dauerhaft oder gelegentlich die Möglichkeiten des mobilen Arbeitens nutzen. Dabei hat Telearbeit enorm viele Vorteile. Es werden beispielsweise weniger Büroflächen gebraucht. Angesicht der Wohnungsknappheit in großen Städten ist das ein echter Kostenfaktor. Die Mobilität der Arbeitnehmer wird virtuell und verlagert sich von der Straße ins Internet. Wir hätten eine Entlastung der Infrastruktur und weniger Abgase in der Luft. Das, meine Damen und Herren von den Grünen, ist übrigens echte Umweltschutzpolitik. ({2}) Gerade in den strukturschwachen ländlichen Räumen können den Mitarbeitern durch Telearbeit lange Anfahrtszeiten und damit der Zeitverlust durch die morgendlichen und abendlichen Verkehrsstaus erspart werden. Ein weiterer Vorteil ist, dass sich Arbeitgebern durch mehr Telearbeit ganz neue Arbeitsmarktpotenziale erschließen. Arbeitnehmer müssen nicht mehr notwendigerweise am Ort sein. Hier besteht eine Chance für ländliche Räume, in denen es viel zu wenige Betriebe gibt. Junge Menschen ziehen gerade deshalb aus Dörfern und Kleinstädten massenhaft weg. Telearbeit kann dazu beitragen – dazu steht im Übrigen im Antrag der Grünen gar nichts –, Familie und Beruf miteinander zu vereinbaren; denn, meine Damen und Herren, wir brauchen in Deutschland dringend mehr Kinder. Ein Hindernis zur Entscheidung für eine Familie ist häufig, dass potenzielle Eltern schlicht nicht wissen, wie sie ein Familienleben neben ihrem Job schaffen sollen. Telearbeit muss also attraktiv gemacht werden, darf aber kein Bürokratiemonster sein. Deshalb lehnen wir einen arbeitnehmerseitigen Anspruch auf Homeoffice, wie er im Grünenantrag gefordert wird, ab. Es geht um mehr Arbeitsplätze, vor allem in Regionen, in denen es zu wenige gibt. Die Sozialverträglichkeit bleibt gewahrt; denn die bestehenden, die Arbeitsnehmerrechte schützenden Gesetze sind grundsätzlich – im Übrigen auch nach Ansicht des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages – ausreichend. Es geht bei der Telearbeit um eine für Arbeitgeber wie Arbeitnehmer gleichermaßen attraktive Form der Ausgestaltung von Arbeitsverhältnissen. Diesem Ziel läuft der Grünenantrag in großen Teilen zuwider, sodass wir unseren Antrag als bessere und ausgewogenere Alternative zur Abstimmung empfehlen. Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun Martin Rosemann das Wort. ({0})

Dr. Martin Rosemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004389, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für mich sind Homeoffice und mobiles Arbeiten eine Chance; eine Chance für mehr Flexibilität und mehr Selbstbestimmung für die Beschäftigten und damit ein wichtiger Beitrag, um Familie und Beruf, um Beruf und Privatleben besser zu vereinbaren und für Arbeit zu sorgen, die zum Leben passt. Natürlich bedeutet das dann auch weniger Pendeln. Studien zeigen im Übrigen, dass Leute, die die Möglichkeit haben, im Homeoffice zu arbeiten, zufriedener und sogar leistungsfähiger sind. Studien zeigen aber auch, dass das nicht ohne Gefahren ist, dass es zu mehr Arbeit und höherer Belastung kommen kann, weil die Arbeit schon zu Hause ist und manche nicht mehr zwischen Privatleben und Arbeit trennen können, nicht abschalten können. Deswegen ist für mich das Fazit: Homeoffice und mobiles Arbeiten sind dann gut, wenn sie vernünftig organisiert sind und wenn die Rahmenbedingungen stimmen. ({0}) Worauf kommt es dabei an? Es kommt darauf an, dass wir Entgrenzung von Arbeit vermeiden, dass der Arbeits- und Gesundheitsschutz gewährt wird, und vor allem braucht es klare Regeln, insbesondere bei der Arbeitszeit. Deshalb wünsche ich mir noch mehr Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen in Bezug auf mobiles Arbeiten, die das passgenau für ganze Branchen und einzelne Unternehmen regeln. Aber wir stellen leider fest: So weit sind wir noch nicht. In Deutschland sieht es in der Praxis anders aus. In Deutschland nutzen nur 11 Prozent der Beschäftigten mobiles Arbeiten. Spitzenreiter in der Europäischen Union sind die Niederlande mit 37,5 Prozent. In den skandinavischen Ländern nutzt etwa jeder dritte Beschäftigte mobiles Arbeiten oder Homeoffice. Befragungen für Deutschland zeigen aber, dass zwischen 30 und 40 Prozent der Beschäftigten gerne mobil arbeiten würden. Das heißt, wir haben eine große Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Leider scheitern Homeoffice und mobiles Arbeiten zu häufig am Widerstand der Arbeitgeber. Meine Damen und Herren, das wollen wir ändern. ({1}) Deshalb wollen wir mobiles Arbeiten gesetzlich regeln. Wir haben im Koalitionsvertrag verabredet, einen Rechtsrahmen zu schaffen, einen Rechtsrahmen, der dafür sorgt, dass sich mehr Arbeitgeber für Homeoffice öffnen, dass es klare Regeln gibt und dass es auch mehr Vereinbarungen zwischen den Sozialpartnern gibt. Wir werden dieses Jahr ein Gesetz zum mobilen Arbeiten auf den Weg bringen; denn uns geht es darum, dass auch die Beschäftigten die Chancen der Digitalisierung nutzen können. Unser Ziel als SPD ist es, dass mehr Beschäftigte, die wollen, auch mobiles Arbeiten und Homeoffice nutzen können. ({2}) Meine Damen und Herren, in der aktuellen Situation aufgrund des Coronavirus erleben wir, dass mehr und mehr Arbeitgeber ihre Beschäftigten aktiv ins Homeoffice schicken, um sie zu schützen und eine weitere Verbreitung des Virus zu verlangsamen. Man sieht daran, dass in der Krise manchmal ein Umdenken stattfindet. Ich hoffe und wünsche mir, dass das dazu beiträgt, dass es ein Stück weit zu einem Kulturwandel in den Unternehmen in Deutschland kommt und uns voranbringt, um dann für alle eine Arbeit zu ermöglichen, die zum Leben passt. Herzlichen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Johannes Vogel das Wort. ({0})

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mobiles Arbeiten, Homeoffice, Remote Life – das ist nicht erst seit der Diskussion um das Coronavirus Realität, sondern heute schon in vollem Gange, und zwar nicht nur im Silicon Valley, sondern auch in Castrop-Rauxel. Aber die aktuelle Lage führt uns vor Augen – viele Unternehmen gehen dazu über, verantwortungsbewusst zu sagen: „Geht ins Homeoffice, wenn es irgendwie geht.“ –, wie veraltet der Rechtsrahmen in dieser Hinsicht ist. Es sich so leicht zu machen wie die Koalition – die CDU/CSU sagt: „Es gibt keinen Änderungsbedarf“, die SPD sagt: „Ja, wir regeln das alles“, hat seit drei Jahren dazu aber keine wirkliche Initiative zustande gebracht –, ist zu wenig, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) So werden wir die im internationalen Vergleich geringe Nutzung von Homeoffice auch nicht erhöhen können. Reden wir einmal ganz konkret darüber, woran es zum Beispiel scheitert. Worüber müssen sich Unternehmen in Deutschland heute zuallererst Gedanken machen, wenn sie ihre Beschäftigten wirklich rechtssicher ins Homeoffice schicken wollen? Im Gesetz steht immer noch „Telearbeit“, und mobiles Arbeiten ist im Gesetz nicht klar definiert. Nur ein Beispiel: Aktuell ist in diesen Tagen kollektives mobiles Arbeiten im Café eben nicht angezeigt, sondern es geht um Arbeiten zu Hause. Wenn Unternehmen vor dieser Situation stehen, stellen sich folgende Fragen: Was müssen sie rechtlich sicherstellen? Den richtigen Bürostuhl, den richtigen Bildschirm, den richtigen Lichteinfall der Schreibtischlampe? – Liebe Kolleginnen und Kollegen, so wird das nichts. Das zeigt, dass wir in diesem Land eine Modernisierung des Rechtsrahmens für digitales Arbeiten dringend brauchen. ({1}) Ein zweites Beispiel, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD – gehen wir einmal weg vom Homeoffice –: Betriebsratsarbeit. Wissen Sie eigentlich, dass es heute rechtlich völlig unklar ist, ob Betriebsräte in Deutschland überhaupt eine digitale Sitzung abhalten können? Wie passt das in die heutige Zeit, wo wir vielleicht Kurzarbeit stärker nutzen müssen? Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, die Modernisierung des Rechtsrahmens für digitales Arbeiten gehört endlich auf die Tagesordnung, und Ihre Untätigkeit bei diesem Thema ist nicht länger hinzunehmen. ({2}) Wir fordern ganz konkret: Machen wir es so wie unsere niederländischen Nachbarn. Die haben unter dem klugen liberalen Premier Mark Rutte in einer Reform drei Dinge zusammengeführt: ({3}) erstens ein Recht auf Homeoffice, zweitens eine Modernisierung des Arbeitsschutzes – passend für die heutige Zeit, wenn es um Homeoffice und Arbeiten vor Ort geht – und drittens eine Modernisierung des Arbeitszeitgesetzes. Alle drei Themen gehören zusammen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({4}) So, wie die Kollegen in den Niederlanden einen Kulturwandel hinbekommen haben, ohne dass irgendetwas schlechter geworden ist, so können wir das in Deutschland auch schaffen. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist wirklich schade, dass wir von der Großen Koalition seit drei Jahren zu diesem Thema gar nichts hören und sehen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, ich freue mich, dass wir bei einem arbeitsmarktpolitischen Thema einmal gemeinsam streiten. Allerdings muss ich sagen: Ihr Antrag springt ein bisschen kurz. Erstens sind verschiedene Dinge unklar: Wichtige betriebliche Gründe? Wie ist das rechtlich zu fassen? Sind das dringende betriebliche Gründe oder betriebliche Gründe? Solche Fragen werden Sie beantworten müssen, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen. Zweitens. Die Themen „Homeoffice“ und „mobiles Arbeiten“ anzugehen, ist richtig, aber das Thema „Arbeitszeitgesetz“ außen vor zu lassen, sagt leider mehr über Ihre Lebenslügen als über einen zukunftsfähigen Antrag.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Vogel.

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Da müssen auch Sie weiter denken, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Jessica Tatti für die Fraktion Die Linke. ({0})

Jessica Tatti (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004911, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für viele ist die Vorstellung reizvoll, von zu Hause aus zu arbeiten, sich lange Wege zur Arbeit zu ersparen, bei freier Zeiteinteilung in den eigenen vier Wänden konzentriert zu arbeiten ohne die Hektik des Büroalltags. Die Realität sieht aber für viele anders aus. Beschäftigte im Homeoffice klagen deutlich häufiger über eine hohe Stressbelastung im Job, können weniger gut von der Arbeit abschalten, machen weniger Pausen und arbeiten häufiger auch dann, wenn sie krank sind. Sie machen zudem deutlich mehr Überstunden als Beschäftigte, die nur im Betrieb arbeiten. Da Homeoffice oft mit Vertrauensarbeit verbunden ist, werden viele Überstunden nicht erfasst und nicht vergütet. Das rechnet sich für die Arbeitgeber; denn sie sparen Jahr für Jahr Milliardenbeträge durch unbezahlte Überstunden. Damit muss endlich Schluss sein. ({0}) Nur knapp ein Drittel der Beschäftigten wünscht sich laut einer Studie des BMAS, gelegentlich von zu Hause zu arbeiten. Zwei Drittel wollen das nicht. Warum? Sie wollen eine klare Trennung von Arbeit und Privatleben. Das ist verständlich. ({1}) Daher braucht es klare gesetzliche Leitplanken, um Homeoffice zu einer Bereicherung für diejenigen Beschäftigten zu machen, die das wollen. Das heißt konkret: Homeoffice muss dem ausdrücklichen Wunsch der Beschäftigten entsprechen und darf nicht von Unternehmen missbraucht werden, um zum Beispiel Büroflächen einzusparen. ({2}) Aus einem Recht auf Homeoffice darf keine Pflicht zum Homeoffice werden. ({3}) Homeoffice darf nur als Ergänzung zu einem festen Arbeitsplatz im Betrieb ermöglicht werden, ({4}) damit Beschäftigte nicht isoliert werden und damit der Betrieb als Ort des sozialen und kollegialen Austausches erhalten bleibt. Ein Recht auf Homeoffice muss mit einem Recht auf Nichterreichbarkeit nach Feierabend verknüpft werden, damit die Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben nicht immer mehr verschwimmen. ({5}) Klar sein muss auch: Das Arbeitszeitgesetz ist ein Schutzgesetz und gilt auch für Beschäftigte im Homeoffice. ({6}) Diese Regeln sind notwendig, um das Arbeiten von zu Hause aus zu einer attraktiven Option für Beschäftigte zu machen, um selbstbestimmter über die eigene Arbeit, den Arbeitsort und die Arbeitszeit zu entscheiden. In dieser Form begrüßt auch Die Linke ein Recht auf Homeoffice. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Christian Lindner forderte vor wenigen Tagen in Bezug auf das Coronavirus ein Recht auf Homeoffice. Auch in dieser Debatte fiel dieses Argument. Ich finde, es ist unangebracht, dass hier im Bundestag eine akute Ausnahmesituation genutzt wird, um parteipolitische Forderungen zu untermauern. ({8}) Wir dürfen nicht in operative Hektik verfallen und müssen Krisenmaßnahmen klar von regulärer Gesetzgebung trennen. ({9}) Selbstverständlich brauchen wir in der aktuellen Situation besonnene Lösungen. ({10}) Und ja, Homeoffice kann jetzt vielen Beschäftigten helfen, sich und ihr Umfeld zu schützen. Daher müssen jetzt Regelungen auf betrieblicher Ebene geschaffen werden. ({11}) Arbeitgeber sollten daher dringend ins Gespräch mit ihren Belegschaften und mit den Betriebsräten gehen und Homeoffice als Option anbieten, wo das möglich ist. ({12})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Mark Helfrich für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Mark Helfrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004298, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute über zwei Anträge der Opposition zum Thema Homeoffice. Die Grünen fordern in ihrem Antrag ein Recht auf Homeoffice und mobiles Arbeiten für jedermann. In Zeiten des Coronavirus klingt das erst einmal gut; denn Homeoffice und mobiles Arbeiten erleben gerade einen regelrechten Boom. Schließlich schützt die Arbeit daheim vor Ansteckung und reduziert zugleich Ausfallrisiken für die Unternehmen. Die Vorteile von Homeoffice für den Arbeitnehmer liegen scheinbar auch auf der Hand – könnte man meinen –: Zeitersparnis durch ausbleibendes Pendeln, gute Vereinbarkeit von Beruf und Familie sowie mehr Selbstbestimmung und Flexibilität. Aber wie so oft gilt auch hier: Es ist nicht alles Gold, was glänzt. – So sagen laut IAB knapp 50 Prozent der befragten Arbeitnehmer, dass durch Heimarbeit die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit verschwimmt. Wir sollten aber genauso die Situation der Arbeitgeber in den Blick nehmen. Unsere Wirtschaft leidet bereits jetzt unter einer sich abkühlenden Konjunktur. Die Coronakrise bringt nicht nur weitere Einbußen bei Produktion und Export mit sich. Nein, mit der steigenden weltweiten Virusgefahr steigt auch das Risiko einer globalen Wirtschaftskrise. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, denken Sie ernsthaft, dass jetzt der richtige Zeitpunkt für noch mehr Auflagen, Bürokratie und zusätzliche Kosten für unsere Unternehmen ist? ({0}) Das nämlich fordern Sie implizit mit Ihrem Antrag. Ich sage Ihnen: In diesen Zeiten brauchen Unternehmen gesetzliche Entlastungen und unternehmerische Freiheiten. ({1}) Das sollte eigentlich das ABC einer guten Wirtschaftspolitik in Krisenzeiten sein, von der Sie offensichtlich nicht allzu viel halten. ({2}) Zudem sind Homeoffice und mobiles Arbeiten bereits jetzt schon in vielen Unternehmen Realität aufgrund individueller Regelungen, Tarifvertrag oder Betriebsvereinbarung. Laut Statistischem Bundesamt haben rund 40 Prozent der Unternehmen im Jahr 2018 Homeoffice angeboten, Tendenz steigend. Homeoffice ist somit kein Privileg für wenige, wie Sie von den Grünen in Ihrem Antrag schreiben. ({3}) Für mich ist wichtig, dass die Sozial- und Betriebspartner vor Ort entscheiden, ob und wie sie den gesetzlichen Rahmen nutzen, um den Interessen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern gerecht zu werden. ({4}) Das ist nicht Aufgabe des Gesetzgebers. ({5}) Auch kommt es bei der Frage „Homeoffice – ja oder nein?“ immer auf die digitale Organisation des Unternehmens an. So werden der klassische Mittelständler und Kleinbetriebe nicht so leicht auf den außerbetrieblichen Arbeitsplatz umschalten können. Ebenso außen vor werden Arbeitnehmer und Unternehmen bleiben, in denen die Präsenz von Beschäftigten unabdingbar ist. Dazu zählen das Baugewerbe, das Hotel- und Gaststättengewerbe, der Handel, das produzierende Gewerbe, das Gesundheitswesen usw. usf. Sie sehen also: Homeoffice ist bei Millionen Arbeitnehmern gar nicht möglich. ({6}) Vor diesem Hintergrund ist es nicht mehr als Aktionismus, ein Recht auf Homeoffice für jedermann zu fordern. Meine Damen und Herren, wir brauchen keinen Rechtsanspruch auf mobiles Arbeiten und Homeoffice. Was wir brauchen, ist ein flexibleres Arbeitszeitgesetz. ({7}) Wir sollten die starren täglichen Arbeitszeiten durch eine flexible Wochenarbeitszeit ersetzen und so besser an das digitale Zeitalter anpassen. ({8}) Alles in allem lehnen wir die Anträge der Grünen und der AfD ab. Vielen Dank. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Bernd Rützel für die SPD-Fraktion. ({0})

Bernd Rützel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004392, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mobiles Arbeiten – aktueller als heute könnte diese Debatte wohl nicht sein. Vier von zehn Beschäftigten würden gerne regelmäßig oder auch gelegentlich von zu Hause aus arbeiten. Das wurde schon 2016 im Weißbuchprozess „Arbeiten 4.0“ unserer damaligen Arbeitsministerin Andrea Nahles ganz klar herausgearbeitet. ({0}) – Doch, Kollege Vogel. Aus diesem Prozess heraus haben wir den Rahmen aufgebaut, der in den Koalitionsverhandlungen beschlossen worden ist. ({1}) Mein Kollege Martin Rosemann hat in seiner Rede sehr ausführlich dargestellt, was wir dieses Jahr noch auf den Weg bringen. Das ist auch der Unterschied zu den Grünen: Sie machen die Anträge ({2}) – und dieser Antrag ist gut; ({3}) da widerspreche ich nicht –, aber wir machen die Gesetze dazu. ({4}) Das ist der Unterschied, liebe Kolleginnen und Kollegen. In der aktuellen Coronakrise können wir doch sehen, was alles möglich ist. Vor Kurzem ist Homeoffice noch mit Vehemenz bekämpft worden. Die Präsenzkultur, die wir in Deutschland haben, ist nicht unbedingt förderlich. Andere Staaten sind uns da weit voraus. Es gilt jetzt, den Mut aufzubringen, einiges zu verändern. Allein wer die Möglichkeit hat, von zu Hause aus zu arbeiten, der ist schon glücklicher und zufriedener als derjenige, der sie nicht hat. Von daher ist es wichtig, dass wir das ausbauen. Die allermeisten Beschäftigten – das ist bei der Kollegin Tatti angeklungen – wollen gar nicht von zu Hause aus arbeiten; nicht 100 Prozent freut es, zu Hause, in den eigenen vier Wänden, zu arbeiten. Denn sie wissen auch um die Nachteile, die es bei der Heimarbeit, im Homeoffice, gibt: Man ist sozial isolierter. Man hat weniger Aufstiegschancen. In der Weiterbildung ist man oft der Gelackmeierte. Die geleistete Arbeit wird auch nicht immer von den Chefs richtig eingeschätzt. Und bei der Mitbestimmung ist Homeoffice mit Sicherheit auch nicht unbedingt förderlich. – Deswegen müssen wir beim Homeoffice das richtige Maß finden. Maß ist eine der sieben Tugenden – uralt, aber immer noch aktuell. ({5}) Und es kommt auch auf den richtigen Rahmen an. Das hat auch die Hans-Böckler-Stiftung in ihrem letzten „Impuls“ deutlich gemacht. Es muss geregelt werden, wann gearbeitet wird, wann die Kernzeiten sind, wann Feierabend ist. Sonst ist man schnell im Hamsterrad. Man wird ausgenutzt, aber man nutzt sich auch selber aus. Und eines ist auch klar: Jede Minute Arbeitszeit muss bezahlt werden. Wer in der wunderbaren Natur leben darf – ich weiß, von was ich da spreche –, der weiß aber auch, wie schwierig es ist, mit öffentlichen Verkehrsmitteln in die Städte zu kommen. Nach Frankfurt pendeln jeden Tag 1 Million Menschen. Wenn viele davon ein oder zwei Tage in der Woche nicht dorthin pendeln müssten und zu Hause arbeiten könnten, dann wäre viel für die Gesundheit, für die Nerven, für die Ersparnis von Zeit, für die Umwelt getan. ({6}) Aber dazu bedarf es auch des schnellen Internets an jeder Milchkanne. Vielen Dank. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Peter Aumer für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Peter Aumer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004004, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mobiles Arbeiten ist wohl eines der großen Megathemen unserer Zeit. Gerade im Zeitalter der Digitalisierung gibt es in diesem Bereich Chancen, die wir für unser Land heben müssen. Lieber Johannes Vogel, du hast von der Notwendigkeit eines Kulturwandels gesprochen. Diesen Kulturwandel gibt es schon in den Unternehmen in unserem Land. ({0}) Die Angabe, die ich gelesen habe, dass 61 Prozent der Unternehmen in Deutschland die Möglichkeit des mobilen Arbeitens bieten, ist doch schon mal eine Hausnummer. Von den Unternehmen mit über 250 Mitarbeitern bieten mittlerweile 94 Prozent ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die Option, mobiles Arbeiten in Anspruch zu nehmen. ({1}) Wir müssen natürlich die damit verbundenen Herausforderungen gesetzlich begleiten. Mobiles Arbeiten ist aber auch kein Wundermittel. Wenn man den Antrag der AfD durchliest, könnte man zu der Auffassung kommen, dass man mit mobilem Arbeiten und mit Homeoffice alle Herausforderungen unserer Zeit meistern kann. Sie sprechen in Ihrem Antrag beispielsweise über die Regionalpolitik in Deutschland. Sicherlich kann man einen kleinen Beitrag dazu leisten; aber Regionalpolitik ist schon breiter gefächert, als Sie sie in Ihrem Antrag darstellen. Sie sprechen von Telearbeitszentren an den Heimatorten. Ich bin gespannt, wie das aussehen soll. Sie haben das in Ihrem Antrag nicht näher ausgeführt. Sie wollen Telearbeiter wie Selbstständige behandeln. Also näher an Scheinselbstständigkeit kann man wahrscheinlich nicht sein. Gerade weil der Antrag im Ausschuss für Arbeit und Soziales diskutiert werden soll, sollte man sich etwas mehr Gedanken darüber machen, was man da schreibt. ({2}) Klar kann man dadurch auf Herausforderungen im Bereich der Regionalpolitik Antworten geben; das gilt gerade für die Themenbereiche Mobilität und Verkehr. Wenn weniger Menschen auf den Straßen unterwegs sein müssen, kann dadurch sicherlich die eine oder andere Antwort gegeben werden. Aber abschließend sind die Probleme nicht alleine mit mobilem Arbeiten zu lösen. Dann, meine lieben Kollegen, zum Antrag der Grünen. Ich habe mich auch mit Ihrem Antrag sehr intensiv beschäftigt. Ein Rechtsanspruch auf mobiles Arbeiten ist nicht das Gelbe vom Ei; denn ein Rechtsanspruch spaltet zum Teil auch Belegschaften. ({3}) Es gibt halt auch Arbeitsplätze in unserem Land, Herr Kollege Birkwald, bei denen mobiles Arbeiten nicht möglich ist, zum Beispiel, wenn es um den Bereich der Pflege geht oder wenn es um Kraftfahrer geht, und bei vielen anderen Arbeitsplätzen gibt es keine Möglichkeit für einen Rechtsanspruch und wird es sie wahrscheinlich auch in Zukunft nicht geben, weil es Arbeit gibt, die nur von Menschen erledigt werden kann. ({4}) Deswegen ist es nicht fair, wenn ein Teil einen Rechtsanspruch auf mobiles Arbeiten hat und der andere nicht. ({5}) Man sollte vielmehr auf Freiwilligkeit setzen. Das entspricht auch dem Konzept der Union vor dem Hintergrund, dass man die Möglichkeiten der sozialen Marktwirtschaft nutzt, die vorhanden sind. ({6}) Es gibt einiges zu tun. Wir müssen Gesetze ändern. Bei den Arbeitszeiten ist beispielsweise die Flexibilisierung der Arbeitszeit ein großes Thema; es muss auch das Thema Datenschutz angesprochen werden. Hier müssen wir unsere Hausaufgaben machen. Wir brauchen aber auch eine Koalition der Mitte. Die Vorschläge aus den vorliegenden Anträgen der Grünen und der AfD geben keine Antworten auf die großen Zukunftsfragen. Wir werden hier unsere Hausaufgaben machen. Die Anträge lehnen wir ab. Danke für die Aufmerksamkeit. ({7})