Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 2/23/2018

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. Katarina Barley (Minister:in)

Politiker ID: 11004247

Das ging aber schnell.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Es ist Freitag.

Dr. Katarina Barley (Minister:in)

Politiker ID: 11004247

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Bericht zum Elterngeld Plus debattieren wir heute über eine neue und ausgesprochen wichtige Familienleistung. Der Bericht macht deutlich, wie sich Elterngeld Plus und der Partnerschaftsbonus auswirken und dass sie ein voller Erfolg geworden sind. Der Bericht fügt sich außerdem in die europäische Debatte ein. Wir debattieren derzeit über die neue EU-Vereinbarkeitsrichtlinie. Das zeigt, dass wir die richtigen Debatten zur richtigen Zeit führen. 2015 wurden das Elterngeld Plus und der Partnerschaftsbonus eingeführt, um den Wünschen von Eltern Rechnung zu tragen, die sich im Laufe der letzten Jahre verändert haben. Die Mehrheit der Eltern will inzwischen ihr Leben gemeinsam und partnerschaftlich aufteilen, will, dass Familie und Beruf zwischen den Eltern in ähnlichem Maße aufgeteilt werden, und das sowohl bei den Pflichten als auch bei den Vorzügen, die man dann genießt; denn es sind ja nicht nur Pflichten, die man wahrnimmt, sondern es ist auch die Zeit, die man füreinander hat. Etwa 60 Prozent der Familien heute sagen, dass sie das möchten. Es ist für viele heute also selbstverständlich, Familie und Beruf gleichberechtigt zu leben. Väter und Mütter wollen berufstätig sein und Zeit für die Familie haben. Und der Bericht hat gezeigt: Viele Väter wollen mehr Zeit für ihre Familie haben und viele Mütter mehr Zeit für ihren Beruf. ({0}) Eine Antwort auf diese Wünsche ist das Elterngeld Plus mit dem Partnerschaftsbonus. Es ist ganz wichtig, zu sagen: Es ist ein zusätzliches Angebot neben dem klassischen Elterngeld, das unverändert in Anspruch genommen werden kann. Das Elterngeld Plus unterstützt Eltern, die nach der Geburt wieder in Teilzeit in den Beruf einsteigen oder von Vollzeit auf Teilzeit reduzieren wollen. Sie können bis zu 30 Stunden in der Woche arbeiten und erhalten das Elterngeld Plus dann bis zu 28 Monate. Die Idee ist: Man bekommt etwas weniger Elterngeld im Monat, weil man berufstätig ist und weniger davon braucht. Das nicht verbrauchte Geld geht aber nicht verloren, wie das früher der Fall war, sondern man bekommt es dafür länger ausgezahlt. Das Besondere ist der Partnerschaftsbonus. Ihn erhalten Eltern, die in einem Korridor zwischen 25 und 30 Stunden die Woche arbeiten und sich damit gegenseitig in Familie und Beruf unterstützen. Wenn sie sich dafür entscheiden, dann erhalten beide jeweils zusätzlich vier Monate Elterngeld Plus. ({1}) Also: Zeit für Familie, Zeit für Erwerbstätigkeit, partnerschaftliches Miteinander von Vätern und Müttern – all das wird durch das Elterngeld Plus unterstützt. Das Angebot kommt auch an. Seit seiner Einführung hat sich die Inanspruchnahme verdoppelt. Im dritten Quartal 2017 haben sich fast 290 000 Eltern für das Elterngeld Plus entschieden. Das sind fast 30 Prozent aller Eltern, die Elterngeld beziehen. ({2}) Und von denen, die das tun, sagen 77 Prozent, das sei eine gute Sache, nur 1 Prozent sagt, es sei keine gute Sache. Insbesondere Väter sagen, es ermutige sie, mehr Zeit mit ihren Kindern zu verbringen. 41 Prozent der Väter sagen: Ohne diese Leistung hätten sie sich weniger Zeit für die Betreuung ihrer Kinder genommen. Auch das bestätigen die Zahlen: Im dritten Quartal 2017 haben Väter, die das Elterngeld Plus nicht genutzt haben, durchschnittlich 2,7 Monate Elterngeld, also Basiselterngeld, bezogen, während Elterngeld Plus durchschnittlich 7,4 Monate bezogen wurde. ({3}) Im Bundesdurchschnitt haben sich zuletzt 27 Prozent der Väter, die Elterngeld Plus beantragt haben, gemeinsam mit ihren Partnerinnen zusätzlich für den Partnerschaftsbonus entschieden. In einzelnen Bundesländern waren es bis zu 40 Prozent. Es ist wichtig, zu wissen – das ist auch unter dem Gerechtigkeitsaspekt wichtig –, dass Elterngeld Plus und Partnerschaftsbonus auch von Alleinerziehenden in Anspruch genommen werden können und von Eltern, die sich getrennt haben, die also getrennterziehend sind. Es ist auch wichtig, zu wissen – auch das ist ein Ergebnis der Befragung im Rahmen dieses Berichtes –, dass Alleinerziehende das Elterngeld Plus ähnlich positiv wie Paareltern beurteilen. Auch Selbstständige können das Elterngeld Plus durch die Möglichkeit der Teilzeiterwerbstätigkeit nutzen. Das ist also ein Gewinn an Flexibilität für alle, weil die vielfältigen Familienverhältnisse und Erwerbswünsche beachtet werden. ({4}) Was erreichen wir mit dem Elterngeld Plus? Wir stärken die wirtschaftliche Stabilität von Familien, weil wir natürlich wissen, dass Erwerbstätigkeit die beste Versicherung gegen Familienarmut, gegen Kinderarmut und auch gegen Altersarmut ist, und wir geben den Familien ein Instrument an die Hand, um mehr Zeit miteinander zu haben, gerade dann, wenn sie es brauchen, nämlich wenn die Kinder klein sind. Väter können mehr für ihre Kinder da sein, Mütter und Väter können sich die Zeit besser untereinander aufteilen, und die Kinder bauen von Anfang an eine stärkere Bindung zu beiden Elternteilen auf. Auch das ist ein wichtiger Aspekt bei dieser Leistung. ({5}) Zukünftig wollen wir es Eltern insgesamt noch leichter machen, Familienleistungen in Anspruch zu nehmen. Alle, die sich mit Familienpolitik beschäftigen, wissen, dass das ein Dschungel ist. Wir haben viele, viele Angebote; aber es ist teilweise kompliziert. Zum einen planen wir jetzt das Onlineportal „Elterngeld Digital“, einen Onlineantragsassistenten. Wir wollen insgesamt noch besser werden. Wir wollen die Antragstellung vereinfachen und, wo das geht, zusammenlegen. Dabei setzen wir natürlich auf die Digitalisierung. In dem Koalitionsvertrag, der jetzt vorliegt, haben wir uns darauf verständigt, dass wir die Situation von Familien und Kindern weiter verbessern wollen. Wir wollen das Kindergeld erhöhen und Kinderfreibeträge anpassen. Wir wollen für Familien mit kleinem Einkommen den Kinderzuschlag erhöhen ({6}) und vor allen Dingen dafür sorgen, dass die Leistungsfeindlichkeit in diesem Bereich endlich abgebaut wird, dass der Kinderzuschlag von 170 Euro nicht von heute auf morgen wegfällt, wenn man die Einkommensgrenze um nur 1 Euro überschreitet. Das ist so ziemlich das Leistungsfeindlichste, was wir in unserem Recht haben. Wir haben teilweise Transferentzugsraten von über 80 Prozent. Der Spitzensteuersatz liegt bei nur gut 40 Prozent. Wir ziehen hier also doppelt so viel ab wie bei Spitzenverdienern. Das macht überhaupt keinen Sinn. ({7}) Auch das werden wir ändern, so man uns lässt, damit sich Arbeit wirklich für alle Eltern lohnt. Natürlich müssen wir in die Kinderbetreuung investieren; denn eine gute Kinderbetreuung ist die Voraussetzung dafür, dass Eltern berufstätig sein können. Auch diesbezüglich sieht dieser Koalitionsvertrag viel vor: Wir wollen Verbesserungen im Bereich Kita und den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung im Grundschulalter, was ein Meilenstein in der Familienpolitik ist. ({8}) Wir wollen Kindergrundrechte in die Verfassung aufnehmen und eine umfassende Reform des Kinder- und Jugendhilfegesetzes mit einem ganz breiten Beteiligungsprozess. Dieser Koalitionsvertrag sieht ganz viel vor, was gut ist für Familien und für Kinder. Er ist es definitiv wert, umgesetzt zu werden. Herzlichen Dank. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Bundesministerin Barley, Sie hatten natürlich recht, ich war in der Tat zu schnell. Ich hätte zunächst einmal sagen sollen, dass nach einer interfraktionellen Vereinbarung für die Aussprache 60 Minuten vorgesehen sind. Davon sind jetzt schon 7 Minuten vorüber. Darf ich fragen, ob sich gegen die restlichen 53 Minuten Widerspruch erhebt? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich bitte um Nachsicht. Die nächste Rednerin ist die Kollegin Nadine Schön von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Nadine Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004116, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 29. Juni 2006 hat die damalige Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen von einem „historischen Moment“ gesprochen. Das war nämlich der Tag, an dem dieses Hohe Haus mit den Stimmen der Großen Koalition das Elterngeld eingeführt hat, das dann zum 1. Januar 2007 in Kraft getreten ist, sozusagen die große Schwester des Elterngelds Plus, über das wir heute debattieren. Der Tag war deshalb historisch, weil es damit möglich wurde, dass sich Eltern im ersten Jahr nach der Geburt eines Kindes eine Auszeit nehmen, die mit staatlicher Unterstützung finanziell so gut unterlegt ist, dass man sich die Auszeit auch leisten kann. Damit sollte Menschen auch Mut gemacht werden, sich für ein Kind zu entscheiden. ({0}) Es war auch deshalb historisch, weil zum ersten Mal die Väter in den Blickpunkt der Familienpolitik gerückt worden sind. Vätern sollte der Rücken gestärkt werden, wenn sie sich zusätzlich zur Elternzeit ihrer Partnerinnen für die Familie engagieren. Dafür wurden die Partnermonate geschaffen. Damit wurde auch eine kleine Revolution in unserem Land in Gang gesetzt. Wenn man sich jetzt die Leistung anschaut, dann sieht man, dass diese Ziele alle erreicht wurden. Das Elterngeld ist eine der beliebtesten familienpolitischen Leistungen. Es ermöglicht den Eltern, zu sagen: Wir haben Zeit für die Familie, gerade in diesem wichtigen ersten Jahr. Auch die Männer sagen: Wir werden nicht mehr schief angeschaut, wenn wir im Unternehmen sagen: Ich bleibe einige Monate zu Hause, um Zeit mit der Familie zu verbringen. – Wenn man in die Betriebe schaut, dann sieht man, dass dadurch in den Unternehmen schon ein kleiner Kulturwandel begonnen hat. Das Elterngeld ist also eine wahre Erfolgsgeschichte. Ich habe den Eindruck, dass das heute auch die Fraktionen der FDP, der Grünen und der Linken so sehen. Das ist schön; denn damals haben sie leider gegen die Einführung des Elterngeldes gestimmt. ({1}) Es ist ein Kernelement christdemokratischer Familienpolitik, Familien nicht vorzuschreiben, wie sie zu leben haben. Wir wollen eine große Vielfalt familienpolitischer Modelle unterstützen. Wir wollen, dass sich Familien die Konstellation aussuchen können, die für sie am besten ist. Wahlfreiheit ist ein ganz wichtiges Element christdemokratischer Familienpolitik. ({2}) Deshalb haben wir schon sehr früh darüber nachgedacht, dieses wichtige Instrument des Elterngeldes noch weiter zu flexibilisieren, es noch attraktiver zu machen für die unterschiedlichsten Modelle. Ursula von der Leyen hat bereits 2009 über das sogenannte Teilelterngeld nachgedacht. Das haben wir 2015 in der Großen Koalition mit den Sozialdemokraten als Elterngeld Plus eingeführt. Die Grundidee des Teilelterngeldes ist, dass man über einen Zeitraum von 24 Monaten Elterngeld beziehen kann, wenn man in Teilzeit tätig ist. Dadurch hat man mehr Flexibilität und Spielraum, den Familienalltag zu gestalten. Diesen Grundgedanken des Teilelterngeldes haben wir aufgenommen und das Elterngeld Plus – verstärkt durch die Komponente der Partnermonate – eingeführt. Auch das Elterngeld Plus – die Familienministerin hat es gesagt – ist ein absolutes Erfolgsmodell. Die Paare sind mit dieser familienpolitischen Leistung sehr zufrieden. Sie ermöglicht ihnen, zu sagen: Wir haben Zeit für Familie, wir haben eine finanzielle Absicherung; und auch die Väter haben mehr Möglichkeiten, sich für die Familie zu engagieren. Ich will zitieren aus den Aussagen der Eltern im Rahmen einer Umfrage zu diesem Thema. Da sagt etwa ein Schlosser, ein Angestellter: Wichtig finde ich das Elterngeld natürlich wegen des Geldes, aber auch, weil ich das Gefühl habe, dass meine bisherige Arbeitsleistung irgendwie vom Staat wertgeschätzt wird. – Ein weiterer Angestellter sagt: Besonders wichtig ist für uns das Elterngeld, weil es uns ermöglicht, Zeit mit unserem Baby zu verbringen. Das ist wirklich eine enorme Leistung; denn Zeit ist ein hohes Gut. Das merken wir jetzt besonders. – Jeder, der diese Erfahrung gemacht hat, wird das bestätigen. ({3}) Diesen positiven Bewertungen des Elterngeldes und des Elterngelds Plus schließen wir uns als Unionsfraktion explizit an. Das Elterngeld Plus ist gut, weil es der Vielfalt der Familien gerecht wird, weil es die Wahlfreiheit stärkt, weil es flexibel ist und Eltern dabei unterstützt, Zeit für Familie zu haben und Beruf Familie und optimal vereinbaren zu können. Durch diese Leistung – ich habe es gesagt – hat sich vieles in unserem Land verändert; aber wir alle wissen, dass wir hier noch nicht am Ende angekommen sind. Deshalb haben wir im Koalitionsvertrag erneut mit den Sozialdemokraten ein ganzes Familienpaket vereinbart. Ich denke, das ist die größte familienpolitische Entlastung, die wir in unserem Land jemals hatten. ({4}) Mit Blick auf all die Maßnahmen, die wir für die nächsten vier Jahre geplant haben, kann ich nur sagen, dass der Parteitag der CDU am kommenden Montag und die Mitglieder der SPD eine hohe Verantwortung haben. Sie müssen sich nämlich die Frage stellen: Wollen wir diese große Entlastung für Familien in den nächsten vier Jahren ermöglichen, oder wollen wir das nicht? Im Sinne unserer Familien kann ich nur sagen: Alle, die hier mit­entscheiden, haben eine große Verantwortung. ({5}) Wir wollen die Familien unterstützen und entlasten, und sie sollen in den nächsten vier Jahren ein Schwerpunkt unserer Arbeit sein. Dafür stehen wir mit dem Koalitionsvertrag, den wir in den letzten Wochen ausgehandelt haben. ({6}) Ich will nur stichwortartig die vereinbarten Maßnahmen nennen; denn ich habe den Eindruck, viele davon sind noch gar nicht bekannt. Wir haben eine Kindergelderhöhung um 25 Euro in den kommenden drei Jahren vereinbart; das ist die höchste Kindergelderhöhung, die wir jemals hatten. Wir wollen den Restanspruch für einen Ganztagsplatz im Grundschulbereich. ({7}) Wir unterstützen weiterhin beim Ausbau, bei der Qualität und bei der Beitragsreduzierung im Bereich der Kitas. Wir steigen in die Unterstützung von haushaltsnahen Dienstleistungen ein. Denn wir alle wissen, dass die Hausarbeit der Zeitfresser schlechthin für Familien ist. Auch hier wollen wir als Staat besser unterstützen, als wir das bisher gemacht haben. ({8}) Wir haben – ein Punkt, der den Sozialdemokraten wichtig war – die Einführung eines Rückkehrrechts von Teilzeit auf Vollzeit vereinbart, was ebenfalls Flexibilität ermöglicht. Als öffentlicher Dienst werden wir das Thema „Teilzeit in Führungspositionen“ in Angriff nehmen. ({9}) Denn der große Skandal in den Unternehmen und auch im öffentlichen Dienst ist doch, dass, wenn man Teilzeit wählt, die Karriere oft vorbei ist. Das ist auch der Grund, weshalb gerade Väter es scheuen, sich mehr Zeit für Familie zu nehmen, über längere Strecken aus dem Beruf auszusteigen oder Teilzeit zu arbeiten; denn sie haben Angst, dann von der Karriereentwicklung abgeschnitten zu sein. Das ist etwas, was wir uns im Jahre 2018 in diesem Land einfach nicht mehr leisten können, ({10}) weil wir die Väter in der Erziehung brauchen und weil die Unternehmen es sich gar nicht leisten können, auf die vielen Mütter zu verzichten, die vor der Entscheidung zwischen Beruf und Familie stehen und sich bisher größtenteils für die Familie entscheiden. Das darf es ab dem Jahr 2018 nicht mehr geben. Beide Elternteile, Mütter und Väter, müssen die Möglichkeit haben, sich Zeit für Familie zu nehmen, eine Auszeit vom Beruf zu nehmen oder Teilzeit zu arbeiten, auch mal zurückzustehen und trotzdem, später oder parallel, Karriere zu machen, weiterzukommen in ihrem Beruf. Wir brauchen die Kompetenzen dieser Väter und Mütter für unsere Wirtschaft. Dafür setzen wir uns ein, und dabei ist das Elterngeld Plus eine wichtige Maßnahme von vielen. Wir freuen uns auf die – hoffentlich – nächsten vier Jahre, in denen wir diese erfolgreiche Familienpolitik fortführen können. ({11})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Martin Reichardt, AfD. ({0})

Martin Reichardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004859, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Werte Gäste auf den Tribünen, ganz besonders die aus der Altmark! Nachdem wir hier von den erfolgreichen Maßnahmen der Regierung gehört haben, das Positive von unserer Seite gleich zum Anfang: Wir sind nicht grundsätzlich gegen das Elterngeld Plus. Wir sind froh über jeden Euro, den diese Regierung in Familien investiert; denn es ist ja im Ganzen wenig und erfolglos genug. ({0}) „Wir haben die Erde von unseren Kindern nur geborgt.“ Dieser Satz, ein indianisches Sprichwort, prangte 1983 auf den Wahlplakaten der Grünen und wirkt heute als Parole immer noch in weite Teile der Politik. Alle Regierungen der letzten Jahre haben sich mit viel Steuergeld und großem propagandistischen Getöse um die vermeintlich geborgte Erde gekümmert. Eine Energiewende, Klimaschutz, Mülltrennung, Refugees Welcome – alles das sind die Weltrettungsprojekte, mit denen Sie in den letzten Jahren den Deutschen Bundestag und das Volk beglückt haben. ({1}) – Ja, genau. – Um die Kinder haben Sie sich nicht hinreichend gekümmert. Denn Kinder, die nicht geboren werden, können uns auch nichts borgen. Kinder, die nicht geboren werden, werden keine Eltern, und Eltern, die nicht geboren werden, beantragen auch kein Elterngeld Plus. ({2}) – Ja, ja. Die jetzige geschäftsführende und vielleicht bald neue Bundesregierung feiert das Elterngeld Plus als familienpolitischen Erfolg. Meine Damen und Herren, diese Schönrednerei ist im Angesicht von 20 Prozent Kinderarmut in Deutschland und über 27 Prozent von Familien mit mehr als drei Kindern, die von Armut bedroht sind, eine Farce. Das muss hier einmal deutlich ausgesprochen werden. ({3}) Meine Damen und Herren, Deutschland ist nicht, wie uns die Öko-Ablasshändler von den Grünen weismachen wollen, von einer Klimakatastrophe bedroht. Deutschland ist bedroht von einer demografischen Katastrophe, und gegen die muss diese Regierung endlich vorgehen. ({4}) Seit Anfang der 70er-Jahre sterben mehr Deutsche als geboren werden, zurzeit etwa 200 000 pro Jahr. ({5}) Diesen Prozess der Überalterns und Aussterbens des Souveräns hat die jetzige Bundesregierung mit der populistischen Phrase vom demografischen Wandel schöngefärbt. ({6}) Tatsächlich ist diese Entwicklung eine demografische Katastrophe, eine Katastrophe, die, anders als die Klimakatastrophe, heute bereits im Lande fühlbar ist. Fehlende Kinder und fehlende junge Menschen führen zu Schieflagen in den Sozialsystemen, und diese sind bereits heute in vielen Bereichen Ost- und Mitteldeutschlands in Form von Verarmung und Verelendung im ländlichen Raum erkennbar. ({7}) Aufgabe einer verantwortungsvollen Familienpolitik ist es daher, alle verfügbaren Kräfte dafür einzusetzen, den schon länger hier Lebenden, nämlich den Deutschen, wieder die Möglichkeit zu geben, Kinder ohne Sorge um Armut zu bekommen und zu erziehen. ({8}) Das Elterngeld Plus ist vor diesem Hintergrund vermutlich ein nutzloses Instrument, bestenfalls aber ein Instrument, das seinen Nutzen nicht beweisen kann. Denn die Erhaltung des Staatsvolkes und die Bekämpfung der demografischen Katastrophe tauchen im gesamten Fragenkatalog zur Bewertung dieses Instrumentes nicht auf. ({9}) Es drängt sich der Verdacht auf, meine Damen und Herren, dass das Elterngeld Plus in Wirklichkeit gar nicht für die Familien gedacht ist, sondern dass es eher eine Maßnahme im Rahmen des Social Engineering ist. ({10}) Man könnte meinen, der Geist von Margarete ­Mitscherlich schwebt noch heute über dieser Regierung, die bereits 1987 – und da war die demografische Katastrophe schon ein Thema – gesagt hat, man könne das Aussterben der Deutschen eigentlich nicht bedauern. Diese Dame erhielt 2001 unter Johannes Rau das Bundesverdienstkreuz. ({11}) Nun, meine Damen und Herren, ist aber mit der AfD ein neuer Geist in den Bundestag eingezogen: ein Geist der Demokratie ({12}) und der Achtung vor dem deutschen Volk, vor dem deutschen Volk als Souverän des Grundgesetzes, ({13}) ein Geist, der der Vergreisung und dem Aussterben des Souveräns entgegentritt. Wir bedauern das Aussterben der Deutschen durch die kinder- und familienfeindliche Politik der jetzigen Bundesregierung. Das werden wir auch hier immer wieder anklagen. ({14}) In Ihrem „Familienreport 2017“ gestehen Sie ein, dass in Deutschland Familien gegenüber kinderlosen Paaren ungleich gestellt sind. Sie schreiben, das durchschnittliche Nettoeinkommen von Familien liege weiterhin um circa 21 Prozent unter dem von kinderlosen Paaren. ({15}) Ein paar Zeilen weiter ziehen Sie eine Bilanz der Familienpolitik von 2013 bis 2017. Das Elterngeld Plus steht auf gleicher Höhe mit dem Punkt Ehe für alle unter der Förderung von Partnerschaftlichkeit. ({16}) Meine Damen und Herren, Kinderarmut und Geburtenzahlen belegen, dass die gesamte Familienpolitik dieser Regierung – inklusive Elterngeld Plus – kolossal gescheitert ist. ({17}) Sie hat weder den armen Familien geholfen noch dazu geführt, den legitimen Kinderwunsch von Familien zu unterstützen. Weder das Elterngeld Plus noch der andere bunte Reigen Ihrer ziel- und planlosen Familienpolitik hebt die Benachteiligung von Familien auf. ({18}) – Ja, ja. Wir kommen noch dazu. ({19}) Sie brauchen hier nicht herumzureden. Wir sind schon dabei. Lesen Sie auch einmal unser Programm. Da stehen reichhaltig Forderungen drin. ({20}) In seinem Urteil vom 3. April 2001 forderte das Bundesverfassungsgericht – trotz des Gepöbels aus den Regierungsreihen – ({21}) den Gesetzgeber auf, die eklatante Schlechterstellung von Familien mit Kindern gegenüber Kinderlosen im Bereich der Sozialsysteme zu beenden. ({22}) Um dieser Aufforderung gerecht zu werden, meine Damen und Herren, hätte es eines großen Wurfes im Bereich der Sozialpolitik und der Familienpolitik bedurft. ({23}) Aber Sie tun nichts dagegen, dass die Erfüllung des legitimen Kinderwunsches vieler Menschen zurzeit durch die Lebensverhältnisse, zu denen eben auch Kinderarmut, Altersarmut und Ähnliches gehören, verhindert wird. ({24}) Gerechtigkeit für Familien und die Erhaltung des Souveräns stehen nicht auf dem Programm Ihrer Familienpolitik. Große Würfe wagen Sie lediglich im Rahmen einer qualitativ und quantitativ schlechten Bevölkerungspolitik. ({25}) Sie geben das Geld, das für eine verantwortungsvolle Familienpolitik benötigt wird, für die millionenfache Einwanderung in die Sozialsysteme aus, und das ist eine Schande. ({26})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Reichardt, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Martin Reichardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004859, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Nein. ({0}) – Sie alle rufen doch schon genug dazwischen. Deshalb brauche ich jetzt keine Zwischenfrage zuzulassen. – Sie tun dies, obwohl Sie wissen, dass Einwanderung als Mittel zur Bekämpfung des Geburtendefizits generell ungeeignet ist. ({1}) Sie als Regierung ({2}) – ja – sind in der Pflicht und haben geschworen, Schaden vom deutschen Volke abzuwenden. Welcher Schaden an einem Volk kann aber größer sein als dessen Vergreisung und Aussterben durch eine kinderfeindliche Politik und durch kinderfeindliche Lebensumstände? ({3}) Beenden Sie endlich diese Politik am Rande der Eidbrüchigkeit! Tun Sie etwas für Kinder und Familien, statt ideologische Dinge zu fordern! ({4}) Setzen Sie die Forderungen des Verfassungsgerichts endlich um, und planen Sie außerdem eine konzertierte Aktion gegen die demografische Katastrophe! Ehestandsdarlehen und eine tatsächlich nennenswerte Erhöhung des Kindergeldes: Das und nicht irgendwelches Herumgestochere im familienpolitischen Klein-Klein ist das Gebot der Stunde. Vielen Dank. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Das Wort zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Lehmann von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Sven Lehmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004801, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Sehr geehrter Herr Kollege, da Sie mir keine Zwischenfrage gestattet haben, möchte ich Sie an dieser Stelle in Frageform auf etwas hinweisen: Ist Ihnen bekannt, dass die Mikroanlage in diesem Haus sehr gut ausgesteuert ist? ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Reichardt, Sie können darauf antworten.

Martin Reichardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004859, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ich weiß, dass sie sehr gut ausgesteuert ist. Bei dem ständigen Dazwischengebölke von Ihnen war es einfach nötig, etwas lauter zu sprechen. Vielen Dank. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nachdem auch das geklärt ist, erteile ich der Kollegin Katja Suding von der FDP-Fraktion das Wort. ({0})

Katja Suding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004910, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Sehr geehrte Damen und Herren! Kollege Reichardt, Ihre kruden Thesen und fremdenfeindlichen Parolen, die Sie hier wirklich bei jedem Tagesordnungspunkt irgendwo anbringen, werden tatsächlich nicht besser, wenn Sie hier am frühen Morgen so herumschreien. Das macht es kein bisschen besser. ({0}) Meine Damen und Herren, gute und erfolgreiche Familienpolitik muss mit dem rasanten Wandel in der Gesellschaft Schritt halten und ihm gerecht werden. Frauen wollen heute eben nicht mehr nur Mutter sein, sondern sie wollen auch im Beruf erfolgreich sein, und Väter wollen nicht mehr auf die Rolle des Ernährers reduziert werden, sondern aktiv an der Erziehung ihrer Kinder teilhaben. Das Elterngeld mit seinen Weiterentwicklungen Elterngeld Plus und Partnerschaftsbonus kann dabei unterstützen, wie der vorliegende Bericht an einigen Stellen auch zeigt. Beide Weiterentwicklungen ermöglichen jedenfalls im Grundsatz mehr Flexibilität und eine verbesserte partnerschaftliche Vereinbarkeit von Familie und Beruf, und das ist auch gut so. Leider lässt der Bericht wichtige Fragen aber offen, und er betreibt damit ganz bewusst Schönfärberei. Wenn Sie, liebe Ministerin Barley, wirklich hätten wissen wollen, wie es um das Elterngeld Plus steht, dann hätten Sie doch nicht nur diejenigen befragt, die es beziehen, die sich also ganz bewusst für diese Leistung entschieden haben, zumal das auch gerade einmal nur 28 Prozent der Anspruchsberechtigten waren. Viel spannender ist doch, was mit den übrigen 72 Prozent ist, die zwar Elterngeld beziehen, sich aber offenbar gegen das Elterngeld Plus entschieden haben. Die kommen in Ihrem Bericht, der sich ja auf eine Befragung von knapp 1 000 Personen stützt, überhaupt nicht zu Wort. ({1}) Dabei könnte doch nur diese Gruppe die entscheidende Frage beantworten, warum sich so viele gegen das Elterngeld Plus entscheiden. ({2}) Diese Frage zu stellen und in Ihrem Bericht zu beantworten, wäre methodisch sauberer, erkenntnisreicher und auch ehrlicher gewesen. Bleibt also, uns mit den abgefragten Informationen auseinanderzusetzen. Diese offenbaren ein sehr differenziertes Bild. Die Zahlen zeigen, dass die Bundesregierung das wesentliche Ziel bei der Einführung von Elterngeld Plus und Partnerschaftsbonus, also die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, bei einer großen Gruppe der Familien schlicht verfehlt hat. Jede fünfte Frau gibt an, aufgrund des Elterngeldes Plus längere Zeit aus dem Beruf ausgestiegen zu sein. Mütter, die Elterngeld Plus mehr als 20 Monate beziehen, gehen nur sehr selten einer Erwerbstätigkeit nach; genauso wenig nutzen ihre Familien den Partnerschaftsbonus. Sie teilen also Job und Kindererziehung kaum. Gut funktionieren Elterngeld Plus und Partnerschaftsbonus vor allem für doppelverdienende Paare mit ähnlich hohem Einkommen. Da bewirken sie tatsächlich eine Flexibilisierung der Arbeitszeit. Verdienen Eltern dagegen sehr unterschiedlich, ist eine Berufstätigkeit für den Geringerverdienenden – meistens ist es ja die Frau – wenig attraktiv. Damit erreicht das Elterngeld Plus für viele Paare eben keine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf und auch keine verbesserte partnerschaftliche Aufgabenteilung, sondern genau das Gegenteil, nämlich den Ausstieg aus dem Beruf. ({3}) Liebe Kollegin Schön, deshalb können wir in die Lobeshymnen, die Sie angestimmt haben, nicht einsteigen, auch heute nicht. Meine Damen und Herren, wir lernen aus dem Bericht: Das Elterngeld Plus setzt widersprüchliche Anreize. Genau das gilt auch für die deutsche Familienpolitik insgesamt. Über die Jahrzehnte kamen zahllose familienpolitische Maßnahmen dazu. Alte Leistungen wurden aber nicht gestrichen. Aktuell sind es über 150 Leistungen, die sich in ihren Zielen zum Teil erheblich widersprechen und damit gegenseitig blockieren. ({4}) Dass die neue zukünftige GroKo jetzt viele weitere angekündigt hat, ({5}) ohne eine fundierte Evaluation der bestehenden Leistungen vorzunehmen, ist nicht automatisch ein Grund zur Freude, meine Damen und Herren. ({6}) Fast 200 Milliarden Euro – das sind nahezu zwei Drittel des Haushaltes – fließen jedes Jahr in die Familienpolitik. Trotzdem werden die Familien nicht passgenau unterstützt. Das darf auf gar keinen Fall so bleiben. ({7}) Steuerzahler und Familien haben ein Recht darauf, dass diese Mittel wirksamer investiert werden. Ziel muss es sein, die Familien so zu unterstützen, wie sie es heute brauchen, und nicht so, wie man sich das vor 50 Jahren dachte. ({8}) Das Elterngeld und seine Erweiterungen sind ein Schritt in die richtige Richtung, auch wenn wir weiteren deutlichen Verbesserungsbedarf sehen. Noch wichtiger aber ist, auch die vielen anderen familienpolitischen Leistungen und ihre Wechselwirkungen stärker in den Blick zu nehmen. Das werden wir uns zur Aufgabe machen. Vielen Dank. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Sabine Zimmermann, Fraktion Die Linke. ({0})

Sabine Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003869, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Elterngeld und Elterngeld Plus verfolgen das richtige Ziel. Es geht um die Absicherung von Eltern, die ihre Erwerbsarbeit reduzieren. Und es geht um eine partnerschaftliche Aufteilung der Sorgearbeit. Aber wir alle wissen, dass man diese Ziele mit dem Elterngeld allein nicht erreichen kann. Die Bedingungen in der Arbeitswelt werden immer härter. Die Beschäftigten sollen für den Arbeitgeber immer flexibler werden. Aber wer beruflich selbst einmal kürzertreten möchte, wird ausgebremst. Er steigt nicht mehr auf, er wird auch nicht mehr an den Lohnsprüngen beteiligt etc. Hier prallen doch grundverschiedene Interessen aufeinander. Da hat sich bisher keine Bundesregierung richtig herangetraut. Wir Linke sagen: Gute Familienpolitik heißt vor allem auch eine gute Arbeitspolitik. Und gute Arbeitspolitik heißt: Flexibilität nicht nur für die Arbeitgeber, sondern auch für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und ihre Familien. ({0}) Natürlich kann man mit dem Elterngeld etwas bewirken. Kleine Verbesserungen hat es ja auch schon gegeben, auch, weil die Linke bei diesem Thema seit Jahren Druck macht; sonst hätten Sie sich gar nicht bewegt. ({1}) Wir erkennen die positiven Entwicklungen an, die sich in Ihrem aktuellen Bericht zeigen. Wir begrüßen, dass jetzt mehr Väter nicht nur zwei Partnermonate Basiselterngeld in Anspruch nehmen. Auch das Elterngeld Plus stößt auf wachsende Akzeptanz; und das ist gut so. Trotzdem verändert das Elterngeld nicht den gesellschaftlichen Status quo: Der Vater ist zwar nicht mehr Alleinverdiener, aber weiterhin meist Haupternährer der Familie. Die Mutter ist nicht mehr allein für die Familienarbeit zuständig, aber weiterhin meist überwiegend. Was aber fehlt, sind Anreize, dieses Rollenmuster grundsätzlich aufzubrechen. Das kann ich bei ihnen nicht erkennen. ({2}) Die Linke streitet für eine Gesellschaft, in der das Geschlecht auf den Anteil an der Sorgearbeit keinen Einfluss mehr hat. Das Elterngeld könnte dazu beitragen. Dazu müsste es aber anders ausgestaltet werden. Es muss personengebunden sein. Zwölf Monate für jeden Elternteil, 24 Monate für Alleinerziehende – das wäre eine echte, konkrete Verbesserung. ({3}) Zugleich entstünde ein Anreiz zur partnerschaftlichen Aufgabenteilung. Meine Damen und Herren, das Elterngeld muss außerdem flexibler werden. Eltern müssen sich dafür entscheiden können, im ersten Lebensjahr ganz für ihr Kind da zu sein – ja, auch gemeinsam, wenn sie es wünschen. Aber sie müssen natürlich auch die Möglichkeit haben, diese Leistung später im Leben des Kindes zu beanspruchen. Unsere Forderung ist: bis zum siebten Lebensjahr. So kann man verschiedenen Lebenssituationen Rechnung tragen und Väter noch mehr ermutigen, ihren Anteil beizutragen. So geht Zukunft, meine Damen und Herren! ({4}) Ich möchte aber noch näher auf den Bericht der Bundesregierung eingehen. Es fällt auf, dass das Elterngeld Plus bei Familien mit geringem Einkommen kaum ankommt. Das müsste Ihnen eigentlich auch aufgefallen sein. Doch in Ihrem Bericht fehlt jede Aussage dazu, warum das so ist. Ich kann es Ihnen sagen: weil Ihre Familienpolitik eine reine Besserverdienerpolitik ist. Das ist keine Familienpolitik für alle, und das muss sich ändern. ({5}) Gerade die Familien, die am dringendsten auf Unterstützung angewiesen sind, gehen beim Elterngeld leer aus. Eltern, die Hartz IV oder den Kinderzuschlag beziehen – da erzähle ich Ihnen doch nichts Neues – wird das Elterngeld seit 2011 angerechnet. Davon haben sie gar nichts, nicht einen Cent. Sie kriegen den Bescheid und das Jobcenter das Geld. Das ist doch ungerecht. So kann es doch nicht bleiben. ({6}) Das ist das glatte Gegenteil von guter Familienpolitik. Die Linke fordert, die Anrechnung von Elterngeld auf Transferleistungen endlich wieder abzuschaffen. ({7}) Ihr Bericht hat noch einen weiteren blinden Fleck: Das sind die Alleinerziehenden. Zwei Drittel der Einelternfamilien sind von Armut bedroht. Aber die Alleinerziehenden haben Sie für Ihren Bericht kaum befragt. Deswegen können Sie gar nicht wissen, ob das Elterngeld Plus bei Alleinerziehenden ankommt. Wir reden mit den Alleinerziehenden und wissen, wo der Schuh drückt. Fragen Sie einmal die Alleinerziehendenverbände. Die können Ihnen das ganz genau sagen. Alleinerziehende brauchen Flexibilität beim Elterngeld Plus. ({8}) Der Korridor von 25 bis 30 Wochenstunden für die vier zusätzlichen Monate ist einfach zu eng. Das können Ihnen auch die Alleinerziehendenverbände bestätigen. Und weil Alleinerziehende häufig arm sind, wird vielen das Elterngeld auf die Transferleistungen angerechnet. Hier schließt sich für diese Gruppe der Teufelskreis wieder. ({9}) – Trotzdem können Sie das nicht anrechnen. Deswegen haben die Kinder gar nichts davon. Aber gerade diese Kinder brauchen die Leistungen ganz dringend, und – wenn Sie schon mit mir darüber diskutieren – diese Leistungen enthalten Sie ihnen vor. Das ist Ihre Familienpolitik. ({10}) Die Linke will ein Elterngeld, das bei allen Familien ankommt. Für uns ist das eine Frage von Würde und Wertschätzung, weil für uns jede Familie zählt. Danke schön. ({11})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat die Kollegin Katja Dörner, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort. ({0})

Katja Dörner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004030, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich freue mich, dass der Bericht zum Elterngeld Plus nach der Regierungsbefragung noch ein zweites Mal auf der Tagesordnung steht und wir im Plenum die Gelegenheit haben, über die Handlungsbedarfe und die Hausaufgaben zu sprechen, die die Politik noch zu machen hat. Wir haben acht Minuten Gebrüll und Gemotze von der AfD gehört, aber keinen einzigen Vorschlag, der nach vorne weist. ({0}) Aber damit sollten wir uns gar nicht aufhalten; denn die Politik hat noch Hausaufgaben zu machen. Familien brauchen tatsächlich mehr Zeit füreinander. Eltern wollen Erwerbs- und Familienarbeit partnerschaftlich untereinander aufteilen. Wie schaffen wir das? Dazu habe ich, ehrlich gesagt, von der Ministerin und der Unionskollegin nichts gehört, das nach vorne weist. Lobhudelei dessen, was erreicht wurde, ist ein bisschen mickrig; das reicht nicht. ({1}) Wir müssen nach vorne schauen. ({2}) Elterngeld und Elterngeld Plus sind ein Erfolg; das sehen wir Grüne genauso. Das zeigt der Bericht eindeutig. ({3}) Die Inanspruchnahme des Elterngeld Plus hat sich in kurzer Zeit, zwischen 2015 und 2017, verdoppelt. Der Anteil der Väter, die Elterngeld Plus in Anspruch nehmen, zeigt eine positive Tendenz. Lag er 2015 noch bei 4,6 Prozent, sind es jetzt schon 13,8 Prozent. Aber auch da ist – liebe Kolleginnen und Kollegen, darin werden Sie mir sicherlich zustimmen – noch deutlich Luft nach oben. ({4}) Trotz der guten Entwicklungen gibt es keinen Grund, sich auszuruhen. Uns wurde in den letzten Jahren eine Studie nach der anderen vorgelegt, unter anderem vom DIW und vom WZB. Im letzten Jahr wurde der Zweite Gleichstellungsbericht veröffentlicht. Überall ist dasselbe zu lesen: Eltern wünschen sich mehr Zeit für Familie und Kinder. Sie wollen sich Erwerbs- und Familienarbeit partnerschaftlich teilen. Des Weiteren ist immer wieder zu lesen, dass Mütter gerne mehr arbeiten würden, während viele Väter weniger arbeiten und ihre Arbeitszeit reduzieren möchten, um mehr Zeit mit der Familie verbringen zu können. Sie können es aber in ihrem Alltag nicht umsetzen. Das meine ich, wenn ich sage, dass die Politik noch Hausaufgaben zu machen hat. Es ist unsere Aufgabe, es Familien zu erleichtern, so zu leben, wie sie es sich wünschen. ({5}) Leider lässt sich dazu im Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD, also der Großen Koalition, die man eigentlich als solche gar nicht mehr bezeichnen kann, nichts finden. Es gibt gerade einmal einen dünnen Halbsatz, in dem es heißt, dass mehr Zeit für Familien ermöglicht werden soll. Aber alles andere bleibt komplett vage. Ich muss daher konstatieren: Die schwarz-rote Koalition hat offensichtlich nicht vor, ihre Hausaufgaben an dieser Stelle zu machen. Das ist keine gute Perspektive für die nächsten Jahre. Dabei gibt es gute, diskussionswürdige Vorschläge. An diesem mitgebrachten Schaubild können Sie die Konzeption der SPD für die sogenannte Familienarbeitszeit erkennen. Um präzise zu sein: Dieses Schaubild stammt aus dem BMFSFJ. Das hat Ministerin Schwesig – viele von Ihnen werden sie noch kennen – am 16. Juni 2016 präsentiert. Frau Schwesig hatte sogar für 2017 einen konkreten Gesetzentwurf dazu angekündigt. Aber dieser Gesetzentwurf hat nie das Licht der Welt erblickt. Ich bin zwar nicht der Meinung, dass die Familienarbeitszeit das optimale Modell ist. Aber dass sich mit Blick auf Familienarbeitszeit und mehr Zeit für Familien im Koalitionsvertrag überhaupt nichts finden lässt, ({6}) dass dieses Thema komplett ausgeblendet wird, ist eine schlechte Nachricht für die Familien in unserem Land. ({7}) Ich bin immer dafür, Ross und Reiter zu nennen. An dieser Stelle muss man sicherlich konstatieren, dass nicht die SPD daran schuld ist, dass darüber nichts im Koalitionsvertrag steht. ({8}) Es ist ganz klar, dass die Union dieses Thema blockiert. Mir ist unbegreiflich, dass sich eine Partei, die sich so lobt und so viel darauf einbildet, Familienpartei zu sein, so vehement dagegen wehrt, über Maßnahmen nachzudenken, die dazu führen sollen, dass Familien wieder mehr Zeit füreinander haben, dass junge Eltern weniger gehetzt durch das Leben gehen können. ({9}) Wir werben weiterhin für unsere Kinderzeit Plus. Wir wollen das Elterngeld und das Elterngeld Plus weiterentwickeln. Es soll auf 24 Monate ausgeweitet werden, damit Eltern es länger in Anspruch nehmen können. Wir wollen es zudem flexibler gestalten, damit es besser in das Leben der Familien passt. Den Anspruch auf reduzierte Arbeitszeiten verbunden mit einer finanziellen Absicherung soll man haben können, bis die Kinder 14 Jahre alt sind. Kinder brauchen nicht nur in den ersten Lebensjahren mehr Zeit mit ihren Eltern, sondern sie brauchen sie auch, wenn sie älter sind, sei es, weil ein Schulwechsel ansteht, oder sei es, weil das Leben einfach einmal nicht so geradlinig verläuft, wie man sich das vorgestellt hat. ({10}) Es ist uns ganz besonders wichtig, Eltern darin zu unterstützen, Erwerbs- und Familienarbeit untereinander partnerschaftlich aufzuteilen. Deshalb wollen wir die Anzahl der Partnermonate unbedingt ausweiten. Es soll besonders gefördert werden, wenn beide Elternteile in vollzeitnaher Teilzeit tätig sind. Liebe Kolleginnen und Kollegen, so sieht unserer Meinung nach moderne Familienpolitik aus. Es ist bitter, dass nicht nur die alte GroKo Modelle dieser Art ausgeblendet hat, sondern dass auch die neue kleine GroKo da nicht anders agiert, sondern genauso weitermacht. Es reicht eben nicht, sich für Erreichtes zu loben. Wir müssen auch nach vorne blicken. Wir werden das hier in den nächsten Monaten und Jahren forcieren. Wir hoffen, dass wir im Hinblick auf mehr Zeit für Familien mehr erreichen können. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({11})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Torbjörn Kartes zu seiner ersten Rede im Deutschen Bundestag. ({0})

Torbjörn Kartes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004774, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich sehr, dass ich gerade meine erste Rede im Deutschen Bundestag zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf halten darf. Das ist das zentrale Thema für junge Familien. Das spüren wir, die wir eine Familie haben, im Übrigen in regelmäßigen Abständen selbst. Ich weiß, dass es ganz vielen Familien in unserem Land ähnlich geht. ({0}) So gehört es zur Realität, dass gerade die Betreuung von Kleinkindern ohne die Großeltern oft nur sehr schwer zu organisieren ist. Ich glaube, es ist unsere gesamtgesellschaftliche Aufgabe, weiter an der Verbesserung der Rahmenbedingungen zu arbeiten, damit in Deutschland mehr Kinder auf die Welt kommen und damit unser Land insgesamt noch kinderfreundlicher wird. ({1}) Um es gleich zu sagen: Ich bin der Meinung, dass der Staat nicht alle Herausforderungen von jungen Familien bewältigen muss. Die Erziehung von Kindern ist und bleibt zuvörderst Aufgabe ihrer Eltern. ({2}) Wir wollen als Union auch nicht in die freie Entscheidung der Familien eingreifen; wir schreiben keinen Weg vor. Auch Familienarbeit ist Arbeit und verdient unsere Unterstützung und Anerkennung. ({3}) Für diejenigen, die Erwerbstätigkeit und Familienarbeit besser verbinden möchten, wollen wir etwas tun. Um es heute noch einmal ganz deutlich zu betonen – ich glaube, das ist notwendig –: Elterngeld Plus und auch die Partnerschaftsmonate tragen die Handschrift der Union. Sie tragen ganz erheblich dazu bei, dass Beruf und Familie besser zu vereinbaren sind, gerade wenn die Kinder klein sind. ({4}) Das sollten wir heute auch nicht kleinreden. Wir sollten um kurz nach 9 Uhr hier auch noch nicht herumschreien und völlig am Thema vorbeisprechen. Den Geist, von dem Sie, liebe Kollegen von der AfD, heute gesprochen haben, den haben wir heute Morgen erlebt. Wir haben auch gestern wieder gesehen, welcher Geist hier eingezogen ist. ({5}) Wir erwarten von Ihnen, dass Sie endlich einmal konkrete Vorschläge machen, wie Sie die Situation von Familien in Deutschland verbessern wollen. ({6}) Ich kann es Ihnen noch einmal sagen: Das Elterngeld Plus ist eine Erfolgsgeschichte. Ich finde, wir sollten darauf stolz sein. Diese Regelung ermöglicht Eltern, die Kindeserziehung länger gemeinschaftlich aufzuteilen und zugleich den Anschluss im Beruf nicht zu verlieren. Das ist ein gutes Angebot für Familien, und es verwundert nicht – wir haben es ja heute gehört –, dass es immer besser angenommen wird, insbesondere auch von den Vätern. Der vorliegende Bericht zeigt auch: Das Elterngeld Plus ermöglicht insbesondere Frauen einen früheren Wiedereinstieg in den Beruf. In unserer sich immer schneller verändernden, digitaler werdenden Arbeitswelt wird das auch immer wichtiger. Denken Sie einmal an eine Mutter, die im weitesten Sinne im IT-Bereich tätig ist und für die es nach über acht Jahren Familienauszeit gilt, sich wieder in ihren Job zu integrieren. Das ist durchaus anspruchsvoll. Im Übrigen ist dieser Fall nicht konstruiert, sondern ein Beispiel aus meinem eigenen Berufsleben als Personalleiter eines mittelständischen Energieversorgers. Das zeigt, wie wichtig es ist, früher den Wiedereinstieg in den Arbeitsplatz zu finden, wenn man das möchte. Das ist wichtig für Eltern und im Übrigen auch für Arbeitgeber. ({7}) Früher in Teilzeit zurückzukommen, das macht gerade das Elterngeld Plus möglich. Zugleich stellt es aber auch eine große Herausforderung für Unternehmen dar; ich finde, das muss man heute Morgen auch einmal sagen. Es ist durchaus eine Herausforderung, wenn monatsweise, teilweise auch für länger, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Elternzeit gehen und für diesen Zeitraum ersetzt werden müssen, weil sie eben nicht ersatzlos wegfallen können. Wenn in einer Schicht einer fehlt, muss für Ersatz gesorgt werden. Deswegen ist das für Unternehmen eine Chance, aber immer auch eine Herausforderung. Beruf und Familie zu vereinbaren, ist also schon vielfach Thema in der alltäglichen Arbeit unserer Unternehmen. Die Zeiten, in denen Vorstellungsgespräche vor allem Gehaltsverhandlungen waren, in denen es also vor allem um die Höhe des Einkommens ging, sind lange vorbei. Stattdessen geht es um Fragen wie: Wie kann ich meine neue Arbeitsstelle mit meinem Familienleben kompatibel machen? Kann ich an einem Tag oder an zwei Tagen pro Woche auch von zu Hause arbeiten? Kann ich meine Arbeitszeit flexibel gestalten, also am Nachmittag nach Hause gehen, mit den Kindern spielen und dann, wenn die im Bett liegen, wieder weiterarbeiten? Das sind die Themen dieser Zeit, mit denen wir uns, denke ich, beschäftigen sollten. ({8}) Das Elterngeld Plus und der Partnerschaftsbonus können eine Antwort auf diese Frage geben – eine von vielen Antworten, wohlgemerkt; aber sie sind ein wichtiger Beitrag dazu, dass wir als Land kinderfreundlicher werden. ({9}) Natürlich gibt es beim Elterngeld Plus auch Dinge, die wir verbessern können. „Die Rheinpfalz“ – das ist die Lokalzeitung meiner Heimatstadt Ludwigshafen – hat im Vorfeld über diese Rede berichtet. Wir haben sehr viele Rückmeldungen zum Thema Elterngeld Plus bekommen. Das zeigt, wie sehr es die Menschen auch im Wahlkreis bewegt. Es ist sehr viel Lob dabei, aber es gibt durchaus auch Dinge, die wir noch besser machen können. Es ist eine komplexe Regelung geworden. Es ist eine Regelung, die durchaus auch bürokratisch ist, und Familien fühlen sich dabei nicht immer optimal beraten. Deswegen glaube ich schon, dass wir noch einiges zu tun haben. Wir brauchen eine Auskunftsstelle für alle Familienangelegenheiten, an die sich Familien wenden können. Das ist und bleibt unser Ziel. Darüber hinaus gibt es noch vieles Weitere zu tun, glaube ich, damit unsere Gesellschaft und unsere Arbeitswelt noch kinder- und familienfreundlicher werden. Unsere bisherigen Anstrengungen – das kann ich für die Union sagen – werden wir in den kommenden vier Jahren fortsetzen. Ich werde dazu gern auch meinen Beitrag leisten. Vielen Dank. ({10})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort die Kollegin Katja Mast, SPD-Fraktion. ({0})

Katja Mast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will gern auch auf meine Vorrednerinnen und Vorredner eingehen. Viele Eltern in Deutschland bringen ihren Kindern bei: Wer schreit, hat unrecht. ({0}) Ich will an Anita Lasker Wallfisch erinnern, die uns zum Holocaustgedenktag eine wichtige Botschaft, wie ich finde, mit auf den Weg gegeben hat. Sie erinnern sich vielleicht, dass sie zuerst von ihrem Hass auf Deutschland gesprochen hat und davon, dass sie eidbrüchig geworden ist. Sie hat gesagt: Hass ist ganz einfach ein Gift, und letzten Endes vergiftet man sich selbst. Ich finde, das passt ganz gut zu dem, was wir heute Morgen in der Debatte schon erlebt haben. ({1}) Ich will zu meiner Kollegin Suding von der FDP noch einmal in aller Ruhe – jetzt nicht als Zwischenruf – sagen: Ich finde es legitim, dass Sie nicht alles für in Ordnung halten, was bei den Familienleistungen in Deutschland passiert – auch ich will mehr –; Sie haben uns aber leider darüber im Unklaren gelassen, was Sie abschaffen wollen. Sie haben nicht nur uns im Unklaren gelassen, sondern auch die Bürgerinnen und Bürger da draußen. ({2}) Ich will etwas zu dem Bericht sagen, den wir heute diskutieren. Wichtig für uns von der SPD-Bundestagsfraktion, für die ich hier spreche, ist, dass Familien, Familienbilder und Familienwünsche sich ändern und dass Familien, junge Familien, mehrheitlich an uns den Wunsch herantragen, Sorgearbeit für die Kinder und Erwerbsarbeit partnerschaftlich zu leben und zu teilen. Ich glaube, dass sich Politik diesem Wunsch nicht verschließen darf. Wir müssen vielmehr Instrumente schaffen, um diesen Wunsch für junge Familien zur Realität werden zu lassen. Genau deshalb diskutieren wir heute das Elterngeld, das Elterngeld Plus und den Partnerschaftsbonus. ({3}) Man muss sich heute in junge Familien hineindenken. Die jungen Eltern wollen sich alles partnerschaftlich aufteilen. Ich will nicht verhehlen, dass ich weiß, dass es dabei natürlich auch Zeitkonflikte gibt – ganz klassische Zeitkonflikte. Jeder muss einmal darüber nachdenken, wie man die Schulferienzeiten partnerschaftlich überbrückt oder wie man es löst, wenn die Großeltern oder Babysitter doch keine Zeit haben oder die Kinder ganz einfach einmal krank sind, was sie, wenn sie klein sind, relativ häufig sind. Es geht daher darum, an dieser Stelle Erleichterung zu schaffen, wo Druck auf den Familien lastet, und die Familien ernst zu nehmen. Aus meiner Sicht ist die größte Mammutaufgabe, Kinder tatsächlich gut zu erziehen und ihnen Halt, Geborgenheit und Orientierung im Leben zu geben. Dazu will ich aber sagen – „Mammutaufgabe“, hört sich so schwer an, genau wie: „lastet auf unseren Schultern“ –: Es ist gleichzeitig die schönste Mammutaufgabe, die ich mir persönlich vorstellen kann. ({4}) Im Bericht zum Elterngeld Plus und zu den Partnerschaftsbonusmonaten wird deutlich, dass 70 Prozent der Eltern, die den Partnerschaftsbonus in Anspruch nehmen, diesen positiv bewerten. Der Partnerschaftsbonus umfasst vier Elterngeldmonate. Ich möchte das allen, die nicht jeden Tag Elterngeld-Politik machen, einmal erklären: Normalerweise bekommt man das Elterngeld für 12 plus zwei weitere Monate. Beim Elterngeld Plus kann man, wenn man zusätzlich den Partnerschaftsbonus in Anspruch nimmt, die Leistung 28 Monate beziehen und parallel in Teilzeit arbeiten. Während der vier Partnerschaftsbonusmonate arbeiten beide Elternteile. Es ist ein gutes Instrument, um Partnerschaftlichkeit zu leben. Die Menschen wollen nämlich partnerschaftlich leben. 70 Prozent sagen, dass sie das gut finden. Sie wollen eben erwerbstätig sein und sich um die Kinder kümmern. Dieses Instrument kommt genau dort an, wo es ankommen soll, und ist deshalb auch ein gutes Instrument. Natürlich beinhaltet unser Koalitionsvertrag, den CDU, CSU und SPD vereinbart haben, viele, viele Errungenschaften für junge Familien. Ich beginne mit dem Kindergeld sowie der Abschaffung des Solis, der die Eltern genauso betrifft wie die Instrumente, die wir in der Infrastruktur schaffen. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben dafür gekämpft, dass es ein Recht auf Ganztagsbetreuung im Grundschulalter gibt. In meinem Wahlkreis beklagen sich junge Eltern bei mir, weil ihre Kinder in der Ganztagskita betreut wurden, es diese Ganztagsbetreuung in der Grundschule aber nicht mehr gibt. Sie können also plötzlich nicht mehr arbeiten, was während der Kitazeit noch möglich war. Deshalb steht das in diesem Koalitionsvertrag und ist mit 3,5 Milliarden Euro finanziert. ({5}) In diesem Koalitionsvertrag steht, dass wir ein Kitaqualitätsgesetz verabschieden wollen, um Qualität zu schaffen und um den Einstieg in den Abbau von Gebühren und schließlich die Gebührenfreiheit hinzubekommen. Keine andere Partei als die SPD kämpft für die Kitagebührenfreiheit. Deshalb steht das in diesem Koalitionsvertrag. ({6}) In diesem Koalitionsvertrag steht ganz viel, was wir für die Alleinerziehenden und gegen die Kinderarmut tun wollen. Wir wollen ein Riesenpaket zur Bekämpfung von Kinderarmut schnüren, das mit 1 Milliarde Euro solide durchfinanziert ist. Wir helfen auch den Kindern, die unter das SGB II fallen, deren Eltern also Arbeitslosengeld II bekommen. Wir sorgen dafür, dass sie künftig Nachhilfe bekommen, wir sorgen dafür, dass sie kein Geld mehr für das Mittagessen in die Hand nehmen müssen, und wir sorgen dafür, dass sie kein Geld mehr für die Schulfahrkarte zahlen müssen. Nun denken Sie alle vielleicht: Das sind aber kleine Dinge, die die Frau Mast da sagt. Ich sage Ihnen aber: Wir sind hier Abgeordnete, um das Leben der Familien mit Kindern ganz konkret zu verbessern. ({7}) Das sind sehr konkrete Dinge, die bei den Familien und den Kindern in Deutschland ankommen. Ich bin wirklich stolz, dass wir es hingekriegt haben, im Rahmen dieses Koalitionsvertrags Kinderrechte als Grundrechte als Ziel unserer Politik zu vereinbaren. Denn das stärkt Familien und Kinder. ({8}) Wir haben gemeinsam viel erreicht, und das finde ich gut. Ich finde auch gut, dass die IG Metall und die Metall-Arbeitgeber die Frage nach Zeit und Flexibilität in ihrem Tarifabschluss zum Thema gemacht haben. Wir befinden uns hier schließlich nicht im luftleeren Raum. Auch andere gesellschaftliche Akteure greifen das auf. Ich will zum Schluss kommend sagen: Wir haben damals an der Seite von Renate Schmidt gesellschaftliche Mehrheiten für das Elterngeld erkämpft, und wir kämpfen immer noch dafür – da sind wir mit CDU/CSU nicht zusammengekommen –, dass es künftig eine Familienarbeitszeit gibt, dass die Eltern einen Zuschuss vom Staat bekommen, wenn beide arbeiten und ihre Arbeitszeit reduzieren. Da sind wir aus ganz unterschiedlichen Gründen noch nicht zusammengekommen. Aber wir von der SPD werden weiter daran arbeiten, Partnerschaftlichkeit, Zeit für Familie und gutes Aufwachsen unserer Kinder in dieser Gesellschaft zu gewährleisten. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Grigorios Aggelidis zu seiner ersten Rede im Deutschen Bundestag. ({0})

Grigorios Aggelidis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004652, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Mast, grundsätzlich: Bevor man Vorschläge machen kann, um etwas zu verbessern, muss eine detaillierte Analyse und Überprüfung stattfinden. Erst dann kommen die Vorschläge. ({0}) Nun aber zum Thema. Das Ziel einer verbesserten Vereinbarkeit von Familie und Beruf unterstütze ich ausdrücklich. Grundsätzlich setzen das Elterngeld Plus und der Partnerschaftsbonus hier gute Akzente. Allerdings leidet es – wie der Bericht des Ministeriums deutlich darstellt – an einigen leider sehr ernsthaften Kinderkrankheiten. Folgende Punkte seien hier exemplarisch genannt: Laut Allensbach sind für Familien und Eltern flexible Arbeitszeiten besonders wichtig. Da verwundert es doch sehr, dass der Partnerschaftsbonus einen starren Arbeitszeitkorridor von 25 bis 30 Stunden für beide Elternteile vorgibt. Individuelle Teilzeitvarianten jenseits dieser Bestimmung sind nicht einmal vorgesehen. Diese Regelung ist dadurch nicht nur lebensfremd, sondern sie ist auch so familienfeindlich gestaltet, dass bei geringster Abweichung – ja sogar selbst bei Krankheit auch nur eines Elternteils in nur einem der Partnermonate – der Bonus komplett zurückgezahlt werden muss. Wie absurd ist das denn? ({1}) Da wird jemand in der Familie krank, und dann sagt der Staat als Belohnung auch noch – Ironie; für alle diejenigen, die es nicht gleich realisiert haben –: Wir wollen das Geld und die Unterstützung zurück. Meine sehr geehrten Damen und Herren, diese und andere familienfeindlichen Regeln müssen schnellstens modifiziert werden, damit Familien nicht aufgrund fehlender Planungssicherheit überhaupt keinen Antrag stellen. Aus meiner Sicht ist diese Arbeitszeitregelung ebenso wie die Arbeitszeitregelung generell trotz vermeintlicher Gleichbehandlung gerade für Alleinerziehende meilenweit von der Realität entfernt. Der Arbeitszeitkorridor von 25 bis 30 Stunden ist völlig von der Realität der Alleinerziehenden entfernt, die meistens eben nicht mindestens 25 Stunden arbeiten können. ({2}) Zudem müssen die Möglichkeiten von digitaler Arbeit, wie Homeoffice und andere selbstbestimmte Teilzeitmodelle, berücksichtigt werden und Eltern und Betriebe in die Lage versetzt werden, diese auszugestalten und wahrzunehmen. Dies verbessert endlich die Vereinbarkeit von Familie und Beruf als wichtiges Ziel – und zwar signifikant. ({3}) Übrigens: Nur jede vierte Mutter und jeder fünfte Vater, die das Elterngeld Plus beziehen, halten die Antragstellung für leicht. Wenn aufgrund einer schwierigen Antragstellung Anträge nicht gestellt werden, führt das zu Förderlücken für Familien, die insbesondere bei niedrigem Einkommen schmerzhaft sind. Hinsichtlich der Nichtbeziehenden wird überhaupt keine Aussage getroffen; darauf hat Katja Suding zu Recht hingewiesen. Das ist ein ganz großer weißer Fleck des Berichts. Da müssen wir nachhaken, meine Damen und Herren. ({4}) Außerdem müssen die Elterngeldvarianten endlich bundesweit digital beantragt werden können, damit grundsätzlich der Wust an Formularen, die Eltern in der Zeit nach der Geburt ausfüllen müssen, reduziert wird. Dadurch wird übrigens auch ein möglicher Wechsel der Elterngeldvarianten, der ja ausdrücklich vorgesehen ist, deutlich vereinfacht. Eine digitale Bearbeitung erspart den Familien Aufwand und schenkt ihnen kostbare Zeit füreinander. ({5}) Schon diese konkreten Verbesserungen – darum sollte es, finde ich, in unserer Arbeit hier im Hause gehen: nämlich Themen und Probleme zu erfassen und konkrete Verbesserungen vorzuschlagen – stärken insgesamt die Selbstbestimmung der Familien, indem sie sich an ihren Lebensrealitäten und Bedürfnissen orientieren. Deshalb hat Katja Suding bereits zu Recht festgestellt, dass eine kontinuierliche und ideologiefreie Überprüfung aller familienpolitischen Leistungen die Basis für eine immer bessere Familienpolitik ist. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege.

Grigorios Aggelidis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004652, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Letzter Satz. – Nur so verbessern wir die Situation und Perspektive von Eltern und Kindern nachhaltig und stärken die Familie als Keimzelle und Fundament unserer Gesellschaft. Vielen Dank. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner in dieser Debatte ist der Kollege Michael Kießling, CDU/CSU. ({0})

Michael Kießling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004779, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vater, Mutter, Kinder: Die Mutter schmeißt den Haushalt, erzieht die Kinder, der Vater geht zur Arbeit, bringt das Geld heim. Das ist das typische Rollenverständnis des 19. Jahrhunderts. Meine Herren, meine Damen, da hat sich viel geändert. Herr Reichardt, wenn Sie die Statistik lesen, werden Sie feststellen, dass die Geburtenrate in den letzten Jahren gestiegen ist. ({0}) Natürlich hat sich viel geändert, aber das liegt bestimmt nicht an Ihrem Schreien. Im Jahr 1950 wurden zum Beispiel 750 000 Ehen geschlossen. 2016 waren es 400 000 Ehen, obwohl die Bevölkerungszahl gestiegen ist. Wir sehen, dass die Familienformen sich maßgeblich verändert haben, dass es immer mehr Alleinerziehende gibt, dass die Erwerbstätigkeit der Frauen steigt, dass Kinder häufiger in die Kita bzw. in den Kindergarten gehen. Aus der Alleinverdienerfamilie der 60er-Jahre ist immer häufiger eine Familie mit zwei Einkommen geworden. Die heutige Realität der Erwerbsmodelle hat sich geändert. Wenn wir uns diese anschauen – der Bericht zeigt das auch –, dann stellen wir fest: 40 Prozent der Eltern entscheiden sich für ein Modell, bei dem ein Elternteil in Vollzeit und der andere in Teilzeit arbeitet; ein Viertel entscheidet sich für ein Modell, bei dem beide Eltern in Vollzeit arbeiten, und für das Alleinverdienermodell entscheidet sich ebenfalls ein Viertel der Eltern. In der Diskussion wird Letzteres oft belächelt und als rückständig bezeichnet. Ich möchte ausdrücklich darauf hinweisen, dass alle Erwerbsmodelle ihre Daseinsberechtigung haben. ({1}) Erwähnen möchte ich – auch das gehört dazu –, dass in knapp 10 Prozent der Familien beide Elternteile in Teilzeit arbeiten. All diese vielfältigen Erwerbsformen hat der Staat nicht von sich aus initiiert. Sie entstanden zum einen durch ökonomische Realitäten, zum anderen aber auch durch den individuellen Wunsch der Frauen und Männer nach Erwerbstätigkeit und nach mehr Familie. Mütter und Väter wollen heute beides: Sie wollen Familie und Beruf und Kind und Karriere. Sie wollen für ihre Familie da sein und im Beruf weiterkommen. Jeder, der Kinder hat, weiß: Mit der Geburt eines Kindes macht man sich in der Familie Gedanken: Wer geht zur Arbeit? Wer erzieht die Kinder? Wer darf zu Hause bleiben? Ich denke, da haben wir mit dem Familiengeld Plus eine gute Lösung geliefert, die die Familien unterstützt. Meine Damen und Herren, eines ist auch noch wichtig bei der Frage, wer zu Hause bleibt und wer die Kinder erzieht: Das ist eine höchst private und individuelle Entscheidung der Eltern, bei der es wichtig ist, dass sich Staat und Politik raushalten. Ideologien haben dort nichts zu suchen. ({2}) Staat und Politik können aber eines: Sie können die Rahmenbedingungen setzen, damit die Familien, die Eltern die freie Wahl haben bei der Frage: Wer geht zur Arbeit, wer bleibt zu Hause, oder teilen wir uns das? Das sind gute Voraussetzungen. Nicht umsonst sind fast vier von fünf Empfängerinnen und Empfängern „Fans“ dieser Leistungen. Mit der Reform vor drei Jahren haben wir es geschafft, Lebensentwürfe, Lebenswirklichkeit und die Gesetzeslage in Einklang zu bringen. Die eben aufgezeigte Vielfalt der heutigen Erwerbsmodelle und die positive Rückmeldung der Umfrage zeigen, dass die Menschen mittlerweile eine echte Wahlfreiheit haben und nicht auf das traditionelle Rollenverständnis des 19. Jahrhunderts zurückgreifen müssen. Das Elterngeld Plus und der Partnerschaftsbonus wirken. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wurde deutlich erhöht, auch das bestätigt der Bericht. Natürlich gibt es immer wieder Raum zur Verbesserung. Deshalb ruhen wir uns nicht auf diesem Erfolg aus. Wir werden das Kindergeld pro Kind um 25 Euro pro Monat erhöhen. Wir werden den Kinderzuschlag erhöhen, um einkommensschwache Familien zu entlasten. Wir werden Länder und Kommunen mit mehreren Milliarden Euro weiter beim Ausbau des Angebotes und bei der Steigerung der Qualität der Kinderbetreuung unterstützen. Und wir werden einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung im Grundschulalter einführen. Meine Damen, meine Herren, ja, es gilt, Deutschland familienfreundlicher und kinderfreundlicher zu machen. Wir haben uns viel vorgenommen – zusammen mit der SPD. Jetzt müssen uns die SPD-Mitglieder nur noch lassen. ({3}) – Da bin ich positiv gestimmt. ({4}) Ich bin mir sicher, dass wir mit diesen Maßnahmen die Wahlfreiheit für Eltern noch verbessern und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf weiter stärken können. Ich freue mich darauf und freue mich auf die Zusammenarbeit. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Danke sehr. – Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf der Drucksache 19/400 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Auch der Kollege Kießling hat gerade seine erste Rede gehalten. Dazu beglückwünsche ich Sie besonders. ({0}) Es wurde mir vorher nicht mitgeteilt, sonst hätte ich Sie gleich ganz anders behandelt. ({1})

Hansjörg Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004831, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Hohes Präsidium! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Im Grunde ist Verbraucherschutz etwas Gutes. Der grundlegende Zweck des Verbraucherschutzes besteht darin, Ungleichgewichte zwischen Lieferanten, das heißt Unternehmen, und Kunden, das heißt Verbrauchern, zu beseitigen, da Letztere manchmal im Nachteil sind. Die EU-Verbraucherrechterichtlinie und ihre nationale Umsetzung haben dieses Ungleichgewicht aber nur umgedreht und verschlimmbessert, anstatt es zu korrigieren. Jetzt sind die Unternehmen im Nachteil. Das betrifft vor allem inhabergeführte Unternehmen des kleinen Mittelstandes. Gleichzeitig werden auch die Verbraucher verwirrt. Der Grund ist eine absurde Überregulierung jenseits des reellen Lebens. Durch die Ausweitung der Informationspflichten der Unternehmer und der Widerrufsrechte der Verbraucher sollen Letztere geschützt werden – zu Recht –, wenn sie bei Haustürgeschäften über den Tisch gezogen werden, wenn also Drückerkolonnen ungefragt auftauchen und Verbrauchern an der Haustüre Unnützes aufschwatzen. Doch der Amtsschimmel hat überzogen. Er hat die seit 2014 geltenden Regeln, die für dubiose Haustürgeschäfte sinnvoll sind, auf alle Geschäfte ausgedehnt, bei denen Leistungserbringung und Auftragserweiterung außerhalb der Geschäftsräume des Unternehmens erfolgen, nämlich beim Kunden. Hunderttausende ehrlicher Handwerker, Freiberufler, IT-Betreuer usw., die ihre Leistungen nicht im Büro, sondern beim Kunden erbringen – und das auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin –, werden mit Drückerkolonnen gleichgesetzt und in Rechtsunsicherheit und Existenznöte getrieben. ({0}) Ein einfaches Beispiel: Der Kunde wünscht zusätzlich zur bisher vereinbarten Leistung spontan die Installation einer weiteren Steckdose in seiner Wohnung. Die früheren Regelungen erlaubten dem Elektriker, diese Auftragserweiterung vor Ort unbürokratisch zu erledigen: Art und Umfang der zusätzlichen Leistung auf den Angebotszettel schreiben, Preis, Datum, Kundenunterschrift, fertig, aus die Maus. Nicht aber so die seit 2014 gültigen Regeln: Entweder muss jetzt der Handwerker die Installation beim Kunden zu Hause abbrechen und mit dem Kunden in seine Geschäftsräume fahren – was abwegig ist –, oder der Elektriker macht vor Ort zusätzliche Angaben, die er dem Kunden schriftlich aushändigen muss. Das sind: Eigenschaft der Ware oder Dienstleistung inklusive Art der Preisberechnung, Zahlungs-, Lieferungs-, Leistungsbedingungen inklusive Lieferfristen, Mängelhaftungsrecht, Garantieansprüche sowie Widerrufsbelehrungen und Belehrungen zum Verlust des Widerrufsrechts bei Leistungserfüllung innerhalb der 14-tägigen Widerrufsfrist usw. usf. Der Kunde ist doch an einer sofortigen Leistungserfüllung bei sich zu Hause interessiert, aber die Belehrungslitanei wird zum Hauptarbeitsinhalt des Elektrikers – anstatt die geforderte Steckdose zu verlegen. ({1}) Vergisst der Handwerker nur einen Punkt des Belehrungsreigens, verlängert sich die Widerrufsfrist von 14 Tagen auf maximal ein Jahr und 14 Tage. Der Vertrag kann während dieser Frist vom Verbraucher ohne Grund angefochten und das Geld zurückgefordert werden – ein Sachmangel muss nicht vorliegen –, wobei ja nicht mehr zurückgefordert werden kann, was schon verbaut worden ist. Das führt dazu, dass viele Betriebe schon um vier- bis fünfstellige Euro-Beträge geprellt wurden; der Bau ganzer Treppenhäuser oder Dächer wurden wegen fehlender Belehrung nicht bezahlt. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP und auch der Mittelstands-Union, ich beschreibe hier eine gemeinsame Position von uns allen. Jetzt könnten Sie auch mal klatschen, obwohl es von der AfD kommt. ({3}) Wenn Sie nicht klatschen, dann heißt das: Sie haben das Mittelstandsthema uns, der AfD, schon lange kampflos überlassen. Dafür möchte ich mich bei Ihnen bedanken. ({4}) Das Ganze, um das es sich hier dreht, ist kein Verbraucherschutz mehr, sondern Unternehmensgängelei – bei gleichzeitiger Verwirrung vieler Verbraucher durch bürokratische Lehrstunden. Daher beantragt die AfD Folgendes: Erstens. Die Bundesregierung soll bei der nationalen Umsetzung der EU-Richtlinie überprüfen, ob Spielräume für eine minder bürokratische Umsetzung vorhanden sind, und diese legislativ nutzen. Zweitens. Falls dies nicht oder nur unzureichend möglich ist, soll die Bundesregierung über den EU-Rat die EU-Kommission auffordern, die EU-Richtlinie bürokratisch zu entrümpeln. Werte Kollegen und Kolleginnen aller Fraktionen, die AfD und ich laden Sie herzlich zur konstruktiven Mitarbeit an unserem Antrag ein – das heißt über alle Partei- und alle Fraktionsgrenzen hinweg –, damit wir für die Betroffenen etwas erreichen – was unsere gemeinsame Aufgabe in diesem Hohen Haus ist –, ({5}) nämlich, erstens, einen fairen Ausgleich der berechtigten Interessen von Verbrauchern und Unternehmen – es sind vorwiegend Unternehmen des inhabergeführten, kleinen Mittelstandes – und, zweitens, Entlastung dieser mittelständischen Firmen von einer existenzbedrohenden, bürokratischen Überregulierung, die gerade den Verbrauchern, die eigentlich geschützt werden sollen, aufgrund ihrer Absurdität oft nix nützt. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit, und ich bedanke mich beim Herrn Präsidenten. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich dem Kollegen Dr. Hendrik Hoppenstedt, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. ({0})

Dr. Hendrik Hoppenstedt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004305, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren auf der Zuschauertribüne! Ich möchte es mir nicht nehmen lassen, heute Morgen besonders eine Besuchergruppe aus meinem Wahlkreis zu begrüßen. ({0}) – Ja, man muss etwas für seine Wiederwahl tun, meine Damen und Herren. – ({1}) Sie kommen aus Isernhagen, aus der Wedemark und aus Wunstorf. ({2}) Meine Damen und Herren, beim Antrag der AfD muss man dreierlei tun: erstens sich die Frage stellen, was im Antrag drinsteht – das ist selbstverständlich –, zweitens sich die Frage stellen, was alles Falsches im Antrag drinsteht, drittens sich die Frage stellen, was alles eigentlich gar nicht drinsteht. ({3}) Zum ersten Punkt: Was steht im Antrag? Das haben wir eben schon ein bisschen gehört: Die AfD kritisiert das seit Umsetzung der Verbraucherrechterichtlinie im Jahr 2014 im BGB geregelte Widerrufsrecht der Verbraucher und die damit verbundenen Informationspflichten der Werkunternehmer, das heißt der Handwerker. Die Forderungen der AfD haben Sie eben von Herrn Müller vernommen; deswegen möchte ich sie nicht noch einmal wiederholen. Interessant ist die Frage: Wie werden diese Forderungen begründet? Auch das wurde kurz umrissen. Nach Auffassung der AfD führen Widerrufsrecht und Informationspflichten – ich zitiere – „zu einem unverhältnismäßigen Zuwachs an bürokratischen Anforderungen“. Mit markigen Worten wie „Vielzahl an Bürokratie“, „Konvolut an Informationspflichten“ und „Bürokratie-Litanei“ malt die AfD das Bild, dass infolge der ausufernden Bürokratiepflichten der Wirtschaftsstandort Deutschland in Gänze gefährdet sei. ({4}) Man könnte glauben, der Untergang des Abendlandes stehe bevor. ({5}) Meine Damen und Herren, damit eines ganz klar ist und wir uns hier nicht missverstehen: Auch für uns ist Bürokratieabbau ein Herzensthema. ({6}) – Wir loben Sie gerade. ({7}) Die Große Koalition hat deshalb in der letzten Wahlperiode eine Bürokratiebremse eingeführt. Bei jedem neuen Regelungsvorhaben müssen in gleichem Maße Belastungen abgebaut werden; „One in, one out“, das kennen Sie alle. Damit wird ein Anstieg der bürokratischen Belastungen für die Wirtschaft vermieden. Das funktioniert übrigens ausgesprochen gut. ({8}) Auch in dieser Wahlperiode wollen wir Bürokratieabbau weiter voranbringen, unter anderem durch Eins-zu-eins-Umsetzungen von EU-Vorgaben ({9}) – Hören Sie doch einfach einen Augenblick zu! –, durch die Vereinheitlichung von Schwellenwerten und durch die „One in, one out“-Regelung auch auf europäischer Ebene. Sie sehen: Auch für uns ist Bürokratieabbau ein elementares Thema. ({10}) Trotzdem scheint die Kritik der AfD ein bisschen dick aufgetragen zu sein. Den Informationspflichten kann man mit zwei, höchstens drei Vordrucken nachkommen. Diese stellt der Gesetzgeber übrigens im EGBGB inklusive Ausfüllhilfen zur Verfügung. Wenn ein Handwerker dieses Gesetzeswerk nicht zur Hand hat – was ja jetzt keine Schande ist –, dann kann er sich problemlos bei seiner Handwerkskammer vor Ort oder beim ZDH die entsprechenden Vordrucke aus dem Internet herunterladen. ({11}) Worum geht es in der Sache? Es geht um den Verbraucherschutz bei außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Werkverträgen. Ein Verbraucher bestellt zum Beispiel einen Handwerker zu sich nach Hause, damit der Handwerker sich die Situation vor Ort ansehen kann und mit ihm die gewünschten Leistungen besprechen kann. Wenn es dort zum Vertragsschluss kommt, hat der Verbraucher grundsätzlich ein Widerrufsrecht. Die Frist beträgt 14 Tage, bei fehlender oder nicht ordnungsgemäßer Widerrufsbelehrung verlängert sich diese auf maximal ein Jahr und 14 Tage. Hat der Handwerker nicht korrekt informiert und beginnt mit den Arbeiten, dann hat er nach allgemeinem Werkvertragsrecht tatsächlich keinen Anspruch auf Wert­ersatz, wenn der Verbraucher von seinem Widerrufsrecht Gebrauch macht. Der Verbraucher schuldet Wertersatz nur dann, wenn der Verbraucher vom Unternehmer ausdrücklich verlangt hat, dass er vor Ablauf der Widerrufsfrist mit der Arbeit beginnt, wenn er dieses Verlangen auf einem dauerhaften Datenträger übermittelt hat und wenn der Unternehmer den Verbraucher über das Widerrufsrecht ordnungsgemäß informiert hat. Ich gebe zu, das klingt einigermaßen kompliziert. ({12}) – Es ist, wenn man sich damit befasst, ganz einfach, aber für Freitagmorgen, kurz nach zehn, ist das für solches Auditorium in der Tat nicht ganz unkompliziert. ({13}) Und da fragt man sich natürlich, wer so etwas um diese Uhrzeit auf die Tagesordnung setzt. Die Regelung entspricht übrigens eins zu eins der Richtlinie und ist Inhalt des Musterwiderrufsformulars. ({14}) Keine oder falsche Belehrung führt dazu, dass es keinen Wertersatz gibt. Diese Rechtsfolge ist in der Tat ein scharfes Schwert. Was hat man sich dabei gedacht? Ein Widerrufsrecht, das der Verbraucher nicht kennt, nützt ihm nämlich nichts. ({15}) Widerrufsrecht und Belehrungspflicht sollen Anreize zur ordnungsgemäßen Belehrung durch Vertragspartner geben. Deshalb ist die von der Richtlinie vorgesehene Rechtsfolge so rigoros. Was ist also dem Handwerker zu raten? Er sollte Widerrufsbelehrungen zu Vor-Ort-Terminen mitnehmen und sich vom Besteller die Übergabe schriftlich bestätigen lassen. Er sollte mit den Arbeiten möglicherweise erst nach Ablauf der Widerrufsfrist beginnen. Wenn der Verbraucher den sofortigen Beginn der Arbeiten wünscht, dann müssen die von mir eben dargestellten drei Voraussetzungen gegeben sein, damit der Handwerker schlimmstenfalls Wertersatz erhält. Man kann sich in der Tat die Frage stellen, ob eine Regelung, die beim klassischen Verbrauchsgüterkauf sinnvoll ist, für alle Werkverträge passt. In Fällen, in denen der Verbraucher den Handwerker ausdrücklich zu sich nach Hause bestellt hat, kann es tatsächlich unbillig sein, dass der Handwerker im Ergebnis kostenlos arbeitet, weil er fehlerhaft informiert hat. Allerdings haben sich die Handwerker seit 2014 mit dieser Regelung arrangiert. ({16}) Der Wirtschaftsstandort Deutschland jedenfalls ist dadurch nicht gefährdet. Der Wirtschaftsstandort Deutschland ist möglicherweise wesentlich stärker gefährdet durch Ihre ausländerfeindlichen Ausfälle auf Ihren Aschermittwochsveranstaltungen. ({17}) Damit sorgen Sie für Unmut, und das ist ein viel größeres Problem für unsere Wirtschaft. ({18}) – Hören Sie doch einfach zu. Regen Sie sich nicht immer so auf! ({19}) Was steht eigentlich nicht in dem Antrag? Herr Müller, jetzt komme ich zu Ihren geliebten Steckdosen. In dem Antrag wird als plastisches Beispiel auf die Installation einer zusätzlichen Steckdose abgestellt; das haben Sie ja häufig genug jetzt auch mündlich dargestellt. In über 95 Prozent aller Fälle werden Steckdosen aber entweder in Neubauten oder aber bei Generalsanierungen von Gebäuden verbaut. Für diese gilt aber das seit dem 1. Januar dieses Jahres geltende Bauvertragsrecht. Das ist tatsächlich erst seit wenigen Wochen Gesetzeslage. ({20}) Leider fußt Ihr Steckdosenbeispiel, das Sie immer nach vorne schieben, auf einer veralteten Rechtslage. Das wäre mir an Ihrer Stelle ein bisschen peinlich. ({21}) Aber ich kann hier ja für Aufhellung sorgen. Das Widerrufsrecht des Verbrauchers gemäß § 312g BGB, das Sie hier kritisieren, und die daraus resultierenden Informationspflichten des Werkunternehmers gelten bei Verbraucherbauverträgen gerade nicht. Die Steckdose können Sie sich als Verbraucher schlimmstenfalls über eine einseitige Anordnung legen lassen, ohne dass der Handwerker Sie in irgendeiner Form belehren müsste. Für den gesamten Verbraucherbauvertrag, der das ganze Bauvorhaben betrifft und nicht nur eine einzelne Steckdose, gilt ein spezielles Widerrufsrecht. Bei diesem speziellen Widerrufsrecht gelten andere Rechtsfolgen als bei dem von Ihnen zitierten. Bei dem Verbraucherbauvertragsrecht haben wir nämlich das berücksichtigt, was wir aus der Verbraucherrechterichtlinie gelernt haben. Wir haben richtlinienkonform geregelt, dass der Unternehmer, anders als im sonstigen Werkvertragsrecht, Anspruch auf Wertersatz hat, wenn der Besteller das Widerrufsrecht wahrnimmt. Der Verbraucher schuldet Wertersatz grundsätzlich in Höhe der vereinbarten Vergütung. Das ist gut für den Unternehmer. Damit ist der Handwerker aus dem Schneider. Fazit und letzte Bemerkung: Der Zentralverband des Deutschen Baugewerbes sagt, dass das Baugewerbe keine großen Auswirkungen des Widerrufsrechts erwartet. Der ZDH sieht das übrigens ganz genauso. In der Praxis ist demnach das Widerrufsrecht bei Bauverträgen und damit auch bei Ihren Steckdosen jedenfalls kein generelles Problem, weswegen ich Ihnen auch keine große Hoffnung darauf machen kann, dass wir Ihrem Antrag irgendwann einmal zustimmen werden. Vielen Dank. ({22})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Sarah Ryglewski, SPD-Fraktion. ({0})

Sarah Ryglewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004622, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren von der AfD, Bürokratie- und EU-Schelte sind – das haben wir jetzt schon ein paarmal gehört – sozusagen Ihr Lieblingsstilmittel. ({0}) Es ist nur blöd, wenn das, wie beim vorliegenden Antrag, vollkommen ins Leere läuft. Schauen wir uns doch einmal ganz genau an, worum es hier geht. In Bezug auf die Widerrufsregeln wurde in der Verbraucherrechterichtlinie eigentlich nur Selbstverständliches geregelt. Ziel war es, Rechtssicherheit für Verbraucherinnen und Verbraucher, aber gerade eben auch für Handwerker und andere Dienstleister zu schaffen. Wir haben das vorhin schon gehört: Das ist keine ganz unkomplizierte Materie; aber dank der vorliegenden Richtlinie ist es möglich, genau zu wissen: Wie muss ich belehren, was muss ich dem Kunden vor Vertragsabschluss mitteilen, und was für Folgen können entstehen? So zu tun, als wäre das nur einseitig für Verbraucherinnen und Verbraucher sinnvoll, ist absoluter Quatsch. Vielmehr befinden wir uns eigentlich in einer guten Situation. Natürlich geht es nicht nur um Vertragsabschlüsse mit irgendwelchen windigen Drückerkolonnen. Es gibt auch Situationen – der Kollege Hoppenstedt hat das beschrieben –, wo man, auch fernab der berüchtigten Kaffeefahrten oder des klassischen Haustürgeschäfts, einen Vertrag abgeschlossen hat, den man später aus gutem Grund widerrufen möchte. Vielleicht hat man für die Wandgestaltung diese oder jene Farbe ausgewählt, weil der Innenarchitekt das so schön beschrieben hat, aber sobald man im Rohbau steht, weiß man, dass man diese Farbe doch nicht haben möchte. Dafür gibt es dieses Widerrufsrecht. Ich nenne einen weiteren klassischen Fall: Man bestellt den Schlüsseldienst. Der reist an und sagt: Sie sind in einer Notlage; wenn Sie möchten, dass ich Ihnen die Tür öffne, kostet das so und so viel Geld. Ich kann dann sagen: Das will ich nicht. Hinzu kommt, dass ich, bevor er den Auftrag ausführt, einen Anspruch darauf habe, zu erfahren, wie viel das kostet, und zwar inklusive aller versteckten Nebenkosten. ({1}) Auch dass Handwerker ihren Kundinnen und Kunden ganze „Sammelmappen“, wie Sie es in Ihrem Antrag genannt haben, vorlegen müssen, ist absoluter Quatsch. Der Zentralverband des Deutschen Handwerks hat eine gute Internetseite. Sie kriegen es hin, in einem kleinen Kasten zu beschreiben, über was Kundinnen und Kunden, Verbraucherinnen und Verbraucher belehrt werden müssen. Man hat die Möglichkeit, sich Musterwiderrufsbelehrungen und Musterinformationen herunterzuladen; das alles ist überhaupt kein Problem. ({2}) – Bei dem klassischen Handwerker ist es noch nicht angekommen, dass es ein Internet und einen Zentralverband des Deutschen Handwerks gibt? Das finde ich interessant. ({3}) Im Wesentlichen geht es darum, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher wissen, was sie kaufen oder bestellen. Vor Vertragsabschluss muss also genau gesagt werden, um was es eigentlich geht, wer es anbietet oder erbringt – damit im Zweifelsfall klar ist, wem gegenüber Gewährleistungsansprüche bestehen –, unter welchen Bedingungen der Vertrag geschlossen wird, also was die Ausführung eines Auftrags beinhaltet, was die Zahlungs-, Liefer- und Leistungsbedingungen sind, und was es kostet. Das sind Dinge, die jeder von uns vor Abschluss eines Vertrages wissen möchte. ({4}) Hinzu kommen noch die entsprechenden Informationen über das Widerrufsrecht und die Fristen; das hat Herr Hoppenstedt schon ausgeführt. Ein Bürokratiemonster sieht anders aus. Auch für Ihre Sammelmappe reicht das bei weitem nicht. Diese strikten Vorschriften gelten außerdem nicht für alles. Sie entfallen dort, wo sie keinen Sinn machen oder mit erheblichen Nachteilen für den Handwerker verbunden wären. Wenn ich beispielsweise zu Hause einen Rohrbruch habe und dringend jemanden brauche, der mir das repariert, und ich der Ausführung ausdrücklich zustimme, nachdem mir gesagt wurde, was es kostet und was genau gemacht wird, und ich darüber informiert wurde, dass ich auf mein Widerrufsrecht verzichte, wenn ich zustimme, dann bin ich raus. Das ist doch absolut praxistauglich. ({5}) Ich finde es interessant, meine sehr geehrten Damen und Herren von der AfD, dass Sie immer so tun, als ob hier Gesetze im luftleeren Raum beschlossen werden. Üblich ist im Deutschen Bundestag ein Gesetzgebungsverfahren, das betroffene Verbände während des Gesetzgebungsprozesses einbezieht. Dieses Gesetz ist also nicht entstanden, ohne die Handwerker und ihre Zentralverbände und die Handwerkskammern entsprechend einzubinden. Vielleicht ist das auch Grund dafür, dass es seit der Umsetzung der Verbraucherrechterichtlinie in deutsches Recht eigentlich keine Beschwerden gegeben hat. ({6}) – Sowohl der Zentralverband des Deutschen Handwerks – – ({7}) – Nein, das müssen Sie nicht, und Sie müssen auch nicht schreien. ({8}) – Nein, das tue ich nicht. ({9}) Es gibt immer Einzelfälle, wo es Probleme gibt; ({10}) aber wir machen hier Gesetze für die Allgemeinheit und nicht für Einzelfälle. ({11}) Wir haben sowohl vom Zentralverband des Deutschen Handwerks als auch von den Handwerkskammern, die ja üblicherweise meinungsstark sind – das meine ich in positivem Sinne –, nichts Negatives gehört. Im Gegenteil: Auf ausdrückliche Nachfrage haben sie betont, dass es aus ihrer Sicht keine Probleme gibt. ({12}) Sie wissen ganz genau, dass es Einzelfälle sind; denn Sie haben in Ihrem Antrag keinen einzigen Lösungsvorschlag gemacht. Da steht nur, man möge es überprüfen und möglicherweise anpassen. Sagen Sie doch einmal, was eine praxistaugliche Lösung wäre. ({13}) – Super. Schaffen wir doch alle Gesetze ab, dann haben wir keine Probleme mehr damit. – Ich kann aber verstehen, dass Sie keine Lösung vorschlagen. Lösungen für Scheinprobleme fallen wahrscheinlich jedem schwer. ({14}) Ich mache jetzt einmal einen konstruktiven Vorschlag, weil uns allen das Handwerk am Herzen liegt: Ich lade Sie ganz herzlich dazu ein, sich einmal mit einer ganz konkreten Forderung des Zentralverbands des Deutschen Handwerks näher zu beschäftigen. Dieser fordert als Beitrag zur Deckung des Fachkräftebedarfs ein Einwanderungsgesetz. ({15}) Den entsprechenden Gesetzentwurf der SPD-Fraktion kann ich Ihnen bei Interesse gerne zuleiten. Vielen Dank. ({16})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich dem Kollegen Roman Müller-Böhm, FDP-Fraktion, das Wort zu seiner ersten Rede im Deutschen Bundestag. ({0})

Roman Müller-Böhm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004833, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Immer wieder hören wir vonseiten der AfD-Fraktion, sie sei lösungsorientiert und konstruktiv. Noch am Dienstag hat die Fraktionsvorsitzende Weidel bei n-tv ebenjenes gesagt. ({0}) Ich weiß, ehrlich gesagt, nicht, wie Sie darauf kommen. Mein Eindruck ist ein gänzlich anderer. Sie zeichnen hier ein Bild voller Pessimismus. ({1}) Dabei lassen Sie viele Vorteile für Verbraucher und Unternehmen vollkommen außer Acht. Das ist nicht ehrlich. Schauen Sie sich die Statements der Verbände doch einmal an, zum Beispiel des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks oder des Handwerksblattes. So schrecklich, wie Sie das Bild zeichnen, ist es in Gänze nicht. Mit den Regelungen ist das Handwerk großteils zufrieden. Was Sie betreiben, ist schlichtweg Schwarzmalerei. ({2}) Verstehen Sie mich nicht falsch: Uns Freien Demokraten ist dieses Thema und sind auch die Belange der kleinen und mittelständischen Unternehmen sehr wichtig. Wir stehen aber für ehrliche Lösungen in der parlamentarischen Arbeit. ({3}) Wären Sie, wie behauptet, wirklich an einer Lösung interessiert, dann hätten Sie diese ja fordern können. ({4}) Das allerdings bleiben Sie uns hier schuldig. Mit einem Prüfauftrag helfen Sie unserem Handwerk nicht weiter. Die Probleme müssen hier im Parlament gelöst werden. Mit diesem Schnellschuss werden Sie dem Anspruch des Hohen Hauses nicht gerecht. Wieso fordern Sie zum Beispiel nicht, § 312 BGB anzupassen? Wieso fordern Sie nicht, die Ausnahmen und Tatbestände des § 312g BGB genauer zu definieren? ({5}) Sagen Sie doch wenigstens, dass Verbraucher durch das Gesetz vor schwarzen Schafen geschützt werden. Sagen Sie wenigstens, dass es zahlreiche Ausnahmen für die Betriebe gibt. Schauen Sie sich zum Beispiel einmal Artikel 246a § 2 des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuch an. Lesen hilft! Sagen Sie doch wenigstens, dass durch dieses Gesetz die Widerrufsfrist bei mangelhafter Belehrung erstmals konkret begrenzt wurde; denn das war vorher unbegrenzt. ({6}) Diese Änderungen werden von den Handwerksverbänden gelobt. Das zu erwähnen, haben Sie aber wohl leider vergessen. Ich habe mir einmal erlaubt, bei den Handwerkskammern anzurufen, mit dem Zentralverband des Deutschen Handwerks zu sprechen und mit den Verbraucherzentralen Kontakt aufzunehmen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, konstruktive Oppositionsarbeit wäre es gewesen, Lösungen anzubieten und tatsächliche Änderungen anzustreben. Ihnen aber fehlen Forderungen, die über einen Prüfantrag hinausgehen. Der gestalterische Anspruch fehlt, und genau das ist eben nicht konstruktiv. ({7}) Wissen Sie: Ehrliches Interesse für die Probleme der Bürgerinnen und Bürger erfordert auch, Lösungen zu erarbeiten und Vorschläge zu unterbreiten. So könnten zum Beispiel Ihre Abgeordneten im Europäischen Parlament, welches für die zugrunde liegende Richtlinie verantwortlich ist, sich für eine entsprechende Änderung einsetzen. Davon habe ich nichts gehört. Sie wälzen stattdessen diese parlamentarische Aufgabe auf die Bundesregierung ab. Es ist natürlich immer leicht, Aufgaben auf andere abzuwälzen. Nehmen Sie Ihre parlamentarischen Rechte und Pflichten doch bitte einmal selber wahr! ({8}) Wenn Sie dem Handwerk wirklich helfen wollten, dann würden Sie aufhören, das Handwerk gegen den Verbraucherschutz auszuspielen. Wir Freien Demokraten fordern eine Mittelstandsklausel auf Bundesebene. Die Istbesteuerung bei der Umsatzsteuer und die Rücknahme der Vorfälligkeit bei den Sozialversicherungsbeiträgen, das ist wahre Handwerkspolitik. ({9}) Hier zeigt sich wieder einmal, dass Sie Ihre Versprechen nicht halten. Sie benennen ein Problem, bleiben uns aber einen eigenen Lösungsansatz schuldig. Das zeugt nicht nur von fehlender Lösungsbereitschaft; es ist vor allem eines: Effekthascherei auf dem Rücken der kleinen und mittelständischen Unternehmen. ({10})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächste Rednerin ist die Kollegin Amira Mohamed Ali, Fraktion Die Linke. ({0})

Amira Mohamed Ali (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004823, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Das Widerrufsrecht bei Handwerkerleistungen, das die AfD ändern möchte, wurde eingeführt, um Verbraucherinnen und Verbraucher vor Überrumpelung und Übervorteilung zu schützen. Diese Gefahr besteht bei Gesprächen unter vier Augen in den eigenen vier Wänden. Das Widerrufsrecht ist ein Schutzrecht für Verbraucherinnen und Verbraucher, die in vielen Lebensbereichen eben keine Profis sind. Ein Problem, das wir Verbraucherschützer haben, ist übrigens, dass viele Menschen diese Regelung gar nicht kennen und von ihr daher gar keinen Gebrauch machen. Für die Linke ist es wichtig, dass Verbraucherinnen und Verbraucher über ihre Rechte aufgeklärt werden, um nicht von unlauteren Unternehmen über den Tisch gezogen zu werden. ({0}) Diese gibt es nämlich leider auch. Sie sind die Ausnahme, aber es gibt sie, und sie bringen die Branche in Verruf. Unlautere Unternehmen sind unserer Ansicht nach nicht schutzbedürftig. ({1}) Nun meint die AfD, dass die Widerrufsregelung insbesondere Handwerksbetrieben Probleme bereiten würde; Bürokratie müsse abgebaut werden. Das ist ja ein gern bemühtes Stichwort – komischerweise dann besonders gern, wenn es um die Beschneidung von Verbraucherrechten geht. Leider ist das bei der AfD wieder einmal nur eine irreführende Symbolforderung. Sie schaffen ein bedrohliches Spukgespenst – undurchsichtige, unüberbrückbare bürokratische Hürden – und machen sich dabei selbst zum Geisterjäger. ({2}) Natürlich gibt es Probleme mit übertriebener Bürokratie, die das Handwerk belasten; das stimmt, und das kritisiert auch Die Linke. Aber hier reden wir über eine Widerrufsbelehrung, die der Gesetzgeber vorformuliert hat. Ich habe mir einmal die Mühe gemacht, den Text auszudrucken, und zwar ganz groß. Sie sehen hier: Das ist es, worüber wir reden. Das ist die „übertriebene“ Bürokratie. Also, ich bitte Sie! Die Linke hat einmal mit den Betroffenen über das Gesetz gesprochen. Der Zentralverband des Deutschen Baugewerbes sieht in der Umsetzung des Gesetzes keine Herausforderung. Das Beispiel mit der Steckdose wird gerne bemüht; es ist auch gerade schon genannt worden. Aber das ist einfach nicht wahr; natürlich muss die Steckdose bezahlt werden. Auch der Zentralverband des Deutschen Handwerks hat uns gesagt, dass man nie auf die Idee gekommen wäre, eine Änderung zu fordern. Man hat uns auch gesagt, dass man von der AfD nicht instrumentalisiert werden möchte. ({3}) Spätestens das macht doch deutlich, dass es der AfD nicht um Rechtssicherheit oder um die Sorgen der Verbraucher oder der Handwerker geht. Es geht um eine Selbstinszenierung als angebliche Beschützerin der kleinen Leute, und das ist lächerlich. ({4}) Ich muss Ihnen schon sagen: Die Argumentation der AfD, dass das eine so unübersichtliche Anforderung sei, die gerade kleine Handwerksbetriebe überfordert, hat mich nicht nur überrascht, sondern ärgert mich auch. Mein Schwiegervater ist Malermeister. Er führt zusammen mit meinem Schwager einen kleinen Betrieb in Ostfriesland. Er hat mir gesagt, dass er mit dem Handwerkerwiderruf überhaupt keine Schwierigkeiten hat. Ist Ihnen schon einmal in den Sinn gekommen, dass sowohl Handwerker als auch Kunden von der Widerrufsbelehrung profitieren? Sie bietet beiden Seiten Rechtssicherheit. Genau das hat auch der Zentralverband des Deutschen Handwerks bestätigt. ({5}) Es wird deutlich: Die AfD hat von der Lebensrealität der Menschen keine Ahnung. Die Handwerker seien zu doof, der Kunde überfordert, das ist die Quintessenz der Argumentation. Das zeigt auch, welches Menschenbild Sie pflegen. ({6}) Kolleginnen und Kollegen, reden wir doch über die tatsächlichen Probleme des Handwerks: Wie können wir sicherstellen, dass wir europaweit einheitliche Rechts- und Qualitätsstandards haben und damit dem ruinösen Unterbietungswettbewerb auf Kosten der Beschäftigten und der Qualität Einhalt gebieten? Verbraucherrechte schützen auch Qualitätsstandards. Es gibt kein Gegeneinander von Verbraucherschutz und Handwerk; es ist ein Miteinander. Qualifizierte Handwerker profitieren davon. ({7}) Ein weiteres Problem, das real existiert, ist, dass viele Betriebe keine Auszubildenden mehr finden. Das hat nicht nur mit einer veränderten Bildungsstruktur zu tun, sondern auch mit der Bezahlung während der Ausbildung und im späteren Berufsleben. Auch deshalb streitet die Linke für einen höheren gesetzlichen Mindestlohn, ({8}) für einheitliche und gute Bildungsstandards, eine Stärkung der Arbeitnehmerrechte und für ein Verbot der Leiharbeit. Das sind die tatsächlichen Herausforderungen. Darüber muss man diskutieren, und sie muss man bewältigen. Damit müssen wir uns befassen, statt Gespenster zu jagen. Vielen Dank. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich dem Kollegen Chrupalla von der AfD-Fraktion das Wort zu einer Kurzintervention. ({0})

Tino Chrupalla (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004695, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Wir haben ja nun bereits von vielen Fraktionen sehr markige Worte in Bezug auf das Handwerk gehört. Leider war bis jetzt kein einziger Redner am Pult, der das Handwerk vertritt, weder im jetzigen Beruf noch in früheren Berufen. Ich kann von meiner Person sagen: Ich bin seit 15 Jahren Handwerksmeister und bin in meinem Wahlkreis direkt gewählt worden. Ich vertrete hier als einer der wenigen in diesem Hause das Handwerk. ({0}) Wie Sie vielleicht wissen, sind in diesem Hohen Hause bei 709 Abgeordneten nur 7 Handwerksmeister vertreten. Ich kann sehr wohl sagen, wie die Situation im Handwerk ist. Ich stehe mit dem ZDH und mit den Handwerkskammern in Verbindung. Wir wissen, welche Probleme es gibt. Ich weiß nicht, mit welchen Leuten Sie geredet haben, ({1}) aber die haben ihre Probleme wahrscheinlich nicht richtig geschildert. Das scheinen Lobbyorganisationen gewesen zu sein. Wir Handwerker haben hauptsächlich darüber zu befinden, welche Probleme es gibt. Wir sagen ganz deutlich – dies gilt auch für die AfD-Fraktion –: Diese Verbraucherrichtlinie und das Widerrufsrecht können abgeschafft werden, wie so viele andere Gesetze auch; das ist wohl wahr. Denn dadurch werden wir reguliert, und beides stört und behindert uns bei unserer täglichen Arbeit. Das ist das Problem. Vielen Dank. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege, Sie haben zwar nicht auf die Rede von Frau Kollegin Mohamed Ali Bezug genommen. Trotzdem hat sie nach unseren Regeln die Möglichkeit, darauf zu antworten, was sie aber nicht muss. – Das wollen Sie nicht. Als nächster Rednerin erteile ich der Kollegin Dr. Manuela Rottmann zu ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag das Wort. ({0})

Dr. Manuela Rottmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004866, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Chrupalla, ich weiß nicht, mit wem Sie reden. Hier haben alle geschrieben, mit wem sie geredet haben. Vielleicht ist ein Teil des Problems der AfD, die sich so gerne zur Handwerkerpartei machen möchte, dass Handwerker bei Ihnen Leute wie Herr Poggenburg sind, über den man lesen muss, dass er noch nicht einmal seine Beiträge zur Handwerkskammer entrichtet. ({0}) Die Kolleginnen und Kollegen haben schon die Luft aus diesem Antrag gelassen. Ich weiß gar nicht, ob es sich lohnt, Ihre und meine Lebenszeit noch einmal vier Minuten lang damit zu verschwenden. ({1}) Ich will nur einen letzten Punkt klarstellen – das hilft Ihnen vielleicht in Ihrer handwerklichen Praxis –: Sie vermischen hier die Rechtsfolgen einer Verletzung von Informationspflichten mit den Rechtsfolgen einer Unterlassung der Widerrufsbelehrung. ({2}) Das ist die Methode AfD: Ich suche ein Problem, und wenn ich keines finde, dann denke ich mir eines aus. ({3}) Da der AfD keine echten Probleme im deutschen Handwerk einfallen, ({4}) will ich gerne weiterhelfen. Betrachten wir die Vorfälligkeit der Sozialversicherungsbeiträge: Die deutschen Sozialkassen sind voll. Weil Sie gestern und heute wieder von der schlimmen Zuwanderung in die Sozialsysteme geredet haben, ({5}) kommt jetzt eine ganz unangenehme Wahrheit: Die Sozialkassen sind voll, weil wir Zuwanderung haben, weil junge Menschen aus dem Ausland kommen und in die deutschen Sozialversicherungen einzahlen. ({6}) Das heißt, wir hätten jetzt die Chance, die Vorfälligkeit abzuschaffen und zur Rechtslage von vor 2006 zurückzukehren. ({7}) Das heißt, jeder Handwerksbetrieb würde sich einmal im Monat mit dem Thema befassen und hätte kein Liquiditätsproblem mehr. Das wäre eine Lösung. ({8}) Wenn Sie sonst kein Problem finden, dann gucken Sie doch in die Februarausgabe der „Deutschen Handwerks Zeitung“. Dort steht, dass 60 Prozent aller Inhaber von Handwerksbetrieben eine gesetzliche Rente von unter 600 Euro zu erwarten haben. ({9}) Dazu gab es von der AfD im letzten Jahr genau zwei Äußerungen. Ich habe jedenfalls nur zwei gefunden; vielleicht haben Sie ja mehr dazu gesagt.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Manuela Rottmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004866, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau von Storch kann danach fragen.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Sie gestatten also keine Zwischenfrage?

Dr. Manuela Rottmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004866, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nein; das ist ja auch meine erste Rede. – Der sächsische Landtagsabgeordnete Beger beklagt die Altersarmut der Handwerker. Seine Analyse ist so tiefschürfend, wie sie meistens bei der AfD ist: Das liegt an der Alimentierung Griechenlands, an den Kosten für den Unterhalt von Hunderttausenden Einwanderern ohne legitimen Asylgrund und an der Geldflutung der Märkte durch die EZB. – Das ist die Analyse aus dem Jahr 2016. Im Jahr 2017 hat die „Deutsche Handwerks Zeitung“ die AfD gefragt, was sie für die Altersvorsorge von Handwerkern machen will. Im Jahr 2017 hat die AfD gesagt: Da haben wir Beratungsbedarf. Das ist die AfD, die am Aschermittwoch gesagt hat: Wir wollen nicht den Kuchen, sondern die ganze Bäckerei. Ihnen fällt zu einem zentralen Problem für die meisten Inhaber von Handwerksbetrieben nichts ein. ({0}) Der Beratungsbedarf dauert anscheinend noch an. Deswegen kommen Sie ein Jahr später mit der Verbraucherrechterichtlinie und einem Nichtproblem um die Ecke. Sie sind nicht die Partei des Mittelstands, Sie sind leider nur die AfD. ({1})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Alexander Hoffmann, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Alexander Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004304, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Allzu oft bemüht die Politik den Satz: Handwerk hat goldenen Boden. – Ich bringe den Satz heute deshalb, weil ich glaube, dass der Satz durchaus Verpflichtung für die Politik ist. Wir, die wir hier sitzen, haben die Aufgabe, Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass Unternehmer, Handwerker in unserem Land gut existieren und arbeiten können. Wir haben die Aufgabe, Rahmenbedingungen zu schaffen, dass Handwerker rechtssicher agieren können. Wir haben selbstverständlich auch die Verpflichtung, Sorge dafür zu tragen, dass wir vor allem die Handwerksbetriebe nicht mit überbordender Bürokratie erdrücken. Ich glaube, wir sind uns alle einig, dass wir das als Daueraufgabe begreifen. Deswegen ist es zunächst einmal gut, wenn wir heute im Rahmen dieses Antrags darüber reden, Rückschau halten und bewerten, ob wir vielleicht an der einen oder anderen Stelle über das Ziel hinausgeschossen sind, was die Bürokratie angeht. ({0}) Bei Ihrem Antrag haben Sie den Bereich des Widerrufsrechts, der Widerrufsbelehrung im Blick. Beim Lesen des Antrags war ich positiv gestimmt, weil ich dachte: Na ja, im Antrag bekennt man sich zunächst einmal ganz klar zur Erforderlichkeit des Widerrufsrechts auch im Handwerkerbereich. – Nach der Kurzintervention des Kollegen war ich dann nicht mehr ganz so sicher; denn da hat das ganz anders geklungen. Ich glaube schon, dass wir uns einig sind, dass wir das Widerrufsrecht auch in diesem Bereich brauchen. Wie so oft hat dies die Politik auch auf europäischer Ebene nicht ohne Not geregelt. Es waren schwarze Schafe, die dazu geführt haben, dass wir handeln mussten, um Sorge dafür zu tragen, dass nicht der Verbraucher der Leidtragende ist. Beispiele gibt es auch heute noch – ich habe ein paar dabei –: „Wenn der Dachhai zweimal klingelt“, „16 500 Euro für falsche Handwerker“, „Die Teer-Betrüger finden immer mehr Opfer“. Aber zunächst einmal ist es wichtig, dass wir differenzieren und nicht alle Handwerker über einen Kamm scheren. Ich glaube, dass es auch im allgemeinen Verbraucherschutz wichtig ist, zu sagen: Wir wollen die Verbraucher vor Überrumpelung schützen. Wenn wir dann in die unterschiedlichen Bereiche gehen, müssen wir eben feststellen, dass gerade im Baubereich oder auch im Bereich der Finanzberatungen oftmals weitreichende Entscheidungen getroffen werden. Deswegen ist es gut, wenn die Menschen 14 Tage Zeit haben, sich zu überlegen, ob sie diesen Vertrag wirklich aufrechterhalten wollen. ({1}) Dennoch muss das oberste Gebot die Ausgewogenheit sein. Wir müssen zwischen dem Verbraucherschutz auf einen Seite und der Frage, wie hoch die bürokratischen Anforderungen an Handwerker, an Unternehmer maximal sein dürfen, auf der anderen Seite abwägen. Sie schreiben in Ihrem Antrag von „uferlosen Informationspflichten“. Der Kollege Hoppenstedt hat es schon dargestellt: Es ist mit Sicherheit komplex; ich will das gar nicht kleinreden. Aber von „uferlos“ kann man nicht reden. Wenn Sie im Internet nachsehen – das waren nur ein paar Klicks –, dann finden Sie schnell verschiedene Musterbeispiele für Widerrufsbelehrungen. Ich habe hier ein ganz tolles Beispiel von der Handwerkskammer Frankfurt-Rhein-Main. Da ist die Widerrufsbelehrung auf einer Seite zu finden. „Uferlos“ ist das mit Sicherheit nicht, sondern durchaus in fassbarem Umfang. Natürlich ist die Missbrauchsgefahr da. Wenn Sie einen Kunden haben, der nicht zahlungswillig ist, dann fängt er unter Umständen an, mit fadenscheinigen Argumenten Gründe dafür zu suchen, nicht zu zahlen. Zur Ehrlichkeit gehört zunächst einmal aber auch, zu sagen, dass der Kunde dafür auch andere Gründe heranziehen kann. Natürlich ist das Widerrufsrecht durchaus fehler­anfällig. Wir haben im Bankenbereich erlebt, dass das kompliziert sein kann. Je komplizierter etwas ist, desto eher schleicht sich ein Fehler ein. Die fadenscheinigen Argumente, die ich von Handwerkern höre, warum Kunden nicht zahlen wollen, sind: Das habe ich nicht beauftragt. – Das waren keine fünf Steckdosen, sondern nur eine. – Die Steckdose funktioniert nicht. – Wir hatten einen anderen Preis vereinbart. Ein sehr guter Freund von mir hat vor vier Jahren als Handwerker ein Unternehmen gegründet. Anfangs hat er Verträge noch per Handschlag schließen können. Das ging so lange, bis er den ersten Kunden hatte, der behauptet hatte: Wir haben einen anderen Preis vereinbart. – Seitdem wird alles dokumentiert, von der Farbe über die Höhe und Breite und das Material bis hin zum Produkt. Die traurige Wahrheit ist, dass Handwerker heute gar nicht mehr ohne Bürokratie, ohne Dokumentation arbeiten können. Es ist richtig: §§ 312, 356 ff. BGB sind durchaus komplex. Deswegen ist es auch gut, wenn wir uns die Zeit nehmen, in einem solchen Verfahren darüber zu reden. Aber wir sollten nicht Probleme konstruieren, wo es keine gibt. Gestatten Sie mir zum Schluss noch eine Bemerkung. Ich bin etwas verwundert, weil ich mir von Ihrem Antrag in dem Bereich Lösungen erhofft hatte. Tatsächlich haben Sie aber keine Idee, wie man das Problem löst. Sie umschreiben es vage – wir haben schon gehört, dass es gar nicht existiert –, und dann soll ausgerechnet die Bundesregierung eine Lösung für Ihr Problem anbieten. Ich erinnere Sie daran, dass das doch die Bundesregierung ist, die Sie eigentlich nicht haben wollen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf der Drucksache 19/828 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Alexander Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004798, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir blicken in diesen Tagen – das ist schon mehrfach gesagt worden – voller Entsetzen nach Syrien, auf die Angriffe in Ost-Ghuta, und stellen fest, wenn wir auf dieses Armageddon schauen, dass Europa völlig machtlos ist, irgendetwas zu tun, etwas zu verhindern oder zu verbessern. Die Frage, die wir uns stellen müssen – wir alle in diesem Parlament genauso wie in den anderen nationalen Parlamenten und im Europäischen Parlament –, ist: Muss das eigentlich sein? Muss Europa so machtlos auf eine solche Entwicklung in seiner Nachbarschaft blicken? Ich glaube, die Antwort darauf lautet Nein. Wenn Europa geschlossen agiert, dann können wir auch Einfluss nehmen. Gestern in der Debatte hier im Haus waren es hilflose Appelle an andere, die dafür sorgen sollten, dass sich die Lage verbessert. Wir selber als Europäer spielen keine Rolle. Ich glaube, das ist eine Situation, die wir ändern müssen. Wir können auch in schwierigen Fragen als Europäer gemeinsam etwas erreichen. Denken Sie nur an den Vertrag über die Beendigung des iranischen Nuklearprogramms oder an die Situation im Kosovo. Europa war da geeint, und deswegen war Europa auch erfolgreich. Die Stoßrichtung der Politik, auf europäischer Ebene mehr gemeinsam zu machen, wird im Übrigen von der breiten Bevölkerung getragen. Laut einer Umfrage von Allensbach –, so heißt es heute in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ –, wollen fast drei Viertel der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland, dass die Außenpolitik gemeinsam und europäisch gestaltet wird. Von der Bundesregierung kommen dazu allerdings eher Lippenbekenntnisse als konkrete Handlungen. Als der Europäische Auswärtige Dienst geschaffen wurde, war sein Ziel – so steht es im Vertrag –, die „consistency“ der europäischen Außenpolitik herbeizuführen. Das übersetzt man ins Deutsche mit Kohärenz; auch das versteht kein Mensch. Im Grunde geht es darum, dass wir eine Außenpolitik aus einem Guss wollen. Diese Außenpolitik aus einem Guss ist das Ziel. Aber was ist die Realität? Die Realität ist, dass auch die Bundesrepublik Deutschland ständig in Abstimmungstreffen nur mit den Franzosen, Amerikanern und Engländern zusammensitzt, ohne dass der Europäische Auswärtige Dienst hinzugezogen wird. Das ist ein Direktoriumsansatz, der dort verfolgt wird; es ist kein europäischer Ansatz. Es ist zwar richtig, sich im kleinen Kreis zu treffen; man muss das manchmal tun. Aber dann muss der Europäische Auswärtige Dienst hinzugezogen werden, auch weil wir in der Europäischen Union viele kleine Mitgliedstaaten haben, die über den Europäischen Auswärtigen Dienst gehört werden können. Wer glaubt, dass kleine Mitgliedstaaten nichts beizutragen hätten, irrt. Ich erinnere an den Harmel-Bericht – Harmel war Belgier – zur Lage der NATO oder an die Vermittlungsbemühungen des Finnen Martti Ahtisaari. Zurzeit ist ein Portugiese Generalsekretär der Vereinten Nationen. Die kleinen Nationen spielen also eine wichtige Rolle. Binden wir sie ein! Hören wir mit diesem Direktoriumsansatz auf! ({0}) Man kann einige Maßnahmen praktischer Art ergreifen, um den Europäischen Auswärtigen Dienst zu stärken. Es ist völlig ausgeschlossen, dass die europäische „Außenministerin“ Mogherini ständig überall ist. Bisher verhindern die Mitgliedstaaten aber das, was sie national als selbstverständlich nehmen, nämlich politische Stellvertretung. Wir haben Staatsminister im Auswärtigen Amt. Ich vermute, einer sitzt hier auf der Regierungsbank. – Nein, das Auswärtige Amt ist gar nicht vertreten. Das ist etwas beunruhigend angesichts dieser Debatte. Das zeigt vielleicht auch den Stellenwert, den das Auswärtige Amt diesem Thema beimisst. Ich finde das ausgesprochen beunruhigend. ({1}) Immerhin hat das Auswärtige Amt Staatsminister. Solche müssen wir auch der Hohen Vertreterin zur Seite stellen. Wir müssen zu mehr Mehrheitsentscheidungen kommen, Blockademöglichkeiten aufbrechen und die Finanzstrukturen vereinfachen. Wir brauchen – das ist das große Ziel – eine gemeinsame strategische Kultur in der Europäischen Union; so hat es Präsident Macron in seiner Rede genannt. Richtig ist: Noch haben wir eine gemeinsame strategische Kultur nicht auf allen Feldern. Aber wir müssen sie gemeinsam entwickeln. Es kann nicht sein, dass sich Europa immer auf andere verlässt, wenn es darum geht, unsere Ideale zu respektieren, unsere Werte zu schützen und unsere Interessen zu verteidigen. Meine Damen und Herren, stärken wir die europäische Außenpolitik! Machen wir aus dem Europäischen Auswärtigen Dienst das, wofür er gedacht ist, nämlich die zentrale Plattform, auf der wir eine gemeinsame Politik für alle Europäerinnen und Europäer entwickeln. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Thorsten Frei, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Thorsten Frei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004276, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Acht Jahre Lissabonner Vertrag, acht Jahre Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik in Europa, das ist in der Tat eine gute Gelegenheit, eine Bestandsaufnahme vorzunehmen, ob wir die vorhandenen Instrumentarien nachspitzen müssen, um den Herausforderungen der Zeit gerecht zu werden. Vor diesem Hintergrund geht der Antrag der FDP-Fraktion grundsätzlich in die richtige Richtung. Schauen wir einmal, was wir in die Waagschale werfen können. Auf der Habenseite steht mit Sicherheit, dass wir gute EU-Trainingsmissionen auf dem afrikanischen Kontinent haben und dass wir gerade in den letzten Monaten im Bereich der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit wesentliche Fortschritte erzielt haben. Aber es fällt auch ins Gewicht – Graf Lambsdorff, Sie haben die Situation beschrieben –, dass wir rund um Europa mit einer Situation konfrontiert sind, in der die Welt in der Tat aus den Fugen geraten zu sein scheint, in der die liberale Weltordnung, die wir mit geprägt haben, infrage gestellt wird, in der wir uns mit einem Russland auseinandersetzen müssen, das die Souveränität der Ukraine beeinträchtigt, und in der wir uns mit autokratischen Staaten wie der Türkei oder China mit seiner klaren geostrategischen Agenda sowie mit neuen Konfliktfeldern wie dem Cyberspace befassen müssen. Angesichts dessen stellt sich die Frage, ob wir unsere Instrumente besser anpassen müssen. Wenn wir uns mit der Realität befassen, stellen wir fest: Wir kommen bei den wesentlichen außenpolitischen Themen nicht vor, und zwar nicht irgendwo auf der Welt, sondern in unmittelbarer Nachbarschaft Europas, beispielsweise in Nordafrika oder – darüber haben wir gestern diskutiert – im Nahen und Mittleren Osten. Teilweise gibt es Herausforderungen sogar in Europa. Ich erinnere beispielsweise an den westlichen Balkan, auf dem nicht nur die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten, sondern auch Türken, Araber, Chinesen und Russen mit jeweils eigener Agenda aktiv sind, die teilweise versuchen, einen Spaltpilz zwischen die europäischen Staaten zu treiben. Wir haben also ein eigenes Interesse daran, uns stärker zu engagieren und zu einer gemeinsamen Stimme zu finden. ({0}) Es geht um unsere Werte, unseren Wohlstand und unsere Sicherheit. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass wir das gemeinsam besser und effektiver verteidigen können als getrennt. ({1}) Dafür gibt es jetzt Instrumentarien. Ich würde es für gut halten, wenn wir in bestimmten Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik ein Stück weit von der Einstimmigkeit weggehen könnten, wenn es gelingen würde, gemeinsame Haltungen zu den Themen und Herausforderungen zu finden. Jetzt gilt es, den richtigen Weg dahin zu finden. Ich glaube, wir sind uns darin einig, dass Vertragsänderungen – genau das wäre notwendig – mit ganz besonderen Schwierigkeiten verbunden wären. Wir sind im Rahmen der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit im Bereich Sicherheit und Verteidigung gut vorangekommen. Warum nutzen wir Instrumentarien, die wir dafür gefunden haben, nicht auch stärker zur Bewältigung der Herausforderungen in der Außen- und Sicherheitspolitik, damit wir es schaffen, Haltungen zu entwickeln, damit wir es tatsächlich auch schaffen, Konzepte entgegenzusetzen? Es ist in der Tat mindestens belämmert, wenn wir wie am gestrigen Abend hören, wie von „Schande“ gesprochen wird, wenn wir von europäischen, von deutschen, von britischen, von französischen Politikern Konjunktive hören, wir aber letztlich dem, was in Ost-Ghuta passiert, nichts, aber auch gar nichts entgegenzusetzen haben. ({2}) Es ist gut, wenn das Auswärtige Amt sagt: Wir geben 10 Millionen Euro extra für die humanitäre Hilfe in Syrien. Aber das allein ist natürlich noch keine effektive Außenpolitik. Wir werden das nur gemeinsam schaffen, und wir müssen es auch schaffen, weil die Konsequenzen dieser Politik nicht die Russen tragen, nicht die Amerikaner und auch sonst niemand – diese Konsequenzen tragen wir. Wir haben mit islamistischen Terror in Europa zu kämpfen. Wir haben mit ungeordneter Migration zu kämpfen. Deshalb müssen wir auch Teil der Lösung sein. Dafür müssen wir die Voraussetzungen schaffen. ({3}) Ein Punkt war die Frage der Einstimmigkeit oder der qualifizierten Mehrheit. Wenn wir zu Haltungen gekommen sind, müssen wir diese letztlich auch durchsetzen können, und das muss glaubwürdig passieren. Deshalb müssen wir natürlich auch berücksichtigen, dass es – ich will die Worte des Bundesaußenministers vom Wochenende verwenden – in der Tat schwierig ist, in einer Welt von Fleischfressern als einziger Vegetarier unterwegs zu sein. Auch deswegen müssen wir unsere militärischen Möglichkeiten besser ordnen. Wir brauchen mehr Zusammenarbeit und mehr Kooperation, weil es nicht in Ordnung ist, dass wir nur 15 Prozent der militärischen Leistungsfähigkeit Amerikas erreichen. Aber es ist eben auch richtig, dass wir Europäer zusammen weniger als die Hälfte für Sicherheit und Verteidigung ausgeben als die Amerikaner. ({4}) Insofern ist Zusammenarbeit wichtig; aber es reicht nicht aus, Magermilch und Magermilch zusammenzuschütten. Dabei kommt am Ende keine Fettmilch heraus. Dafür muss man mehr tun, da muss man mehr hineinstecken, und das sollten wir auch machen. ({5}) Ich sage das im Übrigen auch vor folgendem Hintergrund: Unsere Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee. Ich nehme sehr genau zur Kenntnis, was wir in Koalitionsverträge schreiben; das gilt übrigens auch für das, was zwischen den Zeilen steht. Ich nehme auch zur Kenntnis, was der Bundesaußenminister an privaten Äußerungen macht. Aber noch einmal: Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee. Es liegt in unserer Verantwortung, dass wir diejenigen, die wir in Einsätze schicken, um unsere Sicherheit und Freiheit wo auch immer zu verteidigen, angemessen ausstatten und ausrüsten. ({6}) Deshalb liegt es auch in unserer Verantwortung, dafür die Voraussetzungen zu schaffen. Das sollten wir ernst nehmen. Dann werden wir auch als Partner für eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik in Europa, die effektiv ist, ernst genommen. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist der Kollege Johannes Schraps für die SPD-Fraktion. ({0})

Johannes Schraps (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004881, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Zunächst auch mein Dank an die FDP-Fraktion dafür, dass sie einen wirklich proeuropäischen Antrag vorgelegt hat. Ich glaube, dass wir eine starke und handlungsfähige Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik in der EU brauchen. Ich denke, das ist für die allermeisten hier im Haus vollkommen unstrittig. Die Umsetzung der globalen Strategie für die Außen- und Sicherheitspolitik der EU halte ich deshalb für sehr wichtig. Ein wichtiger Schritt für eine engere Zusammenarbeit – das ist gerade schon angesprochen worden – ist mit PESCO bereits gelungen. Ein weiterer muss aus meiner Sicht die Stärkung des Europäischen Auswärtigen Dienstes und vor allen Dingen der Krisenprävention sein. ({0}) Deshalb freue ich mich, den vorliegenden Antrag nach der Überweisung an den Ausschuss im Ausschuss zu diskutieren. Ich denke dabei beispielsweise an den Punkt der „Zivilen Permanenten Zusammenarbeit“. Da lohnt eine vertiefte Behandlung. Es war schließlich immer ein zentrales Anliegen sozialdemokratischer Außenpolitik, den Ausbau der zivilen Dimensionen der GASP weiter zu fördern. Das sollte auch zukünftig die Priorität Deutschlands in der europäischen Außenpolitik sein. ({1}) Doch wo Lob ist, liebe FDP-Kolleginnen und Kollegen, da ist auch Kritik. Beim Lesen des Antrags hatte ich ein paar Fragezeichen auf der Stirn, gerade als es um die finanzielle Basis Ihrer Forderungen ging. Die Überschrift Ihrer Nummer 7 lautet: „Für eine angemessene Mittelausstattung der GASP“. Da fordern Sie, dass die Mittel für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik als Folge des Brexit nicht gekürzt werden sollen. Das ist grundsätzlich richtig und zu befürworten. Gleichzeitig hat die gestrige Debatte zum mehrjährigen Finanzrahmen bei der Regierungserklärung leider erneut gezeigt, dass Sie sich gegen jede Erhöhung der deutschen EU-Beiträge aussprechen. ({2}) Wir müssen uns nach meinem Dafürhalten aber ehrlich machen und sagen, woher die Mittel dann kommen sollen. ({3}) Man kann nicht einerseits fordern, dass europäisch immer mehr Aufgaben übernommen werden sollen, und andererseits darauf bestehen, dass das immer mit demselben Budget passiert, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({4}) Dabei ist die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik unterfinanziert. Das hat zuletzt auch die Stiftung Wissenschaft und Politik in einer Studie wieder anschaulich ausgeführt. Sie sprechen in Ihrem Antrag von einer „angemessenen Mittelausstattung der GASP“. Sagen wir es doch ganz konkret: Die Rubrik 4 im mehrjährigen Finanzrahmen mit dem Titel „Die EU als globaler Akteur“ muss finanziell aufgestockt werden.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lambsdorff?

Johannes Schraps (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004881, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte.

Alexander Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004798, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Herr Kollege, ich freue mich erst einmal über das Lob für den Antrag. Was den Kritikpunkt angeht, will ich Sie fragen, ob Sie gestern genau gehört haben, was unser Fraktionsvorsitzender zum mehrjährigen Finanzrahmen ausgeführt hat. Er hat ganz klar gesagt: Wir brauchen erst die Aufgabendefinition. Die Freien Demokraten werden sich hier im Deutschen Bundestag nicht gegen eine Aufstockung von Mitteln für die Europäische Union wehren, wenn die Aufgaben, die dort definiert sind, wichtig und richtig sind. Das ist nach unserer Auffassung in der GASP so. Was er auch gesagt hat, ist: Es ist nicht richtig, pauschal große Finanzierungszusagen zu machen, bevor die Gespräche überhaupt beginnen und die Aufgabenkritik anläuft. – Meine Frage ist daher: Haben Sie das mitbekommen?

Johannes Schraps (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004881, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Selbstverständlich habe ich gestern hier im Plenum gesessen und habe auch Ihrem Fraktionsvorsitzenden zugehört. Ich glaube, im Rahmen der sogenannten Jamaika-Sondierungen ist deutlich geworden, dass Europa ein wichtiger Punkt war, an dem es dann gescheitert ist. Wenn da ein Sinneswandel in Ihrer Fraktion stattgefunden hat, dann begrüße ich das ausdrücklich und finde es prima, dass Sie das hier noch einmal betonen. ({0}) Eines muss man ganz klar sagen – damit komme ich zurück zur finanziellen Aufstockung des Bereichs „Die EU als globaler Akteur“ –: Wenn wir bereit sind, mehr in die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu investieren, dann können wir auch von ihrer Stärkung reden, und dann, liebe Kolleginnen und Kollegen, würden wir Federica Mogherini auch ganz automatisch den richtigen Instrumentenkoffer an die Hand geben, damit sie ihre ohnehin gute Arbeit in Zukunft noch effektiver fortsetzen kann. ({1}) Das wäre ganz wichtig; denn so, wie sich die globale Sicherheitslage heute darstellt, müssen wir erkennen: Ein starkes Europa ist das, was die Welt und was übrigens auch wir in Deutschland unbedingt brauchen. Eine starke Position Europas in der Weltpolitik ist im Prinzip eine notwendige Voraussetzung, um all die Herausforderungen wirksam anzugehen, die in unserer globalisierten Welt schlicht kein einzelnes Land alleine bewältigen kann – der Kollege Frei hat es gerade auch schon angesprochen –: Klimawandel, Migrationsbewegungen, Kampf gegen Terrorismus, Ressourcenzugang, Digitalisierung – alles grenzüberschreitende Fragen, die auch wir Deutschen nicht alleine lösen werden. Und um diese Herausforderungen gemeinsam anzugehen, zahlen wir momentan gerade einmal ein einziges Prozent der europäischen Jahreswirtschaftsleistung. Und um das hier ganz deutlich zu sagen: Durch Europa kommt ein Vielfaches davon auch immer direkt zu uns zurück. ({2}) Abschließend – Herr Präsident, damit komme ich zum Ende –: Die EU-Regierungschefs sitzen gerade zusammen und sprechen zum ersten Mal informell über den zukünftigen mehrjährigen Finanzrahmen. Durch den Austritt der Briten und die vielen zusätzlichen Aufgaben, die die EU auch im außenpolitischen Bereich zusätzlich übernommen hat und übernehmen soll – das fordern Sie ja auch zu Recht –, wird der EU-Haushalt reformiert werden müssen; wir kommen gar nicht darum herum. Ich freue mich deshalb, dass wir gemeinsam mit der CDU/CSU im Koalitionsvertrag ganz klar festgeschrieben haben, dass wir bereit sind, mehr Geld in den EU-Haushalt einzuzahlen. Denn das muss man auch ganz deutlich sagen: 1,1 Prozent oder von mir aus sogar mehr sind ein fairer Preis dafür, dass wir in Europa gemeinsam stark sind. Vielen herzlichen Dank. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Zu seiner ersten Rede im Deutschen Bundestag erteile ich das Wort jetzt dem Kollegen Siegbert Droese von der AfD-Fraktion. ({0})

Siegbert Droese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004704, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen! Liebe Gäste auf den Tribünen! Wir finden es bemerkenswert, dass ausgerechnet die FDP dieses Thema eingebracht hat. Keine Angst, Herr Graf Lambsdorff, ich lobe Ihren Antrag jetzt nicht. Die FDP hat unbestritten einige deutsche Außenminister von tadellosem Ruf hervorgebracht. Man denke nur an den großen Hans-Dietrich Genscher. Da ist es schon erstaunlich, dass gerade die FDP mit ihrem Antrag sich ihrer früheren Kernkompetenz entledigt. Der Antrag der entkernten FDP enthält bereits in der Überschrift Aspekte, die zu hinterfragen sind. Der Antrag suggeriert mit der Forderung nach Verbesserung, dass es bereits eine gemeinsame europäische Außenpolitik gebe, die es nur zu verbessern gelte. Vor wenigen Wochen hatten wir hier in diesem Hohen Haus den Festakt zum Élysée-Vertrag. Darin wird das Europa der Vaterländer beschworen – eine gute Tradition, an der meine Fraktion gedenkt festzuhalten. Meine Damen und Herren, Einhalt in Vielfalt – was kann es Besseres geben, eben auch in der europäischen Außenpolitik? ({0}) Die FDP beschwört in ihrem Antrag sehr idealistisch ein Europa mit einer Stimme in der Außenpolitik, um dann am Ende unter Punkt 5 ganz pragmatisch zu fordern: Wir brauchen mehr Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit. – Meine Damen und Herren von der FDP, was denn nun? Europa mit einer Stimme oder mit qualifizierter Mehrheit? ({1}) Die früheren Liberalen wollen eine umfassende Stärkung des Hohen Vertreters. Frau Mogherini, die kaum jemand kennt, ({2}) soll vor der UNO sprechen. Sie soll nach Meinung der FDP für alle Bereiche der europäischen Außenpolitik zuständig sein, und sie soll – so schreiben Sie – den größtmöglichen „diplomatischen Freiraum“ bekommen. Damit das Ganze nicht so anstrengend wird, schlägt die FDP vor, einen oder mehrere Stellvertreter zu schaffen, also noch mehr Posten an der Spitze der EU. Frau Mogherini – ich sehe das schon vor meinem geistigen Auge – und Frentz als Speerspitze der Weltmacht EU. Köstlich! ({3}) Die FDP fordert auch mehr Geld, so für ein Zivilcorps von Reservisten für Krisenherde. Länder, die dafür kein Geld haben, bekommen das Geld von anderen. Man kann sich als deutscher Steuerzahler schon ausmalen, wer das bezahlen wird. Die FDP stand früher einmal für weniger Ausgaben des Staates. Kurios ist auch die Forderung nach einer gemeinsamen Berichterstattung, also noch mehr Papiere, noch mehr Verwaltung. Die FDP stand früher einmal für weniger Bürokratie. ({4}) Kurzum: Ihr Antrag ist eine Enttäuschung auf ganzer Linie. Wenn Europa – Zitat – „‚weltpolitikfähig‘“ ‚werden soll, dann gewiss nicht mit einem Hohen Vertreter. Diese EU muss aus unserer Sicht erst einmal ihre elementaren Hausaufgaben machen, wie beispielweise die Sicherung der Außengrenzen. ({5}) Meine verehrten Kollegen der FDP, machen Sie sich doch ehrlich und erklären den Deutschen, dass Sie schon längst in den Chor, der das hohe Lied von den Vereinigten Staaten von Europa trällert, eingestimmt haben. ({6}) Die AfD steht für ein Europa der Vaterländer von freien souveränen Staaten und erteilt dem Antrag und der Idee einer zentralistischen europäischen Außenpolitik, die zudem eher in Paris statt hier in Berlin festgelegt wird, eine Abfuhr. ({7}) Früher sprach man vom gemeinsamen europäischen Haus vom Atlantik bis zum Ural. Die AfD würde begrüßen, wenn es gemeinsame außenpolitische Initiativen gäbe, die beispielsweise zur Abschaffung der Sanktionen gegen Russland führen würden, oder wenn bereits gemeinsam beschlossene Verträge eingehalten würden, wie beispielsweise Dublin II. ({8}) Für uns stellt sich auch eine wichtige Frage: Was sagen eigentlich die Bürger, die Europäer dazu? Wollen sie ein Einheitseuropa oder ein Europa der Nationen und Regionen? Wir glauben: Letzteres. Verehrte Kollegen, spüren Sie nicht längst auch den Wind des Wandels in Europa? Hat Ihnen denn der Brexit als Schuss vor den Bug nicht ausgereicht? Oder haben Sie gar diesen Schuss gar nicht gehört? ({9}) Meine Damen und Herren, die AfD ist für ein starkes Europa der Nationen, für ein sicheres Europa, für ein selbstbewusstes Europa. Wir brauchen kein Europa unter der Dominanz von Präsident Macron, kein Europa, das überzentralistisch ist, und vor allem kein Europa, das sich viel zu wenig um die Belange seiner Bürger kümmert. ({10}) Ich kann mit der Überweisung an den Ausschuss recht gut leben. Dieser Antrag atmet allerdings nicht den Geist des freien Europas. Vielmehr schlägt mir der Atem der längst untergegangenen Sowjetunion entgegen. ({11}) Ich empfehle meiner AfD-Fraktion daher, diesen Antrag mit Bausch und Bogen abzulehnen. Ich danke Ihnen sehr für Ihre Aufmerksamkeit. ({12})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner für die Fraktion Die Linke ist der Kollege Dr. Diether Dehm. ({0})

Dr. Jörg Diether Dehm-Desoi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000365, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Was verbirgt sich hinter dem Wortgetöse von der „Weltpolitikfähigkeit“ im Antrag der FDP? Und was meinte Juncker auf der Münchener „Unsicherheitskonferenz“ damit? Im Grunde nichts anderes als ein militärisches Kerneuropa, das nicht mehr an das lästige Prinzip der Einstimmigkeit gebunden ist, sondern koordinierter aufrüstet und leichter bombardiert. Trumps Forderung, den NATO-Etat auf 2 Prozent der Wirtschaftsleistung zu erhöhen – das bedeutet für Deutschland eine Verdoppelung auf fast 70 Milliarden Euro –, macht nicht weltpolitikfähig, sondern weltkriegspolitikfähig. ({0}) Im Wahlkampf hatte Herr Lindner kurzzeitig das Ende der Sanktionen und des Handelskriegs gegen Russland gefordert, weil Petrograd und Moskau genauso europäische Städte sind, wie London und Berlin. ({1}) In Ihrem FDP-Antrag steht jetzt überwiegend nur noch: EU-Kriegsfähigkeit, GASP, PESCO und EAD. Aber das ist ebenso wenig politikfähig wie die Rüstungsexporte an die Türkei und an Saudi-Arabien ({2}) oder der jüngste Vorschlag des EU-Superstars Emmanuel Macron, einmal eben Syrien zu bombardieren. Das ist keine Fähigkeit, sondern – mit einem Wort Willy Brandts – die größte geistige Unfähigkeit: die Ultima Irratio. ({3}) Über 900 Milliarden Euro Militäretats der NATO stehen 60 Milliarden Euro Russlands gegenüber. Und Russland senkt noch weiter. Wenn andere Parteien wegen Brexit am Sozialen zu sparen empfehlen, an der Agrarpolitik und den Kohäsionsfonds, dann wollen wir an der Hochrüstung sparen. ({4}) Damit nicht mehr weiter bei unseren Krankenhäusern und der Hygiene gekürzt wird. Jedes Jahr sterben in deutschen Einrichtungen im Gesundheitsbereich 40 000 Menschen an multiresistenten Bakterien. Das entspricht einer Stadt. Ein Krieg gegen diese Keime und für höhere Hygiene – das wäre ein Krieg, den wir gewinnen könnten. ({5}) Im neuen Heft der Zeitschrift „Ossietzky“ wird die wichtigste Publikation der westlichen Kapitaleliten zitiert. „The Economist“ vom 27. Januar 2018 titelt – erstmals nicht ökonomisch, sondern –: „The next War“, und schreibt, dass seit dem Zweiten Weltkrieg jetzt erstmals wieder die Gefahr – ich zitiere – eines größeren Konflikts zwischen den großen Mächten existiert. „The Economist“ zitiert die jüngst veröffentlichte Militärstrategie des Pentagon, in der China und Russland noch vor dem Dschihadismus als größte Bedrohungen für die USA bezeichnet werden. Die „Economist“-Analysten plädieren für die mentale, mediale und materielle Vorbereitung auf diesen Krieg mittels beschleunigter Aufrüstungsinvestitionen des Westens in elektronisch roboterisierte Militärbauteile, künstliche Intelligenz und Richtenergiewaffen. Wir halten es da eher mit António Guterres, der kürzlich gefordert hat, alles Erdenkliche gegen diesen neuen Krieg zu tun. ({6}) Vor 75 Jahren, meine sehr verehrten Damen und Herren, hat die Rote Armee in Stalingrad die große Schlacht zur Befreiung der Welt vom Faschismus geschlagen. Auch wegen dieses Siegs können wir heute hier frei reden und streiten. Er hat 27 Millionen sowjetischen Menschen das Leben gekostet. Sollten wir nicht endlich diesen antieuropäischen Handelskrieg, diese Sanktionen und die gehässige Propaganda gegen Russland beenden und die NATO von russischen Grenzen abziehen? Wir sollten Russland endlich die Freundschaftshand hinstrecken. ({7}) Die Welt braucht keine weltkriegspolitikfähige EU und nicht solche Anträge der FDP. Die Welt braucht eine große Initiative und Bewegung für Frieden und Abrüstung. ({8})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für Bündnis 90/Die Grünen spricht nun Kollegin Dr. Franziska Brantner. ({0})

Dr. Franziska Brantner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004255, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Droese, ich musste wirklich lachen, als Sie gesagt haben, dass Herr Lambsdorff der Stellvertreter der untergegangenen Sowjetunion ist. Ich glaube, da kennen Sie ihn wirklich noch nicht. ({0}) Außerdem haben Sie behauptet, Sie glauben, dass die Mehrheit der Europäer gegen eine stärkere Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik ist. Ihr Glaube mag ja sein. Aber wir reden hier über Fakten. Zum Glück gibt es Umfragen, die ganz eindeutig besagen, dass die große Mehrheit, nämlich über 70 Prozent, der Europäer in allen europäischen Mitgliedsländern mehr europäische Außen- und Sicherheitspolitik will. Vielleicht schauen Sie sich die einfach einmal an. ({1}) Wir leben in einer Welt des Umbruchs; das haben die Vorrednerinnen und Vorredner schon gesagt. Katastrophen über Katastrophen, Krisen über Krisen: Syrien, Myanmar, Kongo, Libyen, Ukraine. Man kann sie gar nicht alle aufzählen. Deutschland kann da alleine nicht viel ausrichten, auch Frankreich nicht – auch nicht anrichten. Wir haben mittlerweile einfach eine begrenzte Souveränität. Wir haben deswegen als Europäer die Wahl, entweder Spielball der Putins, der Trumps, der Erdogans zu sein und die Konsequenzen auszuhalten, wenn das Völkerrecht komplett schmilzt, oder gemeinsam wieder Souveränität zu erlangen, um als gestaltender Akteur in der Welt überhaupt wieder eine Rolle zu spielen. Wenn wir diese Handlungsmacht wollen, dann brauchen wir auch institutionelle Veränderungen. Die FDP hat in ihrem Antrag richtige Vorschläge gemacht: institutionelle Verbesserungen mit Blick auf den Europäischen Auswärtigen Dienst, politische Stellvertretungen – wobei Helga Schmid das schon sehr gut macht; aber es wäre gut verankert –, eine Stärkung der EU bei den Vereinten Nationen – übrigens könnte Deutschland seinen nicht ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat ja dafür nutzen, einmal auszuprobieren, wie ein europäisches Modell aussehen könnte – ({2}) und auch die Frage der Entscheidung mit qualifizierter Mehrheit. Das Geld wurde schon angesprochen. Herr ­Lambsdorff, es freut mich, zu hören, wenn Sie sagen, Sie würden sich nicht dagegen wehren, dass es mehr Geld auf europäischer Ebene gibt. Das ist noch nicht das Gleiche, wie dies zu fordern; aber vor dem Hintergrund, dass Ihr Kollege Schäffler heute Morgen im Deutschlandfunk klipp und klar gesagt hat, dass es aus Deutschland nicht einen Cent mehr geben wird für das, was durch den Brexit wegfallen wird, ({3}) wünsche ich mir, dass sich in Ihrer Partei die ­Lambsdorffs durchsetzen und nicht die Schäfflers. ({4}) Wir unterstützen auch Ihre Forderung nach einer „Zivilen Permanenten Zusammenarbeit“. Sie sagen richtigerweise: Wir brauchen permanente Reserven für Polizeibeamte und auch das Personal im Justizbereich. – Wenn wir ehrlich sind, wissen wir: Natürlich ist das Militärische die eine Seite; aber wir kommen doch auf der anderen Seite ohne das Personal überhaupt nicht weiter beim Staatsaufbau, bei den Hilfen für einen langfristigen Frieden. Da brauchen wir auch auf europäischer Ebene dringend Verbesserungen. ({5}) Wir wissen aber auch alle, dass institutionelle Änderungen nicht sehr weit reichen. Am Ende kommt es auf den politischen Willen an. Das sehen wir in Syrien. Was die Türkei gerade macht, wird Konsequenzen haben, die wir, glaube ich, alle noch gar nicht bedenken können. Das eine ist, dass es eine Eskalation zwischen zwei NATO-Partnern gibt, dass andere, dass es einen Völkerrechtsbruch gibt und die Europäische Union darauf überhaupt keine gemeinsame Antwort gefunden hat. Was Ost-Ghuta angeht, möchte ich noch einmal gerne daran erinnern, dass gestern vor vier Jahren, am 22. Februar 2014, der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in Resolution 2139 Folgendes beschlossen hat: Der Sicherheitsrat … fordert alle Parteien auf, die Belagerung bevölkerter Gebiete sofort zu beenden, einschließlich … Ost-Ghouta …, und verlangt, dass alle Parteien die Erbringung humanitärer Hilfe, einschließlich medizinischer Hilfe, gestatten … Vier Jahre später: Ost-Ghuta ist immer noch belagert und wird gerade bombardiert, Schulen, Krankenhäuser und Bunker brechend. Das ist die Situation nach vier Jahren. Russland hat selber zugestimmt, hat nichts dafür getan. Es ist beschämend, dass wir dem nichts entgegenzuhalten haben. ({6}) Mich macht es wütend, dass in dieser Situation der noch amtierende Außenminister gegenüber Putin Sanktionserleichterungen in Aussicht stellt und dass auch Sie hier klatschen, wenn es heißt, wir müssen Russland sozusagen aus der Verantwortung lassen. Was wir stattdessen brauchten, sind personenbezogene Sanktionen gegen die Verantwortlichen für die aktuellen Bombardierungen auf Ost-Ghuta. Das ist es, was wir brauchten. ({7}) Erlauben Sie mir, am Ende zu sagen, dass wir schon nach Srebrenica gesagt haben: Die Europäische Union muss als Akteur selbst Verantwortung dafür übernehmen können. Wir sind jetzt wieder in einer ähnlichen Situation. Wir können es immer noch nicht. Ich hoffe einfach sehr, dass wir nicht immer wieder in solche Situationen kommen, dass wir immer wieder ermahnen und sich trotzdem nichts ändert. Von daher werden wir Ihren Antrag im Ausschuss sehr positiv begleiten. ({8})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der Kollege Dr. Volker Ullrich spricht für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Volker Ullrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004427, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Historisch gesehen war eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik eines der Gründungsmotive Europas. Zwar ist die europäische Verteidigungsgemeinschaft in den 15 Jahren gescheitert, – vielleicht war damals die Zeit noch nicht reif für ein gemeinsames Vorgehen im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik; deswegen hat sich Europa erst einmal auf die wirtschaftliche Integration konzentriert. –, aber die Ereignisse nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und auch die Vorkommnisse auf dem Balkan, bei denen Europa viel zu lange tatenlos war, haben dazu geführt, das Bewusstsein zu schärfen, dass Europa eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik benötigt, auch zur Verteidigung der oftmals gepriesenen Europäischen Union. Aus diesem Grund ist im Jahr 2009 berechtigterweise im Vertrag von Lissabon die Position eines sogenannten europäischen Außenministers geschaffen worden, übrigens von Anfang an mit hohen Befugnissen ausgestattet. Ich erinnere daran, dass die jetzige Kommissarin für Außenpolitik auch gleichzeitig den Europäischen Rat der Außenminister leitet und damit als einziger Kommissar einen sogenannten doppelten Hut aufhat. Ich erinnere auch daran, dass es mit dem gemeinsamen Europäischen Auswärtigen Dienst seit mittlerweile knapp zehn Jahren Botschaften Europas in der Welt gibt und damit die europäische Flagge in vielen Hauptstädten der Welt weht und damit ein Zeichen unserer Integrationsbereitschaft setzt, aber auch unserer gemeinsamen Werte. Aber das darf uns nicht ruhen lassen, sondern wir müssen diesen Weg weitergehen. Die außenpolitischen Herausforderungen, vor denen wir in Europa stehen, sind groß. Es macht schon ein bisschen wütend, wenn ich sowohl von der linken als auch von der rechten Seite solche Einlassungen höre. Kollege Droese, Sie sagen, Europa sei ein Europa der Vaterländer. Gleichzeitig sprechen Sie den Élysée-Vertrag an. Aber Sie sind als AfD-Fraktion nicht bereit, am 55. Jahrestag mit nach Paris zu kommen. Das war ein antieuropäisches, ein anti-deutsch-französisches Zeichen. Das muss ich Ihnen heute noch einmal klar und deutlich sagen. ({0}) Meine Kollegen von der Linkspartei, Sie sprechen hier von einem Handelskrieg Europas gegen Russland. Ich will noch einmal deutlich machen, dass das völlig falsch ist. Es handelt sich hier um eine russische Aggression auf der Krim, um den Bruch des Völkerrechts und gleichzeitig auch um einen asymmetrischen Krieg in der Ostukraine. Darauf hat Europa mit einer einzigen Stimme geantwortet, indem die Sanktionen gegenüber Russland von Europa einstimmig beschlossen worden sind. ({1}) Das war ein klares und gutes Zeichen gemeinsamen europäischen Handelns. Das bitte ich Sie zur Kenntnis zu nehmen. ({2}) Diese Sanktionen können übrigens aufgehoben werden, wenn das Abkommen von Minsk umgesetzt wird. Es liegt auch in der Hand Russlands, diesen Zustand zu beenden und zur Geltung des Völkerrechts zurückzukehren. ({3}) Da hat Europa eine große Rolle zu spielen, und da wird Europa nach wie vor nicht lockerlassen. ({4}) Über die inhaltlichen Themen, meine Damen und Herren, werden wir im Ausschuss diskutieren. Wir müssen darüber sprechen, wie wir die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik im mehrjährigen Finanzrahmen mit Mitteln unterlegen können, wie wir die Stellung der Kommissarin weiter stärken können. ({5}) Denn eines ist deutlich: Die Welt wird irgendwann mal nicht auf Europa warten. ({6}) Wenn wir unsere Interessen, unsere Werte und unsere gemeinsamen Überzeugungen in der Welt stark vertreten sehen wollen, dann müssen wir in vielen Bereichen mit einer Stimme sprechen. Darauf kommt es an, und dafür werden wir uns einsetzen. Vielen Dank. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Ich erteile der Kollegin Dr. Frauke Petry das Wort.

Dr. Frauke Petry (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004851, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Lambsdorff, es wäre schön, wenn Europa so weit wäre, dass es einen Antrag wie Ihren verträgt. Sie geben dankenswerterweise zu, dass im Zusammenhang mit dem Brexit, Libyen und dem Syrien-Konflikt die Uneinigkeit, die wir aktuell in Europa spüren, ihren Ausdruck gefunden hat. Das ist in der Tat eine realistische Analyse. Es stimmt auch, dass viele Bürger sich ein starkes und einiges Europa wünschen. Wir machen hier aber keine Wünsch-dir-was-Politik, sondern hoffentlich Realpolitik. Dann müssen wir feststellen, dass Europa so uneinig ist wie nie. Was Bürger von Europa wollen, ist bürgernahe Politik, Sicherheit, Frieden, Verlässlichkeit und Wohlstand. Was Sie mit der Stärkung der Hohen Vertreterin fordern, ist in der Tat zuallererst mehr Geld. Es wäre dann schön gewesen, wenn Sie sich dafür starkgemacht hätten, dass weitere 27 Sitze im EU-Parlament nach dem Brexit wegfallen und die entsprechenden Mittel unter anderem dafür verwendet werden; aber sie sollen eben nicht eingespart werden. – Sie fordern damit, ob Sie es wollen oder nicht, am Ende auch mehr Bürokratie. Ich frage Sie: Wie sieht ein Europa aus, in dem Deutschland nicht mehr wie damals, zu Zeiten ­Schröders, Nein zum Irakkrieg sagen kann, während andere Ja sagen? Erklären Sie den Bürgern, dass Ihre Idee einer Stärkung der Hohen Vertreterin in der Tat heißt, die Uneinigkeit, die es in Demokratien nun einmal gibt, zuzudeckeln, indem Sie das zweitwichtigste Ressort der nationalen Politik vollständig nach Europa verlagern. Wie schief es schon gegangen ist, mehr Kompetenzen an Europa abzugeben, wissen Sie selbst – in Fragen der europäischen Verfassung, die in Europa einhellig abgelehnt wurde. Und wohin hat es uns mit dem Euro gebracht? Ja, das wollen Sie nicht hören, aber das sollten Sie zur Kenntnis nehmen: Auch da hat die Uneinigkeit und die Inkohärenz in Europa zu mehr Verwerfungen und nicht zu mehr Einigkeit geführt. Der Außenminister vertritt den Regierungschef. Das heißt, aus jedem Land Europas guckt nach dem Regierungschef der Außenminister heraus. Wollen Sie allen Ernstes eine Kommunistin wie Federica Mogherini ({0}) zur zweiten Figur Europas machen, die aus diesem Europa herausguckt? Das kann doch als Liberaler echt nicht Ihr Ernst sein. Überdenken Sie diesen Antrag, liebe FDP-Fraktion. Dafür haben Sie Liberale und Konservative in diesem Land nicht gewählt. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die SPD-Fraktion spricht der Kollege Metin Hakverdi. ({0})

Metin Hakverdi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004289, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das ist ja hier halbe Folklore. – ({0}) Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß nicht, wie es Ihnen nach der Münchner Sicherheitskonferenz am letzten Wochenende geht. Ich und viele andere sind enttäuscht zurückgelassen worden, fast orientierungslos. Es findet – zu Recht – eine Debatte statt, ob die Sicherheitskonferenz überhaupt noch das geeignete Format ist, ob es überhaupt richtige Formate des Austausches in einer Welt gibt, in der Regierungschefs und Staatsoberhäupter entweder gar nicht kommen oder, wenn sie kommen, dann nicht, um sich miteinander auszutauschen, sondern um Fensterreden für ihre Wählerinnen und Wähler zu Hause halten. Was hat sich seit den Tagen der Wehrkundetagung verändert? Was bedeutet heute Diplomatie, Sicherheits- und Außenpolitik, in einer Zeit, in der es keine zwei Blöcke gibt, sondern ein völlig zerfasertes internationales Geflecht von einzelnen nationalen Interessen oder – noch schlimmer – von sogenannten Non-State Actors? Fukuyamas Ende der Geschichte findet nicht statt, der Siegeszug der liberalen Demokratien auch nicht. Im Gegenteil: Der Krieg in Syrien geht in sein siebtes Jahr. Diese Weltlage macht eine besser funktionierende und auf gemeinsamen Werten und Normen aufbauende europäische Außen- und Sicherheitspolitik unabdingbar. Mit dem Vertrag von Lissabon haben wir wichtige Weichenstellungen in den Strukturen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik vorgenommen. Diese betreffen ganz wesentlich auch die Rolle der Hohen Vertreterin. Auch deshalb hat die Hohe Vertreterin eine erfolgreiche Rolle gespielt bei den diplomatischen Bemühungen um eine Einigung im Atomstreit mit dem Iran. ({1}) Überhaupt: Das Atomabkommen mit dem Iran ist ein Beispiel gelungener europäischer Außenpolitik, und das trotz der Frustration nach dem letzten Wochenende in München. Aus diesem Erfolg müssen wir lernen, um auch andere Konflikte als Europäer gemeinsam einzudämmen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie das Beispiel Iran zeigt: Wir haben große Fortschritte in der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik erzielt. Doch wir dürfen nicht stehen bleiben. Wir müssen die Strukturen und Mechanismen in der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik an die sich ständig wandelnde internationale Lage anpassen. Wir müssen auch innerhalb der EU den inneren Zusammenhalt herstellen, indem wir uns der inneren Konflikte der Europäischen Union annehmen und diese lösen. Wir müssen außerdem ein Verständnis von den gemeinsamen Interessen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union entwickeln. Und schließlich, darauf aufbauend, benötigen wir dann auch eine gemeinsame Strategie und gemeinsame Instrumente, um diese Strategie auch durchzusetzen. Ein mögliches Instrument zur schnelleren Umsetzung außenpolitischer Beschlüsse – es ist hier bereits gesagt worden – könnte das Treffen von Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit in einigen Bereichen der europäischen Außenpolitik sein. Kommissionspräsident Juncker hat angekündigt, in Kürze hierzu Vorschläge zu unterbreiten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch Deutschland muss seinen Beitrag dazu leisten, dass wir zu einer stärkeren europäischen Außenpolitik kommen. Ich freue mich sehr, dass der Koalitionsvertrag zwischen der SPD und der Union den Zusammenhalt Europas ganz nach vorne stellt. Der Koalitionsvertrag beinhaltet auch, dass wir die außenpolitischen Entscheidungsmechanismen innerhalb der Europäischen Union fortentwickeln wollen. Wir wollen auch im zivilen Bereich eine vergleichbare Struktur zur militärischen Struktur, zur PESCO, schaffen. Wir überweisen den Antrag der FDP-Fraktion heute in den Ausschuss. Ich freue mich auf die Debatte über eine bessere europäische Außenpolitik. Wir müssen das Momentum nutzen und gemeinsam mit Frankreich und unseren europäischen Partnern mehr Europa wagen; denn nur vereint haben wir Europäer in der Welt ein Gewicht. Vielen Dank. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Matern von Marschall von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Matern Marschall von Bieberstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004349, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Manche von Ihnen werden gestern Abend das erschütternde Bild eines blutenden und schreienden Kindes gesehen haben, das aus den Trümmern des zerbombten Ost-Ghuta herausgetragen wird. Ich bin dankbar, dass insbesondere Deutschland in der Vergangenheit seinen humanitären Verpflichtungen, die die Europäische Union insgesamt hat, nachgekommen ist. Ich hoffe, dass wir das auch weiterhin tun. Ich muss sagen: Ich bin beschämt über den Antrag, den die AfD neulich eingereicht hat mit dem Ziel, Flüchtlinge in diese Hölle zurückzuschicken. ({0}) Ich will fragen, was wir als Europäische Union in Zukunft tun können, um nicht nur die Wunden zu heilen oder Symptome zu bekämpfen, sondern um die Ursachen zu bekämpfen. Deswegen bin ich Ihnen, Graf ­Lambsdorff, sehr dankbar, dass Sie den vorliegenden Antrag eingebracht haben, einen Antrag, der im Übrigen – darauf haben Sie hingewiesen – klarmacht, dass es zwar sehr viele bilaterale Aktivitäten der großen Staaten der Europäischen Union gibt, dass aber die kleinen Mitgliedstaaten sich sehr gerne in eine gemeinsame europäische Außenpolitik einbezogen fühlen würden. Dem trägt der vorliegende Antrag Rechnung. Insofern hoffe ich, dass wir ihn gemeinsam konstruktiv voranbringen. Ich habe mir den Bericht des Berichterstatters ­McAllister vom November letzten Jahres zu dieser Frage angesehen. Auch er kommt in einem wesentlichen Punkt zu der Überzeugung, nämlich dass wir die Entscheidungsprozesse in der Europäischen Union beschleunigen müssen. Das kann gegebenenfalls über Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit gelingen. Denn angesichts der rasanten Umwälzungen und Verwerfungen, denen diese Welt ausgesetzt ist, ist die Trägheit bei einstimmigen Entscheidungen eben nicht ausreichend, um in hinreichender Geschwindigkeit aus der Europäischen Union heraus auf die Probleme zu antworten. Ich glaube, dass neben der Entscheidungsgeschwindigkeit vor allen Dingen die Frage der Koordination eine nennenswerte Rolle spielt. Ich denke, dass die Hohe Vertreterin auch einen Beitrag dazu leisten kann, die Koordination, also die Abstimmung der Politik zwischen den Mitgliedstaaten voranzubringen. Da möchte ich nicht nur die Außen- und Sicherheitspolitik, sondern auch die Entwicklungspolitik einschließen. Wenn ich mir den Migrationsdruck aus Afrika, den wir zurzeit erleben, ansehe, dann denke ich, dass einzelne Länder besondere Fähigkeiten und Beziehungen zu einzelnen Staaten in Afrika haben und eine gut abgestimmte Kooperation der Mitgliedstaaten sinnvollerweise vorangebracht werden muss. Ich bin überzeugt davon, dass die Hohe Vertreterin in Zukunft einen guten Beitrag dazu leisten kann, dass die Zusammenarbeit der europäischen Staaten in der Außen-, der Sicherheits- und der Verteidigungspolitik besser koordiniert wird. ({1}) Zum Abschluss: Herr Dr. Dehm, Sie wollen Russland die Hand zur Freundschaft reichen. Das ist schön und gut, und vielleicht verbindet Sie das mit der AfD. Ich kann nur sagen: Wenn ich mir anschaue, in welcher Weise Russland den syrischen Diktator und Mörder Assad unterstützt, sich hinter und vor ihn stellt ({2}) und in welch schändlicher Weise Russland im UN-­Sicherheitsrat eine Feuerpause in dieser Hölle bisher blockiert, dann meine ich, Sie sollten Ihre Position noch einmal überdenken. ({3}) Schon aus diesem Grund brauchen wir eine starke Europäische Union. Ich hoffe, wir werden das auf den Weg bringen. Vielen Dank. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf der Drucksache 19/822 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federführung beim Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union liegen soll. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Christine Buchholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004022, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu Zeiten des Kalten Krieges bedrohte der nukleare Rüstungswettlauf die Menschheit mit dem Atomtod. Auch das brachte mich als Schülerin in den 80er-Jahren zur Friedensbewegung. Ich hätte es mir nicht träumen lassen, dass heute, fast 30 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer, meine Kinder erneut im Schatten eines drohenden Atomkrieges aufwachsen müssen. Die Atommächte der Welt müssen endlich abrüsten. ({0}) Doch sie tun das Gegenteil. Deshalb erhielt die Antiatombewegung ICAN zu Recht den Friedensnobelpreis. ICAN hat sich maßgeblich dafür eingesetzt, dass im vergangenen Sommer die UN-Vollversammlung einen Vertrag zum Verbot von Atomwaffen abgeschlossen hat. 122 Länder haben unterzeichnet. Doch wer fehlt? Die Atommächte, die ­NATO-Staaten und auch Deutschland haben nicht unterzeichnet. Ich sage Ihnen: Die Bundesregierung redet von Frieden und von Abrüstung, doch sie verweigert sich diesem wichtigen Schritt. Das ist eine Schande, meine Damen und Herren. Unterzeichnen Sie endlich den Atomwaffenverbotsvertrag! ({1}) Offiziell hat Deutschland keine Atomwaffen; aber auf dem Fliegerhorst im rheinland-pfälzischen Büchel lagern wahrscheinlich bis zu 20 Atombomben der US-Armee. Die deutschen Tornados können diese im Ernstfall über Ziele in Osteuropa oder Russland abwerfen. Wir wissen nicht, wie viele Atombomben genau in Büchel lagern; denn die Bundesregierung äußert sich dazu nicht. Ich war im Januar auf dem Luftwaffenstützpunkt in Büchel. Es ist schon bizarr. Den dort stationierten Bundeswehrsoldaten war es verboten, mit mir über die Atombomben und die sogenannte nukleare Teilhabe zu sprechen. Und doch bekam ich beim Rundgang durch die Hangars die Stellen an den Tornados gezeigt, an denen die Atomwaffen angebracht werden. Die Zusammenarbeit mit der US-Armee sei außerordentlich eng, hieß es. Die Bundesregierung verschleiert die Wahrheit, um sich öffentlich nicht rechtfertigen zu müssen. Ich sage: Die Menschen in diesem Land haben ein Recht, zu erfahren, wie viele Atombomben hierzulande lagern. ({2}) Die Linke hat diesen Antrag vorgelegt, der den Abzug der US-Atomwaffen fordert. SPD-Kanzlerkandidat Schulz hatte im Wahlkampf versprochen, sich genau dafür stark zu machen. Doch der GroKo-Vertrag bekennt sich ausdrücklich zur nuklearen Teilhabe und damit auch zu den Atomwaffen in Büchel. Zu den Kolleginnen und Kollegen der SPD sage ich: Das ist wirklich mehr als enttäuschend. ({3}) Die Bundesregierung zeigt gerne mit dem Finger auf das Atombombenprogramm des nordkoreanischen Diktators. Ja, auch dieses Programm ist gefährlich, und auch dieses Programm lehnen wir ab. Tatsache ist aber: Von den weltweit einsatzfähigen Atombomben entfallen nicht weniger als 93 Prozent auf die USA und Russland. Nun wollen die USA in den nächsten zehn Jahren 400 Milliarden Dollar in die Modernisierung, das heißt Aufrüstung, ihrer Nuklearstreitkräfte investieren. Dann werden in Büchel die modernsten Atomwaffen der Welt lagern. Deutschland macht mit bei dieser Aufrüstungsspirale. Die Bundesregierung plant, die atomwaffenfähigen Tornados der Luftwaffe durch ein neues Kampfflugzeug zu ersetzen. Das wird Milliarden kosten. Ich sage: Die Bundesregierung muss endlich vor der eigenen Haustür kehren. Stoppen Sie diesen Aufrüstungswahnsinn! ({4}) Die Linke fordert: Alle Atombomben müssen unverzüglich aus Deutschland abgezogen werden. Deutschland muss endlich dem Atomwaffenverbotsvertrag beitreten. Deswegen appelliere ich an die Fraktionen in diesem Hause: Unterstützen Sie unseren Antrag! ({5}) Die Friedensbewegung wird ab dem 26. März 20 Wochen gegen die Atombomben in Büchel protestieren. Es ist ermutigend: Viele junge Leute werden sich daran beteiligen. Die Linke unterstützt diese Proteste von ganzem Herzen. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Dr. Frank Steffel spricht nun für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Frank Steffel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004163, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. – Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Uns alle hier eint der Wunsch nach einer friedlichen und atomwaffenfreien Welt. Deshalb bekennt sich die Bundesrepublik Deutschland ausdrücklich zu einer Welt ohne Atomwaffen. Die Fraktion Die Linke fordert nun heute – man muss sagen: einmal mehr – in ihrem Antrag die Bundesregierung auf, dem Atomwaffenverbotsvertrag beizutreten, die Teilnahme Deutschlands an der nuklearen Teilhabe der NATO aufzukündigen und den Abzug – wir haben es eben gehört – der Atomwaffen der Vereinigten Staaten von Amerika von deutschem Boden einzuleiten. ({0}) Um es gleich zu Beginn klar zu sagen: Solange Länder wie Nordkorea, der Iran, Pakistan, aber auch Russland mit Völkerrechtsverletzungen, Kriegsrhetorik und Ankündigungen über die Ausweitung ihrer Atomprogramme drohen, wäre ein einseitiger Verzicht der freien Demokratien dieser Welt gefährlich und verantwortungslos. ({1}) Ich wurde 1966 in Berlin, genauer gesagt in West-Berlin, geboren und habe 23 Jahre meines Lebens den Kalten Krieg und die kommunistische Mauer quer durch meine Heimatstadt erlebt. Ich habe hier in Berlin zum einen die Bedrohung und zum anderen aber auch das Gefühl des Schutzes durch die Westalliierten, unsere französischen, britischen und amerikanischen Freunde, gespürt. 1987 habe ich gemeinsam mit Hunderttausenden Berlinern den damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan am Brandenburger Tor erlebt, als er gesagt hat: „Mister Gorbachev, open this gate! Mister Gorbachev, tear down this wall!“. Dass diese Worte 1989, zwei Jahre später, in Europa Realität wurden, lag nicht an Nachgiebigkeit, es lag nicht an Anbiederung, und es lag auch nicht an einseitiger Abrüstung. Vielmehr lag es – man könnte sagen: leider – nicht zuletzt daran, dass die NATO Europa, Deutschland und den Westteil Berlins auch durch Nachrüstung, auch durch den NATO-Doppelbeschluss und auch durch atomare Waffen gegen die militärische Bedrohung durch die Sowjetunion und den Warschauer Pakt geschützt hat. Auch das ist die historische Wahrheit. ({2}) Ich selbst habe – ich weiß nicht, ob das auch auf Sie zutrifft – kleine Kinder. Natürlich würde es mich freuen, wenn meine Kinder eine Welt ohne Waffen, insbesondere ohne Atomwaffen, erleben könnten, eine Welt ohne Krieg, ohne Terror, ohne Giftgaseinsätze, ohne Extremismus, übrigens auch ohne religiösen Fanatismus, eine Welt ohne Raketentests und ohne Diktatoren, die androhen, mit Raketen auf Städte und Menschen zu schießen.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Kollege?

Dr. Frank Steffel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004163, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Von wem auch immer.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Von der Kollegin Hänsel.

Dr. Frank Steffel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004163, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, auch wenn ich sie gegen die Sonne nicht sehe.

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke schön, Herr Präsident. – Lieber Kollege Steffel, die Zeiten des Kalten Krieges sind vorbei; darüber wollte ich Sie informieren. Ich hoffe, Sie wünschen sie sich nicht zurück. Ich habe jetzt eine konkrete Frage: Ist Ihnen bekannt, dass es bereits einen Beschluss des Bundestages aus dem Jahr 2010 gibt, die Atomwaffen abzuziehen? Wie schätzen Sie das ein: Wäre es nicht an der Zeit, ihn umzusetzen? ({0})

Dr. Frank Steffel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004163, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ihre Zwischenfragen und Ihre Nervosität, wenn man über die glücklichsten Stunden der deutschen Geschichte spricht, entlarven Sie jedes Mal aufs Neue. ({0}) Ich will Ihnen aber die Antwort bezüglich des Kalten Krieges geben. Auch ich hatte 1989/90 die Hoffnung, dass die Zeit der Auseinandersetzungen beispielsweise zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und Russland endgültig und für immer vorbei ist. Ich habe heute den Eindruck, wir haben lange Jahre und Jahrzehnte nicht so wenig über Abrüstung gesprochen wie zurzeit, und wir müssen aufpassen, dass nicht wieder eine Situation eintritt, wo man am Ende sprachlos wird und Diplomatie durch Drohungen und Waffen ersetzt wird. Insofern glaube ich, dass wir sehr aufpassen müssen, gerade die Europäer, und durch Diplomatie unseren Beitrag leisten müssen, dass das nicht mehr geschieht, was wir in den 70er- und 80er-Jahren, insbesondere übrigens in Berlin, erlebt haben. ({1}) Ich bin leider auch Realist. Auch das gehört zur Wahrheit: Mit Pflugscharen und mit Anbiederung und warmen Worten werden wir die Diktatoren dieser Welt nicht beeindrucken. ({2}) Auch das ist leider – ich sage ausdrücklich: leider – historische Wahrheit. Wir werden die militärische und politische Macht dieses Planeten nicht den Diktatoren überlassen können. Das wäre verantwortungslos gegenüber denen, die heute leben, insbesondere gegenüber unseren Kindern und Kindeskindern. Wir sind leider nicht auf einer kleinen friedlichen Insel in der Karibik, ({3}) sondern wir sind mitten im Herzen Europas. Wir sind eines der bedeutendsten Länder Europas, und wir haben die Realitäten zur Kenntnis zu nehmen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Realität heißt beispielsweise auch: Russland hat vor vier Jahren die Krim annektiert. Völkerrecht wurde gebrochen, und es gibt tagtäglich immer noch Tote in der Ukraine, nicht weit von der deutschen Grenze entfernt. Auch das gehört zur Wahrheit. Damit bin ich wieder bei Ihrer Frage: Auch das habe ich mir 1989/90 schlicht und ergreifend nicht vorstellen können. Insgesamt müssen wir Diplomatie einsetzen. Das ist die stärkste Waffe freiheitlich-demokratischer Völker. Wir müssen und wollen alles dafür tun, ein jahrzehntelanges neues Wettrüsten zu verhindern. Das erreichen wir durch Diplomatie, aber auch durch Verteidigungsfähigkeit. Wir erreichen es sicherlich nicht durch einseitige Schwäche gegenüber Diktatoren; denn diese Schwäche, meine Damen und Herren – das zeigt uns leider die Geschichte –, interpretieren Diktatoren zumeist anders als wir. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der Kollege Dr. Karl-Heinz Brunner spricht für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Karl Heinz Brunner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004256, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrter Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren auf den Zuschauertribünen! Der eine oder andere erinnert sich vielleicht noch: Nur wenige Meter von hier entfernt, am Brandenburger Tor, hielt Barak Obama eine vielbeachtete Rede. Als ich mir zur Vorbereitung auf den heutigen Tag diese Rede noch einmal ansah, fiel mir ein Satz auf, der damals fast unterging. Er lautete: Solange Nuklearwaffen existieren, sind wir nicht wirklich sicher. Recht hatte er, und recht hat er – damals wie heute. Es war aber nichts Neues; denn Obama hatte das bereits in seiner Rede in Prag gesagt, als er den Anspruch der Vereinigten Staaten formulierte, die Welt in eine nuklearwaffenfreie Zeit zu führen. Nicht zuletzt, liebe Kolleginnen und Kollegen, weil auf der Ebene der tatsächlichen Politik hierzu nicht allzu viel geschehen war, konnte man 2013 leicht zu dem Schluss kommen: Dieser Präsident meint es gut; er hält dies persönlich wohl auch für den richtigen Weg; aber realpolitisch wird wohl nichts oder nur wenig passieren. Aus heutiger Sicht – nunmehr etwas mehr als vier Jahre später – ist es geradezu eine Wohltat, einem amerikanischen Präsidenten – wohlgemerkt Barack Obama – zuzuhören, der das Vernichtungspotenzial von Nuklearwaffen wirklich verstanden hat, ({0}) der verstanden hat, dass die bloße Existenz dieser Waffen ein Sicherheitsrisiko ist, und zwar für uns alle, dass eine dem Frieden und der Freiheit verpflichtete Politik gegen die Bedrohung und die Angst, die auch von diesen Waffen ausgehen, vorgehen muss. Heute, meine sehr verehrten Damen und Herren, wünschten wir uns, wir könnten uns sicher sein, der Präsident im Weißen Haus würde diese Grundüberzeugungen und diese Grundbefürchtungen teilen oder wenigstens verstehen. Bei Trump glaube ich dies eher nicht. Egal, meine Damen und Herren, wie ernst wir Barack Obamas Ankündigung damals genommen haben, egal wie wir zu einem Atomwaffenverbotsvertrag stehen, über den wir heute diskutieren und den wir hier in diesem Hohen Haus beraten: Die dahinterstehende Vision, die Vision einer nuklearwaffenfreien Welt, war und ist Ziel dieses Hauses, und sie muss sie bleiben. ({1}) Diese Vision, meine sehr verehrten Damen und Herren, muss uns mit Sehnsucht und Mut erfüllen: mit der Sehnsucht danach, diese Welt zerstörende Nuklearkriege wirklich auszuschließen und sicher sein zu können, dass Terroristen niemals in den Besitz dieser Waffen gelangen, aber auch mit dem Mut, uns zu trauen, für diese Vision einzustehen, ({2}) auch dann, wenn wir sie naiv nennen, und auch dann, wenn die Chancen aufgrund der weltpolitischen Lage noch so gering erscheinen. Ja, Realpolitik verbietet es oft, uns allzu lange in Visionen zu ergehen. Wir kennen die Worte unseres Altkanzlers, der von Visionen als Krankheiten sprach. Zu schnell wird aus einer Vision dann eine schöne, aber irrelevante Utopie, wenn wir uns nur mit der Utopie beschäftigen. Wir müssen uns deshalb immer auch die Frage stellen: Was ist der richtige Weg, was sind die richtigen Mittel, um eine Vision Wirklichkeit werden zu lassen? Meine Damen und Herren, die Begründungen der Bundesregierung, dem Atomwaffenverbotsvertrag nicht beizutreten, kann ich sehr wohl nachvollziehen.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Pflüger?

Dr. Karl Heinz Brunner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004256, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte, gerne, wenn ich ihn sehe. Ich stehe zwar gerne im Licht, ({0}) aber die Sonne blendet. ({1})

Tobias Pflüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004852, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Lieber, geschätzter Kollege Brunner, Sie beschreiben die gesamte Entwicklung gerade sehr gut. Ich habe mir einmal den Koalitionsvertrag angesehen und festgestellt, dass zum ersten Mal in einem Koalitionsvertrag explizit ein Bekenntnis zur atomaren Komponente der NATO enthalten ist und eben nicht, wie in früheren Koalitionsverträgen – ich erinnere da nur an einen Außenminister Westerwelle –, eine klare Absage. Deshalb an Sie direkt die Frage: Warum hat die SPD eigentlich bei diesem Koalitionsvertrag nicht darauf bestanden, dass eine Absage an die atomare Komponente der NATO und ein Abzug der Atomwaffen explizit enthalten sind? ({0}) Das ist diesmal nämlich offensichtlich ad acta gelegt worden.

Dr. Karl Heinz Brunner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004256, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Kollege Pflüger, wenn Sie mich die Begründungen, die ich nunmehr für die Entscheidung der Bundesregierung abgeben möchte, hätten ausführen lassen, hätte ich dies darstellen können. Es ist nämlich so, dass wir als Bundesrepublik Deutschland diesen Prozess sehr wohl einleiten wollen, aber mit klugen und richtigen Maßnahmen. Diese klugen und richtigen Schritte bestehen nicht darin, die Vereinigten Staaten von Amerika und die Russische Föderation aus diesem Prozess herauszunehmen und die Situation von außen zu betrachten, sondern darin, von innen Veränderungen herbeizuführen. ({0}) Die Begründungen der Bundesregierung, dem Atomwaffenverbotsvertrag nicht beizutreten, kann ich nachvollziehen; das wiederhole ich. Dahinter steht nämlich nicht der Wunsch, Nuklearwaffen zu unterstützen oder an ihnen festhalten zu wollen, wie Sie unterstellt haben, sondern es steht die richtige Überzeugung dahinter, dass nur ein Verbot unter Einbettung jener Staaten, die Nuklearwaffen besitzen, überhaupt einen Effekt haben kann. Ebenso möchte ich auch nicht riskieren – und auch wir Sozialdemokraten nicht –, dass wir die verschiedenen bereits existierenden Überwachungs- und Verifikationssysteme, die wir haben, aufweichen oder gar schädigen. Wir müssen auf Verträge wie den Atomwaffensperrvertrag, wir müssen auf Verträge wie den Atomteststoppvertrag setzen. Dennoch ist es gut und richtig, dass uns die Debatte über den Atomwaffenverbotsvertrag Anlass gibt, die nukleare Frage auch hier im Hohen Hause, im Deutschen Bundestag, zu diskutieren. Wir sollten das übrigens, Kolleginnen und Kollegen, viel öfter tun. Obama sprach 2013 noch davon, dass zwar die Gefahr eines nuklearen Krieges weitgehend gebannt sei, die Gefahr des Einsatzes von Nuklearwaffen aufgrund ihrer fortschreitenden Verbreitung und der Terrorismusgefahr aber gestiegen sei. Heute ist es wohl kein Alarmismus mehr, wenn ich sage, dass wir in den letzten Jahren gelernt haben, dass die Gefahr eines nuklearen Konflikts – sei er nun regional begrenzt oder nicht – ebenfalls nicht vollständig ausgeschlossen werden kann. Beatrice Fihn von der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen hat letzte Woche auf der Münchner Sicherheitskonferenz sehr wohl und richtigerweise darauf hingewiesen, dass wir durchaus konkret und nicht nur abstrakt über diese Bedrohung sprechen müssen. Warum kann eine SMS-Warnung vor einem Raketenangriff im Jahr 2018 Menschen in Hawaii in Panik versetzen? Sicherlich nicht, weil sich diese Menschen angesichts der Weltlage so sicher fühlen, dass die Ankündigung einer Auseinandersetzung zum Beispiel im Pazifischen Ozean sofort als Falschmeldung identifiziert wird. Die Menschen in Hawaii leben zwischen den USA und Nordkorea. Wir Europäer leben zwischen Russland und den USA, und wir alle wissen, dass diese Länder über gut 90 Prozent der weltweiten Atomwaffen verfügen. Auch wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass eine nukleare Aufrüstung bereits in den Startlöchern steckt. Es wird zum Beispiel von taktischen Nuklearwaffen gesprochen, deren Einsatz sozusagen nicht ganz so schlimm sei. Der Einsatz wird also de facto angeblich einfacher – ein kleiner Nuklearkrieg statt eines großen. Nein, bei alledem müssen wir uns eingestehen, dass wir dem Ziel einer nuklearwaffenfreien Welt seit Obamas Rede im Jahr 2013 keinen Schritt nähergekommen sind, sondern dass wir Gefahr laufen, uns noch weiter davon zu entfernen. Deutschland und Europa müssen auf dem Weg der Diplomatie neue Brücken bauen, dort, wo Misstrauen und Aggression diese Logik der Aufrüstung begünstigen. Wir müssen uns für bestehende Abrüstungs- und Kontrollregime einsetzen und weiter auf deren Einhaltung und Verschärfung drängen. Die vielen Verhandlungsstunden und -nächte, die uns das kosten wird, werden oft frustrierend sein. Aber nur so können wir den Boden für den Zeitpunkt bereiten, an dem wir uns von der nuklearen Abschreckungslogik endlich verabschieden und eine umfassende Abrüstung weltweit einleiten können. ({1}) Die Vision, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist da; sie ist lebendig. Erreichen können wir sie aber nicht mit dem sogenannten einzig großen Wurf – jetzt abziehen, jetzt verbieten –, sondern nur in vielen, vielen kleinen Schritten. ({2}) Darüber müssen wir sprechen, insbesondere deshalb, weil eben kein Obama unsere Vision mehr teilt und wir als Deutschland und als Europa selbst eine Führungsrolle auf diesem Weg übernehmen müssen. Solange Nuklearwaffen existieren, sind wir nämlich nicht wirklich sicher. Vielen Dank. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die AfD-Fraktion spricht der Kollege Dr. Robby Schlund. ({0})

Dr. Robby Schlund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004875, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Werte Kollegen! Liebe Gäste auf den Rängen! Ich glaube, wir alle, die wir bei diesem wichtigen Thema heute hier noch sitzen, sind uns einig: Niemand möchte ein atomares Inferno. Bitte glauben Sie mir: Ich weiß, wovon ich rede; denn ich habe in meiner Jugend trainiert, Gefechtsköpfe auf Trägerraketen zu schrauben. Dabei hatte ich – werte Anwesende, bitte hören Sie mir zu! – oft bange Gedanken an meine Heimat, unsere Zukunft und das unendliche Leid im Falle einer Apokalypse. Die US-amerikanischen Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki töteten mit Folgeschäden insgesamt circa 300 000 Menschen. Dazu kommen weltweit unzählige Unfälle und zwei Reaktorkatastrophen. Ich selbst kenne Menschen in meinem Umkreis, die Angehörige bei der Katastrophe in Tschernobyl verloren haben. Auch als Arzt weiß ich: Die Strahlenkrankheit kann den qualvollen Tod innerhalb von Minuten bedeuten. Jegliche medizinische Ethik und Versorgung wird hier größtenteils ad absurdum geführt. Deshalb stellt sich die AfD klar auf die Seite des Lebens und der Menschen in Deutschland, die Kernwaffen, besonders auf deutschem Boden, kategorisch ablehnen. ({0}) Die Bundesrepublik verfolgt derzeit eine orientierungslose Anpassungspolitik, die dazu führt, dass zunehmend andere Staaten und Institutionen die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik beeinflussen und steuern. Es ist vielleicht vielen gar nicht ganz klar: Eine atomare Katastrophe ungekannten Ausmaßes ist jederzeit auch auf deutschem Boden möglich. Niemand möchte, ehrlich gesagt, in der Nähe eines solchen Zieles sein. Wir, die AfD, fordern deshalb die Bundesregierung wie im Antrag auf, ihrer Pflicht gegenüber dem deutschen Volke nachzukommen und den seit dem 20. September 2017 vorliegenden Atomwaffenverbotsvertrag zu unterzeichnen. ({1}) Gleichzeitig fordern wir den Abzug aller auf deutschem Boden stationierten alliierten Truppen und insbesondere ihrer Atomwaffen. Die Mitgliedschaft in der NATO entspricht zwar unseren und auch den außen- und sicherheitspolitischen Interessen Deutschlands, allerdings nur dann, wenn sich die NATO auf ihre Aufgabe als Verteidigungsbündnis beschränkt, meine Damen und Herren. ({2}) Eine europäische Atommacht unter Frankreichs Führung, die am Atomknopf sitzt, lehnen wir genauso ab wie die Unterstützung der atomaren Teilhabe der NATO, meine Damen und Herren. ({3}) Zur Kenntnis. Die neue Militärstrategie der USA umfasst Elemente wie Prompt Global Strike mit 32 000 Marschflugkörpern, Cyberwaffen und eine Drohnentaktik mit zigtausend unbemannten Flugkörpern. Außerdem haben die USA in ihrer Militärdoktrin ausdrücklich das Führen eines atomaren Erstschlages gegen einen beliebigen Gegner nicht ausgeschlossen. Dennoch – das muss man in aller Klarheit sagen –: Die USA sind und bleiben trotz starker hegemonialer Eigeninteressen ein wichtiger Bündnispartner Deutschlands. Deshalb sollte das Leitbild einer interessengeleiteten deutschen Außen- und Sicherheitspolitik die Gleichberechtigung beider Partner und die Kommunikation auf Augenhöhe betonen. ({4}) Der Abzug aller Atomwaffen von deutschem Boden setzt eine Sicherheitspartnerschaft mit den uns umgebenden Atommächten voraus und sollte in eine globale Gesamtsicherheitsarchitektur eingebettet werden, deren Ziel die vollständige atomare Abrüstung ist. Dennoch: Die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr bleibt das A und O, meine Damen und Herren. Aber genau diese Einsatzbereitschaft lässt zu wünschen übrig. Die Bundesregierung hat die Interessen der Sicherheit der deutschen Bevölkerung nicht nur bei der völlig verfehlten Asylpolitik aus den Augen verloren, sondern lässt auch die Umsetzung solider Verteidigungspolitik vermissen. Von 15 deutschen Fregatten sind nur 9 einsatzbereit, von sechs U-Booten – einst der Stolz der deutschen Marine – ist nicht ein einziges einsatzfähig. Flugausfälle sind die Regel, und unsere deutschen Soldaten sitzen ohne Flugzeug in Mali fest. Zusammengefasst: Das momentane Agieren unserer Bundesregierung ist ein außen- und verteidigungspolitisches Desaster. ({5}) Der Wunsch allerdings, unseren Kindern ein Deutschland in einer friedlichen Welt ohne Atomwaffen und Massenvernichtungsmitteln zu hinterlassen, teilen wir als AfD-Fraktion vollumfänglich – und das sollte auch die Bundesregierung tun. Die Wege dahin und Lösungen sollten wir im Interesse unseres deutschen Volkes zeitnah und ohne ideologische Schranken konsensual besprechen. Wir stimmen der Überweisung in den Auswärtigen Ausschuss zu. Vielen Dank, meine Damen und Herren, und allen ein schönes Wochenende. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Zu seiner ersten Rede erteile ich jetzt das Wort dem Kollegen Alexander Müller von der FDP. ({0})

Alexander Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004828, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Eine Welt ohne Atomwaffen ist ein wichtiges Ziel. Jede Anstrengung in diese Richtung ist zu unterstützen. Daher begrüßen wir diese Debatte ausdrücklich. Die Freien Demokraten setzen sich seit jeher für die Reduktion von Massenvernichtungswaffen ein. Wir stehen zu Global Zero. Das Thema ist allerdings kompliziert, und man muss wohlüberlegt an diese Aufgabe herangehen. Das wirksamste Mittel, mit dem bis heute die Weiterverbreitung von Atomwaffen verhindert werden konnte, ist der Atomwaffensperrvertrag aus dem Jahr 1970. Er ist der tragende Pfeiler des nuklearen Nichtverbreitungsregimes und damit das Herzstück aller internationalen Bemühungen zur Abrüstung und zur Rüstungskontrolle von Atomwaffen. ({0}) Der Vertrag gilt verbindlich für 190 Staaten der Welt. Er wird fortwährend erneuert und evaluiert. Die unabhängige Internationale Atomenergie-Organisation sichtet regelmäßig Waffenlager und Labore in den Geltungsländern, um die Einhaltung durch Vorortinspektionen zu kontrollieren. Unter der Ägide des bestehenden Atomwaffensperrvertrags ist es gelungen, ehemalige Atommächte wie Südafrika zur vollständigen Aufgabe bereits entwickelter Kernwaffen zu bewegen und andere militärisch-nukleare Entwicklungsprogramme zu beenden, zum Beispiel in Australien, Brasilien, Argentinien und Schweden. Kein Vertrag hat eine vergleichbare Wirksamkeit gezeigt, kein Abkommen hat die Zahl der Nuklearmächte dermaßen reduziert. Der bestehende Atomwaffensperrvertrag bindet alle 190 Teilnehmerländer. Die Nichtkernwaffenstaaten verzichten dauerhaft auf eigene Atomwaffen. Die Atommächte verpflichtet er zu einer Reduzierung ihrer Arsenale. Solche Abrüstungsschritte wurden von Russland und den USA im Rahmen von Initiativen wie START, New START und INF erfolgreich verhandelt und umgesetzt. Diese Abkommen waren die größten nuklearen Abrüstungsprogramme in der Geschichte der Menschheit. Diese Erfolge sollten wir uns als Vorbild für die weiteren Schritte nehmen. Lassen Sie uns doch aus diesen konkreten Abkommen lernen, wie man Schritt für Schritt weiterkommt auf dem Weg zu einer Welt ohne Massenvernichtungswaffen. ({1}) Wenn man nun ein neues Vertragswerk etablieren will, dann funktioniert das nur, wenn man die Atommächte dazu mit ins Boot bekommt. Der heute zu beratende Atomwaffenverbotsvertrag ist eine Initiative von Staaten, die keinerlei Atomwaffen besitzen. Meine Damen und Herren, wenn die Bundesvereinigung der Schafe eine Resolution beschließt, dass allen Wölfen die Zähne gezogen werden müssen, was glauben Sie, welche Folgen das hätte? – Keine. Ja, die Fortentwicklung des Sperrvertrages verspricht keine schnellen Erfolge. Es ist eine mühsame Arbeit, die noch Jahre dauern wird; denn der Sperrvertrag kann auch ins Wanken geraten. Die von der Antragstellerin geforderte Konzentration auf ein völlig neues zweites Vertragswerk würde uns von der Fortentwicklung des eben genannten Atomwaffensperrvertrags ablenken. ({2}) Von der Überprüfungskonferenz 2020 muss ein Signal der Stärkung und Einigkeit ausgehen. Wir müssen alle darauf hinarbeiten, dass der Sperrvertrag auch unter der Präsidentschaft von Donald Trump verlässlich bleibt und fortentwickelt wird. ({3}) Denn wer Massenvernichtungswaffen weiter reduzieren will, der schafft das nur in gemeinsamen Verhandlungen mit den Atommächten, aber nicht gegen sie. Das Vorhandensein der noch verbliebenen atomaren Potenziale hat heute in erster Linie eine abschreckende Wirkung. Jeder weiß, dass das Auslösen der nuklearen Eskalation alles Leben auf der Erde auslöschen kann. Die aggressive Außenpolitik von Russland und Nordkorea, die beide das Völkerrecht bewusst verletzen, beweist, dass wir auf die nukleare Abschreckung noch nicht ganz verzichten können. Die Beteiligung Deutschlands am Atomwaffenverbotsvertrag hätte zwingend zur Folge, dass wir die nukleare Teilhabe der NATO aufgeben müssten. Dies wäre nicht nur ein enormer Vertrauensverlust innerhalb unseres Bündnisses, Russland könnte es als Einladung verstehen, sich weitere Teile Osteuropas einzuverleiben. Das kann nicht unsere Intention sein. Vielen Dank. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Ich erteile das Wort dem Kollegen Jürgen Trittin vom Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Jürgen Trittin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003246, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Drei Jahrzehnte nach dem Ende des Kalten Krieges fürchten sich die Menschen wieder vor einem nuklearen Krieg. Da muss man doch einmal darüber nachdenken, wie es dazu gekommen ist. Ich weiß nicht, ob Ihre Logik, Herr Müller, nach dem Motto „Wir machen so weiter, wie wir es aus dem Kalten Krieg kennen, indem wir Rüstung mit Rüstung beantworten“ zu verfahren, aus dieser Problematik herausführt. Auch bei den Erinnerungen von Frank Steffel an den Kalten Krieg in Reinickendorf ({0}) wird eines vergessen: Es hat danach eine Phase gegeben, in der sowjetische Truppen aus Deutschland abgezogen wurden und in der massive konventionelle und auch nukleare Abrüstung stattgefunden hat. Es stellt sich doch die Frage, warum dieser Prozess der Abrüstung dann am Ende in eine neue Runde des Aufrüstens umgeschlagen ist. ({1}) Darauf gibt es eine einfache Antwort: Alle Atommächte – ich betone: alle – und auch diejenigen, die teilhaben, haben Signale gesetzt, nicht abzurüsten, sondern aufzurüsten. Das irrste Beispiel ist meines Erachtens Deutschland. Sie haben auf den Atomwaffensperrvertrag verwiesen. Deutschland ist Teilhaber. Was macht Deutschland? Deutschland liefert von Deutschland aus nukleares Material, angereichertes Uran, für die US-amerikanischen Tritiumraketen. Das ist keine friedliche Nutzung der Atomenergie. Hier ist klar die Grenze zwischen ziviler und kriegerischer Nutzung überschritten. ({2}) Und die Bundesregierung tut überhaupt nichts dagegen. Herr Brunner, Sie haben argumentiert, man solle verhandeln. Das ist sicherlich immer richtig. Aber wo verhandeln Sie denn? Sie lassen weiterhin zu, dass Material für die nukleare Aufrüstung – und zwar exklusiv durch Urenco – produziert wird. Das ist Ihre Politik. ({3}) Sie sagen zwar: Wir wollen kleine Schritte hin zur Abrüstung machen. – Aber was machen Sie in Wirklichkeit? Sie rüsten auf. Das, was in Büchel passiert, ist nichts anderes als Aufrüstung. ({4}) Wenn Waffen und Trägersysteme modernisiert werden, ist das Aufrüstung. Nun müssen wir uns plötzlich Sorgen darum machen, dass der INF-Vertrag infrage gestellt wird. Ich habe da den Eindruck, dass in der Nuklearfrage eine Art Sandkastenlogik vorherrscht: Der andere hat immer angefangen, und deswegen braucht man selbst eine größere Schaufel. – Die Amerikaner werfen einerseits den Russen vor, in Kaliningrad Systeme stationiert zu haben, die sie nach dem INF-Vertrag nicht hätten stationieren dürfen. Die Bundesregierung hat diese Frage für sich noch nicht beantwortet. Die Antwort steht noch aus. Die Russen sagen andererseits: Die Amerikaner haben mit dem Raketenabwehrschirm in Bulgarien etwas installiert, was ebenfalls nicht mit dem INF-Vertrag in Übereinstimmung zu bringen ist. Ich finde, wir müssen aus dieser Geschichte herauskommen. ({5}) Dabei hilft ein Blick auf die kurze Phase nach dem Kalten Krieg, Herr Steffel. Da haben wir doch gelernt, dass eine Politik, die zu Vereinbarungen und Abrüstung führt, für mehr Sicherheit sorgt, und nicht eine Politik, die auf Aufrüstung und Abschreckung setzt. ({6}) Nun wollen die USA 400 Milliarden Dollar für die Modernisierung ihrer Atomstreitkräfte ausgeben. Mit der neuen Nuklearstrategie der USA soll der Atomkrieg – das ist für Menschen meiner Generation ein seltsames Wort; denn als ich bei der Bundeswehr war, hieß es: der Ernstfall wird nie eintreten, wir schrecken die anderen so ab, dass das nie passiert – führbar gemacht werden. ({7}) Öffentlich wird erzählt, das gehe mit sogenannten kleinen Atombomben, mit Mini-Nukes. Wissen Sie, welche Zerstörungskraft diese Mini-Nukes haben? Sie sind ungefähr so schlagkräftig wie die Bomben auf Hiroshima und Nagasaki. Ich sage Ihnen: Das ist ein Irrweg, von dem wir uns verabschieden müssen. ({8}) Deswegen müssen wir den Vertrag über das Atomwaffenverbot unterschreiben, und deswegen müssen wir Schluss machen mit der nuklearen Teilhabe hier. ({9})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Zu seiner ersten Rede rufe ich den Kollegen Nikolas Löbel von der CDU/CSU-Fraktion auf. ({0})

Nikolas Löbel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004805, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Atomwaffen sind in der Vorstellung vieler Menschen überflüssig. Dennoch sind Atomwaffen Bestandteil unserer Realität. Atomwaffen sind Teil der Welt, in der wir leben. Gerade deshalb ist ein vernünftiger, ideologiefreier Umgang mit der Frage der nuklearen Abrüstung dringend geboten. Wir leben in einer Zeit, in der sich die globale Sicherheitsstruktur völlig verändert und in der Atomwaffen wieder verstärkt eine strategische Rolle spielen. Wir erinnern uns an den historischen Schritt Mitte der 1980er-Jahre. Wir erinnern uns an den INF-Vertrag und das Wirken von Ronald Reagan und Michail Gorbatschow und die damit verbundene strukturelle Abrüstung. Natürlich verfolgen wir das Ziel einer atomwaffenfreien Welt. Doch, liebe Kolleginnen und Kollegen, ein nüchterner Blick auf die Realitäten dieser Welt ist geboten. Russland hat mit seinem militärischen Eingreifen in der Ukraine diesem Ziel enorm geschadet. ({0}) In der Folge sind auch andere Nuklearmächte nicht zu weiteren Abrüstungsmaßnahmen bereit. Schauen wir uns die Situation an: Russland positioniert landgestützte Mittelstreckenraketen und arbeitet an taktischen Nuklearwaffen. Raketen und Nuklearprogramme im Nahen und Mittleren Osten stellen auch eine Bedrohung für Europa dar. Nordkoreas atomare Drohgebärden werden lauter, die Rhetorik der Nuklearmächte wird schärfer, und Regierungschefs vergleichen die Größe ihres roten Knopfes wie pubertierende Halbstarke. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist eigentlich wieder einmal das Gleiche: Die Linke holt diesen Antrag zum Atomwaffenverbot aus der Schublade, wo er meistens ganz oben liegt. ({1}) Aber es ist auch symptomatisch, dass ausgerechnet bei der Beratung eines solchen Schaufensterantrags die AfD der Linken beispringt. Hier geht es aber nicht um Schaufensteranträge; hier geht es um eine klare, vernunftorientierte Politik. Das macht eben den politischen Unterschied in diesem Haus aus. ({2})) Ja, auch wir als Union treten für eine spürbare nukleare Abrüstung ein. Doch für uns muss stets die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger im Vordergrund stehen. Abrüstung darf daher kein politischer Selbstzweck, Sicherheitspolitik keine Frage von ideologischen Ansätzen sein. Sicherheitspolitik muss stets eine Frage von Notwendigkeit und Machbarkeit bleiben, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ein ideologiefreier Blick auf die Realität lässt dann eben schnell erkennen: Nuklearwaffen spielen nun einmal eine strategisch elementare Rolle in der Sicherheitspolitik weltweit. Daran ändert auch ein schlichtes Verbot schlichtweg nichts, erst recht nicht ein Verbotsvertrag, an dessen Ausarbeitung keine der neun Atommächte überhaupt teilgenommen hat. ({3}) Dieser Atomwaffenverbotsvertrag wurde in Abwesenheit derer verhandelt, um die es eigentlich geht. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, das zeigt doch das eigentliche Problem: Wir müssen die Atommächte wieder zu einem gemeinsamen globalen Sicherheitsverständnis bewegen. Dazu muss Deutschland eine moderierende, vermittelnde Rolle – gerade zwischen den USA und Russland – einnehmen. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, wer redet denn im Spiel der Großen noch mit einem Spieler, der gar nicht mehr auf dem Spielfeld steht? Ja, auf deutschem Boden stehen amerikanische Atomwaffen. Diese Waffen sind ein notwendiges Übel; ({6}) denn diese Waffen sichern Deutschland nicht nur eine Teilhabe am nuklearen Schutzschirm der NATO über Europa, sondern eben auch ein Mitspracherecht im Bündnis. ({7}) Nur durch eine vernünftige nukleare Teilhabe sichern wir uns als Deutschland überhaupt die Möglichkeit der Einflussnahme auf die Atommächte – mit einem klaren Ziel: nukleare Abrüstung. Mit einem Beitritt zum Atomwaffenverbotsvertrag würden wir uns selbst unserer Stimme in der NATO in dieser Frage berauben. ({8}) Um es einfach zu sagen: Mit einem solchen Verbotsvertrag verlieren wir jeglichen Einfluss auf die künftige Entwicklung der nuklearen Auf- oder, was wir eben wollen, der nuklearen Abrüstung. Im Koalitionsvertrag verpflichten wir uns, ein neues nukleares Wettrüsten auf unserem Kontinent zu vermeiden. ({9}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist unser aller gemeinsames Ziel. ({10}) Doch sowohl Rüstungskontrolle als auch Abrüstung können nur mit Nuklearmächten funktionieren, weder ohne sie noch gegen sie. Deswegen ist nukleare Teilhabe unerlässlich. In dieser Weise werden wir als Deutschland unserer Verantwortung für Deutschland, für Europa auch im Hinblick auf unsere transatlantischen Partner gerecht. Folglich lehnen wir diesen Antrag ab, und wir werden bei dieser Haltung auch im Ausschuss bleiben. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({11})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist der Kollege Michael Kuffer von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Michael Kuffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004795, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Auch wenn der vorliegende Antrag der Linken sein Thema gedanklich nicht in dem nötigen Umfang durchdringt, ({0}) wichtige Abwägungen nicht vollzieht, sprachlich und inhaltlich über weite Strecken leider auch die Ebene des Populistischen nicht zu verlassen vermag, ({1}) hat er doch einen positiven Aspekt: Der Antrag gibt diesem neugewählten Deutschen Bundestag erneut Gelegenheit, der unbestrittenen Dramatik der Atomwaffenpotenziale ins Auge zu sehen, was immer wieder notwendig ist; denn an eine existenzielle Herausforderung wie diese kann man sich einfach nicht gewöhnen. Allein die Möglichkeit der totalen Zerstörung unserer Welt, allein das Vorhandensein der technischen Mittel für den Untergang muss jene heilsame Art der Angst wachhalten, die weder zu Lethargie noch zu Panik führt. Da sich der Deutsche Bundestag für diese Legislaturperiode vorgenommen hat, zentrale Themen der Politik aus eigenem Antrieb zu behandeln und weniger abzuwarten, was ihm die Regierung zur Beschlussfassung anbietet, passt der vorliegende Antrag zumindest insoweit zu diesem Ansatz. Umso bedauerlicher, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es, dass der Antrag unseren Verfassungsauftrag, nämlich die Sicherheit unserer Bürger zu gewährleisten, leider vollständig ausblendet. ({2}) Die bekannte Wahrheit, dass einfache Dinge polar, schwierigere ambivalent und die schwierigsten paradox sind, zeigt sich auch hier: Die nukleare Abschreckung hat den Frieden erhalten und nicht gefährdet. Das ist keine bloße Behauptung, sondern das ist ein seit Beginn des Kalten Krieges bis heute für jedermann ersichtlicher Sachverhalt. Was die Semantik betrifft, hat die Linke in ihren Anträgen seit Jahren ohnehin ein seltsames Verständnis des Wortes „Frieden“, und in diesem Verständnis liegt eine gewisse historische Kontinuität bis hinein ins Absurde insofern, als es beispielsweise ihrer Vorgängerpartei gelungen ist, die Berliner Mauer als „Friedenswall“ zu bezeichnen. ({3}) – Das waren Ihre Vorgänger. Wenn also – und ich kehre zu meinem Gedanken zurück – die nukleare Abschreckung den Frieden erhalten hat, darf auch in unserer Zeit – darum geht es jetzt – die Glaubwürdigkeit der nuklearen Abschreckung nicht gefährdet werden, und es darf bei der nuklearen Teilhabe der Allianzmitglieder keine nationalen Alleingänge geben. ({4}) Der Bundestag wäre schlecht beraten, den Doppelansatz aus nuklearer Abrüstung und nuklearer Abschreckung aufzugeben; ({5}) dies, liebe Kolleginnen und Kollegen, wäre aber die Konsequenz dieses Antrags, der uns von den Nuklearwaffenstaaten der NATO isolieren würde, die wie alle anderen Nuklearwaffenstaaten weltweit – das ist in der Debatte zu Recht angesprochen worden – den Vertragstext ablehnen. Es müsste auf den ersten Blick eigentlich für jeden ersichtlich sein, dass ein Vertrag ohne die entscheidenden Atomwaffenstaaten ({6}) und die diesbezüglichen Schwellenstaaten schlicht sinnlos ist. Es bliebe eine rein moralisierende Deklaration, mit deren Übernahme wir eine politische Spaltung der NATO herbeiführen und damit unseren Sicherheitsinteressen deutlich zuwiderhandeln würden, liebe Kolleginnen und Kollegen. Denjenigen, die uns schützen sollen, einen neuen deutschen Moralimperialismus um die Ohren zu schlagen, ist keine gute Idee. Die Annahme des Antrags wäre deshalb nicht nur schlecht, sondern verhängnisvoll, und die Mehrheit des Hauses weiß, warum sie ihn ablehnen wird. Vielen Dank. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Ich schließe die Aussprache zu TOP 17. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/98 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Dann ist das so beschlossen.

Omid Nouripour (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003881, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die fatalen Bilder aus Syrien schaffen es zu Recht wieder in unsere Aufmerksamkeitssphäre. Es ist höchste Zeit, dass wieder nach Syrien geschaut wird, wobei man sehen muss: Das sind die blutigsten Tage des Krieges. Es gab aber schon in der Vergangenheit verdammt viele – viel zu viele – blutige Tage, die wir kaum haben wahrnehmen können. Was es nicht oder zumindest kaum in unsere Aufmerksamkeitssphäre schafft, ist die Katastrophe im Jemen. Darüber wollen wir heute sprechen. Seit nunmehr 35 Monaten wird das Land in die Steinzeit gebombt. Es gibt bisher über 10 000 Tote und über 1 Million Fälle von Cholera. Mittlerweile ist auch eine Diphterie-Epidemie ausgebrochen. Es sterben täglich 100 Kinder an Unterernährung. Über 11 Millionen Kinder in dem Land brauchen dringend Hilfe. Die gesamte Daseinsvorsorge im Land ist zusammengebrochen. Ein Krieg, der vor 35 Monaten von den Huthis mit der Hilfe des Irans begonnen wurde, ist mittlerweile dahin gekommen, dass die Genfer Konvention zum Schutz der Zivilisten täglich mit Füßen getreten wird. Artikel 18 – Schutz von Krankenhäusern –: Es gibt kaum mehr welche. Artikel 55 und 59 – Zugang zu humanitären Hilfsgütern –: Diese gibt es durch eine massive Blockade des Landes derzeit nicht. Es gibt eine Allianz um Saudi-Arabien herum, die auf Einladung einer legitimen Regierung dort ist, die aber dadurch, dass sie jegliches Prinzip von Verhältnismäßigkeit verletzt, einen völkerrechtswidrigen Krieg im Jemen führt. ({0}) Derzeit wäre es notwendig, Äquidistanz zu halten. Niemand kommt in diesen Tagen auf die Idee – und das ist auch gut so –, dem Iran Waffen zu verkaufen. Mit Saudi-Arabien ist das anders. Was steht jetzt nun in dem Entwurf eines Vertrages für eine Große Koalition? Ich zitiere: Wir werden ab sofort keine Ausfuhren an Länder genehmigen, solange diese unmittelbar am Jemen-Krieg beteiligt sind. Firmen erhalten Vertrauensschutz, sofern sie nachweisen, dass bereits genehmigte Lieferungen ausschließlich im Empfängerland verbleiben. Dafür lässt sich die SPD zurzeit feiern. Es gibt aber vier Fragen, die Sie noch beantworten müssen: Erstens. Ist das nicht ein Armutszeugnis, dass Sie jetzt erst auf die Idee kommen, die Frage des Endverbleibs zu stellen? ({1}) Zweitens. Die humanitäre Katastrophe im Jemen hat zwei Gründe. Das sind die Bomben von oben und die Tatsache, dass von Landesseite und von Seeseite her keine Hilfsgüter mehr reinkommen. Es gibt nämlich eine Seeblockade. Sie wollen diese Patrouillenboote weiterhin liefern und können auf Nachfrage nicht ausschließen, dass sie auch tatsächlich für die Seeblockade eingesetzt werden können. Ist das nicht ein weiteres Armutszeugnis? ({2}) Drittens. Im Koalitionsvertrag – ich habe es gerade vorgelesen – steht: „unmittelbar am Jemen-Krieg beteiligt“. Im Sondierungspapier stand das Wort „unmittelbar“ nicht. Wollen Sie uns nicht einmal erzählen, welche Länder jetzt doch beliefert werden und welche nun doch von einem angeblichen Rüstungsexportverbot ausgenommen werden? ({3}) Viertens. Die Parteien, die nun einen Koalitionsvertrag aufgeschrieben haben, sind auch die Parteien, die seit vier Jahren gemeinsam regieren, also in den gesamten 35 Monaten, über die wir sprechen. Warum um Gottes Willen kommen Sie jetzt erst auf diese Idee, nachdem das Land bereits in die Steinzeit gebombt worden ist? ({4}) Sigmar Gabriel hat vor vier Jahren versprochen, dass Rüstungsexporte massiv zurückgefahren werden. Wir haben die Antworten der Bundesregierung bekommen: 2017 waren es Rüstungsexporte im Umfang von 1,3 Milliarden Euro in Länder, die am Jemen-Krieg beteiligt sind. Das ist ein Aufwuchs von 9 Prozent. Das ist nicht das, was er uns versprochen hat. Es gibt eine weitere Anfrage – auch von uns –, auf die die Bundesregierung antwortet: Der Beachtung der Menschenrechte wird bei Rüstungsexportentscheidungen ein besonderes Gewicht beigemessen. – Hören Sie auf, das zu schreiben! Machen Sie es endlich! ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die nächste Rednerin ist die Kollegin Elisabeth Motschmann, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Elisabeth Motschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004357, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Über Rüstungsexporte zu sprechen, ist schwer, erst recht wenn es um Rüstungsexporte im Zusammenhang mit dem Jemen geht. Es fällt auch mir schwer; das gebe ich hier gerne zu. Das ist nicht so einfach. Das liegt daran, dass die Lage im Jemen so katastrophal, so verwirrend und so unübersichtlich ist, dass eine Beurteilung eben schwierig ist. Wenn wir auf das Elend blicken – Kollege Nouripour hat es eben schon geschildert –, sehen wir neben den vielen Toten auch die Hungernden. Diese Menschen sind ja nicht von einer Hungerskatastrophe bedroht; denn sie befinden sich bereits in einer Katastrophe.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Gestatten Sie eine Zwischenfrage von dem Kollegen Neu?

Elisabeth Motschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004357, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Selbstverständlich.

Dr. Alexander S. Neu (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004361, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Kollegin Motschmann, ich hatte vor kurzem eine Frage an die Bundesregierung gestellt: Welche Länder sind im Koalitionsvertrag damit gemeint, wenn von direkt am Jemen-Krieg beteiligten Ländern die Rede ist? Ich habe die Antwort erhalten: Die geschäftsführende Bundesregierung spekuliere nicht über die Absprachen und über einen Koalitionsvertragsentwurf der Parteien. Nun sind Sie ja Mitglied einer Partei – Sie vertreten die CDU –, und Sie haben als Parteivertreterin an den Koalitionsgesprächen teilgenommen. Können Sie uns sagen, welche Länder damit gemeint sind, die direkt im Jemen-Konflikt involviert sind und somit nicht mehr mit Rüstungsexporten beglückt werden können? Sie müssten dazu in der Lage sein. Ich glaube, das ist von großem Interesse für das gesamte Haus. Vielen Dank.

Elisabeth Motschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004357, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich war an den Koalitionsverhandlungen beteiligt, aber in einer Arbeitsgruppe unter der Überschrift „Kunst, Kultur, Kreativwirtschaft und Medien“. Da ging es nicht um diese Frage. Ich schlage Ihnen vor, dass Sie diejenigen befragen, die in dieser Arbeitsgruppe mitgearbeitet haben. ({0}) Im Übrigen verweise ich auf den Bundessicherheitsrat, ({1}) der sehr wohl in der Lage ist, Entscheidungen zu treffen unter Berücksichtigung aller Probleme, die es in der Region gibt. Vertrauen gehört irgendwo auch zu unserer Gesellschaft. ({2}) – Doch. Da bin ich anderer Meinung als Sie. Wir haben dafür gewählte Gremien; die tragen die Verantwortung. Wenn im Koalitionsvertrag deutlich steht, es werden ab sofort keine Waffen mehr geliefert, dann vertraue ich darauf, dass das auch so umgesetzt wird. Punkt! ({3}) Die Zahlen, die wir aus dem Jemen bekommen, sind grausam, dramatisch. Nun ist die Frage: Was ist zu tun? Deutschland hat 2017 immerhin einen Beitrag in Höhe von 165 Millionen Euro für humanitäre Hilfe geleistet. Damit sind wir der drittgrößte Geber weltweit. Natürlich muss es das Ziel sein, Frieden zu schaffen ohne Waffen und ohne militärische Intervention. Fakt ist aber: Nicht alle Krisenherde lassen sich diplomatisch befrieden – leider. Terroristen verhandeln nicht – sie köpfen, sie morden. Deshalb sind Waffen leider immer noch nötig, und deshalb kann auf den Einsatz militärischer Mittel nicht verzichtet werden. Grüne und Linke fordern in ihren Anträgen den sofortigen Stopp von allen Rüstungsexporten in Länder, die am Krieg beteiligt sind, und werden darin doch durch die Koalitionsvereinbarung bestätigt. ({4}) Da heißt es – ich will es einmal zum Mitschreiben vorlesen, damit Sie es sich ganz fest einprägen –: Wir werden ab sofort keine Ausfuhren an Länder genehmigen, solange diese unmittelbar am Jemen-Krieg beteiligt sind. ({5}) Das ist eine ganz klare Aussage. ({6}) – Ja, darauf kommen wir gleich. – Außerdem heißt es: Wir wollen diese restriktive Exportpolitik mit Blick auf den Jemen auch mit unseren Partnern im Bereich der europäischen Gemeinschaftsprojekte verabreden. Das finde ich übrigens auch wichtig, gerade angesichts dessen, was Graf Lambsdorff heute zu Europa gesagt hat. Wir alleine sind doch machtlos, hilflos im Hinblick auf die komplizierte Lage in der Region. Daher muss Europa hier zusammenhalten. Deutschland hat – auch das will ich hier noch einmal ausdrücklich betonen – die strengsten Regelwerke im Hinblick auf Rüstungsexporte weltweit. Außen-, sicherheits- und menschenrechtspolitische Aspekte werden natürlich sorgfältig abgewogen; das können Sie doch im Ernst nicht bestreiten. Bleibt die Frage, wie wir mit bereits genehmigten Rüstungsexporten – das war ja Ihre Frage –, zum Beispiel nach Saudi-Arabien, umgehen, deren Stopp in beiden Anträgen gefordert wird. Sie meinen damit Patrouillenboote, Militär-Lkws und ungepanzerte Transportfahrzeuge. Das aber sind keine Waffen, mit denen im Jemen Krieg geführt wird. ({7}) Sie dienen der Grenzsicherung, der Terrorabwehr und der Sicherung von Bohrinseln im Golf. Sie müssen schon unterscheiden zwischen Kampfwaffen und Verteidigungswaffen. Das ist ein großer Unterschied. Natürlich weiß jeder hier im Raum: Saudi-Arabien ist ohne Frage ein schwieriger Partner des Westens. ({8}) Wir wissen um die Menschenrechtsverletzungen in diesem Land. Die will ich gar nicht schönreden oder unter den Tisch fallen lassen. Wir wissen aber auch, dass Saudi-Arabien ein Gegengewicht zum Iran ist und damit die Region einigermaßen stabil hält. ({9}) Die Saudis führen eine Koalition aus neun Ländern an, die die jemenitische Regierung im Kampf gegen die Huthi-Rebellen unterstützt. Die Huthi-Rebellen wiederum werden vom Iran unterstützt. Des Weiteren ist Saudi-Arabien ein Verbündeter – auch das ist unbestreitbar – im Kampf gegen den Terror. Auch hier wird deutlich, dass Terrorbekämpfung niemand alleine machen kann – wir schon gar nicht –, dass wir Europa brauchen, dass es eine europäische Strategie geben muss, um die komplizierten Verwicklungen auf der arabischen Halbinsel zu einer politischen Lösung zu führen, damit das Elend endlich ein Ende hat, damit das Sterben der Kinder und natürlich genauso der Erwachsenen ein Ende hat. Dafür müssen wir arbeiten. Dafür muss Europa arbeiten. Man kann nur hoffen, dass dies Erfolg haben wird. Vielen Dank. ({10})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der Kollege Dr. Nils Schmid spricht für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Nils Schmid (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004876, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Voltaire soll den Jemen einmal als das angenehmste Land der Erde bezeichnet haben. Leider entspricht die Situation – sie ist vielfach beschrieben worden – im Jemen genau dem Gegenteil. Die Menschen, ob sie schon lange dort leben oder ob sie dort gestrandet sind, weil sie aus Somalia geflüchtet sind, müssen den Jemen seit vielen Monaten eher als Hölle auf Erden begreifen. Deshalb will ich noch einmal einführend kurz darauf hinweisen: Ja, es ist die größte humanitäre Katastrophe, die sich zurzeit in der Welt abspielt. Es fehlt an allem: an Nahrung, an sauberem Trinkwasser, an einer funktionierenden Gesundheitsversorgung. Über 22 Millionen Menschen – zwei Drittel der Bevölkerung – sind auf Hilfe, insbesondere auf Nahrungshilfe, angewiesen. Die Vereinten Nationen und ihre Hilfswerke kämpfen gegen Diphtherie und vor allem gegen die weltweit größte Cholera-Epidemie. Mehr als 90 Prozent des Gebietes des Jemens sind hiervon betroffen. Zur Lagebeschreibung gehört auch, zu sagen: Die militärische Intervention der saudi-arabisch geführten Koalition konnte den Konflikt nicht entscheiden oder gar lösen. Das Gegenteil ist der Fall. Die humanitäre Lage im Land hat sich im Zuge von Seeblockaden und der Zerstörung ziviler Ziele dramatisch verschlechtert. Der ehemalige VN-Sondergesandte für den Jemen, Ismail Ould Cheikh Ahmed, hat sich drei Jahre lang vergeblich um eine politische Lösung bemüht. Doch trotz der wachsenden internationalen Kritik und der katastrophalen Lage im Land hält die saudisch geführte Koalition an ihrem Kurs fest. Auf der anderen Seite tragen auch die Huthi-Rebellen ihren Teil zur Eskalation bei. Mit Raketenangriffen auf Saudi-Arabien nehmen sie zudem bewusst auch zivile Opfer in Kauf.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, Herr Neu hätte noch eine Zwischenfrage. Gestatten Sie das?

Dr. Nils Schmid (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004876, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bezieht sich die Frage auf meine Ausführungen, oder wollen Sie gleich wieder zu den Rüstungsexporten kommen? ({0}) – Bitte.

Dr. Alexander S. Neu (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004361, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege Schmid, Frau Motschmann hat sich außerstande gesehen, meine Frage zu beantworten, welche Staaten künftig nicht mehr mit deutschen Rüstungsgütern versorgt werden sollen, weil sie in dem Jemen-Konflikt direkt involviert sind. Sie verwies auf den Bundessicherheitsrat, der natürlich geheim tagt und die Informationen nicht preisgibt. Meine Frage an Sie: Wissen Sie als Teil der SPD und sicherlich auch als Teil der Arbeitsgruppe, welche Staaten damit gemeint sind? Wenn Sie nicht Teil der Arbeitsgruppe waren: Können Sie mir die Anschrift eines MdB oder eines Parteimitgliedes nennen, der Teil dieser Arbeitsgruppe war und diese Auskunft geben könnte? Es ist von großem Interesse für die Menschen in Deutschland, zu wissen, welche Staaten damit gemeint sind. ({0})

Dr. Nils Schmid (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004876, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Dazu komme ich noch, sehr geehrter Herr Kollege Neu. – Mir geht es jetzt erst einmal darum, dass wir uns die Lage vor Augen halten. Wir wollen die Lage und die Rolle des Irans nicht unterschätzen. Wir wissen, dass er vermutlich die Huthi-Rebellen unterstützt, indem er Waffen liefert und für Ausbildung sorgt. Wenn man diese hochkomplexe Gemengelage zusammennimmt, dann ist eine Engführung auf die Frage deutscher Waffenexporte einfach unzureichend, auch wenn ich gerne darauf eingehen will. Ich will zunächst einmal sagen, was unser Handeln leitet. Wir wollen uns weiterhin für eine politische Lösung des Konflikts unter der Leitung der Vereinten Nationen einsetzen. So ist es auch im Koalitionsvertrag benannt. Wir unterstützen deshalb auch den neuen UN-Sondergesandten für den Jemen, Martin Griffiths, in seiner Arbeit. Er wurde in der vorigen Woche zu Gesprächen im Auswärtigen Amt empfangen. Wir unterstützen vor allem auch die Arbeit der internationalen Expertenkommission im Jemen, die dort in alle Gebiete reisen können muss und nicht von bestimmten Gebieten ausgeschlossen werden darf. Wir werden weiterhin die humanitäre Hilfe im Jemen unterstützen. Wir sind drittgrößter Geber. Die Kollegin von der CDU/CSU hat darauf hingewiesen. Im Jahr 2017 waren es allein 165 Millionen Euro. ({0}) Die Waffenexporte sind in Deutschland schon mit den restriktivsten und transparentesten Regelungen im Vergleich zur gesamten EU ausgestattet. ({1}) Lassen Sie mich eines festhalten: Sozialdemokraten haben maßgeblich daran mitgewirkt, dass es so weit gekommen ist. ({2}) Deshalb haben wir in den Koalitionsverhandlungen durchgesetzt, dass ab sofort keine Ausfuhren von Rüstungsgütern an Länder genehmigt werden, die unmittelbar am Jemen-Krieg beteiligt sind. ({3}) Darauf haben Sie zu Recht hingewiesen. Erlauben Sie mir übrigens den Hinweis, dass ich aus den Dokumenten rund um die Jamaika-Sondierungen keinerlei Hinweise auf eine solche Regelung gefunden habe. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, der Kollege Trittin hat eine Zwischenfrage. Lassen Sie sie zu?

Dr. Nils Schmid (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004876, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lassen Sie mich das erst ausführen, dann können Sie Ihre Frage stellen. Vielleicht erledigt es sich auch ja, Herr Kollege Trittin. ({0}) Lassen Sie mich darauf hinweisen, dass diese klare Haltung der noch nicht ins Amt gekommenen zukünftigen Bundesregierung durchaus einige Aufmerksamkeit, insbesondere in Saudi-Arabien, hervorgerufen hat. Wenn Sie die jüngsten Pressemeldungen lesen, dann wissen Sie, dass die saudi-arabische Regierung die Botschaft, die hinter dieser Aussage des Koalitionsvertrages steht, verstanden hat. Deshalb werden wir das, was im Koalitionsvertrag vereinbart ist, umsetzen, wenn er angenommen wird. Sie fragen, wie es umgesetzt wird. Sie kennen genauso gut wie ich die Regeln. ({1}) Rüstungsexporte sind Einzelfallentscheidungen. Die werden vom Bundessicherheitsrat getroffen. Wenn wir entscheiden, welche Rüstungsexporte in Drittländer genehmigt werden sollen, kommt es entscheidend darauf an, ob sie sich mit den beantragten Rüstungsgütern unmittelbar an dem Jemen-Konflikt militärisch beteiligen werden oder nicht. ({2}) Das wird dann jeweils im Einzelfall zu entscheiden sein. Jetzt kann man festhalten, dass die wesentliche militärische Beteiligung vonseiten Saudi-Arabiens und der Vereinigten Arabischen Emirate erbracht wird. So ist die Sachlage, wenn ich richtig informiert bin. Deshalb werden zukünftig Rüstungsexporte in diese Länder besonders genau geprüft und im Zweifel im Einzelfall selbstverständlich abgelehnt werden, so wie es Übung in den Entscheidungsgremien der Bundesregierung ist. Da machen Sie sich einmal keine Sorgen. ({3}) Wir werden diese Passage des Koalitionsvertrages genauso getreulich umsetzen wie die anderen 180 Seiten. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Ich erteile das Wort zu einer Kurzintervention dem Kollegen Trittin.

Jürgen Trittin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003246, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Lieber Herr Kollege Schmid, Sie hatten mir zwar versprochen, Sie würden meine Frage beantworten, wollten sie dann aber gar nicht hören. Wenn ich Ihre Rede zusammenfasse, dann stelle ich Folgendes fest: Sie sagen, die Saudis halten sich nicht an die Vorschläge, die die Vereinten Nationen machen, was den Zugang zu humanitärer Hilfe angeht. Sie rühmen sich selber dafür, dass die alte Bundesregierung 165 Millionen Euro für humanitäre Hilfe gegeben hat – ich begrüße das –, aber Sie verschweigen, dass die Saudis, die sich so verhalten, wie Sie es beschrieben haben, und die anderen am Jemen-Krieg beteiligten Länder allein im letzten Jahr fast das Zehnfache für deutsche Waffenlieferungen ausgegeben haben. Das ist die Wahrheit. ({0}) Ich füge noch etwas hinzu: Wir reden hier nicht im abstrakten Raum. Omid Nouripour hat ja aufgegriffen, was die Vereinten Nationen vorgelegt haben: Im Jemen sterben jeden Tag 100 Kinder – sie verhungern –, 11 Millionen Kinder sind von Nahrungsmittelhilfe abhängig. Und Sie leisten sich eine Koalitionsvereinbarung nach dem Motto: Im Prinzip ja, aber ansonsten geht es so weiter. – Nichts anderes ist es, was Sie machen. ({1}) Sie sagen, dass Sie nicht liefern; aber als Erstes konstruieren Sie eine Hintertür, damit Sie die 33 Patrouillenboote der Lürssen-Werft gefälligst abliefern können. Das ist die Situation. Da habe ich eine ganz einfache Frage an Sie: Wann hören Sie endlich auf, Patrouillenboote an Staaten zu liefern, die jeden Tag Kinder verhungern lassen? ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege Schmid, bevor Sie antworten, erteile ich dem Kollegen Tobias Pflüger das Wort zu einer weiteren Kurzintervention.

Tobias Pflüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004852, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Es macht ja manchmal Sinn, sich die ganz konkreten Formulierungen anzuschauen. Im Koalitionsvertrag haben Sie geschrieben: Wir werden ab sofort keine Ausfuhren an Länder genehmigen, solange diese unmittelbar am Jemen-Krieg beteiligt sind. Das zentrale Wort ist offensichtlich „unmittelbar“. Dann folgt die Ergänzung, die im Sondierungspapier noch nicht enthalten war: Firmen erhalten Vertrauensschutz, sofern sie nachweisen, dass bereits genehmigte Lieferungen ausschließlich im Empfängerland verbleiben. Wir wollen diese restriktive Exportpolitik mit Blick auf den Jemen auch mit unseren Partnern im Bereich der europäischen Gemeinschaftsprojekte verabreden. Ich zitiere aus dem militärnahen Blog „Augen geradeaus!“. Dort wird wie folgt kommentiert: Bereits genehmigte Lieferungen, die ausschließlich im Empfängerland verbleiben: Das klingt doch wie maßgeschneidert für die Lieferung von Küstenschutzbooten an Saudi-Arabien. So ist es. Genau das ist die Hintertür, die Sie aufgemacht haben. Unsere Kritik ist, dass Sie diese Hintertür aufgemacht haben. Wir wollen nämlich, dass überhaupt keine Rüstungsexporte mehr nach Saudi-Arabien stattfinden, weil von dort aus ein unmenschlicher Krieg geführt wird, insbesondere gegen Zivilisten im Jemen. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege Schmid, wenn Sie antworten wollen?

Dr. Nils Schmid (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004876, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich verstehe ja, dass Ihnen die Lage im Jemen zu Herzen geht – mir auch. Aber Sie tun so, als wären es die deutschen Rüstungsexporte, die allein dafür entscheidend sind, dass wir dort so ein Elend haben. ({0}) Was mich stört, ist, dass diejenigen, die zum Teil früher selber regiert haben und die es nun nicht zustande gebracht haben, eine Regierung zu bilden, uns Kompromisse vorwerfen, die wir unter schwerem Ringen hinbekommen haben, gerade bei dem schwierigen Thema Rüstungsexporte. Das ist unlauter. ({1}) Wer etwas ändern will, muss regieren und Kompromisse schließen. ({2}) Der Kompromiss, den wir zum Thema „Rüstungsexporte und Jemen-Konflikt“ geschlossen haben, ist einer, der in Saudi-Arabien angekommen ist: Der saudi-arabische Außenminister hat gesagt, er wolle gar keine Rüstungsgüter mehr. Ich sage Ihnen: Wir werden das, was im Koalitionsvertrag steht, umsetzen. Wie immer bei Rüstungsexporten wird es Einzelfallentscheidungen geben, und das wird im Einzelfall dazu führen, dass in Zukunft Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien nicht mehr genehmigt werden – so wie es auch schon in den vergangenen vier Jahren der Fall gewesen ist. Ich bitte Sie, das zur Kenntnis zu nehmen. Ich finde, das ist ein Fortschritt gegenüber den letzten vier Jahren. Wir sollten alles dafür tun, dass wir dies mit humanitärer Politik begleiten. Denn wenn man den Menschen wirklich helfen will, muss man den Konflikt politisch lösen. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Jetzt folgt noch eine letzte Kurzintervention. Frau Kollegin Brugger.

Agnes Malczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004106, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. – Im Gegensatz zu SPD und Union kennen wir Grüne sehr genau den Verhandlungsstand bei Jamaika, besonders bei diesem Punkt, der uns sehr am Herzen lag. Lieber Kollege Schmid, wenn hier eines unlauter ist, dann das, was Sie behauptet haben. ({0}) Denn wir haben in dem Sondierungspapier an jenem letzten Sonntag vereinbart, dass es einen Rüstungsexportstopp gibt, und zwar ohne jegliche Hintertür. Ich kann wirklich verstehen, dass Sie hier unter Druck stehen. Trotzdem: Es muss endlich Schluss damit sein, dass nach wie vor deutsche Waffen in eine Region geliefert werden, in der Krieg geführt wird, und dann auch noch Boote – und das sind nun einmal keine Bötchen; sonst unterläge die Ausfuhr auch keiner Genehmigung nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz – an ein Land, das eine Seeblockade errichtet und somit hinnimmt, dass die Kinder im Jemen verhungern. Das ist die Wahrheit. Übrigens: Sie haben mehr Prozente gehabt als wir, Sie hatten auch nicht die FDP mit am Tisch, und trotzdem haben Sie weniger mit nach Hause gebracht. Ich kann verstehen, dass Sie das ärgert; aber dann sollten Sie das auch so sagen. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Wir fahren fort in der Rednerreihenfolge. Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Roland Hartwig von der AfD-Fraktion. ({0})

Dr. Roland Hartwig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004738, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordnete! Liebe Zuschauer auf den Tribünen! Wir haben gestern schon sehr lange über den Krisenherd Nummer eins in der Welt, nämlich über den Nahen und Mittleren Osten, gesprochen. Und natürlich muss auch der Jemen in den Blick genommen werden, um ein vollständiges Bild zu zeichnen. Ich möchte die vorliegenden Anträge in zwei Bereiche gliedern, zum einen in den Bereich „humanitäre Hilfe“ und zum anderen in den Bereich „Stopp von Waffenlieferungen in die Region“. Was die geforderte humanitäre Hilfe im Jemen betrifft, so kann es hier keine zwei Meinungen geben. Die Situation im Land ist dramatisch. Schon vor dem Krieg war der Jemen eines der ärmsten Länder der Welt. Die Zahl der Opfer durch den Bürgerkrieg – es ist schon angesprochen worden – ist absolut dramatisch. Bislang sind über 10 000 Tote offiziell registriert worden; aber wir sind uns alle einig, dass die Dunkelziffer noch deutlich höher liegen dürfte. Über 3 Millionen Menschen sind auf der Flucht, über 7 Millionen Menschen, darunter auch Kinder und ältere Menschen, sind von Hungersnot betroffen. Man geht aktuell von 600 000 Choleraerkrankungen aus. Es droht hier also eine humanitäre Katastrophe der allerersten Größenordnung. Insofern geht der Antrag der Grünen ausnahmsweise in die richtige Richtung. – Jetzt wäre eigentlich Zeit für einen kleinen Applaus, wenn Sie sich das bei Beiträgen meiner Partei nicht untersagt hätten. ({0}) Der zweite Bereich, die Waffenlieferung in diese Region, ist wesentlich schwieriger. Warum das so schwierig ist, wird deutlich, wenn wir uns den Hintergrund der Situation vor Augen führen. Seit 2015 findet hier ein Stellvertreterkrieg zwischen Saudi-Arabien auf der einen Seite und dem Iran auf der anderen Seite statt. Das heißt, es sind zwei der vier Länder beteiligt, neben Israel und der Türkei, die derzeit ganz wesentlich die Geschehnisse im Nahen und Mittleren Osten bestimmen und die natürlich auch im Jemen übergeordnete Interessen verfolgen. Damit wird auch deutlich, dass die deutsche Außenpolitik nur sehr begrenzt, wenn überhaupt, Einfluss auf die Entwicklungen im Jemen nehmen kann. Bekanntermaßen blockiert hier Saudi-Arabien seit 2015 alle Häfen und Flughäfen des Landes. Das hat aber weder die USA noch Großbritannien davon abgehalten, Rüstungsgüter im Wert von mehreren Milliarden Dollar an Saudi-Arabien und seine Verbündeten zu liefern. Von daher war es sicherlich mehr als fraglich, dass die Bundesregierung noch Anfang 2017 den Export von Patrouillenbooten nach Saudi-Arabien gestattet hat. Es wäre nur konsequent gewesen, wenn die kommende GroKo vereinbart hätte, weitere Lieferungen zu stoppen. ({1}) Wobei wir aufhören sollten, in diesem Hohen Hause von der „GroKo“ zu sprechen; denn so groß ist die Koalition gar nicht mehr. Sie kommt nach aktuellen Umfragen nur mit Mühe auf knapp 50 Prozent. ({2}) Aber schauen wir auf die Zahlen. Allein in den Jahren 2013 bis 2015 wurden Waffen und Rüstungsgüter im Wert von fast 100 Milliarden Dollar an den Nahen und Mittleren Osten geliefert. Die drei Hauptexporteure waren die USA mit circa 75 Milliarden Dollar, die EU mit fast 12 Milliarden Dollar und Russland mit 7 Milliarden Dollar. Die Hauptabnehmerländer waren Saudi-Arabien mit 25 Milliarden Dollar und die Vereinigten Arabischen Emirate mit über 18 Milliarden Dollar. Beide sind Konfliktparteien im Jemen. Der Anteil Deutschlands an den Rüstungsexporten lag bei etwa 1 Prozent. Das heißt, selbst wenn wir diesen Anteil jetzt auf null reduzieren würden, bliebe die Gesamtsituation unverändert. Man muss also woanders ansetzen, wenn man wirklich Veränderungen will. Das zeigt auch die heute schon angesprochene Reaktion von Saudi-Arabien auf das, was in der Koalitionsvereinbarung steht und möglicherweise gesagt oder auch nicht gesagt worden ist. Man ließ uns wissen, dass man sich die betroffenen Güter mühelos auch woanders beschaffen könne. Wenn man wirklich Veränderungen will, muss also bei der Lieferung von Waffen und Rüstungsmaterialien aus den USA, anderen EU-Ländern und Russland angesetzt werden. ({3}) Wir werden uns die Anträge der Grünen und der Linken, die in die Ausschüsse wandern werden, ganz genau anschauen. Wir sind sehr gespannt, welche konkreten Maßnahmen mit Blick auf Washington, London oder Moskau vorgeschlagen werden. Ich fürchte, da wird nicht viel Konkretes kommen, jedenfalls nichts, was in diesen drei Städten mehr als Heiterkeit auslöst, sofern man diese Vorschläge dort überhaupt zur Kenntnis nimmt. Vielen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Hartwig. – Als Nächste für die Freien Demokraten die Kollegin Renata Alt mit ihrer ersten Parlamentsrede. ({0})

Renata Alt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004654, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ja, die Situation im Jemen ist katastrophal. Wir sind Zeugen eines verheerenden Stellvertreterkrieges. Dieser findet in der deutschen Öffentlichkeit aber viel zu wenig Beachtung. Der im Koalitionsvertrag vereinbarte Stopp der Lieferung von Rüstungsgütern in die Region ist deshalb ein richtiger Schritt. In Anbetracht der Entwicklung in den letzten 48 Monaten war dieser Schritt allerdings schon längst überfällig. ({0}) Wir Freien Demokraten lehnen Waffenlieferungen in Krisengebiete ab. Der Hauptgrund für die humanitäre Katastrophe ist allerdings der Kampf Saudi-Arabiens und seiner Verbündeten gegen die Huthi-Rebellen. Die Ausweitung der Luftschläge Saudi-Arabiens auf zivile Einrichtungen lässt die Opferzahlen noch steigen. Straßen, Brücken – wir haben es bereits gehört – und kritische Infrastrukturen sind stark beschädigt oder zerstört. Darunter leidet insbesondere die Landbevölkerung, die von jeglicher Hilfe abgeschnitten wird. Die Einfuhr von Hilfsgütern verläuft äußerst schleppend. Seit 2015 unterliegt Jemen einer Seeblockade. Mit Ausnahme von al-Hudaida kontrolliert Saudi-Arabien alle wichtigen Häfen. Für ein Land, das 90 Prozent seiner Nahrungsmittel importiert, ist das verheerend. Meine Damen und Herren, die Friedensfindung im Land wird ein langer Weg sein. Die Bevölkerung kann aber nicht so lange warten. Deshalb steht jetzt die Verbesserung der humanitären Situation im Vordergrund. ({1}) Als Erstes ist es wichtig, die Infrastruktur wiederherzustellen, um die Verteilung dringend benötigter Hilfslieferungen zu gewährleisten. Dafür müssen alle Güter die Häfen des Landes erreichen können. Die Bundesregierung ist deshalb aktuell angehalten, Druck auf die saudi-arabische Regierung auszuüben, damit wenigstens in dem einzigen zugänglichen Hafen die großen Kräne aufgebaut werden können, damit die humanitäre Hilfe tatsächlich ankommt. ({2}) Die Mobilität von Waren und Personen sollte in allen Landesteilen gewährleistet sein. Wir Freien Demokraten sehen als Zweites die Notwendigkeit eines breiten politischen Engagements; denn neben der unmittelbaren Hilfe gilt es, eine Entwicklungsperspektive und einen funktionierenden Staat zu schaffen. Der Gesprächsprozess unter Führung der Vereinten Nationen ist daher zu unterstützen und weiterzuführen. Alle beteiligten Akteure – staatliche und nichtstaatliche – sind an den Verhandlungstisch zu bringen. Für den Jemen gibt es keine einfachen Lösungen. Deutschland ist gut beraten, hier im europäischen Verbund vorzugehen: bei der einheitlichen Restriktion von Rüstungsexporten in Krisenregionen, bei der humanitären Hilfe sowie bei der langfristigen politischen Lösung. In diesem Kontext wiederholen wir unseren heutigen Appell, den mein Kollege Alexander Graf Lambsdorff heute vorgetragen hat, für eine handlungsfähige europäische Außenpolitik. Dem Vorschlag auf Überweisung in den Ausschuss werden wir zustimmen. Vielen Dank. ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank, Frau Kollegin Alt. – Als Nächstes für die Fraktion Die Linke der Kollege Stefan Liebich. ({0})

Stefan Liebich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004093, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich bin ja von der SPD viel gewohnt; aber heute haben Sie dem Fass den Boden ausgeschlagen. ({0}) Ganz ehrlich: Ich glaube, Sie wollen uns alle hier für dumm verkaufen. Ich fand das Ergebnis, das die Grünen bei den Jamaika-Verhandlungen erzielt haben, natürlich nicht ausreichend. Logisch. Wir wollen da mehr. Aber dass das besser ist als das, was vorliegt, das sieht doch jeder. ({1}) Ich will Ihnen – und damit meine ich Sie von der Sozialdemokratie; von der Union erwarte ich gar nichts – noch einmal die gesamte Geschichte erzählen. ({2}) Ihr Außenminister hat doch gesagt, er wolle eine restriktivere Rüstungspolitik. Von der Union hat das keiner gesagt, deswegen spreche ich mit Ihnen. ({3}) Ich will also noch einmal die gesamte Geschichte erzählen. Sie haben ein Sondierungsergebnis erzielt, das viel stärker war als das, was jetzt auf dem Tisch liegt; das wissen Sie alle. Und dann gab es öffentliche Äußerungen von Ministerpräsidenten Ihrer Partei – ich erwähne Frau Schwesig –, die gesagt haben: Uns geht es um Jobs. ({4}) Ihr Außenpolitiker Herr Mützenich hat versucht, dagegenzuhalten. Er konnte sich nicht durchsetzen. Und dann kam das Ergebnis heraus, das wir jetzt haben. Es enthält so viele Hintertüren; das können Sie hier nicht schönreden. ({5}) Ich gehe einmal etwas grundsätzlicher heran. Ich habe darüber gesprochen, was Herr Gabriel am Anfang der letzten Wahlperiode versprochen hat. Es liegen vier Jahre hinter uns, in denen die Sozialdemokraten den Außenminister und den Wirtschaftsminister – aktuell: die Wirtschaftsministerin – gestellt haben. Letztere sind ja verantwortlich für die Genehmigung von Rüstungsexporten. Das war die Wahlperiode mit den meisten Waffenexporten in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Das waren die letzten vier Jahre. ({6}) Alleine nach Saudi-Arabien sind Waffen aus Deutschland im Wert von 1,7 Milliarden Euro geliefert worden. An die Adresse der Sozialdemokraten sage ich: Wenn Sie wieder regieren sollten – das müssen Ihre Mitglieder ja noch entscheiden –, haben Sie ein paar Hausaufgaben zu erledigen. ({7}) In diesen 1,7 Milliarden Euro ist noch nicht enthalten, dass Rheinmetall in Sardinien deutsche Bomben herstellt und an die Saudis verkauft. Kümmern Sie sich einmal darum! ({8}) Darin ist auch nicht enthalten, dass eine Munitionsfabrik, eine südafrikanische Tochterfirma von Rheinmetall, in die saudische Wüste eine Waffenfabrik baut. Da können wir gar nichts mehr kontrollieren. Wie wollen wir das stoppen? Das ist eine weitere Hausaufgabe. ({9}) In diesen 1,7 Milliarden Euro sind auch die Waffen – und da kommen die Bezeichnungen „unmittelbar“ oder „nicht unmittelbar“ ins Spiel – noch nicht enthalten, die nicht direkt am Krieg beteiligt sind, sondern die diesen Krieg mittelbar unterstützen. Zusätzlich zu den Waffen im Wert von 1,7 Milliarden Euro liefern Sie an Ägypten, an die Vereinigten Arabischen Emirate, an Katar; aber eben auch an Großbritannien, USA und Frankreich, die eine ausgesprochen zweifelhafte Rolle in diesem Krieg spielen. An diesem Punkt stellt sich die Frage: Wo ist es unmittelbar, und wo ist es mittelbar? ({10}) Frau Motschmann, was da passiert, ist kein Kampf gegen den Terror. Saudi-Arabien bombardiert alles wahllos nieder: Hochzeiten, Wohnviertel, Schulen, Krankenhäuser, Märkte, Kulturschätze wie den Marib-Staudamm, den ältesten Staudamm der Menschheit. 92 Prozent der Opfer in diesem Krieg sind Zivilisten. Der UN-Menschenrechtsrat hat Saudi-Arabien gerade auf die schwarze Liste der Länder gesetzt, die die schwersten Übergriffe auf Kinder in Konflikten verüben. Frau Motschmann, so ein Land kann doch nicht unser Verbündeter sein! ({11}) Hier gibt es nur eine Forderung: Stoppen Sie endlich die Waffenexporte, und zwar ohne Wenn und Aber und sofort! ({12}) Ein Letztes. Ich habe die Bundesregierung einmal gefragt, was sie eigentlich über die Waffenexporte weiß, die genehmigt sind, wo die Waffen aber noch nicht ausgeliefert sind; um die geht es ja. ({13}) Die Antwort des Bundeswirtschaftsministeriums lautet, dass sie dazu keine belastbaren Daten haben. Das heißt in meinen Worten: Wir, die Bundesregierung, haben gar keinen Schimmer, was mit den Waffen, deren Ausfuhr genehmigt ist, die aber noch nicht ausgeliefert sind, passiert. Sind sie noch hier in Deutschland? Sind sie per Schiff auf dem Weg nach Saudi-Arabien? Das, was Sie hier erzählen – im Übrigen auch Ihren Mitgliedern, die jetzt über den Koalitionsvertrag abstimmen –, ist Augenwischerei. Sie wissen gar nicht, was mit den Waffen passiert. Und an der Politik der letzten vier Jahre haben Sie mit diesem Koalitionsvertrag im Grundsatz auch nichts geändert. ({14})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Liebich. – Als Nächster für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Thomas Erndl. ({0})

Thomas Erndl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004709, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Durchschnittlich 150 000 Menschen pro Jahr starben in den letzten Jahren in bewaffneten Konflikten. Jedes einzelne Opfer ist eines zu viel. Wir leisten mit unserer Sicherheitspolitik bei Abrüstung und auch bei der wirtschaftlichen Zusammenarbeit unseren Beitrag zu einer friedlicheren Welt. Da hilft auch keine naive Sichtweise, wie wir sie von der Linken und von den Grünen hören, sondern da müssen wir Verantwortung wahrnehmen. ({0}) Dazu gehört auch der verantwortungsvolle Umgang mit Rüstungsexporten. Das heißt, dass wir Partner wie Saudi-Arabien in vielen Fragen unterstützen, aber natürlich bei jedem einzelnen Projekt genau hinschauen müssen und uns auch selber ständig hinterfragen müssen. Dabei wenden wir eines der strengsten Regelwerke zu Rüstungsexporten an, das im Übrigen in der heute gültigen Form durch die frühere rot-grüne Regierung festgelegt wurde. ({1}) Mit Blick auf die Situation im Jemen haben wir deshalb im Koalitionsvertrag verantwortungsvoll bestimmt, dass ab sofort keine weiteren Ausfuhren an Länder genehmigt werden, ({2}) solange sie unmittelbar am Jemen-Krieg beteiligt sind. – Ich lasse dazu keine Zwischenfragen zu; ich denke, dazu ist alles gesagt. Meine Damen und Herren, kurzfristig entscheidend für die Situation im Jemen ist ohnehin nicht die Frage der Lieferung von Patrouillenbooten, sondern entscheidend ist die Frage der humanitären Hilfe. ({3}) Die Lage ist katastrophal; es ist die derzeit größte humanitäre Katastrophe. Mehr als drei Viertel der knapp 30 Millionen Einwohner sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Fast das ganze Land leidet unter einer Cholera-Epidemie. Jeden Tag sterben Kinder an Krankheiten, die nach unseren Maßstäben leicht zu behandeln wären. Es müssen deshalb alle Kanäle genutzt werden, um für die Menschen Zugang zu humanitärer Hilfe zu gewährleisten – Gesprächskanäle, die übrigens auch durch Rüstungspartnerschaften vorhanden sind. Die Bundesrepublik hat von Anfang an den Konflikt verurteilt und alle Konfliktparteien zum Stopp der Kriegshandlungen aufgerufen. ({4}) Das Verhältnis zu den Saudis ist auf einem Tiefpunkt; das zeigt auch der Rückruf des Botschafters. Es ist schon angesprochen worden: Die Kritik ist angekommen. ({5}) Die aktuelle Info ist, dass Ende Januar die von Saudi-Arabien geführte Koalition einen umfassenden Hilfsplan angekündigt hat. Dazu gehören die Öffnung von Häfen für humanitäre Hilfslieferungen für einen Korridor von 30 Tagen und Luftbrücken zur Versorgung der Zivilbevölkerung. Es bleibt zu hoffen, dass dies auch so umgesetzt wird und dass damit die drohende Hungersnot für einen Großteil der Bevölkerung abgewendet und vor allem die Situation der Kinder, die nach UN-Angaben einen großen Teil der Binnenflüchtlinge ausmachen, verbessert werden kann. Alle Akteure in der Region sind aufgefordert, die Stellvertreterkriege zu beenden und für einen Friedensplan und eine stabile Zukunftsperspektive zu sorgen. ({6}) Meine Kolleginnen und Kollegen, die eingangs erwähnten durchschnittlich 150 000 Opfer gewaltsamer Konflikte pro Jahr bedeuten ein Opfer alle vier Minuten. Wir müssen also während meiner Redezeit statistisch ein weiteres beklagen. Eine verantwortungsvolle und restriktive Rüstungspolitik, zu der wir uns auch im Koalitionsvertrag bekennen, ist unser Beitrag zu mehr Sicherheit und mehr Frieden in der Welt. Hier brauchen wir auch keine Nachhilfe von den Kolleginnen und Kollegen von Linken und Grünen. ({7}) Die humanitären Forderungen in Ihren Anträgen sind sicherlich zu unterstützen, die Anträge insgesamt wegen nicht ausreichender Ausgewogenheit abzulehnen. Vielen Dank. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Erndl. – Erlauben Sie mir den Hinweis, dass Sie die Erklärung, keine Zwischenfrage zuzulassen, sinnvollerweise erst dann abgeben sollten, wenn das Präsidium Sie gefragt hat, ob Sie eine Zwischenfrage zulassen. Aber ich kann Ihnen versichern: Es gab nicht einmal eine Meldung. ({0}) Als nächster Redner für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Markus Koob. ({1})

Markus Koob (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004331, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir beschäftigen uns heute nicht zum ersten Mal und wohl leider auch nicht zum letzten Mal mit der katastrophalen humanitären Situation im Jemen. Die diplomatischen Anstrengungen der letzten Jahre dienten alleine dem Ziel der Befriedung des so unheimlich stark gebeutelten Jemens und seiner zivilen Bevölkerung. Wir haben hier sehr viel darüber gehört, wie sehr die Bevölkerung leidet und wie viele Menschen keinen Zugang zu Wasser und dringend notwendigen Lebensmitteln haben; ich will die Zahlen nicht wiederholen. Es wurde auch mehrfach über die Blockade gesprochen, die verhindert, dass Nahrungsmittel in das Land kommen können, auch wenn es dem Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen mittlerweile gelungen ist, kleinste Erfolge zu erzielen, die aber im Moment leider nicht viel mehr als ein sehr kleiner Tropfen auf einen sehr großen, heißen Stein sein können. Die Anträge von Linken und Grünen, die uns heute vorliegen, haben das gleiche übergeordnete Ziel wie auch meine Bundestagsfraktion: nachhaltigen Frieden im Jemen und in der gesamten Golfregion. ({0}) Der Unterschied aber ist, dass wir hinter der Bundesregierung stehen, die schon in der Vergangenheit versucht hat, den Sondergesandten der Vereinten Nationen umfassend zu unterstützen und Anstrengungen zu unternehmen, die Kriegsparteien an einen Tisch zu bekommen und zumindest über einen Waffenstillstand zu verhandeln. Ihre Anträge aber suggerieren, die Bundesregierung hätte noch nicht alle Hebel in Bewegung gesetzt. Das ist ein falscher Eindruck. Sie tut dies beständig, nachdrücklich und seit mehreren Jahren. ({1}) – Danke. Es müssen Kompromisse gefunden und geschlossen werden; denn eine militärische Lösung des Konflikts kann es nicht geben. Wir brauchen auf allen Seiten den Willen zu einer politischen Lösung, ({2}) zuvorderst natürlich bei Saudi-Arabien, beim Iran und bei den innenpolitischen Akteuren. Sicher ist es auch wichtig, die enorme Zahl der Rüstungsgüter in diesem Konflikt in größtmöglichem Umfang zu reduzieren. Auch deshalb haben wir gemeinsam mit der SPD im Koalitionsvertrag festgeschrieben, dass es für Deutschland keine weiteren Ausfuhren an Länder, die unmittelbar am Krieg im Jemen beteiligt sind, geben wird; wir haben das heute schon mehrfach gehört. ({3}) Das ist ein richtiger Schritt, und doch ist ein solcher Schritt alleine nicht ausreichend, um diesen Krieg zu beenden, zumal viele dieser Rüstungsgüter eben nicht notwendigerweise Angriffswaffen sind. Unter Rüstungsgütern befinden sich auch Güter für den Grenz- und Zivilschutz. Übrigens sind auch Geräte zur Beseitigung von Kriegsfolgen allgemeine Rüstungsgüter. So wurden im Rahmen der von Ihnen, liebe Grüne, kritisierten Rüstungsexporte im Jahr 2010 unter anderem auch Minenräumfahrzeuge in den Jemen geliefert. Wir haben heute schon mehrfach darauf Bezug genommen, dass die Saudis verstanden haben, wie die Botschaft, die SPD und Union an dieser Stelle vereinbart haben, lautet. Wenn der saudi-arabische Außenminister sagt: „Wir brauchen eure Rüstungsgüter nicht; wir werden sie woanders finden“, dann sollte uns dieser Satz nicht gefallen, und er entbindet uns auch nicht von unserer Verantwortung, was unsere Rüstungsexporte angeht. Er zeigt aber eben auch, dass wir tatsächlich den Anspruch haben müssen, eine europäische Haltung zu entwickeln, und nicht nur einseitig über deutsche Rüstungsexporte reden können. ({4}) Die Einflussfaktoren im Hinblick auf den Krieg im Jemen sind so vielfältig wie dessen Akteure, sowohl was die Innenpolitik im Jemen angeht als auch bezüglich der Religion und des machtpolitischen Einflusses der beteiligten Mächte und der Koalitionstruppen in der Region. Der eine oder andere wird sich vielleicht fragen: Warum interessiert uns eigentlich, was im Jemen passiert? Sind wir davon überhaupt betroffen? Hier geht es nicht nur um Fragen von Menschlichkeit und Empathie, wobei einen die grausamen Geschehnisse im Jemen erschaudern lassen, sondern auch um die Stabilität der gesamten Region. Der Jemen steht heute vor der Gefahr, wieder in das Schicksal von vor 1990 zurückzufallen, nämlich in eine Teilung des Landes. Dieses Problem sollte gerade uns Deutsche besonders bewegen. Deshalb müssen all unsere Anstrengungen darauf gerichtet sein, die Stabilität wiederherzustellen. Wir müssen die dort beteiligten Mächte an den Verhandlungstisch bekommen. Wir müssen natürlich auch über Rüstungsexporte reden – keine Frage –, dürfen dieses Thema aber nicht nur auf Rüstungsexporte verengen und beschränken. Vielmehr müssen wir einen internationalen Ansatz finden, um dafür zu sorgen, dass den Menschen im Jemen in diesem Jahr und vor allem in der weiteren Zukunft wieder ein sicheres Leben ermöglicht werden kann. Vielen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Koob. – Damit schließe ich die Aussprache zu den Tagesordnungspunkten 18 a und 18 b. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/834 und 19/833 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! 2009 erklärte Bundestagspräsident Norbert Lammert an dieser Stelle: Als Zeugen der Geschichte unseres Landes bleiben wir sensibel für alle Entwicklungen, die Demokratie und Menschenrechte gefährden. Als Zeugen von Ereignissen, die niemals hätten stattfinden dürfen, wenden wir uns gegen Rassismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit jeder Art. Als Zeugen geben wir die Lehren, die wir aus unserer Geschichte gezogen haben, an die nächste Generation weiter. ({0}) Dieses Gebäude mit seiner abgründigen Geschichte und seinen Kunstwerken bis hin zu den Graffitis der Befreier an den Wänden atmet genau dieses Selbstverständnis aus jeder Pore. ({1}) Sie von der AfD brechen aber mit diesem Konsens, und Sie tun es vorsätzlich. ({2}) Wir sind nicht bereit, angesichts Ihrer täglichen unsäglichen Tabubrüche hier einfach zur Tagesordnung überzugehen. ({3}) Sie benutzen fast täglich Nazivokabular, Sie plakatieren im Wahlkampf NPD-Parolen und versuchen, unsere Gesellschaft zu spalten und zu entsolidarisieren. ({4}) Das sind keine Missverständnisse, da ist keine böse Presse, die irgendetwas verzerrt, und da ist auch niemand von der Maus abgerutscht, Frau von Storch. Es gibt einfach nur eines dazu zu sagen: Diese Aussagen sind menschenverachtend. ({5}) Es handelt sich schlicht um offenen und ekelhaften Rassismus, und der ist mit den konstituierenden Werten dieses Hohen Hauses nicht vereinbar. ({6}) Sie sitzen in zahlreichen Landtagen und seit kurzem auch hier im Deutschen Bundestag. ({7}) Sie sind Teil eines Verfassungsorgans, und damit geht eben Verantwortung einher. ({8}) Sie agieren aber in höchstem Maße verantwortungslos und radikalisieren sich im Minutentakt. ({9}) Die Spirale dreht sich immer schneller. Frau Weidel und Herr Gauland – wo sind sie eigentlich? – sind nicht Getriebene, sondern längst Treiber dieser zutiefst antidemokratischen Entwicklung. ({10}) Ihre beiden Fraktionsvorsitzenden hetzen inzwischen fast täglich nach Aussehen, nach Namensklang und nach vermeintlichem Stammbaum, und damit stehen sie in direkter Tradition der Schlimmsten, die nichts als Tod, Elend, Schimpf und Schande über dieses Land gebracht haben. ({11}) Dass es in diesem Haus in Ihrer Fraktion Abgeordnete gibt, die einer Auschwitz-Überlebenden den Applaus verweigern, ist eine Schande. ({12}) Stattdessen faseln Sie vom Schuldkult, von einer Erinnerungsdiktatur, von einem Denkmal der Schande. ({13}) Das ist unerträglicher Geschichtsrevisionismus in Reinform. ({14}) Sie diffamieren immer wieder Menschen in unserem Land als Deutschlandhasser: ({15}) Deniz Yücel, die Merkel-CDU, die Kirchen, schändliche Liberale, die Altparteien und natürlich die linksversifften Grünen. ({16}) Ich sage Ihnen aber: Wie die überwältigende Mehrheit der Menschen in diesem Land bin ich stolz auf dieses Land – wegen seiner rechtsstaatlichen und demokratischen Verfasstheit und gerade wegen des glasklaren Bekenntnisses zu den dunkelsten Kapiteln unserer Geschichte und der daraus erwachsenen Verantwortung für uns alle. ({17}) Sie lehnen all das ab. ({18}) Sie bekämpfen es offensiv. Wir aber werden es mit aller Kraft verteidigen, auch und gerade für die kommenden Generationen. Ich verspreche Ihnen: Wir haben mit dieser Auseinandersetzung gerade erst begonnen, meine Damen und Herren. ({19}) Ganz herzlichen Dank. ({20})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege von Notz. Zunächst möchte ich darauf hinweisen, dass während der Aktuellen Stunde Zwischenfragen nicht zulässig sind. Das geht an die Fraktion der AfD, weil da mehrere Meldungen waren. ({0}) – Frau Kollegin Haßelmann, momentan habe ich das Wort. ({1}) – Gut. Das gilt auch für Sie. ({2}) Das Zweite ist: Bei aller Erregung, die nachvollziehbar ist angesichts der Angriffe, die Sie von der AfD-Fraktion empfinden, Frau von Storch, ist der Zuruf „Sie haben eine Macke!“ unparlamentarisch. ({3}) Im Übrigen erteile ich dem Abgeordneten aus der AfD-Fraktion, dessen Name mir leider entfallen ist – wir werden ihn identifizieren –, einen Ordnungsruf für den Zuruf „Richtig!“ nach dem Zitieren der Aussage, das Mahnmal zum Gedenken der jüdischen Opfer sei ein Mahnmal der Schande. – Dafür erteile ich Ihnen einen Ordnungsruf. ({4}) Ich gebe zu Protokoll: Das ist der Abgeordnete Seitz von der AfD. Als nächster Redner für die CDU/CSU-Fraktion: Frau Marian Wendt. ({5}) – Gut, das sehe ich jetzt. Ich bitte vielmals um Entschuldigung. Herr Marian Wendt. Das war keine Anspielung, Herr Wendt. ({6})

Marian Wendt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004441, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Kein Problem, Herr Präsident. Sie sind nicht der Erste in meinem Leben, dem das passiert ist. Aber damit ist mir Ihre Aufmerksamkeit sicher. Herr Präsident! Vielen Dank für Ihre klaren Worte und auch für den Ordnungsruf. Ich glaube, es ist in einer solchen Debatte richtig und wichtig, dass hier durchgegriffen wird und der Rechtsstaat funktioniert. Liebe Kolleginnen und Kollegen: Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen. Darin liegt der Kern dessen, was wir zu sagen haben. Prägnant und eindringlich wie kein anderer fasste der Schoah-Überlebende Primo Levi somit Sinn, Zweck und Auftrag unserer Erinnerungskultur und Gedenkarbeit zusammen. Das, was die AfD immer intensiver infrage stellt, nämlich unser Geschichtsbewusstsein, ist ein unentbehrlicher Teil unserer Identität. ({0}) Demokratie geht nicht ohne Erinnerungskultur. ({1}) Wir sind nicht persönlich für die Verbrechen unserer Vorfahren verantwortlich. Uns trifft keine persönliche Schuld. Wir sind aber durch Sprache, Kultur und Abstammung mit diesen Taten verbunden. Aus der Erinnerung erwächst eine Verantwortung – auch für unsere, für meine Generation. Niemals dürfen Menschen in unserem Land wieder wegen ihres Aussehens, ihrer Religion, ihrer Meinung, ({2}) ihrer Herkunft oder wegen ihres Drangs nach Freiheit getötet werden. ({3}) Die beiden Diktaturen auf deutschem Boden, die kommunistische wie die nationalsozialistische, müssen uns Mahnung sein. Leider müssen wir aber häufiger feststellen, dass der Respekt vor den Opfern dieser beiden Diktaturen immer wieder verloren geht. So hat zum Beispiel die AfD die Erinnerung an die Opfer des Holocaust mit Füßen getreten. ({4}) Der Thüringer Fraktionsvorsitzende der AfD, Björn Höcke, bezeichnete das Denkmal für die ermordeten Juden Europas als – Zitat – „Denkmal der Schande“. ({5}) Alle dachten, dass diese Verunglimpfung, die nicht einmal innerparteilich geahndet wurde – das werfe ich Ihnen hier vor –, die unterste Schublade ist. ({6}) Wir dachten, es wiederholt sich nicht. ({7}) Aber nein: Der AfD-Abgeordnete Gedeon fordert ein Ende der Stolpersteinaktion. Mit solchen Aussagen verhöhnen Sie das Gedenken an die Toten. Schämen Sie sich! ({8}) Wenn die Stolpersteine und das Holocaustmahnmal eine Schande für Sie sind, was halten Sie dann von den russischen Inschriften der Sowjetsoldaten, die sich im Reichstagsgebäude finden? Aber ich glaube, diese als Schande zu bezeichnen, hat Ihnen Herr Putin verboten. An einer tiefen und vor allem ehrlichen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und mit der zeitgenössischen Erinnerungskultur sind Sie gar nicht interessiert. Sie begehen dabei den gleichen Fehler wie damals die PDS. Auch sie konnte sich nie dazu durchringen, die kommunistische Diktatur in Deutschland aufzuarbeiten. ({9}) Nie wurden Mauertote beklagt. Nie haben Sie hörbar die blutige Niederschlagung des Aufstandes vom 17. Juni 1953 verurteilt. ({10}) Und nie hat es eine Entschuldigung für die in der damaligen sowjetischen Besatzungszone getöteten Deutschen gegeben. Mein Urgroßvater wurde 1948 im Lager Mühlberg durch die Sowjetbesatzer systematisch getötet. Dazu höre ich leider nie etwas von Ihnen. ({11}) Sie können aber in dieser Debatte nicht glaubhaft gegen die AfD argumentieren, solange Sie auf dem linken Auge der Geschichte blind sind. ({12}) Wenn linke und rechte Parteien im Bundestag wirklich ein Interesse an der Debatte zur Erinnerungspolitik haben, dann würde ich Ihnen sagen: Auschwitz, Sachsenhausen und Hohenschönhausen sind nach wie vor Teil unseres kollektiven Gedächtnisses. ({13}) Wir Deutschen können stolz auf die Aufarbeitung unserer Geschichte sein, auf die Lehren, die wir gezogen haben, und auf das bleibende Gedenken an die Opfer. ({14}) In den Staaten, wo der offene und ehrliche Umgang mit der eigenen Geschichte fehlt, wird er durch nationalistische Propaganda und Chauvinismus ersetzt, wie wir leider bei Putins Krieg gegen die Ukraine sehen. Erinnerungskultur ist ein andauernder Lernprozess. Das betrifft auch und insbesondere Menschen, die zu uns zuwandern und womöglich antisemitische Vorurteile und Ressentiments mitbringen. Diesen Menschen sage ich ganz klar: Deutschland ist das falsche Zielland für Sie. – Hier wird Antisemitismus nicht geduldet. ({15}) Meine Damen und Herren, bald gibt es keinen Ausch­witz-Überlebenden mehr, der mit seiner auf den Arm tätowierten Häftlingsnummer sein Leid und die Unmenschlichkeit des Dritten Reiches bezeugen kann. Bald gibt es keine Menschen mehr, die von der Verfolgung durch die Stasi, der Inhaftierung in Hohenschönhausen und der Gefahr des Todes an der innerdeutschen Grenze berichten können. Es liegt also an uns, Primo Levis Mahnung und Auftrag mit Leben zu erfüllen und jeder Form der Geschichtsklitterung von rechts wie von links entgegenzutreten. Vielen Dank. ({16})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Wendt. – Als Nächstes für die SPD-Fraktion: Frau Michelle Müntefering. ({0})

Michelle Müntefering (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004359, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege von Notz, in der Tat, die Wege in diesem Saal führen uns an den Wänden vorbei, auf denen immer noch die Inschriften derjenigen stehen, die uns alle befreiten. ({0}) Ich zitiere den ehemaligen Bundespräsidenten von ­Weizsäcker: Sie befreiten uns „von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“. ({1}) Es sind die Spuren des Kampfes um das Reichstagsgebäude im April 1945, die erhalten geblieben sind, darunter die Graffiti sowjetischer Soldaten. Ich habe schon manchen Besucher aus dem Ausland ungläubig staunend davor stehen gesehen. Man kann auf den Internetseiten des Bundestages nachlesen: Der Architekt Sir Norman Foster, geboren 1935, begann unmittelbar nach der Verhüllung des Reichstags, die alten Gipsfaserplatten der 60er-Jahre abzunehmen, die vor die Wände des historischen Baus gesetzt worden waren. Heute sind die wiederentdeckten kyrillischen Inschriften Teil des demokratischen Alltags in diesem Parlament – weil wir es so wollen, ({2}) weil dieses Gebäude eine Geschichte hat: eine Geschichte, die einen Teil deutscher Vergangenheit ausmacht, der sich tief in das kollektive Bewusstsein und in unser Gedächtnis eingeprägt hat. Wir erinnern uns in diesen Tagen an den mutigen Widerstand der Geschwister Scholl. Auch eingedenk ihres Schicksals müssen wir uns Nationalismen und vergifteten Debatten immer wieder neu entgegenstellen. ({3}) An die Adresse der AfD: Sie haben von einem Denkmal der Schande und einer erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad gesprochen. Ich sage: Es gilt, die geistige und die kulturelle Freiheit unseres Landes zu bewahren. ({4}) Am besten gelingt das übrigens durch Aufklärung und Bildung der jungen Generation, durch internationalen Austausch, durch die Erfahrung des anderen, durch die Erkenntnis, dass einfache Antworten nicht richtig sind, ({5}) durch mutige junge Menschen, die Haltung zeigen und sich nicht von den rechten Verführern unserer Zeit ködern lassen. Ich wünsche mir, dass die junge Generation in Deutschland unsere Kultur des Erinnerns weiterträgt und dass sie ihren eigenen Umgang damit findet. Es gibt bestimmte Ereignisse, die einen besonders prägen. Für mich waren das der Besuch in Bergen-Belsen und die Diskussion mit einer Zeitzeugin, die unter schlimmsten Umständen überlebt hatte und dann nach Amerika geflohen war. Sie erzählte uns Neuntklässlern, wie sie Jahre nach dem Ende des Krieges plötzlich die gewalttätige und sadistische Aufseherin des Lagers – mit Pelz bekleidet – beim Shopping in einem Kaufhaus in New York zufällig wiedersah. Mich hat diese Vorstellung als Teenager zutiefst schockiert. Ich habe es nie vergessen. In den letzten Wochen gab es eine Debatte darüber, ob junge Leute, ob Schülerinnen und Schüler Gedenkstätten verpflichtend besuchen sollten. Ich meine, dass das kein Zwang, sondern eine Selbstverständlichkeit sein sollte. ({6}) Junge Menschen brauchen dabei aber Unterstützung. Deswegen bin ich froh, dass wir im Koalitionsvertrag gute Festlegungen getroffen haben. Wir legen insbesondere das Programm „Jugend erinnert“ auf, das noch mehr Möglichkeiten eröffnen soll, Gedenkstätten und Workshops zu besuchen, um den Blick für wachsenden Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit zu schärfen. Das ist umso wichtiger, weil die letzten Zeitzeugen gehen. Wir haben im Koalitionsvertrag im Sinne des Erinnerns konkret – das war, ist und bleibt ein Prozess – die Unterstützung dezentraler, kleiner Initiativen, die Stärkung der Gedenkstätten und ihre Weiterentwicklung sowie nicht zuletzt die Aufarbeitung unseres kolonialen Erbes in Zusammenarbeit mit anderen Ländern festgeschrieben. Wir tun das, weil die Kulturarbeit unser Leben und die Demokratie bereichert. An die Adresse meiner SPD: Das allein ist Grund genug, Ja zu Regierung und Verantwortung zu sagen. Herzlichen Dank. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Müntefering. – Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Marc Jongen von der AfD das Wort. ({0}) Herr Kollege, entschuldigen Sie, aber ich werde von der AfD-Fraktion darauf hingewiesen, dass es sich um Ihre erste Rede handelt. ({1}) – Wie ich höre, soll es schon die zweite sein. Da müssen Sie in Ihrer Fraktion vielleicht für Aufklärung sorgen. ({2}) Bitte, Herr Jongen.

Dr. Marc Jongen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004768, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es war vorauszusehen, dass Sie unter dem Vorwand, sich gegen Hetze zu wenden, heute Hetze gegen die AfD betreiben würden. ({0}) Genauso ist es gekommen. Ich will das gerne aufnehmen und ein paar Worte in eigener Sache verlieren. Die Alternative für Deutschland steht in einem schweren politischen Kampf. ({1}) Wir kämpfen, wie es unser Name sagt, für Deutschland, für eine Alternative zur Abschaffung dieses Landes als staatliche und kulturelle Einheit, die Sie alle betreiben, wie Sie von den Altparteien hier sitzen, ({2}) durch Ihre EU-Politik, durch Ihre Politik der Masseneinwanderung, auch durch Ihre Energiepolitik. Da schenken Sie sich wenig. ({3}) Es geht also buchstäblich um alles, und da kann es geschehen, dass in der Hitze des Gefechts ({4}) und unter dem Eindruck permanenter Diffamierung unserer Partei Dinge geäußert werden, die im Ton unangemessen sind. Ja, einzelne Stimmen aus dem Gesamtkonzert der Partei haben in den roten Bereich hinein übersteuert; so viel Selbstkritik muss sein. ({5}) Aber ich sage mit ebensolcher Klarheit, dass wir uns sicher keine Moralpredigten über Hetze und Rassismus von einer Partei anhören müssen, ({6}) die es wie die Grünen nicht für nötig empfindet, die von Deutschlandhass triefenden Tiraden eines Deniz Yücel mit einer Silbe zu kritisieren, der den Deutschen ganz offen das Volkssterben wünscht. ({7}) Verurteilen Sie das endlich als die rassistische Hetze, die es ist; dann können wir ernsthaft mit Ihnen über diese Themen diskutieren – vorher nicht. Ich schweige jetzt von Frau Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth, die auf einer Demonstration mitlief, bei der ein Schild mit der Aufschrift „Deutschland, du mieses Stück Scheiße“ zu lesen war. Das ist ein Kapitel für sich, und das ist eine Schande für dieses Hohe Haus! ({8}) Dann hörten wir hier heute allen Ernstes den Vorwurf, wir träten das Gedenken an den Holocaust mit Füßen. Also, sind Sie von Sinnen? ({9}) Lesen Sie unsere heutige Pressemitteilung, und Sie werden sehen: Wir haben die Stolpersteine als eine würdige und eindrückliche Form des Erinnerns an die Opfer des Naziterrors bezeichnet. ({10}) Aber von einer solchen Partei wie den Grünen, bei denen führende Exponenten eng mit dem Linksterroristen und notorischen Antisemiten Dieter Kunzelmann verbunden waren, müssen wir uns nicht Antisemitismus vorwerfen lassen. ({11}) Eine Partei, die eine hirnrissige Migrationspolitik bejubelt und beklatscht, die dafür sorgt, dass der arabische Antisemitismus nach Deutschland importiert wird, dass auf Deutschlands Straßen „Hamas, Hamas, Juden ins Gas“ gerufen wird, verantwortet einen himmelschreienden Skandal. Von ihr lassen wir uns hier keinen Vorwurf des Antisemitismus machen. ({12}) Die AfD ist die einzige Partei, die dagegen wirklich effektive Maßnahmen zu unternehmen verspricht, die dafür sorgen wird, dass sich Juden in Deutschland wieder sicher fühlen können. Also schweigen Sie uns gegenüber von Antisemitismus. ({13}) Ich sehe heute Herrn Özdemir nicht. Ich sage es ihm in Abwesenheit: ({14}) Schweigen Sie auch von Heimat, werter Herr Özdemir. Wer seine Heimat wirklich liebt, wie Sie es von sich behaupten, ({15}) der zerstört sie nicht systematisch wie Sie mit Ihrem Windradwahn, mit Ihrer Politik der Masseneinwanderung, die unbegrenzt kulturfremde Menschen ins Land holt. Das hat die Kriminalität schon jetzt massiv steigen lassen. Das wird unser Land bis zur Unkenntlichkeit verändern, ({16}) und nicht zum Besseren, Frau Göring-Eckardt, weil diese Menschen in dieser hohen Zahl beim besten Willen nicht integrierbar sind. ({17}) Also ersparen Sie uns dieses Schmierentheater von gestern. ({18}) Bleiben Sie lieber bei Toleranz, Weltoffenheit, Antidiskriminierung. Auf diesen moralistischen Neusprech verstehen Sie sich besser als auf Heimat. Sie glauben doch selbst nicht, was Sie da erzählen. ({19}) Mit einer atemberaubenden Arroganz werfen Sie denen, die die Heimat bewahren wollen, vor, Rassisten zu sein. ({20}) Bei Ihnen ist der Rassismus eben immer nur ein Rassismus von Deutschen, aber nie ein Rassismus gegen Deutsche. ({21}) Solange Sie einen solchen faulen, weil halbierten Rassismusbegriff kultivieren, kommen Sie nicht einmal in die Nähe des Verständnisses dessen, was in diesem Land wirklich im Argen liegt. ({22}) So werden Sie weiterhin eine Politik betreiben, die vielleicht nicht in der Absicht, aber im Ergebnis letztlich auf einen Rassismus gegen Deutsche hinausläuft. Das ist die traurige Wahrheit. ({23}) Ein Wort zur Erinnerungskultur.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zu Ihrem letzten Satz. Sie sind bereits mit 20 Sekunden über der Zeit. ({0})

Dr. Marc Jongen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004768, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Gut. Lassen Sie mich noch diesen Satz zur Erinnerungskultur zu Ende bringen. – Wir brauchen eine würdige Erinnerung an die fürchterlichen Gräueltaten der Nazis – ja –; aber die kann nicht gleichbedeutend sein mit der Kultivierung eines Schuldkomplexes, der das Land wehrlos macht – ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, jetzt Ihr letzter Satz.

Dr. Marc Jongen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004768, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

– gegen jede Beleidigung, jede Vergewaltigung und jede Überrollung. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Erlauben Sie mir, bevor ich den nächsten Redner aufrufe, eine geschäftsleitende Bemerkung. – Ich verstehe, dass die Debatte, die wir hier führen, sehr emotionsgeladen ist. Aber ich möchte meine liebste Bundestagsvizepräsidentinkollegin Claudia Roth und auch Frau Göring-Eckardt gern darauf hinweisen, dass Zwischenrufe die Debatte beleben können, aber in aller Regel aus nicht mehr als einem Satz bestehen sollen. Zwischenbemerkungen, die drei, vier Sätze umfassen, sind in der Aktuellen Stunde irgendwie nicht angemessen. ({0}) – Ich bitte nur darum, das zu bedenken. Der nächste Redner: der Kollege Dr. Stefan Ruppert von der FDP. ({1})

Dr. Stefan Ruppert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004140, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich fürchte, mit dem Eintritt der AfD in die Parlamente und in den Deutschen Bundestag tritt die deutsche Erinnerungskultur, ein Phänomen, auf das wir sehr stolz sein können, in eine neue Phase ein. ({0}) Wir alle spüren, dass die repräsentative Demokratie unter Druck geraten ist, dass allein der Umstand, dass Sie hier sitzen, auch immer eine Anfrage an uns alle ist, ({1}) was wir tun können, um unsere Politik zu erklären und zu transportieren. ({2}) Ich will meine Rede etwas anders intonieren, als das in der von mir geschätzten Rede von Konstantin von Notz geschehen ist. Ich habe mir in den Monaten, die wir jetzt nebeneinandersitzen müssen, angeschaut, wie Sie sich verhalten. ({3}) Ich habe am Anfang gedacht: Sie befassen sich mit einzelnen Themen, Sie steigen in Sachdebatten ein. – Ich habe merken müssen, wie Sie die Ambivalenz kultivieren, das Schillernde des Begriffs, wie Sie sich daran begeistern, dass das Wort „entartet“ in einer Rede von Ihnen untergebracht worden ist – entartete Pässe –, und am Ende dann vorbereitete Zitate von anderen haben, die das auch benutzen. Sie legen es immer darauf an, in einer Art Ambivalenz ({4}) Ihre im Kern letztlich menschenfeindlichen Positionen am Ende durchzusetzen und uns hier vorher vorzutragen. ({5}) Ich habe – ich glaube, das machen viele in diesem Parlament – mit mir gerungen, wie ich damit umgehe. Ich glaube, wir haben noch keine endgültige Antwort gefunden. ({6}) Ich habe mir gesagt: Wir wollen keine Ächtung durch Verfahren. – Ich habe Sie deswegen in Ausschussvorsitze gewählt, ({7}) mit meiner Stimme, weil ich mir gesagt habe: Wir müssen den Schmerz, den diese Positionen uns zufügen, im Verfahren aushalten. Ich habe gesagt: Ich gucke mir genau an, wie Sie dort agieren. – Ich musste feststellen: Sie tun alles, um letztlich die Ängste, von denen Sie anscheinend selbst ergriffen worden sind, auf andere zu übertragen, um Ambivalenzen, um Entartungen und Formulierungen, die jenseits allen Geschmacks sind, in dieses Parlament zu tragen, ({8}) und das ist einfach erbärmlich. ({9}) Wenn es etwas gibt, worauf dieses Land besonders stolz sein kann, dann ist es seine Erinnerungskultur. ({10}) Wir haben es geschafft, von einer Phase des Verschweigens, des Nichtthematisierens in eine Phase des Anklagens und dann sogar in eine Phase des Verstehens, des Den-Schmerz-Aushaltens in unserer Erinnerungskultur zu kommen. Wir können wie kaum andere Länder, die eine solche Vergangenheitspolitik, wie der Historiker Norbert Frei sagte, betreiben, stolz darauf sein, dass wir aushalten und dass wir verstehen wollen, wie es dazu kam. Sie aber wollen instrumentalisieren. Sie wollen nicht verstehen, sondern Sie wollen Geschichte klittern, und das ist erbärmlich. ({11}) Wie also reagieren wir darauf? ({12}) Ich glaube, wir alle müssen uns selbst hinterfragen, wie wir besser werden können, wie wir Menschen besser erreichen, wie wir ihre Probleme lösen. ({13}) Ich glaube in der Tat: Ihre parlamentarische Existenz ist nicht so sehr Ihren Positionen geschuldet, sondern sie ist auch eine Anfrage an uns selbst, was wir besser machen können, ({14}) welche Probleme wir lösen müssen. Insofern empfinde ich diesen Schmerz, den Ihre Anwesenheit hier macht, zwar nur ungern, aber als reife, plurale Gesellschaft werden wir ihn aushalten, und wir werden auch darüber hinwegkommen. Ich bin optimistisch, dass Sie sich irgendwann als politisches Phänomen erledigen werden. ({15}) Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, wie Sie nachts am Computer sitzen und Mails über Frau Merkel schreiben mit Begriffen, die meine bürgerliche Erziehung mir verbietet überhaupt in den Mund zu nehmen. ({16}) Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, wie Sie sich daran ergötzen, Formulierungen zu finden, die andere diskreditieren, die Angst schüren und die Menschen kleinmachen. ({17}) Es muss Ihnen wohl eine tiefe Befriedigung verschaffen, so etwas zu tun. Meine bürgerliche Erziehung verbietet mir, offen gesagt, einige der Vokabeln, die Sie in diesem Parlament schon in den Mund genommen haben. ({18}) Wir werden also darum ringen, besser zu werden. Wir werden die von Ihnen aufgeworfenen Probleme lösen; denn daran haben Sie ja kein Interesse. Wir werden darum kämpfen, dass am Ende eine plurale, eine tolerante und eine weltoffene Gesellschaft – denn das ist im Kern das, worauf Deutschland stolz sein kann – siegt und nicht Ihre Angstmacherei und Ihre Kleinmacherei. Vielen Dank. ({19})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Ruppert. – Als Nächstes für die Fraktion Die Linke die Kollegin Petra Pau. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Diese Aktuelle Stunde gibt Raum für ein paar grundsätzliche Bemerkungen: Wir brauchen eine ansprechende Erinnerungskultur, eine Erinnerung an die Barbarei der Nazizeit. Diese muss zeitgemäß und vielfältig sein, und wir brauchen diese Erinnerung mehr denn je – ({0}) einladend, in pädagogisch wertvoll ausgestatteten Gedenkstätten – es sind Gedenkstätten des Grauens –, aber auch alltäglich, durch Stolpersteine und mehr in authentischer Umgebung. Denn all das geschah inmitten der Gesellschaft, und – das dürfen wir nicht vergessen – es wurde vom Gros der Bevölkerung geduldet. Weil das nie mehr geschehen darf, darf man diese Geschichte nicht verdrängen – nicht leichtfertig und erst recht nicht mutwillig. ({1}) Sie kennen die Zahlen. Im Holocaust wurden 6 Millionen europäische Jüdinnen und Juden umgebracht, nur weil sie Jüdinnen und Juden waren. Sie wurden erschlagen, erschossen, vergast. Totalitärer Antisemitismus mündete im Völkermord. Wollte man übrigens jeder und jedem der ermordeten Jüdinnen und Juden eine Gedenkminute widmen, so würde elf Jahre lang Stille herrschen, Totenstille. Das muss nicht sein. Aber daran müssen wir erinnern. Historiker haben errechnet, dass unmittelbar am Holocaust – von der Deportation über die Ermordung bis zur Ausraubung und Entsorgung der Leichname – 500 000 Deutsche direkt beteiligt waren. Dieses Verbrechen darf man also nicht auf ein paar Naziführer reduzieren. Deshalb rufe ich hier Imre Kertesz in Erinnerung. Er war Ungar, Schriftsteller, Literaturnobelpreisträger, Jude und Holocaustüberlebender. Im Januar 2007 stand er hier an dieser Stelle. Er sagte damals: Vor Auschwitz war Auschwitz unvorstellbar, heute ist es das nicht mehr. Da Auschwitz in Wirklichkeit passierte, ist es in unsere Fantasie eingedrungen und wurde so ein fester Bestandteil von uns. Was wir uns vorstellen können, weil es in Wirklichkeit passiert ist, kann wieder passieren. Seine Mahnung meint uns Nachgeborene – und zwar alle. Wir erinnern nicht aus Folklore, sondern aus Verantwortung für die Gegenwart und die Zukunft. ({2}) Zur Nazibarbarei gehörte auch der Zweite Weltkrieg, um nur ein weiteres Beispiel zu nennen. Er begann mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen und kostete schließlich weltweit über 50 Millionen Menschen das Leben, darunter 20 Millionen Bürgerinnen und Bürger der Sowjetunion. Mitglieder meiner Fraktion Die Linke waren erst kürzlich in Wolgograd. Die Schlacht von 1943 um Stalingrad, wie die Metropole damals hieß, gilt als der Wendepunkt im Zweiten Weltkrieg und führte schließlich 1945 zum alliierten Sieg über Nazideutschland. Auch diese Erinnerung gehört dazu. Lassen Sie mich mit Richard von Weizsäcker schließen, dem Bundespräsidenten, der am 8. Mai 1985 im Deutschen Bundestag den 8. Mai 1945 erstmals als das bezeichnete, was er war: der Tag der Befreiung vom Faschismus. ({3}) Er mahnte uns: Hitler hat stets damit gearbeitet, Vorurteile, Feindschaften und Haß zu schüren. Die Bitte an die jungen Menschen lautet: Lassen Sie sich nicht hineintreiben in Feindschaft und Haß gegen andere Menschen, gegen Russen oder Amerikaner, gegen Juden oder Türken, gegen Alternative oder Konservative, gegen Schwarz oder Weiß. Lernen Sie, miteinander zu leben, nicht gegeneinander. Lassen Sie auch uns als demokratisch gewählte Politiker dies immer wieder beherzigen und ein Beispiel geben. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Pau. – Als Nächstes für die CDU/CSU-Fraktion: der Kollege Michael Kuffer. ({0})

Michael Kuffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004795, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Bei vielem, was in diesen Tagen in der vermeintlichen politischen Auseinandersetzung gesagt wird – ja, augenscheinlich wieder gesagt werden darf –, bei vielem, was daraus hier im Hause und draußen im Land unreflektiert nachgeplappert wird, möchte man geradezu schreien: Wisst ihr denn nicht, wozu das führen kann? Aktueller kann deshalb die Diskussion um die Erinnerungskultur – ich füge hinzu: leider – kaum sein. Uns zu erinnern, um für alle Zeit zu verhindern, dass noch einmal alle Dämme der Menschlichkeit brechen, aber auch, um zu verhindern, dass Demokratie zum Spielball verbrecherischer Absichten wird, das ist unsere immerwährende Verantwortung. Es gehört gewissermaßen zur DNA unseres Volkes. ({0}) Erinnerung ist Verantwortung und Verantwortung wiederum die beste Prävention dagegen, dass sich die dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte jemals wiederholen können, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) In diesem Sinne ist das Erinnern nichts Rückwärtsgewandtes, nichts Historisches, sondern eine sich immer wieder erneuernde Zukunftsaufgabe. Und in diesem Sinne ist Erinnerungskultur selbstverständlich weit mehr als das bloße Zurschaustellen von Symbolen oder Erinnerungsstücken. Erinnerungskultur ist Präventionskultur und ist insofern nicht weniger als eine Frage der Haltung. Die Lehre aus den Verbrechen des Holocaust und aus den beiden Weltkriegen besteht doch nicht nur in der immer wieder erschreckenden Erkenntnis, wozu der Mensch fähig ist, sondern sie besteht auch vor allem in einem einfachen, aber wahren Satz, nämlich: Wehret den Anfängen! ({2}) Auch diese Frage nach den Anfängen könnte aktueller nicht sein. Sie ist eine der Fragen, die uns auch und gerade der parlamentarische Alltag in diesem 19. Deutschen Bundestag stellt. Wir können von dieser Nation keine gelebte Erinnerungskultur erwarten, wenn wir unsererseits in der Art und Weise, wie wir uns hier auseinandersetzen, kein Beispiel für die Präventionskultur im Sinne der Erinnerungskultur geben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir leben in einer Zeit, in der sich nach vielen Jahren, in denen die Unterschiede zwischen den Parteien eher im Graduellen lagen, wieder große Richtungsfragen stellen. Aber je größer die politisch-sachlichen Unterschiede werden, desto mehr müssen wir uns daran erinnern, welche Gemeinsamkeiten wir als Demokraten in uns tragen, nämlich die Suche nach dem Besten, nach der richtigen Lösung in Verantwortung – die wir auch unseren politischen Gegnern, wenn sie andere Mittel als wir wählen wollen, nicht absprechen sollten. ({3}) Die andere Meinung, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist keine Unverschämtheit, sondern ein Beitrag unter mehreren zur Findung der Lösung. Ich sage es noch einmal – ich habe es hier in diesem Haus schon einmal gesagt und kann es nicht oft genug wiederholen –: Der politische Gegner ist kein Feind. Er ist ein Mitstreiter für unsere gemeinsame demokratische Sache. ({4}) Wir wollen für unser Argument streiten, aber nicht das Argument des anderen verstummen lassen. ({5}) Die Gefahr, diesen feinen, aber wichtigen Unterschied zu missachten, fängt im Kleinen an: beim Überschreiten der Grenze vom Sachlich-Politischen, gerne auch vom Zugespitzten, zum Persönlichen; beim Ausweichen auf den persönlichen Angriff, wo man sich politisch unterlegen fühlt. Es fängt an, indem wir unserem Gegenüber seine Motive absprechen, nur weil er andere Mittel wählt, als wir sie selbst wählen wollen. Es fängt an beim Hochmut, bei der Häme über den Verlierer, es geht weiter beim Überschreiten der Grenze von der Emotion zur Aggression. Wir dürfen nie vergessen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Ohne Gegner gibt es keinen Wettstreit – das gilt in der Demokratie wie im Sport –, und ohne Wettstreit finden wir nicht das Beste. Aber genau das sollten wir hier suchen. ({6}) Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, dürfen wir eines nie vergessen: Die Auseinandersetzung mit dem Argument des anderen ist das Salz in der Suppe. Diese schönste Sache der Demokratie müssen wir gemeinsam verteidigen, für unsere demokratische Sache, für die Res publica, ja, für unser Land überhaupt, um genau jenes Vorbild im Kontext der Erinnerungskultur zu geben, das zeigt, dass Ausgrenzung, die Bedrohung Andersdenkender oder Gewalt als politisches Mittel in unserem Land nie wieder einen Platz haben dürfen und dass wir jeden Anfang in diese Richtung –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege.

Michael Kuffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004795, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

– jeden Tag gemeinsam bekämpfen. Vielen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank, Herr Kollege Kuffer. – Als Nächstes für die SPD-Fraktion der Kollege Helge Lindh. ({0})

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Warum können wir alle hier sitzen, auch diejenigen, die die Demokratie und die Erinnerungskultur nicht wirklich schätzen? ({0}) Wir können alle hier sitzen, weil wir die Gnade der Demokratie unverdient vor Jahrzehnten geschenkt bekommen haben. Wir können hier sitzen, weil wir die Gnade der Erinnerung erfahren dürfen und weil wir vor wenigen Wochen hier durch Anita Lasker Wallfisch die Gnade der Versöhnung erfahren durften. Deswegen dürfen wir alle hier sitzen. ({1}) Ich wünschte, es müsste diese heutige Aktuelle Stunde nicht geben. ({2}) Ich wünschte, wir müssten nicht auf die abermaligen Provokationen reagieren; denn das ist ja letztlich gewünscht. Aber es geht nicht anders: Wir müssen reagieren. Wenn vom „Denkmal der Schande“ die Rede ist, wie ich eben hörte, vom Schuldkomplex, „Schuldkult“ in den Programmen der AfD, von einer „Verengung der deutschen Erinnerungskultur auf die Zeit des Nationalsozialismus“, dann ist das, was an die Wand gemalt wird, ein Hirngespinst, eine Phantasmagorie. Das gibt es nicht. Dieser „Schuldkult“ existiert nicht, und zwar nicht nur, weil der gesunde Menschenverstand es uns allen sagt. Schauen Sie bitte alle einmal in eine jüngst erschienene Studie, die die Stiftung EVZ zusammen mit der Uni Bielefeld erstellt hat. Dort steht: Weit über 80 Prozent der Menschen erachten Geschichtsunterricht als wichtig, als Mahnung vor einer Wiederholung des Nationalsozialismus. Aber fast niemand empfindet persönliche Schuld oder empfindet gar einen Schuldkomplex oder erlebt einen Schuldkult. Nein, das ist alles eine Fata Morgana der AfD. ({3}) Was wir erleben, ist, glaube ich, auch gar kein Angriff auf konkrete Stolpersteine oder konkrete Denkmäler. Nein, es ist ein Angriff auf das Mahnmal des Denkens und des Fühlens in uns selbst. Darauf zielt der Angriff der Rechtspopulisten: auf das Mahnmal des Denkens und des Fühlens in uns selbst, von dem von Weizsäcker damals gesprochen hat. Es ist ein Kampf um die angebliche deutsche Identität, der dort begonnen hat. ({4}) Es gibt von dem Berliner Peter Fox, einem sehr ironischen augenzwinkernden Menschen, eine Liedzeile, die ungefähr so lautet: „Ich bin die Abrissbirne für die deutsche Szene“. Da die AfD-Fraktion dafür bekannt ist, augenzwinkernd-, humor- und ironiefrei zu sein, ({5}) kann man hier auch ohne Sorge sagen, dass Sie eines sind: Sie sind die Abrissbirne der deutschen Seele, und Sie sind es in beiden Punkten. ({6}) Ihr Deutschsein, das Sie uns verkaufen, ist eine Karikatur, ist eine Fratze des Deutschseins. ({7}) Man kann Ihnen viel unterstellen und viel vorwerfen, aber dass Ihre Politik und Sie selbst Seele hätten, diesen Vorwurf kann man Ihnen nun wirklich nicht machen. ({8}) Ich habe verstanden, dass es Ihnen um so etwas wie positive identitätsbildende Aspekte geht, die Sie suchen. Aber machen Sie sich doch auf die Suche! Suchen Sie doch nach der deutschen Familie, dem deutschen Wald, der deutschen Literatur, den deutschen Bäumen und Stammbäumen und, siehe, Sie werden fündig werden. Sie werden sehen: Nichts ist rein, überall ist Mischung, Transfer von Kulturen; alles hängt miteinander zusammen. Das werden Sie finden, nichts anderes. ({9}) Wenn dann – hinten sitzt er – einer von uns Abgeordneten hier, Cem Özdemir, nur weil er Özdemir heißt und nicht Jünger oder Hindenburg, bei einer Veranstaltung der AfD verhetzt wird und die Meute „Abschiebung“ ruft, dann sind wir, alle Abgeordnete, aufgefordert, lauthals aufzustehen und alle an seiner Seite zu stehen. ({10}) Ich selber rufe dieser Meute im Saal zu: Ich bitte um die Ehre, von euch abgeschoben werden zu dürfen. – Das wäre mir eine große Ehre. ({11}) Wenn das so nun mal ist, erinnere ich daran, dass vor wenigen Tagen Anita Lasker Wallfisch hier gesprochen hat. Ich kontrastiere ihre Worte mit dem, was auch in diesem Raum zu hören war. Hier war nämlich die Rede von – ich zitiere – „Kameltreibern“. Es ist unser aller Aufgabe, an der Seite dieser türkischen und muslimischen Einwanderer zu stehen, die in diesem Moment diffamiert und verhöhnt wurden. Es ist unsere Aufgabe, für sie und mit ihnen unsere Stimme zu erheben. ({12})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum letzten Satz.

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie sind nämlich inzwischen genauso Teil unserer Erinnerungskultur, sie sind Teil unserer Geschichte, und sie sind Teil von uns. Wenn sie angegriffen werden und wenn auch diejenigen, die verfolgt wurden, angegriffen werden, so werden wir angegriffen. Sie haben es nicht verstanden.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, bitte.

Helge Lindh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber das Geheimnis der Erlösung ist die Erinnerung. Vielleicht bedenken Sie das einmal. Herzlichen Dank. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Lindh. – Wenn ich mir erlauben darf, Herr Kollege Gauland: Ich finde es schön, dass auch Sie diese Rede bemerkenswert fanden. Als nächster Redner für die AfD: der Kollege Martin Renner. Das ist seine erste Parlamentsrede. ({0})

Martin Erwin Renner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004862, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegen! Ich begrüße Sie mit den Worten aus der katholischen Liturgie: „Pax vobiscum“ – „Der Friede sei mit euch“. Wer die Antwort nicht mehr so richtig kennt, dem sage ich sie auch, normalerweise lautet sie dann: „Und mit deinem Geiste“. ({0}) Und ihr, die ihr AfD-Bashing betreibt – das sei Ihnen fürs Erste geschenkt. Ich höre seit Monaten beständig Ihr Tremolo, Ihr unentwegtes Erregungsbeben. Wahrhaftig, es nimmt inzwischen fast den Charakter einer Gruppentherapie mit Urschrei an und gleitet immer öfter ins Infantile, ins Irrationale und ins Selbstreferenzielle ab. ({1}) Wenn Sie von der Altparteiengemeinschaft glauben, damit Ihre bröckelnden Parteibasen zusammenhalten zu können – auch das sei Ihnen geschenkt. Ich sage Ihnen: Sie werden den Wähler damit nicht für Sie positiv stimmen können. ({2}) Es ist doch gerade die von den Grünen und anderen aktiv betriebene Ideologie der faktischen Abschaffung der Nation, ({3}) der Negierung der nationalen Identität, der Auflösung unserer kulturellen Fundamente, die, zu Recht, auf immer mehr Ablehnung in unserer Gesellschaft stößt. Selbst die „Tagesthemen“ haben berichtet, dass in unserem Land ein einzigartiges Experiment am Laufen sei – Zitat, wörtlich –: der Umbau unserer monokulturellen Gemeinschaft in eine multiethnische Gesellschaft, bei dem es zwangsläufig auch zu schmerzlichen Verwerfungen kommen werde. ({4}) Das kam in den „Tagesthemen“. Selbst die Kanzlerin Merkel – manchmal sage ich „Kaiserin Merkel“, jetzt sage ich „Kanzlerin Merkel“ – hat das links-grün-sozialistische bunte Multikulti für gescheitert erklärt, damals, vor einigen Jahren, als sie anscheinend noch die Interessen unseres Landes im Blick hatte. ({5}) Außerdem, meine Damen und Herren: Täuschen Sie doch nicht ständig die Bürger! Diese bunte Multikultiwelt ist mitnichten bunt, sondern in Wirklichkeit burkaschwarz. ({6}) Damit zum Thema. Es gibt rechtsextremistische Angriffe; ich will das nicht beschönigen. Genauso gibt es aber auch linksextremistische Angriffe, die ebenso gemeingefährlich und demokratiezerstörend sind. Doch linke Extremisten werden von Ihnen beschwiegen oder ihre Taten beschönigt. ({7}) Aber freiheitlich fühlende, bürgerlich agierende, konservativ denkende Menschen wie wir ({8}) sollen zu Rechtsradikalen gemacht werden, damit diffamiert und aus dem Raum des politischen Diskurses entfernt und verwiesen werden. ({9}) Linksextreme gibt es in Ihrem Weltbild doch gar nicht; denn das sind doch nach Ihrer Meinung nur rührige Aktivisten und niedliche Autonome. Real existierender linker Terror wird von Ihnen zum staatlich geförderten Kampf gegen rechts veredelt. ({10}) Echt jetzt: Mit Erinnerungskultur haben genau diese Angriffe von links und von rechts gar nichts zu tun. ({11}) Ja, auch wir plädieren für eine Erinnerungskultur, die ja auch eine Verantwortungskultur zu sein hat. Aber die sozialistische, kollektivistische Gemeinschaft aller Altparteien hier im Hause missbraucht die Erinnerung an die schrecklichen Verbrechen der Naziherrschaft. Sie instrumentalisieren in schändlicher Weise diese Erinnerungskultur, um sich aufkommenden gesellschaftlichen und politischen Widerstand moralisierend vom Halse zu schaffen. ({12}) Vergessen Sie doch nicht, dass das verbrecherische Naziregime Kollektivisten und Sozialisten waren, eben nationale Sozialisten! ({13}) Ich kann Ihnen als einer der 16 Mitgründer der Alternative bestätigen, dass die Alternative für Deutschland eine Partei für Freiheit, für Demokratie, für Selbstbestimmung, für Identität, ({14}) für Kultur, für Tradition und, wie der Name schon sagt, für Deutschland ist. ({15}) Wir sind doch geradezu die politische Gegenthese zu Ihren sozialistischen und kollektivistischen Ideologien. ({16})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte.

Martin Erwin Renner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004862, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sie wissen, dass das Thema der heutigen Debatte eigentlich „Demokratie und Erinnerungskultur angesichts linksideologischer Instrumentalisierung“ hätte lauten sollen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Sie haben noch einen Satz, bitte.

Martin Erwin Renner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004862, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Die Messe ist gelesen. Ite, missa est! Danke schön. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Als Nächstes für die Fraktion der Grünen die Kollegin Britta Haßelmann. ({0})

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Manchmal glaube ich, man muss Sie einfach nur reden lassen, dann sieht man, wes Geistes Kind Sie sind. ({0}) Mehr gibt es zu dem gerade Gesagten eigentlich nicht zu sagen. Zu Herrn Jongen will ich ganz kurz sagen: Als einer, der angetreten ist, den Kulturbetrieb in Deutschland zu „entsiffen“ – so drückte er sich neulich aus, Zitat –, ({1}) und als einer, der sein Geschichtsbewusstsein und seine Einstellung hier vermittelt hat, haben Sie sich mit dem heutigen Tag doch schon aus der kulturpolitischen Debatte des Deutschen Bundestages verabschiedet. ({2}) Die Verantwortung vor unserer Geschichte kennt keinen Schlussstrich. Das hat uns Frank-Walter Steinmeier als Bundespräsident mit auf den Weg gegeben, und ich bin froh, dass sich alle fünf Fraktionen der demokratischen Parteien im Deutschen Bundestag auf diesen Grundsatz beziehen und ihn heute bekräftigt haben. ({3}) Meine Damen und Herren, wir müssen darüber sprechen, was in den letzten Wochen hier im Parlament und auch in anderen Parlamenten unseres Landes passiert ist. Gewählte Abgeordnete aus Landtagen und auch aus dem Bundestag diffamieren Menschen, die in unserem Land leben. Sie beleidigen sie und sprechen ihnen ihre Grundrechte ab. ({4}) Da wird hier im Haus von „entarteten Pässen“ gesprochen. Um eine doppelte Staatsbürgerschaft geht es. Sie versuchen doch, damit zu spalten. Sie beleidigen die rund 2 Millionen Menschen mit mehr als einem Pass. Sie machen das ganz bewusst und ganz gezielt. Meine Damen und Herren, das ist nicht hinnehmbar. ({5}) Das ist nicht stillschweigend zu dulden. ({6}) Denn es geht nicht nur um die 2 Millionen betroffenen Menschen in unserem Land, sondern es geht auch um unsere Kolleginnen und Kollegen hier im Haus, und es geht damit auch um die Würde in diesem Haus. Wir sind doch hier nicht in irgendeiner Bude, Herr Gauland, ({7}) in der Sie Ihre Hetze und Ihren Geifer, ({8}) an dem Sie sich berauschen, ablassen können. ({9}) Wir sind hier im Deutschen Bundestag. Ich fühle mich manchmal beschämt, im Parlament solches völkische und diffamierende Gerede zu hören, und deshalb müssen wir heute auch einmal darüber sprechen. ({10}) Wir müssen wachsam sein; denn mit Sprache fängt es an. Wir erleben jeden Tag in den Debatten eine Radikalisierung der Sprache und eine Verschiebung des Sagbaren. ({11}) Deshalb müssen wir es einmal aussprechen: Was Abgeordnete der AfD innerhalb und außerhalb des Parlamentes treiben, das sind keine Zufälle, meine Damen und Herren, das hat Methode. Es ist Teil Ihrer Strategie, dieses Sagbare immer weiter zu verschieben. Deshalb müssen wir darüber reden und das entlarven. Die Maske fällt. ({12}) Es soll auch – das sei nur nebenbei gesagt – darüber hinwegtäuschen, dass Sie in der Sache nichts zu bieten haben, weder beim Thema Rentenversorgung noch bei sozialpolitischen Fragen, ({13}) nicht beim Thema Steuerpolitik und schon gar nicht bei Fragen der Ökologie. Als wir heute Morgen über das Thema Handwerk redeten: Luft, nichts als heiße Luft! ({14}) Die rassistischen Angriffe sollen auch darüber hinwegtäuschen, dass Sie in der Sache keinen Beitrag zu leisten haben. ({15}) Sie wissen ganz genau, was Sie damit bezwecken. Wenn Sie den Özoğuz’, den Yücels, den Boatengs und den Özdemirs – egal wie sie heißen; ich konnte jetzt nur einige aufzählen – mangelnde Integration vorwerfen, ({16}) wenn Sie ihnen die Staatsbürgerschaft aberkennen wollen, sie abschieben wollen oder sogar als „Kameltreiber“ diffamieren ({17}) – und Gauland setzt dann noch einen drauf und meint, Aydan Özuguz sogar „entsorgen“ zu können –, frage ich Sie: ({18}) Wo leben wir hier denn? Da muss es Widerspruch geben! Das ist doch klar. ({19}) Sie hetzen hier gegen Menschen mit deutscher Staatsbürgerschaft innerhalb und außerhalb des Parlaments. Manchmal frage ich mich, ob es Ihren intellektuellen Horizont überschreitet, ({20}) dass Menschen mit einer deutschen Staatsbürgerschaft nicht nur Meier, Müller, Haßelmann oder Schmidt heißen. ({21}) Ich habe das Gefühl, das verstehen die gar nicht. ({22}) Meine Damen und Herren, das ist eine eiskalte Strategie. Ich will Ihnen zum Schluss noch sagen: Wenn man Sie damit konfrontiert, dann legen Sie sich in die Furche und tun so, als wären Sie es nicht gewesen. Als man Sie damit konfrontiert hat, dass MdB Maier Noah Becker rassistisch angegriffen hat oder MdB Müller das Gedenken hier mit Frau Lasker Wallfisch und ihrer Schwester als „heuchlerisch“ und „aufgesetzt“ bezeichnet hat, ({23}) haben Sie sich in die Furche gelegt und so getan, als wären Sie es nicht gewesen.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin, Ihr letzter Satz, bitte.

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Was ist das für ein Verhalten? Meine Damen und Herren, darüber müssen wir sprechen. Wir müssen Sie damit konfrontieren. Die Maske ist gefallen. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin Haßelmann, ich erlaube mir einige geschäftsleitende Bemerkungen. Zunächst einmal: Während der Aktuellen Stunde sind Zwischenfragen nicht zulässig. Ich wiederhole mich, sage es aber noch einmal, weil wir dauernd Wortmeldungen sehen. – Das ist nicht an Sie gerichtet, Frau Haßelmann. Ich musste nur das Ende Ihrer Rede abwarten. Das Zweite ist: „Zur Sache!“ ruft nur der Präsident, der amtiert. Das Dritte ist, Frau Kollegin Haßelmann, und das liegt mir am Herzen: Das Präsidium des Deutschen Bundestages wird sehr sorgsam darauf achten, dass die Grenzen der Meinungsfreiheit hier nicht überschritten werden. Es ist manchmal schmerzlich, Meinungen ertragen zu müssen, die man selbst nicht teilt. Aber dem Eindruck, wir würden hier Äußerungen zulassen, die außerhalb des Spektrums liegen, muss ich entgegentreten. ({0}) Als Nächstes hat der Kollege Christoph Bernstiel, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. Das ist seine erste Rede. ({1})

Christoph Bernstiel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004671, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Wer mit einem Brett vor dem Kopf durch das Leben geht, braucht sich nicht zu wundern, wenn er über Steine stolpert. Die heutige Aktuelle Stunde trägt den Titel „Demokratie und Erinnerungskultur in Deutschland angesichts rechtsextremistischer Angriffe“. Auslöser für die Debatte waren jedoch die jüngsten Äußerungen des AfD-Landtagsabgeordneten Wolfgang Gedeon, der kürzlich das Ende der äußerst erfolgreichen Stolperstein-Aktion forderte, da diese – Zitat – den Menschen eine „bestimmte Erinnerungskultur“ aufzwinge. ({0}) Mit seiner Meinung befindet er sich in seiner Partei offensichtlich in bester Gesellschaft; ({1}) denn bereits im letzten Jahr forderte Björn Höcke – ich zitiere erneut – das Ende der lächerlichen Bewältigungspolitik. Das ist ein Zitat. ({2}) Zu dieser Form der Bewältigungspolitik, werte Kollegin von der AfD, gehört offensichtlich auch die Gedenkstunde im Deutschen Bundestag zur Erinnerung an die Befreiung des Konzentrationslagers Ausschwitz durch die Rote-Armee-Fraktion, ({3}) durch die Rote Armee. – Hören Sie zu! Der Parlamentarische Geschäftsführer der AfD-Fraktion Hansjörg Müller äußerte sich an diesem Dienstag in einem „Spiegel“-Interview wie folgt – ich zitiere erneut –: Ich habe mit dieser Art Gedenken ein Problem, weil es nicht aufrichtig ist, weil es aufgesetzt ist und weil es heuchlerisch ist. Das hören wir aus Ihrer Fraktion. Meine Damen und Herren, mit solchen Äußerungen zeigt die AfD, dass sie weder über ausreichend Erinnerung noch über genügend Kultur verfügt, um an einer ernsthaften Debatte über unsere Geschichte teilnehmen zu können. ({4}) Man kann daher nur hoffen, dass diese Partei nach 2021 selbst ein Teil der Erinnerungskultur sein wird. ({5}) Wir als CDU/CSU-Fraktion verurteilen jede Form von Geschichtsverklärung, von Verharmlosung des politischen Extremismus. Der Umgang mit den Verbrechen des Nationalsozialismus ist eine Verantwortung, die wir Parlamentarier gemeinsam tragen sollten. Ich kann daher nicht verstehen, warum sich ausgerechnet die Kolleginnen und Kollegen der Linken kürzlich bei der Abstimmung über die Einsetzung des Antisemitismusbeauftragten hier im Deutschen Bundestag enthalten haben. ({6}) Sie hätten hier die Chance gehabt, ein überparteiliches Signal gegen Antisemitismus zu setzen. Aber die haben Sie nicht genutzt. Mit Ihrem Abstimmungsverhalten haben Sie gezeigt, dass Ihnen innerparteiliches Klein-Klein offenbar wichtiger ist, als gegen Antisemitismus vorzugehen. ({7}) Apropos Linkspartei: Als ostdeutscher Abgeordneter denkt man beim Thema Erinnerungskultur zwangsläufig immer auch an 40 Jahre SED-Diktatur, an über 200 000 politische Häftlinge der DDR sowie an die unzähligen Toten an der innerdeutschen Grenze. ({8}) Wer über Demokratie und Erinnerungskultur in Deutschland spricht, der muss immer über zwei deutsche Diktaturen sprechen. ({9}) Eine Verkürzung auf den Rechtsextremismus wird dieser Debatte im Übrigen auch nicht gerecht; denn laut den jüngsten Zahlen des Bundesamtes für Verfassungsschutz gab es im letzten Jahr mehr linksextreme als rechtsextreme Gewalttaten. ({10}) – Gewalttaten. Lesen Sie es nach. – Es muss daher unser aller Ziel sein, gemeinsam gegen Hetze und jede Form von Extremismus zu kämpfen. Die Bundesregierung unterstützt diesen Kampf mit zahlreichen Programmen wie „Vielfalt tut gut“, „Toleranz fördern – Kompetenz stärken“ oder die „Initiative Demokratie stärken“. Für uns als CDU/CSU-Fraktion ist klar, dass solche Programme nicht dazu missbraucht werden dürfen, um antidemokratische Gruppierungen zu finanzieren. Aus diesem Grund haben wir 2011 die sogenannte Extremismusklausel eingeführt. Damit mussten sich Personen und Organisationen zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekennen und zusichern, dass sie nicht mit antidemokratischen Kräften kooperieren – an sich eine Selbstverständlichkeit, aber offenbar nicht für Ex-Familienministerin Schwesig; denn aufgrund ihrer Initiative wurde diese Klausel 2014 wieder abgeschafft. ({11}) Liebe Genossinnen und Genossen der SPD, ist die Unterstützung von Linksextremisten wirklich so unverzichtbar für Ihre politische Präventionsarbeit? ({12}) Ich wünsche mir, dass künftige Debatten zur deutschen Erinnerungskultur weder ideologisch noch einseitig verkürzt geführt werden; ({13}) denn nur so kann man Geschichte authentisch vermitteln und Extremismus den Nährboden entziehen. ({14})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank, Herr Kollege Bernstiel. – Selbstverständlich ist jedem bei seiner ersten Parlamentsrede wegen der emotionalen Anspannung ein Versprecher erlaubt, ohne dass Nachteiliges folgen sollte. Als nächste Rednerin die Kollegin Susann Rüthrich von der SPD. ({0})

Susann Rüthrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004391, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Debatte zur Extremismusklausel haben wir in der letzten Sitzungswoche geführt. Sie können ja noch einmal nachlesen, was die Argumente dagegen waren. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Wir vermissen euch“, das sagte der Pfarrer meiner Heimatstadt bei der Verlegung der Stolpersteine. Jugendliche haben sich mit dem Leben der Ermordeten beschäftigt: Es waren Kinder, es waren alte Leute, es waren Leute in der Mitte des Lebens, es waren Meißner, Sachsen, Deutsche. Die Jugendlichen sehen: Sie waren ein ganz normaler Teil unserer Gesellschaft, bis sie zu „anderen“ gemacht wurden. Deshalb wurde ihnen ihr Leben genommen. Die Enkel und Urenkel dieser Menschen wären heute die Mitschüler unserer Kinder. Sie sind nicht da. Wir vermissen euch! Meine Kinder sahen die goldenen Steine im Boden und fragten: Was steht denn da? Ich habe es ihnen vorgelesen und erklärt. Danach wollten sie auch die anderen Steine in der Stadt besuchen. „Penetranter Moralismus“, so nennt das ein Mitglied der AfD. Ist das wirklich nur eine Einzelmeinung? Oder ist das schon Schuldkult, wie wir gerade gehört haben? Wir brauchen das Erinnern, damit das Ungeheuerliche, das so schleichend begann, nie wieder geschehen kann. ({0}) Glücklicherweise gibt es bei uns eine ganz breite Palette des Erinnerns. Die jungen Leute der AG Geschichte vom Treibhaus in Döbeln zum Beispiel tragen die Geschichte des jüdischen Lebens vor und in der Zeit des NS in dieser Region Mittelsachsens zusammen. Mit einer App kann man durch die Stadt gehen und die entsprechenden Orte aufsuchen. In Pirna standen graue Busse als begehbares Kunstwerk, um an die Tötung von Menschen mit Behinderungen auf dem Sonnenstein zu erinnern. Und mit der Aktion Sühnezeichen entsenden wir junge Menschen in die Welt. Ich unterstütze eine dieser Freiwilligen aus Dresden. Sie ist derzeit in Chicago am Illinois Holocaust Museum aktiv. Sie berichtet von der beindruckenden Möglichkeit, sich mit Hologrammen von Überlebenden unterhalten zu können. Das ist ein Weg, um die Erinnerung wachzuhalten, wenn die letzten Überlebenden leider nicht mehr unter uns sein werden. Wenn ich mit meinen Kindern zur Menschenkette am 13. Februar in Dresden gehe, dann fragen sie: Hier war einmal Krieg? Warum? Kann das wieder passieren? – Wir alle kennen diese großen und kleinen Beispiele des aktiven Erinnerns; denn sie zeigen, dass wir nicht bereit sind, einen Schlussstrich zu ziehen. Unter anderem dieser Beispiele wegen hat unser Land wieder einen guten Ruf in der Welt. Diese Beispiele zeigen, dass wir unsere Geschichte annehmen; denn wir haben keine andere. ({1}) Wir können sie nicht ändern, aber unsere Zukunft schon. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Abwehr dieser uns so tief prägenden Erinnerungskultur greift leider um sich. Ich komme aus der Stadt, in der jahrelang der größte rechtsextreme Aufmarsch Europas vermeintlich der Zerstörung der Stadt gedenken wollte. Vom „Bomben-Holocaust“ war zynisch die Rede. Die Stadt wurde als unschuldiges Opfer dargestellt. Das stimmt vielleicht für die getöteten Personen. Das eigene Land, die eigene Stadt aber nur als Opfer darzustellen und zu verdrängen, dass von hier der Vernichtungskrieg und der Holocaust ausgingen, ist das Gegenteil verantwortungsbewusster Erinnerungskultur. ({2}) Und wen sehen wir da 2010 auf dem Versammlungsplatz in Dresden? Herrn Höcke, heute AfD. Kommt das vor, dass man ganz aus Versehen in eine Nazidemo gerät und mitbrüllt – als Geschichtslehrer? Bei Ihnen schon. In diesem Jahr meldet ein verurteilter Volksverhetzer und Holocaustleugner eine Demonstration in Dresden an. Und was macht der stellvertretende Vorsitzende der AfD-Landtagsfraktion? Er postet eine Anzeige dieses Holocaustleugners auf seiner Facebook-Seite. Wieso bringen Sie sich selbst mit solchen Leuten in Verbindung, wenn Sie doch angeblich gar nichts mit denen zu tun haben? ({3}) Damit nicht genug. Beim Aschermittwoch der AfD in Sachsen werden unsere Nachbarn und Freunde aufs Übelste rassistisch beleidigt, zu „anderen“ gemacht; wir erinnern uns. Statt einer Entschuldigung höre ich aus dem Mund desjenigen, man solle das doch mit ein bisschen Humor nehmen. Rassismus ist aber niemals witzig. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sprach von den vielen Beispielen im Land, die uns heute daran erinnern, wie es damals begann und wozu es führte. Diejenigen, die heute wieder Nachbarn zu „anderen“ machen, sollten öfter einmal offenen Herzens und Denkens diese Projekte miterleben. Vielleicht würde ihnen dann klar werden, warum die Abwertung anderer Menschen nie normal werden darf. Wir jedenfalls werden, unter anderem mit dem Bundesprogramm „Demokratie leben!“, die vielen Aktiven weiter stärken. Wir werden weiter künstlerische, kreative, laute, leise, große und kleine Ansätze der aktiven Erinnerungskultur unterstützen. Vielen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Rüthrich. – Als letzter Redner in der heutigen Aktuellen Stunde rufe ich Herrn Professor Patrick Sensburg auf. ({0})

Prof. Dr. Patrick Sensburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004155, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! An diesem Dienstag hat mich eine Besuchergruppe aus dem Hochsauerlandkreis besucht und mit mir diskutiert. Ohne dass sie geahnt hat, dass wir heute eine Aktuelle Stunde zu diesem Thema haben, hat sie mir ein Buch aus Schmallenberg mitgebracht: „Stolpersteine“. Das war eine Gruppe von Bürgerinnen und Bürgern, die sich, wie sehr viele in Deutschland, mitten im gesellschaftlichen Leben für die deutsche Geschichte und das Thema Stolpersteine engagieren, sich dazu einbringen und sehr viel machen, unterstützt übrigens lokal in Schmallenberg vom Heimat- und Geschichtsverein Schmallenberg, vom Historischen Verein, vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe und vom Sauerländer Heimatbund, Bürgerinnen und Bürger mitten in unserer Gesellschaft. Es ist unverständlich und auch nicht nachvollziehbar, warum einige dies immer wieder infrage stellen, auflösen wollen und Geschichte hier verschieben wollen. ({0}) – Jetzt sagen Sie „einer“. – Herr Dr. Jongen, Sie haben eben gesagt – ich habe es mir aufgeschrieben –: Da hat einer übersteuert. – Ich habe mehrmals dazwischengerufen – das ist vielleicht nicht ganz höflich –: Ich hätte gerne gewusst, ob die AfD jetzt für Stolpersteine ist oder dagegen. Darauf haben Sie nicht geantwortet. ({1}) Sie haben gesagt: Da hat einer übersteuert. – Ich frage mich, wie es dann sein kann, dass in den kommunalen Parlamenten AfD-Mitglieder immer wieder die Beendigung der Stolpersteinaktion fordern, wie beispielsweise 2015 in der Stadt Arnsberg, ebenfalls in meinem Wahlkreis. Wieder nur ein Einzelfall? ({2}) Nein, das ist strukturell bei Ihnen. ({3}) Entweder kennen Sie Ihre Leute nicht, ({4}) oder Sie sollten erkennen, dass Sie ein strukturelles Problem mit der Rechtsradikalisierung der Themen haben und es absichtlich machen. ({5}) Das Projekt Stolpersteine, das Gunter Demnig 1993 ins Leben gerufen hat, ist ein Projekt mitten in der Bevölkerung, mit vielen, vielen Engagierten. Es geht um die deutsche Historie, die Geschichte von uns allen. Es macht Menschen persönlich, nimmt sie aus der Masse heraus und macht sie zu Menschen mitten unter uns. In dem Buch geht es um die Familie Max und ­Adele Frankenthal. Da heißt es: Im Schützenverein war er, nämlich Max Frankenthal, 1910 der erste jüdische Vizekönig. Auf dem Foto, das in dem Buch zu sehen ist, sehen Sie – wie im Sauerland bei Schützenfesten typisch –, dass sich die halbe Dorfgemeinschaft engagiert. Max Frankenthal wurde im Ersten Weltkrieg, wie auch seine Brüder, als Soldat eingezogen und kehrte erst am 19. Dezember 1918 nach Hause zurück, auch er mit dem Tapferkeitsorden, dem Eisernen Kreuz, dekoriert. – Das sind Menschen mitten in unserer Gesellschaft, von denen Sie – nicht nur in Einzelfällen – sagen, dass Sie ihnen die Würdigung und die Personalisierung nehmen wollen. ({6}) Sie wollen das abschaffen. Ich muss ganz ehrlich sagen: Ich finde, das ist eine Schande für dieses Haus. ({7}) Als letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde habe ich einen Wunsch. Ich glaube, Sie haben gemerkt, dass wir hier im Deutschen Bundestag keine Radikalisierung dulden und keinen Extremismus tolerieren. ({8}) – Warten Sie doch ab, und hören Sie sich meinen Wunsch erst einmal an; vielleicht hilft es. – Ich wünsche mir, dass Sie in Ihrer Fraktion eine interne Debatte darüber führen, ob es wirklich richtig ist, dass, wie Sie sagen, einige wenige in extremistischen Jargon verfallen, diese Dinge auspacken und Sie alle damit identifiziert werden. Ich habe nämlich die Hoffnung, dass vielleicht auch bei Ihnen der eine oder andere vernünftig ist und nicht mit rechtsradikalem oder rechtsextremem Gedankengut in einen Topf geworfen werden will. Diesen Dialog wünsche und gönne ich Ihnen in Ihrer Fraktion. Danke schön. ({9})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herzlichen Dank, Herr Professor Sensburg. – Damit ist die Aktuelle Stunde beendet. Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich wünsche Ihnen allen ein frohes Wochenende zur Erholung und zum Gewinnen neuer Einsichten. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 28. Februar 2018, 13 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen. (Schluss: 14.42 Uhr)