Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 3/5/2020

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Ralph Brinkhaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004021, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Bundespräsident, es ist ein wichtiges Zeichen, dass Sie heute bei dieser Debatte hier sind, und Herr Bundestagspräsident, vielen Dank für die wirklich wichtigen Worte, die auch uns als Parlament den Spiegel vorgehalten haben. ({0}) Denn es ist einfach so, dass wir zu oft betroffen hier sitzen, und es ist so, dass wir auf zu vielen Trauerfeiern sind. Wir stehen vor einer Situation, wo wir uns fragen müssen: Warum ist das so, und warum können wir das nicht verhindern? Es sind in erster Linie Menschen, die ermordet worden sind. Es waren neun junge Leute, die einfach den Tag ausklingen lassen wollten. Söhne, Brüder, eine zweifache Mutter, ein Familienvater. Sie gingen abends aus dem Haus. Sie trafen sich mit Freunden in einer Bar, waren auf dem Weg, Zigaretten zu holen – und sie kehrten nicht mehr zurück. Sie alle hatten genauso wie die ermordete Mutter des Täters nicht nur einen Namen, sondern auch ein Gesicht. Sie alle fehlen. Und sie werden im Übrigen auch noch fehlen, wenn diese Debatte längst vorbei ist und wir uns anderen Themen zugewandt haben. Wir trauern um sie. Unser tiefes Mitgefühl gilt ganz besonders ihren Familien und Freunden und natürlich auch den Verletzten und Traumatisierten. Doch neben der Trauer steht für mich auch tiefe Scham. Denn was uns als Politiker nach Hanau, nach Halle, nach so vielen – zu vielen – anderen Orten mindestens genauso erschüttern muss, ist die Tatsache, dass Menschen in diesem Land wieder Angst haben – Angst haben, weil sie einer bestimmten Gruppe angehören, weil sie einen bestimmten Glauben haben und weil sie das Gefühl haben, der Staat kann sie nicht schützen. Doch genau das ist die Aufgabe dieses Staates: den Einzelnen zu schützen. Denn, meine Damen und Herren, nur wer in Sicherheit lebt, kann auch in Freiheit leben. Der Anschlag von Hanau war daher nicht nur – was schlimm genug ist – ein Anschlag auf wehrlose Menschen. Es war ein Anschlag auf den Kern unseres Staates, auf unsere Sicherheit und damit auf die Freiheit nicht nur derjenigen, die ermordet worden sind, sondern auf die Freiheit von jedem von uns. Damit sind all die Anschläge, die wir in den letzten Jahren betrauerten, nichts anderes, meine Damen und Herren, als Anschläge auf unsere Demokratie. ({1}) Ja, Herr Bundestagspräsident, unsere Demokratie wird bedroht – mehr denn je. Ich bin gewiss niemand, der die Gefahr durch Extremismus auf der linken Seite oder Islamismus unterschätzt; aber der Feind unserer Demokratie steht in diesen Tagen rechts und nirgendwo anders, meine Damen und Herren. ({2}) Das zeigt eine lange Kette unerträglicher Ereignisse: die Verbrechen des NSU, der Mord an Walter Lübcke, die antisemitischen Anschläge in Halle, die Morde von Hanau und, und, und. ({3}) Wir dürfen uns nichts vormachen: Der Rechtsextremismus hat es eben nicht nur auf einzelne Menschen und auf einzelne Gruppen abgesehen, er hat es auf das freiheitliche Fundament unseres Staates abgesehen, meine Damen und Herren. ({4}) Deswegen noch einmal: Hanau war mehr als die Tat eines Einzelnen, eines Verwirrten. Es war im Ergebnis ein Anschlag auf uns alle. ({5}) Und deswegen müssen auch alle – ich betone: alle – eine Antwort geben, laut und eindeutig: Wir Demokraten stehen zusammen für ein friedliches, weltoffenes und tolerantes Deutschland. Wir schützen die Rechte aller unserer Mitbürger, egal woher sie kommen oder welche Religion sie ausüben. Wer diese Rechte missachtet oder anderen abspricht, der stellt sich ganz bewusst gegen dieses Land. ({6}) Wer diese Rechte nicht achtet, stellt sich auch außerhalb unserer Gesellschaft, und er ist in Wahrheit der „andere“, meine Damen und Herren. Doch reden reicht nicht – da haben Sie recht, Herr Bundestagspräsident; wir haben zu viel geredet –, es kommt auf die Taten an. Sicherlich, wir haben einiges gemacht: 600 zusätzliche Stellen beim Bundeskriminalamt und beim Verfassungsschutz; es wurden rechtsextreme Vereine verboten, wir haben das Waffenrecht verschärft. Wir werden in den nächsten Wochen ein Gesetz gegen Hass im Internet verabschieden. Aber das reicht nicht. Wir müssen mehr tun, wir müssen noch mehr an Zeit und Geld im Kampf gegen diesen Hass investieren. Denn unsere Antwort darauf kann nur heißen: Wir sind ein starker, robuster Staat, der sich wehrt, meine Damen und Herren. ({7}) Denn Fakt ist: Hass, Hetze und Angriffe auf Personen in unserer Gesellschaft nehmen zu. Und immer – immer! – beginnt es mit der Sprache: Beleidigungen, Schmähungen, Ausgrenzungen sind der erste Schritt in die Verrohung, der erste Schritt, dem anderen das gleichwertige Menschsein abzusprechen. ({8}) Dabei kann im Übrigen jeder von uns ins Visier geraten: Verbale Angriffe gegen Menschen mit Migrationshintergrund, leider auch zu oft im Sport, gegen Bürgermeister, Gemeinderäte, Polizisten und Rettungskräfte haben ein erschreckendes Ausmaß angenommen. ({9}) Die Frage, die sich in aller Dringlichkeit stellt, ist doch: Wie können wir diese unheilvolle Eskalation stoppen? Aber der Kampf gegen diese Eskalation ist eben nicht nur Aufgabe des Staates. Wir alle, jeder Einzelne, muss dieser Verrohung der Sprache in der analogen und – auch das stimmt – ganz besonders in der digitalen Welt entschieden entgegentreten. ({10}) Was noch vor Jahren an Hass undenkbar war, ist heute Alltag im Netz, auf unseren Schulhöfen, in unseren Fußballstadien, und – ja, auch das gehört zur Wahrheit dazu – es ist leider auch Alltag hier im Parlament, meine Damen und Herren. ({11}) Und um dies gleich zu sagen: Es geht überhaupt nicht darum, dass Probleme nicht benannt werden dürfen; aber es geht um das Wie. Es geht um Respekt und Achtung in der Gesellschaft und in der politischen Auseinandersetzung. ({12}) Denn es ist letztlich die Sprache, die am Anfang einer Radikalisierung steht, einer Radikalisierung, die, wie wir gesehen haben, zu oft in Gewalt und Morden endet. Meine Damen und Herren, die Morde von Hanau sind fürchterlich und haben uns tief erschüttert. Aber ich habe trotzdem Hoffnung, weil ich in den letzten Tage gesehen habe, wie die Menschen in diesem Land zusammenstehen und wie sie Haltung zeigen, in Hanau, aber auch an vielen, vielen anderen Orten, wie sie aufstehen und laut sagen: Jeder in diesem Land hat Anspruch auf Schutz, Achtung und Respekt, egal woher er kommt und egal was er glaubt. Ich glaube, es wird kein einfacher Weg werden, die fatalen Entwicklungen der letzten Jahre wieder zurückzudrehen. Aber ich möchte alle in diesem Parlament – und wenn ich alle sage, dann meine ich auch wirklich alle – einladen, dass wir diesen harten Weg gemeinsam gehen. Es ist unsere Aufgabe, diesen Weg gemeinsam zu gehen. Wir sind die Vertretung des deutschen Volkes. Wir müssen ihn gemeinsam gehen, damit nie wieder in diesem Land ein Bürger auf einer Trauerfeier dem Bundespräsidenten oder der Bundeskanzlerin erklären muss: Ich habe Angst. ({13})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort der Kollege Dr. Roland Hartwig, AfD. ({0})

Dr. Roland Hartwig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004738, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Bundespräsident! Herr Bundestagspräsident! Meine Damen und Herren! Wir werden heute wieder viel Einigkeit erleben. Es ist doch schön, nicht wahr, wenn man einen gemeinsamen Feind hat und sich auch einig ist, wo man ihn suchen muss: nämlich rechts. ({0}) Extremismus aber entwickelt sich an allen Rändern: rechts ebenso wie links. Im Internet tritt er ganz offen in Erscheinung. Er zeigt sich auf der inzwischen verbotenen linksextremen Plattform linksunten.indymedia, auf der regelmäßig zur Gewalt gegen Andersdenkende aufgerufen wurde, oder auch bei linken Strategietreffen, wo darüber fabuliert wird, ein Prozent der Reichen zu erschießen oder ins Arbeitslager zu schicken. ({1}) Er zeigt sich im Rassismus und einem sich hartnäckig haltenden linken Antisemitismus. Extremismus kommt aber niemals nur von einer Seite, meine Damen und Herren, sondern immer von links wie von rechts. Wenn extremistische Tendenzen in einer Gesellschaft erstarken, dann läuft für alle erkennbar etwas grundsätzlich schief. Dann muss sich vor allem die Politik fragen, was sie falsch gemacht hat. ({2}) Dann ist es höchste Zeit, die Ursachen für diese Fehlentwicklungen und die Verantwortlichen zu benennen. Aber nichts davon ist in den letzten Jahren geschehen. Ich habe nicht ein einziges Mal einen Politiker aus Ihren Reihen gehört, der ernsthaft ein Nachdenken über die Entwicklung, die unser Land nimmt, eingefordert hat. ({3}) Meine Damen und Herren, gehen Sie ins Land hinaus, und schauen Sie sich um: Deutschland ist tief gespalten. ({4}) Zum einen geografisch: Die Kluft zwischen Ost und West wächst weiter. Zum anderen sozial: Die Schere zwischen Arm und Reich geht weit auseinander. ({5}) Und drittens erlebt dieses Land eine politisch-moralische Spaltung: in die Guten und die Bösen. Und genau diese Moralisierung des Politischen ist brandgefährlich, meine Damen und Herren. ({6}) Sie selbst haben sie geschaffen, indem Sie den politischen Diskurs auf die moralische Ebene verlagerten – dorthin, wo er Sachargumenten und einer vernunftbasierten Debatte nicht mehr zugänglich ist. ({7}) Und wer das kritisiert, gehört bereits zu den Bösen und wird ausgegrenzt. Wenn Sie all den Menschen, die Ihre Meinung nicht teilen, ständig den Mund verbieten, wenn Sie diese Leute stigmatisieren und gesellschaftlich isolieren, dann schaffen Sie selbst die Räume der Radikalisierung. ({8}) Mit Ihrer Politik haben Sie die Axt an die Meinungsfreiheit und damit an die Lebensader der Demokratie gesetzt. ({9}) Inzwischen fürchten 60 Prozent der Deutschen, sich in der Öffentlichkeit nicht mehr zu allen Themen frei äußern zu können. ({10}) Ihre Politik, meine Damen und Herren, hat ein Klima der Angst geschaffen. ({11}) Und jetzt kommen wir als AfD und halten Ihnen den Spiegel vor. ({12}) Was Sie sehen, ist hässlich; das will ich Ihnen gerne glauben. ({13}) Aber Sie müssen doch selbst einmal drüber nachdenken, was Ihr Vorgehen mit dem gesellschaftlichen Klima zu tun hat, in dem der Mord an Walter Lübcke und die schrecklichen Anschläge in Hanau und Halle überhaupt möglich wurden. ({14}) Wenn in Frankfurt ein Kind vor einen Zug gestoßen wird, dann geht man schnell zum Tagesgeschehen über. ({15}) Der Täter sei psychisch krank gewesen, heißt es dann. ({16}) Wenn in Hanau ein psychisch Kranker Menschen erschießt, wird daraus rechter Terrorismus. ({17}) Rast dann Tage später wieder mal ein Fahrzeug absichtlich in eine Menschenmenge, geht das im Grundrauschen der täglichen Berichterstattung unter. ({18}) Man erfährt wenig über die Hintergründe, die Opfer und den Täter. ({19}) Jedes dieser Ereignisse hätte nicht geschehen dürfen. Aber die einen zu ignorieren und die anderen politisch zu instrumentalisieren, das treibt die Spaltung unserer Gesellschaft voran. ({20}) Meine Damen und Herren, erst vor wenigen Tagen hat unser Parteivorsitzender Tino Chrupalla vor einem weiteren Aufheizen des politischen Klimas gewarnt. Prompt wurden er und seine Familie Opfer eines Brandanschlages. Von den gesundheitlichen Schäden ist er bis heute nicht genesen. Auch diese Tat war das Werk von Extremisten, und sie zeigt uns einmal mehr, dass es nicht damit getan ist, Extremismus allein auf der rechten Seite zu suchen, ({21}) sondern dass es nur in einer gemeinsamen Kraftanstrengung aller demokratischen Kräfte gelingen wird, die gesellschaftlichen Rückzugsräume für Extremisten wieder zu schließen: von rechts wie von links. Ich danke Ihnen. ({22})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Liebe Kolleginnen und Kollegen, mein Rat wäre, in dieser Debatte auf allen Seiten des Hauses dem Ernst der Lage entsprechend sich zu verhalten. ({0}) Jetzt hat das Wort der Vorsitzende der SPD-Fraktion, Dr. Rolf Mützenich. ({1})

Dr. Rolf Mützenich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003599, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Bundespräsident! Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte heute ist dringlich und unerlässlich. Mein Vorredner hat das dokumentiert. ({0}) Ich finde, das, was Sie gesagt haben, ist nicht angemessen für das, was wir in Hanau, was wir in dieser Republik erleben müssen. Ich finde, an erster Stelle müssen Trauer und Mitgefühl mit den Angehörigen stehen. Insbesondere möchte ich dem Bundestagspräsidenten für seine Worte im Namen des, hoffe ich, ganzen Hauses – manchmal habe ich ein bisschen Zweifel, ob es wirklich das ganze Haus ist – danken. Vielen Dank, Herr Schäuble. ({1}) Ich will gleichzeitig sagen, dass auch das, was ich gestern in Bildern gesehen habe, wichtig ist, weil nämlich auch eine Stadt trauert: die Menschen in Hanau, die so viel Mitgefühl gezeigt haben und versucht haben, diesen Anschlag zu verarbeiten. Auch das sollten wir heute in unseren Reden mitbedenken. Aber natürlich müssen wir uns gleichzeitig darüber klar werden, was die wachsende rassistisch motivierte Gewalt für unser Land bedeutet und was wir tun müssen. Aber es geht um mehr: Es geht um die Selbstvergewisserung, ob das, was uns das Grundgesetz als Handlungsanleitung mit auf den Weg gegeben hat, gilt: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt. Diese wenigen klaren Sätze machen deutlich, um was es heute geht, meine Damen und Herren. Ja, die Adressaten der Mütter und Väter des Grundgesetzes waren der Staat, aber eben auch der Souverän. Deswegen ist hier vor dem Deutschen Bundestag, entlang der Spree, der richtige Platz für die 19 Grundrechtsartikel, die von dem israelischen Künstler Dani Karavan gestaltet worden sind. Ich sehe viele Menschen, viele Besuchergruppen, die davor stehen bleiben und diese Sätze lesen. Diese Menschen dokumentieren das. Ich glaube, sie dokumentieren auch, dass sich die Mehrheit der Deutschen an diesem Grundgesetz eben nicht nur orientiert, sondern auch danach leben will. Da es den Staat adressiert, möchte ich auch einige Worte an den Herrn Bundespräsidenten richten. Im Namen meiner Fraktion möchte ich Ihnen ganz herzlich danken, nicht nur für das, was Sie gestern in Hanau gesagt haben, sondern auch für das, was Sie die ganzen letzten Monate getan haben, nämlich diesem Staat ein Gesicht der Würde, des Respekts, der Trauer zu geben und insbesondere zu zeigen, dass dieses Land aus einer pluralistischen und freien Gesellschaft besteht. Vielen Dank, Herr Bundespräsident. ({2}) Meine Damen und Herren, was in Hanau passiert ist, ist mehr als Totschlag. Wir müssen es aussprechen: Es ist Massenmord. Es ist ein gezielter Angriff gegen Ausländer, Fremde, Nichtdeutsche. Egal wie man es nennt: Es war rassistischer und rechter Terror. Vielleicht war es ein Einzeltäter, aber er wurde getragen von einem System der Hetze, der Erniedrigung und der Anleitung zu Gewalt. Diese Spur führt hinein in den Bundestag, und die AfD ist der Komplize. ({3}) Nicht anders, meine Damen und Herren, können Ihre Reden verstanden werden. Alice Weidel, 16. Mai 2018 hier im Bundestag: „Burkas, Kopftuchmädchen, alimentierte Messermänner und sonstige Taugenichtse werden unseren Wohlstand, das Wirtschaftswachstum und vor allem den Sozialstaat nicht sichern.“ Ich frage Sie: Ist das kein Rassismus? ({4}) Alexander Gauland am 2. Juni 2016: „Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in unserer über 1000-jährigen Geschichte.“ Ich frage Sie: Ist das keine Relativierung des Rassenwahns des letzten Jahrhunderts? ({5}) Herr Gauland und Frau Weidel, Sie haben Herrn Hartwig vorgeschickt. Sie hätten an dieses Pult treten und eine Rede halten müssen, und Sie hätten sich entschuldigen müssen. ({6}) Es war Björn Höcke, der gesagt hat: „Im 21. Jahrhundert trifft der lebensbejahende afrikanische Ausbreitungstyp auf den selbstverneinenden europäischen Platzhaltertyp.“ Ich frage Sie: Ist das keine Rassenlehre? ({7}) Ja, es ist Rassenlehre. Und dieser Mann gehört zu Ihren Reihen. ({8}) Dann Markus Frohnmaier am 28. Oktober 2015: „Wenn wir kommen, dann wird aufgeräumt, dann wird ausgemistet.“ Dort steht der Feind dieser Demokratie, und wir müssen das benennen. ({9}) Meine Damen und Herren, mit Ihren Reden haben Sie Täter wie jenen in Hanau in dem Glauben gelassen, dass es eine große Zahl von Menschen gibt, die genauso denken. ({10}) Sie haben den Boden bereitet; Sie haben sich schuldig gemacht. ({11}) Wir Sozialdemokraten sind stolz, einer Partei anzugehören, die von Anfang an gegen Rassismus und rechtes Gedankengut gekämpft hat, gegen die Kolonialpolitik eines Kaiserreiches, das Sie, Herr Gauland, hier in jeder Rede so verherrlichen. Damals wurden wir weggesperrt und als vaterlandslose Gesellen diffamiert. Weil wir dem Rassenwahn der Nationalsozialisten widerstanden haben, wurden wir geknechtet und vertrieben. Deswegen sage ich auch heute: Wir schöpfen Selbstbewusstsein aus der Tatsache, dass in der Mitte meiner Fraktion ein Mensch wie Karamba Diaby einen Platz hat. ({12}) Er wird bedroht; aber er wehrt sich, und er zeigt Haltung. Diese Haltung ist für Demokratinnen und Demokraten so wichtig. Vielleicht darf ich denjenigen, die ihn bedrohen und angreifen, sagen: Er ist Chemiker. Er hat seine Doktorarbeit über das Kleingartenwesen in Halle geschrieben. Er weiß mehr über das genossenschaftliche Wesen und die genossenschaftliche Tradition als mancher Ignorant und Deutschtümler. Vielen Dank, Karamba, für deinen Mut. ({13}) Es ist aber nicht nur Karamba Diaby, sondern es sind ganz viele Menschen, die sich in den Dörfern, in den Gemeinden und in den Städten gegen Hass und Hetze einsetzen. Deswegen sage ich: Ja, meine Damen und Herren, wir sind keine Wiederholung von Weimar. Wir sind eine mutige Demokratie. Dafür gibt es jeden Tag genügend Beispiele in unserem Land. Zum Schluss möchte ich etwas ansprechen, was einem immer wieder Hoffnung macht. Verzeihen Sie mir, dass ich von meiner Heimatstadt Köln spreche, wo vor 14 Tagen Karneval war. Dort sind Schulklassen durch die Stadtteile gezogen. Diese Schulklassen waren so bunt wie jede unserer Städte, so bunt, wie Deutschland es ist. Die Kinder haben gelacht und Kamelle geworfen. Das ist es, was dieses Land ausmacht, Frau Weidel und Herr Gauland. ({14}) Diese Schulklassen sind in das ehemalige Haus der Gestapo gegangen. Dort gibt es eine Ausstellung über den Karneval im Nationalsozialismus. Sie haben sich angeschaut, was dort vor Jahrzehnten getrieben wurde. Sie sind fassungslos und können nicht glauben, was damals in diesem Land passiert ist. Deswegen ist das „keine dämliche Bewältigungspolitik“, wie Herr Höcke gesagt hat. Ich bin stolz, dass wir unsere Kinder im Wissen um die Geschichte erziehen. Daraus schöpfe ich Hoffnung. Vielen Dank. ({15})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Bijan Djir-Sarai, FDP. ({0})

Bijan Djir-Sarai (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004029, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Bundespräsident! Herr Bundestagspräsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Normalerweise halte ich in diesem Haus außen- und sicherheitspolitische Reden. Es war mir aber ein persönliches Bedürfnis, in dieser wichtigen Debatte heute mitzuwirken. Wenn ich vor zehn Jahren eine Rede über Hass und Rechtsextremismus in Deutschland gehalten hätte, hätte ich eine andere Rede gehalten. Ich hätte hier gesagt, dass Deutschland ein weltoffenes und tolerantes Land ist und Hass und Extremismus in unserem Land keinen Platz haben. Heute sage ich: Ja, wir sind ein weltoffenes und tolerantes Land, aber es gibt Entwicklungen in unserem Land, die mich beunruhigen und zutiefst schockieren. ({0}) Die Tat von Hanau führt uns einmal mehr auf tragische Weise vor Augen, wohin Hass und rechtsextreme Hetze führen können. Für das, was in Hanau passiert ist, gibt es keine Rechtfertigung. ({1}) Es gibt kein „Ja, aber“. Menschen sind aufgrund rassistischer Motive gezielt getötet worden – Punkt. Unser tiefempfundenes Beileid gilt den Opfern dieser schrecklichen Tat und ihren Angehörigen. Jede Verharmlosung, jede Relativierung dieser Tat sind menschenverachtend und fügen den Angehörigen der Opfer nur weiteres Leid zu. ({2}) Wenn unschuldigen Menschen aufgrund von Hass und Hetze ihr Leben genommen wird, dann können wir als Gesellschaft nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Jeder Mitbürger mit Migrationsbiografie wird Ihnen Geschichten von Alltagsrassismus erzählen können, von unterschwelligen Bemerkungen und direkten Beleidigungen bis hin zu offener Gewalt. Das ist sehr schmerzhaft. Gerade wir als Abgeordnete können als Personen der Öffentlichkeit nachvollziehen, was es heißt, auch unangenehme Diskussionen aushalten zu müssen. Aber die wenigsten von uns haben eine Vorstellung davon, was es heißt, Bürger mit Migrationshintergrund zu sein. ({3}) Was man inzwischen gelegentlich persönlich erfahren muss, ist zutiefst verstörend. Meine Damen und Herren, ein Jahr vor der Abiturprüfung habe ich meine Eltern gefragt, was ich nach dem Abitur eigentlich studieren soll. Meine Eltern haben geantwortet: Medizin studieren, Arzt werden. – Da habe ich gefragt: Warum denn das? – Meine Eltern haben geantwortet: Sollten sich die politischen Verhältnisse in Deutschland eines Tages verändern und solltest du dann das Land verlassen müssen, wirst du als Arzt überall im Ausland arbeiten können. Ich habe mich über diesen Satz meiner Eltern immer wahnsinnig aufgeregt. Ich habe mit meinen Eltern immer darüber gestritten und gesagt: Das ist doch Unsinn. Warum sollten sich die politischen Verhältnisse in Deutschland verändern? Warum sollte ich mir jemals Gedanken darüber machen, Deutschland zu verlassen? Meine Damen und Herren, in den Tagen von NSU, Kassel, Halle und Hanau mache ich mir aber oft Gedanken über den Satz meiner Eltern. Selbstverständlich denke ich nicht darüber nach, Deutschland zu verlassen. Dafür bin ich zu sehr Rheinländer, dafür liebe ich dieses Land zu sehr. Das ist meine Heimat. ({4}) Aber ich spüre zum ersten Mal seit Langem, dass Menschen in diesem Land zu Recht Angst vor der Zukunft haben. In diesem Land, meine Damen und Herren, darf es keinen Platz für Hass und Rassismus geben. Das sage ich nicht als jemand, der nicht in Deutschland geboren wurde; das sage ich als Bürger dieses Landes. ({5}) Wenn Menschen muslimischen Glaubens angegriffen werden, dann ist das nicht nur ein Angriff auf Muslime, dann ist es ein Angriff auf uns alle. ({6}) Wenn Menschen jüdischen Glaubens auf der Straße aufgrund ihrer Kippa angegriffen werden, dann ist das nicht nur ein Angriff auf Juden, es ist ein Angriff auf uns alle, meine Damen und Herren. ({7}) Genauso ist der Anschlag von Hanau ein Angriff auf unsere gesamte Gesellschaft. Er schürt Angst und sorgt für Unsicherheit. Meine Damen und Herren, wir sind Demokraten. Es ist unsere Aufgabe als Demokraten, in dieser schwierigen Zeit die Gesellschaft zu versöhnen, und nicht, die Gesellschaft zu spalten. Es ist unsere Aufgabe als Demokraten, dafür zu sorgen, dass rassistischer Hass und Gewalt keinen Platz in der Mitte unserer Gesellschaft haben. Ich bedanke mich bei Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Fraktionsvorsitzende der Partei Die Linke, Dr. Dietmar Bartsch. ({0})

Dr. Dietmar Bartsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003034, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Bundespräsident! Herr Bundestagspräsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben ein Problem in diesem Land, leider auch im Bundestag. Das Problem heißt: Rassismus. Alltagsrassismus auf der einen Seite und struktureller Rassismus auf der anderen Seite gehen dabei Hand in Hand. Zehn Menschen wurden am 19. Februar in Hanau ermordet. Kurz darauf wurde über Fremdenfeindlichkeit, über Ausländerfeindlichkeit berichtet. Aber Ferhat, Mercedes, Sedat, Gökhan, Hamza, Kaloyan, Vili Viorel, Said und Fatih waren in Deutschland nicht fremd. Sie waren und sie bleiben ein Teil von Deutschland. ({0}) Achten wir auf unsere Sprache. Damit beginnt es. Hören wir auf mit Begriffen wie „Fremdenfeindlichkeit“. Sie verharmlosen die Tat, und sie grenzen aus. Über 200 Menschen wurden von Rechtsextremen seit der Wiedervereinigung in Deutschland ermordet. Die Blutspur des Rechtsterrorismus zieht sich seit Jahrzehnten durch Deutschland, und das ist widerlich, meine Damen und Herren. ({1}) Der Rechtsstaat muss entschlossen dagegen vorgehen. Viel zu lange wurde das Problem des rechten Terrors heruntergespielt. Noch heute geht einigen das Wort „Rechtsterrorismus“ nicht über die Lippen, ohne Linke im selben Atemzug zu erwähnen. Es war auch hier eine Peinlichkeit, Herr Hartwig, ({2}) dieses unsägliche geschichtsvergessene Geschwätz von den Rändern. Die Gleichsetzung von rechts und links ist angesichts unserer Geschichte – nach NSU, nach dem Mordanschlag auf Henriette Reker, den Morden im Münchener Einkaufszentrum, ({3}) nach dem Mord an Walter Lübcke, nach Halle und Hanau – eine Relativierung von Faschismus und der Gefahr, die von Nazis in unserem Land ausgeht, meine Damen und Herren. ({4}) In diesem Sinne: Danke, Herr Brinkhaus. Danke, Herr Schäuble. Das ist ausdrücklich eine andere Akzentsetzung gewesen. Über 200 Morde – alles Einzelfälle? Hören wir auf damit. Das ist gefährlicher Unsinn. Rechtsterror und Rechtsextremismus sind strukturelle Probleme. Werden sie nicht mit allen Mitteln des Rechtsstaates bekämpft, breiten sie sich weiter aus. Jeden Tag werden in Deutschland Menschen wegen ihrer Hautfarbe, ihrer Haarfarbe, ihrer Religion, ihres Namens bepöbelt und angegriffen, im Job diskriminiert oder gar nicht erst eingestellt, werden Moscheen mit Hakenkreuzen beschmiert und Synagogen rund um die Uhr bewacht. Was für ein trauriger Zustand! Die Morde des NSU hätten jedem die Gefahr endgültig vor Augen führen müssen. Rechter Terror und rassistische Gewalt hätten Priorität Nummer eins der Sicherheitsbehörden werden müssen. Das geschah aber ausdrücklich nicht. Im Gegenteil: Die Debatten, auch in der Bundesregierung, waren komplett andere. Die Migration sei die Mutter aller Probleme, hieß es. Ich hoffe, dass auch beim Innenminister inzwischen die Erkenntnis gewachsen ist, Rassismus und Rechtsterror sind Väter vieler Probleme in unserem Land, meine Damen und Herren. Die Bundesregierung hat besondere Verantwortung, mäßigend auf Debatten einzuwirken, ({5}) anstatt die Probleme anzuheizen. Wer aber Zitate des ehemaligen Präsidenten des Verfassungsschutzes, Hans-Georg Maaßen, liest, der muss sich fragen, wie jemand, der Sympathien für rechte Parolen hegt, Rechtsextremismus entschlossen bekämpfen konnte. Dass dieser Mann jahrelang den Verfassungsschutz leiten durfte, war ein schwerer Fehler der Innenminister der Union ({6}) und im Übrigen über viele Jahre prägend. Klaus-Dieter Fritsche, Mitglied der CSU, inzwischen pensioniert, war Koordinator der Geheimdienste im Kanzleramt, Staatssekretär, Vizepräsident des Verfassungsschutzes. Aber anstatt in den Ruhestand zu gehen, ging er vom Kanzleramt direkt nach Wien als Berater des damaligen FPÖ-Innenministers Kickl. Der FPÖ, einer Bande mit Rechtsradikalen, sollte er auf die Sprünge helfen. Diese beiden Herren zeigen anschaulich das gefährliche Problem des strukturellen Rassismus. Anders als Björn Höcke sind sie keine Faschisten, ({7}) aber Sympathisanten rechter Politiker und ihrer Thesen, feine bürgerliche Herren, die die Tür für Rechtsradikale öffnen. ({8}) Meine Damen und Herren, unsere Gesellschaft ist spürbar rabiater, brutaler geworden. Wir haben ein vergiftetes Klima, wie der Bundestagspräsident gesagt hat. Der knallharte Wettbewerbsdruck hat der Gesellschaft den Stempel des „Jeder gegen jeden“ aufgedrückt und den Zusammenhalt erodieren lassen. Wir müssen auch über das Klima reden, in dem Rechtsextremismus gedeiht, ein Klima, in dem die Abwertung des anderen, des vermeintlich Fremden und angeblich Schwächeren sagbar und auch salonfähig geworden ist. Wenn in dieser Situation Faschisten Hass und Hetze verbreiten, wenn Shisha-Bars verunglimpft und bessere Renten für Deutsche gefordert werden, dann wird zusätzliches Gift in der Gesellschaft versprüht, das den Nährboden für solche Taten schafft. ({9}) Wir brauchen Sicherheit durch Schutz und vor allen Dingen Umsteuern und Umdenken, meine Damen und Herren. ({10}) Am Wochenende wurde Dietmar Hopp, bekanntermaßen Mäzen der TSG Hoffenheim, wieder einmal abscheulich verunglimpft. Es war ein starkes Zeichen, dass die Spieler und Verantwortlichen das nicht tatenlos akzeptiert haben. Aber als ein Spieler von Hertha BSC, Jordan Torunarigha, vor Kurzem im Stadion rassistisch beleidigt worden ist, gab es kaum Empörung von den Funktionären. Unser Fußballnationalspieler Antonio Rüdiger sagte jüngst: „Taten müssen folgen! Alles andere hilft nichts. Leute, die daneben sitzen, müssen endlich aufstehen …“. ({11}) Recht hat er. Es muss sich einiges grundsätzlich ändern: bei den Behörden, in der Gesellschaft, hier im Parlament und auch in der Bundesregierung. So darf es nicht weitergehen; denn die Reihe der rassistischen Morde muss mit Hanau beendet sein. Herzlichen Dank. ({12})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort der Kollege Omid Nouripour, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Omid Nouripour (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003881, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Bundespräsident! Am 29. Mai 1993 verlor Mevlüde Genç beim rassistischen Brandanschlag in Solingen zwei Töchter, zwei Enkelinnen und eine Nichte. Jahre später fasste sie ihre Lehren daraus zusammen in folgenden Worten: „Liebe lässt den Menschen leben, aber der Hass bringt den Tod.“ Ja, Rassismus tötet, Hass tötet. Gewinnt der Hass, stirbt die Demokratie. Dies zu verhüten, ist die wichtigste Aufgabe aller Demokratinnen und Demokraten. ({0}) Meine Damen und Herren, wir sind heute hier, um über die Frage zu beraten, die mir der Vater eines der Opfer letzte Woche in Hanau gestellt hat: Wann hört dieser Wahnsinn auf? Wie lange noch müssen Menschen sterben, weil sie Muslime oder Aleviten, Türken oder Kurden, Afghanen oder Roma sind? ({1}) Wie lange müssen wir uns anhören, Menschen, die seit vier Generationen in Deutschland leben, seien Fremde? Wie lange muss die Mutter eines getöteten jungen Mannes das Gefühl haben, statt trauern zu dürfen, rechtfertigen zu müssen, ihr Sohn sei doch so gut integriert gewesen, er habe doch eine Arbeit gehabt? ({2}) Wie oft wollen wir als Politik Reden halten wie nach den Toten von Mölln, Solingen, Dessau, Nürnberg, Heilbronn, Kassel, Magdeburg, Halle, Wolfhagen oder Hanau? Wir sind den Angehörigen der Opfer eine Antwort schuldig, und nach jedem neuen Opfer des Rassismus wird diese Antwort überfälliger. Meine Damen und Herren, in den letzten 30 Jahren haben in unserem Land mindestens 200 Menschen aufgrund rechtsextremer und rassistischer Gewalttaten ihr Leben verloren, und das ist nur die traurige Spitze des Eisberges. Es gibt tagtäglich Angriffe auf Jüdinnen und Juden, Musliminnen und Muslime, auf Synagogen, auf Moscheen, auf Menschen anderer Herkunft. Hass und Rassismus machen unsere Gesellschaft krank und säen Zwietracht. Dagegen braucht es einen Aufstand der Anständigen. ({3}) Ich bin froh um jede Stimme der Solidarität in diesem Land, jede gereichte Hand für Demokratie und Zusammenhalt, für den Schulterschluss der Demokratinnen und Demokraten. Aber es braucht jetzt vor allem einen Aufstand der Zuständigen. ({4}) Wir brauchen Institutionen, die aufstehen gegen Rassismus. Dies tun dankenswerterweise schon viele: bei der Polizei, bei der Bundeswehr, in der Justiz und in der Verwaltung, aber dies müssen alle tun, die dem Schutze unseres Landes und unseres Grundgesetzes verpflichtet sind. Das ist derzeit leider nicht der Fall. Es ist gut, dass es jetzt einen Kabinettsausschuss gibt, der sich mit diesem Thema beschäftigt. Ich begrüße herzlich die Vertreterinnen und Vertreter der Verbände der Migrantenselbstorganisationen auf der Tribüne. Gerade bei einem Kabinett, in dem kein einziges Mitglied irgendeinen Migrationshintergrund hat, werden sie ganz genau draufschauen, was der Kabinettsausschuss bringt. ({5}) Ich bin froh, dass der Generalbundesanwalt so klar von Rassismus spricht. Nach der rassistischen Hetzjagd von Chemnitz sprach der Innenminister noch von der Migration als der „Mutter aller Probleme“. Das sind Äußerungen, die Menschen mit einer Migrationsgeschichte immer wieder das Gefühl geben, ihren Wert und ihren Platz in der Gesellschaft beweisen, ja rechtfertigen zu müssen. Aber sollte es nicht anders sein? Sollten nicht Rassisten, Antisemiten, Homophobe, Sexisten und Islamfeinde den Druck der Demokratie spüren? ({6}) Ich bin froh, dass der Innenminister nun davon spricht, dass Rechtsextremismus die größte Gefahr für die Demokratie in diesem Land sei. Es gibt auch eine sehr klare Einordnung seinerseits der Tat in Hanau. Er sagt – ich zitiere –, dass der rassistische Hintergrund der Morde in Hanau unbestritten sei und durch nichts relativiert werden könne. Ich danke Ihnen herzlich, Herr Seehofer, für diese klaren Worte. Ich hoffe, wir bleiben an dieser Stelle zusammen. Meine Damen und Herren, unser gemeinsames Zusammenleben regelt das Grundgesetz. Niemand muss sich vor irgendetwas anderem rechtfertigen als vor dem Grundgesetz, vor unserer Verfassung. Aber das zeigt doch auch, dass der Kampf gegen Rassismus nicht erst dann beginnt, wenn Menschen sterben. Rassismus tötet, aber vorher grenzt er aus. ({7}) Wenn qualifizierte Frauen einen Job nicht bekommen, weil sie ein Kopftuch tragen, wenn Menschen eine Wohnung nicht bekommen, weil die Namen ihrer Vorfahren anders klingen, dann hat das alles einen Namen: Das ist Rassismus. ({8}) Den Rassismus des Alltags zu bekämpfen, damit beginnt die Aufgabe, über die wir heute sprechen. ({9}) Rassismus speist sich aus Hass, Hass speist sich aus Wut, Wut speist sich aus Angst. Hier sitzen im Raum viele Kolleginnen und Kollegen, die mit dem Tode bedroht werden aufgrund ihrer Herkunft, auch ich. Ich kann nicht im Namen all dieser Leute sprechen, aber ich kann versprechen: Ob Karamba Diaby, Aydan Özoğuz, Amira Mohamed Ali, Bijan Djir-Sarai, Cem Özdemir, Paul Ziemiak oder ich: Wir Deutsche werden den Rassisten nicht unseren Hass schenken, und wir werden ihnen erst recht nicht unsere Angst schenken. ({10}) Dies schulden wir unserem Land, unserer Demokratie. Dies schulden wir den Opfern von Hanau. ({11}) Und weil es in dieser Debatte um die Opfer von Hanau geht, finde ich, dass wir es den Opfern schulden, ihnen mehr Aufmerksamkeit zu schenken als der Hetze, die wir vorhin gehört haben. ({12}) Deshalb möchte ich die Namen vorlesen. Wir gedenken heute Said Nessar El Hashemi, Sedat Gürbüz, Gökhan Gültekin, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Pǎun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar, Kaloyan Velkov, Michèle Kiesewetter, Walter Lübcke, Antonio Amadeu, Alberto Adriano, Halit Yozgat und aller anderen Opfer des Rassismus. ({13})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort der Bundesinnenminister Horst Seehofer. ({0})

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Herr Bundespräsident! Herr Bundestagspräsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Wenn es um die Bekämpfung des Rechtsextremismus geht, muss man sich zuallererst ein Bild von der tatsächlichen Lage machen, ein ehrliches, ein ungeschminktes Bild. Für Relativierung oder gar Verharmlosung gibt es bei diesem ernsten Thema keinen Raum. Die furchtbare Gewalttat in Hanau war die dritte innerhalb von zehn Monaten; es ist eine Spur zurück über den Amoklauf in München, der heute von den Sicherheitsbehörden zweifelsfrei als rechtsextremistisch motiviert eingestuft wird, bis zur Enttarnung des NSU. Es war die dritte Gewalttat, die unzweifelhaft rassistisch motiviert und islamfeindlich war. Darüber hinaus muss man sich immer wieder in Erinnerung rufen, dass wir in den letzten Wochen zwölf mutmaßliche Rechtsextremisten verhaftet haben, die ganz offenbar konkrete Planungen hatten gegen Personen, Planungen für bürgerkriegsähnliche Zustände in der Bundesrepublik Deutschland. Wir haben in den letzten Wochen eine Wohnung mit Unmengen von Sprengstoff und Handgranaten ausgehoben, eine andere Wohnung, ebenfalls in den letzten Wochen, mit vielen automatischen Waffen. Wenn wir die Spur seit der Enttarnung des NSU bis heute und die Entwicklung in den letzten Monaten betrachten, dann, meine Damen und Herren, muss ein Innenminister davon sprechen, dass die Bedrohungslage, die Gefährdungslage durch den Rechtsextremismus in unserem Land sehr hoch ist und durch nichts relativiert werden kann. ({0}) Natürlich gibt es auch Linksextremismus. Es gibt die Reichsbürger, die sehr waffenaffin sind, und es gibt nach wie vor eine hohe Gefährdungslage beim islamistischen Terror. Aber die höchste Bedrohung in unserem Lande geht vom Rechtsextremismus aus. ({1}) Das muss deutlich ausgesprochen werden. Man kann die Bedrohung nicht relativieren, indem man sagt: Es gibt ja auch Linksextremismus. – Der Rechtsextremismus, der Rechtsterrorismus und der Antisemitismus sind die höchste Gefährdung unseres freiheitlichen Rechtsstaates. ({2}) Es beginnt mit der Verrohung der Sprache – es gibt unzählige Beispiele, die heute schon genannt worden sind –, die sich auch in Bildern ausdrückt, zum Beispiel, wenn Menschen in einem Bundesligastadion im Fadenkreuz gezeigt werden oder wenn vom Erschießen reicher Leute gesprochen wird. ({3}) Das alles ist die Saat, durch die die Gewalt bewusst und gewollt oder auch ungewollt entsteht. Deshalb muss man diesen Tag nutzen, um an die Disziplin, an die Mäßigung in der Sprache zu erinnern. ({4}) – Das hätten Sie hier von rechts heute übrigens praktizieren können. ({5}) Ich habe Halle und Hanau besucht und habe oft berichtet, dass zwei Sätze, die mir dort gesagt wurden, wie ein Stich ins Herz gewirkt haben, in einer Gedenkveranstaltung, in aller Stille der Ruf eines jungen Menschen: „Ihr könnt uns nicht schützen!“, und bei einem Gespräch mit Betroffenen, mit Angehörigen die Aussage: Gibt es jetzt wieder nur Worte der Anteilnahme, oder folgen diesen Worten auch politische Taten und Maßnahmen? Das haben wir als Auftakt betrachtet, auch im Interesse der Opfer und der Angehörigen, und eine umfassende Strategie zur Bekämpfung des Rechtsextremismus entwickelt – sofort, innerhalb von zwei Tagen, mit allen 16 Bundesländern, ohne jeden politischen Streit. Das Bundeskabinett hat diese zwölf Punkte übernommen; sie sind mittlerweile weitestgehend umgesetzt. Den Worten sind Taten gefolgt. Ich nenne sie hier nur stichwortartig: Wir haben für eine massive personelle Verstärkung des Bundeskriminalamtes und des Bundesamtes für Verfassungsschutz gesorgt. Vergleichbare Arbeitseinheiten hatten wir bisher nur bei der Bekämpfung des islamistischen Terrors, aber nicht im Bereich Rechtsextremismus. Wir werden wahrscheinlich noch in dieser Woche hier im Deutschen Bundestag den Entwurf eines Anti-Hass-Gesetzes vorlegen; Frau Lambrecht wird dazu Näheres sagen. Es ist umfassend: Wenn jemand im Internet Drohungen ausstößt, Straftaten ankündigt oder begeht, ist der Provider künftig nicht nur verpflichtet, diese Inhalte zu löschen, sondern auch, sie dem Bundeskriminalamt zu melden; und wenn dort eine Straftat bejaht wird, wird die Justiz eingeschaltet. Wir haben in der vorletzten Sitzungswoche das Waffenrecht verschärft, mit dem ganz klaren Grundsatz: Waffen gehören nicht in die Hände von Extremisten. ({6}) Wir haben zum ersten Mal einen Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung. Herr Dr. Klein leistet ganz hervorragende Arbeit. Ihm möchte ich bei dieser Gelegenheit auch einmal danken. ({7}) Ich habe die gefährliche Vereinigung Combat 18 verboten. Wir haben jetzt eine Expertengruppe gegen Islamfeindlichkeit eingerichtet. Die Kanzlerin hat entschieden, dass wir einen Kabinettsausschuss zum Thema Rechtsextremismus bekommen. Und ich bin dabei, mit der Kollegin Giffey die Präventionsprogramme des Bundes zu überprüfen, um in der Zukunft vielleicht noch effektiver und wirksamer sicherzustellen, dass wir bereits im Vorfeld durch wirksame Präventionsprogramme manches verhindern können. Ich habe dazu gemeinsam mit Frau Giffey die besten Spezialisten der Bundesrepublik Deutschland eingeladen. Wir haben stundenlang miteinander diskutiert. Wir werden die Ergebnisse dieser Diskussionen in veränderten Präventionsprogrammen umsetzen. Ich habe Anfang dieser Woche mit dem Präsidenten des Deutschen Fußballbundes wegen der Entwicklung in unseren Stadien, die ja oft auch einen rassistischen Hintergrund hat, Kontakt aufgenommen, um gemeinsam zu überlegen, wie wir diesen Auswüchsen und Entwicklungen entgegentreten können, ohne Aktionismus zu veranstalten, sondern mit wirksamen Maßnahmen, die den Menschen helfen. Dieses umfassende Bekämpfungspaket ist eine Antwort auf die Frage: Gibt es nur Worte, oder gibt es auch wirksame politische Maßnahmen? Und auf „Ihr könnt uns nicht schützen!“ ist unsere Antwort die wehrhafte Demokratie, die die Errungenschaften unserer freiheitlichen Demokratie bewahrt. Dazu brauchen wir mutige Demokraten. Dazu brauchen wir aber auch und vor allem einen starken Staat, wenn es um den Schutz unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung geht. ({8}) Wir brauchen diesen starken Staat; denn man hört in der Bevölkerung oft die Fragen – auch das ist ein Argument –: Kann sich der Rechtsstaat eigentlich noch durchsetzen? Hat der Rechtsstaat genug Biss, um das, was hier an Gesetzen beschlossen wird, in der Praxis umzusetzen? Dafür müssen wir jeden Tag arbeiten, für diesen starken Staat zur Unterstützung von mutigen Demokraten. Ich möchte heute die Gelegenheit wahrnehmen, jenen den Rücken zu stärken, die täglich für diesen starken Staat arbeiten, wenn es um den Schutz des Lebens, der Gesundheit und des Eigentums geht. Weil es oft heißt, wir wollten den gläsernen Bürger, sage ich: Das ist mitnichten der Fall. Wir bekämpfen nicht die allgemeine Bevölkerung, sondern wir bekämpfen die Straftäter. Und für diese Bekämpfung brauchen wir diesen starken Staat mit unserer Polizei und den Sicherheitsbehörden. Deshalb bitte ich das ganze Parlament, dass wir in der Zukunft noch mehr als bisher jene schützen, die uns jeden Tag schützen, die jeden Tag die freiheitliche Demokratie schützen. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort der Abgeordnete Dr. Gottfried Curio, AfD. ({0})

Dr. Gottfried Curio (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004698, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Die Mordtat von Hanau erschüttert und wühlt auf. Was auch erschüttert, ist die reflexhafte Hetze, mit der hier Opfer zur parteipolitischen Münze geschlagen werden. ({0}) Sie spannen ermordete Menschen vor den Karren Ihrer Parteipolemik. Der Generalbundesanwalt weiß mitnichten, wie sich die Motivation des Täters entwickelt hat. Aber doch unzurechnungsfähig? Das bejaht er, nicht Ihre Diffamierung. Das ist der wahre Sachstand. ({1}) Was war seine Gedankenwelt? Hier, in diesem Manifest, steht: (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie sich da reingedacht? telepathische Kontrolle; ritueller Missbrauch von Kindern in unterirdischen Basen; er habe mit Gedanken den 9/11-Terror bewirkt. – Er war verrückt, und der AfD soll es in die Schuhe geschoben werden, um das nächste Fehlurteil des Verfassungsschutzes für den Wähler plausibler zu machen. Nein, nicht aus Worten, aus Wahnvorstellungen wurden da Taten. ({2}) Der Täter beschreibt Vernichtungsfantasien, die die ganze Menschheit betreffen. Drei Zitate: Alle eliminieren, auch wenn wir von mehreren Milliarden sprechen; wenn ein Knopf zur Verfügung steht, würde ich diesen sofort drücken; zudem müssten wir eine Zeitschleife fliegen und den Planeten zerstören. – Offensichtlich keine politische Agenda? Die psychotische Verfasstheit lässt sich nicht vom konkreten Tatverhalten abtragen, um darunter ein wahnfreies, rein politisches Motiv zu entdecken. ({3}) Was hat ihn zu seiner Wahnsinnstat getrieben? Er sagt: Nach einem miterlebten Banküberfall wurden ihm zu 90 Prozent ausländische Verdächtigenprofile vorgelegt. – Das wird Schlüsselerlebnis. Deshalb ganze Völker auslöschen zu wollen – er nennt über 20 Länder –, diese krankhafte Übersteigerung ist gerade das Wahnhafte. Der geistig gesunde Mensch reagiert auf Missstände, indem er die AfD wählt. ({4}) Dass bewaffnete Irre im Land rumlaufen, ist Staatsversagen. Selbst nach einer wahnhaften Anzeige des Täters wurde nicht ermittelt wegen möglicher Gefährdung, Waffenbesitz. Wir fordern: Prävention statt Polemik; keine Waffen in den Händen von Verrückten. ({5}) Schluss auch mit Ihrer Verrohung der Sprache! Die AfD ist für einen Herrn Merz „Gesindel“, für Laschet „bis aufs Messer“ zu bekämpfen, für Herrn Wanderwitz „giftiger Abschaum“. Diese Sprache ist eine Schande für dieses Land und für Ihre Kanzlerkandidaten. ({6}) Die Diffamierung als Faschist oder Nazi ist zum alltäglichen Kleingeld Ihrer Verleumdung geworden. Das ist Willkommenskultur für Rufmord. ({7}) Sie wollen durch Verfemung der Opposition eine verfehlte Regierungspolitik gegen Kritik immunisieren. ({8}) Wir sagen: Die Wahrheit ist der Gesellschaft zumutbar. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Curio, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Gottfried Curio (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004698, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Nein. – Nicht Hass bewegt viele Bürger, sondern gerechte Empörung über Illegalität und falsche Politik, mit der Sie das Land spalten, heute hier mit haltlosen Schuldzuweisungen. Der eigentliche Brandstifter beschuldigt den Feuermelder. ({0}) Die AfD zeigt den Bürgern, dass es einen gewaltfreien parlamentarischen Weg zur Beseitigung der Missstände gibt. ({1}) Deshalb ist die Existenz der AfD die beste Versicherung dieses Landes gegen Extremismus. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt hat das Wort die Bundesjustizministerin Christine Lambrecht. ({0})

Christine Lambrecht (Minister:in)

Politiker ID: 11003167

Herr Bundespräsident Steinmeier! Herr Präsident Schäuble! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Auszusprechen, was ist, das ist das Gebot der Stunde. Deswegen ist ganz klar zu sagen: In der Nacht des 19. Februar hat ein Rassist in Hanau einen Massenmord begangen. ({0}) In seiner rassistischen Wahnwelt gegen Muslime hat er Menschen förmlich hingerichtet, Menschen, die nichts anderes im Sinn hatten, als ihren Feierabend ausklingen zu lassen. ({1}) Die Opfer wurden mitten aus dem Leben, mitten aus unserer Gesellschaft gerissen. Unsere Gedanken sind bei ihnen. Wir trauern mit ihren Familien und mit ihren Freunden. Den Menschen, die der Täter verwundet hat, wünschen wir eine schnelle und vollständige Genesung. ({2}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, am Tag nach diesem furchtbaren Massenmord war ich zusammen mit dem Kollegen Seehofer und mit Herrn Bundespräsident Steinmeier in Hanau. Wer die Angehörigen gesehen hat – Eltern, die Bilder ihrer Kinder vor sich getragen haben, mit tränenüberströmtem Gesicht, die keine Worte für das Leid, für die Trauer gefunden haben, die sie erleben –, dem wird klar, was da passiert ist: Unermessliches Leid ist Menschen zugefügt worden, die nichts anderes im Sinn hatten, als hier zu leben, als Teil unserer Gesellschaft zu sein. Das muss uns doch alle aufrütteln! ({3}) Ich würde gerne hier stehen als Justizministerin und all diesen Menschen, die jetzt Angst haben in diesem Land, versprechen, dass sich ein solch unermessliches Leid nicht mehr wiederholt. Aber ich kann das nicht. Dafür ist die rechtsterroristische Bedrohung zu groß, und dafür ist der Rassismus zu weit in unsere Gesellschaft vorgedrungen. Aber eines, eines allerdings kann ich ihnen versichern: Wir nehmen den Kampf gegen diese Bedrohung auf! ({4}) Der Befund ist ganz klar: Rechtsextremismus ist die größte Bedrohung unserer offenen und friedlichen Gesellschaft. Um das zu wissen, brauche ich keine polizeiliche Statistik. Wenn ich an den Terror des NSU, den Mord an Walter Lübcke oder den Anschlag von Halle und die Morde in Hanau denke, ist die Sache eindeutig. Diese Gewalt, meine Damen und Herren, steht am Ende einer schleichenden gesellschaftlichen Entwicklung, die sich als Gewaltspirale beschreiben lässt: Menschen werden abgewertet, rassistische Sprüche bleiben unwidersprochen – „Das wird man ja wohl noch mal sagen dürfen!“ –, es folgen Beleidigungen, Gewaltfantasien, Drohungen, und all das gipfelt schließlich in Gewalt – und Mord. Das haben Sie am rechten Rand, Sie von der AfD, bis heute nicht verstanden: dass das die Gewaltspirale ist, an deren Ende solche Taten stehen. ({5}) Ich will Ihnen allen das jetzt einmal an einem Beispiel deutlich machen – an einem einzigen Beispiel nur –, weil ich mir auf der Regierungsbank unglaublich viele Zwischenrufe aus den Reihen der AfD anhören muss. Unser Kollege Staatsminister Michael Roth wurde Ende letzten Jahres bedroht. Aus diesem Drohbrief wurde hier im Plenum vorgelesen. Da stand: „Und dann werden wir Dir Deine Wampe aufschneiden.“ – Das ist gegenüber Michael Roth erklärt worden. ({6}) Das wurde hier im Plenum vorgelesen. Und wissen Sie, was dann für Zwischenrufe aus der AfD kamen? „… gerechter Zorn!“, das war der Zwischenruf aus Ihrer Fraktion, ({7}) Sie können es nachlesen. Das ist einfach nur widerlich: Da soll jemandem die Wampe aufgeschnitten werden, und Sie empfinden das als „gerechten Zorn“. ({8}) Sie sollten sich schämen! Sie sollten einmal Ihrer Verantwortung nachkommen und dafür sorgen, dass in Ihrer Fraktion solche Zwischenrufe unterbleiben! ({9}) Meine Damen und Herren, ein weiterer Nährboden, den es auszutrocknen gilt, neben diesen Entgleisungen hier im Parlament, ({10}) sind der Hass und die Hetze im Netz. Über 70 Prozent der angezeigten Hassposts im Netz gehen gegen Migrantinnen und Migranten. Es verwundert nicht, dass sie sich in unserer Gesellschaft nicht mehr wohlfühlen, wenn abfällige Blicke, rassistische Sprüche und auch solche Drohungen zu ihrem Alltag gehören. Natürlich entstehen Hass und Hetze nicht im Internet, sie entstehen im Kopf. Aber Rechtsextremisten missbrauchen das Internet, um die menschenverachtenden Botschaften in die Köpfe zu treiben. Die digitalen Plattformen werden zum Brandbeschleuniger, dort heizen die Rechtsextremisten die Stimmung an, sie verbreiten Fake News, sie verbreiten Verschwörungstheorien. Dort radikalisieren sich die Leute. Wir dürfen nicht weiter zuschauen, dass diesen Worten dann Taten folgen, meine Damen und Herren! ({11}) Deshalb nehmen wir den Kampf auf. Das heißt: harte Strafen und konsequente Verfolgung für jede Form der Gewalthetze. Dem dient das Maßnahmenpaket – Herr Seehofer hat es angesprochen – gegen Rechtsextremismus und Hasskriminalität, das wir am Tag der Morde im Kabinett beschlossen haben. Wir nehmen die Provider in Zukunft in die Pflicht, strafbare Posts in Zukunft nicht nur zu sperren oder zu löschen, sondern sie müssen Morddrohungen und Volksverhetzungen – darum geht es – in Zukunft auch melden, damit in solchen Fällen auch eine konsequente Strafverfolgung möglich ist. ({12}) Denn diese Drohungen sind keine Meinung, sie sind Straftaten. Zu diesem Maßnahmenpaket gehört auch, meine Damen und Herren – und das ist ein ganz wichtiger Aspekt –, dass wir politisch aktive Menschen oder gesellschaftlich engagierte Menschen besser schützen, ({13}) durch ein verbessertes Strafrecht, aber auch beispielsweise durch ein verändertes Melderecht. Denn diese Menschen, die sich aktiv beteiligen für eine freie, für eine offene Gesellschaft, sind die Stützen dieser freien Gesellschaft. Deswegen müssen wir dafür sorgen, dass sich niemand mundtot machen lässt durch solche Angriffe. Das ist unser aller Verantwortung. In diesem Land muss die Vielfalt bewahrt werden; dafür sind wir Demokraten verantwortlich, meine Damen und Herren. ({14}) Aber wir müssen uns darüber hinaus auch fragen: Ist das Waffenrecht – ja, wir haben es gerade reformiert, wir haben es gerade verschärft – wirklich ausreichend verschärft worden, sorgt es wirklich dafür, dass Menschen, die eine solche Waffe in der Hand haben, vorher ausführlich auf ihre Zuverlässigkeit überprüft wurden? Haben die Behörden die entsprechenden Möglichkeiten, alle Informationen zu erlangen, um eine solche Entscheidung zu treffen? Ich bin mir nicht sicher, wenn ich mir den Fall in Hanau anschaue, ob wir da wirklich alles ausgeschöpft haben, was wir ausschöpfen können. Denn der Grundsatz „Waffen gehören nicht in extremistische Hände“ muss auch konsequent umgesetzt werden. Die Regelabfrage beim Verfassungsschutz ist ein ganz wichtiger Baustein. Aber ich bin der Meinung: Wir müssen uns das ganz genau anschauen und auch die notwendigen Konsequenzen daraus ziehen. ({15}) Meine Damen und Herren, ich würde gerne hier stehen und Ihnen versprechen, dass sich das unermessliche Leid der Angehörigen, so wie ich es in Hanau erlebt habe, niemals mehr wiederholt. Ich kann das nicht. Ich kann Ihnen aber eines versprechen: Unsere Demokratie ist wehrhaft, und unser Rechtsstaat ist stark. Aber er muss jeden Tag verteidigt werden. Wir nehmen den Kampf auf! ({16})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Stephan Thomae, FDP. ({0})

Stephan Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004175, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Bundespräsident! Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Erneut trauern wir in Deutschland um Opfer, die deshalb ihr Leben lassen mussten, weil sie ein fremdländisches Aussehen hatten. Erneut hat ein rechtsextremer Täter in Deutschland Menschen ermordet. Wir stellen uns erneut die Frage: War denn dieser Täter ein Einzeltäter, war es eine Einzeltat? Im strafrechtlichen Sinne mag es sich um einen Einzeltäter und um eine Einzeltat gehandelt haben, aber im politischen Sinne war der Täter von Hanau kein Einzeltäter, im politischen Sinne war die Tat von Hanau keine Einzeltat, meine Damen und Herren. ({0}) Es war keine Einzeltat, weil sie sich einreiht in eine Vielzahl von Bluttaten in Deutschland und in anderen Ländern der Welt in den letzten Jahren; ich erinnere an die Morde des NSU, an die Mordtaten des Anders Breivik, an den Amoklauf von München, die Mordtaten von Christchurch, den Mord an Walter Lübcke, die Tat von El Paso, die Tat von Halle und jetzt eben wieder Hanau. Es war keine Einzeltat, sie reiht sich ein in eine Blutspur rechtsextremistischer Taten in Deutschland und der Welt, und es war kein Einzeltäter; denn dieser Täter hatte Vorbilder, er konnte sich getragen fühlen von einer Zustimmung. In diesen Tagen haben wir wieder erleben müssen, dass neue rechtsextremistische Zellen ausgehoben worden sind, Verhaftungen von Rechtsextremisten stattfanden: die Gruppe von Werner S., „Teutonico“, oder jetzt vor zwei Tagen der „Arische Kreis Deutschland“. Deshalb ist es doch abenteuerlich, wenn Herr Dr. Curio hier verbreitet: Weil es sich um einen Geisteskranken, um einen geistig verwirrten Täter gehandelt habe, sei diese Tat nicht dem Extremismus zuzuordnen. – Nein, wenn man das Manifest des Täters von Hanau liest, sich seine Auslöschungsfantasien vor Augen führt: Ja, wer soll denn dann rassistisch oder rechtsextremistisch sein, wenn nicht dieser Täter? ({1}) Geisteskrank sind alle diese Täter doch irgendwie. Wenn man der Logik folgen wollte, dass jemand, der geisteskrank ist, keine Tat begehen könne, die rassistisch oder rechtsextrem motiviert sei: Ja, wann kommen Sie denn dann überhaupt einmal zu rassistisch motivierten Taten, meine Damen und Herren? ({2}) Der Rassismus ist die Krankheit des Geistes. ({3}) Natürlich behauptet niemand, dass die AfD Rassismus erfunden habe. Aber Sie bespielen Rassismus in sämtlichen Oktaven und sind deshalb auch nicht frei von politischer Mitverantwortung für das, was geschieht. ({4}) Wir brauchen ein Gesamtkonzept gegen Rassismus und Rechtsextremismus in diesem Land. Natürlich können wir niemals hundertprozentige Sicherheit herstellen. Aber wir können durch unsere Mitverantwortung, unser mitverantwortliches Handeln, unser Reden und Tun ein Stück dazu beitragen, dass sich Taten wie diese in Hanau in diesem Land möglichst nicht wiederholen. Vielen Dank. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Thorsten Frei, CDU/CSU. ({0})

Thorsten Frei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004276, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Bundespräsident! Herr Bundestagspräsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das schreckliche Verbrechen von Hanau macht uns tief betroffen, und unser Mitgefühl, unsere Gedanken, unsere Anteilnahme sind bei den Familien der Opfer, den Angehörigen, den Freunden. Es ist hier gesagt worden: Viel zu oft mussten wir in den letzten Monaten diese Sätze hier im Deutschen Bundestag sagen. In der Tat ist es richtig, dass die Spitzen unseres Staates schnell die richtigen Worte gefunden haben und sowohl die Tat als auch die Bedrohung unserer freiheitlichen Verfassung durch Rechtsextremismus klar benannt haben. Es ist am 2. Juni der Mordanschlag auf Walter Lübcke gewesen. Es war das versuchte Massaker an der jüdischen Gemeinde in Halle. Es war das tatsächlich verübte Massaker an ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern mit Migrationshintergrund in Hanau. Wir müssen das klar benennen. Wenn Menschen in Deutschland sagen, dass sie sich nicht sicher fühlen, dass sie Angst haben, dann ist das etwas, wodurch sich der demokratische Rechtsstaat herausgefordert fühlen muss. Ich kann für meine Fraktion sagen, dass für uns glasklar ist, dass wir mit allen Mitteln des Rechtsstaates, mit aller Entschlossenheit, auch mit aller Härte diese Form von Extremismus und Rechtsextremismus bekämpfen werden. ({0}) Diejenigen, die als Protagonisten, auch als Anhänger solche Dinge erzählen und tun, müssen wissen, dass sie den heißen Atem des Rechtsstaates in ihrem Nacken haben. Das muss glasklar sein. Es ist richtig, dass sich Wahrheit nicht in Worten zeigt, sondern in Taten. Man muss darauf hinweisen, dass wir erst im letzten Herbst 600 zusätzliche Stellen beim Verfassungsschutz und beim Bundeskriminalamt dafür geschaffen haben, dass ganz speziell Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus bekämpft werden. Wir haben das Waffengesetz so verschärft, dass beispielsweise große Magazingrößen nicht mehr möglich sind, so verschärft, dass es eine Regelanfrage beim Verfassungsschutz gibt, um zu verhindern, dass Waffen in die Hände von Extremisten kommen. Wir sprechen – Frau Bundesjustizministerin, Sie haben das bereits angesprochen – über das Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität mit Änderungen in unserem Strafgesetzbuch, mit Änderungen in der Strafprozessordnung, mit dem Schutz für Kommunalpolitiker, mit Verbesserungen im Melderecht und mit einer Änderung im Netzwerkdurchsetzungsgesetz, weil wir sagen, dass Taten nicht nur im analogen Bereich strafbewehrt sein müssen, sondern auch im digitalen Bereich. Dafür schaffen wir die notwendigen Voraussetzungen. Ich will an dieser Stelle sagen: Wir arbeiten derzeit an einer Reihe weiterer Sicherheitsgesetze. Da ist insbesondere das Verfassungsschutzgesetz zu nennen, weil es auch darum geht, dass wir Strafbarkeiten aus der analogen Welt in die digitale Welt übertragen. Aber es geht um einen weiteren Aspekt – das zeigen die Täterprofile nicht nur von Hanau und Halle, sondern auch von Christchurch und Utoya –: Wir müssen zu einer besseren Beobachtung von Einzeltätern kommen. Wir brauchen eine Beobachtung von Providern und Plattformen, damit es eine Aufmerksamkeit gibt, wenn es zu einer ruhigen und introvertierten Radikalisierung im Netz kommt. Das ist doch die größte Herausforderung für die Sicherheitsbehörden und die Nachrichtendienste. Dafür müssen wir die Instrumente schaffen. Deshalb ist es richtig, dass wir uns in diesen Wochen genau damit beschäftigen, weil den Menschen – darauf wurde hingewiesen – mit warmen Worten alleine nicht gedient ist. Wir brauchen die Instrumente, um Radikalismus, Extremismus und Terrorismus mit allen Mitteln des Rechtsstaates bekämpfen zu können. ({1}) Ich bin auch dankbar dafür, dass es in dieser Debatte immer eine Rolle gespielt hat, dass es auch auf das Umfeld und die notwendige Prävention ankommt. Dabei geht es nicht nur um Präventionsprogramme, mit Geld unterlegt, sondern auch um die Worte und die Art des Umgangs. Man kann es nicht oft genug sagen: Dafür ist der Deutsche Bundestag ein Vorbild oder eben auch nicht. Wir sollten uns entscheiden, Vorbild zu sein. Vielen Dank. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort der Staatsministerin Annette Widmann-Mauz. ({0})

Annette Widmann-Mauz (Gast)

Politiker ID: 11003259

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Nichts auf dieser Welt könnte schlimmer sein als das Fehlen dieses Glücks.“ Diese Worte, gestern Abend gesungen bei der zentralen Trauerfeier in Hanau, beschreiben so eindrücklich, was auch ich an Emotionen bei den Familien und bei den Freunden der Opfer am Tag nach dem Attentat spüren konnte. Ich habe mich dabei geschämt, geschämt dafür, dass in unserem Land eine solche Tat möglich ist. Und ich schäme mich heute für das, was ich aus den Reihen der AfD einmal mehr gehört habe. ({0}) Wir können die Ermordeten nicht zurück ins Leben holen, so wie es der Wunsch in diesem Lied „Bitte gebt mir mein Leben zurück“ ist. Aber wir können eines versprechen: Wir werden konsequenter und härter kämpfen – gegen Hass, gegen Rassismus und für mehr Zusammenhalt in unserer vielfältigen Gesellschaft. Dazu müssen wir das Übel in unserer Gesellschaft endlich erkennen, es klar als Rassismus bezeichnen und schließlich konsequent bekämpfen. ({1}) Zum Erkennen gehört auch, dass wir wahrnehmen. Viele Menschen in unserem Land haben Angst. Und viele Menschen sind wütend oder sogar schon resigniert, wenn ihnen wegen ihres Namens oder ihres Aussehens das Deutschsein abgesprochen wird. Das ist eine Schande! ({2}) Wir müssen in unserem Land alle ohne Angst verschieden sein können. Menschen mit familiärer Einwanderungsgeschichte – es sind 25 Prozent unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger – fordern von uns als Politik zu Recht, dass wir ihre Stimme hören, ihre Sorgen genauso ernst nehmen und sie genauso schützen wie alle anderen. Daran, liebe Kolleginnen und Kollegen, dürfen wir keinen Zweifel lassen. ({3}) Die Bundesregierung hat am Montag beim Integrationsgipfel der Bundeskanzlerin intensiv darüber mit den Migrantenorganisationen beraten. Es ist wichtig und gut, dass wir zu dem Ergebnis gekommen sind, einen Kabinettsausschuss zur Bekämpfung des Rechtsextremismus einzusetzen. Wenn wir in Kabinettsausschüssen vom Brexit über die Digitalisierung bis zum meteorologischen Klima auf höchster Ebene beraten, dann gehört auch das gesellschaftliche Klima auf diese Ebene; denn auch das muss besser geschützt werden, mit unserem vollen Einsatz und mit konkreten Maßnahmen in verschiedenen Bereichen. ({4}) Vier wesentliche Aspekte gehören für mich dazu. Erstens. Wir sind alle verantwortlich. Jede und jeder von uns muss den Mund aufmachen, wenn Menschen wegen ihrer Herkunft, ihres Aussehens, ihrer Religion oder ihres Geschlechts abgewertet oder angefeindet werden. ({5}) Mit den Worten fängt es an. Mit dem Schweigen nimmt es seinen Lauf. Wir brauchen eine Kultur des klaren Widerspruchs – in der Schule, am Stammtisch, auf dem Fußball- und am Arbeitsplatz, bei Twitter –, und dafür müssen wir hier in diesem Raum Vorbild sein! ({6}) Deshalb geht es zweitens auch um den Kampf gegen Muslimfeindlichkeit. Da brauchen wir wie beim Antisemitismus fachliche Expertise, die uns mit konkreten Vorschlägen berät. Ich bin froh, dass Horst Seehofer und ich uns hier einig sind, dass eine solche Expertenkommission Muslimfeindlichkeit notwendig ist. Drittens. Wir müssen die Menschen für die Werte begeistern, die uns als freiheitliche Gesellschaft einen. Durch Prävention und politische Bildung. Sie müssen wir nachhaltig und auf hohem Niveau verankern. Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit! ({7}) Viertens und elementar wichtig ist: Wir müssen endlich aufhören, unsere Gesellschaft in „Wir Deutsche“ und „Ihr Eingewanderte“ zu trennen, ({8}) ständig nach der Herkunft oder dem Migrationshintergrund zu fragen. Diese Zuschreibung bildet schon längst nicht mehr die Realität in unserer Gesellschaft ab. Sie entspricht auch nicht dem Selbstverständnis vieler Menschen. Ihre Heimat ist Deutschland. Deutschland ist vielfältig, aber wir sind eine Einheit. Es gibt nur ein Wir. Vielen Dank. ({9})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Voraussichtlich letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Dr. Katja Leikert, CDU/CSU. ({0})

Dr. Katja Leikert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004337, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mein Sohn soll nicht umsonst gestorben sein. Rassismus soll keine andere Familie mehr zerstören. Das sind die Worte der Mutter von Ferhat Unvar. Ferhat Unvar wurde vor 22 Jahren in Deutschland geboren und ist einer von neun Hanauerinnen und Hanauern, die beim rassistischen Attentat am 19. Februar ihr Leben verloren haben. Ferhat Unvar hatte gerade seine Ausbildung zum Anlagenmechaniker abgeschlossen; er stand mitten im Leben, hatte Träume und Ziele. Rassismus, Hass und Menschenfeindlichkeit haben ihn und die anderen Opfer aus diesem Leben gerissen. Der Attentäter hat bewusst auf Menschen mit ausländischen Wurzeln gezielt. Getroffen hat er Menschen, die längst Teil unserer Stadt, unserer Gesellschaft waren. Bei der Beerdigung von Said Nesar Hashemi und Hamza Kurtović brachte es der Hanauer Oberbürgermeister Claus Kaminsky auf den Punkt: Diese beiden Opfer waren keine Fremden, sie waren Hanauer Buben. ({0}) Über unserer Stadt liegt noch immer ein Schleier der Trauer. Wir alle sind fassungslos und entsetzt. Tief berührt haben mich die bewegenden Worte von Freunden und Geschwistern der Opfer gestern Abend bei dem Trauerakt, die Worte von Kemal Koçak, Ajla Kurtović und Saida Hashemi. Ich bin dankbar für die Anteilnahme der Bundeskanzlerin, die bewegenden Worte des Bundespräsidenten, des hessischen Ministerpräsidenten und unseres Oberbürgermeisters Claus Kaminsky. Ihm gilt ein besonderer Dank für seinen Einsatz. Es ist kaum vorstellbar, was er in den letzten Tagen und Wochen geleistet hat. ({1}) Ich möchte mich auch bei den vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, allen Helferinnen und Helfern bedanken, insbesondere den Opferbeauftragten, ebenso bei den vielen Einsatzkräften der Polizei, der Rettungsdienste, der Feuerwehr, bei den Ärzten im Krankenhaus, bei allen, die am 19. Februar vor Ort waren. Ihnen allen sage ich von Herzen Danke. ({2}) Unser Hanau stand immer für Weltoffenheit, Zusammenhalt und das friedliche Miteinander von Menschen aus 180 Nationen. Ich habe Hunderte von Bannern, Plakaten und Aufklebern mit klaren Botschaften wie „Hanau steht zusammen!“ oder „Die Opfer waren keine Fremden“ in unserer Stadt gesehen. Es sind diese Botschaften, die mir Mut machen. Sie machen uns aber auch die Aufgabe bewusst, vor der wir alle als Gesellschaft stehen. Hier gilt mehr denn je, und das möchte ich gerade den Hinterbliebenen der Opfer des Attentats in Hanau ganz klar sagen: Wir werden keinen Raum für Hass, Hetze und Rassismus lassen. Wir werden nicht zulassen, dass sich diese Gesellschaft spaltet. Wir werden nicht zulassen, dass Menschen mit Migrationshintergrund in unserem Land Angst haben, und wir lassen uns nicht durch Rechtsextreme in unserem Land terrorisieren. ({3}) Auch das Folgende haben die Angehörigen gestern Abend klar gesagt: Es müssen Taten folgen! – Das ist hier schon oft gesagt worden. Wir haben nach Halle reagiert, und wir werden auch nach Hanau reagieren, damit die Mutter von Ferhat Unvar recht behält: Ihr Sohn darf nicht umsonst gestorben sein. Ich schließe im Gedenken an Ferhat Unvar, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Kaloyan Velkov, Vili Viorel Păun, Said Nesar Hashemi, Fatih Saraçoğlu und die Mutter des Täters. ({4})

Mario Brandenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004677, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielleicht noch ein Wort in eigener Sache: Es ist nicht leicht, nach einer solchen Debatte wieder zu Sachthemen überzugehen. Aber so ist das leider manchmal. Ich möchte die Rede mit einer kleinen Denksportaufgabe starten; denn es ist ja noch früh am Tag: Was haben erfolgreiche Großprojekte und E-Government gemeinsam? Es ist so, dass deutsche Staatsbürger sich das im Moment leider nur im Urlaub ansehen können. – Einige lachen, aber leider ist das gar nicht witzig, und das kann und darf auch nicht unser Anspruch sein. ({0}) Auf den ersten Blick sind das unterschiedliche Themen. Doch wenn man sich anschaut, woran sie letztendlich scheitern, stellt man fest: Es sind oft die gleichen Dinge. Das E-Government scheitert oft an föderalen Kleinstrukturen, wie eben auch große Bauprojekte an verästelten, feinen Strukturen und der fehlenden Transparenz scheitern. Genau hier setzen unsere Anträge an. Wir brauchen zum einen wesentlich mehr Transparenz, aber eben Transparenz für alle Beteiligten, für die Bürger, den Staat und die Wirtschaft, und zum anderen mehr Mut, nämlich mehr Mut im Umgang mit neuen Ansätzen. Hier kommt eben die Blockchain ins Spiel. ({1}) Ich höre schon die Ersten fragen: Warum jetzt hier Blockchain? Das geht doch auch zentral! – Natürlich kann ich alles, was ich dezentral speichere, auch zentral speichern. Natürlich ist die Blockchain per se als Technologie kein Heilsbringer. Aber sie kann eben alte Gräben in Köpfen überwinden, weil sie doch etwas mehr ist als nur eine verkettete Speicherung von Daten. Es geht dabei nämlich sehr oft um eine architektonische Philosophie der Offenheit, der Transparenz und der Vertrauenswürdigkeit. Unsere Großprojekte scheitern letztendlich nicht am Material oder an Softwarelösungen, sondern an ihren Akteuren. Genau hier liegt es an uns, Vertrauen zwischen den Beteiligten aufzubauen, den Controllingaufwand zu reduzieren und Ressourcen zu sparen. Das sind eben alles Dinge, die mit einer Blockchain relativ leicht erreicht werden können. Sie kann Transparenz in den aktuellen Projektstand bringen. Sie kann die Lieferkette offenlegen. Es ist damit relativ einfach, Daten offen und maschinenlesbar darzustellen, um Innovationen von Dritten zu ermöglichen, aber auch Kontrolle, sodass nicht zulässige Materialien erst gar nicht den Bau erreichen. Selbst wenn es zu Verfehlungen kommt, ist eine schnelle Zuschreibung der Verantwortlichen möglich. Deshalb werden letztendlich wieder Steuergelder gespart, und der ganze Prozess wird effizienter gestaltet. Sie bietet unter anderem verschiedene Möglichkeiten wie sogenannte Smart Contracts. Das sind Verträge, die bei Eintritt eines bestimmten Sachverhalts selbst Auslösungen zahlen können und automatisch freigesetzt werden. Neue Projektblöcke können dadurch aktiviert werden, alles ohne Zutun der Verwaltung, alles automatisiert, sicher und nachvollziehbar. Insofern geht es in unserem Antrag eben doch um mehr als um den Einsatz einer Technologie; es geht um eine neue Denkart am Bau, um eine neue Denkart bei Großprozessen und um den Mut von Ihnen im Umgang mit neuen Technologien und beim Dazulernen. Dass dies nottut, das möchte ich nur noch anhand von ein paar Zahlen belegen. Sie kennen den Flughafen Berlin Brandenburg: gestartet mit 2 Milliarden Euro, jetzt bei 6,5 Milliarden Euro. Sie kennen die Elbphilharmonie: gestartet mit 180 Millionen Euro, nun bei 800 Millionen Euro. Stuttgart 21, Spitzenreiter: gestartet mit 2,6 Milliarden Euro, jetzt bei 8,2 Milliarden Euro. Daher, liebe Bundesregierung: Verlassen Sie die ausgetretenen Pfade! Gehen wir neue Wege! Bauen Sie die Bauwerke künftig nicht mehr allein im stillen Kämmerlein, sondern gemeinsam mit Bürgerinnen und Bürgern – offen, transparent und erfolgreich! Vielen Dank. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Herr Parlamentarische Staatssekretär Volkmar Vogel. ({0})

Volkmar Uwe Vogel (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003650

Herr Präsident! Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Digitalisierung, Building Information Modeling, Normung, Blockchain – wir haben eben davon gehört –, das ist natürlich eigentlich ein sprödes Thema für einen Donnerstagvormittag. Aber warum spröde? Weil sie eigentlich nur Werkzeuge sind, die wir benutzen. Sie sind kein Selbstzweck. Wenn ich hier sage, dass sie uns dabei helfen, die gesellschaftlichen Herausforderungen zu meistern – wie zum Beispiel schnell bezahlbaren Wohnraum zu schaffen, wie zum Beispiel die Infrastruktur zu sanieren und den Fachkräftemangel zu bewältigen –, spreche ich über Themen, die wichtig sind und die uns alle berühren. Natürlich muss man sagen, dass dieses Thema vor allen Dingen in der Verantwortung der Marktteilnehmer liegt. Die Politik schafft hier nur den Rahmen oder kann Rahmenbedingungen setzen; aber Digitalisierung ist auch eine Querschnittsaufgabe, die den gesamten Bereich des Bauwesens berührt. Lassen Sie mich das so salopp sagen: Mit Daddeln im stillen Kämmerlein können wir dieses Problem nicht lösen. Der Digitalisierungsprozess ist vor allen Dingen ein Prozess, der Vertrauen, kooperatives Handeln und partnerschaftliche Zusammenarbeit erfordert, und das von allen Akteuren. Meine sehr verehrten Damen und Herren, hier sind alle Akteure gefragt. Wir müssen hier umdenken. Ein Beispiel: Building Information Modeling. Das Bundesbauministerium und das Bundesverkehrsministerium schaffen hier gemeinsam mit BIM Deutschland ein Zentrum für Digitalisierung im Bauwesen und damit die Grundlagen und die Rahmenbedingungen. Wir helfen dabei, die Potenziale der Digitalisierung im Bauwesen auszuschöpfen. BIM Deutschland fördert den Open-BIM-Ansatz, das heißt Transparenz im Umgang, das heißt Austausch der Daten auf Basis offener Standards. Warum sage ich das? Die Großen der Branche wissen damit umzugehen. Aber für uns als Bundesregierung ist es besonders wichtig, dass vor allen Dingen auch kleine und mittelständische Unternehmen bis hin zu Handwerksbetrieben in der Lage sind, mit diesem System umzugehen. Wir müssen ihnen dabei helfen. ({0}) Es soll dauerhaft die Stakeholder unterstützen, die Vorhaben des Stufenplans „Digitales Planen und Bauen“ und den in der Erarbeitung befindlichen „Masterplan BIM“ einzuhalten und umzusetzen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit diesen Maßnahmen wird es gelingen, dass der Bundesbau Vorreiter, Pilot und auch Vorbild für die Bauwirtschaft wird, insbesondere für die mittelständische Bauwirtschaft einschließlich des Handwerks, der unsere besondere Unterstützung gilt. ({1}) Aber Digitalisierung bedeutet auch Standardisierung und Normung. Normung im Bauwesen findet immer mehr auf europäischer Ebene statt. Die Verantwortung für die Normung trägt die Wirtschaft. Nur als Beispiel, als Stichwort: die DIN-Norm. Aber es wird auch deutlich, dass es für die Wirtschaft, insbesondere für die Bauwirtschaft, immer schwieriger wird, diesen Prozess zu bewältigen. Deswegen bedarf es der Hilfe und Unterstützung der Bundesregierung. Dieser Aufgabe stellen wir uns. Die Normungsstrategie muss gemeinsam mit den zuständigen Institutionen, den öffentlichen Verwaltungen und allen relevanten Vertretern der Wirtschaft erarbeitet und auf internationaler Ebene vertreten werden. Denn eines ist ganz klar: Für uns ist es wichtig, dass die Interessen Deutschlands in diesem Bereich auch künftig gewahrt werden. Denn wie heißt das Sprichwort? „Wer nicht normt, wird genormt.“ Das darf nicht unser Ziel sein. Aber auch im planungsrechtlichen Bereich und im bauaufsichtlichen Bereich spielt Digitalisierung eine wichtige Rolle. Hier sei nur der digitale Bauantrag genannt. Er ist ein wichtiger Baustein, wenn wir ihn zur Beschleunigung von Genehmigungsprozessen durchsetzen. Genehmigungsverfahren dauern oft viel zu lange. Mit den Möglichkeiten der Digitalisierung, mit der Einführung von Matrizes im Bereich der Genehmigung werden wir weiterkommen. Das ist das Ziel der Bundesregierung. Klar ist, dass die Planungsaufgaben in der Zuständigkeit der Länder und Kommunen liegen. Nichtsdestoweniger will das Bundesbauministerium im Rahmen der Umsetzung des Onlinezugangsgesetzes und der Einführung der Standards XPlanung und XBau zukünftig verstärkt die Anwendung dieser digitalen Methoden fördern. Zum Thema Blockchain hat mein Vorredner bereits ausführlich Stellung genommen und Ausführungen gemacht. Sie ist ein wichtiger Teil des Gesamtprozesses; das sieht die Bundesregierung genauso. Es bedarf natürlich der Einführung digitaler Prozesse, um das tatsächlich zum Tragen zu bringen. Daran arbeiten wir. Wir werden dabei nicht außer Acht lassen, dass Blockchain ein geeignetes Mittel ist, die entsprechende Transparenz in den Vorgängen, sowohl was die Kosten anbetrifft als auch was die Bürgerbeteiligung anbetrifft, herzustellen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ein sehr komplexes Thema am Donnerstagvormittag, vielleicht ein bisschen spröde. Aber trotz alledem sei an der Stelle gesagt: Wir müssen uns diesem Prozess stellen, alle gemeinsam. Denn daran entscheidet sich der Erfolg unserer Bauwirtschaft im 21. Jahrhundert. Danke schön. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Nächster Redner ist der Kollege Jörn König, AfD. ({0})

Jörn König (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004788, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen! Liebe Zuschauer auf den Tribünen und an den Fernsehbildschirmen! Wir reden heute über den FDP-Antrag „Staatliche Großprojekte auf einer Blockchain transparent machen“, weil die Große Koalition das ursprünglich vorgesehene Thema Bonpflicht zum vierten Mal von der Tagesordnung des Finanzausschusses gekippt hat und damit auch die Debatte im Plenum zum vierten Mal verhindert hat. ({0}) Sehr geehrte Koalitionsfraktionen, das ist einfach peinlich. Solche taktischen Spielchen beschädigen die Demokratie. ({1}) Die Bürger erwarten zu Recht, dass wir über die Abschaffung der Bonpflicht reden. Der SPD ist das Thema besonders peinlich, weil die Partei im Besitz einer Firma ist, die maßgeblich von der Bonpflicht profitiert. ({2}) Die Einnahmen will sich die SPD nicht nehmen lassen, ({3}) anderenfalls müsste die Partei ja wie im Jahr 2018 eine Erhöhung der Parteienfinanzierung hier im Bundestag durchboxen, damit sie nicht in finanzielle Verlegenheit kommt. ({4}) – Nein, wir reden heute über die Blockchain und nicht über die Bonpflicht, Herr Grosse-Brömer. ({5})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Ja, Herr Kollege, darum muss ich Sie auch bitten; sonst muss ich Sie zur Sache verweisen.

Jörn König (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004788, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sie kommen vom Regen in die Traufe. Das Thema Blockchain ist genauso peinlich wie das andere Thema. ({0}) Die FDP hat in dieser Legislaturperiode insgesamt 14 Anträge zur Digitalisierung und zur Blockchain gestellt. Ich bewundere Ihren naiven Glauben, dass diese Regierung jemals auf Ihre Anträge irgendwie eingeht. Für diese Damen und Herren ist doch das Internet schon seit Jahrzehnten Neuland, von der Blockchain gar nicht zu reden. Diese Kanzlerin und diese Regierung haben das digitale Zeitalter völlig verschlafen. ({1}) – Das ist jetzt Ihr Bingo, Herr Grosse-Brömer. ({2}) Ich bewundere auch Ihren naiven Glauben an das Wundermittel Digitalisierung. Neue Technologien lösen keine bestehenden Probleme, wenn Fachwissen und Innovationsgeist fehlen. Ein paar Sekundärtugenden wie Zuverlässigkeit, Rechtstreue, Selbstdisziplin, Bodenständigkeit und Verbindlichkeit sind dabei auch notwendig; aber auch daran hapert es ja bei dieser Bundesregierung. ({3}) In Ihrem Antrag heißt es: „Am Ende ist kaum auszumachen, wo die Verantwortung für gestiegene Kosten oder einen nichteingehaltenen Zeitplan liegt.“ Die FDP verspricht nun, mittels Blockchain ein Desaster bei staatlichen Großprojekten in Zukunft vermeiden zu können. Sie nennen das Beispiel „Flughafen Berlin“. Dort liegt die Ursache aber klar auf dem Tisch: Politikversagen – Politikerversagen. Die Politiker haben den professionellen Generalunternehmer Hochtief aus dem Projekt rausgekickt. Dabei kann Hochtief Flughafen. Das Unternehmen hat den Flughafen Athen in nur sechs Jahren einfach mal gebaut. Die Blockchain hätte dort gar nichts geholfen. Politikversagen bleibt Politikversagen; man hätte es nur moderner dokumentiert. Der beste Anwendungsfall für die Blockchain-Technologie ist nämlich fälschungssichere Dokumentation. ({4}) Wo sollte man die Blockchain also anwenden? Wo benötigt man eine besonders fälschungssichere Dokumentation? Natürlich im Finanzbereich! Und wie kann der Staat Akzeptanz für neue Technologien schaffen? – Indem der Staat genau diese Technologien einsetzt, und das eben möglichst im Finanzbereich! Gucken wir doch mal: Was sagen denn die Fachleute? In der Stellungnahme vom Branchenverband Bitkom zur Blockchain-Strategie der Bundesregierung heißt es: Das Steuerrecht erfordert jedoch in vielen Zusammenhängen eine lückenlose, nachvollziehbare und manipulationssichere Dokumentation von wirtschaftlichen Vorgängen. Hierfür scheinen Blockchain-Technologien geradezu prädestiniert. … Nützlich erscheint dies … zur Einsparung bislang aufbewahrungspflichtiger Begleitdokumente bei zugleich verbesserter Prüfbarkeit durch Verknüpfung mit in der Blockchain festgehaltenen Liefer- und Zahlungsvorgängen. ({5}) Die Fachleute sagen also: Für Steuern ist die Blockchain besonders gut geeignet, und dieser Vorschlag schlägt zwei Fliegen mit einer Klappe: Erstens. Die Blockchain-Technologie wird eingesetzt. Zweitens. Die Bürokratie für den Steuerzahler wird abgebaut. Und nun schauen wir mal in die Blockchain-Strategie der Bundesregierung, herausgegeben im September 2019 vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie. Man öffnet das PDF-Dokument, betätigt mit Strg+f die Suche nach Einzelwörtern wie „Steuern“ oder „Finanzamt“, und man stellt fest: Es ist einfach nicht zu finden – gar nichts. Auch im Anhang mit den geplanten Maßnahmen findet sich nichts. Meine Damen und Herren aus der kleinen Großen Koalition, diese sogenannte Blockchain-Strategie ist ein Armutszeugnis und genauso peinlich wie Ihr viermaliges Kippen der Bonpflicht von der Tagesordnung des Plenums. ({6}) Wir brauchen auch keinen Round Table, keine Kommissionen oder endlose Evaluierungen, wie in der Blockchain-Strategie beschrieben. Es ist ein Irrglaube, dass in staatlichen Stellen oder auch nur in staatlich moderierten Arbeitskreisen Innovation entstehen kann. Wir brauchen nur Rechtssicherheit in diesem Hochtechnologiebereich, sodass der Erfinder die Erträge seiner Innovation auch behalten kann. Hier verweise ich auf den guten Antrag der FDP, Drucksache 19/4217. Wenn Sie als Regierung diesen Antrag umsetzen, dann sind Sie auf jeden Fall weiter als mit Ihrer sogenannten Blockchain-Strategie. ({7}) Als Diplomingenieur gebe ich Ihnen die Garantie dafür, dass bei vorhandener Rechtssicherheit deutscher Tüftlergeist und der deutsche Mittelstand die Erfindungen und die Anwendungen bereitstellen werden, um auch mithilfe der Blockchain-Technologie weiter Weltspitze zu bleiben. Die AfD-Fraktion sieht in dem Großprojekteantrag ein methodisch gutes Vorgehen; aber aus unserer Sicht ist der Bausektor nicht der ideale Einsatzbereich. Steuererhebung ist eine elementare Staatsaufgabe; beim Bauen kann man sich darüber trefflich streiten. Wir schlagen daher vor, einen ähnlichen Projektantrag für die Steuerdokumentation zu erarbeiten, um den Bürokratieabbau voranzutreiben. ({8}) Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Frau Merkel wegen ihres undemokratischen Machtmissbrauches bei den Wahlen in Thüringen zurücktreten muss. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({9}) – Das haben übrigens Sie gesagt, Herr Grosse-Brömer. ({10})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001938

Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Elisabeth Kaiser, SPD. ({0})

Elisabeth Kaiser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Begriff „Digitalisierung“ ist überall zu hören. Medien und Politik reden ständig davon, aber auch die Wirtschaft. Schlagworte wie „Blockchain“, „KI“ und „Maschinenlernen“ bestimmen hier die Gespräche. Spannend wird es doch aber erst, wenn es konkret wird, wenn es zur Umsetzung neuer Technologien kommt, und das passiert ja gerade in Wirtschaft und Gesellschaft. Denn die Digitalisierung ist schon lange in unserem Alltag angekommen. Wir, die Politik, müssen die gesetzlichen Rahmen setzen, um Innovationen zu fördern, Wildwuchs zu vermeiden und das Gemeinwohl zu stärken. Die Vorteile digitaler Innovationen sollten möglichst allen Teilen der Bevölkerung zugutekommen, egal ob im Bauen und Planen, bei der Steuer oder sonst wo. Heute geht es hier um die Digitalisierung des Planens und Bauens. Unser Ziel ist es, Infrastruktur- und Hochbauprojekte nachhaltiger, schneller, kostengünstiger und vor allen Dingen terminsicherer zu machen. So kann Digitalisierung auch dazu beitragen, Probleme wie Wohnungsmangel in Ballungsgebieten zu entschärfen und auch für Entwicklungsschübe in strukturschwachen Regionen zu sorgen. Gelingen kann uns das vor allen Dingen mit der Methode BIM, dem Building Information Modeling bzw. der Bauwerksdatenmodellierung. BIM bildet den gesamten Lebenszyklus eines Gebäudes ab; es ist sozusagen ein digitaler Zwilling. Alle relevanten Daten werden in einem dreidimensionalen Gebäudemodell erfasst, kombiniert und modelliert, und zwar von der Planung über den Bau bis zum Betrieb und späteren Rückbau bzw. Abriss des Gebäudes. Diese gemeinsame Arbeit an einem digitalen Baumodell mit realen Daten und ständigem Informationsaustausch in Echtzeit erleichtert auch die Abstimmung zwischen den Planern, Bauunternehmen und Auftraggebern sowie die Prüfung des Bauablaufs, und es ermöglicht allen Beteiligten, Fehlentwicklungen frühzeitig zu erkennen und diesen gegenzusteuern. Ein Beispiel: Wenn ich ein Gebäude habe, in das ich mehr Türen einbauen möchte, weil es dann vielleicht komfortabler wird, dann kann ich dies in der Planungsstufe in das Modell einarbeiten. Alle Beteiligten sehen dann sofort die Preissteigerung aufgrund der aktuellen Marktlage sowie die erhöhte Leistungszeit, die dann entstehen würde. Dann kann ich sagen: Das passt mir als Bauherr oder als Auftraggeber. – Oder ich sage: Die verlängerte Bauzeit finde ich jetzt doch nicht so gut, mehr Türen finde ich nicht so gut; das streichen wir wieder. – Bevor noch irgendetwas in die Umsetzung gekommen ist, habe ich reagieren können. Es wurde mit allen abgestimmt. – Es ist schneller passiert, als wenn man das erst mal probiert hätte und dann irgendwo in Verzögerung geraten wäre. Man sieht also: Es macht sehr viel Sinn. Große Wohnungsunternehmen und andere, vor allem international agierende Baufirmen, nutzen BIM bereits. Kleinere und mittlere Unternehmen, die unsere Wirtschaft ja maßgeblich prägen, haben die digitalen Möglichkeiten zwar ebenso schon erkannt, sind mit der Einführung aber noch zögerlich. Warum? Das liegt zum einen an den Kosten, die bei der Umstellung auf BIM entstehen, am Mangel geeigneter Fachkräfte, aber auch an fehlender technischer Kompetenz im Umgang mit digitalen Tools und sensiblen Daten. Wesentlich für das Zögern vor Investitionen in BIM ist die Frage der Rentabilität; denn noch ist es beim Planen und Bauen in Deutschland keine gängige Methode. BIM kann nämlich nur funktionieren, wenn alle verwertbaren Daten vorhanden sind, eingespeist werden und sich alle dann auch an die Spielregeln halten. Da hapert es noch vor allen Dingen weil es an einheitlichen Standards für die BIM-Methode fehlt und Datenformate zwischen den Systemen oft nicht miteinander austauschbar sind. Um BIM bundesweit zur Standardmethode werden zu lassen, braucht es also verbindliche Voraussetzungen für die Umsetzung, und genau das ist das Ziel unseres heute vorliegenden Antrags. Das vom Bundesinnenministerium und vom Bundesverkehrsministerium eingerichtete nationale Zentrum für die Digitalisierung des Bauwesens, BIM Deutschland, hat letztes Jahr mit der Arbeit begonnen. Ziel ist es, ein abgestimmtes Vorgehen im Infrastruktur- und Hochbau zu entwickeln. Eine wesentliche Hilfe dabei sind die praktischen Erfahrungen aus der Anwendung des Stufenplans „Digitales Planen und Bauen“ sowie die zahlreichen Pilotprojekte des Bundes. Aber es bleibt natürlich noch einiges zu tun. Vor allen Dingen braucht es offene und herstellerneutrale Standards für den Datenaustausch sowie einheitliche Normen in Deutschland und in Europa; das wurde ja auch schon angesprochen. Die müssen wir definieren. Nur so können wir die Vereinbarkeit der unterschiedlichen Systeme zwischen Planern, Unternehmen und Verwaltung flächendeckend herstellen. ({0}) Wir wollen, dass die öffentliche Hand die Wirtschaft bei der Erarbeitung von Normen auf internationaler Ebene stärker unterstützt und Qualifizierungsangebote im Bereich des digitalen Planens und Bauens unterbreitet. Denn wir müssen uns ja mal fragen, wo das Personal in den kleinen und mittelständischen Betrieben herkommen soll, um die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter digital zu schulen und in die Gremien zur Normbestimmung entsandt zu werden. Aber auch die öffentliche Hand, die Bauverwaltungen vor Ort, dürfen wir beim Thema Digitalisierung nicht alleine lassen. Für uns als SPD ist es deshalb besonders wichtig, die Kommunen und Länder dabei zu unterstützen, ihre Planungsverfahren zu digitalisieren und zu standardisieren. Denn nur wenn alle am Planungs-, Genehmigungs- und Bauprozess beteiligten Akteure, nur wenn Auftraggeber und Auftragnehmer wissen, was sie mit „digitaler Zusammenarbeit“ meinen und auf welcher Grundlage sie zusammenarbeiten, kann die Digitalisierung des Planens und Bauens gelingen. Wir wollen helfen, dieses gemeinsame Verständnis herzustellen. Aber eins muss dabei klar sein: Wir können uns hier noch so sehr anstrengen – wenn die grundlegenden Voraussetzungen nicht stimmen, könnten diese Bemühungen ins Leere laufen. Deshalb ist es essenziell, endlich beim Breitbandausbau voranzukommen. Hier steht das Wirtschafts- und Infrastrukturministerium in Verantwortung. Wir dürfen die Architekturbüros, Bauunternehmen und Kommunen in der Fläche nicht hängen lassen. Schnelles und zuverlässiges Internet muss überall vorhanden sein; denn auch das gehört zu unserem Ziel, gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz Deutschland zu schaffen. Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind mit diesem Antrag auf einem guten Weg, das digitale Planen und Bauen unter den Bedingungen einer föderalen Verwaltungsstruktur und einer kleinteiligen Wirtschaft voranzubringen. Lassen Sie uns dieses Zukunftsthema als demokratische Parteien progressiv vorantreiben und somit unser Land mit dem Bauen 4.0 fit für die Zukunft machen. Vielen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Dr. Petra Sitte für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren heute zunächst einen Antrag, in dem die FDP-Fraktion ein sehr spezielles Verständnis von Technologiepolitik offenbart. Statt ausgehend von realen Problemen zu überlegen, welche Innovationen zu ihrer Lösung beitragen könnten und wie man diese fördern könnte, wird einfach mit einer Technologie angefangen, nämlich der Blockchain, und diese dann wahllos zur Lösung aller möglichen Probleme vorgeschlagen. Heute ist es die Planung von Großprojekten. Das ist aber nicht Ihr erster Antrag dieser Art. Ich will nur einige Ihrer Forderungen zum Thema Blockchain aus der Vergangenheit aufzählen – das ist jetzt Ihr Werbeblock; aber das müssen wir machen –: ({0}) Juni 2018: Umstellung der Katasterämter und der Grundbuchverwaltung auf Blockchain prüfen; Dezember 2018: Blockchain-Verfahren bei der Zollabwicklung aufbauen; ({1}) November 2019: Bildungsnachweise auf die Blockchain bringen. ({2}) Weil sich die FDP nun auf Teufel komm raus als Digitalisierungspartei verkaufen will, aber inhaltlich vergleichsweise wenig dahintersteht, bleibt Ihnen schlicht und ergreifend nichts anderes übrig, als auf jeden Hype aufzuspringen. ({3}) Und welcher Hype war in den letzten Jahren größer als der um die Blockchain? Das ist eigentlich überraschend; denn hinter dieser Technologie steckt zwar durchaus eine geniale Idee, aber diese Idee ist eine zur Lösung eines ganz speziellen Problems, und dieses stellt sich mit der Schaffung einer digitalen Währung ohne verwaltende Instanz. Also: Für Kryptowährungen ist die Blockchain tatsächlich eine Basistechnologie. Andere sinnvolle Anwendungsfelder – und wir haben das im Ausschuss schon hoch- und runterdiskutiert – haben sich in den letzten Jahren trotz großer Bemühungen eben nicht gefunden. Da wird jetzt also fleißig versucht, für die Blockchain Lösungen zu finden, bei denen Daten dezentral verwaltet und manipulationssicher aufbewahrt werden sollen. Das klingt ja alles nicht schlecht; ({4}) aber nur selten wird der Versuch unternommen – Ihrerseits schon mal gar nicht –, zu erklären, warum dies nicht mit bereits vorhandenen Mitteln gehen soll, als da sind: gängige kryptografische Verfahren, gängige Datenbanktechniken ganz ohne die enormen Transaktionskosten und mithin auch enorme Energieverschwendung durch die Blockchain. ({5}) Im vorliegenden Antrag und in den von mir vorhin zitierten Anträgen steht dazu nicht ein einziges Wort. Es drängt sich also durchaus der Eindruck auf, dass hier einfach staatliche Aufträge generiert werden sollen für ein ganz bestimmtes Produkt – ein Produkt, für das es der Markt nicht schafft, irgendeine Anwendung zu finden, das aber letztlich doch irgendwie verkauft werden soll; keine Idee, die man von der FDP erwartet, und gut ist sie deswegen auch nicht. Nun fragt man sich ernsthaft, was die Antragsteller eigentlich glauben, worin die Probleme bei der Durchführung staatlicher Großprojekte bestehen, wenn die Blockchain die Lösung sein soll. ({6}) Ihr Antrag hebt beispielsweise die „Resistenz gegen Manipulation“ hervor. Ist der Flughafen BER tatsächlich wegen Manipulation nicht rechtzeitig fertiggeworden? Habe ich da was verpasst? Warum soll die Dezentralität der Datenspeicherung für solche Projekte so wichtig sein? Stehen die für die Planung zuständigen Behörden unter Manipulationsverdacht? ({7}) Warum braucht man für automatisierte Zahlungsabwicklungen sogenannte Smart Contracts? Haben Sie ernsthaft die Sorge, dass der Staat untertaucht und Auftragnehmer auf ihren Forderungen sitzen bleiben? Bisher hat die öffentliche Hand doch immer tapfer nachgeschossen, ob das in Hamburg oder in Berlin war; das ist doch gerade vorhin angesprochen worden. ({8}) Wichtig ist doch vor allem, dass die mit der Planung befassten Stellen personell und finanziell gut ausgestattet sind, um die Planung kompetent durchführen und die Ausführung letztlich auch kontrollieren zu können. Und ja, zu dieser Ausstattung gehört eben auch eine entsprechende digitale Infrastruktur. Die Digitalisierung der Planung kann das Bauen allemal kostengünstiger machen – gar keine Frage –, effizientere Beteiligung ermöglichen und so eben auch einen Beitrag zu Klimaschutz, zu mehr Mitbestimmung, Demokratie oder ganz konkret zu mehr sozialem Wohnungsbau leisten, den wir ganz dringend brauchen. ({9}) Dafür braucht man aber ganz sicher keine grundlegend neuen Technologien, sondern einfach öffentliche Investitionen in die entsprechenden IT-Verfahren unter Einbeziehung aller Beteiligten und im Rahmen einer am Gemeinwohl orientierten Strategie. ({10}) Ein solcher lösungsorientierter, technologieoffener und nicht nur an Unternehmensinteressen orientierter Ansatz wird ganz sicher zu besseren Ergebnissen führen als die Vorfestlegung auf ein – vor allem bei der FDP – sehr beliebtes Buzzword. Sie schreiben, Sie wollen Ihren Vorschlag evaluieren. Ja, was muss ich denn machen, um evaluieren zu können? ({11}) Ich muss im Grunde genommen beide Ansätze durchziehen. Da ahne ich doch heute schon, was bei Ihrer Bewertung am Ende herauskommt. In diesem Sinne: Lassen Sie uns bitte weiter offen bleiben für technische Innovationen und deren Entwicklung. Aus meiner Sicht erscheint es allemal besser, nach passenden Lösungen für bestehende Probleme zu suchen als nach passenden Problemen für bestehende Lösungen. Danke. ({12})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Bayaz für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Danyal Bayaz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004664, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt die einen, die sagen: Die Blockchain ist absoluter Quatsch. – Das sind meistens die, die das Prinzip noch nicht so ganz verstanden haben. ({0}) Und es gibt die anderen, die sagen: Die Blockchain ist die Lösung für jedes gesellschaftliche Problem. – Das sind meistens die, die damit gutes Geld verdienen wollen. Ich glaube, die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen. Ja, die Blockchain ist eine spannende Technologie; das hat auch die Große Koalition erkannt, auch wenn sie ein bisschen gebraucht hat, um eine Blockchain-Strategie an den Start zu bringen. Ich weiß nicht, ob sie die Bezeichnung „Strategie“ verdient; aber es wurden halt mal ein paar Ideen zusammengetragen. Ehrlicherweise muss man sagen: Es sind da andere Länder wie Malta, Japan oder Kanada weiter, die die Blockchain im Rahmen ihres E-Governments auch wirklich einsetzen. Bei uns war es – das muss man fairerweise sagen – so, dass es zwischen dem Wirtschafts- und dem Finanzminister Kompetenzgerangel zu der Frage gab, in welchem Haus dieses Thema eigentlich angesiedelt ist. Aber diese Diskussionen nutzen uns allen nichts, wenn am Ende keine sichtbaren strategischen Projekte im Sinne der Bürgerinnen und Bürger herauskommen. Das vermisse ich, meine Damen und Herren. ({1}) Deswegen ist es der FDP auch nicht zu verdenken, dass sie ein exponiertes Pilotprojekt fordert. Aber bei allem Respekt, lieber Mario Brandenburg: Ich halte das auch ein bisschen für Aktionismus, und ich will Ihnen sagen, warum. Ich glaube, dass weder der Flughafen in Berlin noch der Bahnhof in Stuttgart schneller, besser oder günstiger geworden wären, wenn wir das mit der Blockchain gemacht hätten. ({2}) Ich frage mich manchmal: Warum fangen wir eigentlich immer mit den komplizierten Sachen an? ({3}) Ich würde mich ja schon freuen, wenn wir die einfachen Dinge in der Digitalisierung hinbekommen würden: einfache digitale Lösungen, gut aufbereitete Informationen. Dazu gehören auch: gutes Projektmanagement, gutes Kostencontrolling, schnellere Planungsverfahren und zur Sicherung der Finanzierung eine Investitionsregel für die Schuldenbremse. Dabei geht es eben erst mal nicht um technische Lösungen; da geht es um politische Lösungen, meine Damen und Herren. ({4}) Als ich den Antrag gelesen habe, habe ich so ein bisschen an das Motto „Wer als Werkzeug nur einen Hammer hat, sieht in jedem Problem einen Nagel“ gedacht. Ich finde, wir müssen uns vielmehr fragen: Wo kann die Blockchain sinnvoll einen Mehrwert für die Gesellschaft leisten? Ich habe noch mal nachgeschaut – das ist ja technisch nicht ganz einfach –: Das ist bei Prozessen der Fall, bei denen Transaktionen dezentral zwischen verschiedenen Akteuren stattfinden, ({5}) das System lückenlos und chronologisch Zwischenschritte speichert und es keine vertrauenswürdige dritte Instanz für die Kontrolle gibt. Ich finde, da gibt es sinnigere Pilotprojekte, zum Beispiel das Thema Lieferketten, wenn es darum geht, soziale oder Umweltstandards in der Textilindustrie zu tracken, oder bei der nachhaltigen, dezentralen Energieversorgung oder eben auch – ein Thema, das mich besonders beschäftigt – im Zusammenhang mit dem Finanzmarkt. Facebook hat ja angekündigt, eine eigene Währung – Libra – an den Start zu bringen. Ich finde, wir sollten private Unternehmen nicht mit der Macht ausstatten, Geldschöpfung zu betreiben. ({6}) Aber wenn wir die Silicon-Valley-Technologie und auch chinesische Player wie Alipay – die haben wir uns im letzten Jahr im Finanzausschuss angeschaut – nicht wollen, dann ist schon die Frage: Was wollen wir eigentlich? Deswegen plädieren wir für eine europäische Lösung, für einen digitalen Euro; denn natürlich wollen auch bei uns immer mehr Menschen digital bezahlen. Deswegen, liebe FDP: Das wäre doch eine sinnvolle staatliche Initiative, um die Blockchain auch in die Anwendung zu bringen. Dann sind wir auch gerne mit dabei. Herzlichen Dank. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Michael Kießling das Wort. ({0})

Michael Kießling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004779, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch die Baubranche wird zunehmend digitalisiert und wird die Digitalisierung als Chance nutzen; davon bin ich fest überzeugt. Genau wie in anderen Branchen wird auch ihre künftige Wettbewerbsfähigkeit von der Umsetzung der Digitalisierung abhängen. Für uns ist es hier wichtig, dass Planer, Unternehmer, Handwerker und auch die Verwaltung Schritt halten können. Klar ist auch, dass wir in Deutschland hier noch einiges an Potenzial haben, das wir durchaus heben können. Bauen ist teuer und mit Risiken verbunden. Wir wollen schneller, effektiver und auch sicherer bauen. Deshalb gilt es einfach, das Potenzial der Prozesskette Bauen entsprechend zu heben und das, was dort versteckt ist, auch sichtbar und transparent zu machen. Hier hilft die Digitalisierung. Wie gesagt: Es geht darum, Risiken zu erkennen und fundierte Aussagen über das Bauwerk zu erhalten – und das am besten bevor gebaut wird, weil man während der Planung die meisten Kosten beeinflussen und sparen kann. Deshalb haben wir als Fraktion zusammen mit der SPD einen Antrag zum Thema „Digitalisierung Bau“ gestellt. Im Zentrum steht dabei die Etablierung des Building Information Modeling. Dabei geht es nicht darum – was viele meinen –, dass BIM ein 3-D-Modell ist, sondern es ist wesentlich mehr. Es geht darum, Informationen auszutauschen und nutzerbezogen zur Verfügung zu stellen, Konflikte vor der Bauausführung zu erkennen, Transparenz herzustellen und die Kommunikation der Beteiligten entsprechend zu fördern. Mit der Digitalisierung sollen Qualität, Kostensicherheit, Termintreue leichter gewährleistet werden, da die Informationen schon vorab zur Verfügung stehen. Es gilt, Konflikte, die auf der Baustelle entstehen können, schon vorher zu erkennen und nicht erst auf der Baustelle zu sehen, dass ein Unterzug einem Rohr im Wege steht – oder andersrum. ({0}) Es ist eine Binsenweisheit – ich habe es schon gesagt –: Die Planung macht es aus. Dabei kann man die Kosten am meisten beeinflussen. Im Koalitionsvertrag haben wir das Thema BIM auf die Tagesordnung gesetzt, und wir wollen es speziell für den Hochbau auch noch weiter vorantreiben. Dazu haben wir bereits folgende Maßnahmen ergriffen: die Einführung des Branchendialogs zwischen Bundespolitik und Bauwirtschaft, die Eröffnung des nationalen Zentrums für Digitalisierung des Bauwesens – BIM Deutschland –, um einheitliche Vorgaben für den Hochbau und Infrastrukturbau im Bundesbau zu erstellen, und die Förderung von Pilotprojekten im Bundeshochbau – beispielsweise der Neubau der deutschen Botschaft in Wien –, um das Thema BIM breitenwirksam zu kommunizieren. Liebe FDP, Sie haben einen Antrag zum Smart Building gestellt. Ich muss sagen: Der Antrag ist so zielführend wie fünf Runden im Kreisverkehr. Sie sollten unseren Antrag einfach intensiver lesen. ({1}) Dadurch könnten die Doppelungen vermieden werden. Dabei spielt – wir haben es vorhin von unserem Staatssekretär gehört – unter anderem die Normierung eine große Rolle – die Standardisierung der Prozesse, hersteller- und softwareunabhängige Datenstandards –; denn verlässliche offene Standards sind Voraussetzung dafür, dass wir alle am Bau Beteiligten entsprechend mitnehmen können. Dafür müssen wir letztendlich auch das BIM-Know-how, das wir über die Pilotprojekte gewinnen, zur Verfügung stellen. Dadurch schaffen wir Transparenz und Akzeptanz. All die Möglichkeiten, die Sie in Ihrem Blockchain-Antrag beschrieben haben, sind in unserem Antrag eigentlich schon enthalten; ({2}) denn wir fordern, die Bauwirtschaft technologieoffen zu unterstützen und zu digitalisieren und nicht in ein Korsett zu zwängen. Das Credo der FDP ist eigentlich, technologieoffen zu fördern. Warum Sie sich hier jetzt auf die eine Technologie versteifen, ist mir nicht ganz begreiflich. Vermutlich handelt es sich um Buzzword-Bingo, um einfach die Schlagworte entsprechend abzudecken. Die Vorteile von BIM wird man noch deutlicher spüren, wenn Synergieeffekte aufgrund von anderen Entwicklungen in der Branche eintreten. Hier meine ich unter anderem die Digitalisierung der Bauleitplanung und der Baugenehmigungsprozesse. Wenn Bauwirtschaft und Verwaltung digital arbeiten, werden wir die Synergieeffekte um ein Vielfaches steigern können; denn dadurch sind die Kommunikation und die Beurteilung von entsprechenden Projekten leichter möglich. Andere Dinge, wie serielles und modulares Bauen, können auch Synergieeffekte mit sich bringen. Deshalb, denke ich, müssen wir auch die Einführung der bundesweiten Typengenehmigung noch weiter vorantreiben. Zusammengefasst: Mit der Digitalisierung der Baubranche bietet sich die große Chance, Prozesse schneller, zuverlässiger und transparenter zu gestalten. Das sollte technologieoffen geschehen und mit offenen Standards entsprechend vorangetrieben werden, sodass wir alle mitnehmen: Planer, Handwerker, Unternehmer und auch die Verwaltung. Herzlichen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Zu seiner ersten Rede im Deutschen Bundestag hat nun der Kollege Dr. Joe Weingarten für die SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Zunächst mal vielen Dank für die freundliche Begrüßung. Es ist mir eine große Ehre, hier zu Ihnen sprechen zu dürfen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Digitalisierung wird unsere Arbeitswelt in Zukunft stark prägen, Planungsprozesse beeinflussen und verändern. Von daher ist es richtig, dass sich der Deutsche Bundestag heute mit dem Zusammenhang zwischen der Digitalisierung und der Zukunft des Bauens beschäftigt. Das ist auch eine strategische Frage unserer Wirtschaftspolitik; denn gerade in der intelligenten Verknüpfung von Softwarelösungen mit der Produktion und komplexen Bauvorhaben liegt eine große Zukunftschance für die deutsche Wirtschaft. Wir mögen bei der Entwicklung von Software zum Teil hinter den USA liegen, mögen bei innovativen Maschinen die Konkurrenz aus China immer stärker spüren: Bei der Kombination von beidem, beim praktischen Einsatz von Software im Maschinen- und Anlagenbau, bei der Planung und Realisierung komplexer Industrie- und Bauprozesse, sind wir immer noch – gerade dank der Innovationskraft unserer mittelständischen Unternehmen – weltweit führend, und das wollen wir, auch im Bau, bleiben. ({0}) Meine Damen und Herren, die Digitalisierung kann einen wichtigen Beitrag zur Effizienzsteigerung im Bauwesen leisten. Die abgestimmte Nutzung und Weitergabe von Daten kann das Bauen schneller, ressourceneffizienter und fehlerfreier machen. Sie ist damit ein wesentlicher Beitrag zu mehr Nachhaltigkeit im öffentlichen und privaten Bauen. Die von der Bundesregierung dazu geplanten einheitlichen Vorgaben für den Hoch- und Infrastrukturbau gehen in die richtige Richtung – desgleichen die Forderung der Koalitionsfraktionen nach herstellerneutralen Standards für den Datenaustausch, um insbesondere auch kleine und mittelständische Unternehmen in komplexe Prozesse aufnehmen zu können. Es ist auch der richtige Weg, dass die Bundesregierung in Pilotprojekten mit wissenschaftlicher Begleitung einzelne Elemente der Digitalisierung dazu testet und bewertet. ({1}) Dabei ist es richtig, perspektivisch auch auf neue Technologien zu setzen. Dazu könnte grundsätzlich auch die Blockchain-Technologie mit ihrer dezentralen Registerstruktur gehören, in der alle einzelnen Transaktionen eines Netzwerkes abgespeichert werden. Die Manipulationssicherheit, die unzweifelhafte Zuweisung bestimmter Werte zu Inhabern und das hohe Automatisierungspotenzial sprechen für diese Technik. Der Aufwand ist aber zunächst für alle Beteiligten groß, und der Hauptvorteil, die Herstellung von Vertrauen zwischen einander Unbekannten, kommt bei Bauprojekten eher weniger zum Tragen; denn da kennt man sich ja und geht ausdrücklich vertragliche Beziehungen miteinander ein. Die im letzten Herbst beschlossene Blockchain-Strategie der Bundesregierung gibt dazu den richtigen Weg vor: die Stabilität der Technologie sichern, Projekte und Reallabore fördern, um Erfahrungen zu gewinnen, klare und verlässliche Rahmenbedingungen sicherstellen und in den Verwaltungen digitale Kompetenzen zur Umsetzung schaffen. Bei vielem davon stehen wir aber wissenschaftlich und praktisch noch am Anfang. Deshalb noch ein Wort zum Antrag der FDP „Staatliche Großprojekte auf einer Blockchain transparent machen“. Das ist aus meiner Sicht kein großer Wurf. Zwar haben die antragstellenden Digitalbaumeister mit Freude allerlei Begrifflichkeiten der Digitalpolitik und der Projektplanung aufeinandergestapelt. Aber ein Bauwerk, das inhaltlich und politisch überzeugt, ist dabei nicht herausgekommen. ({2}) Es ist ja ein kühner Gedanke, ausgerechnet die Methoden und Prinzipien der Blockchain-Technologie – chancenreich, aber unausgereift, wie sie zum Teil noch sind – auf ein öffentliches Großprojekt exemplarisch loszulassen, sie also quasi unter den schwerstmöglichen Bedingungen zu testen. Der Antrag sieht das Problem ja selbst und regt im Falle des Scheiterns an, das Gleiche dann noch mal, halt eine Stufe kleiner, zu probieren. Das erscheint dann doch etwas naiv. Der Antrag hat aber auch erhebliche inhaltliche Lücken. Mittelstand, Arbeitnehmerqualifikation, Datenschutz: Alles Fehlanzeige! Einen solchen Antrag vorzulegen, ohne darauf einzugehen, wie gerade die mittelständischen Bauunternehmen, die in der Regel nicht über entsprechende Erfahrungen verfügen, in ein Blockchain-gesteuertes Großprojekt eingebunden werden können, ist fahrlässig. Da hilft es auch nicht, wenn hinten im Antrag dreimal das Wörtchen „KMU“ eingestreut wird. ({3}) Vor dem geistigen Auge der Antragsteller steht wieder einmal der allumfassende Generalunternehmer für Großprojekte im Zentrum, also genau das Modell, das wir eigentlich nicht wollen. ({4}) Auch zu den Arbeitnehmern und den Qualifizierungen – kein Wort. Aber wie sollen denn Informatiker und Bauingenieurinnen, Architektinnen und Rohstoffunternehmer, Verwaltungskräfte und Finanzierungseinrichtungen mit einer so anspruchsvollen Technik zusammenarbeiten, wenn das nicht vorher festgelegt, getestet und eingeübt wurde? So ein Risikoprojekt ohne vorherige Tests baut keiner, das bezahlt keiner, und das versichert auch keiner. Alles Theorie! Meine Damen und Herren, es bleibt vielmehr der beste Weg, was die Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung bei dem Thema vorhaben: einerseits neue Techniken wie Blockchain weiter erproben und an die Praxis heranführen, andererseits in den Unternehmen, in den Verwaltungen und in unserer Infrastruktur weiter die Voraussetzungen für eine entschlossene Digitalisierung von Bauprozessen schaffen – im Dialog mit allen Beteiligten und nicht durch Schnellschüsse. So funktioniert das: im Interesse der bauwilligen Menschen, der Unternehmen und der Nachhaltigkeit. Haben Sie vielen Dank! ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herzlichen Glückwunsch, Kollege Weingarten. Ihnen ist etwas gelungen, was den meisten in ihrer ersten Rede nicht gelingt, nämlich in der Redezeit zu bleiben. ({0}) Das Wort hat der Kollege Daniel Föst für die FDP-Fraktion. ({1})

Daniel Föst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004716, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Weingarten, herzlichen Glückwunsch zur ersten Rede. ({0}) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wenn Sie sagen, Herr Weingarten: „Die Strategie der Bundesregierung ist genau das Richtige“, dann sage ich: Sie ist langsam, hasenfüßig und geht nicht weit genug. Sie ist genau das Falsche. ({1}) Deutschland leidet unter einem massiven Baustau. Wir bauen zu wenig, wir bauen zu langsam, und wir bauen zu teuer. Das hat Folgen: Es fehlen Millionen Wohnungen, Millionen bezahlbare Wohnungen. Deswegen steigen die Mieten nicht mehr nur in den Metropolen. Wir müssen diesen Baustau endlich auflösen. Alles, was Sie tun – Mietenbremse – Preisregulierung, noch mehr Konfrontation statt Kooperation –, behebt das Problem nicht. Das ist Symptomdoktorei. Wer den Mietern Macht geben will, muss Wohnraum schaffen. Da heißt „günstiger bauen“ auch „günstiger wohnen“. ({2}) Zur Wahrheit gehört, dass die Bauwirtschaft an ihren Grenzen ist; das ist richtig. Es gibt seit Jahren deutlich mehr Genehmigungen als Fertigstellungen. Die Wohnungen sind in der Pipeline, aber wir kriegen sie halt nicht aufs Feld. Der Fachkräftemangel schlägt bei der Baubranche ein. Was in der Baubranche auch einschlägt, ist eine Politik, die verunsichert, die reguliert, die deckelt, die von Enteignungen schwadroniert, die einfach nicht zuverlässig ist. So eine Politik schafft kein Vertrauen, um Kapazitäten aufzubauen und in neue Technologien zu investieren. Dabei wäre jetzt die Zeit, die Chancen der Digitalisierung zu nutzen. Die Bauwirtschaft gilt als eine der am wenigsten digitalisierten Branchen in ganz Deutschland. Im Grunde planen und bauen wir noch wie die alten Römer. Dabei sind neue Technologien mittlerweile gang und gäbe. Wir brauchen nur nach Großbritannien zu schauen oder in die asiatischen Länder. Wir haben in Deutschland wieder mal akuten Nachholbedarf. Es wird dringend Zeit, dass wir ein Update im Wohnungsbau einleiten. ({3}) Die Digitalisierung des Planens und Bauens heißt vor allem Building Information Modeling. Mit BIM könnten wir schneller bauen. Wir könnten mehr bauen. Wir könnten günstiger bauen. Experten schätzen die Kostenersparnis auf 30 Prozent. BIM, liebe Grüne, macht Bauen auch nachhaltiger. Wenn ich genau weiß, welchen Baustoff ich beim Bau wo eingesetzt habe, dann tue ich mich beim Rückbau und vor allen Dingen beim Recycling leichter. BIM ist gut für die Umwelt. BIM ist aber auch gut für die Unternehmen, weil es effizienzsteigernd ist. BIM ist auch gut für die Mieterinnen und Mieter, weil wir günstiger bauen können. Es wird Zeit für eine digitale Revolution am Bau. Da muss der Staat Vorreiter werden. Wir müssen im Hochbau und im Wohnungsbau endlich digital werden. Das bedeutet für uns: Die eigenen Bauprojekte müssen zu Leuchtturmprojekten werden. Überall da, wo der Bund mitfinanziert, muss BIM zum Standard werden. Aber BIM ist nicht das Ende, sondern der Anfang der Digitalisierung. Wenn ich mir hier die Reden anhöre, werte Kolleginnen und Kollegen, dann kann ich nur sagen: Beim Bauen wird es Zeit für Digital first, Bedenken second; sonst wird das nichts. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Philipp Amthor das Wort. ({0})

Philipp Amthor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004656, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben es gehört: Die Nutzung der Blockchain-Technologie für staatliches Bauen, für staatliches Planen ist durchaus ein sinnvolles Anliegen. Aber man muss doch sagen: Es ist nicht unbedingt sehr inspirierend von der FDP, so ein Detailthema jetzt zum Hauptthema in der Kerndebattenzeit zu machen. ({0}) Das zeigt so ein bisschen: Inhaltlich sind Sie, glaube ich, noch nicht ganz auf der Höhe der Zeit, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Wir müssen eines konstatieren: Es gibt durchaus noch sinnvollere Verwendungsmöglichkeiten für die Blockchain-Technologie als jetzt ausgerechnet im staatlichen Planungsverfahren. ({2}) Es gibt im staatlichen Planungsverfahren durchaus größere Probleme als die noch nicht erfolgte Verwendung der Blockchain-Technologie. Um auf beides einzugehen: Ich würde sagen: Wenn man die Blockchain-Technologie sinnvoller verwenden will, dann sollte man das vor allem im Bereich staatlicher Register, im Bereich eines staatlichen Transaktionsmanagements tun; dazu wird Thomas Heilmann noch einiges ausführen. Aber ich würde sagen: Der Fokus liegt darauf, dass wir im Planungsrecht größere Probleme haben als die noch nicht erfolgte Nutzung der Blockchain-Technologie. Das Problem sind vor allem die langen Verfahren. Da muss man eins sagen: Die Transparenz, die Sie fordern, macht Verfahren noch nicht schneller, sondern das machen nur gute Gesetze, wie wir sie zuletzt vorgelegt haben, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Ich will vor allem drei verwaltungsrechtliche Anmerkungen zu Ihrem Antrag machen. Zunächst finde ich ja ganz spannend: Sie reden etwas juristisch untechnisch von Planungsbeschleunigung und Transparenz bei Großprojekten. Da fragt sich der geneigte Baurechtler: Was ist denn eigentlich ein Großprojekt? Da, würde ich sagen, gibt es unterschiedliche Vorstellungen. Für die FDP sind Großprojekte meistens zu groß. So haben Sie sich zum Beispiel bei dem Großprojekt, mal konkret zu regieren, nicht so gut geschlagen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({4}) Deswegen: Wenn Sie von Großprojekten reden, dann meinen Sie wohl Projekte, die – so lautet das baurechtlich korrekt – planfestgestellt werden müssen. Für Projekte, die planfestgestellt werden müssen, haben wir es als Regierungskoalition geschafft, voranzugehen mit Planung durch Maßnahmengesetze, unmittelbar durch Gesetz Abwägung durch den Gesetzgeber möglich zu machen. Ich glaube, jenseits von Detaildebatten sind das die großen und richtigen Schritte, die wir im Bau- und Planungsrecht brauchen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({5}) Ein zweiter Punkt. Wenn Sie von Verwaltungstransparenz reden, dann ist eines wichtig zu benennen: dass unsere Verwaltung gar nicht so intransparent ist, wie man es ihr oft vorwirft. Durch Informationsansprüche etwa nach dem Informationsfreiheitsgesetz und anderen spezialgesetzlichen Ansprüchen haben wir schon heute, verglichen mit vielen anderen europäischen Ländern, eine hohe Transparenz in unserer öffentlichen Verwaltung. Wichtig beim Thema Transparenz ist natürlich immer – das ist uns ein Anliegen –, dass man auch auf die Rechte und auf den Rechtsschutz derjenigen achtet, deren Vorgänge transparent gemacht werden müssen. Wenn in einer Blockchain Verträge und anderes mehr offengelegt werden, dann ist es uns wichtig, dass man da unter anderem auch über Datenschutz redet. Wenn die FDP die große Unternehmerpartei sein möchte, hätte es bei einem so langen Antrag vielleicht geholfen, darauf hinzuweisen, dass auch Unternehmen Grundrechte haben, die man an dieser Stelle berücksichtigen muss, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({6}) Ein dritter und letzter Punkt. Das Misstrauen gegen die Verwaltung setzt sich fort, wenn Sie davon reden, die Blockchain-Technologie im Bau- und Planungsverfahren würde die Haftung erleichtern. Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Wenn man sich mit Staatshaftungsrecht beschäftigt, stellt man fest, dass Staatshaftungsrecht zum Glück so funktioniert, dass es nicht um den einzelnen Beamten geht, sondern dass es eine Überleitung der Haftung des einzelnen Beamten auf den Staat gibt. Deswegen braucht man zur Beantwortung der einfachen Frage, wer von wem woraus etwas verlangen kann, keine moderne Technologie, sondern das geht dank des Staatshaftungsrechts seit vielen Jahrzehnten ganz locker, liebe Kolleginnen und Kollegen. Das sollte man berücksichtigen. Kurzum: Ihr Antrag beinhaltet durchaus richtige Punkte. Unser Antrag zum Thema „Digitalisierung im Bauen“ ist besser, ist weiter gehend. Lieber Herr Föst, lieber Herr Kollege von der FDP, wenn Sie darauf verweisen, wir würden bauen „wie die alten Römer“, kann ich nur sagen: So schlecht wäre es nicht. ({7}) Manche von deren Aquädukten funktionieren seit 2 000 Jahren. Wenn unsere Infrastruktur auch so lange funktioniert, wäre das eine gute Sache. Herzlichen Dank. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Christian Kühn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Christian Kühn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004333, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Werte Kolleginnen und Kollegen! Volkmar Vogel, der neue Baustaatssekretär, der heute seine erste Rede als Staatssekretär hier gehalten hat, hat vorhin einen richtigen Satz gesagt: An der Digitalisierung „entscheidet sich der Erfolg unserer Bauwirtschaft im 21. Jahrhundert“. – Das ist völlig richtig. Doch schauen wir uns einmal den heutigen Zustand unserer Bauwirtschaft an. Dazu hat ein großes Beratungsunternehmen vor zwei Jahren eine Studie gemacht. In dieser Studie ist klar herausgekommen, dass die Bauindustrie in Deutschland der Industriezweig ist, der bei der Digitalisierung weit zurückgefallen ist. Es gibt nur einen Bereich, der noch weiter zurückhängt: Das ist das Fischerei- und Jagdgewerbe. ({0}) Ich finde, das zeigt, auf welchem Niveau wir im Augenblick sind. Angesichts der Debatte hier wird sich der eine oder andere Handwerker auf den Baustellen vielleicht schon an den Kopf greifen und sagen: Na ja, eigentlich haben wir ein Fachkräfteproblem und kein Problem bei der Blockchain oder bei BIM. ({1}) Wir stehen vor riesigen Herausforderungen bei der Digitalisierung. Ehrlich gesagt, flüchtet sich der eine in das Instrument des BIM, und die anderen reden über Blockchain. Aber auf die Frage „Was heißt Digitalisierung im Bau?“ hat hier niemand geantwortet. Da werde ich auch in den Anträgen nicht fündig. Wenn ich mir anschaue, was Sie aus den Reihen der Großen Koalition hier beantragt haben, stelle ich fest, dass das eigentlich ein Misstrauensantrag gegenüber Ihrer eigenen Regierung ist. Anders kann man das nicht nennen. Ich glaube, Sie sind beim Thema Digitalisierung mit dem Bauminister Seehofer genauso unzufrieden, wie das die Opposition ist. Digitalisierung des Planens und Bauens ist mehr als Building Information Modeling. Das ist eine reine Planungsmethode, es ist ein Tool, aber es ist noch lange keine Strategie. ({2}) Wenn man über eine Strategie redet, dann muss man über Weiterbildung reden, dann muss man darüber reden, wie angesichts des Drucks durch die Digitalisierung die Besonderheiten der deutschen Bauwirtschaft erhalten werden. Wie geht man mit der Trennung von Planung und Ausführung in Deutschland bei den Fragen der Digitalisierung um? Welche Rolle haben in Zukunft die Handwerker? Wie schult man sie? Wie bringt man die Digitalisierung auf die Baustelle? Wie sieht es mit der Transparenz und der Bürgerbeteiligung aus? Wie sieht es mit dem Datenschutz und vielem mehr aus? Auf all das geben Sie keine Antworten – weder von der Großen Koalition noch von der FDP. Deswegen hinkt diese Debatte heute. Es geht doch darum, zu sagen: Bei den großen Zukunftsherausforderungen muss die Digitalisierung einen Beitrag leisten: zum Klimaschutz, zum Ressourcenschutz. Herr Föst, Sie haben es angesprochen. Nur, in Ihrem Antrag finde ich dazu leider nichts. Dazu haben Sie überhaupt keine Forderung, weder ein Kataster für die Frage, wie viele Baustoffe bereits verbaut worden sind, noch irgendetwas anderes; dazu kein Wort. Beim Thema „Digitalisierung und Klimaschutz“ bleibt die FDP eine Leerstelle, ebenso die Große Koalition. Das ist ein Riesenfehler. ({3}) Zum Schluss. Herr Föst, Sie haben über den sozialen Wohnungsbau und die Bezahlbarkeit des Wohnens gesprochen. In Ihrem Antrag steht aber, dass Sie den sozialen Wohnungsbau zur Anwendung von BIM verpflichten wollen. Ernsthaft: Wie viele kommunale Wohnungsbauunternehmen finden im Augenblick ein Hochbauunternehmen, das mit BIM den sozialen Wohnungsbau angeht? Viel zu wenige. Sie verengen sozusagen das Angebot künstlich und treiben damit die Kosten des sozialen Wohnungsbaus hoch. Das ist doch absurd. Wenn Sie als FDP wirklich etwas für den sozialen Wohnungsbau machen wollen, dann müssen Sie bereit sein, mehr Geld in den sozialen Wohnungsbau zu geben, damit auch wirklich sozial gebaut wird. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Kühn, achten Sie bitte auf die Zeit und setzen einen Punkt.

Christian Kühn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004333, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich achte auf die Zeit. – Zum Antrag der FDP zum Thema BIM. Er beinhaltet drei Punkte. Wenn Sie davon einen wegstreichen, können Sie gerade noch eine Twitter-Botschaft daraus machen. Ich glaube, Sie müssen ein bisschen mehr nacharbeiten. Danke. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Thomas Heilmann für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Thomas Heilmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004741, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren hier im Saal, auf der Tribüne und – gerade heute bei diesem Thema – an den digitalen Endgeräten! Vorweg will ich sagen: Ich finde es gut, wenn die Opposition – in diesem Fall die FDP – das Thema „Digitalisierung und Blockchain“ regelmäßig auf die Tagesordnung setzt. – Frau Sitte, ich komme gleich noch zu Ihrem Beitrag. Das, was Sie gesagt haben, ist falsch; aber Sie hören offensichtlich auch gar nicht zu. Ich bedaure bei den FDP-Anträgen, dass sie immer so kurzfristig kommen. Selbst heute Morgen lag der Antrag nicht vor. Sie wollten ursprünglich über die Bonpflicht reden und haben sich in allerletzter Minute umentschieden. Ich verstehe das immer nicht; denn diese Dinge wären es eigentlich wert, dass man sie gründlich vorbereitet diskutiert. ({0}) – Der Antrag hatte gestern noch nicht einmal eine Drucksachennummer. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Heilmann, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Graf Lambsdorff?

Thomas Heilmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004741, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte.

Alexander Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004798, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nachdem die digitale Allzweckwaffe Philipp Amthor eben schon versucht hat, dieselbe Legende zu verbreiten, ({0}) dass es an uns gelegen hätte, dass wir hier über das Thema reden, und Sie jetzt erneut behaupten, es wäre unsere Idee gewesen, dieses Thema zur Kernzeit aufzusetzen: Würden Sie vielleicht zur Kenntnis nehmen, dass uns daran gelegen gewesen wäre, über die Abschaffung der Bonpflicht zur Entlastung der Wirtschaft in Deutschland – der Entlastung von Bäckern, Floristen, Kioskbetreibern – zu reden? ({1}) Das war unser Beitrag zu dieser Debatte. Die CDU/CSU hat das Thema gemeinsam mit der SPD abgesetzt. Ist das auch Ihr Kenntnisstand?

Thomas Heilmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004741, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, das ist nicht mein Kenntnisstand. Mir ging es auch nicht um die Geschäftsordnungsdebatte, sondern es geht darum, dass Sie so kurzfristig Anträge stellen. Denn dass der Antrag gestern noch keine Bundestagsdrucksachennummer hatte, hat nichts mit der Geschäftsordnung zu tun, sondern damit, dass dieser Antrag so kurzfristig von Ihnen kam. Nur darüber habe ich geredet. Das war in der letzten Sitzungswoche beim Thema Statusfeststellung ganz genauso. Den Antrag haben wir erst Mittwochabend bekommen, und Donnerstag sollten wir diskutieren. ({0}) Bei diesem Antrag war es genauso. Er wurde auf Ihren Antrag diskutiert; die Regierungsmehrheit hat ja nicht beschlossen, dass wir einen Antrag von Ihnen diskutieren. Er ist von Ihnen so kurzfristig eingereicht worden. ({1}) Ich komme zu Ihrem Antrag zurück. Es ist richtig, dass wir Technologie pilotieren müssen und dass das auch für die Blockchain gilt. Ich werde gleich noch etwas mehr zur Blockchain sagen. Allerdings ist es unsinnig, damit bei Großprojekten anzufangen, weil Großprojekte viele Probleme haben, die man sicher nicht mit einer Technologie lösen kann. Wenn man zum Lösen dieser Probleme Technologie heranzieht – das wird sicher nicht die ganze Lösung, sondern ein Teil sein –, dann sicher nicht nur eine einzige Technologie. Insbesondere wenn es um Planungsphasen geht – darauf spielen Sie an –, ist eine Open-Source-Technologie wie GitHub sicherlich viel geeigneter als die Blockchain-Technologie, um verschiedene Beteiligte einzubinden. So wie die Entwicklung einer Software ein eindeutiges Ergebnis haben muss, so wie eine Planung ein eindeutiges Ergebnis hat, ist GitHub in der Lage, viele Tausende Beteiligte zu involvieren, deren Meinungen einzuholen, um dann zu einem gemeinsamen Ergebnis zu kommen. Das ist eigentlich das Wesen der Planung. Deswegen: Sosehr ich Chancen in der Blockchain-Technologie sehe, ist das, glaube ich, nicht das Richtige. Leider – das muss man auch klar sagen – ist der BER kein gutes Beispiel; denn der BER ist relativ schnell geplant worden. Die Bauleitplanung war nicht das Problem des BER. Das BER-Problem begann mit der rot-roten Koalition in Berlin, ({2}) die entschieden hat, dass es keinen Generalunternehmer gibt. Sie haben nicht nur gesagt, es dürfe nicht nur eine Firma geben, sondern auch, es dürfe keinen Generalunternehmer geben. Dann haben sie die Beauftragung selber gemacht, ohne die entsprechenden Fähigkeiten zu haben. Es kam zu Schnittstellen in der Bausache: Alle wissen, dass es drei Firmen gab, die am Brandschutz gearbeitet haben, und als sie die Dinge zusammengefügt haben, passten sie nicht. Das macht man so nicht. Vielmehr hat man mindestens für den Brandschutz einen Generalauftragnehmer. Dieser kümmert sich dann darum, dass alles zusammenpasst. Dann hat man während des Bauens Umplanungen vorgenommen, ohne die Haustechnik anzupassen. Hinterher hatte man einen Bau mit einer nichtpassenden Haustechnik. Dann hat man auch noch jahrelang versucht, dieses Problem zu vertuschen. Das ist der Grund für fast 20 Jahre Bauzeit und eine Kostenexplosion. ({3}) Die Verantwortlichkeit liegt eindeutig bei Herrn Wowereit persönlich, der selbst damals – das Drama lief schon zehn Jahre, als ich Mitglied des Berliner Senats war – nicht zugeben wollte, dass die Steuerungstechnik geändert werden muss. Er musste erst als Regierender Bürgermeister zurücktreten, bis eine andere Form der Projektsteuerung am BER Einzug erhalten hat, die ihren Erfolg auch offensichtlich zeitigt. Ich will nicht zu früh loben; aber es sieht so aus, als wenn wir im Oktober dieses Jahres tatsächlich den BER eröffnen können. Jetzt, Frau Sitte, zu Ihren Einwänden gegen die Blockchain. Die Blockchain gehört nicht einem Unternehmen, nicht einmal mehreren Unternehmen, sondern ist eine offene Technologie, so wie andere Standards auch. ({4}) Deswegen liegt es nicht im Interesse irgendeines Unternehmens, sondern im Interesse der öffentlichen Hand und der Gesamtgesellschaft, dass wir neue Technologien einführen. Wir reden über einen Standard. Ihr Einwand im Hinblick auf die Technologieoffenheit ist auch verfehlt; denn Sie müssen sich bei einem Standard schon entscheiden. Wenn wir uns in Europa nicht für den GSM-Standard entschieden hätten, dann hätten wir keine Mobilfunktechnologie. Wir haben uns für GSM und nicht für den Motorola-Standard entschieden. Da sind wir nicht technologieoffen gewesen. Wir haben uns entschieden. Deshalb stellt sich schon die Frage, ob wir die DLT, die Tokenisierung der Technologie, als Standard in Deutschland einführen wollen, was ich für extrem wichtig halte. ({5}) Das werden wir nur über Pilotprojekte hinbekommen. Ich glaube, es ist falsch, sich als Pilotprojekt gleich Großvorhaben vorzunehmen, aber es ist absolut zwingend, dass der Staat tätig wird. Die Bundesregierung hat das in ihrer Blockchain-Strategie angekündigt. Auch in der Bauwirtschaft tut dieser Bauminister mehr als seine Vorgänger. Insofern bin ich relativ optimistisch, dass wir in den nächsten Jahren da vorankommen. Vielen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache.

Axel Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003624, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute über das Arbeitsprogramm der Kommission in Brüssel in Berlin, weil es unsere gemeinsame europäische Angelegenheit ist. Die Maßstäbe, die wir bei der Beurteilung dieses Arbeitsprogrammes anlegen müssen, müssen auf zwei Grundlagen basieren, nämlich zum einen, was unser Interesse als Land ist, und zum anderen, wie das gemeinsam in Europa durchgesetzt wird. ({0}) Dies ist nur möglich, wenn wir uns bemühen, das richtig, aber auch aufrichtig zu machen. Denn diese Kommission ist nicht irgendeine wichtige europäische Institution. Sie besteht aus Politikerinnen und Politikern von Sozialdemokraten, Christdemokraten, Liberalen, Grünen und Konservativen. Die Mitglieder der Kommission wurden von den Mitgliedstaaten vorgeschlagen, aber vom Europäischen Parlament gewählt. Uns muss klar sein: Dieses Arbeitsprogramm ist ein politischer Kompromiss, der zumindest von vier wichtigen Fraktionen in Europa getragen wird und auch gestaltet werden soll. ({1}) Deshalb wird es darauf ankommen, dass wir dies als Maßstab hier anlegen. Ich will dazu mit Erlaubnis der Präsidentin zitieren, was die Vorsitzende der sozialdemokratischen Fraktion, meine Kollegin Iratxe García Pérez, dazu gesagt hat: Unsere wichtigsten Forderungen in Bezug auf den ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Wandel, den die EU braucht, werden im Programm angemessen berücksichtigt. Es enthält die Versprechen, die an unsere Fraktion gemacht wurden, als wir diese Kommission und ihre Leitlinien unterstützt haben. Darum genau, liebe Kolleginnen und Kollegen, wird es gehen. Es wird auch nicht nach dem alten Muster „Wenn morgens früh die Sonne lacht, hat dies allein mein Land vollbracht. Doch gibt es Matsch und Schnee, dann war es die EG.“ – heute: die EU – gehen. ({2}) Genau so funktioniert es eben nicht. ({3}) Die Themen, die die Kommission gesetzt hat, sind aus meiner Sicht die völlig richtigen, nämlich Klima, Digitalisierung, Wirtschaft und Soziales, die Rolle Europas in der Welt, auch die Verteidigung unserer Lebensweise und Perspektiven für die Zukunft der EU. Genau darum wird es gehen. Weil wir beim Klima anfangen, sage ich als Sozialdemokrat auch klar dazu: Es gibt nur einen Green Deal mit einem roten Herzen. ({4}) Ich zitiere hier meine Kollegin Vorsitzende noch einmal: Das Arbeitsprogramm der EU-Kommission kann nur mit einer angemessenen Finanzierung funktionieren. Auch da sage ich – ich meine alle Fraktionen hier im Haus, von der Linken bis zur FDP, die AfD nicht –: Diejenigen, die zurzeit sparen, sind nicht irgendwelche aus Österreich, aus den Niederlanden, Dänemark oder Schweden, ({5}) sondern das sind Regierungen mit Sozialdemokraten, Christdemokraten, Liberalen, Grünen und in Dänemark gestützt auch von der Linken. Das heißt, in der Diskussion, die wir jetzt führen – Stichwort „1 Prozent“; 1 Prozent heißt nicht 1,0 oder am besten 1,00, sondern es geht um eine Basis, die die Bundesregierung versprochen und im Koalitionsvertrag festgelegt hat –, geht es darum, dass wir mehr für die Finanzierung Europas tun. ({6}) Das müssen wir so diskutieren. Wir haben eine Selbstverpflichtung in der sozialdemokratischen Parteienfamilie Europas genau wie in der christdemokratischen, der liberalen, der grünen und der linken Parteienfamilie, die besagt, dass wir dieses Europa für die Zukunft – auch finanziell – stärken. Diese Zukunft ist die junge Generation, die durch Erasmus und vielfachen Austausch geprägt ist und Erwartungen hat. Diese Erwartungen müssen wir, muss die Kommission erfüllen. Machen wir uns gemeinsam an die Arbeit! ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Norbert Kleinwächter für die AfD-Fraktion. ({0})

Norbert Kleinwächter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004781, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Werte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Machen wir uns nichts vor: Das Arbeitsprogramm der EU ist gefährliche Träumerei und weit entfernt von den Fakten der Realität und dem Willen der Bürger. ({0}) Da wird eine schöne neue Welt entworfen, in der Klimaneutralität durch Verbote von Technologie und explodierende Kosten als Wohlstandsbringer und Wachstumsstrategie verkauft werden, die Einschränkung der Meinungsfreiheit als liberal und die Durchsetzung der Gesellschaft mit qualifizierten Kulturfremden und illegalen Migranten als Bereicherung. ({1}) Das ist tragisch und gefährlich zugleich; denn gerade die aktuellen Krisen zeigen: Jawohl, die EU ist in Gefahr, und die Kommission ist auf dem falschen Weg und überhaupt nicht vorbereitet. Es gibt keine vernünftige Antwort auf die Migrationskrise an der Außengrenze. Es gibt keine Antwort auf die Rezession, die wir seit Jahren sehen und die durch Corona noch weiter verstärkt werden dürfte. Und es gibt keine Antwort auf die erheblichen Unstimmigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten und den Vorstellungen der Europäischen Kommission. Von der Leyen hat eine tief zerrüttete Europäische Union geerbt und spaltet sie noch weiter. ({2}) Diese EU-Kommission handelt nicht im Interesse der Bürger. Sie orientiert sich vor allem an zwei internationalen Abkommen – das geht sehr deutlich aus dem Programm hervor –, an dem Klimaschutzabkommen von Paris und der Agenda 2030 der Vereinten Nationen. Der Kernbegriff dieser beiden Dokumente ist der Begriff der Transformation. Transformation meint hier nicht einen Wandel, der von unten kommt, demokratisch, durch die Wirtschaft usw., sondern eine Umgestaltung der Wirtschaft und Gesellschaft von oben. Man träumt von der neuen Gesellschaft, von der neuen Wirtschaftsordnung, die ja dann so viel gerechter ist als die alte und als Vorbild für die ganze Welt dienen kann. Dahinter steckt eine eiskalte Agenda der Globalisierung, des Wohlstandsabbaus und der Umverteilung von Reich nach Arm. ({3}) Damit kennen Sie sich besonders gut aus, liebe Kollegen von den Linken; sie diskutieren neuerdings darüber, ob man Reiche lieber erschießen oder vorher noch zwangsarbeiten lassen sollte. Damit sind Sie voll auf der Höhe der Zeit: „Den Sozialismus in seinem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf.“ ({4}) Der kommt neuerdings vom Hof auf den Tisch, aber zu dieser fragwürdigen Strategie wird später Stephan Protschka noch einiges sagen. ({5}) Ein großes Problem für Europa ist der European Green Deal. Er ist ja der Schlüssel für diese Transformationsstrategie, die ich hier kritisiere. Da wird den Leuten eingeredet, sie müssten jetzt sofort CO2 sparen. Über 1 Billion Euro, ein Viertel der EU-Mittel – Steuerzahlermittel natürlich –, werden in den nächsten zehn Jahren versenkt, und die Bürger werden mit Verboten überschüttet: Verbote von Autos, Verbote von Heizsystemen, Verbote von nicht gedämmten Wohnhäusern. Da frage ich mich: Die Bürger sind doch schon heute in Finanznöten. Sie können sich schon heute kein neues Auto leisten bzw. kein neues Dach. Wie sollen sie dann eine Heizung ersetzen, die ihnen letztendlich vor der Nase verboten wird? Damit das auch so passiert, gießt die EU das alles in Gesetze. Sie will ein Klimagesetz verabschieden. Dabei hat Brüssel aber gar kein Gesetzgebungsrecht. Die Brüsseler Exekutive erhebt sich einfach über die national demokratisch gewählten Legislativen und macht dann eben einfach einmal ein Gesetz. Das ist ein Verfassungsbruch ersten Ranges. ({6}) Wer aufmuckt, der – ganz oben im Programm – erntet die Rache des Rechtsstaatlichkeitsmechanismus und des Europäischen Aktionsplans für Demokratie. Da werden dann neuerdings Fake News von der Wahrheit getrennt und sollen verschwinden. Was die Wahrheit ist, definiert natürlich Brüssel, übrigens auch, welche Mitgliedstaaten die sogenannten europäischen Werte teilen. Wenn Sie glauben, dass die europäischen Werte noch etwas mit Demokratie zu tun haben, dass man also eine Meinung hat und dieser in Wahlen Ausdruck verleiht, dann sage ich Ihnen: Nein. „Unsere europäische Lebensweise gründet sich auf die Werte Solidarität, Gleichheit und Fairness.“ Aha. Wir sind jetzt alle gleich, international solidarisch und fair. Deswegen will Ursula von der Leyen möglichst bald eine Währungs- und Bankenunion, eine europäische Arbeitslosenrückversicherung und einen neuen Migrations- und Asylpakt. Hauptsache, die Deutschen zahlen den anderen die Sozialleistungen. ({7}) Aber wissen Sie, Herr Birkwald, was bei der Solidarität nicht erwähnt wird? Die Solidarität mit den eigenen Leuten spielt keine Rolle. Die Solidarität mit den wirklichen Bedürfnissen der Mitgliedstaaten, insbesondere derjenigen, die mit Muttis Migranten gerade im Stich gelassen werden, spielt keine Rolle. Das ist alles andere als fair und solidarisch. ({8}) Es geht hier nur um eine Transformation gegen unseren Wohlstand, gegen unsere Demokratie, gegen unsere Verfassung, gegen unsere Bürger, gegen unser Volk, ({9}) und wir werden laut und immerfort Nein sagen zu dieser Transformation. Wir werden Nein sagen zu dieser Transformation – anders als die FDP. ({10}) Das ist nicht die EU des Friedens und der Zusammenarbeit, die die Menschen wollen und für die wir stehen. ({11}) Wissen Sie, das einzig Beruhigende ist: Die Chefin der ganzen Nummer ist Ursula von der Leyen. Wir wünschen ihr von Herzen so viel Qualität und Erfolg wie in ihrem Amt als Verteidigungsministerin; denn wenn sie da genauso versagt wie dort, haben die Bürger Europas ein großes Problem weniger. ({12}) Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({13})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Gunther Krichbaum. ({0})

Gunther Krichbaum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003573, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Herr Kleinwächter, es gab früher – die Älteren werden sich daran erinnern – eine Werbung mit dem HB-Männchen. Wenn ich Ihnen zuhöre, fühle ich mich unweigerlich daran erinnert. ({0}) Wenn Sie hier von „Spaltung“ reden – Sie werfen der Kommission bzw. Frau von der Leyen Spaltung vor –, kann ich Ihnen nur sagen: Wenn hier einer Europa spaltet, dann sind es die rechtspopulistischen Parteien, die ganze Bevölkerungen, Länder, Gruppierungen gegeneinander ausspielen. Sie setzen auf Hetze. Sie setzen mit ihrer Rhetorik darauf, dass genau das, was Europa vorangebracht hat, nämlich die Friedenssicherung, verspielt wird. Da können Sie nur mit unserem allerentschiedensten Widerstand rechnen. ({1}) Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Kommission hat ein sehr engagiertes Arbeitsprogramm auf den Tisch gelegt. Es hört sich fast etwas buchhalterisch an, wenn ich Ihnen sage, dass es 43 politische Initiativen, 28 neue legislative Vorhaben und 126 mit Priorität zu behandelnde laufende Gesetzesvorhaben sind. Damit wird im Übrigen auch sehr schnell die Frage beantwortet, was die deutsche Ratspräsidentschaft – das war kürzlich hier ein Debattengegenstand – ausmachen wird. 90 Prozent dieser Legislativvorhaben werden die Zeit unserer Ratspräsidentschaft ausfüllen. Da steht uns natürlich einiges bevor. Im Stakkato nenne ich die einzelnen Stationen – Kollege Schäfer ist bereits darauf eingegangen –: Erstens: der europäische Green Deal, CO2-Neutralität bis zum Jahr 2050, gestern auch verbindlich als Ziel endgültig festgeschrieben. Zweitens: ein Europa im digitalen und für das digitale Zeitalter mit einem Initiativpaket zum Wandel der digitalen Welt, bestehend aus einer Mitteilung zum Weißbuch für künstliche Intelligenz. Eine neue Industriestrategie, insbesondere auch eine neue Mittelstandsstrategie wird dieses Themenfeld ausfüllen. Drittens: eine Wirtschaft, die im Dienste der Menschen steht. Hier geht es nicht darum, dass die Europäische Kommission die Mindestlöhne in Europa harmonisieren möchte, sondern es geht um die Schaffung und um Vorschläge für gerechte Mindestlöhne – das ist ein großer Unterschied – und den Ausbau der Jugendgarantie. Wir machen uns mitunter zu wenig Gedanken darüber in einem Land, in dem die Jugendarbeitslosigkeit glücklicherweise sehr niedrig ist, eine der niedrigsten in ganz Europa. Das gibt es so in vielen anderen Ländern nicht, vor allem in der südlichen Hemisphäre. Viertens: ein stärkeres Europa in der Welt. Man möchte eine geopolitische Kommission werden. Hier geht es insbesondere um die Frage der Erweiterung. Hier möchten wir als Europäische Union glaubwürdige Signale in Richtung Albanien und Nordmazedonien senden. Es geht um den freien und fairen Handel, es geht aber auch um die Europäische Nachbarschaftspolitik, um Afrika, ein Kontinent, den wir über Jahrzehnte hinweg sträflich vernachlässigt haben. Fünftens: die Förderung unserer europäischen Lebensweise, neuer Migrations- und Asylpakt, neue Strategie für eine Sicherheitsunion, Einsatz zum Gesundheitsschutz. Hier geht es insbesondere um Pläne der Krebsbekämpfung und um den Kampf der hybriden Bedrohungen – um das nicht ganz zu vergessen – einschließlich Cybersicherheit. Sechstens: neuer Schwung für die Demokratie in Europa. Dahinter verbirgt sich das Thema der Rechtsstaatlichkeitskultur. Das ist ein Thema, das uns hier im Deutschen Bundestag übergreifend sehr, sehr wichtig war. ({2}) Ja, es ist ein ambitioniertes Programm, aber es gibt auch viele Themen, zu denen das Programm nichts sagt. Zunächst in sicherlich kluger Zurückhaltung wenig zum Thema des sogenannten mehrjährigen Finanzrahmens. Wir sind daran interessiert – müssen dies auch sein –, auch als Deutscher Bundestag, dass der mehrjährige Finanzrahmen bald gelöst wird. Haben wir diesen nämlich bis zum 1. Januar 2021 nicht auf dem Tisch, dann haben wir Abbruchkanten bei bestimmten Positionen, beispielsweise bei Frontex, bei Forschung und Innovation und auch bei Erasmus. Mit anderen Worten: Es fließt dann definitiv kein Geld mehr. Sicherlich müssen wir uns als Bundestag diesen Themen, was den Zeitplan angeht, noch stärker widmen. Wir stehen aber auch vor der Frage, ob die Aufgaben den Ausgaben folgen oder ob es umgekehrt ist, dass die Ausgaben den Aufgaben folgen müssen. Ich glaube, Letzteres ist richtig. Wir brauchen ein Mehr an Europa. Dieses Mehr an Europa wird nicht mit weniger Geld zu erreichen sein. Das wird nicht funktionieren. Salopp gesprochen: Am Ende kann Europa auch nur den Sprit verfahren, den wir als Mitgliedstaaten ihm in den Tank füllen. Das heißt, wir müssen uns auch darüber Gedanken machen: Welche Aufgaben sind europäische, und welche sind die richtigen? Das wird sehr schnell deutlich, wenn wir uns gedanklich in die Lage versetzen, wir müssten dieses Europa heute neu erfinden. Wir würden mit Sicherheit nicht mit der Landwirtschaft beginnen. Das war im letzten Jahrhundert, in den 50er-, 60er-Jahren, richtig, aber heute sind es drängende Themen wie Forschung, Entwicklung, Innovation, künstliche Intelligenz. Wie weit wir hier ins Hintertreffen geraten sind, zeigt die bereits in diesem Haus geführte Diskussion um 5G bzw. eine Beteiligung der fernöstlichen Staaten. Allein dass wir die Diskussion führen, zeigt, dass wir in Sachen Wettbewerbsfähigkeit deutlich zulegen müssen. Das heißt, wir müssen hier als Europäer und als nationale Mitgliedstaaten unsere Hausaufgaben machen. Als letzter Satz sei mir gestattet: Ich hätte gerne noch etwas zum Thema europäische Kultur gehört. Hierzu hat die Europäische Kommission in ihrem Arbeitsprogramm leider keinen einzigen Satz verloren. Das finde ich schade. Vielleicht kann man an dieser Stelle noch einmal nacharbeiten. Herzlichen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Michael Georg Link für die FDP-Fraktion. ({0})

Michael Link (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003802, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Präsidentin von der Leyen hat für 2020 einen sehr ambitionierten Plan vorgelegt. Wir Freie Demokraten wollen die Kommission vor allem daran messen, ob ihr Arbeitsprogramm die EU tatsächlich einerseits ökologisch nachhaltiger und andererseits gleichzeitig wirtschaftlich wettbewerbsfähiger macht. Da ist es kontraproduktiv – lassen Sie mich gleich ganz konkret werden –, wenn sich die Kommission jetzt verstärkt mit dem Thema „europäische Mindestlöhne“ befassen will. Lassen Sie mich klar und deutlich sagen: Hier verhebt, hier verzettelt sich die Kommission. Die Frage der Findung sowohl fairer als auch wettbewerbsfähiger Mindestlöhne fällt in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Sie ist keine Gemeinschaftsaufgabe. ({0}) Unter den Gesichtspunkten der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit wäre die Kommission gut beraten, hier nicht gesetzgeberisch tätig zu werden, die Hände davon zu lassen. Von der Leyen hat den Green Deal zur Chefsache erklärt. Sinnvoller wäre es aus unserer Sicht jedoch, die Ausweitung des erfolgreichen Emissionshandels auf alle Verursacher von Treibhausgasen voranzutreiben. Durch eine Ausrichtung des jährlichen CO2-Limits beim Emissionshandel auf das Ziel der Klimaneutralität 2050 wäre sichergestellt, dass dieses wichtige Ziel garantiert erreicht würde. Die parlamentarischen Mitwirkungsrechte dürfen beim Klimaschutz übrigens auch nicht auf der Strecke bleiben – ein wichtiger Punkt, der in der Debatte noch nicht erwähnt wurde. Deshalb sollten auch delegierte Rechtsakte, die berühmte Komitologie, also das vereinfachte Gesetzgebungsverfahren, durch die Kommission allein die absolute Ausnahme bleiben. Klimaschutzdebatten gehören in die Öffentlichkeit, nicht in technische Verwaltungsgremien. ({1}) Frau von der Leyen spricht erfreulicherweise von einer geopolitischen Kommission, aber die Stärkung des Europäischen Auswärtigen Dienstes bleibt auf der Strecke. Im Gegenteil, seine Zuständigkeiten werden verwaschen. Von der Leyen und der Ratspräsident Michel sind international viel aktiver als ihre Vorgänger. Das ist gut. Aber damit steigt auch die Notwendigkeit der Abstimmung. Diese geht nur durch einen starken Europäischen Auswärtigen Dienst und einen starken Hohen Vertreter. Der wird leider gerade nicht gestärkt. ({2}) Dann gibt es die Sorge einer völlig unzureichenden Finanzierung der Bereiche Außen- und Sicherheitspolitik im neuen EU-Haushalt. Dem Europäischen Verteidigungsfonds droht eine finanzielle Bauchlandung erster Klasse. Europol und vor allem Frontex sind gemessen an den Aufgaben völlig unterfinanziert. Dabei haben wir alle doch die Bilder von der griechisch-türkischen Grenze vor Augen. ({3}) Mein Kollege Konstantin Kuhle wird nachher darauf eingehen. ({4}) Die Rechtsstaatsberichte begrüßen wir ausdrücklich von unserer Seite. Dass hier die Kommission für alle Länder tätig wird, ist sicherlich sinnvoll. Es ist gut und wichtig; denn alle Mitglieder müssen sich an die gleichen Rechte halten und haben die gleichen Pflichten, nicht nur die neuen Mitglieder, auch die Gründungsmitglieder. Enttäuschend ist jedoch, dass die Kommission zum Thema „Beitritt der EU zur Europäischen Menschenrechtskonvention“ völlig schweigt. Kolleginnen und Kollegen, die Debatte um die Zukunft Europas läuft. Dieses Jahr wird uns der Fortgang des Brexits noch intensiv beschäftigen. Boris Johnson ist anscheinend seiner eigenen Propaganda zum Opfer gefallen: der Rückkehr zur nationalen Souveränität als Allheilmittel. Aber weder Großbritannien noch Deutschland können sich verhalten, als ob sie eine große Schweiz wären. Gerade die Schweiz will unbedingt Teil des Binnenmarktes bleiben. Kein Geringerer als ifo-Chef Clemens Fuest hat kürzlich darauf hingewiesen, dass die Alternative „nationale Souveränität versus europäische Souveränität“ eine Selbsttäuschung ist. Angesichts der Welt, in der wir leben, lautet die richtige Alternative vielmehr: europäische Souveränität oder gar keine Souveränität mehr. Wir wollen eine starke und geeinte EU. Wir wollen kein Spielball Dritter sein. Subjekt oder Objekt internationaler Politik – das ist die Wahl, vor der wir stehen. Wir brauchen eine EU, die in der Lage ist, schrittweise mehr öffentliche Aufgaben zu übernehmen, vor allem im Bereich der inneren und äußeren Sicherheit, ein starkes Europa, das Menschen und ihre Rechte schützt. Das ist ein Ziel, für das es sich zu kämpfen lohnt, nach dem Brexit mehr denn je. Ich danke Ihnen. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Die Linke hat nun der Abgeordnete Alexander Ulrich das Wort. ({0})

Alexander Ulrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003858, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Europa ist in einer schweren Krise. Der Brexit, die Entscheidung, dass Großbritannien die Europäische Union verlässt, hat das noch einmal deutlich gemacht. Ich glaube, dass auch die Europäische Union in einer Krise ist. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten, dass auf ihre Lebenslagen entsprechend reagiert wird. Wir Linke haben immer gesagt: Europa wird nur dann eine Zukunft haben, wenn wir den Menschen dienen, und Europa wird von den Menschen nur angenommen, wenn Europa sozial gestaltet wird. ({0}) Jetzt nimmt die Europäische Union eine Forderung von linken Parteien auf – ich schließe da die SPD gerne ein –, ({1}) einen europäischen Mindestlohn umzusetzen. Nun kommt die FDP sofort wieder und sagt: Die Europäische Union soll die Hände davon lassen. ({2}) Herr Link, ich habe es Ihnen gestern schon im Ausschuss gesagt: Dumpinglöhne, Löhne, von denen man nicht leben kann, sind kein Wettbewerbsvorteil, das ist unmenschlich. ({3}) Produkte und Dienstleistungen sollen sich über Qualität, über Innovation und Schnelligkeit auszeichnen, aber nicht durch einen Wettbewerb um die unfairsten Löhne. Deshalb hoffen wir, dass die Europäische Union wirklich an dieses Thema rangeht. Wir brauchen einen europäischen Mindestlohn, der in Ungarn natürlich anders ist als in Luxemburg. In Deutschland muss er auf 12 Euro angesetzt werden. Wir sagen: 60 Prozent vom Durchschnittslohn des jeweiligen Landes, das wäre ein Mindestlohn, über den man reden kann. ({4}) Die Europäische Union ist auch deshalb in einer Krise, weil sie nicht mehr versteht, für die europäischen Werte zu kämpfen. Wenn man sich die Bilder von der griechisch-türkischen Grenze anschaut, wo Menschenrechte mit Füßen getreten werden, wo mit Tränengas und Blendgranaten und auch scharf auf Flüchtlinge geschossen wird, dann schämt man sich, ({5}) dass die Europäische Union so schändlich mit Menschen in Not umgeht. ({6}) Man schämt sich auch, wie Ursula von der Leyen vorgestern als Kommissionspräsidentin aufgetreten ist. Sie hat nichts zu dieser Situation gesagt. Sie hat nur etwas von Frontex gesprochen und von noch mehr Grenzsicherung. Den Menschen muss geholfen werden. Wir haben die Verpflichtung, diesen Menschen zu helfen. Die Europäische Union muss endlich handeln. ({7}) Ich sage auch: Wenn Europa die Antwort sein soll auf Probleme, die die einzelnen Länder nicht mehr lösen können, dann frage ich mich und auch die die Regierung vertretenden Parteien: Warum gibt es seit fünf Jahren keine Lösung in der EU-Flüchtlingspolitik? Warum haben wir keinen Verteilmechanismus mit anderen Ländern? ({8}) Warum fällt es uns jetzt wieder auf die Füße, dass wir nicht wissen, wie die Menschen fair in Europa verteilt werden können? Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Wenn wir so weitermachen, werden wir nie eine Lösung bekommen. Europa darf keine Einbahnstraße sein. Wer von Europa Solidarität verlangt wie osteuropäische Länder, muss auch Solidarität zeigen. ({9}) Wer Solidarität verweigert, dem muss der Geldhahn zugedreht werden. Wir brauchen ganz schnelle Lösungen. Das Arbeitsprogramm der Kommission hört sich von den Überschriften her gut an, aber die Frage ist immer: Ist das am Ende auch umsetzbar, und wie will man es umsetzen? Der Green Deal ist zunächst eine tolle Sache – ja, wir stehen dazu, wir wollen eine CO2-freie Wirtschaft und Lebensweise –, aber die Schritte dorthin sind viel zu zaghaft. Man hat mal wieder alles in die Zukunft geschoben, in das Jahr 2050, ohne konkrete Zwischenziele, ohne belastbare Maßnahmen, die die einzelnen Länder umsetzen müssen. Deshalb glaube ich schon, dass mehr getan werden muss, als Überschriften zu liefern. Zu den Mitteln, die man zur Verfügung stellen will. Es kommt mir so vor, als ob jemand ein Haus bauen will, aber nur Geld für die Dachziegeln hat, und dann erwartet, dass das Haus schon irgendwie gebaut wird. So ist es auch mit der Ankündigung der Kommission zum Green Deal. Hier muss viel mehr Geld investiert werden in eine Transformation der Wirtschaft. ({10}) Zum Green Deal. Wer klimafreundlich agieren will, der muss sich auch in anderen Politikfeldern daran messen lassen. Als Beispiel nenne ich die Handelsverträge mit Mercosur. Was ist daran klimafreundlich, wenn der Handelsvertrag dazu führt, dass der Regenwald in Brasilien abgeholzt wird und noch mehr Agrarprodukte über Tausende Kilometer nach Europa gebracht werden? Das ist doch nicht klimafreundlich, das ist das Gegenteil davon. Solche Verträge werden abgeschlossen, weil die wirtschaftlichen Interessen immer noch vor Klimaschutz gehen. ({11}) Herr Altmaier, Herr Wirtschaftsminister, Sie sind anwesend, das freut mich. Wenn man Klimaschutz tatsächlich will, muss man auch über die deutsche Stahlindustrie reden. In Ihrem Bundesland haben sich vor Kurzem wieder die Stahlkumpel auf den Weg nach Brüssel gemacht und dort eine Resolution übergeben, weil sie es langsam leid sind, dass nichts passiert. Wir laufen Gefahr, dass die deutsche Stahlindustrie, die nachweislich am saubersten ist, nicht mehr wettbewerbsfähig ist, weil die EU nicht in der Lage ist, über Handelsverträge Dumpingstahl aus anderen Ländern höher zu bezollen, damit der Stahl aus Deutschland eine Chance hat. ({12}) Der deutsche Wirtschaftsminister muss endlich deutlich machen, dass wir in diesem Jahr zu Ergebnissen kommen müssen. Wir haben das auch schon im Wirtschaftsausschuss sehr oft von Ihnen gefordert. ({13}) Ein letzter Punkt. Wenn wir die Wirtschaft transformieren wollen, wird es auch Verwerfungen geben. Das werden wir in Deutschland erleben bei der Automobilindustrie, bei der Zulieferindustrie usw. Deshalb ist es dringend notwendig, dass die EU-Kommission das Beihilferecht verändert, Herr Altmaier. Wir sind heute in einer Situation, dass Regionen erst in eine Krise kommen müssen, damit das Beihilferecht greift. Wir brauchen eine Abkehr davon. Wenn wir sehen, dass es Probleme geben wird, dann muss das Beihilferecht entsprechend geändert werden, damit es greifen kann. ({14}) Die deutsche Bundesregierung muss die deutsche Ratspräsidentschaft nutzen, damit wir hier endlich vorankommen. ({15}) Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. – Europa ist in einer tiefen Krise, und die Bundesregierung ist daran mit schuld. Man kann das nicht immer wegschieben; denn dass Europa funktioniert, hängt auch von der Bundesregierung ab. Deswegen wäre es gut, wenn man den Koalitionsvertrag, der Europa in den Vordergrund gestellt hat, endlich umsetzen würde. Das würde auch bedeuten: Europa braucht viel mehr Geld, auch vom deutschen Haushalt. Vielen Dank. ({16})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat Dr. Franziska Brantner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Franziska Brantner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004255, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Vor einem Monat hat die Europäische Kommission ihr ambitioniertes Arbeitsprogramm vorgelegt: 43 neue Vorhaben vor allen Dingen für Klima, Digitalisierung und Soziales. Doch all diese Vorhaben haben nur eine Chance, wenn die Mitgliedstaaten auch mitziehen. Allen voran Sie, liebe Bundesregierung, haben eine besondere Verantwortung dafür mit der kommenden Ratspräsidentschaft ab Juli dieses Jahres. Dieser Verantwortung werden Sie bisher nicht gerecht. Bis jetzt haben Sie noch kein Programm mit Prioritäten für die Ratspräsidentschaft vorgelegt. Bis jetzt war Ihre Ausrede: Wir warten auf das Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission. – Darüber diskutieren wir heute. Ich hatte gedacht: Das ist jetzt der Anlass, dass die Regierung ankündigt, was ihr Plan, ihre Ziele, ihre Prioritäten für diese Ratspräsidentschaft sind. Bis jetzt habe ich leider von niemandem aus dieser Koalition auch nur ansatzweise gehört, was der Plan ist. Das ist wirklich eine vertane Chance. ({0}) Da, wo Sie einen Plan haben, torpedieren Sie schon jetzt die Umsetzung. Beispiel Green Deal: Gestern hat die Europäische Kommission ein Europäisches Klimagesetz vorgelegt, das ambitionierter ist als Ihr eigenes. Und was machen Sie, Herr Altmaier? Sie schreiben einen Brief an Herrn Timmermans und fordern die Europäische Kommission darin auf, die Automobilindustrie aufgrund höherer CO2-Grenzwerte von den Regelungen auszunehmen. Das ist genau das Gegenteil dessen, was wir jetzt brauchen, Herr Altmaier. ({1}) Es freut mich, dass Sie der AfD dafür danken, dass sie Ihnen dafür applaudiert. Ich würde mich dafür bedanken, wenn Sie etwas tun, damit die Automobilindustrie in Deutschland wirklich vorankommt und zukunftsfähig ist. Das ist nämlich die Herausforderung, die wir alle zu stemmen haben. ({2}) Zwölf Staaten fordern ein rasches, neues CO2-Ziel für 2030, darunter Frankreich, Italien und Spanien, also eine ganze Reihe von Ländern. Was machen Sie? Sie setzen auf Stillstand statt Dynamik. Sie sind nicht an der Speerspitze dabei, sondern blockieren, Sie bremsen aus. Ändern Sie endlich diese Haltung und gehen Sie voran. Seien Sie in der Poleposition in Europa für Innovation und unsere Zukunft. Bewegen Sie sich endlich. ({3}) Wir wissen, dass große Aufgaben einen starken Haushalt brauchen. Der Green Deal wird ohne neuen Haushalt nur eine Luftnummer werden. Der letzte EU-Gipfel ist auch gescheitert, weil Sie auf Ihrer De-facto-Kürzung des europäischen Haushaltes bestanden haben. Sie verharren im Klein-Klein, statt endlich die Potenziale einer handlungsfähigen EU auszubauen. Sie fahren ständig die Strategie des Status quo, statt Europa wirklich zu stärken. Das ist in diesen Zeiten, wo die Welt so unruhig ist, wo wir alle wissen, dass wir ohne Europa keine Chance haben, wirklich unverantwortlich. Gehen Sie endlich mit den anderen Ländern, die vorangehen wollen, für ein starkes Europa, auch im Haushalt. Das betrifft noch nicht einmal 1 Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung, genauer 0,7 Prozent. Wir geben im Verteidigungsbereich 1,4 Prozent aus, also doppelt so viel. Es ist wirklich nicht mehr erklärbar, warum wir für Europa nicht bereit sind, in Innovation und in unsere Zukunft zu investieren. ({4}) Erlauben Sie mir, am Ende auf die Frage „Was passiert eigentlich in Idlib?“ einzugehen. Wir diskutieren darüber in Deutschland erst jetzt, weil droht, dass Menschen, die von dort fliehen, bei uns vielleicht ankommen. Das ist schon die Schande an sich. ({5}) Wir wissen seit Wochen und Monaten, was in Idlib passiert, dass dort 1 Million Menschen auf der Flucht sind, weil Putin und Assad die zivile Bevölkerung, zivile Einrichtungen, Krankenhäuser und Schulen bombardieren. Und wir tun nichts. Es ist nicht in Europas Interesse, dass wir diese Frage Erdogan überlassen, sondern hier müssen wir Europäer vorangehen. Völkerrechtsverbrechen erfordern Sanktionen, individuelle Sanktionen gegen jene, die sie begehen: Einfrieren der Konten, keine Reisegenehmigungen, kein Skiurlaub in Sankt Moritz. Das wären Zeichen. Diese Zeichen könnten wir als Europäer setzen. ({6}) Sie haben gestern immer argumentiert, dass man Flüchtlinge, die jetzt in Griechenland sind, nicht aufnehmen könne, weil die anderen Europäer das nicht mitmachen würden. Das stimmt nicht.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin.

Dr. Franziska Brantner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004255, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Schweden, Luxemburg, Frankreich, alle wollen mitmachen. ({0}) Sie warten auf Deutschland, auf diese Regierung. Bewegen Sie sich endlich, damit wir europäisch vorankommen. Ich danke Ihnen. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Johannes Schraps für die SPD-Fraktion. ({0})

Johannes Schraps (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004881, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Jedes Jahr legt die Europäische Kommission ihr Arbeitsprogramm vor. Es ist die europäische Antwort auf alte und neue Herausforderungen, jedes Jahr wieder. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, in Zeiten der Hysterie – gerade beim zweiten Redner in der heutigen Debatte haben wir uns davon leider wieder überzeugen lassen müssen –, in denen ein Virus mancherorts zu Schulschließungen, zur Absage zahlreicher Groß- und Kleinveranstaltungen, in einigen Ländern sogar zum Stillstand des öffentlichen Miteinanders führt, in Zeiten, in denen Menschen in sogenannten sozialen Netzwerken tagtäglich von anderen Menschen mit Hetze überzogen werden, wo man sich jeden Tag auf jemand anderen stürzt, dessen Meinung oder dessen Gesicht einem nicht passt, in Zeiten, in denen es normal zu sein scheint, dass Parteibüros und manchmal auch private Häuser und Wohnungen ganz gezielt mit übelsten Schmierereien bemalt werden, in denen Autos von Menschen angezündet werden, in Zeiten, in denen auf Politiker und ihre Büros geschossen wird, in Zeiten, in denen Menschen, die sich politisch oder in anderen Bereichen für unsere Allgemeinheit engagieren, immer häufiger angegriffen, angefeindet und in einigen Fällen einfach erschossen werden – meist wird hier der Kasseler Regierungspräsident Lübcke genannt; aber leider gibt es auch weitere, weniger bekannte Fälle, wie den meines früheren Landrates Rüdiger Butte im Landkreis Hameln-Pyrmont, der mir persönlich in Sachen Aufrichtigkeit und Menschennähe immer ein Vorbild sein wird, auch wenn ihm genau diese Menschlichkeit und Nahbarkeit, die wir bei Politikern doch sehen wollen, zum Verhängnis geworden ist –, ({0}) in Zeiten, in denen Menschen mit Autos in Karnevalsumzüge oder andere Menschenansammlungen fahren, in Zeiten, in denen rassistische Menschen andere Menschen in Shishabars erschießen, weil ihnen ihr Aussehen irgendwie suspekt ist, in Zeiten, in denen Menschen ganz bewusst zu religiösen Einrichtungen fahren, um Massaker anzurichten, und dann, wenn sie glücklicherweise von schweren Holztüren aufgehalten werden, kurzerhand andere Menschen wegen ihrer ebenfalls vermuteten Andersartigkeit erschießen, in Zeiten, in denen Menschen in Flüchtlingslagern in der EU in unwürdigen Zuständen hausen müssen, weil wir leider immer noch kein funktionierendes europäisches Asylsystem haben, und andere Flüchtende an den europäischen Außengrenzen von Staatsführern als politisches Faustpfand missbraucht werden, während sie selbst in den Krieg ziehen und damit Instabilität und Inhumanität in der Region weiter anheizen, in Zeiten, in denen sich manchmal Menschen von anderen Menschen, die an vielen Stellen maßgeblich zu Hysterie, zu Hass und zu menschenverachtendem Umgang mit- bzw. häufig gegeneinander beitragen, in Ämter wählen lassen – an dieser Stelle wünsche ich dem gestern in Thüringen gewählten neuen Ministerpräsidenten für seine keineswegs leichte Aufgabe viel Erfolg –, ({1}) in solchen Zeiten brauchen wir bei vielen dieser Themen eine klare Haltung. Dennoch müssen wir erkennen, dass wir in der medialen Öffentlichkeit von einer Skandalisierung zur nächsten laufen. Da erscheint das Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission, über das wir heute diskutieren, bei aller schnelllebigen Hysterie unserer Tage absolut zu Recht als wohltuende Normalität, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Das Arbeitsprogramm der Kommission ist ein Zeichen dafür, dass die Europäische Union funktioniert, trotz Brexit und unabhängig davon, wie unterschiedlich die einzelnen EU-Kommissare gestrickt sein mögen. Es widmet sich vielen wichtigen globalen Herausforderungen. Axel Schäfer hat vor mir – Angelika Glöckner wird das gleich sicherlich auch machen – viele wichtige inhaltliche Aspekte und sozialdemokratische Forderungen angesprochen, die sich in diesem Arbeitsprogramm wiederfinden. Aus unserer Sicht können wir von Deutschland aus sehr viel Gutes zur Ausgestaltung dieser Themen beitragen. Deswegen sei mir heute dieser moralische Appell gestattet: Lassen Sie uns hier im Haus dieses Arbeitsprogramm gemeinsam mit Leben füllen; denn nicht zum Hetzen oder Brandstiften sind wir in dieses Haus gewählt worden, sondern um uns sachlich mit Themen auseinanderzusetzen, um den demokratischen Kompromiss zu suchen, mit angemessenem Respekt voreinander, nicht hysterisch, sondern ruhig und besonnen. Vielen herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Stephan Protschka für die AfD-Fraktion. ({0})

Stephan Protschka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004858, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Gott zum Gruße, Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste hier im Hohen Haus! Es ist wirklich bemerkenswert, dass im Arbeitsprogramm der EU für das Jahr 2020 die Gemeinsame Agrarpolitik überhaupt nicht berücksichtigt wird. Mehr als 40 Prozent des landwirtschaftlichen Einkommens stammen aus diesen Ausgleichszahlungen. Würden diese schlagartig wegfallen, würde das das Höfesterben dramatisch beschleunigen. Außerdem sind ohne die GAP auch die hohen Naturschutz-, Umweltschutz- und Tierschutzleistungen und eine positive ländliche Entwicklung momentan undenkbar. Sind das alles plötzlich keine Schwerpunkte der EU mehr? Die Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik verdient die höchste Priorität und nicht der komische Green Deal. ({0}) Aber immerhin findet man noch einen Satz zur europäischen Landwirtschaft im Arbeitsprogramm. Die Vom-Hof-auf-den-Tisch-Strategie soll die Bauern dabei unterstützen, qualitativ hochwertige, sichere, aber gleichzeitig auch billige Lebensmittel zu produzieren. Natürlich soll das Ganze nachhaltig sein und mit einem guten Einkommen für die Landwirte verbunden sein. Meine Damen und Herren, zu meiner Schulzeit hieß das: Wirtschaft sechs, setzen! ({1}) Ich kann nicht billig produzieren und gleichzeitig viel Geld verdienen. Bislang hört man aus Brüssel immer nur, dass der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln und Düngemitteln drastisch reduziert werden muss. Das sind grundsätzlich gute Ideen; aber aktuell sollte man davor vielleicht ein bisschen warnen. Wir leben in Zeiten von Heuschreckenplagen, Dürreperioden und gestörten Lieferketten infolge des Coronavirus. Das zeigt uns aktuell die Schwäche unserer Importabhängigkeit, meine Damen und Herren. Unser Ziel muss die Gewährleistung der Ernährungssicherheit sein. Das gelingt garantiert nicht dadurch, dass die EU unsere Landwirte zerstört. Danke schön. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Abgeordnete Florian Hahn für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Florian Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004048, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unsere frühere Kollegin Ursula von der Leyen, die jetzt Präsidentin der Europäischen Kommission ist, hat, wie versprochen, zügig ihr Arbeitsprogramm für das Jahr 2020 vorgelegt. Das Programm ist keine Überraschung, folgt es doch den Leitlinien, die sie bei ihrer Bewerbungsrede vor dem Europäischen Parlament im vergangenen Jahr vorgetragen hat. Oberste Priorität hat für die Europäische Kommission der europäische Green Deal, mit dem von der Leyen künftig eine führende Rolle Europas in Bezug auf die Herausforderungen in den Bereichen Klima-, Umwelt- und Energiepolitik anstrebt. Dazu wird ein ganzer Reigen ambitionierter Initiativen angekündigt. Die ersten liegen schon vor. Gestern kam der Vorschlag für ein Klimagesetz. Ich stelle fest: Die Kommission arbeitet und liefert. Aber jetzt ist es auch unsere Aufgabe, genau hinzuschauen. Wenn ich sehe, dass die Kommission sich durch eine Vielzahl von delegierten Rechtsakten einen Persilschein ausstellen möchte und sich sozusagen am Parlament vorbei die Ermächtigung für den Erlass spezieller Regelungen verschaffen will, dann ist Obacht geboten. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die nationale, die parlamentarische Mitsprache darf nicht gefährdet werden, auch nicht beim Green Deal. Weitere Schwerpunkte setzt die Kommission im Bereich Handel mit einer neuen Initiative zur WTO-Reform. Mit Blick auf die Handelspraktiken einiger Länder ist das auch dringend notwendig. Im Finanzbereich will sie zu einer Vertiefung der Kapitalmarktunion beitragen. Das ist alles schön und gut. Aber ich sage auch ganz klipp und klar an dieser Stelle: Mit uns wird es keine weitere Vergemeinschaftung von Schulden, wird es keine Haftung deutscher Sparer für Schuldner in anderen Teilen Europas geben. ({1}) Im Sozialbereich werden Initiativen zum Mindestlohn und zur Einführung einer Arbeitslosenrückversicherung angekündigt. Auch hier ist es kein Geheimnis, dass wir als Union davon wenig halten; hier gilt für uns der Koalitionsvertrag. ({2}) Mittlerweile liegt auch die Digitalisierungsstrategie vor; sie wird flankiert von einem „Weißbuch zur Künstlichen Intelligenz“. Damit will die Kommission einen breiten Konsultationsprozess in Europa anstoßen, der bis Mitte Mai vonstattengehen soll. Als Koalitionsfraktionen werden wir uns an diesem Prozess entsprechend beteiligen. Darüber hinaus soll Europa nach dem Plan der Kommission in der Welt sichtbarer werden, zum Beispiel mit einer Afrika-Strategie – dies zeigt die geopolitische Ausrichtung der EU-Kommission unter der Präsidentschaft von der Leyen –; hierbei kann sie auf uns zählen. Positiv möchte ich bewerten, dass die EU-Kommission mit den neuen Vorschlägen zur Migration in die festgefahrenen Verhandlungen Bewegung bringen möchte. Das ist im Augenblick mehr als dringend geboten. Meine Damen und Herren, das Arbeitsprogramm soll die Initiativen der Europäischen Kommission strukturieren und terminieren. Das ist ein Plan für das laufende Jahr. Aber es gibt Aufgaben, vor die sich Europa plötzlich, sozusagen außerplanmäßig, gestellt sieht. Die aktuelle Flüchtlingskrise ist ein Beispiel dafür. Hier ist Europa gefordert. Wir müssen gemeinsam mit den Türken eine Lösung finden. Dabei darf es jetzt keine nationalen Alleingänge geben. Solidarität mit Griechenland ist dringend notwendig. Ordnung und Humanität sind notwendig. Ohne Ordnung kann es keine Humanität geben. Deshalb müssen wir alles daransetzen, die Außengrenze Europas zu schützen – mit mehr Personal, mit mehr Material, mit mehr Geld. Wir brauchen geordnete Verhältnisse und müssen den Menschen vor Ort noch besser helfen. Es würde die Stabilität Europas schwer erschüttern, wenn wir jetzt die Tore öffnen und alle reinwinken oder wenn wir jetzt anfangen – womöglich noch im Alleingang –, Kontingente aufzustellen und zuzuteilen. ({3}) Wir müssen unser Versprechen, dass sich 2015 nicht wiederholen wird, auch einhalten. Das Drama an der türkisch-griechischen Grenze verdeckt leider, wer für diese Misere mitverantwortlich ist. In Syrien hat sich eine unheilige Allianz gebildet, und Europa war nicht willens oder nicht in der Lage, dies zu verhindern. Daraus müssen wir endlich unsere Lehren ziehen. Abschließend möchte ich sagen: Die Europäische Kommission schreitet fleißig voran, wie das Arbeitsprogramm zeigt. Dabei wollen wir sie tatkräftig, aber nicht kritiklos unterstützen – im Interesse unseres Landes und im Interesse eines starken und einigen Europas, das wir dringender denn je brauchen. Herzlichen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun der Abgeordnete Konstantin Kuhle das Wort. ({0})

Konstantin Kuhle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004796, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn wir heute über das Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission für das Jahr 2020 diskutieren, dann können wir das nicht tun, ohne auch einen Blick auf die Situation in Griechenland zu werfen. Und das Bild, das die Europäische Union abgibt, insbesondere auf den Ägäischen Inseln, das ist nicht das Bild, das die Freien Demokraten von einer Europäischen Union haben, die eine Gemeinschaft der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts sein will. ({0}) Aus diesem Grund muss das Thema der Migrationspolitik ganz oben auf der Agenda der Europäischen Kommission für das Jahr 2020 stehen. Das hat etwas zu tun mit dem Thema Humanität, das hat aber auch etwas zu tun mit unserem Selbstverständnis als Rechtsgemeinschaft, und es hat etwas damit zu tun, dass wir die Errungenschaften der Europäischen Union verteidigen müssen dagegen, dass über das Thema der Migrationspolitik immer mehr Spaltung in Europa entsteht. Damit zusammen hängt insbesondere das Thema der offenen Binnengrenzen. Denn wir werden langfristig ohne Einigung und ohne Initiative dieser Kommission im Bereich der Migrationspolitik die offenen Binnengrenzen in Europa nicht verteidigen können, und das wäre ein schwerer Fehler und ein schwerer Verlust einer massiven, einer wichtigen Errungenschaft unserer gemeinsamen Europäischen Union. ({1}) Was ist zu tun? Die Europäische Kommission stellt in ihrem Arbeitsprogramm für das Jahr 2020 drei Prinzipien in den Vordergrund ihrer migrationspolitischen Agenda: Das Ganze soll robust sein, das Ganze soll human sein, und es soll wirksam sein. „Robust“ heißt aus Sicht der Freien Demokraten, dass Frontex und der gemeinsame europäische Grenzschutz wirksam funktionieren müssen, und zwar nicht nur personell, sondern auch finanziell, im Rahmen der mittelfristigen Finanzplanung. Hier muss eine Priorität, auch seitens der Mitgliedstaaten, gesetzt werden. „Robust“ heißt aus Sicht der Freien Demokraten auch, dass das Asylbüro der Europäischen Union, EASO, ausgebaut werden muss zu einer vollwertigen EU-Agentur, auf die sich die Mitgliedstaaten gerade an der südlichen Peripherie der Europäischen Union auch verlassen können. Meine Damen und Herren, „human“, „humanitär“ heißt aus Sicht der Freien Demokraten, dass man heute an der europäischen Außengrenze helfen muss. Es braucht von dieser Europäischen Kommission und von den Mitgliedstaaten ein Sofortprogramm in den Bereichen Hygiene, Infrastruktur und Gesundheit gerade auf den Ägäischen Inseln. Ich habe mir die Situation auf Lesbos vor einem Monat anschauen dürfen. Das ist eine unerträgliche Situation, die jetzt gerade noch schlimmer wird. Deswegen muss Frau von der Leyen nicht nur die türkisch-griechische Landgrenze besuchen und dort eine Solidaritätsadresse abgeben, sondern muss sich auch blicken lassen auf den Ägäischen Inseln und insbesondere Gelder zur Verfügung stellen in den Bereichen Hygiene, Infrastruktur und Gesundheit. ({2}) Meine Damen und Herren, „wirksam“, mit Blick auf eine europäische Migrationsagenda, heißt, dass die Mitgliedstaaten und die Europäische Kommission zusammenkommen müssen. Dafür hat gerade die Bundesrepublik Deutschland eine besondere Verantwortung im zweiten Halbjahr 2020, weil hier die Ratspräsidentschaft und die Präsidentschaft der Europäischen Kommission zusammenkommen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Kuhle, ich habe die Uhr angehalten und frage Sie, ob Sie eine Frage oder Bemerkung des Abgeordneten Hebner zulassen.

Konstantin Kuhle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004796, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein. – Und weil das so ist, weil wir eine besondere Verantwortung haben als Mitgliedstaaten, gerade als Bundesrepublik Deutschland in der zweiten Jahreshälfte 2020, kommt der Zusammenarbeit zwischen der Kommission und der Ratspräsidentschaft durch Deutschland eine besondere Verantwortung zu. Ich will als letzten Punkt noch sagen: Man kann ja – wie die Grünen es in dieser Woche vermehrt tun – für nationale Alleingänge sein, ({0}) und man kann dem auch Ausdruck verleihen, indem man Ursula von der Leyen im Europäischen Parlament als Kommissionspräsidentin ablehnt, wie Sie es gemacht haben. Man kann aber auch Verantwortung übernehmen und, wie Ursula von der Leyen, einen Schritt zugehen auf Staaten in Osteuropa, die das Ganze anders sehen. ({1}) Das will ich an die Adresse von den Grünen, aber auch an die Adresse von Ursula von der Leyen sagen: Wer sich –

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege.

Konstantin Kuhle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004796, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

– mit den Stimmen von Viktor Orban zur Kommissionspräsidentin wählen lässt, der hat eine Verantwortung, der hat aber auch eine Chance, unterschiedliche Auffassungen in der Migrationspolitik zusammenzubringen, und das ist das, was dieses Jahr passieren muss, –

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Kuhle, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Konstantin Kuhle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004796, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

– und das passiert nicht mit nationalen Alleingängen, wie sie die Grünen vorschlagen. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Zu einer Kurzintervention hat der Abgeordnete Hebner das Wort.

Martin Hebner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004740, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Kuhle, Sie haben eben gerade gesagt, dass Sie vor einem Monat auf Lesbos waren, und Sie haben von den unerträglichen Zuständen in den Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln berichtet. Ich war vor einem Monat auf Samos. Das Flüchtlingslager auf Samos ist zwölffach überbelegt. Die Zustände sind, analog wahrscheinlich, unerträglich; ich gebe Ihnen komplett recht. Sie haben allerdings in dem Fall eine Forderung gestellt, es müsse von der EU mehr Geld bereitgestellt werden. Ich will Sie nur darauf hinweisen: Das passiert. Ich weiß nicht, ob Sie den Fonds AMIF kennen, Asyl- und Migrationshilfen von der EU. Allein von diesem Fonds bekommt Griechenland jährlich 800 Millionen Euro. ({0}) Der Punkt ist: Diese Gelder kommen in den Lagern nicht an. Da gibt es übrigens – ich will Sie nur darauf hinweisen – einen sehr guten Bericht, in dem Falle von einer Grünenabgeordneten – ich will sie ganz kurz loben –, von Frau de Sutter im Europarat, die klar darauf hingewiesen hat, dass hier die Gelder nicht zielgerichtet ankommen und nicht verwendet werden. Frau de Sutter hat – das war vor gut einem Jahr – schon klar angesprochen, dass die Anti-Fraud-Behörde in Brüssel hier eingeschaltet werden muss. Ich kann Ihnen nur empfehlen: Erkundigen Sie sich dort mal, was das Ergebnis gewesen ist! Wir haben es hier mit einem griechischen Problem zu tun, und da nutzt es überhaupt nichts, wenn noch mal zusätzlich Geld reinkommt. Dass der Missstand behoben werden muss, steht völlig außer Frage; da gebe ich Ihnen komplett recht: Das geht nicht, das muss geändert werden. Aber bitte erkundigen Sie sich, bevor Sie pauschal Aussagen tätigen, was da wirklich Sachverhalt ist. Das macht so keinen Sinn, was Sie gesagt haben. Vielen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie haben die Möglichkeit zur Erwiderung.

Konstantin Kuhle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004796, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Kollege Hebner, ich begrüße das sehr, wenn Abgeordnete dieses Hauses sich auf den Weg machen, um sich vor Ort ein Bild zu machen. Vielleicht sollten Sie das nächste Mal die ganze Fraktion oder gleich die ganze Partei mal mitnehmen an die griechisch-türkische Landgrenze, auf die Ägäischen Inseln, ({0}) damit Ihnen mal klar wird, was das Thema Flüchtlingspolitik für eine Auswirkung hat auf die Situation in Deutschland und wie auch unser eigener Anspruch an unsere Rechtsgemeinschaft als Europäische Union, an unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung auf die Probe gestellt wird durch das, was da an der griechisch-türkischen Grenze passiert. Das ist meine erste Bemerkung. Zweitens ist es doch so, dass die AfD-Fraktion, wenn ich mich richtig erinnere, in jeder Hinsicht gegen finanzielle Unterstützungen ist, die dazu beitragen sollen, dass es keine zukünftigen Migrationsstürme und Eskalationen in Bezug auf die Bundesrepublik Deutschland gibt. ({1}) Ich bin vor zwei Jahren in der Türkei gewesen und habe mir dort ein mit europäischen Steuergeldern finanziertes Krankenhaus angeschaut, das dazu beiträgt, dass 3 Millionen syrische Flüchtlinge in der Türkei bleiben. Ich will Ihnen was sagen: Das ist genau richtig; denn es ist besser, wenn die syrischen Flüchtlinge in der Türkei bleiben und dort versorgt werden und sich nicht auf den gefährlichen Weg nach Europa machen. Es gibt aber in diesem Haus leider Protagonisten, die unbedingt wollen, dass sich diese Flüchtlinge auf den Weg nach Europa machen, und das ist Ihre Fraktion, ({2}) weil Sie davon leben, weil Sie das brauchen, weil ungeregelte Migration das ist, was Sie sich am sehnlichsten wünschen. ({3}) Wir sind dagegen der Auffassung, dass eine finanzielle Unterstützung – auch im Rahmen eines aktualisierten EU-Türkei-Deals – richtig ist, um die syrischen Flüchtlinge dort zu versorgen, wo eine heimatnahe Versorgung in Sicherheit möglich ist. Natürlich ist es richtig, dass das Ganze stattfindet. Ich will Ihnen noch abschließend sagen: Mir ist auf Lesbos klar geworden, dass das, was da derzeit passiert, einfach nicht ausreicht; es kommt nicht hinreichend an. Ja, es gibt Abstimmungsschwierigkeiten zwischen der griechischen Zentralregierung und der Lokalregierung. Wir haben mit beiden gesprochen. Aber es reicht nicht aus. Es ist Zeit, zu handeln. Ihre Feigenblattreise ändert daran gar nichts. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Wir fahren mit der Debatte fort. Das Wort hat der Kollege Manuel Sarrazin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Manuel Sarrazin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003889, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muss hier ein Geständnis machen: Zu meinen Lieblings-FDPlern gehört Konstantin Kuhle auf jeden Fall. Aber heute hast du hier doch das freundliche Gesicht der kalten Asylpolitik der FDP zum Besten gegeben, ({0}) mit der Behauptung, wir Grünen machten einen nationalen Alleingang. ({1}) Gucken wir uns doch mal an, wie wir die Frage mit den Flüchtlingsschiffen gelöst haben. Da hat diese Bundesregierung nach jahrelangem Blockieren sich mit anderen Staaten geeinigt, eine Koalition der Willigen zu schließen, um die Flüchtlinge auf den Schiffen nach einem festen Schlüssel zu verteilen. Eine gute Sache! Ist das ein nationaler Alleingang? Es ist genau das, was wir jetzt auch wollen. Portugal und Frankreich haben bereits zugesagt, Kontingente zu übernehmen. Das ist genau das, was wir als Modell wollen. Da werden wir andere ermutigen, zu handeln, wenn wir vorangehen und sagen: „Wir machen das jetzt; wir stehen bereit“, weil wir das Vertrauen anderen Staaten geben, dass wir am Ende nicht kneifen. Das ist die Wahrheit, die man sagen muss. ({2}) Das andere, was mir wichtig ist zu sagen, damit es nicht hinten runterfällt: Die Region, über die wir jetzt in dieser Krise reden, sind nicht nur die Türkei, Griechenland und Syrien. Die jetzige Situation zeigt auch, wie wichtig die Erweiterungsperspektive für die Länder des westlichen Balkans hinsichtlich Frieden und Stabilität in der Region ist. Wir haben in den letzten Monaten erlebt, dass die Erweiterungsperspektive für den westlichen Balkan an Glaubwürdigkeit extrem verloren hat. Es ist für die Arbeit der EU-Kommission in diesem Jahr und in den nächsten Jahren von entscheidender Bedeutung, dass die Erweiterungsperspektive für die Länder des westlichen Balkans endlich wieder glaubwürdig wird. Ohne eine glaubwürdige Perspektive für diese Staaten, dem europäischen Projekt früher oder später beizutreten, werden wir Sicherheit und Stabilität in der Region Europa nicht gewährleisten können. Ich erwarte von dieser Bundesregierung und von der Europäischen Kommission, dass wir in den nächsten Wochen und in den nächsten Monaten alles dafür tun, dass die Glaubwürdigkeit für diese Chance wiederhergestellt wird, die in den letzten Monaten mit den Nichtentscheidungen leider so stark zerrüttet wurde. Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Abgeordnete Angelika Glöckner für die SPD-Fraktion. ({0})

Angelika Glöckner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte noch mal die Frage aufwerfen: Wofür steht denn eigentlich unsere Europäische Union? Für Frieden, Freiheit, Humanität, Wohlstand, Sicherheit! Das sind die Versprechen, die sich die Menschen von dieser Europäischen Union erhoffen, und dafür stehen wir im Wort. Ich sage: Das muss auch die Klammer sein um das Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission. ({0}) Als Sozialdemokratin erkenne ich an, dass die Kommission ein umfangreiches Programm vorgelegt hat. Ich begrüße sehr, dass es auch um eine Arbeitslosenrückversicherung geht, übrigens ein Vorschlag unseres Bundesfinanzministers Olaf Scholz. Herr Hahn, wenn Sie sich hier auf den Koalitionsvertrag berufen, dann muss ich Sie daran erinnern, dass auch hier Frau von der Leyen, die Kommissionspräsidentin, im Wort steht. Der Koalitionsvertrag ist das eine. Aber Absprachen mit der S&D-Fraktion im Europäischen Parlament sind das andere. Ich bin gespannt, wieweit sie sich an ihre Worte und ihre Versprechen halten wird. ({1}) Für uns als SPD-Fraktion bedeutet „gerecht“ gerechte Mindestlöhne, was auch im Arbeitsprogramm steht – ein wichtiger Hinweis darauf, dass wir uns dafür einsetzen müssen, dass wir Mindestlöhne gestalten, die so auskömmlich und gerecht sind, dass Menschen davon leben können. Ich sage das mit dem Hinweis darauf, dass wir auch in Deutschland hierbei nachbessern müssen. ({2}) Doch im Sinne einer europäischen Sozialpolitik reicht der Mindestlohn eben nicht aus. Das sind nur erste wichtige Schritte. Zu einer Wirtschaft – wie es mehrfach gesagt wurde –, die den Menschen dienen soll, gehören für mich ohne Wenn und Aber auch eine stärker ausgeprägte Tarifbindung und eine starke Mitbestimmung sowie hohe Standards beim Arbeitsschutz. ({3}) Eine starke Sozialpartnerschaft, wie wir sie hier in Deutschland kennen, ist eine wichtige Säule für ein soziales und wirtschaftlich starkes Europa, und es gehört deshalb für mich ebenfalls auf die To-do-Liste der Europäischen Union. ({4}) Genauso muss es uns immer sozialpolitischer Anspruch sein, dass Kinder nicht in Armut leben. Bildung und Chancengleichheit, das sind wichtige Themen. Ich will auch den Erfolg meiner sozialdemokratischen Kolleginnen und Kollegen in der SPD-Bundestagsfraktion nennen, denen es gelungen ist, die Gleichstellungspolitik Europas dadurch zu beeinflussen, dass wir jetzt das Thema auf die Agenda nehmen. Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir wollen gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Das ist ein wichtiger Punkt. Die Kommissarin wird es in ihr Programm aufnehmen. Das ist ein wichtiger Erfolg. ({5}) Ich will abschließend sagen: Sozialverträglicher Klimaschutz, Kampf gegen Plattformökonomien, Kampf gegen Lohn- und Steuerdumping, Einsatz für unsere Demokratie, gegen Rechtspopulismus, Hass und Hetze, all diesen Aufgaben ist eines gemeinsam: Wir können sie nur erfüllen, wenn wir als Europäer, als europäische Mitgliedstaaten das gemeinsam anpacken. Das bedeutet auch: Wir brauchen Stärke nach außen. Aber, Kolleginnen und Kollegen, Stärke nach außen bedeutet immer auch Zusammenhalt, Stärke nach innen. Das kriegen wir nur, wenn wir eine starke Bildungs- und Qualifizierungspolitik machen, wenn wir bei all unseren Aufgaben immer an eine starke Sozialpolitik denken, –

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Angelika Glöckner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

– und das müssen wir in diesem Arbeitsprogramm verfolgen. Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun die Kollegin Marie-Luise Dött das Wort. ({0})

Marie Luise Dött (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003070, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die von Ursula von der Leyen angeführte EU-Kommission hat sich für die nächsten Jahre drei Hauptschwerpunkte gegeben: erstens die Digitalisierung, zweitens die Sicherung der sozialen Marktwirtschaft und drittens das Ziel, Europa zum ersten klimaneutralen Kontinent zu machen. Dieses Ziel ist in der Mitteilung zum europäischen Green Deal bereits näher erläutert worden. Die Unionsfraktion unterstützt den Ansatz von Ursula von der Leyen. Es ist richtig, jetzt mutig voranzugehen und auf die drängenden Fragen unserer Zeit Antworten und entsprechende Lösungen zu finden. Das erwarten die Menschen von Europa zu Recht. Europa darf nicht länger als Problem wahrgenommen werden, sondern es muss im Bewusstsein der Menschen wieder mehr zum Problemlöser werden. Im Zusammenhang mit dem Green Deal hat die neue EU-Kommissionspräsidentin vom „Mann auf dem Mond“-Moment gesprochen. Es ist ein passendes Bild. Ähnlich wie seinerzeit in den 1960er-Jahren in den USA soll es Europa gelingen, in relativ kurzer Zeit das anscheinend Unmögliche zu schaffen. Was damals die Landung auf dem Mond war, soll heute der klimaneutrale Kontinent Europa sein. Zwei bisher wenig beachtete Umstände der amerikanischen Apollo-Mission können uns auch heute helfen, das Ziel sicher zu erreichen. Logisch ist, dass Neil Armstrong, Buzz Aldrin und Michael Collins ohne Trägerrakete, ohne Raumschiff, ohne Mondlandemodul – also kurz: ohne die technischen Innovationen – niemals auf dem Mond hätten landen können. In den Jahren vor 1969 wurden in den USA umfangreiche Forschungsaktivitäten angestoßen und erhebliche Finanzmittel investiert, um dies alles zu ermöglichen. Dasselbe gilt heute für uns in Europa: Ohne technische Innovationen und deren Einsatz in der Praxis werden wir das Ziel der Klimaneutralität niemals erreichen. ({0}) Den zweiten Aspekt finde ich noch bemerkenswerter: Die USA beschäftigten sich seinerzeit mit mehreren Optionen, um den Wettlauf im All gegen die Sowjetunion für sich zu entscheiden. Zur Debatte stand zum Beispiel eine bemannte Weltraummission, wie sie die Sowjets bereits durchgeführt hatten, allerdings natürlich mit der Gefahr verbunden, sie damit nicht zu übertreffen. Also schaute sich US-Präsident Kennedy an, welche technischen Voraussetzungen schon vorhanden waren und in welchem Zeitfenster realistischerweise mit den benötigten Weiterentwicklungen zu rechnen war. Erst als das alles geklärt war, gab er das Ziel aus, binnen neun Jahren auf dem Mond zu sein. So sollten wir es auch beim Green Deal machen und bei den darin vorgeschlagenen Ambitionssteigerungen im Klimaschutz vorgehen: erst schauen, was möglich ist, dann Ziele festlegen. Hier bin ich nicht ganz sicher, ob dieses Prinzip bei der Erhöhung des europäischen Klimaziels für 2030 angewendet wurde. Für die Fraktion von CDU und CSU steht fest: Eine Ambitionssteigerung kann erst am Ende einer umfassenden Folgenabschätzung stehen und nicht bereits am Anfang. Klimaziele geben natürlich eine gewisse Richtung vor; aber für sich allein genommen steuern sie nicht. Außerdem dürfen wir damit konkurrierende Ziele nicht aus dem Blick lassen. Ich erinnere hierbei an die UN-Nachhaltigkeitsziele. Apropos Ziel: Völlig offen ist bislang auch, wie genau das Ziel der Treibhausgasneutralität bis 2050 aussehen soll. Bedeutet dies eine absolute Reduktion von 80 Prozent, 85 Prozent oder 95 Prozent der CO2-Emissionen? Schweden hat sich zum Beispiel das Ziel gesetzt, bis 2045 im Vergleich zu 1990  85 Prozent der Treibhausgasemissionen einzusparen. Der Rest soll durch natürliche oder technische Möglichkeiten kompensiert werden. Beides zusammen ergibt Klimaneutralität. Die Unionsfraktion fordert daher eine zügige, einheitliche und europaweit gültige Definition für den angestrebten Zielzustand der Treibhausgasneutralität. Zum Schluss, meine Damen und Herren: Natürlich wollen wir alle die Schadstoffeinträge in die Umwelt reduzieren. Bei der Erarbeitung des Null-Schadstoff-Aktionsplans ist zu berücksichtigen, dass Europa mit Regelungen wie zum Beispiel REACH und CLP-Verordnung umfangreiche Schutzinstrumente für Mensch und Umwelt entwickelt hat. Spezifische Regelungen, beispielsweise für Arzneimittel, Pflanzenschutz, Biozide, Kosmetik, Spielzeug, Abfall, Transport, Umwelt, Anlagensicherheit und Arbeitsschutz, bieten ein breites und wissenschaftlich fundiertes Instrumentarium zur Vermeidung von schädlichen Wirkungen auf Menschen und Umwelt. Die chemische Industrie ist eine der saubersten weltweit. Eine Produktionsverlagerung ins nichteuropäische Ausland würde Arbeitsplätze kosten und dem Umweltschutz nicht helfen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Dött, Sie dürfen selbstverständlich weitersprechen, tun es aber auf Kosten Ihres Kollegen.

Marie Luise Dött (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003070, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der Green Deal muss also genau angeguckt werden, ({0}) und danach werden wir handeln. Vielen Dank, auch Ihnen, Frau Präsidentin. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Christian Petry für die SPD-Fraktion. ({0})

Christian Petry (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004605, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörer und Zuschauer! Europa bietet den Menschen Schutz, und Europa bietet den Menschen Sicherheit. Eine starke Domäne Europas ist zum Beispiel der Verbraucherschutz. Wir haben heute viel über den Umweltschutz gehört, eine europäische Aufgabe, eine starke Domäne. Wir haben heute auch vieles über den Schutz der Arbeit gehört. – Alexander, ich bin dir ausdrücklich dankbar, dass du die Stahlarbeiter genannt hast; denn es geht um gute Arbeit und gute Löhne. Das ist ein ganz wichtiger Punkt für Europa. ({0}) Auch der Schutz der Freiheit ist ein wichtiger Punkt. Auch hier ist Europa für uns da. Das Arbeitsprogramm hat vieles davon zum Inhalt: den europäischen Green Deal mit den Mitteln, die bereitgestellt werden, 100 Milliarden und mehr, das digitale Zeitalter, die Wirtschaft, ein stärkeres Europa in der Welt. An der Stelle freue ich mich, dass die Kommission dies nicht nur unter Sicherheitsaspekten sieht, sondern auch in der Zusammenarbeit mit Afrika, aber auch in der Erweiterungsstrategie mit dem westlichen Balkan. All dies sind Aufgaben für Europa, und wir können froh sein, dass wir dieses Europa dabei unterstützen können. ({1}) Ich weiß, dass das nicht jeder hier in diesem Raum so richtig verstanden hat; davon zeugte die eine oder andere Rede. Für die Landwirtschaft tut Europa relativ viel, und wenn man sieht, wie die britischen Landwirte nach dem Brexit darüber irritiert sind, was sie vorher in dem System der Agrarförderung in der EU hatten und was ihnen jetzt droht, dann sieht man, wie wichtig Europa für die Menschen und für die Wirtschaft in diesen Gebieten ist. Europa bietet den Schutz und die Sicherheit, und Europa garantiert uns die Freiheit. Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es ausdrücklich wichtig, dass wir Europa mit ausreichenden Mitteln ausstatten. Die Basis der Verhandlungen ist 1 Prozent. Die FDP hat ein paar Vorschläge gemacht; darunter waren auch gute Vorschläge. Ich habe nur nicht gehört, Kollege Link, dass Sie auch angeregt haben, mehr Geld dafür bereitzustellen. Diese Passage ist irgendwie abhandengekommen. ({2}) Das müssten Sie ehrlicherweise natürlich auch sagen. ({3}) Ich freue mich auf die künftigen Verhandlungen und die Umsetzung dieser Maßnahmen; denn Europa ist das Beste, was uns passieren kann. Es schützt uns, es bietet uns Freiheit und Wohlstand, und daran werden wir dauerhaft arbeiten. In diesem Sinne: Glück auf! ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Mark Helfrich für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Mark Helfrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004298, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die größte Herausforderung und Verantwortung Europas besteht darin, alles zu tun, damit unser Planet wieder gesund wird. ({0}) Das ist die entscheidende Aufgabe unserer Zeit. Die Erderwärmung, die Erschöpfung unserer natürlichen Ressourcen und das Aussterben von Tier- und Pflanzenarten gefährden Sicherheit und Wohlstand Europas und der Welt. Der European Green Deal ist Europas Reaktion darauf. Er ist nicht nur eines der sechs Ziele, die die Kommission mit ihrem Arbeitsprogramm ins Auge fasst; er ist das Ziel Europas. Kernelement des Green Deal ist es, Europa bis 2050 klimaneutral zu machen. Europas Staaten sollen dann nicht mehr Treibhausgase ausstoßen, als sie durch Ausgleichsmaßnahmen binden können. Zu diesen zählen beispielsweise die Aufforstung von Wäldern, die CO2-Speicherung oder, noch besser, die CO2-Nutzung. Deshalb soll Europa aus der Kohlenutzung aussteigen und seinen Energiemix aus erneuerbaren Quellen beziehen. ({1}) Auf dem Weg zur Klimaneutralität soll nach den Vorstellungen der Kommission der Ausstoß von Treibhausgasen bis 2030 noch mal deutlich reduziert werden, um 50 bis 55 Prozent gegenüber 1990. ({2}) Die angestrebte Klimaneutralität Europas soll durch Maßnahmen flankiert werden, die nicht weniger als einen Komplettumbau von Industrie, Energieversorgung, Verkehr und Landwirtschaft bedeuten. Zu diesen zählen im Bereich der Mobilität strengere CO2– und Abgasgrenzwerte für Flotten sowie eine stärkere Förderung der Elektromobilität. ({3}) Was wir jedoch nicht vergessen dürfen: Die Automobilbranche befindet sich in einem Veränderungsprozess, der nicht in einem Strukturbruch enden darf. ({4}) Dafür braucht die Branche vor allem Planungssicherheit.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Helfrich, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Abgeordneten Hebner?

Mark Helfrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004298, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich würde gerne weiter ausführen. – Zudem sollen nachhaltige alternative Kraftstoffe wie Biokraftstoffe und Wasserstoff verstärkt im Luft- und Schwerlastverkehr gefördert werden – Anwendungsbereiche, in denen eine Elektrifizierung absehbar nicht möglich ist. Mir persönlich geht dieser Plan der EU-Kommission nicht weit genug. Vor allem Wasserstoff hat das Zeug, zentraler Baustein der Lösung für das Klimaproblem und für die Energiewende zu werden. Gerade im Mobilitätsbereich können Wasserstoff und daraus hergestellte synthetische Kraftstoffe eine ernsthafte Alternative zur Elektromobilität sein, wenn die europäische CO2-Flottenregulierung angepasst wird. ({0}) Zudem bietet Wasserstoff die Möglichkeit, Solar- und Windenergie langfristig zu speichern und auch zu importieren. ({1}) – Ja, ich weiß, dass Sie mit dem Thema „gasförmige Energieträger“ ein Problem haben; aber das werden wir heute nicht lösen können. ({2}) Meine Damen und Herren, Europa kann mit einer wasserstoffbasierten Wirtschaft weltweit führend werden. ({3}) Entsprechend sieht der Green Deal vor, die Stahlindustrie bis 2030 auf eine saubere Stahlerzeugung mit Wasserstoff vorzubereiten. Denn wenn im Jahr 2050 die Industrie in Europa sauber sein soll, beginnen bereits heute die letzten Investitionszyklen für eine Umstellung. Aber es darf keinen europäischen Alleingang geben; denn sonst gefährden wir die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie. Diese Gefahr ist real. Wenn es für energieintensive Produzenten zu teuer wird, in Europa zu produzieren, werden diese Unternehmen den Kontinent verlassen. Deshalb braucht die Industrie große und vor allem verlässliche Mengen an erneuerbarem Strom zu international wettbewerbsfähigen Preisen. ({4}) Wir brauchen einen europäischen Industriestrompreis. ({5}) Um eine CO2-bedingte Abwanderung der Industrie zu vermeiden, plant die Kommission zudem einen CO2-Grenzausgleich. Denn wenn außereuropäische Länder Klimaschutz nicht ernst nehmen, muss Wettbewerbsgleichheit eben an der Grenze zu Europa entstehen. Allerdings habe ich Zweifel, ob ein solcher CO2-Grenzausgleich zu realisieren ist. Denn wie will man den CO2-Abdruck Abertausender Produkte aus Indien, China oder den USA realistisch ermitteln? Ich mag mir die CO2-Zollfibel an dieser Stelle wirklich nicht vorstellen. Meine Damen und Herren, der European Green Deal ist ein Vorhaben von historischer Tragweite. ({6}) Zwei Jahrhunderte nach dem Ausbruch der industriellen Revolution in Europa stehen wir erneut vor einem Komplettumbau von Wirtschaft und Gesellschaft. Es ist nun an uns, diese Transformation zu gestalten. Vielen Dank. ({7})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Kollege Helfrich. – Die AfD-Fraktion hat für den Kollegen Hebner um eine Kurzintervention gebeten. Der Bitte gebe ich statt. Herr Kollege Hebner, Sie haben das Wort. ({0})

Martin Hebner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004740, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Helfrich, ich habe eine ganz einfache Frage. Sie haben den Green Deal als das zentrale Vorhaben dargestellt, zum, wie Sie gerade gesagt haben, Komplettumbau der Industrie und der Wirtschaft und der Gesellschaft nach dem Plan der EU-Kommission. Herr Helfrich, jetzt mal ganz direkt gefragt – verzeihen Sie, ich wollte darauf kurz von Ihnen eine Antwort haben –, ({0}) wenn Sie hier für die Union sprechen: Sind Sie denn Befürworter einer Planwirtschaft, ({1}) einer von einer Kommission durch Kommissare zentral gesteuerten und geplanten Wirtschafts- und Gesellschaftsumordnung? Denn genau das haben Sie damit ja klar konstatiert. ({2}) Sie haben ganz klar gesagt, dass ein kompletter Umbau der Industrie erfolgen muss. Bitte schön, wer plant das dann? Das ist die Kommission. Ist das Ihr Vorgehen analog der bisher auch in anderen Regimes bewährten Planwirtschaft? ({3})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Helfrich, Sie können antworten. ({0})

Mark Helfrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004298, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Eigentlich muss ich das nicht tun. Aber ich will ja keine Chance auslassen, dass der Kollege Hebner vielleicht noch dazulernt. Es ist so, dass es in jeder Wirtschaftsordnung staatliche Rahmenbedingungen gibt, die wir als Politiker zu schaffen haben. ({0}) Ich hoffe, dass das auch Ihr Verständnis war, als Sie sich haben aufstellen lassen und dann leider in dieses Parlament gewählt wurden. Um nichts anderes geht es, als dass wir auf europäischer Ebene und natürlich unter Berücksichtigung unserer deutschen Interessen, die wir in diesen Prozess einbringen, Rahmenbedingungen schaffen, damit das am Ende gelingen kann. In diesem Rahmen werden sich dann, wie wir das wollen und auch gewohnt sind, Unternehmerinnen und Unternehmer entsprechend verhalten, ihre Industrie betreiben und ihre Geschäfte tätigen können, wie das eben in einer Marktwirtschaft so üblich ist. ({1})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

So, damit ist die Aussprache beendet.

Dr. Anton Hofreiter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003772, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Strom kommt nicht einfach aus der Steckdose. ({0}) Wenn wir als Gesellschaft, wenn die Bundesregierung einen Kohleausstieg macht, dann ist das richtig. Aber wenn man aussteigt, muss man auch in etwas einsteigen. Ich habe leider den Eindruck, die Bundesregierung hat dafür überhaupt keinen Plan. Wenn ich mir anschaue, was notwendig ist, dann stelle ich fest, dass die Aufgabe, die Industrie, unsere Gesellschaft, unsere Haushalte mit ausreichend sauberem, bezahlbarem Strom zu versorgen, einfach gigantisch ist. Unsere Industrie braucht – denken wir an die Chemieindustrie, denken wir an die Stahlindustrie – günstigen erneuerbaren Strom, um in ausreichender Menge grünen Wasserstoff herzustellen, der die Basis für diese Industrien sein wird. ({1}) Wir müssen an die Sektorkopplung denken. Deswegen brauchen wir mehr Strom für die Versorgung unserer Häuser mit Heizenergie. Man denke an die Mobilität: Die Mobilität wird sich stark elektrifizieren. Auch dafür brauchen wir mehr Strom. All das weist darauf hin, dass wir eine Ausbauoffensive brauchen für erneuerbaren Strom, für sauberen, bezahlbaren Strom. Das ist das, was industriepolitisch notwendig ist. ({2}) Aber wenn ich mir anschaue, was Sie in den letzten Monaten und Jahren getan haben, komme ich zu dem Schluss, dass Sie mehr Schaden als Nutzen verursacht haben. Seit sechs Monaten, also nachdem die Bundesregierung angekündigt hat, den Deckel für die Solarenergie aufzuheben, blockiert die Unionsfraktion die Aufhebung des Solardeckels, und das mit der Begründung, dass erst eine Einigung über Abstandsregelungen nötig sei, mit denen Sie aber die Windkraft endgültig kaputtmachen wollen. Das ist unverantwortlich. Beenden Sie von der Union Ihre Blockadepolitik! ({3}) Mit Ihrer Blockadepolitik gefährden Sie 35 000 Jobs in der Solarbranche. Sie gefährden Jobs bei Projektentwicklern, in der Industrie. Sie gefährden Jobs beim Handwerk und im Mittelstand. ({4}) Deshalb: Hören Sie endlich auf mit dieser Blockadepolitik! ({5}) Nachdem Ihr Modell der Beteiligung der Kommunen an den Erfolgen der Windkraftbranche so schlecht war, dass Sie es zu Recht innerhalb kürzester Zeit im Vermittlungsausschuss vom Tisch genommen haben, warten wir seit Monaten auf ein tragbares Modell. ({6}) Der Schlüssel für die Akzeptanz ist die finanzielle Beteiligung und der finanzielle Erfolg für die Regionen, für die Kommunen. Deshalb: Legen Sie da endlich ein brauchbares Modell vor! Es ist an der Zeit. ({7}) Sie haben in den letzten drei Jahren 40 000 Jobs in der Windkraftbranche zerstört. Deshalb: Hören Sie endlich auf, mit unverantwortlichen Abstandsregelungen weiter auf Baustopps zu setzen! Hören Sie auf, diese wichtige Zukunftsindustrie in unserem Land weiter zu schädigen! Ich erwarte deshalb von den Regierungsfraktionen, dass sie beim Bundeswirtschaftsminister endlich Druck machen, dass er aufhört mit dieser Antiindustrieinitiative, mit dieser Antiausbauinitiative. ({8}) Wenn Sie mit Industrievertretern reden würden, wenn Ihr sogenannter Wirtschaftsflügel endlich mit Industrievertretern reden würde, dann würden Sie verstehen, dass die Industrie einen schnellen Ausbau von bezahlbarem Strom braucht. ({9}) Deshalb wäre es konsequent, wenn sich Ihr Wirtschaftsflügel in Deindustrialisierungsflügel umbenennen würde. ({10}) Deshalb: Weg mit dem Solardeckel! Schluss mit sinnlosen Abstandsregelungen! Einheitliches Naturschutzrecht! Schneller Ausbau der Netze! Besseres Planungsrecht! – Dann kommt der Strom in Zukunft auch sauber und bezahlbar aus der Steckdose. Vielen Dank. ({11})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Als nächstem Redner erteile ich dem Kollegen Jens Koeppen, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. ({0})

Jens Koeppen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003789, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die vier verschiedenen Anträge, die vorliegen, zeigen die unterschiedlichen Lösungsansätze für die Förderung der erneuerbaren Energien. Die AfD will gar keine Förderung mehr; sie will sofort das EEG ersatzlos streichen, ({0}) wohl wissend, dass es natürlich hier auch eingegangene Verpflichtungen gibt ({1}) und dass das EEG natürlich etwas erreicht hat. Auf der anderen Seite sind die Kontrahenten von Bündnis 90/Die Grünen, die die Fördertatbestände für Jahrzehnte ausweiten wollen. Sie wollen nicht nur den Bestand erhalten, sondern ihn auch für Jahrzehnte ausbauen, wohl wissend, dass das EEG bis in die Europäische Kommission hinein mehr als umstritten ist. Unstrittig sollte aber sein, auch bei Ihnen, dass das EEG sich mindestens erheblichen, grundlegenden Veränderungen unterziehen muss. Denn es muss erstens, wenn es in Zukunft Bestand haben soll, nachhaltig der Umgestaltung der Energieversorgung dienen, und nicht der Renditeversorgung, es muss zweitens natürlich der Bezahlbarkeit dienen, ({2}) und es muss drittens – das ist das Allerwichtigste – der Versorgungssicherheit dienen, ansonsten macht das alles wenig Sinn. ({3}) Meine Damen und Herren, auch von den Grünen, ein jegliches hat seine Zeit. Das EEG hat seine Schuldigkeit getan. Für die 90er-Jahre war es ja möglicherweise noch innovativ und hat den Erneuerbaren das Laufen beigebracht. Aber wenn Sie nach 20 Jahren Ihrem eigenen Kind immer noch Stützräder anbauen, dann müssen Sie sagen: Da haben wir irgendwas falsch gemacht. – Also, überlegen Sie mal, ob diese Hilfe noch so notwendig ist. Wir sagen Nein. Wir brauchen für die 20er-Jahre eine neue, eine technologieoffene, eine innovative, eine marktwirtschaftliche Instrumentengebung ({4}) wie zum Beispiel den Emissionshandel, basierend auf Fakten, basierend auf Innovationen und nicht basierend auf Emotionen. ({5}) Meine Damen und Herren, jedwede Einengung, wie sie eben vom Kollegen Hofreiter vorgenommen wurde, auf nur einzelne Technologien und jede noch so gut gemeinte planwirtschaftliche Mikrosteuerung ist nicht mehr zeitgemäß. ({6}) Mit dem Klimaschutzprogramm 2030 – das muss nicht jedem gefallen; ich bin auch nicht mit allen Maßnahmen dort einverstanden, aber man kann ja dran arbeiten, dass es besser wird – liegt jetzt ein Fahrplan vor, der festlegt, was in der kommenden Zeit auf den Weg gebracht werden soll. Jetzt wurde der Kohleausstieg schon angesprochen, Herr Kollege Hofreiter. Eins ist doch klar: Mit dem Verzicht auf die Kernenergie und mit dem Verzicht auf die Kohleverstromung gehen wir das Risiko einer Operation am offenen Herzen ein. ({7}) Das ist aus meiner Sicht die größte finanzielle und die größte technologische Herausforderung, ({8}) der sich die Bundesrepublik Deutschland in diesem Bereich jemals gestellt hat. Das ist nicht von heute auf morgen erreichbar, sondern man muss da letztendlich behutsam vorgehen. Dass das altbackene EEG dabei hilft, da habe ich meine Zweifel. Ehe man versucht, alles in der Gesellschaft zu elektrifizieren, wie Sie das eben gerade gesagt haben, also den Verkehr und auch die Haushalte, ({9}) muss man überlegen, ob das wirklich Sinn macht oder ob man nicht besser mit einer guten Wasserstoffstrategie, die jetzt auf den Weg gebracht wurde, neue Energieträger geländegängig macht und am Ende des Tages nicht nur der Elektrifizierung das Wort redet.

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen?

Jens Koeppen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003789, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön.

Ingrid Nestle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004119, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke schön, Herr Koeppen. – Ich möchte einmal klarstellen, dass mein Kollege überhaupt nicht gesagt hat, dass alles elektrifiziert werden muss; das ist eine Falschbehauptung, die immer wieder auftaucht. Es wird mehr elektrifiziert werden, aber natürlich nicht alles. Sie haben daraufhin selbst die Wasserstoffstrategie angesprochen. In der Erneuerbaren-Strategie der Bundesregierung ist ja eine Stagnation des Stromverbrauchs bis 2030 vorgesehen. Es gibt also keinen Zuwachs für Digitalisierung, es gibt keinen Zuwachs für Elektromobilität, es gibt keinen Zuwachs für Power to Heat, bzw. Sie wollen das alles irgendwie ausgleichen durch Effizienzgewinne, die Sie in der Vergangenheit nie erreicht haben. Wenn Sie jetzt eine Wasserstoffstrategie fordern, möchte ich Sie fragen: Glauben Sie, dass diese Wasserstoffstrategie ohne einen Heimatmarkt auskommt? Glauben Sie, dass es von Anfang an, ab nächstem Jahr, über Importe laufen wird, oder wollen Sie warten, bis die Importe da sind? Mit welchem erneuerbaren Strom soll Ihre Wasserstoffstrategie unterlegt werden? ({0})

Jens Koeppen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003789, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das eine schließt das andere nicht aus. ({0}) Natürlich müssen wir den internationalen Markt und den Heimatmarkt bedienen. Ich bleibe mal bei Wind onshore: Wenn wir unsere 30 000 Windkraftanlagen bis zum Jahre 2030 repowert haben, haben wir 70 GW. Die 70 GW, die wir fordern und die auch Sie fordern, haben wir dann, weil die Anlagen über 3,5 MW haben werden. Das ist doch eine gute Regelung. Jetzt haben wir 30 000 Anlagen; bei 70 GW bräuchten wir am Ende nur 20 000 Anlagen. Also: Es ist genügend Platz für den Heimatmarkt. Aber dass es nicht funktionieren kann, hier bei uns in Deutschland am Ende alles alleine schaffen zu wollen, ist Ihnen doch wohl auch klar. ({1}) Meine Damen und Herren, sich nur auf Wind und Sonne zu konzentrieren, zeugt natürlich von einem gewissen beschränkten Energiehorizont. Sie sagen ja: Wenn ein Anteil von 65 Prozent erneuerbare Energien ausgerollt ist, ist das Ziel erreicht. ({2}) Mitnichten ist es dann erreicht! Mitnichten! Denn es ist erst dann erreicht, wenn die 65 Prozent durch den Zähler geflossen sind, und das ist der kleine, aber feine Unterschied zwischen elektrischer Leistung und elektrischer Arbeit. Da müssen Sie sich noch mal ein bisschen schlaumachen. ({3}) Dabei können wir Ihnen aber helfen. Ein Beispiel: Die benötigte Höchstlast in Deutschland beträgt ungefähr 85 GW. 120 GW erneuerbare Energie sind bereits über das EEG installiert und kosten jährlich über 30 Milliarden Euro. Sie haben gerade auf den Heimatmarkt abgehoben. Da muss man doch sehen: In Deutschland sind es beim Windstrom an Land circa 2 000 Stunden, bei der Sonne 900 Stunden. Aber wenn der Strom in der Menge der Höchstlast, also diese 85 GW, 24 Stunden am Tag und 365 Tage im Jahr da sein soll, dann macht das 8 760 Stunden. Sie müssen doch sehen, dass da eine Lücke ist, die wir nie alleine nur mit Wind und Sonne füllen können. ({4}) Deshalb ist das, was Sie fordern, eine Scheinlösung. Selbst wenn Sie die Anlagenzahl verdreifachen würden, würde es nicht ausreichen, wäre die Verfügbarkeit immer noch volatil. Und das ist das Grundproblem. Wind und Solar – da gebe ich Ihnen natürlich uneingeschränkt recht – sind ohne Zweifel die wichtigste Säule der Energiewende, aber nicht die einzige; die Zahlen habe ich Ihnen ganz genau genannt. Sie allein können die Versorgungssicherheit nicht gewährleisten. Was mich, sehr geehrter Herr Kollege Hofreiter, erschüttert, ist, wie Sie und insgesamt das ganze Spektrum hier ({5}) wieder mit den Anwohnern in den Windeignungsgebieten umgehen. ({6}) Das erschüttert mich aufs Tiefste. ({7}) Sie fordern in Ihrem Antrag – ich zitiere –, dass man „auf Pauschalabstände … verzichtet und stattdessen die bestehenden Abstandsregelungen … als sinnvollen Maßstab verwendet“. Sie ziehen da das BImSchG heran. Das BImSchG setzt im Durchschnitt 600 Meter fest. Sind Sie wirklich der Meinung, dass 600 Meter bei einer Anlagengröße von 250 Metern – und es sind Dutzende Anlagen in einem Windpark um die Wohngebäude – die ausreichende Größe ist, ja oder nein? Dann stellen Sie sich hierhin und sagen das den Menschen! ({8}) Ich sage Ihnen eins: Wenn Sie das sagen, dann sollten Sie mal bitte Ihr Verständnis von Akzeptanz überprüfen. Zu Recht beklagen das Tausende Bürgerinitiativen. Sie blockieren damit die Energiewende, weil Sie den Menschen die Gelegenheit geben, sich dagegen aufzulehnen. ({9}) Das lehnen wir rigoros ab. ({10}) Deswegen sagen wir: Wir wollen eine bundesweite Abstandsregelung; die wird jetzt auf den Weg gebracht. Der können Sie zustimmen, oder Sie können nicht zustimmen. Aber Sie müssen den Leuten erklären, dass Sie am Ende auch für die Gesundheit der Menschen zuständig sind. ({11}) Das Fazit – das sage ich Ihnen als Letztes versöhnlich –: Steigen wir von dem alten Klepper EEG ab, und steigen wir um auf ein tragfähiges, auf ein solides und ein zukunftsfähiges Gefährt! Vielen Dank. ({12})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner für die AfD-Fraktion ist der Kollege Dr. Bruno Hollnagel. ({0})

Dr. Bruno Hollnagel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004760, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Gäste! Das EEG wirkt wie eine Vergütungsgarantie für eine bestimmte Art von Stromerzeugung. Das heißt praktisch: Bestimmte Energiequellen werden zulasten der Verbraucher subventioniert. Das ist reine Planwirtschaft; ({0}) denn nicht der Markt bestimmt den Preis, sondern der Staat. ({1}) Wir lehnen eine Planwirtschaft kategorisch ab. Sie führt zu Kapitalfehllenkung und schwächt die Wirtschaft. ({2}) Mittlerweile ist das EEG zu einem kaum beherrschbaren Monster geworden. Zudem stellt der Bundesrechnungshof dem Steuerungsmechanismus, der Koordination und der Umsetzung der Energiewende ein schlechtes Zeugnis aus. Offenbar wollen auch andere in diesem Haus das EEG abschaffen und an seine Stelle die CO2-Steuer setzen. Meine Damen und Herren, haben Sie dabei an § 7 der Bundeshaushaltsordnung gedacht? Ich möchte mit Genehmigung des Präsidenten daraus zitieren, und zwar den ersten Satz des zweiten Absatzes: Für alle finanzwirksamen Maßnahmen sind angemessene Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen durchzuführen. Was bedeutet das? Man stellt die erwarteten positiven Auswirkungen den negativen Auswirkungen gegenüber. Machen wir das doch mal gemeinsam! ({3}) Die negativen Auswirkungen können zum Beispiel die Kosten der EEG-Umlage sein; ({4}) sie werden bis einschließlich dieses Jahr 407 Milliarden Euro ausmachen. Hinzu kommen die Kosten für die Energiewende; sie wird laut BDI bis zum Jahr 2050 etwa 2 300 Milliarden Euro kosten. Negativ zu Buche schlagen natürlich auch die Risiken, die durch Flatterstrom entstehen, die Gefahren einer Dunkelflaute und – last, but not least – die 700 Rotmilane, die jährlich sterben, die 200 000 Fledermäuse und die 3 600 zerschredderten Insekten. ({5}) – Tonnen. Auf der positiven Seite steht für den Fall, dass sämtliche CO2-Emissionen Deutschlands vermieden werden könnten, eine Klimanichterwärmung um gerade einmal 0,000653 Grad Celsius. ({6}) Die Sturmschäden aufgrund der von Deutschland verursachten erhöhten Temperatur können wegen Geringfügigkeit gar nicht abgeschätzt werden. Daraus folgere ich, dass der große Kapitaleinsatz praktisch keine positiven Auswirkungen zeitigt. ({7}) Das Ergebnis: Nach gegenwärtigem Wissensstand ist das Gebot der Wirtschaftlichkeit beim EEG nicht erfüllt, und deswegen ist das EEG abzuschaffen. ({8}) Danke schön. ({9})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Nächster Redner ist für die SPD-Fraktion der Kollege Johann Saathoff. ({0})

Johann Saathoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004393, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Das EEG feiert in diesem Jahr sein 20-jähriges Bestehen. Daran „schuld“ sind Vordenker und Pioniere wie Hermann Scheer und Hans-Josef Fell und wenige andere, die sich vorstellen konnten, wie künftig ein Gesetz gestaltet werden muss, damit Erneuerbare auch tatsächlich in die Gesellschaft integrierbar sind. ({0}) Ich bleibe dabei: Das Erneuerbare-Energien-Gesetz ist ein Erfolgsgesetz. ({1}) Und wenn Sie einen Beweis dafür brauchen, dann führen Sie sich einfach vor Augen: Es ist in der ganzen Welt zigmal kopiert worden. ({2}) Das Geheimnis des EEG – um das hier einmal festzuhalten für die eindimensional denkenden Kollegen auf der rechten Seite – ist nicht nur die Einspeisevergütung, sondern der Einspeisevorrang der Erneuerbaren und die Einspeisevergütung für einen verlässlichen Zeitraum. ({3}) Das gibt Planungssicherheit. Planungssicherheit für die Konzerne, die sich anfangs schwergetan haben, in die Erneuerbaren einzusteigen, aber inzwischen längst deren Wert erkannt haben,aber auch Planungssicherheit für die Bürgerinnen und Bürger vor Ort, ({4}) die sich an der Energiewende nicht beteiligen müssen, aber dürfen. Das Problem mit dem EEG ist: Es ist für einige leider eine zu komplizierte Materie. ({5}) Es gibt wahnsinnig viele unterschiedliche Vorstellungen davon, wie die Energiewende eigentlich politisch gestaltet werden soll; das erleben wir jeden Tag – das darf man selbstkritisch sagen – auch in der Koalition. Und das Erneuerbare-Energien-Gesetz muss ständig angepasst werden, nicht weil das Gesetz schlecht ist, sondern weil sich im Gegenteil durch dieses Gesetz die Rahmenbedingungen so ändern, dass es ständig nachgebessert werden muss. Und ja, das Erneuerbare-Energien-Gesetz hat auch Geld gekostet, Geld, das dazu geführt hat, dass der Preis von Solar- und Windenergie heute locker mit dem Preis von fossilen Energien bei der Stromproduktion mithalten kann, und das weltweit. ({6}) Insofern sind die Investitionen in die Erneuerbaren, die Deutschland seit 20 Jahren über das EEG tätigt, auch als Geschenk zu werten – als Geschenk aus Deutschland an die Welt. ({7}) Aber wir haben auch noch mehr davon, wenn der CO2-Ausstoß überall in der Welt reduziert wird. Wir haben etwas davon, wenn wir unsere Produkte aus dem Bereich der erneuerbaren Energien weltweit verkaufen können. ({8}) Und wir haben etwas davon, wenn wir, unsere Generation, dafür sorgen, dass unsere Kinder und Enkelkinder die gravierenden Folgen unserer Energiepolitik nicht ausbaden müssen, ({9}) sondern in einer intakten Welt leben dürfen. In Ostfriesland würde man sagen: All Winden hebben ok Tegenwinden. – Es gibt natürlich auch Kritiker des EEG – das hören wir ja auch heute –, ja, echte Gegner. Sie wollen es abschaffen – als wenn sie damit eine Lösung gefunden hätten. Wenn auch nicht das EEG, so schafft sich jedoch die ungeliebte EEG-Vergütung gemäß EEG schon selber ab, nämlich wenn der Marktpreis die Einspeisevergütung tatsächlich überschreiten sollte, und das ist immer öfter der Fall. ({10}) Es stimmt: Das EEG, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, ist zwei Jahre lang nicht angepasst worden, was eigentlich erforderlich gewesen wäre. Im vergangenen Jahr hatten sowohl die Frau Bundeskanzlerin als auch der Bundeswirtschaftsminister im Deutschen Bundestag erklärt, dass der PV-Deckel abgeschafft werde, leider ohne Rückendeckung der eigenen Fraktion. Das Gleiche gilt für den verstärkten Ausbau der Offshorewindenergie: Alle wollen das angeblich, aber nichts passiert. Da gibt es nichts mehr schönzureden: Das ist nicht besonders verantwortlich. Ich würde sagen: Verantwortliche Politik sieht anders aus. ({11}) Wenn das so weitergeht, muss der Bundeswirtschaftsminister die Frage beantworten, ob er bald ein Strukturstärkungsgesetz für die Regionen vorlegen möchte, die von den Entlassungen in der PV- und der Windbranche betroffen sind. Die SPD-Fraktion will das jedenfalls nicht. ({12}) Die Impulse in den vorliegenden Anträgen der Grünen sind absolut richtig: Abschaffung des 52-GW-Deckels – ich kenne in der Energiewelt niemanden, der das nicht will –, Repowering bei der Windenergie ermöglichen, Bürgerbeteiligung zulassen, Planungen vereinfachen, Kommunen das Klagerisiko nehmen, Flugsicherung reformieren; ({13}) und auch der Mindestabstand gehört in die Mottenkiste der Energiepolitik. ({14}) Mit einigen dieser Themen wird sich die Ministerpräsidentenkonferenz am 12. März befassen und hoffentlich auch Lösungen beschließen. Für uns ist klar: Wer den Kohleausstieg will, muss auch die Erneuerbaren wollen. ({15}) Wer den Kohleausstieg nicht will, muss die Erneuerbaren noch viel mehr wollen; denn Kohle und Erneuerbare stehen im Verhältnis zueinander. ({16}) Bauen wir weniger Erneuerbare aus, müssen wir früher aus der Kohle raus; das ist die logische Konsequenz, die sich aus dem CO2-Preis ergibt. ({17}) – Dass Sie dem nur eingeschränkt zustimmen bzw. folgen können, kann ich nachvollziehen. ({18}) Es gibt also keinen Grund, gegen die Entwicklung von Wind- und Solarenergie zu kämpfen. Das EEG ist und bleibt ein Erfolgsgesetz. Lassen Sie uns endlich gemeinsam die Weichen in der Koalition stellen, damit es das auch bleibt. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({19})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Saathoff. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Sandra Weeser, FDP-Fraktion. ({0})

Sandra Weeser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004929, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir stehen heute hier, um den weiteren Ausbau von Erneuerbaren zu besprechen, speziell im Bereich Windkraft und Photovoltaik. Es ist ganz klar, dass zwischen den Fraktionen, was die Art und Weise, die Geschwindigkeit und den Umfang des Ausbaus angeht, unterschiedliche Meinungen herrschen. Alle Beteiligten sollten jedoch bedenken, dass es etwa bei der Diskussion um das Aufheben des 52-GW-Solardeckels nicht nur darum gehen sollte, hier etwas Unliebsames abzuschaffen. Der Deckel wurde ja nicht ohne Grund eingeführt. Leider kommt in der Debatte hier viel zu kurz, wie wir die Förderung für erneuerbare Energien Stück für Stück weiter senken und die Energiewende auch zunehmend auf eigene Füße stellen wollen. ({0}) Der 52-GW-Deckel soll nun wegfallen, offenbar noch vor der Sommerpause. Aber wie geht es dann weiter? Wie wird denn dieser Faden weitergesponnen, den wir 2017 mit der Einführung von Ausschreibungen im EEG begonnen haben? Geht es weiter wie bisher? Senken wir nur etwas die EEG-Umlage durch die Einnahmen aus der CO2-Steuer? ({1}) Herr Minister Altmaier, vor zwei Jahren haben Sie gesagt, die Erneuerbaren seien in wenigen Jahren ohne Förderung marktfähig. Das Wirtschaftsministerium sprach schon 2017 davon, dass die Erneuerbaren „erwachsen“ geworden sind. Wenn wir jetzt aber davon sprechen, die Streichung des PV-Deckels zu beschließen, ohne dass es einen klaren Ausstiegspfad aus der EEG-Förderung gibt, ({2}) dann ist das wie mit der Geschichte der stolzen Mutter, die überall herumerzählt, wie selbstständig und erwachsen der Sohn im Studium sei. Als er nach dem 10. Semester ausziehen und seine eigene Bude bekommen will, sagt sie dann aber: Bleib doch mal lieber hier, wir waschen deine Wäsche doch sowieso mit, und Essen haben wir auch genug. ({3}) Deshalb, meine sehr geehrten Damen und Herren: Ohne einen klaren Ausstiegspfad beim EEG werden immer neue Tatbestände geschaffen, und wir werden den Ausstieg immer weiter auf die lange Bank schieben. Apropos „lange Bank“: Mit Erlaubnis des Präsidenten zitiere ich aus dem Gesetzestext zum PV-Deckel. Da steht nämlich: „Die Bundesregierung legt rechtzeitig vor Erreichung des … Ziels einen Vorschlag für eine Neugestaltung der bisherigen Regelung vor.“ ({4}) Genau so einen Vorschlag würden wir uns ja mal wünschen, ({5}) einen klaren Plan, wie die Photovoltaik nach einer Streichung des PV-Deckels an den Markt herangeführt wird. Wie soll das aussehen? ({6}) Mir ist dazu nichts bekannt. Damit verstößt die Bundesregierung ganz klar gegen das eigene Gesetz. Leider ist es bei dieser Energiewende der GroKo immer dasselbe: Es wird an den Symptomen herumgedoktert, aber die Ursachen werden nicht analysiert und auch nicht betrachtet. ({7}) Ein Symptom sind da zum Beispiel die viel zu hohen Strompreise. Herr Hofreiter, Sie widersprechen sich in Ihren Aussagen hier komplett selber. Ich bin mit Ihnen in der Analyse einig, wenn Sie sagen: Der Umbau der Industrieprozesse für klimaneutrale Produktion wird den Strombedarf steigern. – D’accord! Mit den aktuellen Strompreisen wird es aber schwierig, konkurrenzfähig zu produzieren. ({8}) Es sind ja nicht alle Unternehmen von der EEG-Umlage befreit. Jetzt können wir uns die Frage stellen: Wollen wir noch weitere Sondertatbestände schaffen? Wir müssen nur wissen, Herr Hofreiter: Am Ende des Tages muss es einer bezahlen, und wenn der eine befreit wird, dann wird es auf den anderen umgelastet. ({9}) Wir drehen die Subventionsspirale immer weiter, oder aber wir entschließen uns, endlich mal auf dem Pfad, den wir 2017 eingeschlagen haben, weiterzugehen. In Bezug auf die Windkraft und den PV-Deckel werden jetzt wieder nur einige Stellschräubchen gedreht. Ob die Bundesregierung mit dieser trägen Energiepolitik überhaupt noch eine wirkliche EEG-Novelle hinbekommt, mag stark bezweifelt werden. ({10}) Danke schön. ({11})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin Weeser. – Nächster Redner ist der Kollege Lorenz Gösta Beutin, Fraktion Die Linke. ({0})

Lorenz Gösta Beutin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004672, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor 25 Jahren erschien in den überregionalen Tageszeitungen eine Anzeige der deutschen Energiekonzerne. In dieser Anzeige wurde behauptet, Sonne, Wind und Wasser könnten nie mehr als 4 Prozent am deutschen Strommix leisten, sonst würde die gesamte Energieversorgung zusammenbrechen. Im Februar dieses Jahres hatten die erneuerbaren Energien bereits einen Anteil von 60 Prozent – ein nie dagewesener Rekord. Das kann man gerne mal abfeiern; denn dieser Erfolg der erneuerbaren Energien ist nicht wegen der Politik dieser Bundesregierung zustande gekommen, sondern trotz der Politik der Bundesregierung. ({0}) Gestern sind zwei Studien erschienen, die im Auftrag des Bundesumweltministeriums und des Bundeswirtschaftsministeriums zustande gekommen sind. Das Bundeswirtschaftsministerium und das Bundesumweltministerium haben gefragt: Reicht dieses Klimapaket aus, um die Klimaziele der deutschen Bundesregierung bis 2030 zu erreichen? Die Antwort darauf – und zwar in den Studien, die diese beiden in Auftrag gegeben haben – war ein ganz klares Nein. Das bedeutet doch: Diese Bundesregierung ist jetzt aufgefordert, dieses Klimapaket in allen Sektoren deutlich nachzuschärfen. ({1}) Die Bundesregierung sollte alles tun, um die erneuerbaren Energien entschieden auszubauen; ({2}) denn gerade wenn wir Klimaschutz betreiben und den Kohleausstieg erreichen wollen, brauchen wir einen entschiedenen Ausbau der erneuerbaren Energien. ({3}) Doch die Energiewende in Deutschland befindet sich in einer Krise. In den letzten drei Jahren haben wir 40 000 Arbeitsplätze im Bereich der Windkraft verloren. Bereits 2012 haben wir 70 000 Arbeitsplätze im Bereich der Solarenergie verloren. ({4}) Grund dafür ist eine verfehlte und zu mutlose Energiepolitik dieser deutschen Bundesregierung, die, wenn es so weitergeht, weitere Arbeitsplätze und die Wertschöpfung in ganzen Regionen gefährdet, ({5}) und das können wir nicht hinnehmen. ({6}) Neben der Wind- ist die Sonnenenergie eine zentrale Säule dieser Energiewende. Immer mehr Menschen packen sich Solaranlagen auf ihre Dächer. Sie speisen erneuerbaren Strom ins Stromnetz ein und bekommen dafür Geld ausgezahlt. Das ist die sogenannte Einspeisevergütung. Vor allem Betreiber von Kleinanlagen, also Menschen, die auf den Dächern ihrer Häuser solche Solaranlagen installieren, bekommen diese Einspeisevergütung. 2012 hat man sich dann gesagt: ({7}) Okay, wir machen für diese Einspeisevergütung einen Deckel. Ab 52 Gigawatt installierter Leistung an Solarenergie deckeln wir den Ausbau der Solarkraft. – Diese Zahl ist rein willkürlich, und das Problem ist: Das Potenzial für die Solarenergie in Deutschland ist mindestens viermal so hoch. Nutzen wir dieses Potenzial! Die Solarenergie ist die akzeptierteste Energie, die wir hier in Deutschland haben. ({8}) Der Grund war damals: Man behauptete, man wolle Kosten sparen. Wenn man sich nun aktuelle Studien anschaut, so kann man sehen: Seit 2011 hat die Bundesrepublik Deutschland aufgrund sinkender Preise und technischer Innovationen im Bereich der erneuerbaren Energien – des Ökostroms – insgesamt 70 Milliarden Euro eingespart. Mit diesem Geld hätte man die Strompreise deutlich senken und so auch für mehr Akzeptanz sorgen können. Die Problematik ist aber: Diese Einsparungen sind nicht bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern angekommen, sondern sie sind zum Teil von den Energiekonzernen abgegriffen worden. Zum Teil sind sie auch durch überbordende Ausnahmen für energieintensive Konzerne aufgewendet worden. Das heißt, nicht die Verbraucherinnen und Verbraucher haben davon profitiert, sondern die Industrie und Großkonzerne. Das bedeutet: Nicht die erneuerbaren Energien sind die wirklichen Preistreiber in der Energiewende, sondern diese verfehlte Politik der Bundesregierung. Da müssen wir ran! ({9}) Der Ausbaudeckel wird in diesem Jahr erreicht werden, und es gibt zahlreiche Brandbriefe. Es gibt Brandbriefe von der Wirtschaft, von Vereinen, von Verbänden, aus der Industrie und auch von den Gewerkschaften. Alle sagen: Der PV-Deckel muss sofort weg. – Genau das ist richtig, und es war auch richtig, dass CDU/CSU und SPD im Klimapaket im letzten Jahr vereinbart haben, den PV-Deckel abzuschaffen. Das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit und würde eigentlich auch ganz einfach gehen. Die CDU/CSU sagt nun aber: Wir würden den PV-Deckel ja abschaffen, aber dafür brauchen wir neue Abstandsregelungen bei der Windkraft. – Das bedeutet, die CDU/CSU erpresst die Opposition in Bezug auf die Energiewende. Sie sagt: Okay, wir hören auf, die Sonnenenergie zu blockieren, wenn ihr anfangt, die Windkraft auszubremsen. – Das ist ein absurder, komplett falscher Weg. ({10}) Wenn irgendjemand mal gesagt hat, die CDU hätte Wirtschaftskompetenz: Im Angesicht der Herausforderungen der Klimakrise versagt sie. Sie versagt bei der Energiewende. Sie hat keine Wirtschaftskompetenz, sondern betreibt eine kopflose, verheerende Politik. ({11}) Wir als Linke sagen: Die Solarbranche braucht Planungssicherheit. Menschen, die sich beim Hausneubau jetzt vielleicht überlegen: „Packen wir eine Solaranlage aufs Dach, oder lassen wir das?“, brauchen Planungssicherheit. Sie müssen wissen, woran sie sind. Auch Vermieterinnen und Vermieter, die sagen: „Wir wollen es Mieterinnen und Mietern in unserem Haus ermöglichen, Strom aus erneuerbaren Energien zu beziehen“ – über den sogenannten Mieterinnen- und Mieterstrom –, ({12}) brauchen Planungssicherheit. Deswegen sagen wir als Linke: Wir wollen den PV-Deckel abschaffen, und zwar nicht irgendwann in diesem Jahr, sondern jetzt; denn wir brauchen diese Planungssicherheit. ({13}) Wir brauchen den Ausbau der erneuerbaren Energien, und wir müssen die Energiewende sozial gerecht und demokratisch gestalten; denn das und nicht diese falsche Politik schafft Akzeptanz. Vielen Dank. ({14})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Carsten Müller, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Carsten Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003815, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will mich kurz auf meinen Vorredner beziehen. Man muss es erst mal hinkriegen, in einer Rede von sechs Minuten zu Beginn zu bejubeln: „Wir haben im Februar dieses Jahres einen Rekordanteil der erneuerbaren Energien an der Energieerzeugung erreicht“, und dann festzustellen, das sei alles gescheitert. Ich empfehle Ihnen: Sortieren Sie Ihre Redemanuskripte noch mal, und dann entscheiden Sie sich für das eine oder für das andere: für den Erfolg oder für den Misserfolg! ({0}) Meine Damen und Herren, warum diskutieren wir hier heute? Wir diskutieren, weil wir Anträge von Bündnis 90/Die Grünen und der AfD vorliegen haben, und es scheint mir doch noch einmal angeraten zu sein, etwas auf den Rahmen, vor dem wir diskutieren, hinzuweisen. Deutschland ist nach wie vor Vorreiter beim Ausbau der erneuerbaren Energien. ({1}) – Ruhe! – Das wird dadurch belegt, dass der Anteil der erneuerbaren Energien an der Nettostromerzeugung 46 Prozent beträgt, womit sie bei der Nettostromerzeugung erstmals vor den Fossilen liegen. Das, meine Damen und Herren, ist ein großer Erfolg dieser Regierung. ({2}) Im Übrigen haben wir im Bereich der Windkraft nach Angaben des Fraunhofer-Institutes den größten Zuwachs erreicht. Auch der Anteil der Photovoltaik am Strommix konnte weiter ausgebaut werden. ({3}) Der Anteil der Erneuerbaren an der Wärmeerzeugung ist ebenfalls deutlich gestiegen. Das alles zeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind. ({4}) Zum Thema PV-Deckel in aller Kürze, meine Damen und Herren. Wir sind da in ganz guten Gesprächen mit unserem Koalitionspartner; ich bin ganz optimistisch. Aber man muss auch eines feststellen – bei der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist, glaube ich, der Eiskugelverkäufer Trittin aber mittlerweile bei der Debatte gar nicht mehr dabei –: Es geht eben auch um die Frage der Akzeptanz und der Bezahlbarkeit. Das muss sehr wohl austariert sein. Deswegen glaube ich, dass wir in näherer Zeit nach zugegebenermaßen schwierigen Gesprächen eine vernünftige Lösung bekommen. Zum Antrag der Grünen. Die vorgeschlagene One-Stop-Shop-Lösung finde ich ganz gut. Es ist auch nicht alles schlecht, was in den Grünenanträgen steht. Allerdings nicht annähernd so gut ist die Frage der Nutzungspflicht von Solarthermie bei Neubauten. ({5}) Wozu führt das? Das führt zu einer Attentionshaltung. Für uns als Union ist das Thema Technologieoffenheit ein ganz wesentlicher Baustein. Deswegen sehen wir diesen Punkt kritisch. Ebenso kritisch sehe ich auch mit dem Blick auf ökonomische Anreize Ihre Forderung, den 90-Prozent-Satz für Mieterstrom zu streichen. Dieser soll Vermieter gerade dazu anregen, den Mietern die Nutzung des Eigenstroms auch wirtschaftlich schmackhaft zu machen. Dagegen wollen Sie angehen. Das ist vollkommen inkonsistent. Meine Damen und Herren, Ihre Forderung, die Förderung von Ölheizungen zu streichen, ist im Grunde genommen obsolet und erledigt. Ab 2026 dürfen mit wenigen Ausnahmen – „wenige Ausnahmen“ heißt eben: mit Augenmaß – Ölheizungen nicht mehr verbaut werden. Wir sind insofern auf dem richtigen Weg. Meine Damen und Herren, die Potenziale der solaren Wärme will ich ansprechen. Sie rekurrieren in Ihrem Antrag auf Zahlen aus dem Jahr 2017. Wir sind da deutlich weiter. Insbesondere im Jahresvergleich 2017/2018 haben wir einen enormen Anstieg der solaren Wärmeversorgung. Insofern ist Ihr Antrag schon überholt. ({6}) Das Thema Windenergie ist durchaus umstritten. Allerdings – das habe ich eingangs gesagt – haben wir im Bereich der Nettostromerzeugung gerade bei der Windenergie den größten Zuwachs, und wir wollen – das ist auch die Meinung der Union – beim Ausbau der Windenergie keinesfalls zurückfallen. Sie ist auch für mein Herkunftsland Niedersachsen eine ganz wichtige Industriebranche und sichert Beschäftigung und Steuerkraft. Aber wir müssen eines sehen: Wir haben es nicht selten mit mangelnder Akzeptanz zu tun. Insofern muss man sich über kommunale Beteiligungsmodelle genauso Gedanken machen wie beispielsweise über die Frage von Modifikationen bei der Nachtbefeuerung. Da sind wir auf einem guten Wege. Das steigert die Akzeptanz. Am Ende des Tages geht es auch um die Frage von Abstandsregelungen. Ehrlich gesagt – da richte ich mich nicht nur an Bündnis 90/Die Grünen, sondern auch an unseren Koalitionspartner –: Ich finde es etwas wohlfeil, wenn Sie hier vorschnell klatschen. Ich will Ihnen nur, damit ich Sie nicht überfordere, den Hinweis geben: Sie sitzen in Rheinland-Pfalz in der Regierung, und die Grünen sitzen in Rheinland-Pfalz ebenfalls in der Regierung. ({7}) – Die FDP ist auch dabei. – Dort haben Sie unter Ihrer Regierungsverantwortung bei Windrädern einen Mindestabstand von 1 100 Metern festgelegt. ({8}) Meine Damen und Herren, keine Belehrungen! Fangen Sie dort an, wo Sie es selber machen können! ({9}) Senken Sie dort die Mindestabstände! Dann werden Ihre Ausführungen hier deutlich glaubwürdiger. ({10}) In aller Kürze und zum Schluss: Der Antrag der AfD ist ein bisschen kurios begründet und ausgeführt worden. Der Redner der AfD sprach von 3 600 getöteten Insekten. ({11}) Wie gesagt, dazu muss man gar nicht mehr sagen. Aber der Redner hat auch etwas zur Frage der Rotmilane ausgeführt. Dazu können wir eines festhalten: Durch die Windkraftanlagen kommen in Deutschland – das ist sicherlich keine unbedeutende Zahl – jährlich rund 100 000 Vögel zu Tode. 115 Millionen Vögel sterben an Fensterscheiben. ({12}) – Herr Hilse, beruhigen auch Sie sich! – Meine Damen und Herren, weil Sie das Thema Rotmilane angeführt haben: Da ist eines ganz interessant festzustellen. Die Anzahl der Rotmilane hat sich trotz einer unbestritten erhöhten Zahl von Onshorewindkraft in den letzten 25 Jahren von 10 000 Paaren auf 15 000 Paare erhöht. ({13}) Insofern: Wir gehen Ihren Hinweisen nach. Aber Sie sollten sich mit den Fakten beschäftigen. ({14}) Das EEG war in den vergangenen Jahren der Grundstein für den Umbau der Energieerzeugung und ‑versorgung in Deutschland. Das war ein wichtiges Gesetzgebungsvorhaben. Eines darf aber nicht dauerhaft so bleiben: Das Gesetz darf nicht dauerhaft bzw. über einen längeren Zeitraum unmodifiziert und unüberarbeitet bleiben. Dann kommt es zu Fehlallokationen und Fehlentwicklungen. Wir als Union nehmen das EEG an. Wir haben uns dieses Themas auch im Klimapaket angenommen. Meine Damen und Herren, weil Ihre Anträge, sowohl die von Bündnis 90/Die Grünen als auch die der AfD, entweder überholt oder erledigt sind oder gar grob fehlgehen, können wir diesen nicht zustimmen. Vielen Dank. ({15})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner ist der Kollege Karsten Hilse, AfD-Fraktion. ({0})

Karsten Hilse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004752, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Landsleute! Ich beginne mit Genehmigung mit einem Zitat des wohl in diesem Haus unumstrittenen Professors Dr. Sinn: ({0}) Das in Deutschland angestrebte Programm der Energiewende ist gänzlich utopisch; die grüne Kulturrevolution ist ideologisch geworden. Im Zentrum steht längst nicht mehr das Vermeiden von Umweltschäden, sondern das Propagieren des grünen Weltgeists. Die vielen Windflügel, die Norddeutschland zupflastern, sind doch eher dazu da, der neuen grünen Region ihre Sakralbauten zu geben, als wirklich Energie zu produzieren. ({1}) Über die fehlenden wissenschaftlichen Grundlagen der lediglich ideologisch getriebenen Energiewende ins Nichts habe ich hier schon mehrmals gesprochen. ({2}) So wie Professor Sinn es beschreibt, sind Windindustriegebiete eher nicht dazu da und auch gar nicht in der Lage, eine sichere Stromproduktion zu gewährleisten. Natürlich sind auch Solaranlagen, die Thema dieses Antrags sind, nicht geeignet, ein Industrieland wie Deutschland sicher mit Strom zu versorgen. ({3}) Darum geht es den grünbemäntelten Neosozialisten auch gar nicht. Sie möchten lediglich erstens, dass sich ihre Lobbyfreunde aus der Solarbranche mit dem Geld der hart arbeitenden Menschen auch weiterhin in viel größerem Ausmaß die Taschen vollstopfen. Zweitens nutzen sie die ideologisch motivierte Energiewende mit ihren planwirtschaftlichen Elementen als Vehikel, um gemeinsam mit den Genossen von SPD und SED dem Ziel der nächsten, dann dritten sozialistischen Diktatur auf deutschem Boden einen Schritt näher zu kommen. ({4}) Sozialismus in jedweder Form, ob nun Braun-Rot oder Grün-Rot – das ergibt übrigens nach der Farbenlehre dann auch wieder braun –, lehnen wir als AfD kategorisch ab. ({5}) Sozialismus hat immer und an jedem Ort zu unsäglichen Verbrechen mit mindestens 100 Millionen Toten geführt. Und die Toten, die der braune Sozialismus gefordert hat, kommen noch dazu. Dass die Sozialisten des Mordens immer noch nicht überdrüssig sind, konnten wir am letzten Wochenende erleben, ({6}) als eine Revolutionärin in einem Nebensatz erwähnte, dass im Zuge einer Revolution das eine Prozent der Reichen in Deutschland erschossen würden. Dem Parteichef auf der Bühne war die offensichtliche Offenlegung der Planung dann doch nicht geheuer, und er meinte, man würde diese Menschen doch eher einer nützlichen Arbeit zuführen, was nichts anderes bedeutet als die Konzentration in Arbeitslagern. ({7}) Unter dem Eindruck dieser neuerlichen ans Tageslicht gekommenen Gewaltfantasien der Sozialisten ist der Satz von Frau Esken ein Schlag ins Gesicht aller vergangenen und zukünftigen Opfer der Neostalinisten. Zitat: „Wer Sozialismus negativ verwendet, hat halt einfach keine Ahnung.“ Dazu kann ich nur sagen: Frau Esken, wer Sozialismus positiv bewertet, der hat ihn nie wirklich erlebt und äußert sich im höchsten Maße geschichtsrevisionistisch. ({8})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege Hilse, kommen Sie bitte zur Sache. Wir reden über Energiepolitik.

Karsten Hilse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004752, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Ich komme gleich noch mal zur Sache. ({0}) Dass die CDU-Genossen in Thüringen – die Liberalen muss ich gar nicht erst erwähnen – nach diesen Ankündigungen der SED einen Kommunisten zum Ministerpräsidenten wählen, zeugt entweder von grenzenlosem Opportunismus oder absoluter Geschichtsvergessenheit. ({1}) Ich weiß, dass einige Abgeordnete der CDU und der FDP hier im Bundestag die Vorgänge nach der letzten Ministerpräsidentenwahl in Thüringen im Februar sehr kritisch sehen. ({2}) Deswegen bitte ich Sie, die wenigen Aufrechten, wie es gestern auch die WerteUnion gefordert hat, gegen den ausnahmslos totalitären Sozialismus aufzustehen. Den Antrag der Grünbemäntelten lehnen wir natürlich ab. Noch ein Wort an die Solaranlagenbesitzer. Seien Sie bitte vorsichtig; nicht dass Sie mit dem Erlös Ihrer Anlage mehr Geld verdienen als der Rest der Bevölkerung und Sie quasi zu einem Reichen werden. Dann geraten Sie nämlich in das Visier der in mehreren Bundesländern mit SPD und Grünen regierenden SED, ({3}) von denen Sie nach der Revolution, so zumindest ihre Ankündigung, dann wahlweise erschossen oder, wenn es nach dem Parteichef geht, in Arbeitslager verbracht werden. Vielen Dank. ({4})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Als nächster Redner spricht zu uns der Kollege Timon Gremmels, SPD-Fraktion. ({0})

Timon Gremmels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004732, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am 1. April 2000 ist das Erneuerbare-Energien-Gesetz in Kraft getreten. Das ist ein Anlass zum Feiern, das ist ein Anlass zur Freude. Das war unsere Antwort auf den Ausstieg aus der Atomenergie, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({0}) Wer aussteigt, muss auch irgendwo einsteigen. Wir sind damals zusammen mit den Grünen aus der Atomkraft ausgestiegen. Wir sind in die Erneuerbaren eingestiegen. Das war energiepolitisch richtig, das war arbeitsmarktpolitisch richtig, und das war sozialpolitisch richtig, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({1}) Denn die erneuerbaren Energien sind ein Jobmotor. Sie schaffen dezentral Arbeitsplätze in großem Ausmaß. Sie schaffen Wertschöpfung vor Ort. Wenn man die Bürgerinnen und Bürger über Energiegenossenschaften, über Mieterstromprojekte beteiligt, dann ist eine Solaranlage eben nicht nur etwas für Zahnärzte, sondern dann kann auch ein Hartz-IV-Empfänger durch eine Anlage auf seinem Mietshaus preiswert Strom beziehen. ({2}) Das ist die Wahrheit. Das ist die Antwort auf die Energiewende, ({3}) so wie wir Sozialdemokraten sie verstehen, meine sehr verehrten Damen und Herren. Ja, auch wir müssen sehen – das muss man mal der Kollegin Weeser sagen –: Der große Faktor des EEGs, was es so besonders macht, ist, dass darin schon die Degression eingearbeitet worden ist. Die Lernkurve ist da schon drin; denn je mehr Kapazität an erneuerbaren Energien zugebaut wird, desto mehr sinkt die EEG-Vergütung. ({4}) Das ist doch ganz modern, und das zeigt, wie es funktioniert. ({5}) – Frau Weeser, gucken Sie sich das mal an! ({6}) Der erste Redner der AfD, der im Unterschied zu Herrn Hilse mal zur Sache geredet hat, hat über die Bundeshaushaltsordnung gesprochen. Entschuldigung, der Vorteil am EEG ist, dass es nicht über den Bundeshaushalt finanziert wird, ({7}) sondern es ist eine Umlage, die jeder Stromkunde zahlt. ({8}) Das Tolle ist, dass der genaue Anteil unten auf der Stromrechnung steht. ({9}) Hätten wir das bei Kohle und Atomkraft in den letzten 20 Jahren auch so gemacht, hätten wir eine deutlich höhere Umlage, als wir je fürs EEG gezahlt haben. ({10}) Nur, das zahlen wir aus Steuermitteln. Aber Steuerzahler und EEG-Umlage-Zahler sind die gleichen Personen. Auch die Transparenz ist etwas, was das EEG so erfolgreich macht. Und es hat auch europäischen Segen bekommen. Der EuGH hat gerade erst im letzten Jahr gesagt, dass das funktioniert, dass man das genau so machen kann. Insofern ist es alles in allem ein Erfolgsrezept. Natürlich müssen wir das EEG weiterentwickeln. Dafür sind wir bereit; wir als Sozialdemokraten haben dazu eigene Ideen. Aus unserer Sicht ist ganz klar: Der 52-GW-Solardeckel muss weg, weil er den Ausbau behindert, und er muss schnell weg. Denn schon heute ist es so, dass Menschen, die Anlagen bauen wollen, keine Kredite mehr von ihren Banken bekommen, weil der 52-GW-Deckel demnächst erreicht ist. Ehrlich gesagt erwarten wir da von unserem Koalitionspartner, dass man ihn nicht in Geiselhaft für andere politische Forderungen nimmt. ({11}) Vielmehr setzen wir darauf, was Frau Merkel am 27. November letzten Jahres im Bundestag, hier am Redepult, gesagt hat: Wir haben den Solardeckel jetzt aufgehoben. ({12}) Das stimmt nicht. Er muss noch aufgehoben werden. Stimmen Sie dieser Sache zu! Auch Herr Söder hat in seiner Rede am politischen Aschermittwoch gesagt – ich zitiere sehr selten Markus Söder –, ({13}) dass der Deckel weg muss; Deckel müssten grundsätzlich weg, und Bayern sei ein Sonnenland. – Richtig so. Wir möchten aber, dass die ganze Bundesrepublik Deutschland ein Sonnenland wird, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({14}) Beim Mieterstrom genau das Gleiche. Da hat uns Herr Altmaier am 25. Juni letzten Jahres in einem Brief versprochen, dass die Regelungen zum Mieterstrom reformiert werden, dass wir da Entbürokratisierung schaffen. ({15}) Liefern Sie bitte endlich etwas ab, damit die Überschrift des heutigen „Tagesspiegel Background“ nicht länger gilt: „Union blockiert Altmaiers Abstandslösung“. Ich finde es echt ein Unding, wie Sie Ihren eigenen Minister und die Bundeskanzlerin im Stich lassen. Wir unterstützen beide; denn wir brauchen die Energiewende. Ich hoffe, dass die Union das auch tut. In diesem Sinne: Glück auf! Alles Gute! ({16})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege Gremmels. Punktgenaue Landung. – Nächster Redner für die FDP-Fraktion ist der Kollege Dr. Martin Neumann. ({0})

Prof. Dr. Martin Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004120, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einer der zur Diskussion stehenden Anträge trägt den Titel „Ausbau der Windenergie in Schwung bringen“. Ich will damit beginnen, dass ich sage: Natürlich hat Windenergie bisher viel geleistet; denn es ist viel Leistung installiert worden. Es wurde aber kaum gesicherte Leistung geschaffen. Ein Fördersystem nach dem Motto „Leistung mit wenig Gegenleistung“ soll quasi ausgebaut und fortgeführt werden. Meine Damen und Herren, an der Stelle sehen wir, dass Monosysteme gerade in diesem konkreten Fall an ihre Grenzen stoßen. Der Antrag der Grünenfraktion umfasst ja eigentlich fast alles; aber es gibt keine Aussagen zur Systemdienlichkeit, zur Akzeptanz und zur Eigenverantwortung bei der Kostendeckung. Ganz wichtig ist – das will ich an der Stelle betonen –: Der Unterschied von Leistung und Arbeit ist gerade bei wetterabhängigen Energieträgern unbedingt zu beachten; denn „installiert“ ist nicht gleich „gesichert“. „Viel installiert“ ist aktuell nur eins: teuer. ({0}) In Ihrem Antrag, meine Damen und Herren, steht die Aussage: Ohne EEG-Finanzierung stünde die Energiewende auf der Kippe. – Ökonomisch ist das natürlich überhaupt nicht haltbar. Statt weiterer Dauersubventionen fordern wir endlich Eigenverantwortung der Anlagenbetreiber, Innovation und Netzdienlichkeit. ({1}) Ohne Netze und Speicher oder Systemlösungen, von denen ich gerade gesprochen habe, kann es keine Zustimmung zur weiteren Ausweitung des Ausbaupfades geben. Ihr Antrag, meine Damen und Herren der Grünen, zeigt eigentlich nur eins: Windenergie ist eben keine heilige politische Kuh, sondern es muss mit Photovoltaik, mit Geothermie und Bioenergie und natürlich auch mit einem europäischen Vernetzungssystem Energie erzeugt werden. Auch die Bundesregierung, meine Damen und Herren, Herr Minister Altmaier, hat eine nicht so gute Figur gemacht. Es ging bei der Frage bundeseinheitlicher Mindestabstände immer hin und her. Wir sollten da die Kommunen vor Ort nicht alleine lassen. Für uns gilt Folgendes – ich will das mal zusammenfassen –: Erstens. Das EEG muss grundlegend überarbeitet werden und, statt auf Technologiefixierung zu setzen, endlich technologieoffene Lösungen schaffen – und zwar europäisch. Zweitens. Es ist eine Abkehr von dem Dogma notwendig, dass die Energiewende und die Klimaziele von Paris ausschließlich mit nationaler regenerativer Energie zu erreichen seien. ({2}) Nach 20 Jahren EEG-Subventionierung können diese weder Grundlastfähigkeit noch Wirtschaftlichkeit garantieren. ({3}) Drittens. Das Ausschreibungssystem muss fortgeführt und ausgeweitet werden für einen technologieoffenen Ausbaupfad für CO2-arme, grundlastfähige Energieträger als neue Basis, also ein Wettbewerb emissionsarmer Energieträger. ({4}) Viertens – für mich ganz wichtig –: Die jetzt die Stromkosten belastende EEG-Umlage darf nicht nur von Stromkunden bezahlt werden, –

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen, bitte.

Prof. Dr. Martin Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004120, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

– sondern muss unter anderem aus Einnahmen aus dem CO2-Zertifikatehandel finanziert werden. Denn wir wissen eins: Effektiver Klimaschutz geht nur mit preiswertem Strom. Danke schön. ({0})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Dr. Julia Verlinden, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Julia Verlinden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004429, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was Sie von der Union an anderer Stelle gerne vor sich hertragen – klare Rahmenbedingungen für Investitionen, Planbarkeit für die Wirtschaft –, das geben Sie den erneuerbaren Energien schon seit Jahren nicht und auch jetzt nicht. Das ist ein Skandal. Stattdessen werden bereits jetzt, vor Erreichen des Deckels, Finanzierungen für neue Anlagen schwierig, weil das Risiko schwer zu kalkulieren ist. Sie, meine Damen und Herren von der Union, sind das Investitionsrisiko für den Standort Deutschland. ({0}) Sprechen Sie mal mit den Banken! Ja, tun Sie das! Gehen Sie mal zu den großen Finanzierern von erneuerbaren Energien! Die gehen nämlich von einem 70-prozentigen Rückgang der Projekte aus. Und bei den Anlagen, die noch einen Kredit bekommen, muss man mit bis zu 30 Prozent höheren Finanzierungskosten rechnen. Herr Koeppen, Herr Müller, Sie haben heute hier viel erzählt; aber Sie haben keinen einzigen Grund genannt, warum es immer noch diesen Solardeckel gibt. ({1}) Sie können das nämlich auch nicht erklären. Es gibt bei Ihnen nur Taktierereien gegen die Windkraft; das ist der wahre Grund. ({2}) Weil Sie von der GroKo sich weiter über unnötige und schädliche Sperrzonen für Windenergie streiten, ({3}) lassen Sie konsequenterweise gleichzeitig auch noch die Solarbranche hängen. Diese Dialektik versteht nur, wer auch in 15 Jahren ohne Ende Kohlestrom produzieren will. Kommen Sie endlich mal im 21. Jahrhundert an, Herr Koeppen! ({4}) Angeblich sind sich doch alle einig, oder? Das Bundeskabinett hat die Abschaffung des Deckels schon im Oktober beschlossen. Der Bundesrat hat die Abschaffung des Deckels beschlossen. Es fehlt einzig und allein noch ein Beschluss in diesem Parlament. Und die Menschen sind es echt leid, dass einige wenige Energiewendesaboteure aus der Unionsfraktion den weiteren Ausbau der Solarenergie blockieren. ({5}) Ihr Klimapaket vom September basierte auf Ihrer Behauptung, dass der Ausbau der erneuerbaren Energien bis 2030 vorangeht. Das alles fällt nun wie ein Kartenhaus zusammen. ({6}) Die Menschen lassen sich nichts mehr vormachen. Die Behauptung in Ihren Sonntagsreden, Sie seien für die erneuerbaren Energien, glaubt doch kein Mensch mehr. Also, übernehmen Sie endlich Verantwortung! ({7}) Ziehen wir dieses Gesetz jetzt schnell durch das Verfahren – was angeblich alle wollen –, bringen es nächste Woche wieder hier zum Beschluss. ({8}) Setzen wir um, was der Bundesrat will, was die Länderkammer will. Das wäre nicht nur das einzig energie- und klimapolitisch Verantwortbare; es wäre auch endlich mal ein Hauch moderner und solider Wirtschaftspolitik. Vielen Dank. ({9})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner ist für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Dr. Andreas Lenz. ({0})

Dr. Andreas Lenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004339, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es liegen unterschiedliche Anträge zum Thema „erneuerbare Energien“ vor. Es hat schon eine lebhafte Diskussion gegeben, zum Teil ging es um die Anträge, zum Teil leider um etwas anderes. Zunächst einmal möchte ich betonen, dass im letzten Jahr so viel Strom aus erneuerbaren Energien in Deutschland produziert wurde wie noch nie, nämlich 46 Prozent der Nettostromerzeugung. Zum ersten Mal war es mehr, als durch fossile Energieträger produziert wurde. Wir haben mit dem Klimaschutzpaket die Grundlagen für weitere Fortschritte bei der Energiewende, aber auch beim Klimaschutz geschaffen. In einem ersten Schritt wird die EEG-Umlage 2021 um 2 Cent gesenkt werden. Das sind im Jahr 7 Milliarden Euro . Das ist die größte Entlastung seit Einführung des EEGs. Übrigens hat Deutschland seit 1990 35 Prozent CO2 eingespart. Das Klimaziel 2020 rückt so auch in greifbare Nähe. ({0}) Die Erneuerbaren tragen dazu bei, die Klimaschutzziele zu erreichen, anders, als es im Antrag der AfD steht. 1990 entstanden bei der Erzeugung einer Kilowattstunde Strom noch 760 Gramm CO2, 2018 waren es nur noch 470 Gramm CO2. Das sind 38 Prozent weniger. Die Energiewirtschaft ist somit der Treiber der Reduktion des CO2-Ausstoßes. Wir haben außerdem die Erneuerbaren an den Markt herangeführt, insbesondere durch die Ausschreibungen. Wettbewerb ist gut, auch in diesem Bereich; das haben wir gezeigt. Die Windenergie – sie war schon häufig Thema – wird auch weiterhin eine wichtige Rolle spielen, wenn es darum geht, das 65 -Prozent -Ziel für die Erneuerbaren im Strombereich zu erreichen. Es stimmt: Der Windausbau ist im letzten Jahr ins Stocken geraten. Wenn wir aber genau hinschauen, dann sehen wir, dass die Gründe dafür wesentlich bei den Planungs- und Klageverfahren liegen. Im letzten Jahr wurden bundesweit circa 300 Windräder neu errichtet. Der Rückgang kann ja schlecht an den Abstandsregelungen liegen, die im letzten Jahr noch gar nicht galten. Es geht also auch um Planungsrecht, um Klageverfahren und generell um Akzeptanz. Anders als die Grünen, die sagen, der Emissionsschutz reiche für die Abstandsbemessung, sagen wir, dass wir beim Windausbau schon einen gewissen Abstand der Anlagen zu der Wohnbebauung brauchen. Das können die Länder durchaus gerne selber regeln; wir haben es vorhin schon gehört. Es gibt Bundesländer mit Ihrer Regierungsbeteiligung, die 1 000 Meter Abstand und mehr vorschlagen: Brandenburg und Sachsen-Anhalt schlagen 1 000 Meter Abstand vor, Hessen über 1 000 Meter, Rheinland-Pfalz 1 200 Meter. ({1}) Sie müssen schon auch erklären, warum Sie in Länderregierungen, an denen Sie beteiligt sind, etwas ganz anderes beschließen. Dass Photovoltaik zukünftig weiter eine wichtige Rolle spielen wird, ist klar. Der Zubau wird sich erhöhen, auch um das 65-Prozent-Ziel bis 2030 zu erreichen. Die Grünen schreiben in ihrem Antrag: „Der Wind weht in ganz Deutschland.“ Das stimmt natürlich – mancherorts übrigens etwas rauer oder häufiger. Das gilt genauso für die Sonne. Sie scheint beispielsweise in Bayern häufiger, intensiver; das wurde schon erwähnt. ({2}) Auch unser Ministerpräsident Markus Söder hat vor Kurzem gesagt, dass in Bayern häufig die Sonne scheint und wir deshalb die Photovoltaik sehr stark ausbauen wollen. Deshalb sind wir für die Streichung des 52-GW-Deckels. Gleichzeitig wollen wir natürlich aber auch vernünftige Abstandsregeln. ({3}) Ich bin zuversichtlich, dass wir hier gemeinsam eine Lösung finden werden, im Sinne der Bürger, aber auch im Sinne der erneuerbaren Energien. ({4}) Ein weiteres Thema bezüglich der Photovoltaik ist das Thema Bürokratie. Wir müssen hier bürgerfreundlicher werden. Wir haben hier zu viele bürokratische Regeln. Eine Unternehmensgründung ist selbst in Deutschland weniger bürokratisch als der Bau einer Photovoltaikanlage auf dem eigenen Dach. Gleichzeitig wollen wir, dass Nutzungspflichten, wie die Grünen sie fordern, nicht entsprechend umgesetzt werden. ({5}) Wir wollen Lust auf Erneuerbare und keinen Frust. Das werden wir bei der Gesetzgebung auch entsprechend berücksichtigen. Wir brauchen übrigens auch Perspektiven für die Biomasse, für die Biogasanlagen in Deutschland. Diese brauchen, anders als Wind- und Photovoltaikanlagen, auch nach 20 Jahren noch Einsatzstoffe. Diese Einsatzstoffe kosten Geld. Man bekommt dafür aber verlässliche Energie, die folglich auch mehr wert sein muss. Wir müssen außerdem weiterkommen, wenn es darum geht, einen Industriestromtarif in Deutschland einzuführen. Das EuGH-Urteil aus dem letzten Jahr bietet dafür entsprechende Spielräume. Wir brauchen langfristige Planungssicherheit, damit unsere Unternehmen und unsere Industrie international wettbewerbsfähig bleiben. Vorstöße dazu sollten wir im Rahmen der Gesetzgebung zu den europäischen Strommarktrichtlinien unternehmen; aber genauso sollten wir uns einbringen, wenn es um die Umsetzung des sogenannten Green Deals geht. Klar muss aber auch sein, dass wir unsere energieintensiven Industrien im Land halten müssen. Das geht am besten durch Planungssicherheit. Insofern müssen wir auch hier Anstrengungen unternehmen. Nur so kann die Energiewende insgesamt gelingen. Herzlichen Dank. ({6})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Vielen Dank, Herr Kollege. – Bevor ich der letzten Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt das Wort erteile, möchte ich darauf hinweisen, dass ich Verständnis dafür habe, dass sich während der bevorstehenden Wahlakte der Saal füllt; aber vielleicht können sich diejenigen, die sich lange nicht gesehen haben, draußen und nicht drinnen unterhalten. Denn die Rednerinnen und Redner haben einen Anspruch, hier auch gehört zu werden. Das gilt übrigens auch für die Vertreter der Regierungsbank. ({0}) Frau Kollegin Scheer, Sie haben das Wort. ({1})

Dr. Nina Scheer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004396, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Ausbau der erneuerbaren Energien ist ein zentrales Instrument für Industriepolitik, und zwar für zukunftsfähige Industriepolitik. Und wenn man sich jetzt anschaut, wie das Instrument in den letzten 20 Jahren gewirkt hat – dieses Instrument wirkt ja seit 20 Jahren in Form des EEGs –, dann muss man erkennen: Es ist nicht nur für Deutschland ein enormes Erfolgsrezept gewesen; vielmehr haben sich 113 Länder weltweit an diesem Instrument orientiert, haben ein Feed-in-Tariff-System, ein Einspeisevergütungssystem, in abgewandelter, teilweise in kopierter Form eingeführt. Insofern finde ich es unerträglich, wenn das entscheidende Instrument teilweise hier in Deutschland unter den Teppich gekehrt wird, indem man einfach sagt, die Energiewende habe erst mit dem zweiten Atomausstieg nach Fukushima angefangen. Genau da beginnt eigentlich schon die Verquertheit gewisser politischer Wendungen, die wir zurzeit erleben. Es wird etwa einfach an den Emissionshandel angeknüpft, statt an die erfolgreichen Instrumente, die über die letzten Jahre tatsächlich für den Ausbau der erneuerbaren Energien in der Realität gewirkt haben. Deswegen müssen wir an dieser Stelle auch eine korrekte Geschichtsschreibung betreiben. ({0}) Weltweit haben wir bei den erneuerbaren Energien ein Wachstum von 20 bis 30 Prozent. Das sind Wachstumssprünge, die wir sonst in fast keiner Technologie haben. Das betrifft die erneuerbaren Energien weltweit, aber leider nicht bei uns. Genauso sieht es auch mit den Arbeitsplätzen aus. Leider erleben wir zurzeit, dass in Deutschland 35 000 Arbeitsplätze im Bereich der Windenergie bedroht sind. Wir haben nach den von der schwarz-gelben Regierung eingeführten Veränderungen beim EEG im Jahr 2012 erlebt, dass 70 000 Arbeitsplätze im Bereich der Solarenergie verloren gegangen sind. Wir dürfen nicht das Gleiche wieder bei den erneuerbaren Energien im Windsektor erleben. ({1}) Aber leider – Herr Altmaier, da möchte ich Sie ganz persönlich ansprechen – müssen wir jetzt damit rechnen, wenn Sie nicht dringend handeln und die Versprechen, die teilweise schon als erfüllt erklärt wurden, einlösen und die entsprechenden Gesetze vorlegen. Wir haben den Solardeckel immer noch nicht abgeschafft, obwohl es hier teilweise schon so erklärt wurde. Ich habe im Austausch mit einigen Kollegen aus der CDU/CSU-Fraktion den Eindruck gewonnen, dass tatsächlich angenommen wird, wir hätten ihn schon abgeschafft. Nein, es ist nicht so, und Sie wissen das. Deswegen mein dringender Appell: Legen Sie die entsprechenden Gesetze vor, und nehmen Sie den Solardeckel nicht länger als Faustpfand für die Abstandsregelung, ({2}) von der Sie ganz genau wissen, dass sie so, wie sie zurzeit im Gespräch ist – 1 000 Meter Abstand zu Häusern, wie Sie es vorgeschlagen haben, sowie die Anwendung dieser Abstandsregelung auf die Repowering-Flächen –, dazu beitragen wird, dass wir den Windenergieanteil in Deutschland verringern und nicht ausbauen werden. Damit ist das 65-Prozent-Ziel nicht zu erreichen, und das wissen Sie. Deswegen appelliere ich an Ihre energiepolitische Vernunft und fordere Sie auf, diese Maßnahmen jetzt endlich einzuleiten. ({3}) Ich habe einen Verdacht. Wir als SPD-Fraktion sind die Antriebskraft für die energiepolitischen Elemente dieser Koalition; wir haben die Klimaschutzgesetzgebung in den Koalitionsvertrag hineinverhandelt. Ich erlebe, dass von Ihrer Fraktion und von Ihnen persönlich immer wieder genau diese Elemente hervorgehoben werden. Ich habe also den Eindruck, dass Sie sich auf diesen Zielsetzungen ausruhen, die ja jetzt noch gar nicht wirken können, und dass Sie versuchen, quasi mit diesem grünen Feigenblatt zu vermeiden, die Elemente, die wir brauchen, damit wir die gemeinsam beschlossenen Dinge erreichen können, jetzt umzusetzen. Das kann so nicht sein. ({4}) Wir können nicht das Feigenblatt der Koalition in der Klimapolitik sein. Insofern – meine Zeit ist leider zu Ende – appelliere ich an Sie. Vielen Dank. ({5})

Wolfgang Kubicki (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001235

Frau Kollegin Dr. Scheer, Ihre Redezeit war beendet. – Damit schließe ich die Aussprache.

Kersten Naumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003197, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Sammelübersicht 487 geht es um eine Petition, der der Petitionsausschuss am 12. Februar dieses Jahres mit den Stimmen aller Fraktionen zugestimmt hat und die der Bundesregierung und dem Bundesministerium für Gesundheit zur Erwägung überwiesen werden soll. Mit der Petition beschwert sich die Petentin über ihre private Krankenversicherung aufgrund von Kürzungen der Kostenerstattung für die Operation des Grauen Stars. Es geht um Streitigkeiten im Zusammenhang mit der durchgeführten Laserbehandlung und deren Berechenbarkeit nach der Gebührenordnung für Ärzte. Der Augenarzt hatte die Behandlung als weitere eigenständige Leistung nach einer Ziffer der Honorarordnung berechnet, die von der Krankenkasse dann aber nicht anerkannt wurde. Der Versicherer zweifelt die Notwendigkeit des Lasereinsatzes zwar nicht an, doch der Arzt hat mit einer falschen Ziffernangabe abgerechnet. Somit hat sich der Versicherer geweigert, die Kosten komplett zu erstatten. Hiermit ist die Petentin natürlich nicht einverstanden; denn sie trifft ja auch keine Schuld. Es geht in dem Fall einzig und allein um die Beurteilung privatärztlicher Honorarfragen bzw. die gebührenrechtliche Beurteilung einer durchgeführten Behandlung. Die Petentin ist vermutlich nicht gut beraten gewesen, und die Klinik will natürlich ihr Geld. So hat nicht nur die Petentin, sondern auch der Petitionsausschuss mit Unverständnis auf die drastische Kürzung der Kostenerstattung durch die private Krankenversicherung reagiert. Die Petentin legte einen ausführlich begründeten Widerspruch ein, doch auch dem wurde nicht stattgegeben. Daraufhin wandte sich die Petentin an die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, aber auch sie sah keine Veranlassung, zu handeln, und hat nur auf den Rechtsweg verwiesen. Das würde natürlich bedeuten, dass die Petentin teure privatjuristische Wege gehen müsste. Dabei besteht die Gefahr, dass sie auf den Kosten sitzen bleibt. Der Petitionsausschuss hat den Einzelfall geprüft und festgestellt, dass zwar kein Fehlverhalten der Krankenkasse vorliegt, aber die Eingabe dennoch Anlass gibt, die Petition der Bundesregierung und dem Bundesministerium für Gesundheit zur Erwägung zu überweisen, damit das Anliegen dort noch einmal überprüft und nach Möglichkeiten der Abhilfe im Sinne der Petentin gesucht wird; denn es kann doch nicht sein, dass medizinisch notwendige ärztliche Behandlungsmethoden nach dem neuesten Stand der Medizin wegen Unklarheiten bei der Kostenberechnung und ‑erstattung ausgeschlossen werden, wenn eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. In diesem Sinne bitte ich Sie im Namen des Petitionsausschusses um Zustimmung zu dem Votum des Petitionsausschusses. Danke schön. ({0})

Dr. Johann Wadephul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004182, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir erleben in der Tat eine Eskalation militärischer Gewalt in Idlib, und das ist im Grunde eine verharmlosende Umschreibung dessen, was geschieht. Es ist eine humanitäre Katastrophe. Der Kollege Omid Nouripour hat dankenswerterweise einigen Kolleginnen und Kollegen die Gelegenheit gegeben, vor dieser Sitzung mit Vertretern der Weißhelme zu sprechen; das war beeindruckend. Ich möchte an der Stelle sagen: Die Frauen und Männer, die seit vielen Jahren in Syrien unter Einsatz von Leib und Leben Menschen retten, verdienen unsere Hochachtung und unsere Unterstützung, aber natürlich auch unsere politischen Antworten auf das, was sie zum Schutze ihrer Mitbürgerinnen und Mitbürger in ihrem Heimatland leisten. Herzlichen Dank für die Gelegenheit dieses Austausches! ({0}) Was geschieht, ist, dass das Assad-Regime versucht, durchzusetzen, was der Diktator angekündigt hat, nämlich die komplette Rückeroberung Syriens, und das geschieht mit russischer Hilfe, mit russischer Unterstützung und mittlerweile in einer Konfrontation mit der Türkei. Das Regime allein könnte all das, was es militärisch in der Vergangenheit geleistet hat, ohne iranische Unterstützung und insbesondere ohne die Unterstützung Russlands in dieser Region nicht leisten. Was wir jetzt in Idlib erleben, zeigt, dass Putin der Türkei, aber auch der Welt bewiesen hat, dass seine Abkommen wie die von Sotschi oder Astana nur dann etwas wert sind, wenn sie Russland etwas nützen. Ich glaube, das ist eine der ersten Lehren, die wir ziehen müssen. Das verlangt von uns, das verlangt von Europa eine geschlossene Reaktion, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({1}) – Wenn das Ihre einzige Einlassung dazu ist – wo sich Vertreterinnen und Vertreter Ihrer Fraktion mit diesem schrecklichen, menschenverachtenden Regime noch treffen –, ist das sehr bezeichnend – Vertreterinnen und Vertreter der AfD-Fraktion hier. ({2}) Hier wird ein Krieg gegen das eigene Volk geführt, ohne jede Rücksichtnahme, in einer Brutalität, wie wir es nie erlebt haben, ({3}) unter Verletzung der grundlegenden Vorschriften des Kriegsvölkerrechtes. Das ist eine humanitäre Katastrophe; es ist aber auch eine zivilisatorische Katastrophe. Und da noch danebenzustehen: Da sollte man sich schämen! Dem muss man entgegentreten. ({4}) Man muss aber auch in der Situation klar sagen: Was können wir machen? Was sollten wir machen? Wozu sind wir in der Lage? Wo wären wir überfordert? Ich will an dieser Stelle offen sagen, dass es natürlich wünschenswert wäre, eine „no-fly zone“, eine Flugverbotszone, zu errichten. Ich will aber auch sagen: Wir müssen sehen, was wir leisten können und wozu wir auch rechtlich in der Lage sind. Wir sollten uns an das Völkerrecht halten; das ist für uns immer die Maßgabe. Das heißt, ohne ein UN-Mandat wird es dort keinen militärischen Einsatz geben können. Ich bin deswegen etwas irritiert, dass Herr Borrell so etwas ins Spiel gebracht hat. Man muss natürlich auch wissen, dass dies eine unmittelbare militärische Konfrontation mit Russland wäre. Das ist eine Geschichte, die man sich sehr überlegen muss. ({5}) Aber die Europäische Union muss hier geschlossen reagieren. Europa muss Russland sagen, dass wir eine zweite schwere, tiefgreifende Verletzung des Völkerrechts ({6}) nach der Krim-Annexion und nach der andauernden Tätigkeit in der Ostukraine nicht hinnehmen. Deswegen ist Russland hier in der Verantwortung. ({7}) Wir schauen hin, Herr Putin, wie Sie sich verhalten, ob Sie Kriegslogik über die Logik der Humanität setzen. Herr Putin, darauf wird Europa achten, und das wird für uns Maßstab des Umgangs mit Ihnen auch in der Zukunft sein. ({8}) Wir müssen der Türkei klar sagen, dass sie am Scheideweg steht, was die Aktivitäten der türkischen Armee auf syrischem Gebiet angeht. Das haben wir mehrfach gesagt. In der Tat – auch Stefan Liebich hat das immer gesagt, sich aber in seiner Fraktion nicht durchsetzen können –: ({9}) Für uns ist klar: Es gibt keine zwei Maßstäbe. Es ist nicht völkerrechtlich legitimiert, was die Türkei dort macht. ({10}) Deswegen fordern wir die Türkei auf: Halten Sie das Völkerrecht ein, und achten Sie darauf, Herr Erdogan, wer Ihre wahren Partner der Zukunft sind. Das kann nur Europa, das kann nur der Westen sein. Jetzt nach Russland zu fahren und in dieser Stunde zu sagen, wie ich es im Ticker gelesen habe: „Die türkisch-russischen Beziehungen sind auf einem Höhepunkt und sollten sich verbessern“, das ist ein Kotau des türkischen Präsidenten. Wir bieten der Türkei eine Partnerschaft an. Wir helfen, weil sie viele Flüchtlinge aufnimmt, aber das nur auf einer klaren Wertebasis, und die muss auch die Türkei wieder einhalten, liebe Kolleginnen und Kollegen. Das ist die Grundlage dafür, dass wir hier zu einer Einigung kommen. Herzlichen Dank. ({11})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Wadephul. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Dr. Alexander Gauland. ({0})

Dr. Alexander Gauland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004724, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Demokraten! ({0}) Wir schauen dieser Tage einer Politik beim Scheitern zu, der nicht wenige genau dieses Scheitern prophezeit haben, und das waren nicht nur wir. ({1}) Wenn man ein Gebäude auf ein poröses Fundament setzt, ist der gesamte Bau nichts wert. Ein solches poröses Fundament ist der sogenannte Flüchtlingsdeal der Bundeskanzlerin mit Herrn Erdogan. Wir haben von Anfang an gesagt, dass die Bundesrepublik sich mit diesem Handel erpressbar macht, und nun ist es so weit. Allmählich dürfte auch der Letzte begriffen haben, dass der türkische Präsident eben kein seriöser Partner ist. ({2}) Die Türkei führt in Syrien einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg. Der Bundesaußenminister hat im Oktober die türkische Offensive verurteilt. Am 28. Februar aber verurteilte Herr Maas die – Zitat – „fortgesetzten Angriffe des syrischen Regimes“ und sprach der Türkei sein Mitgefühl aus. Ja, der Staat des Herrn Assad ist ein Regime. Aber ein Land aufzufordern, es möge damit aufhören, sein eigenes Territorium zu verteidigen, das ist grotesk. Die Provinz Idlib ist syrisches Staatsgebiet, nicht türkisches. ({3}) Mit seinem Tweet gestand der Bundesaußenminister der Türkei en passant das Recht zu, mit ihren Truppen in Syrien zu stehen. Ähnlich äußerte sich auch Regierungssprecher Steffen Seibert. Und als Krönung spricht der Außenminister einem Aggressor sein Mitgefühl aus. Diese Anbiederei zeigt, wie erpressbar wir durch den Flüchtlingsdeal geworden sind. ({4}) – Wenn es Unfug ist, können Sie ja reden. Herr Erdogan hat jetzt noch die Stirn, die NATO um Unterstützung bei seinem Syrien-Abenteuer zu bitten. Das würde bedeuten, die NATO in einen Krieg mit Russland zu ziehen. Der EU-Chefdiplomat Herr Borrell warnt vor dem – Zitat – „Risiko, in einen offenen großen militärischen Konflikt zu rutschen“. Gottlob werden die Amerikaner bei diesem Unsinn nicht mitspielen. ({5}) Die scheidende CDU-Vorsitzende und ein Kandidat für die Nachfolge, Herr Röttgen, fordern wegen Putins Unterstützung von Assad weitere Sanktionen gegen Russland. Warum eigentlich, Herr Röttgen, nicht gegen die Türkei? ({6}) Russland wurde wegen der Annexion der Krim sanktioniert; aber die Türkei wird von der Bundesregierung nicht einmal aufgefordert, sich aus Syrien zurückzuziehen. Erdogans Drohung mit einer Migrantenwelle wirkt also. Vielleicht nimmt sich die Bundesregierung mal ein Beispiel am österreichischen Bundeskanzler. ({7}) Sebastian Kurz hat Griechenland Unterstützung bei der Sicherung der EU-Außengrenzen angeboten. Die Krise, so Kurz, sei durch Erdogan bewusst ausgelöst worden, der Zehntausende Menschen in Bussen und unter falschen Versprechungen an die Grenze transportiert habe. Kurz sprach von einem „organisierten Ansturm“ und nannte das Verhalten der türkischen Seite einen Angriff auf die EU. Der türkische Präsident missbrauche die Migranten als Waffe und als Druckmittel. Dieses Vorgehen verurteile er aufs Schärfste. Warum eigentlich dagegen keine Sanktionen? Bei den Migranten handelt es sich übrigens nur in Ausnahmefällen um Syrer, die aus dem umkämpften Idlib geflohen sind, und auch sehr selten um Frauen und Kinder, ({8}) auch wenn manche Medien etwas anderes suggerieren, wie im Jahr 2015. Wirkliche humanitäre Hilfe muss direkt in die umkämpfte Region gehen. Die Bundeskanzlerin hat gesagt – und wir hören es von der CDU ununterbrochen –, 2015 dürfe sich nicht wiederholen. Aber ich fürchte, es fehlt der politische Wille dazu. Wenn sich 2015 nicht wiederholen soll, gibt es nur einen Weg: Wir müssen endlich unsere Grenzen gegen illegale Migration schützen. ({9}) Und wenn die europäischen Außengrenzen nicht zu schützen sind, dann müssen wir die deutschen Grenzen schützen. ({10}) Die Bundeskanzlerin hat im September 2002 im Bundestag gesagt, bei der Einwanderung sei das „Maß des Zumutbaren überschritten“. Bevor wir neue Zuwanderung haben, „müssen wir erst einmal die Integration … verbessern“ – Zitat unserer Bundeskanzlerin. Das ist exakt die Position der AfD. ({11}) Nun, mehr als 2 Millionen Migranten später, sollte die Bundeskanzlerin ihren Worten endlich Taten folgen lassen. Ich bedanke mich. ({12})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön. – Nächster Redner: für die Bundesregierung Staatsminister Niels Annen. ({0})

Niels Annen (Gast)

Politiker ID: 11003732

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist schon bezeichnend, Herr Gauland, worüber Sie nicht geredet haben. Wir reden in dieser Aktuellen Stunde über Idlib, und deswegen lohnt es sich vielleicht, einmal den Blick auf Idlib zu richten. ({0}) Das Assad-Regime hat seit Beginn des Krieges mit Unterstützung seiner Verbündeten, iranisch unterstützter Milizen, aber vor allem der Russischen Föderation, ein Muster entwickelt: Es wurden die Gebiete, die von der Opposition kontrolliert wurden, von der Außenwelt abgeschnitten, eingeschlossen, ausgehungert und die zivile Infrastruktur systematisch bombardiert, inklusive Krankenhäuser und ziviler Helfer. Nach mehreren Monaten hat man den geplagten Menschen in diesen Gegenden dann ein sogenanntes Angebot gemacht: Sie konnten sich ergeben, sie hatten die Möglichkeit, weiterzukämpfen und getötet zu werden, oder sie konnten abziehen. Darüber ist dann verhandelt worden. Abgezogen wurde in andere Gebiete, die noch von der Opposition kontrolliert wurden, meistens aber nach Idlib. Neun Jahre geht das jetzt schon so. Dieser Krieg mit seinen furchtbaren Verwerfungen, mit seinen furchtbaren Entwicklungen ist jetzt auch in Idlib angekommen. Aber diese Logik, diese zynische Logik des Assad-Regimes kommt an ein Ende; denn für Idlib, meine sehr verehrten Damen und Herren, gibt es kein Idlib. Die Vereinten Nationen sehen in Idlib die größte humanitäre Katastrophe seit Ausbruch des Syrien-Krieges. Fast 1 Million Menschen befinden sich auf der Flucht, und für sie gibt es im Moment keinen anderen Weg, als innerhalb der Enklave selber Schutz zu suchen. 80 Prozent davon sind Kinder und Frauen. Sie harren bei Wintertemperaturen aus, teils unter freiem Himmel. Humanitäre Helfer sind überlastet, und sie sind – ich habe das eben dargestellt – auch selber Ziel der Angriffe des Regimes und der Verbündeten. Die Eskalation der vergangenen Tage hat dabei aus meiner Sicht zweierlei verdeutlicht: Sowohl Russland als auch die Türkei sind bereit, ein hohes Risiko auch direkter russisch-türkischer militärischer Konfrontation einzugehen. Das ist ein großes Risiko für die gesamte Region. Wir sehen aber auch, meine sehr verehrten Damen und Herren, dass Russland und die Türkei bereit sind, nach Möglichkeiten zu suchen, politische Absprachen zu treffen, zur Deeskalation zu kommen. Ich sage das zu einem Zeitpunkt, wo sich Präsident Erdogan und Präsident Putin treffen und darüber miteinander reden, und ich hoffe für die betroffenen Menschen, dass es zumindest zu einer belastbaren Vereinbarung über einen Waffenstillstand kommt. ({1}) Denn, meine sehr verehrten Damen und Herren, wir benötigen dringend die Räume zur Versorgung der Binnenvertriebenen. Wir brauchen diese Atempause für eine politische Lösung, aber vor allem, um den Zugang zu den betroffenen Menschen sicherzustellen. Da will ich auch mal etwas zum Verhalten der Russischen Föderation sagen. Die Vereinten Nationen haben den Zugang zu syrischen Gebieten mit einer Resolution sichergestellt. Diese sogenannte Cross-Border-Vereinbarung ist in Teilen aufgekündigt worden, mit der Androhung eines Vetos. Ein wichtiger Grenzübergang steht den Vereinten Nationen nicht mehr zur Verfügung. Auch darüber müssen wir reden, und darüber verhandeln wir im Moment als nichtständiges Mitglied im Sicherheitsrat. Wir werden daher, meine sehr verehrten Damen und Herren, den Druck im UN-Sicherheitsrat aufrechterhalten. Außenminister Maas hat sich vergangene Woche mit sehr klaren Worten im Sicherheitsrat in New York für ein sofortiges Ende der Kampfhandlungen eingesetzt und die Verletzungen des humanitären Völkerrechts scharf verurteilt. Weil häufig gesagt wird, wir hätten die Zeit nicht genutzt, will ich hier die Gelegenheit nutzen, auch daran zu erinnern, dass wir einen Resolutionsentwurf zu Idlib vor der Eskalation der Krise eingebracht haben, der durch die Androhung und Einlegung eines Vetos am Ende nicht die nötige Mehrheit gefunden hat. Deswegen will ich es hier in aller Deutlichkeit sagen: Russland muss wissen, dass die militärische Unterstützung des Assad-Regimes, dass die gezielte Bombardierung von Schulen und Krankenhäusern inakzeptabel ist und auch einen hohen politischen Preis hat. ({2}) Und das Assad-Regime muss wissen, dass es an den Verhandlungstisch zurückkehren muss, um den Konflikt politisch zu lösen. Weil über vieles geredet wird, aber meiner Beobachtung nach nicht mehr ausreichend über den politischen Prozess, will ich auch sagen: Wir haben, den Sitz im Sicherheitsrat nutzend, aber auch mit unseren europäischen Verbündeten hart daran gearbeitet, dass es überhaupt so etwas wie eine politische Vereinbarung gibt, dass es das Verfassungskomitee in Genf gibt – ein mühsamer Prozess. Es droht ein Rückschlag. Deswegen hier auch meine Bitte an Sie: Unterstützen Sie uns weiterhin bei den Bemühungen, dem Sondergesandten Pedersen die notwendige politische Unterstützung und die Ressourcen zu geben, um diese Arbeit fortzusetzen. ({3}) Angesichts der dramatischen Situation ist es natürlich so, dass es jetzt vor allem um die Menschen geht, die vor Ort betroffen sind. Deutschland und die Europäische Union gehören zu den größten Gebern humanitärer Hilfe in Syrien. Allein für die gegenwärtige Krise in Idlib hat die Bundesregierung seit Dezember bereits 53 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Das Auswärtige Amt kann angesichts des rasant steigenden Bedarfs zusätzliche 100 Millionen Euro für humanitäre Soforthilfe in Idlib bereitstellen. Aber, meine Damen und Herren – ich sage das ganz bewusst hier in diesem Hause –, wir werden absehbar einen höheren Bedarf haben, und ich bitte Sie sehr, uns dabei zu unterstützen, diese Hilfe auch in Zukunft weiter fortsetzen zu können. ({4}) Wir haben heute das informelle Treffen der Außenminister im Gymnich-Format und morgen einen Sonderrat der Außenminister. Es wird also auch eine Möglichkeit geben, in Zagreb darüber zu sprechen, was jetzt eigentlich die europäische Antwort, was der europäische Beitrag sein kann. Aber leicht, meine sehr verehrten Damen und Herren, wird das nicht; denn zwischen der EU und der Türkei ist viel Vertrauen verloren gegangen. Wenn wir als EU aber handlungsfähig bleiben wollen – der Kollege Wadephul hat zu Recht darauf hingewiesen –, dann müssen wir über alle Differenzen hinweg zusammen, auch mit der Türkei, eine gemeinsame Antwort auf das unerträgliche menschliche Leid in Idlib finden. ({5}) Das bedeutet aber nicht – lassen Sie mich auch das hier sehr klar sagen –, dass wir Differenzen verschweigen. Die Instrumentalisierung von Menschen, die sich seit Jahren, übrigens unterstützt durch Mittel der Europäischen Union, regulär in der Türkei aufhalten, ist inakzeptabel. Das haben wir der Türkei sehr deutlich gemacht. Gerade weil wir in Deutschland so viele Flüchtlinge aufgenommen haben, wissen wir doch selber, welche Schwierigkeiten das mit sich gebracht hat – auch welche Veränderungen im politischen Klima unseres Landes das mit sich gebracht hat. Und deswegen gibt es wahrscheinlich kein Land, das so viel Verständnis für die schwierige Situation der Türkei aufbringt, wie Deutschland. ({6}) Aber wir werden uns auch nicht erpressen lassen. ({7}) Wir müssen vielmehr praktische Lösungen erreichen, um die Zusammenarbeit in der Flüchtlingspolitik zwischen der EU und der Türkei fortzusetzen und zu verbessern. Aber dazu muss auch Ankara seinen Verpflichtungen gegenüber der EU nachkommen. Wir sind weiter bereit, unseren fairen Anteil am Lastenausgleich zu leisten. Entgegen manchen Behauptungen wird das Abkommen mit der Türkei umgesetzt. Aber richtig ist auch: Wir werden in der Europäischen Union zur Fortsetzung zentraler Programme mehr Geld in die Hand nehmen müssen; denn von den zugesagten 6 Milliarden Euro sind die meisten Mittel absehbar verbraucht. Für zentrale Projekte brauchen wir dieses entsprechende Geld. Diese Vereinbarung – das wissen wir alle – ist nicht perfekt, aber sie hat sich bewährt – vor allem für die betroffenen Menschen in der Türkei. Wir sichern den Zugang zu Schulen, zur Basisversorgung, und daran werden wir festhalten. Wir bitten dabei insbesondere den Deutschen Bundestag um Unterstützung. Ich bedanke mich sehr für die Aufmerksamkeit. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Niels Annen. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Alexander Graf Lambsdorff. ({0})

Alexander Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004798, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herzlichen Dank. – Frau Präsidentin! Unsere Aktuelle Stunde hier ist überschrieben mit dem Titel „Die Eskalation in Idlib und die Folgen für Europa“. Ich finde, es ist wichtig, dass wir uns zunächst einmal klarmachen, was für ein riesiger Abstand zwischen diesen beiden Gebieten liegt. Idlib ist, an der türkisch-syrischen Grenze, 1 400 Kilometer von der Provinz Edirne entfernt, und trotzdem haben die beiden miteinander zu tun. Deswegen debattieren wir das hier. Idlib ist das letzte Gebiet in Syrien, das das Regime nicht kontrolliert, und wir sehen dort im Moment eine türkisch-russische Konfrontation und Angriffe der syrischen Truppen. Gleichzeitig, während wir hier debattieren, finden Gespräche in Moskau zwischen Präsident Putin und Präsident Erdogan über eine Deeskalation statt. Was uns als Freie Demokraten beunruhigt, ist, dass die beiden das ganz allein unter sich ausmachen. Es wäre schön, wenn die Europäische Union, wenn Frau Merkel, wenn Herr Macron dabei sein könnten, wenn es nämlich so wäre, dass wir zu einer Gesamtlösung kommen. Deswegen, glaube ich, wäre es gut, wir würden diese Kernfrage des Friedens in Syrien und der Folgen für Europa auch mit Europa diskutieren. ({0}) Die Folgen in Edirne, an der türkisch-griechischen Grenze, sind Folgen, die die Türkei bewusst herbeigeführt hat. Es hat eine Desinformationskampagne in der Türkei gegeben, nach dem Motto, die Grenze nach Europa sei auf. Busse wurden bereitgestellt, 13 000 Menschen wurden an die Grenze gekarrt. Jetzt stellen sich dort viele Menschen die Frage: Ist das, was wir dort sehen, nämlich die Sicherung der Außengrenzen der Europäischen Union, ein Widerspruch zu unseren humanitären Werten, ja oder nein? – Unsere Antwort ist: Nein. Es gibt keinen Widerspruch zwischen Humanität und sicheren Grenzen. ({1}) Die Europäische Union – um mal auf das Thema Humanität zu kommen – ist der größte Geber für das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, das sich in Jordanien, im Libanon, aber auch in der Türkei um die Geflüchteten aus Syrien kümmert. Die Europäische Kommission hat gerade erklärt, es werde noch mal 170 Millionen Euro für das Flüchtlingshilfswerk geben. Für das Welternährungsprogramm und für UNICEF geben wir ebenfalls Geld. Wir sind als Europäer humanitär eine Supermacht. ({2}) Trotzdem haben wir zusätzlich – und das haben wir als Freie Demokraten immer begrüßt ‑das Abkommen zwischen der Europäischen Union und der Türkei, weil die Türkei mit 3,5 Millionen Geflüchteten im Land eine außergewöhnliche Belastung trägt. Warum die Türkei das so kritisiert, ist ganz offensichtlich. Wir haben als Europäer gesagt: Wir wollen, dass diese Mittel den Geflüchteten direkt zukommen und das Geld nicht in den türkischen Staatshaushalt geht. – Das nervt die Türkei, das nervt Herrn Cavusoglu, das nervt Herrn Erdogan. Das muss man aber wissen, wenn man darüber redet. ({3}) Jetzt erklärt Herr Cavusoglu, der türkische Außenminister, Griechenland und die Europäische Union ließen die Migranten an der europäischen Grenze nicht hinein; das sei inhuman, das verstoße gegen europäische Werte, das verstoße auch gegen Völkerrecht. Meine Damen und Herren, jetzt gucken wir noch mal bitte auf die Situation in Idlib. Dort haben wir eine humanitäre Katastrophe. Dort haben wir Menschen, die vor Bomben, vor Luftangriffen flüchten. Dort haben wir eine Situation, in der ein Staat nach der Genfer Flüchtlingskonvention eigentlich verpflichtet wäre, seine Grenzen zu öffnen. Das tut die Türkei aber nicht. Wir haben von der Türkei keine Lektionen erteilt zu bekommen, wenn es um Humanität geht! ({4}) Was folgt daraus für uns als Europäer? Die Europäische Union muss Griechenland dabei helfen, seine Grenze unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu sichern. Ich sage hier eines ganz deutlich: Die ins Spiel gebrachte – mindestens subkutan, subtil – unkontrollierte Grenzöffnung wäre der falsche Weg, und zwar aus einem ganz einfachen Grund: Es gibt 3,5 Millionen Geflüchtete in der Türkei. Wenn wir jetzt, wie manche das hier vorschlagen, die Grenze einfach öffnen würden, würde ein unglaublicher Druck auf diese Menschen in der Türkei ausgeübt werden, die Türkei sofort nach Norden hin zu verlassen, nach dem Motto „Jetzt könnt ihr doch alle nach Deutschland“. Wir wären mit einer Vertreibung der Geflüchteten aus der Türkei konfrontiert. Wir haben in der Türkei inzwischen leider eine antisyrische Stimmung. Deswegen wäre eine Grenzöffnung nicht humanitär, sie wäre genau das Gegenteil. ({5}) Das heißt nicht, dass wir Härtefälle von den griechischen Inseln, Härtefälle vom griechischen Festland nicht in Europa verteilen sollten. Das heißt nicht, dass wir den Griechen nicht durch zusätzliche Entscheider aus dem BAMF, durch zusätzliche Truppen von Frontex helfen sollten. Nein, im Gegenteil: Praktische Hilfe für Griechenland ist das, was jetzt gefordert ist. ({6}) Zum Syrien-Gipfel. Wir brauchen als erste Maßnahme eine Waffenruhe für die Provinz Idlib, und wir brauchen danach den politischen Prozess, um Frieden in Syrien herzustellen. Letzter Punkt. Ich habe es gesagt: Das Abkommen mit der Türkei war sinnvoll und richtig. Wir brauchen aber ein Update für dieses Abkommen, um klarzumachen, dass wir respektieren, dass die Türkei eine besondere Last trägt. Mit anderen Worten – Fazit –: Wir brauchen Frieden in Syrien, dafür den Gipfel, wir brauchen politische Hilfe, praktische Hilfe für Griechenland, und wir brauchen – so schwierig das im Moment auch ist – vertrauensbildende Gespräche mit der Türkei. Herzlichen Dank. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Alexander Graf Lambsdorff. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Ulla Jelpke. ({0})

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zweifellos schreckliche Bilder erreichen uns aus Idlib; denn die syrisch-russischen Truppen nehmen bei ihrem Kampf gegen dschihadistische Terroristen leider ebenso wenig Rücksicht auf Zivilisten wie zuvor die USA in Mosul. Ich will hier für die Linke ganz deutlich sagen: Wir verurteilen Luftangriffe auf Zivilisten ohne Wenn und Aber. ({0}) Hunderttausende sind vor den Kämpfen geflohen, doch die Türkei lässt die Schutzsuchenden nicht über ihre befestigten Grenzen. Erdogan hat der syrischen Regierung stattdessen den Krieg erklärt. Er lässt seine Truppen in Syrien einmarschieren und beschießt syrische Flugzeuge. Doch die Bundesregierung sichert Erdogan, wie wir es auch gerade eben wieder gehört haben, Solidarität zu. Solidarität für einen völkerrechtswidrigen Krieg? ({1}) Das ist einfach unglaublich. ({2}) Damit stellt sich die Bundesregierung ganz offen an die Seite des Aggressors; denn in Idlib kämpfen keine edlen Rebellen, wie uns die Bundesregierung oft weismachen will. Dort herrscht der syrische Ableger von al-Qaida. Hinzu kommen Zehntausende ausländische Dschihadisten sowie Kämpfer des sogenannten „Islamischen Staates“. ({3}) Der Historiker Götz Aly hat es im Deutschlandfunk auf den Punkt gebracht: „Idlib ist ein Terroristennest.“ Er sagt: Man muss diesen Terroristen, die dort sitzen, das Wasser abgraben. Man muss sie zwingen, dass sie ihre Waffen niederlegen. Zitat von Götz Aly. ({4}) Die Bundesregierung stellt Russland als Aggressor dar; das haben wir heute wieder gehört. Das ist wirklich eine eklatante Verdrehung der Tatsachen; denn die russische Armee ist auf Bitten der syrischen Regierung in Syrien. ({5}) Dagegen hat die türkische NATO-Armee in Syrien nichts verloren. Ihr Einmarsch ist eindeutig völkerrechtswidrig. ({6}) Die Türkei hält ihre schützende Hand über al-Qaida. Sie hat deren Kampftruppen auch mit Panzern und Luftabwehrraketen ausgerüstet, und es gibt Dschihadisten in Panzerwagen mit deutscher Aufschrift, die von der Bundeswehr kommen und von deutschen Firmen produziert wurden, auf Bildern zu sehen. ({7}) Die Appeasement-Politik der Bundesregierung gegenüber Erdogan trägt nicht nur zur Verlängerung des Krieges und zur neuen Massenflucht bei. ({8}) Sie gefährdet auch die Sicherheit in Deutschland und in Europa. Deswegen erwarten wir von der Bundesregierung, dass sie endlich handelt und Erdogan in seine Schranken weist. ({9}) Meine Damen und Herren, mit der Öffnung der Grenze zur EU für Flüchtlinge will Erdogan die Zustimmung zu seinem Krieg erpressen. Doch was wir jetzt an der griechisch-türkischen Grenze erleben, ist nicht nur die Schuld von Erdogan. Es ist eine Folge des schändlichen EU-Türkei-Flüchtlingsdeals, ({10}) mit dem die Bundesregierung, aber auch die Regierungen aller anderen EU-Staaten versuchen, Schutzsuchende von Europa fernzuhalten. Schreckliche Bilder sehen wir in diesen Tagen auch an der türkisch-griechischen Grenze. Dort schießen griechische Soldaten mit Tränengas und scharfer Munition auf Schutzsuchende. ({11}) Es gibt mindestens einen Toten und viele Verletzte, vor allen Dingen auch Frauen und Kinder. Tausende hängen dort im Niemandsland zwischen Stacheldrahtbarrieren fest. Die griechische Regierung kündigt an, das Abschreckungsniveau – ich zitiere – „auf ein Maximum zu erhöhen“, und sie will das Recht auf Asyl mindestens einen Monat aussetzen. Das ist ein eklatanter Bruch mit dem internationalen Recht, meine Damen und Herren. ({12}) Auch hier keine klaren Worte – im Gegenteil! Innenminister Seehofer sagt: Erst Ordnung schaffen an den Grenzen, dann Humanität. – Das sind wirklich die vielbeschworenen Werte der EU? Ich schäme mich für diese Art von Politik – das muss ich wirklich sagen –; denn wir sagen genauso wie die Menschenrechtsorganisationen: ({13}) Die Menschen, die dort festsitzen, müssen nach Europa gelassen werden. Wir brauchen Aufnahmeprogramme und in erster Linie Solidarität mit den betroffenen Schutzsuchenden. Denn Erdogan hat sie direkt dorthin gekarrt.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Denken Sie bitte an die Redezeit.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich komme zum Schluss. – Wenn Sie nicht erkannt haben, dass das eine Erpressungspolitik von Erdogan ist, dann tut es mir wirklich leid, dann wollen Sie einfach die Augen verschließen. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Danke schön. – Nächste Rednerin für Bündnis 90/Die Grünen: Agnieszka Brugger. ({0})

Agnes Malczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004106, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In Idlib erfrieren Babys im Bombenhagel. An Europas Grenzen werden Kinder mit Tränengas beschossen. Menschen, die seit Jahren unter den Gräueltaten im Syrien-Krieg leiden, werden wieder einmal zum Spielball brutaler Machtpolitik. Assad-Truppen rücken mit russischer Unterstützung weiter auf Idlib vor, sie bombardieren dabei Schulen und Kindergärten, sie zielen auf Krankenhäuser, in denen Verletzte versorgt werden. Wer hier mit dem internationalen Recht und mit dem Völkerrecht argumentiert, der sollte doch einmal zur Kenntnis nehmen, dass es auch ein humanitäres Völkerrecht gibt, das ein Verhältnismäßigkeitsgebot enthält und es verbietet, zivile Einrichtungen und Kinder systematisch zu bombardieren. ({0}) Dieser Terror muss endlich aufhören. Und wenn ein Präsident Putin weiterbombt, bei den Vereinten Nationen blockiert und keine Waffenruhe zulässt, dann müssen doch zumindest auch individuelle Sanktionen gegen die Kriegsverbrecher in Syrien auf den Tisch, ({1}) dann müssen Konten eingefroren werden, Einreiseverbote ausgesprochen werden. Wir können und dürfen diesen Verbrechen nicht tatenlos zuschauen. Die Menschen in Idlib brauchen neben einer sofortigen Waffenruhe – das ist wirklich das Allerdringendste – vor allem Medizin, Nahrung und winterfeste Unterkünfte, damit sie nicht verhungern oder erfrieren. Es braucht wirklich allen Einsatz der Europäischen Union und der Bundesregierung, damit entsprechend den Beschlüssen des UN-Sicherheitsrates die humanitären Korridore wieder geöffnet werden und die Menschen dort versorgt werden können. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben hier vor Monaten auch über das große Leid gesprochen, das in Nordsyrien durch die völkerrechtswidrige türkische Besatzung noch größer wurde. Und jetzt nannte Außenminister Maas die Türkei jüngst einen Partner. Das ist doch ein Schlag ins Gesicht aller Menschen – insbesondere der Kurdinnen und Kurden –, die unter dieser schrecklichen Militäroffensive leiden oder vor ihr geflohen sind. Auch das ist völlig unangebracht. ({3}) Meine Damen und Herren, die brutale Geschichte des jahrelangen Krieges in Syrien ist doch, dass viele Staaten mit eiskalten Machtinteressen eingegriffen haben. So gut wie niemand hatte dabei den Schutz der Zivilbevölkerung oder eine friedliche Perspektive für das Land im Sinn. In diesem Konflikt gibt es mittlerweile keine guten Seiten mehr. Da ist es doch nicht die Aufgabe der Europäischen Union, sich aus Angst vor innenpolitischen Attacken mit einem EU-Türkei-Deal erpressbar zu machen. Es gibt doch zwei Varianten, wie wir auf diese Situation reagieren können – da haben wir die Wahl –: Die eine Variante bedeutet, Hass zu schüren, Angst zu machen, sich abzuschotten und die Rechte der Geflüchteten mit Füßen zu treten, Russland und Assad zu hofieren, wie es einige hier im Hause getan haben, oder mit Achselzucken auf den Bombenterror zu reagieren. Meine Damen und Herren, die andere Variante ist eine der Menschlichkeit und der Vernunft. In der gestrigen Debatte zum Bundesamt für Auswärtige Angelegenheiten hat die AfD die humanitäre Hilfe attackiert. Man muss doch einmal festhalten: Wer bei der humanitären Hilfe spart, der sorgt dafür, dass Essensrationen gekürzt werden, ({4}) dass der Zugang zu Gesundheit und Bildung fehlt, der macht die Not noch größer und sorgt nur für neuen Nährboden für Konflikte und Radikalisierung in der Region. ({5}) Dass diese reiche Welt fast zwei Billionen Dollar für Waffen übrig hat, aber immer wieder bei der humanitären Hilfe, gerade in den Krisenregionen, geizt, ist nicht nur menschlich unerträglich, sondern auch sicherheitspolitisch fahrlässig. Und ja, die Europäische Union und die Bundesregierung sind große Geldgeber in der Region bei der humanitären Hilfe. Dass Sie mit Blick auf Idlib und die katastrophale Situation dort noch einmal nachlegen wollen, das halten wir für richtig, und das werden wir von grüner Seite natürlich unterstützen. ({6}) Meine Damen und Herren, die Variante der Menschlichkeit und Vernunft ist aber auch eine, bei der die Bundesregierung und die Europäische Union einen Teil der Verantwortung tragen und sich nicht lange vor Problemen wegdrehen und abschotten, bis die Lösungen nur noch schwieriger werden – mit Kontingenten für besonders Schutzbedürftige. So hilft man nicht nur denen, die es am meisten brauchen, man hat auch eine Kontrolle darüber, wer kommt, und man schafft Fluchtwege ohne Lebensgefahr. Anders als hier gestern behauptet wurde, sind wir Grünen uns in Bund und Land – ob in Regierung oder Opposition – da sehr einig. Mein Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat sehr wohl ein Kontingent angeboten. Es ist diese Bundesregierung, die die Aufnahme von besonders Schutzbedürftigen bisher nicht möglich gemacht hat. ({7}) Wir Grüne stehen mit dieser Forderung weder auf nationaler noch auf internationaler Ebene allein. Heute Vormittag ist wieder behauptet worden, es gehe hier um einen nationalen Alleingang. Nein, auch in Europa gibt es Staaten, die sich dazu bereit erklärt haben. Ich weiß von der kommunalen Ebene, von vielen Landesregierungen aller Couleur, von vielen Kolleginnen und Kollegen hier in diesem Haus – an ihren persönlichen Erklärungen kann man das sehen –, von der CDU/CSU, von der FDP, von der Linkspartei, von der SPD, dass sie es eigentlich auch für den richtigen Weg halten. Herr Lambsdorff, ich traue Ihnen übrigens intellektuell zu, Grenzöffnung und Kontingente auseinanderzuhalten. ({8}) Sie haben hier unsere Vorschläge gestern abgelehnt. Sie sind aber Teil der Koalition, Sie tragen die Bundesregierung. Ja, Sie müssen nicht unseren Anträgen zustimmen; Sie können es auch einfach tun. Aber tun Sie es auch endlich! Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({9})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Agnieszka Brugger. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Thorsten Frei. ({0})

Thorsten Frei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004276, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Debatte zeigt meines Erachtens sehr gut, dass es diese alte, klassische Trennung zwischen Außenpolitik und Innenpolitik nicht mehr gibt. Wir sehen, wie die Außenpolitik sich unmittelbar in deutscher und europäischer Innenpolitik niederschlägt. Deshalb müssen wir diese Aspekte letztlich zusammen denken. Ich bin dankbar, dass bei uns der außenpolitische Teil durch Außenpolitiker dargestellt wird. Denn bei den Linken konnte man sehr gut sehen, dass Sie, liebe Frau Jelpke, in der außenpolitischen Bewertung so ziemlich alles durcheinandergebracht haben, was man in Bezug auf Syrien und Idlib durcheinanderbringen kann. ({0}) Ich muss es einfach in dieser Deutlichkeit sagen: Wer irgendeinen Zweifel an der Hufeisentheorie hatte, der musste sich durch Sie bestätigt fühlen. ({1}) Wenn ich die Augen zugehalten hätte, hätte ich nicht sagen können, ob diese Rede von der Linken oder von der AfD kommt. ({2}) Eine solche Rede hätte ich Ihnen, ehrlich gesagt, nicht zugetraut. Insofern muss man in aller Deutlichkeit sagen: Eine richtige Einordnung ist die Grundlage dafür, dass wir zu Lösungen kommen. Ein zweiter Punkt, den ich sagen möchte: ({3}) Wir sind nicht erpressbar gegenüber der Türkei, sondern wir müssen schauen, wie wir zu vernünftigen Lösungen kommen. Es ist genügend Richtiges zur Einordnung der Türkei gesagt worden. Dass das EU-Türkei-Abkommen ein wichtiges Mittel ist, um Migrationsherausforderungen zu bewältigen, ist einfach zutreffend. Wenn wir Schwierigkeiten dabei haben, dann bin ich dafür, dass wir dieses Abkommen revitalisieren, dass wir mit Erdogan darüber sprechen, wie wir da zusammenkommen können. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sollten vielleicht eines sehen: Wir haben die Punkte dieses Abkommens bisher erfüllt. Von den 6 Milliarden Euro sind 3,2 Milliarden Euro ausbezahlt. 4,7 Milliarden Euro sind vertraglich gebunden. 100 Prozent der 6 Milliarden Euro sind in Programmen gebunden. Und trotzdem: Wenn es darum geht, den Türken zu helfen, dass syrische Kriegsflüchtlinge in der Türkei etwa im Bereich der Gesundheitsversorgung, im Bereich der Bildung, im Bereich der Infrastruktur besser versorgt werden können, dann bin ich dafür, dass wir auch dafür das notwendige Geld zur Verfügung stellen; denn dieses Geld ist dort besser eingesetzt, als wenn wir es bei uns oder andernorts einsetzen würden. Das ist wichtig zu sagen. ({4}) Wir sind deshalb nicht erpressbar, weil es für uns ein Teil der Lösung ist. Wir sehen doch an Nordafrika, wie schlimm es ist, wenn wir auf der anderen Seite der Europäischen Union keine adäquaten Gesprächspartner haben. Das, was wir mit der Türkei haben, bräuchten wir eigentlich rings um Europa herum. Das ist das Problem, das wir haben. Eines ist auch klar: Wenn wir solche Abkommen haben, auch mit der Türkei, kann das am Ende nicht dazu führen, dass wir glauben, dass der Schutz unserer Grenzen exportierbar ist. Natürlich ist in der jetzigen Situation sicherzustellen, dass die europäischen Grenzen geschützt werden. Deswegen müssen wir alles tun, damit die Griechen bei diesen Aufgaben unterstützt werden. Es ist eine griechische Grenze. Es ist eine europäische Grenze, und damit werden auch deutsche Grenzen geschützt. Deshalb sollten wir alles Notwendige tun, um die Griechen dabei zu unterstützen: mit Geld, mit Material, wie etwa dem seetauglichen Hubschrauber, mit Personal. Dass wir zu den 60 Bundespolizisten, die wir im Rahmen von Frontex dort eingesetzt haben, 20 weitere zur Verfügung stellen, ist richtig. Ich bin dafür, dass wir alles tun, was die Griechen anfordern und was die Griechen für notwendig halten, um diese Grenze zu schützen. ({5}) Ich will an dieser Stelle sagen, dass der Preis hoch ist. Es geht um zwei Dinge. Erstens. Wenn es nicht gelingt, die europäischen Außengrenzen zu schützen, dann wird es nicht gelingen, den Schengen-Raum, die Freizügigkeit in Europa dauerhaft zu sichern. Denn nicht nur Deutschland, sondern auch andere Staaten werden gezwungen sein, nationale Grenzen engmaschig zu kontrollieren, und es wird zu Zurückweisungen kommen. Wer das verhindern will, muss alles dafür tun, dass die europäischen Außengrenzen geschützt werden und die Griechen in ihrer Arbeit unterstützt werden. ({6}) Zweitens. Wir arbeiten daran, dass wir zu einem besseren Gemeinsamen Europäischen Asylsystem kommen. Wer glaubt denn im Ernst, dass wir mit europäischen Partnern darüber sprechen können, wie Migranten in Europa verteilt werden sollen, wenn wir nicht in der Lage sind, die europäischen Außengrenzen zu schützen? Das eine ist Conditio sine qua non für das andere. Deswegen rate ich dringend dazu, alle Anstrengungen darauf zu richten, dass dies gelingt. Klar ist: Außen- und Innenpolitik sind zusammen zu denken. Deshalb ist auch klar: Hier kommt es auf Kommunikation an. – Das möchte ich zuletzt an die Adresse der Grünen sagen: Passen Sie auf mit der Kommunikation in die Region; denn sonst lösen Sie unter Umständen etwas aus, was wir alle nicht wollen können. Herzlichen Dank. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Thorsten Frei. Bevor ich der nächsten Rednerin das Wort gebe, gibt es nach § 30 unserer Geschäftsordnung den Wunsch nach einer Erklärung zur Aussprache. Ich gebe Frau Jelpke das Wort.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke, Frau Präsidentin. – Ich möchte hier eines noch einmal sehr deutlich machen, weil der Kollege Frei mich gerade ziemlich scharf angegriffen hat: ({0}) Ich habe sehr deutlich gesagt, dass Angriffe auf die Zivilbevölkerung aus der Luft oder sonst wie von uns aufs Schärfste verurteilt werden. ({1}) Herr Frei, ich möchte mich ausdrücklich scharf davon abgrenzen, dass Sie hier versuchen, AfD und Linke mal eben auf einer Ebene abzuhandeln. ({2}) Ich habe mit einer Partei, in deren Reihen Abgeordnete sitzen, die das Schießen auf Flüchtlinge aktuell bejubeln oder auch selber schon gefordert haben, überhaupt nichts zu tun. ({3}) Damit das ganz klar ist. Wer versucht, das auf einer Ebene abzuhandeln, der macht genau das, was die AfD gerne haben möchte, nämlich eine rechte Politik und Verharmlosung dessen, was die AfD hier immer wieder an Rassismus und Flüchtlingsfeindlichkeit vorträgt. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank. – Dazu gibt es laut Geschäftsordnung keine Erwiderung, Herr Frei. Dann kommt die nächste Rednerin: für die AfD-Fraktion Beatrix von Storch. ({0})

Beatrix Storch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004905, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen! Die Griechen schützen heute an der Grenze zur Türkei das Recht gegen die Gewalt, die Freiheit gegen die Tyrannei und Europa gegen Erdogan. Das kleine christliche Land am Rande der EU wird von einem skrupellosen Islamisten angegriffen. Unsere Solidarität gehört der griechischen Nation. ({0}) Erdogan leitet ganz offen die Migrantenströme an die griechische Grenze, damit die mehrheitlich jungen Männer – übrigens nicht aus Syrien, wie wir schon gehört haben – diese Grenze stürmen. Er will uns ins Chaos stürzen. Das ist ein Akt der Aggression, der eine klare Antwort erfordert. ({1}) Die Mittel dazu haben wir in der Hand: Aussetzung des Zollabkommens, Strafzölle, Stopp der Rüstungslieferungen und Stopp der Visavergaben für Reisen aus der Türkei in die EU. Dagegen ist die Unterwerfungshaltung der Bundesregierung erbärmlich. Die einzige Sprache, die dieser Diktator versteht, ist die Politik der Stärke, und das heißt Sanktion und nicht Subvention, wie gestern im Haushaltsausschuss noch einmal beschlossen. ({2}) Nur ein Blinder konnte nicht sehen, was kommt. Schon während der Verhandlungen des Deals mit der Türkei 2016 hat Erdogan gesagt – oder gedroht –: Wir können jederzeit die Türen nach Griechenland öffnen und die Flüchtlinge in Busse setzen. – Was er jetzt macht, hat er damals schon angekündigt. Die politische Verantwortung für diese verheerende Lage trägt niemand anderes als Frau Dr. Angela Merkel. ({3}) Merkel hat den deutschen Grenzschutz geopfert, um sich von der Presse als Mutter Teresa feiern zu lassen. Deshalb hat sie den Grenzschutz in die schmutzigen Hände des Despoten vom Bosporus gegeben und damit eben auch den Hebel in die Hand, Europa zu erpressen. ({4}) Der EU-Türkei-Deal ist Merkels Deal, und sein Scheitern ist Merkels Scheitern. ({5}) Mit dem Abkommen hat die Kanzlerin das Schicksal Europas und Deutschlands auf Gedeih und Verderb an die Launen eines Islamisten gekettet. Erdogan hat Zehntausende Oppositionelle eingekerkert. In Syrien kooperiert er mit Dschihadisten. In Deutschland präsentiert er sich gerne mit dem Gruß der Muslimbrüder. Das ist also der Partner, von dem Altmaier gesagt hat, er sei europäischer als viele Europäer. ({6}) Wie kann eine Regierung ihr Land nur so erniedrigen? ({7}) Die Ursache des Desasters ist, dass die Bundeskanzlerin die Drittstaatenregelung des Grundgesetzes außer Kraft gesetzt hat. Diese besagt: Wer zu Fuß aus Österreich einreist, hat hier kein Recht auf Asyl. – Also kann er auch kein Recht auf ein Asylverfahren haben und schon gar nicht einreisen. Helmut Kohl schreibt in seinen Erinnerungen über die 1993 durch Grundgesetzänderung eingeführte Drittstaatenregelung: Nur sie machte europäische Regelungen möglich. Nur sie ermöglicht die volle Teilnahme an Schengen und Dublin. Nur die Drittstaatenregelung kann Schlepperbanden und anderen Kriminellen das Wasser abgraben. Was der Kanzler der Einheit damals gesagt hat, das gilt bis heute. Die Abweisung von Asylbewerbern, die aus sicheren Drittstaaten kommen, ist der Schlüssel für die Lösung der Krise. ({8}) Das haben Sie, Union, SPD und FDP, damals mit verfassungsändernder Mehrheit beschlossen, und das war richtig; denn sonst zieht der deutsche Sozialstaat Migrantenströme aus aller Welt durch alle Länder Europas an. ({9}) Das schaffen wir nicht. Und: Das wollen wir auch gar nicht schaffen. ({10}) Wer für die größte Volkswirtschaft mit dem größten Sozialstaat in Europa die ultimative Willkommenskultur ausruft, ({11}) wer „Wir schaffen das!“ verkündet und erklärt: „Kein Mensch ist illegal“, der trägt Schuld daran, dass sich Millionen Menschen auf den Weg machen, ihr Leben gefährden und Europa im Chaos versinkt. ({12}) Wer das tut, der ist kein Menschenfreund, sondern ein gefährlicher Geisterfahrer. ({13}) Die Bundeskanzlerin steht jetzt endlich am Ende ihrer Kanzlerschaft. Das ist die letzte Gelegenheit, etwas wiedergutzumachen nach all dem, was sie in Europa angerichtet hat. ({14}) Frau Bundeskanzlerin, wenden Sie sich an die Migranten in der Türkei, sagen Sie ihnen, dass sie in Deutschland nicht willkommen sind! Erklären Sie Ihre Solidarität mit Griechenland, und zeigen Sie endlich Härte gegenüber Erdogan! Frau Merkel, Sie haben im Amt gegenüber dem türkischen Diktator bislang wenig Würde gezeigt; aber Sie könnten dann wenigstens in Würde gehen. Vielen Dank. ({15})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Die nächste Rednerin in der Aktuellen Stunde zur Eskalation in Idlib ist Gabriela Heinrich für die SPD-Fraktion. ({0})

Gabriela Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004296, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ja, Frau von Storch, eigentlich reden wir heute über Idlib. Wir reden über eine Provinz, in der nahezu 1 Million Menschen auf der Flucht sind. Das sind 1 Million von 3 Millionen, die in dieser Region leben. Viele von ihnen flüchten nicht zum ersten Mal, und die Lebensbedingungen sind katastrophal. Kann man hier eigentlich noch von Lebensbedingungen sprechen? Haben wir überhaupt irgendeine Art von Vokabular, um das zu beschreiben, was Menschen dort erleben müssen, was ihnen geschieht? Idlib macht deutlich, was passiert, wenn Menschenleben als nachrangig erachtet werden, als nachrangig gegenüber den Machtinteressen der bombenden Kriegsparteien. Das ist nicht das erste Mal. Das macht es aber nicht besser, und es entbindet uns nicht von der Verantwortung für die Flüchtenden. ({0}) Die kriegerischen Auseinandersetzungen nehmen seit Wochen und Monaten zu, mit steigenden Opferzahlen. Klar ist, dass die Eskalation mit dem Tod von über 30 türkischen Soldaten am vergangenen Donnerstag jetzt noch einmal eine neue Stufe erreicht hat. Hier in Deutschland und auf der ganzen Welt verfolgen die Menschen diesen Konflikt in Syrien. Idlib steht für die völlige Aufgabe jeder Menschlichkeit. Und manche Äußerungen der handelnden Akteure, aber auch manche Äußerungen hier sind so zynisch, dass sie kaum zu ertragen sind. ({1}) Das rücksichtslose und menschenverachtende Vorgehen des syrischen Regimes gegen seine eigene Zivilbevölkerung, gegen Frauen, Männer und Kinder in Idlib muss umgehend aufhören. ({2}) Wenn gezielt Bomben auf Krankenhäuser und Schulen gelenkt werden, dann sind das Kriegsverbrechen. ({3}) Russland und alle, die Einfluss auf das Assad-Regime haben, müssen diesen Einfluss dringend nutzen, um eine noch größere menschliche Katastrophe zu verhindern. Wenn wir darüber reden, wie wir den ersten Schritt schaffen, eine Waffenruhe, dann blicken wir insbesondere auf das heutige Treffen von Präsident Erdogan und Präsident Putin. Es kann nicht nur darum gehen, eine noch weitere Eskalation zu verhindern, die man tatsächlich befürchten muss. Erdogan und Putin müssen mehr dazu beitragen, den Konflikt in Nordsyrien zu deeskalieren. Wir können nur hoffen, dass dazu ein Schritt gegangen wird. Die Waffenruhe kann nur ein erster wichtiger Schritt sein; aber sie ist die Voraussetzung, um einen breiter angelegten Prozess zu beginnen. Deshalb unterstütze ich ausdrücklich den Vorschlag eines Vierergipfels von Frankreich, Deutschland, der Türkei und Russland. ({4}) Klar ist doch: Eine politische Lösung, eine langfristige und tragfähige Lösung, die wir für Syrien dringend brauchen, wird es nur im Rahmen der Vereinten Nationen geben, und auch nur dann können wir entsprechend handeln und mitmachen. An Russland kommt in diesem Konflikt niemand vorbei, der bei einer Waffenruhe oder einer langfristigen politischen Lösung mitarbeiten will. Wir sprechen beim syrischen Verfassungsprozess in Genf mit Russland, auch wenn es schwierig ist. Die von einigen erhobene Forderung von Sanktionen gegen Russland wird an dieser Ausgangslage aber nichts ändern. Eine Waffenruhe ist vor allem auch die Voraussetzung, um humanitäre Hilfe zu den Menschen zu bringen. Diese brauchen sie umgehend, und natürlich sind wir bereit, die Mittel zur Verfügung zu stellen, um weiteres Sterben zu verhindern. ({5}) Heiko Maas hat für die Bundesregierung heute 100 Millionen Euro zusätzlich für die Unterbringung und Versorgung der notleidenden Menschen in Idlib angeboten. Das unterstützen wir und, ich glaube, auch ganz viele in diesem Haus ausdrücklich. ({6}) Als nächsten Schritt brauchen wir eine Entflechtung der Konfliktparteien, damit der Waffenstillstand nachhaltig wird. Schließlich – damit komme ich zum Ende –: Die zahlreichen Kriegsverbrechen im syrischen Bürger- und Stellvertreterkrieg müssen weiter dokumentiert werden, um die Verantwortlichen zu gegebener Zeit zur Rechenschaft zu ziehen, ({7}) auch in Deutschland, wenn wir sie identifizieren können. Kein Täter darf sich jemals sicher sein, dass seine Taten ohne Konsequenzen bleiben – nirgendwo auf der Welt. Vielen Dank. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Gabriela Heinrich. – Der nächste Redner in der Aktuellen Stunde: Jürgen Hardt für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Jürgen Hardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004050, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bedanke mich für das Wort. – Ich möchte an dieser Stelle zu einem fortgeschrittenen Zeitpunkt der Debatte vor allem zwei Dinge in den Mittelpunkt stellen. Also das, was jetzt als Hufeisentheorie – neudeutsch – verkauft wird, ist aus dem 17. Jahrhundert: Les extrêmes se touchent. – Das haben ein französischer Philosoph namens Pascal und ein anderer namens La Bruyère schon festgestellt. Diejenigen, die radikale, extreme Thesen vertreten, müssen eben damit leben, dass Radikalität von links und Radikalität von rechts durchaus Berührungspunkte zeigen. ({0}) Wenn man an linken Veranstaltungen, an Strategiedebatten wie in Kassel teilnimmt, wo unakzeptable Dinge vorgetragen werden und von einem führenden Linken in flapsiger Art und Weise gesagt wird: „Na ja, wir müssen die Reichen vielleicht nicht erschießen, aber nützlicher Arbeit zuführen“, dann muss ich Ihnen ganz klar sagen: Mit dieser Haltung können Sie auch ein Konzentrationslager führen. ({1}) Davon müssen Sie sich schon ganz klar und eindeutig distanzieren. Was wir mit Blick auf die Situation in Idlib machen können, möchte ich gerne kurz erläutern. Ich glaube, dass wir dringend einen Waffenstillstand brauchen und den Zugang für humanitäre Hilfe. Ich möchte daran erinnern, dass es wirklich gut wäre, wenn wir es schon vor Jahren geschafft hätten, eine Schutzzone in Syrien einzurichten, in der Geflüchtete sichere Unterkunft und Aufnahme hätten finden können. Dieser Vorschlag ist leider nicht realisierbar gewesen, vielleicht auch deshalb, weil wir in Deutschland und Europa zu zögerlich waren; aber natürlich auch, weil wir in den Vereinten Nationen dafür keine Mehrheit zustande bringen konnten. Ich glaube, dass wir jetzt einen neuerlichen Anlauf unternehmen sollten, wenn schon keine Schutzzone, so doch ein sicheres Gebiet für die Versorgung der Flüchtlinge aus Idlib auf syrischem Boden zu ermöglichen. Ich hoffe, dass die Gespräche, die heute in Moskau stattfinden, und das, was möglicherweise in den nächsten Tagen auf anderen Ebenen stattfindet, zu einem solchen konkreten Ergebnis führen. Denn die humanitäre Katastrophe, die in Idlib stattfindet und sich fortzusetzen droht, kann auf diese Weise, wie ich finde, wirksam beendet werden. Deutschland sollte, insbesondere wenn es um humanitäre Hilfe geht, nicht an der Seite stehen. Ich begrüße ausdrücklich, dass die Bundesregierung diese finanzielle Zusage gegeben hat. Mit Blick auf die Türkei bin ich der Meinung: Die Europäische Union sollte der Türkei ganz klar sagen: Wir erwarten eine Rückkehr zu den Regeln des EU-Türkei-Abkommens; aber wir bieten gleichzeitig offene, faire Gespräche darüber an, ob dieses Abkommen möglicherweise weiterentwickelt werden muss. 3,2 Milliarden Euro sind bereits ausgegeben; die zugesagte Summe von 6 Milliarden Euro ist verplant. Gemessen an dem, was wir insgesamt für Flüchtlingsarbeit weltweit und in Deutschland ausgeben, ist die Summe von 3,2 Milliarden Euro der gesamten Europäischen Union in einem Zeitraum von über vier Jahren kein außerordentlich hoher Betrag, der nicht auch aus guten und gerechtfertigten Gründen gesteigert werden könnte. Ich finde, an diesem Punkt sollte es nicht scheitern. Aber eine Voraussetzung dafür, dass wir mit der Türkei wieder in diesen Dialog eintreten, ist, dass die Türkei tatsächlich zu den Regeln dieses Abkommens zurückkehrt und die Provokationen der letzten Tage einstellt. ({2}) Mit Blick auf Griechenland glaube ich, dass wir, Deutschland und die Europäische Union, die griechische Regierung aktiv unterstützen sollten, die Grenze, unsere EU-Außengrenze, die unsere gemeinsame Grenze ist, wirksam zu schützen. Ich glaube, dass die Personen, die gegenwärtig versuchen, diese Grenze zu überschreiten, zu 100 Prozent nicht bzw. nicht jetzt aus Bürgerkriegsgebieten in Syrien geflohen sind, sondern bereits seit Monaten oder Jahren sichere Aufnahme in der Türkei gefunden haben. Sie leben dort nicht unter Umständen, die wir persönlich uns auch wünschen würden, aber doch in einer Art und Weise, dass man das völkerrechtlich als sicher betrachten kann. Ich glaube, nebenbei gesagt, dass unter diesen Menschen nicht so sehr viele sind, die aus Syrien kommen; denn die syrischen Flüchtlinge werden in der Türkei relativ besser betreut als Flüchtlinge aus anderen Gebieten. Ich glaube deswegen, dass das, was wir dort tun, gerechtfertigt ist. Mit Blick auf die Kinder auf den Inseln glaube ich, dass wir, Deutschland und Europa, vor Ort mehr helfen und mehr tun sollten; aber das können wir eben auch mit der griechischen Regierung gemeinsam vor Ort tun. Mit Blick auf die Europäische Union wünsche und hoffe ich schließlich, dass das, was in den letzten Tagen in Syrien, aber auch an der türkisch-griechischen Grenze passiert ist, dazu führt, dass wir einen neuen Anlauf starten, um zu einem gerechteren Umgang mit dem Thema Flüchtlinge in der EU zu kommen. Ich hoffe, dass wir einen neuen Anlauf unternehmen, um einen Konsens zu erreichen. Wenn es auch nicht gelingen mag, den Konsens der 27 zu erreichen, so mag es dann doch vielleicht gelingen, einen Konsens der Willigen, der großen und wichtigen Nationen in der Mitte, zu erreichen, die dieses Projekt so voranbringen, dass wir fairer mit den Anliegen Griechenlands und anderer Staaten umgehen können. Herzlichen Dank. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Jürgen Hardt. – Nächster Redner: Dr. Lars Castellucci für die SPD-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Lars Castellucci (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004257, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es war jetzt viel von den Staaten und von denen, die sie lenken, die Rede. Ich will über die Menschen sprechen, die unter der Politik zu leiden haben. Als migrationspolitischer Sprecher meiner Fraktion möchte ich darüber sprechen, dass mehr als die Hälfte der Bevölkerung das Land jetzt schon verlassen musste oder im Land versprengt ist. Stellen Sie sich bitte alle einmal diese Dimension vor. Stellen Sie sich vor, wie es wäre, wenn 40 Millionen Menschen aus Deutschland unterwegs wären. Ich denke, das macht deutlich, in welcher dramatischen Lage wir uns befinden. Was brauchen diese Menschen? Sie brauchen drei Dinge: Sicherheit, Versorgung und Perspektiven. Wir sind nur sehr unterschiedlich erfolgreich, diese Dinge zu gewährleisten und sicherzustellen. Der erste Punkt ist die Sicherheit. Wenn jemand flieht, dann ist es unsere erste Aufgabe, den Schutz und die Sicherheit zu gewähren. Genau das steht auch in der EU-Türkei-Vereinbarung, und genau das wird nicht erreicht; denn die Menschen stehen vor den Zäunen und den Mauern. Lieber Herr Wadephul, Sie haben gesagt: Ohne die UN ist diese Sicherheit nicht zu gewährleisten. – Aber das muss man an die Außenpolitiker zurückgeben: Mit der UN scheint es auch nicht zu gehen. – Deswegen ist folgende Frage offen – und ich glaube, wir müssen uns ihr neu stellen –: Wer muss wo welche Verantwortung übernehmen, damit diese Sicherheit künftig gewährleistet werden kann? Der zweite Punkt ist die Versorgung. Hier muss ich einmal ausdrücklich sagen: Wir erinnern uns alle an 2015. Als die Fluchtbewegung stark einsetzte, hat das Welternährungsprogramm Alarm geschlagen und gesagt: Wir können die Menschen in den Flüchtlingscamps nicht ausreichend versorgen. – Heute wissen wir, dass Deutschland der zweitgrößte Geber des Welternährungsprogramms ist. Wir müssen auch an dieser Stelle sagen: Wir tun viel; die Regierung tut viel. Wir dürfen nicht immer nur das Elend beschreiben, sondern wir müssen auch einmal klar sagen, was seitens unserer Regierung getan wird, damit wir daraus auch die Kraft ziehen, noch mehr zu tun; denn das ist sicherlich auch nötig. ({0}) Der dritte Punkt sind die Perspektiven. Ich war zuletzt auf Lesbos in einem Flüchtlingscamp. Niemand sollte unter solchen Bedingungen überhaupt, geschweige denn länger leben müssen. ({1}) Deswegen heißt „Perspektive“, dass man die Menschen rausholen muss. Herr Kollege Frei, wenn Sie sagen, wir hätten die EU-Türkei-Vereinbarung erfüllt, dann bitte ich Sie, den Punkt 4 dieser Vereinbarung noch einmal zu lesen. Dort steht: Sobald die irreguläre Migration abnimmt – das hat sie in den letzten zwei Jahren eindeutig getan –, eröffnen wir humanitäre Aufnahmeprogramme auf freiwilliger Basis in Europa. – Das hat nicht stattgefunden. Auch in diesem Punkt müssen wir nachlegen. Was wir an Resettlement in der Welt als internationale Staatengemeinschaft zur Verfügung stellen, ist unbefriedigend. Das betrifft leider auch Deutschland; das muss ich in dieser Deutlichkeit hier so sagen. Resettlement-Angebote müssen gestärkt werden; der UNHCR ruft uns dazu mit aller Deutlichkeit auf. ({2}) Ich will aber anschließend an die Debatte von gestern noch einmal sagen: Resettlement erfordert auch geordnete Verhältnisse. Die Chancen für Resettlement-Programme steigen, wenn es an den Grenzen geordnet zugeht. Deswegen möchte ich an dieser Stelle die Kolleginnen und Kollegen von den Linken und von den Grünen ansprechen. Wenn es um Grenzsicherung geht, wenn es darum geht, dass das Innenministerium auf Farsi oder auf Arabisch twittert und über die Verhältnisse an den Grenzen informiert, bitte ich Sie, dass Sie das nicht immer nur als Abwehr skandalisieren, sondern auch als einen Beitrag zu diesen ordentlichen Verhältnissen sehen. Es geht nicht darum, Ulla Jelpke, erst das eine und dann das andere zu tun. Menschlichkeit und geordnete Verhältnisse, ein handlungsfähiger Staat, der für geordnete Verhältnisse an den Grenzen sorgt, das muss zusammengehen, und es geht auch zusammen. ({3}) Diese Ordnung schließt selbstverständlich ein, dass an diesen Grenzen niemand zuschanden kommt. Wir haben gestern entsprechende Meldungen gehört. Die Menschenrechte müssen geachtet werden; sie müssen angewendet werden. Aber das heißt eben auch: Bei aller Verzweiflung muss Grenzbeamten gegenüber Respekt aufgebracht werden. Es gibt Regeln, nach denen man Grenzen übertritt, und diese sind zu jeder Zeit einzuhalten. ({4}) Für diesen Dreiklang – Sicherheit, Versorgung und Perspektiven – bleibt noch viel zu tun; das wird auch noch Zeit brauchen. So lange müssen wir uns diplomatisch bemühen, wie es der Staatsminister eindrucksvoll beschrieben hat. Ich habe Hochachtung vor allen, die dabei tätig sind. Wir hier lenken den Scheinwerfer immer nur darauf, wenn wieder irgendwo eine dramatische Situation entsteht. In den Sälen und Konferenzen dieser Welt wird Tag für Tag, Monat für Monat und teilweise Jahr für Jahr darum gerungen. Vielen Dank und alles Gute für diese wichtige Arbeit. ({5}) Jetzt sorgen wir dafür, dass die humanitäre Hilfe nicht nur auf den Weg gebracht wird, sondern bei den Menschen auch ankommen kann. Vielen Dank. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Castellucci. – Nächste Rednerin: Andrea Lindholz für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Andrea Lindholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004342, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die drängendste Aufgabe für Europa liegt heute nicht an der griechischen, sondern an der syrisch-türkischen Grenze. Dort warten fast 1 Million Menschen auf Hilfe. Diese Menschen aus Idlib sind tatsächlich auf der Flucht, während die große Mehrheit der Migranten an der griechisch-türkischen Grenze laut der Mitteilung des UNHCR nicht aus Syrien stammt. Die Kriegsverbrechen in Idlib schreien zum Himmel. Das Assad-Regime und das russische Militär bombardieren gezielt Krankenhäuser, Schulen, Wohnhäuser und Märkte. Die Vertreibung der Zivilbevölkerung ist seit Jahren Teil der widerwärtigen Strategie von Assad. Trotz dieser unsäglichen Verbrechen waren erst im letzten November erneut Vertreter der AfD-Fraktion dieses Hauses beim Schächter Assad zu Besuch. Sie hofieren einen Diktator, der Menschen zu Tode foltern lässt, ({0}) der seine eigene Bevölkerung, ja sogar Kinder, mit Giftgas ermordet. Das ist eine Schande für Deutschland. ({1}) Das erklärt vielleicht auch, warum sich Frau von Storch heute nicht auf Idlib konzentriert hat, sondern sich stattdessen wie üblich an Frau Merkel abarbeitet. ({2}) Das ist eine Schande für Deutschland. ({3}) Aber auch die Linken verhalten sich scheinheilig. Ich will gar nicht auf die Rede von Ulla Jelpke von heute eingehen. Ich will einfach nur einen Blick in das Jahr 2018 zurückwerfen. Als die USA nach einem solchen Giftgasangriff von Assad zurückschlugen und militärische Ziele des Regimes zerstörten, demonstrierte die linke Parteispitze dagegen vor dem Brandenburger Tor. Über die russischen Bomben, über die Kriegsverbrechen an Kindern, Frauen und Alten in Syrien schweigt Die Linke seit Jahren. ({4}) Das, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist ideologisch verbohrte Scheinheiligkeit. Auch die Debatte heute hat gezeigt, warum es für uns als Union keine Zusammenarbeit mit der Linken geben kann. ({5}) Die Situation an der syrisch-türkischen Grenze hat auch unmittelbare Auswirkungen auf die Situation an der türkisch-griechischen Grenze. Wir brauchen für beides, für Syrien und für den Schutz unserer Außengrenzen, europäische Antworten. Unser Fokus in der Flüchtlingspolitik muss zunächst immer auf der Hilfe vor Ort liegen. Wir müssen zunächst immer dort Lösungen suchen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Aufnahmekontingente können immer nur ein Teil einer Lösung sein. Wir ändern damit keine Fluchtursachen. Wir werden damit auch unserer humanitären Verantwortung nicht vollumfänglich gerecht. Es kann nicht sein, dass wir uns nur auf die konzentrieren, die es bis zur griechischen Insel schaffen. Unsere völkerrechtliche Schutzverantwortung geht weit darüber hinaus. Sie reicht in die Krisenregionen. Wir brauchen in Syrien eine sichere Zone für die Menschen, sie brauchen dort Hilfe und Unterstützung. Für uns und für Europa müssen wir zeigen – ich will das ganz klar sagen –, dass wir jetzt in der Lage sind, an der türkisch-griechischen Grenze für Ordnung zu sorgen, und zwar gemeinsam mit einem europäischen Konzept. Wir müssen die Griechen auch mit Personal, mit Material und mit Mitteln unterstützen. Einseitige Signale von uns, wie zum Beispiel erst einmal die Flüchtlingsunterkünfte aufzumachen, halten wir für das falsche Signal. Ich will Ihnen heute auch eines sagen, gerichtet an die Koalition, aber auch an die Grünen und die FDP: Ich glaube, wir sind uns in manchen Punkten einig. Wir sind uns einig, dass wir keinen unkontrollierten Zustrom mehr nach Deutschland wollen. Sie haben vorhin selber den Zwischenruf gemacht. Ich glaube – die Damen und Herren der AfD von der rechten Seite haben auch heute mit Herrn Gauland schon wieder versucht, Befürchtungen und Ängste in der Bevölkerung wachzurufen –, wir können bei den Punkten, bei denen wir uns einig sind, eine gemeinsame Sprache finden. Ich bin mir sicher: Wenn es uns gelingt, zu zeigen, dass unsere Außengrenzen geschützt werden können, dann können wir auch der Türkei etwas entgegensetzen. Aber wir werden auch das EU-Türkei-Abkommen brauchen. Ohne die Türkei, bei allen Differenzen, werden wir die Situation nicht lösen. ({6}) – Die Leistung der Türkei muss man auch einmal anerkennen, absolut richtig. – Aber wir müssen für unser Land klar formulieren: Wir haben versprochen: Ein unkontrollierter Zustrom nach Europa oder nach Deutschland wird von uns nicht akzeptiert. Wir müssen damit auch sagen: Wir sind bereit, dafür an der Außengrenze alles zu tun. Und wenn sich jemand nicht daran halten würde, würden wir sogar an der Binnengrenze etwas tun, was niemand will, weil wir den Schengen-Raum nicht gefährden wollen. Aber wenn wir nicht anfangen, uns in den Punkten, in denen wir uns einig sind, zu einer gemeinsamen Sprache durchzuringen, machen wir nur eines: Wir schaffen es weiterhin, dass die Kolleginnen und Kollegen der AfD mit ihren Ängsten in ihren Reden die Menschen verunsichern. Gehen sie nur einmal auf meine Facebook-Seite. Ich habe mich zu dem Anschlag in Hanau geäußert. Schauen Sie bitte, welchen Shitstorm ein AfD-Mitglied auf meiner Seite verursacht hat. Wir müssen diesem Hass und dieser Hetze etwas entgegensetzen. Deswegen ist es heute mein Appell an die demokratischen Parteien: Lassen Sie uns bitte in dieser schwierigen Situation eine gemeinsame Sprache sprechen, um diesem Hass etwas entgegenzusetzen und um für die Menschen in Griechenland, aber auch in Syrien langfristig, mittelfristig und kurzfristig etwas zu tun. Vielen Dank. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frau Lindholz. – Letzter Redner in der Aktuellen Stunde: Frank Schwabe für die SPD-Fraktion. ({0})

Frank Schwabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003846, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Als letzter Redner in der Debatte – man müsste es nicht betonen – will ich noch einmal sagen: Niemand auf der Welt flieht ohne Grund. Wir haben ungefähr 75 Millionen Menschen, die auf der Flucht sind. Jeder Einzelne hat einen sehr individuellen, sehr nachvollziehbaren Grund. Jedes Leben ist gleich viel wert. Jeder Mensch hat die gleiche Würde, im Übrigen auch bei der Klassifizierung derjenigen, die an der türkisch-griechischen Grenze stehen. Hier gibt es immer eine Debatte darüber, dass man wissen muss, wer es ist. ({0}) Aber es ist kein Unterschied, ob es jemand aus Afghanistan, dem Iran, Irak, Bangladesch oder aus Syrien ist. Alle haben dasselbe Recht auf Leben und Würde. ({1}) Ich will auch daran erinnern: So schwierig es ist, was wir gerade diskutieren, es gilt internationales Recht; daran muss man auch europäische Partner erinnern, würdigend, was sie tun. Es gilt die Genfer Flüchtlingskonvention. Es gilt auch immer das Gebot, so deeskalierend wie möglich auf Grenzverletzungen zu reagieren. Das Grundproblem allerdings – das ist auch klar – liegt nicht in Deutschland, liegt nicht in Griechenland, liegt auch nicht in der Türkei, sondern es liegt in Syrien. Es ist gerade schon angesprochen worden: Es ist schlimm, und ich finde es ekelhaft, dass die AfD einen – ich nenne es so – Propagandafilm organisiert hat und ihn entsprechend veröffentlicht, der zeigt, wie toll und wunderbar alles in Syrien ist, und dass am Ende das Werk eines Diktators in diesem Land gezeigt wird. ({2}) Der Grund ist Syrien. Der Grund ist, dass viele Länder – nicht nur Syrien und nicht nur Russland – auf schlimmste Art und Weise Menschenrechtsverbrechen begehen, daran beteiligt sind. Deswegen will ich noch einmal hervorheben: Es gibt ein internationales Strafrecht, und wir müssen deutlich machen – ich weiß nicht, wann –: Wir wollen die Menschen, die schlimmste Verbrechen begehen, auch zur Rechenschaft ziehen. Sie müssen wissen, dass wir ein Auge darauf haben. ({3}) Es ist auch die Türkei, die dort Kriegsverbrechen begeht. Ich will noch einmal ganz deutlich sagen – deswegen auch die Zwischenrufe –: Schwarz und Weiß funktioniert international nicht. Das, was Russland dort begeht und woran es sich beteiligt, die Bombardierung von Kindergärten, Schulen und Krankenhäusern, und zwar ganz gezielt, sind Kriegsverbrechen. Sie sind in jeder Art und Weise inakzeptabel. Russland muss dafür auch zur Verantwortung gezogen werden. ({4}) Die Bombardierungen müssen aufhören. Wir brauchen einen kurzfristigen Waffenstillstand, noch nicht genau wissend – darauf hat Staatsminister Annen hingewiesen –, was wir mit den 1 Million plus Menschen machen. Das wird kompliziert und schwierig genug. Aber ohne einen Waffenstillstand wird das alles nicht funktionieren. Wir können an dieser Stelle durchaus selbstbewusst sagen, weil es auch für zukünftiges Handeln eine Anleitung ist, dass wir dort als Friedensmacht auftreten, dass wir humanitäre Hilfe leisten, dass wir weitere humanitäre Hilfe zugesagt haben. Ich glaube, das gesamte Haus hat heute schon durch Applaus deutlich gemacht, dass wir bei den zukünftigen Haushaltsberatungen alles tun wollen, um die so wichtige humanitäre Hilfe für die Region sicherzustellen. ({5}) Wir reden über verschiedene Ebenen. Das bringt uns manchmal etwas durcheinander. Wir reden über drei verschiedene Ebenen. Die eine ist die, was in Syrien zu tun ist. Die zweite betrifft den EU-Türkei-Deal, das Flüchtlingsabkommen. Die dritte ist die, was die EU selbst zu tun hat. Über Syrien habe ich gerade etwas gesagt. Zum EU-Türkei-Flüchtlingsabkommen muss man sagen, dass es Sinn macht, dass 3, 4, 5 Millionen Menschen, die aus Syrien fliehen, nicht nach Deutschland, Schweden oder sonst wo weitergeleitet werden. Die meisten Menschen wollen, wenn es die Möglichkeit gibt, so nah wie möglich an ihrer Heimat bleiben. Deswegen macht das Abkommen im Grunde Sinn. ({6}) Man muss Erdogan an vielen Stellen kritisieren, aber an dieser Stelle macht es Sinn, die Türkei entsprechend zu unterstützen. ({7}) Dass er das aufkündigen will bzw. damit droht, hat nichts mit dem Flüchtlingsabkommen zu tun, sondern es ist die schiere Verzweiflung, da er auch nicht weiß, wie er aus der Lage rund um Idlib herauskommt. Deswegen muss man der Türkei danken, wo Dank richtig ist, wo sie sich um Millionen von Geflüchteten kümmert. Man muss die Türkei aber auch an Verabredungen erinnern. Man muss auch über die Zukunft reden. Ich hätte keine Probleme damit, über eine dritte Tranche zu diskutieren und als Europäische Union mehr als die 6 Milliarden Euro zu zahlen. Ich halte das auch für angemessen. Ich glaube, es muss aber auch klar sein, dass es klare humanitäre Grundregeln gibt, nach denen das Geld ausgezahlt wird. Daran wird sich am Ende auch nichts ändern können. ({8}) Was die EU betrifft, können wir alle beklagen, dass wir die Hausaufgaben nicht gemacht haben und uns längst nicht vorbereitet haben, beklagen, was wir hätten tun können. Das heißt aber nicht, dass man es nicht noch tun kann. Deswegen glaube ich, dass man am Ende auch die Chance und den Druck nutzen kann, dafür zu sorgen, dass die EU endlich zu einer abgestimmten eigenen Flüchtlingspolitik kommt, die heißt: Kontrolle an den Außengrenzen, Zurückweisung und Zurückführung derjenigen, die nach den Regeln der EU nicht bleiben können, und am Ende diejenigen, die bleiben können, vernünftig auf europäische Mitgliedstaaten verteilen. Ich wünsche mir wirklich, dass wir in der Lage sind – das ist unsere Bitte und unsere Aufforderung an den Innenminister –, alles zu tun. Man wird nicht mit ein paar Kindern die Welt retten können; das ist völlig klar. Aber am Ende geht es bei der Humanität und der Menschlichkeit auch um einzelne Schicksale. Deswegen werden wir auch daran gemessen, ob wir endlich eine vernünftige Lösung für ein paar Kinder finden, die wir aus Griechenland herausholen wollen. ({9})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frank Schwabe. – Die Aktuelle Stunde ist beendet.

Not found (Minister:in)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Wir bringen heute den ersten Schritt für ein weiteres prioritäres Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag auf den Weg. Nach dem Gute-KiTa-Gesetz und dem Starke-Familien-Gesetz gehen wir jetzt das Thema „Ganztagsbetreuung für Kinder im Grundschulalter“ an. Um das zu schaffen, errichten wir ein Sondervermögen für die Investitionen, die nötig sind, um das gut zu bewältigen. Es gibt in Deutschland viele Familien, die sich wünschen, Familie und Beruf gut miteinander zu vereinbaren. Häufig ist es so: Im Kindergarten, in der Kita und in der Tagespflege funktioniert das noch recht gut, aber dann kommen die Kinder ins Grundschulalter, und es wird schwierig, wenn die Kinder schon mittags vor der Haustür stehen, mit leerem Magen und dem Ranzen voller unerledigter Hausaufgaben. ({0}) Was bedeutet das? In aller Regel treten die Mütter kürzer, sie gehen in Teilzeit, weil die Nachmittagsbetreuung eben nicht gewährleistet ist. Das bedeutet, dass sie Familie und Beruf nicht mehr miteinander vereinbaren können. Oft wünschen sie sich, dass es anders ist. Über 70 Prozent der Familien sagen: Ein gutes Angebot an Ganztagsbetreuung wäre eine gute Sache. – Deshalb wollen wir allen, die es wollen, und allen, die diesen Anspruch haben, eine entsprechende Betreuung ermöglichen. Wir werden einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Kinder im Grundschulalter schaffen. Wir errichten mit dem Ganztagsfinanzierungsgesetz ein Sondervermögen, damit die nötigen Investitionen getätigt werden können. Wir haben uns mit den Ländern darauf verständigt, dass „Ganztag“ heißt: verlässlich, montags bis freitags, für die Klassen 1 bis 4, mit Ferienbetreuung – bis auf maximal vier Wochen Schließzeiten in den Ferien, eine Betreuung, die eine gute Qualität aufweist. ({1}) Wir machen das zusammen mit dem Bundesbildungsministerium. Wir haben dort ein gemeinsames Projekt mit meiner Kollegin Anja Karliczek auf den Weg gebracht. Wir wollen gute Vereinbarkeit, wir wollen bessere Chancen für alle Kinder, und wir wollen zusätzliche Förderung auch am Nachmittag. Wir wollen Gelder zur Verfügung stellen, mit denen wir die Länder und Kommunen bei dieser Aufgabe unterstützen. Wir wissen, dass das Vorhaben eine große Kraftanstrengung bedeutet für alle Länder und Kommunen, dass die Ausbaustufe in den Ländern sehr unterschiedlich ist und dass diese Kraftanstrengung mit finanziellen Mitteln verbunden ist, die in den Ländern und Kommunen aufgebracht werden müssen. Die Bundesregierung hat sich entschieden, Mittel für Investitionen in einer Größenordnung von 2 Milliarden Euro dazuzugeben. Wir sprechen mit den Ländern darüber, wie es gelingen kann, dass der Rechtsanspruch Realität wird und dass natürlich auch die notwendigen Fachkräfte zur Verfügung stehen. Es ist wichtig, hier und heute den ersten Schritt zu tun, um sowohl die Chancengerechtigkeit für Kinder als auch die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu gewährleisten und auch um die Frage zu beantworten: „Wie gelingt es, eine hohe Erwerbsquote von Frauen und damit einen guten Impuls für unser Land zu entwickeln?“, damit wirklich jede Familie das Modell leben kann, das sie braucht und will, und dass es nicht daran scheitert, dass einfach nicht genügend Betreuungsangebote vorhanden sind. ({2}) Das Sondervermögen ist der erste Schritt in diese Richtung. Wir werden nun die Regelung zum Rechtsanspruch in Absprache mit den Ländern entsprechend ausarbeiten. Ich danke ihnen, dass Sie diesen ersten Schritt gehen, gemeinsam mit uns für ein modernes, familienfreundliches und sich gut entwickelndes Deutschland, ({3}) das allen Familien und Kindern die Möglichkeiten gibt, ihren Weg, so wie sie es wünschen, zu machen. Vielen Dank. ({4})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Giffey. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Martin Reichardt. ({0})

Martin Reichardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004859, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Bevor ich auf die Kinderbetreuung zu sprechen komme, möchte ich kurz eine Frage an die Linke stellen, und zwar: Ab welchem Alter wollen Sie eigentlich Reiche erschießen bzw. ins Lager bringen? ({0}) Gilt das erst ab 18, oder gilt das auch schon für Kinder? Zuzutrauen ist Ihnen ja alles. Aber Ihr Redner kann das später gerne beantworten. ({1}) Am Freitag findet hier im Hohen Hause die Debatte zum Internationalen Frauentag statt. Ich muss kein Hellseher sein, wenn ich befürchte, dass das Wort „Mutter“ in den Reden kaum bis gar nicht vorkommt; ({2}) denn Mütter sind die durch den feministischen Egoismus vergessenen Frauen. Mütter werden von Feministen als Heimchen am Herd diskriminiert, und dem werden wir immer widersprechen, liebe Freunde. ({3}) Die links-grün geprägte Regierungsdoktrin geht dahin, dass eine Frau nur als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft gilt, wenn sie arbeiten geht. ({4}) Die Erziehungsleistung von Müttern in Deutschland wird nicht anerkannt. Das ist ein Fakt, und der ist auszusprechen. ({5}) Jede Erziehung wird in Deutschland als wertvoll erachtet und gefördert, außer der Erziehung, die zu Hause stattfindet. Mütter oder Väter, die ihr Kind selbst erziehen, leisten einen wertvollen Beitrag für unsere Gesellschaft. Der Lohn, den sie dafür erhalten, ist ein hohes Altersarmutsrisiko und keine gesellschaftliche Anerkennung. Darum sage ich: Es ist Zeit, dass Eltern und insbesondere Mütter in Deutschland wütend werden. ({6}) Die AfD steht als einzige Partei für die Freiheit von Familien, selbst zu entscheiden, ob sie ihre Kinder selbst erziehen oder in staatliche Betreuung geben wollen. ({7}) Die AfD begrüßt es, dass die Regierung jungen Eltern hilft, ihre Kinder zu erziehen. Die AfD fordert aber auch, dass die Erziehung durch Mütter und Väter in gleichem Maße gefördert wird wie die staatliche Erziehung. 5,5 Milliarden Euro geben Sie für das Gute-KiTa-Gesetz aus; 2 Milliarden Euro soll nun der Ausbau der Ganztagsbetreuung kosten. Nach eigenen Angaben geben Sie also 5 bis 7 Milliarden Euro dafür aus. Investieren Sie dieses Geld auch in die Erziehung durch Eltern, die ihre Kinder zu Hause betreuen. Das ist die lohnendste Investition, die diese Regierung jemals in Deutschland tätigen kann, meine Damen und Herren. ({8}) Frau Giffey, ich muss es Ihnen leider sagen: Ihre Betreuungsprojekte werden ohnehin am Fachkräftemangel scheitern. Für die Umsetzung des Rechtsanspruchs auf Ganztagsbetreuung, den Sie als Gesetzentwurf vorlegen, fehlen zusätzlich 100 000 pädagogische Fachkräfte. Mindestens 100 000 Erzieher fehlen schon jetzt für die kindgerechte Erziehung in unseren Kitas. Der Fachkräftemangel und die damit verbundene demografische Katastrophe ist die Folge der familien- und frauenfeindlichen Politik der letzten Jahre und Jahrzehnte, die diese Regierung betrieben hat; das muss hier ausgesprochen werden. ({9}) Die wahren Fachkräfte für Kindererziehung, das sind Mütter und Väter. ({10}) Sie haben einen entscheidenden Vorteil: Mütter und Väter lieben ihre Kinder. Egal wie qualifiziert und engagiert ein Erzieher auch ist, er kann als Organ des Staates keine Kinder lieben wie Vater und Mutter. ({11}) – Das ist die Wahrheit. Da können Sie hier reden, so viel Sie wollen. ({12}) Ich sage Ihnen noch etwas: Jede staatlich geschaffene Struktur ist ein Ersatz für Familien. Sie fördern mit Milliarden Euro den Ersatz. ({13}) Fördern Sie endlich das Original: für starke Eltern, für starke Familien, für unsere Kinder. – Und Ihre Unqualifikation, Frau Lemke, die kenne ich schon lange aus Sachsen-Anhalt. Sie sind eine der unqualifiziertesten Personen hier in diesem Hause. ({14}) Vielen Dank. ({15})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die nächste Rednerin ist die Frau Bundesministerin Anja Karliczek. ({0})

Anja Karliczek (Minister:in)

Politiker ID: 11004323

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, wir kommen mal zum Thema zurück. ({0}) Deutschland ist ein Land, in dem man unter „Innovation“ nicht nur technische Innovation versteht, sondern ganz klar auch gesellschaftliche Modernisierung. ({1}) Zur gesellschaftlichen Modernisierung gehört auch, jungen Menschen ein Angebot zu machen, wie sie es brauchen, wenn sie Kinder haben, wie sie es brauchen, wenn beide Elternteile erwerbstätig sein wollen oder vielleicht auch müssen. ({2}) Gerade für international tätige Menschen ist so ein Angebot häufig eine Selbstverständlichkeit. Ich bin erst seit einer Woche wieder hier; ich war letzte Woche in Kalifornien. Im Silicon Valley hat mich ein Forscher angesprochen, der sich dafür interessiert, nach Deutschland zurückzukommen. Seine allererste Frage an mich war: Wie sieht es denn bei euch mit der Kinderbetreuung aus? Es geht eben nicht mehr nur um die Frage, ob wir das wollen oder nicht. Die Frage ist, ob wir für Menschen aus aller Welt, die hier bei uns arbeiten wollen, attraktive Rahmenbedingungen bieten können. Viele junge Wissenschaftler mit internationaler Erfahrung kommen gern nach Deutschland – übrigens auch hochangesehene Kl-Forscher, die wir hier dringend brauchen –, wenn wir ihren Kindern ein attraktives Bildungsangebot machen, wenn wir in Kita und Grundschule eine moderne Lehrmethode verwenden, wenn das ganzheitliche Kind im Mittelpunkt steht, wenn der Ganztag in der Grundschule nicht nur Betreuung, sondern ein hochattraktives Bildungsangebot enthält. Jetzt stellt sich die Frage: Was ist denn ein hochattraktives Bildungsangebot? ({3}) Dazu gehört, dass die Grundschule das schönste Gebäude im Ort ist, dass sie eine Einladung an alle Kinder ist, eine Wertschätzung für jeden, der das Gebäude betritt. Das ist natürlich noch nicht alles. Es braucht auch ein Konzept, das Bildungsinhalte, die Aufgabe der Länder sind – das betone ich hier –, mit dem räumlichen Angebot verknüpft. Wir als Bund wollen die Länder dabei unterstützen, Qualität in der Bildung und ganztägige Betreuung zu einem internationalen Aushängeschild für Deutschland zu machen. Das ist die Einladung, die die Fachkräfte aus aller Welt, die wir einladen, hier bei uns zu arbeiten, verstehen. Das ist die Einladung, die auch genügend Kl-Forscher, die wir hier dringend brauchen, nach Deutschland zurückbringt. Deswegen ist es mir ein echtes Anliegen, den Ganztag in der Grundschule zu einem weiteren Erfolgsmodell für Deutschland zu machen. Das Innovationsland Deutschland braucht ein attraktives Angebot für Kinder. Die 20er-Jahre sind das Jahrzehnt von Bildung, Forschung und Innovation. Deshalb appelliere ich an die Länder, Qualitätskonzepte zu erstellen und Lehrerinnen und Lehrer, Erzieherinnen und Erzieher so auszubilden, dass sie den wachsenden Anforderungen gerecht werden; denn Hand in Hand können wir, Bund, Länder und Kommunen gemeinsam, ein modernes Deutschland gestalten. Vor einem Jahr haben wir dafür unser Grundgesetz geändert und die Möglichkeiten der Kooperation zwischen Bund und Ländern erweitert. Jetzt können wir diese neue Möglichkeit zum Ausbau der Ganztagsangebote nutzen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Beschluss, das Ganztagsfinanzierungsgesetz auf den Weg zu bringen, ist ein wichtiges Signal. Ein modernes Deutschland braucht nach dem DigitalPakt Schule, nach der Nationalen Weiterbildungsstrategie, nach der Leseoffensive jetzt eine Offensive für hochwertige Bildung im Ganztag in der Grundschule. Wir wollen bei der nächsten PISA-Studie mit an der Spitze der europäischen Länder sein. Ich bin davon überzeugt: Das Sondervermögen, das wir nun schaffen, wird Angebote möglich machen, die diesem hohen Anspruch gerecht werden. Damit schaffen wir ein Aushängeschild für Deutschland, ein attraktives Angebot für junge Familien, auch für junge Familien, die aus aller Welt als Forscher oder Fachkräfte zu uns kommen und hier bei uns mit ihren Kindern zu Hause sind. Lassen Sie uns heute gemeinsam den Grundstein dafür legen. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Frau Ministerin. – Der nächste Redner: für die FDP-Fraktion Matthias Seestern-Pauly. ({0})

Matthias Seestern-Pauly (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004890, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Acht Stunden am Tag, fünf Tage die Woche, maximal vier Wochen Ferienschließzeit – das, Frau Ministerin Giffey, sind Ihre Ziele zur Ganztagsbetreuung in der Grundschule ab dem Jahr 2025. Das Problem ist nur, dass Sie diese Ziele mit diesem Gesetz, auch wenn es nur ein Baustein ist, grandios verfehlen werden. ({0}) Dafür müssten Sie nämlich jetzt insgesamt die notwendigen Rahmenbedingungen schaffen. Da fallen mir vor allem drei Dinge ein: erstens ausreichende Finanzmittel, zweitens ein tatsächlicher Rechtsanspruch und drittens Fachkräfte. Das alles sehe ich hier aber nicht, nicht mal im Ansatz. ({1}) Sie machen ein Gesetz zulasten Dritter, zulasten der kommunalen Finanzen, genauso wie Sie es bereits beim sogenannten Gute-KiTa-Gesetz getan haben. Dabei müssten Sie es eigentlich besser wissen, da auch Sie aus der Kommunalpolitik kommen. Frau Ministerin, Sie antworten auf meine Kleine Anfrage, ich solle in der Studie des Deutschen Jugendinstituts nach dem Finanzbedarf für den Ganztagsausbau schauen. Das habe ich tatsächlich getan. Sie auch? Da steht nämlich: 5,3 Milliarden Euro Investitionskosten und 3,2 Milliarden Euro jährliche Betriebskosten ab dem Jahr 2025. Sie aber wollen lediglich einmalig 2 Milliarden Euro zur Verfügung stellen. Ganz ehrlich: Das ist ein absoluter Witz, und das wissen Sie auch. ({2}) Stichwort „Rechtsanspruch“: Bisher nur unverbindliche Ankündigungen und Versprechungen. Aber Sie suggerieren mit einer Vielzahl von Äußerungen, dass ein verbriefter Ganztagsanspruch kommt, und wecken damit Erwartungen, die Sie nicht erfüllen werden. Stichwort „Qualität“: Frau Ministerin, ich kann meine Verwunderung an dieser Stelle nicht verbergen. Wir stehen im globalen Wettbewerb um die besten Köpfe. Was wir brauchen, sind pädagogische Fachkräfte; was wir brauchen, ist hochwertige Ganztagsbetreuung; was wir brauchen, ist weltbeste Bildung. Stichwort „Fachkräfte“: Sie antworten auf eine weitere Anfrage, dass nur gut ein Drittel der neu ausgebildeten Fachkräfte bis zur Rente im Beruf bleiben will – ein Drittel! Die Gründe dafür haben Sie gleich mitgeliefert: schlechte Bezahlung, schlechte Arbeitsbedingungen, kaum Aufstiegschancen. Wie wollen Sie vor diesem Hintergrund vermeiden, dass Kinder lediglich verwahrt werden? Sie wissen nicht einmal, wie viele Fachkräfte wir tatsächlich brauchen. Ganz ehrlich: Das ist ein politischer Blindflug. ({3}) Es geht Ihnen augenscheinlich einmal mehr nur um die politische Außenwirkung. Denn wenn ich mir Ihre bisherigen Initiativen in diesem Bereich anschaue, dann muss ich sagen: Qualität spielt kaum eine Rolle. Das Ziel einer hochwertigen Ganztagsbetreuung ist richtig. Aber was Sie hier vorstellen, ist einmal mehr halbgares Stückwerk. Steuern Sie nach! Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Kollege. – Der nächste Redner: der Kollege Norbert Müller, Fraktion Die Linke. ({0})

Norbert Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004613, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. – Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Linke tritt ein für ein bedarfsgerechtes, qualitativ hochwertiges und beitragsfreies Ganztagsangebot. Ja, dafür brauchen wir den individuellen Rechtsanspruch, und zwar unabhängig vom Erwerbsstatus der Eltern. ({0}) Darin sind wir uns, jedenfalls wenn wir den Koalitionsvertrag zur Grundlage nehmen, mit den Koalitionsfraktionen einig. Deswegen begrüßen wir auch das Ansinnen aus dem Koalitionsvertrag, einen Rechtsanspruch – hier heißt es nicht „individuell“; aber vielleicht meinen wir ja das Gleiche – auf Ganztagsbetreuung zu schaffen. Mit dem Kitaausbau haben wir den richtigen Weg beschritten, wenn auch in vielen Fragen noch unzureichend. Aber natürlich – die Frage haben auch Sie, Frau Giffey, aufgeworfen – ist die Frage: Was passiert denn, wenn ein Kind sechs Jahre alt wird oder sieben Jahre alt wird, eingeschult wird und von heute auf morgen die Nachmittagsbetreuung nicht mehr gewährleistet ist? ({1}) Natürlich ist das ein Problem für die Eltern. Deswegen ist es richtig, qualitativ gute Nachmittagsangebote zu schaffen. Wir können diesen Eltern überhaupt nicht erklären, warum von heute auf morgen eine Betreuung nicht mehr gewährleistet wird. ({2}) Deswegen ist auch der Rechtsanspruch für ein gutes Ganztagsbetreuungsangebot überfällig. Im Koalitionsvertrag haben Sie formuliert, dass Sie sicherstellen wollen, „dass insbesondere der laufenden Kostenbelastung der Kommunen Rechnung getragen wird“. Ich glaube, da kommen wir zu des Pudels Kern, zum großen Problem: Wer soll das eigentlich am Ende bezahlen? Ich möchte mich meinem Vorredner, Herrn Seestern-Pauly von der FDP, anschließen. Ich habe zum Kitaausbau bereits was gesagt. Kitaausbau, das war an sich eine gute Sache. Aber wir dürfen die Fehler aus dem Kitaausbau nicht wiederholen; wir können es nicht wieder so machen, dass die Länder und Kommunen den Löwenanteil zahlen und der Bund sich am Ende „rauszahlt“. Wir können es nicht wieder so machen, dass es bundesweit keinerlei Qualitätsansprüche und keine Qualitätsstandards für den Ausbau gibt und dass nicht vorher rechtzeitig für Fachkräfte gesorgt wird. Da stellen sich natürlich viele Fragen an Ihren Gesetzentwurf. Sie wollen mit dem Gesetzentwurf für die Jahre 2020/21 ein Sondervermögen von 2 Milliarden Euro einbringen, nur für Neubauten und Investitionen. Der Bundesrat sagt in seiner Stellungnahme, die Länder brauchen ungefähr 7,5 Milliarden Euro; er bezieht sich auf die Zahlen des Deutschen Jugendinstituts für die Investitionskosten der nächsten Jahre. Das heißt, 5,5 Milliarden Euro fehlen hier, die im Sondervermögen nicht vorhanden sind. Die zahlen dann am Ende eben doch die Länder und Kommunen – obgleich doch in Ihrem Koalitionsvertrag steht, dass das nicht passieren soll. 5,5 Milliarden Euro oder, um es mit Ihren Worten zu sagen, 5 500 Millionen Euro. Sie haben keine Idee, wie der Rechtsanspruch praktisch aussehen soll; es gibt bis heute keinen Vorschlag. Wir wissen noch nicht mal, wann er kommen soll. Und Sie haben keine Idee zur Fachkräftesicherung. Sie haben sogar das bisschen Fachkräfteoffensive, was auf dem Weg war, wieder einschlafen lassen. Das heißt, wir haben weniger als vor einem Jahr, obwohl die Herausforderungen gewachsen sind und bereits weit über 100 000 Erzieherinnen und Erzieher im Kitabereich fehlen. Die fehlen am Ende natürlich auch im Hortbereich. Das Deutsche Jugendinstitut schätzt, dass ab 2025, wenn der Rechtsanspruch gelten soll, durch die Kommunen und die Länder im jährlichen Betrieb am Ende 4,5 Milliarden Euro aufgebracht werden müssen. Dafür sorgt der Bund mit keinem einzigen Euro. Ich glaube, das geht so nicht. Wenn Sie diesen Weg weitergehen und die Kosten am Ende vor allen Dingen bei den Ländern und Kommunen und bei den Eltern – über die Elternbeiträge – hängen bleiben, dann fahren Sie den Rechtsanspruch an die Wand. Das dürfen wir nicht tun, weil wir bei vielen Eltern die Hoffnung geweckt haben, dass es jetzt endlich eine Lösung für die Nachmittagsbetreuung gibt. Deswegen können wir nicht so leichtfertig damit umgehen und mit diesem sehr schmalen Sondervermögen ohne große Hintergründe den Rechtsanspruch endgültig an die Wand fahren. Wir brauchen einen deutlich größeren Schritt, und wir brauchen eine auskömmliche Finanzierung, damit das ganze Projekt im Bundesrat am Ende nicht scheitert. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Die nächste Rednerin ist die Kollegin Katja Dörner, Bündnis 90/Grüne. ({0})

Katja Dörner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004030, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung zu schaffen, das ist ein wichtiges Anliegen, das auch wir als grüne Fraktion natürlich voll und ganz teilen und unterstützen. Ein Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung kann ein ganz wichtiger Baustein sein für mehr Bildungsgerechtigkeit in unserem Land. Insbesondere für Kinder, die in ihren eigenen Familien wenig Förderung erfahren, die in ihren eigenen Familien da wenig mitbekommen, kann das ganz zentral sein, gerade im Bereich der Grundschule, wo so wichtige Weichen gestellt werden für den weiteren Bildungs- und Lebensweg. ({0}) Deshalb ist der Ganztagsanspruch wichtig. Er ist natürlich auch wichtig für die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Ich muss sagen, ich finde es wirklich absurd, dass Eltern, die – zum Glück – heute die ganztägige Betreuung ihrer Kinder in der Kita kennen, dann, wenn die Kinder eingeschult werden, gesagt bekommen: Ihr müsst die Kinder wieder zum Mittagessen abholen. ({1}) Auch deshalb ist der Rechtsanspruch so wichtig für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Die Bundesländer – das wissen wir – haben bis dato einen ganz unterschiedlichen Level beim Ausbau der Ganztagsbetreuung erreicht, und sie haben zum Teil auch sehr unterschiedliche Ansätze. Ich glaube, auch deshalb ist klar, dass der Bund nicht kleinteilig vorschreiben kann, wie die Ganztagsbetreuung zukünftig auszusehen hat. Einige Standards sind aber ganz wichtig, damit bessere Bildungschancen und eine verlässliche Betreuung überhaupt möglich werden. Dazu gehört natürlich, dass der Ganztag mindestens an acht Stunden am Tag stattfindet. ({2}) Wir brauchen aber auch verbindliche Qualitätskriterien mit Blick auf die Personalausstattung, mit Blick auf die räumliche Ausstattung und auch, was die inklusive Ausstattung angeht. Für uns Grüne ist klar, dass der Ganztagsanspruch auch für Kinder mit Behinderung gelten muss, dass es da keinen Unterschied geben darf. ({3}) Für all diese Punkte gibt es eben noch keinen Gesetzentwurf. Wir reden heute über einen Gesetzentwurf, in dem es um ein Sondervermögen geht, ein Sondervermögen von mickrigen 2 Milliarden Euro für Investitionen. ({4}) In diesem Jahr soll erst mal 1 Milliarde Euro zur Verfügung gestellt werden. Wir haben die Berechnungen des Deutschen Jugendinstituts schon gehört: 5,3 Milliarden Euro sind eigentlich nötig. Es ist aus meiner Sicht kein Wunder, dass der DGB gerade heute davor warnt, dass der Bund so wenig investiert und dass der Bund auch nicht bereit ist, klar zu sagen, dass er dauerhaft investiert. Der DGB befürchtet, dass dieses wichtige Vorhaben zum Scheitern verurteilt ist. Deshalb müssen wir hier deutlich mehr investieren, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({5}) Das darf wirklich nicht scheitern; das ist für die Familien ein ganz wichtiges Anliegen. Ich muss auch sagen, ich verstehe überhaupt nicht, warum die Bundesregierung beim Thema Ganztagsausbau so geizig ist. ({6}) Ich verstehe es überhaupt nicht. Frau Giffey selbst hat unlängst eine Studie vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung vorgestellt; diese Studie belegt, dass sich der Ausbau der Ganztagsbetreuung weitestgehend selbst finanziert. Ein in den Ausbau der Ganztagsbetreuung investierter Euro kommt über mehr Steuereinnahmen mit bis zu 80 Cent wieder in den Bundeshaushalt zurück, weil die Frauen deutlich mehr erwerbstätig sein können – was sie ja auch wollen –; deshalb macht der Ganztagsausbau ja auch ökonomisch Sinn. Er ist bildungspolitisch richtig, er ist familienpolitisch richtig, und er ist ökonomisch sinnvoll. ({7})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Frau Kollegin, kommen Sie zum Ende.

Katja Dörner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004030, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Auch deshalb sagen wir ganz klar – wir haben das in den Haushaltsberatungen deutlich gemacht –: Wir müssen mehr investieren. Wir wollen den Ausbau der Ganztagsbetreuung; aber dieser Ausbau muss solide finanziert sein. Dieser Gesetzentwurf erfüllt diese Kriterien überhaupt nicht. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die SPD-Fraktion hat das Wort die Kollegin Marja-Liisa Völlers. ({0})

Marja Liisa Völlers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004942, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nele und Emil, beide zehn Jahre alt, gehen jeden Tag gemeinsam von ihrer Dorfgrundschule nach Hause. Da Neles Eltern beide in schlecht bezahlten Jobs arbeiten, ist Teilzeit für sie keine Option. Die Großeltern leben weit entfernt. Nele isst alleine Mittag, guckt etwas Fernsehen und versucht, für die Deutscharbeit am nächsten Tag zu lernen. Lust hat sie keine; denn so richtig versteht sie nicht, um was es da morgen gehen wird. Emil hingegen wird bereits von seiner Mutter erwartet. Während sie das Mittagessen zubereitet, telefoniert sie noch schnell am Handy mit einem Kunden. Beim Üben für die Klassenarbeit hilft seine Mutter bei Fragen, beantwortet aber dabei liegengebliebene E-Mails auf dem Tablet; denn so richtig angepasst an das neue Arbeitspensum wurde ihre Teilzeitstelle nicht. Beispiele wie diese zeigen, wie wichtig unser Vorhaben ist, für eine bessere Ganztagsbetreuung für Kinder im Grundschulalter zu sorgen. ({0}) Wir wollen bis zum Jahr 2025 für jedes Grundschulkind einen Rechtsanspruch schaffen. Das sind ein wichtiger Schritt hin zu echter Vereinbarkeit von Familie und Beruf und vor allem ein Motor für bessere Chancen für alle Kinder in unserem Land. ({1}) Uns geht es dabei nicht um acht Stunden Frontalunterricht. Wir wollen einen Ganztag, der Raum zur individuellen Entwicklung eines jeden Kindes gibt, einen Ganztag, der die schulische ebenso wie die musische oder sportliche Bildung im Blick hat. Dazu braucht es eben Strukturen, in denen Schulen, Horte, Kinder- und Jugendhilfe, Sport- und Musikvereine auf Augenhöhe zusammenarbeiten können. Und es braucht gut ausgebildetes und gut bezahltes Fachpersonal. Der Rechtsanspruch darf nicht zu schlecht bezahlten und befristeten Stellen führen. Mir ist bewusst, dass die Ausgangslage hierzu alles andere als einfach ist. Wir haben in den Bundesländern – darauf wurde eben schon Bezug genommen – sehr unterschiedliche Startvoraussetzungen, sowohl, was das Ganztagsangebot an sich angeht, als auch, was das Fachpersonal und die finanziellen Spielräume betrifft. Deshalb brauchen wir einerseits bundesweite, klar definierte Qualitätsstandards und andererseits ausreichend Flexibilität, um diese Standards zu erreichen. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Ministerinnen Karliczek und Giffey, mit dem Ganztagsfinanzierungsgesetz, das wir heute in erster Lesung beraten, setzen wir den Startschuss für den Ausbau der Ganztagsbetreuung im Grundschulalter. Mit diesem Gesetz stellen wir sicher, dass die bereits zugesicherten 2 Milliarden Euro in dieser Legislaturperiode so lange in einer Art Spardose verbleiben, bis der Rechtsanspruch auch steht; denn bis zur Umsetzung haben wir sicherlich noch einen weiten Weg vor uns. Mit „uns“ meine ich Bund, Länder und Kommunen. Hier stehen wir jetzt alle gemeinsam in der Pflicht. ({3}) Zum Schluss. Es gilt nun, die Chancen, die die Ganztagsbetreuung mit sich bringt, nicht leichtfertig zu verspielen. Lassen Sie uns eine gute Lösung finden, damit Familien hierzulande so leben können, wie sie es wollen, und damit alle Emils und alle Neles die gleiche Chance bekommen, etwas aus ihrem Leben zu machen. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Die nächste Rednerin: die Kollegin Nadine Schön, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Nadine Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004116, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! So vielfältig wie Familien sind, so vielfältig sind auch die Varianten, wie sie ihren Alltag gestalten. Das ist uns als Union wichtig. Grundsatz unserer Familienpolitik ist die Wahlfreiheit. Wir wollen, dass die Familien in unserem Land ihren Familientag so gestalten können, wie sie es wollen, und dass sie dazu die besten Rahmenbedingungen haben. ({0}) Das war auch ein Grund, weshalb wir uns vor vielen Jahren gemeinsam auf den Weg gemacht haben, den Anliegen der Eltern zu entsprechen und bei der Kinderbetreuung der Kleinsten mehr zu machen. Viele Eltern haben gesagt: Wir wollen wieder in das Berufsleben einsteigen. Wir brauchen eine gute, eine verlässliche Betreuung. – Wir haben das gemeinsam mit Ländern und Kommunen gemacht. Es ist wichtig, lieber Kollege Seestern-Pauly und auch liebe Kollegen der anderen Fraktionen, die Sie so vollmundig kritisieren, dass der Bund so wenig tut, zu bedenken: Auch bei der U-3-Betreuung, auch bei der Kitabetreuung sind es Länder und Kommunen, die zuständig sind. ({1}) Da haben wir zum ersten Mal gesagt: Wir lassen euch nicht alleine. Wir machen das gemeinsam. Wir unterstützen beim Ausbau. – Dieses Versprechen haben wir eingelöst. Wir haben uns immer wieder für das Kinderbetreuungsausbauprogramm eingesetzt, seine Geltungsdauer verlängert und die Mittel entsprechend aufgestockt, und zwar so lange, bis wir – ich will die Zahlen gerne vorlesen – von 13,6 Prozent Betreuungsquote im Jahr 2006 auf mittlerweile weit über 30 Prozent in den Ländern angelangt sind, und wir verfolgen weiterhin den Ausbau, so wie es die Familien wünschen. ({2}) Nun wurde schon mehrmals erklärt, dass sich nach der Kitazeit oft ein Einbruch vollzieht, dass es viele Regionen in Deutschland gibt, wo es im Grundschulbereich keine gute Nachmittagsbetreuung gibt. Wir sagen auch hier: Wir lassen Länder und Kommunen nicht allein mit dem Problem, sondern wir gehen das gemeinsam an. – Jetzt kann man zwar sagen, dass 2 Milliarden Euro Peanuts sind, aber ich kann nur sagen: 2 Milliarden Euro, das sind 2 000 Millionen Euro, die der Bund in den nächsten Jahren zur Verfügung stellt für eine Aufgabe, die originär Aufgabe der Länder und Kommunen ist. ({3}) Wir wollen, dass es auch hier ein besseres und ein verlässliches Angebot gibt. Wir wollen einen Anspruch auf Betreuung am Nachmittag, und wir wollen das zu einem gemeinsamen Projekt machen. Eltern müssen sich darauf verlassen können, dass ihre Kinder auch am Nachmittag gut betreut sind. Der zweite Punkt, der uns als Union dabei wichtig ist neben der Frage, wer genau zuständig ist, ist unser Anliegen, in Vielfalt zu investieren. Es muss nicht ein Angebot für alle geben. Es muss nicht die gebundene Ganztagsschule in ganz Deutschland sein. Es gibt tolle Angebote von Horten. Es gibt tolle freiwillige Nachmittagsangebote. Diese Vielfalt, diese Flexibilität wollen wir erhalten; denn das wünschen die Eltern. Nicht jeder will das Gleiche. Deshalb wollen wir die Vielfalt erhalten und geben das Geld den Ländern. Die Länder können dann selbst entscheiden, wie sie das Geld zusammen mit ihren Kommunen verausgaben. Vielfalt, Verlässlichkeit und Vereinbarkeit von Familie und Beruf, das ist uns ein großes Anliegen. Wir errichten heute das Sondervermögen mit 2 Milliarden Euro, um Länder und Kommunen bei diesem wichtigen Anliegen zu unterstützen. Ich finde, das ist ein sehr, sehr gutes Zeichen für unsere Familien, und wir lösen damit ein Versprechen ein, das wir vor zwei Jahren gegeben haben. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Die letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist die Kollegin Dr. Silke Launert, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Silke Launert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004336, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Fragen „Warum bin ich eigentlich in die Politik gegangen? Was treibt mich an?“ wird sich jeder hier im Raum schon gestellt haben, und jeder hat darauf seine ganz eigene, individuelle Antwort. Meine persönliche Antwort: Ich wollte dazu beitragen, dass Frauen Kinder bekommen können und gleichzeitig die Chance haben, weiter in ihrem Beruf zu arbeiten, wenn sie es wollen. ({0}) Leider ist das nicht überall der Fall. Meine Vorstellung war: Kind und Karriere, das sollen keine Gegensätze sein. Frauen sollen die Freiheit haben, wenn sie es wollen – das ist keine Pflicht –, beides zu wollen und auch beides in der Realität zu leben. ({1}) – Und Männer auch. Leider war es meistens so, dass die Frauen eingeschränkt waren. Das war meine Motivation. Ich habe mir schon im Studium Gedanken gemacht, wie ich das denn schaffe. Ich wusste, dass ich allein mit Küche, Kirche und Kindern in meinem Leben nicht glücklich werde. Also, wie klappt es? Das war eine der Hauptantriebe und von Anfang an ein Herzensanliegen. Ich denke, es ist auch ein Herzensanliegen vieler hier. Ich weiß, dass sich ganz viele Frauen in Deutschland darüber ständig Gedanken machen – auch manche Männer, aber meistens Frauen. Ich freue mich daher, dass in das Thema „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ in den letzten zehn, zwölf Jahren wirklich so richtig Dynamik hineingekommen ist. Der erste ganz wesentliche Schritt war natürlich die Schaffung des Rechtsanspruchs auf einen Kitaplatz durch Ursula von der Leyen. Das war nicht einfach. Ich habe die Gespräche in den Kommunen miterlebt. Natürlich war das eine Riesenherausforderung. Aber bei einer eigentlich originären Angelegenheit von Kommunen und Ländern war dann eine Vorgabe vom Bund da. Es war auch ein gewisser Druck da. Der Bund hat, begleitet durch Milliardenpakete, auch einen Anteil übernommen – nicht alles, aber einen ganz großen Anteil. Das war ein zentraler Schritt. Jetzt gehen wir den nächsten großen, zentralen Schritt, und er ist essenziell. Es ist bereits mehrfach angesprochen worden: Sie haben Kinder – ich habe bis vor Kurzem zwei Grundschulkinder gehabt – und haben alles perfekt organisiert, konnten vielleicht halbtags oder zwei Drittel – manche sogar ganztags – wieder arbeiten, und dann kommt von heute auf morgen das Grundschulalter. Man kann natürlich Sechsjährige nicht alleine zu Hause lassen. Also, was macht man? Man muss reduzieren. Wen trifft es meistens? Die Frauen, und das zu einem Zeitpunkt, wo die Kinder schon älter sind und man schon bis zu zehn Jahre reduziert gearbeitet hat. Kein Wunder, dass Frauen den Anschluss im Beruf verlieren! Wir können noch so viel über Beträge und Gleichstellung sprechen: Wenn eine Frau mit zwei Kindern 10 bis 15 Jahre draußen ist bzw. nur halbtags arbeitet, dann – da brauchen wir uns nicht zu wundern – ist es einfach schwierig, den Anschluss zu finden. Deshalb ist es da genauso wichtig. Man muss jetzt allerdings auch ganz kurz sagen: Es geht heute nicht um den Rechtsanspruch, sondern es geht hier zunächst um einen allerersten Schritt, das Fundament, die Schaffung eines Sondervermögens: in 2020 und 2021  2 Milliarden Euro. Ich denke, für diese zwei Jahre ist das ein schöner Anfang, und wir sollten uns freuen, dass wir diesen Schritt gehen. Ich sage noch einmal: Es geht um Wahlfreiheit. Wir zwingen niemanden, seine Kinder in eine Ganztagsbetreuung abzugeben. Das ist also wieder einmal eine typische Verdrehung der Tatsachen. ({2}) Aber es gibt Frauen in diesem Land, die das wollen. Und ich muss noch ganz kurz was sagen –

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Aber die Zeit ist jetzt abgelaufen.

Dr. Silke Launert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004336, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

– zur Verhöhnung der Frauen, ({0}) die das machen, der Alleinerziehenden, die es sonst nicht schaffen, die dem Staat nicht zur Last fallen wollen, sondern arbeiten wollen. All diese, die nach acht Stunden Arbeit noch ihre Kinder erziehen, haben Respekt verdient und keine Zynik. ({1})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Das war die letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt. Ich schließe die Aussprache.

Prof. Dr. Lothar Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004812, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir reden in dieser Debatte über die mittel- und langfristige Versorgung der deutschen Industrie mit Rohstoffen, und zwar mit solchen, die wir aus außereuropäischen Ländern importieren müssen. Dass die Rohstoffversorgung überhaupt zu einem größeren Problem geworden ist, war vor zehn Jahren so noch nicht abzusehen. Die Wirtschaft war es gewohnt, jedes benötigte Material in ausreichender Menge auf dem Weltmarkt einkaufen zu können. Kaum ein Rohstoff war wirklich knapp. Heute müssen wir feststellen, dass immer mehr wichtige Rohstoffe immer schwieriger zu beschaffen sind: Seltene Erden, diverse Metalle, Mineralien, Energieträger und selbst bestimmte Agrarrohstoffe. Grund ist nicht die Erschöpfung der Rohstoffvorkommen, sondern die Vermachtung der Märkte. Großverbraucher wie vor allem China, aber auch die USA, Frankreich und Großbritannien haben sich den monopolistischen Zugriff auf wichtige Bodenschätze gesichert und bestimmen die Preise. Werte Kollegen, ja, mit Rohstoffen wird Machtpolitik betrieben. Wer hätte das gedacht? Spät, aber noch nicht zu spät hat der Bundesverband der Deutschen Industrie auf die drohenden Gefahren in seiner Berliner Rohstofferklärung hingewiesen und entschlossenes Handeln der Regierung angemahnt. Die Bundesregierung hat dieser Warnruf leider nicht aus ihrem Tiefschlaf zu wecken vermocht. Dort scheint man weiter zu glauben, der Markt werde schon alles regeln. Das tut er auch, aber mit anderen Ergebnissen, als von der Regierung erträumt. Von einer zusammenhängenden deutschen Rohstoffpolitik kann keine Rede sein. Während China sich nicht nur zahlreiche Rohstoffvorkommen in Afrika, in Südamerika und in Asien gesichert hat, indem es nicht nur die Lagerstätten selbst unter Kontrolle bringt, sondern indem es auch die gesamte für Transport und Verarbeitung notwendige Infrastruktur wie Straßen, Eisenbahnen, Häfen und Flughäfen gleich mitliefert, bleiben deutsche Investitionen in diesem Sektor bestenfalls punktuell und unzusammenhängend. Weder werden sie von der Bundesregierung diplomatisch begleitet und in ein Entwicklungskonzept des Ziellandes eingepasst, noch werden die Möglichkeiten der technischen Zusammenarbeit für unterstützende Maßnahmen genutzt, vor allem im Bereich der Infrastruktur, aber auch der Ausbildungsförderung für qualifizierte Arbeitskräfte. TZ und private Investitionen laufen beziehungslos nebeneinander her, und oft verfolgt die TZ Ziele, die aus einer anderen Welt zu stammen scheinen. Mit den 10 Milliarden Euro im Haushalt des Entwicklungsministeriums ließen sich Infrastruktur- und Ausbildungsprojekte für viele bedeutende private Investitionen in den Zielländern finanzieren, die diese Länder wirtschaftlich voranbringen könnten. Stattdessen wird ein Großteil des TZ-Budgets für Klein- und Kleinstprojekte mit höchst zweifelhafter und entwicklungspolitisch bedeutungsloser Zielsetzung vergeudet. Als Beispiel nenne ich hier 170 000 Euro für gendersensible Männerarbeit in Nicaragua, ({0}) 69 000 Euro für die Verbesserung der sexuellen und reproduktiven Gesundheit von Jugendlichen des Distrikts 8 in Bolivien, ({1}) 234 000 Euro für integrierte und genderbasierte Förderung von organisierten Kleinbauernfamilien in Uganda usw. usf. Wenn solche Projekte überhaupt jemandem nützen, dann wohl nur den Mitarbeitern jener deutschen NGOs, die sie durchführen. ({2}) Das, was in der Außenwirtschafts- wie der Entwicklungspolitik wirklich nottut, sind drei Maßnahmen, die wir vorschlagen und die gleichermaßen deutschen Interessen wie denen der Zielländer entsprechen: Erstens: die Koordinierung der deutschen Rohstoff- und Entwicklungspolitik durch ein zu schaffendes Amt eines Bundesbeauftragten für Rohstoffpolitik, dessen Aufgabe darin bestünde, die nationalen Initiativen zur Sicherung der Rohstoffversorgung zu bündeln und zu lenken. Zweitens: die Gründung einer deutschen Rohstoffgesellschaft aus einem Zusammenschluss privater Unternehmen, die die Gewinnung und Bevorratung mit strategisch wichtigen Rohstoffen organisiert und deren Arbeit begleitet. Finanziell müsste sich die öffentliche Hand daran nicht oder nur sehr eingeschränkt beteiligen. Und drittens: die Neuorientierung der Technischen Zusammenarbeit auf die beschriebenen begleitenden und unterstützenden Maßnahmen für substanzielle Investitionen der deutschen Wirtschaft in den Partnerländern. Nicht geschenkte Investitionen, die verfallen, sobald der ausländische Sponsor die Finanzierung einstellt, sind das Ziel, sondern Investitionen im beiderseitigen Interesse mit langfristiger Perspektive. Zu den Zielen solcher Kooperationen kann es nicht allein gehören, nur einfach Rohstoffe zu gewinnen und zu exportieren, sondern dazu sollte auch gehören, die ersten Verarbeitungsstufen im Zielland zu organisieren.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Herr Kollege, denken Sie an Ihre Zeit.

Prof. Dr. Lothar Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004812, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Machen wir etwas Ungewöhnliches! Machen wir etwas, was allen nützt! Danke. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Stefan Sauer. ({0})

Stefan Sauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004870, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Gäste auf der Besuchertribüne! Unter der Überschrift „Entwicklungszusammenarbeit zum gegenseitigen Nutzen konzipieren – Rohstoffversorgung der deutschen Industrie sicherstellen“ kündigte sich eigentlich ein vielversprechender Antrag der AfD an. ({0}) Ja, es geht um Rohstoffe. Rohstoffe sind die Grundlage unserer Volkswirtschaft, und wenn es der Volkswirtschaft nicht gut geht, dann ist es auch um unseren Wohlstand nicht gut bestellt. Als wir Dienstagabend den Antrag bekamen, waren wir schon sehr enttäuscht, und die Ausführungen eben, Herr Dr. Maier, führten nicht viel weiter. ({1}) Sie greifen auf Unterlagen zurück, die etwas älter sind, ({2}) und Sie beschreiben – so entsteht zumindest der Eindruck – China als ein Vorbild für Entwicklungszusammenarbeit. Das hat etwas mit einer neuen Form von Kolonialismus zu tun, und dies ist mit uns nicht umzusetzen. Darüber hinaus – das ist typisch für Ihre Anträge – agieren Sie wieder mit Unsicherheit, mit Sorgen; Sie unterstellen Staatsversagen. ({3}) Es werden Existenzängste aufgebaut. Das gelingt Ihnen eben bei dem Thema Rohstoffe auch so gut, weil der Rohstoffmarkt natürlich nicht konstant ist: Er ist geprägt von Preisspitzen, von Lieferengpässen, und es gibt auch Marktkonzentrationen. Dass Sie es aber auch noch fertigbringen, zu schreiben, die deutsche Wirtschaft scheitere langfristig daran, sich mit Seltenen Erden zu versorgen, und auch noch den Bundesverband der Deutschen Industrie vor Ihren Karren spannen, indem Sie sagen, hier würden höhere politische Priorisierungen gefordert, ist etwas aus der Zeit; denn diese Forderung stammte vom Juli 2018. Würde es Ihnen wirklich um eine Rohstoffstrategie gehen, dann hätten Sie zumindest erkannt, worauf die Forderung damals zielte. Es ging darum, die Versorgungssicherheit zu stabilisieren, indem man sie auf drei Säulen stellt: Importrohstoffe, deren Volumen 2017 162 Milliarden Euro betrug, die heimischen Rohstoffe, die mit 12 Milliarden Euro zu Buche schlagen, und vor allem – das ist die dritte Komponente – Recycling der Rohstoffe; denn gut sind die Rohstoffe, die wir gar nicht verbrauchen. Herr Dr. Maier, Sie sprechen von einem Tiefschlaf der Regierung. Ich habe die Sorge, dass Sie die Rohstoffstrategie noch gar nicht kennen. Sie ist eine Fortentwicklung aus 2010. Die 2020er-Version hat weite Teile der Forderungen des Bundesverbandes aufgenommen. Der Bundesverband ist damit auch zufrieden. Wesentliche Ideen finden vor allem ihren Niederschlag in der Ausrichtung an einer internationalen Kooperation anstelle eines nationalen Alleinganges. Aus der Sicht der CDU/CSU-Fraktion ist die Rohstoffstrategie gelungen, und zwar auch deshalb gelungen, weil sie ein zwischen dem Ministerium für Wirtschaft und Energie sowie dem Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung abgestimmtes Produkt ist. Das Leitmotiv, das damals schon galt, dass in erster Linie die Unternehmen für ihre Rohstoffversorgung verantwortlich sind, gilt weiterhin; denn die Regierung hat lediglich politisch flankierende Maßnahmen zur Stabilisierung des Prozesses beizutragen. Also ein marktwirtschaftlicher Ansatz. Basis ist der freie und faire Welthandel. Das ist für uns ein gutes Ordnungsprinzip. Dass die Strategie 2020 fortgeschrieben wurde, war erforderlich, weil sich der Rohstoffbedarf durch technologische Entwicklungen verändert – wir denken hier an die Elektromobilität oder die Energieversorgung – und sich auch das Bewusstsein gewandelt hat. Es gab ein gesteigertes Bewusstsein für Umwelt-, Sozial- und Arbeitsstandards sowohl bei der Gewinnung als auch beim Handel sowie für Sorgfaltspflicht bei den Lieferketten; ich denke hier an das Lieferkettengesetz, das bereits in der Diskussion ist. Aber auch, dass wir marktbeherrschenden Situationen entgegenwirken müssen, hat die Fortschreibung gerechtfertigt. Sie sprechen von einem gegenseitigen Nutzen. Auch dieser gegenseitige Nutzen ist in drei Positionen deutlich zum Ausdruck gebracht, zum einen darin, dass die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie gestärkt werden soll, um auch Arbeitsplätze zu erhalten, dann darin, dass Partnerländer der Entwicklungspolitik dabei unterstützt werden, damit sie ihren Rohstoffreichtum auch für ihre eigene Entwicklung nutzen, und darin, dass die nachhaltige Entwicklung sowohl im Umwelt- als auch im sozialen Bereich in den Vordergrund gestellt wird. Sie nennen zwei Punkte, die schon sehr ernüchternd sind. Sie beschreiben in Punkt 5 und 6 Ihrer Forderungen, dass die öffentliche Hand sich beim Aufbau notwendiger Infrastruktur – Straßen, Eisenbahnen, Häfen und dergleichen – beteiligen möge und dass das Kapital als Kredit den Nehmerländern zur Verfügung zu stellen ist. Das ist genau die Herangehensweise, wie China sich zurzeit die Welt zu eigen macht. Das gilt etwa für die Seidenstraße, die 2013 vorgestellt wurde: 60 Länder werden vernetzt, in Asien, Europa, Afrika. Ein Großmachtstreben steht dahinter. Bereits Ende 2018 waren mit 90 Ländern Kooperationsabkommen vereinbart. Die finanzielle Abhängigkeit, die geschaffen wird, gibt den Entwicklungsländern niemals mehr die Chance, eigenständig zu handeln. Es sollen Häfen gebaut werden, die dann von den Chinesen selbst betrieben werden. Das kann und soll nicht unser Modell sein. Deshalb werden wir dies auch in der Form nicht unterstützen. ({4}) Dass Sie sogar davon ausgehen, dass man über Infrastrukturengagement und weitere Entwicklungsprojekte Gewinne erzielen und sie reinvestieren könnte, ist schon abenteuerlich. Ich glaube, da haben Sie die eine oder andere Sitzung unseres Ausschusses tatsächlich nicht besucht. ({5}) Da könnte man den Eindruck gewinnen und zu der Erkenntnis kommen, dass die AfD eine Sicht hätte, die nicht in die Welt passt. Sie tragen weder mit der Arbeit, die Sie abliefern, noch mit dem, was Sie argumentativ heute beigetragen haben, dazu bei, dass wir gute Ergebnisse erzielen können. Deshalb werden wir Ihren Antrag ablehnen. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Kollege Sauer. – Für die FDP hat das Wort der Kollege Dr. Christoph Hoffmann. ({0})

Dr. Christoph Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004757, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer auf den Rängen! Der Antrag, mit dem wir uns heute beschäftigen müssen, zeigt wieder einmal, wes Geistes Kind Sie hier am rechten Flügel des Bundestags sind: Sie denken national, Sie denken autokratisch, und Sie wollen Wirtschaft nationalstaatlich begleiten und dazu die Entwicklungszusammenarbeit eigentlich missbrauchen. Sie stemmen sich damit gegen die Marktkräfte. Und das ist nicht normal. ({0}) Sie wollen, dass sich die deutsche Entwicklungszusammenarbeit am Vorbild Chinas orientiert. Sie wissen genau, dass China alle Standards unterläuft, um sich Rohstoffe zu sichern. Menschenrechte, Demokratie, Freiheit und Eigentum werden in Afrika von China unterlaufen. Das kann doch nicht unser Ziel sein. ({1}) Was Sie hier in Ihrem Antrag als Rohstoffsicherung bezeichnen, ist nichts anderes als der alte Imperialismus und das Gedankengut kolonialer Zeit. Sie sind wieder mal nicht auf der Höhe der Zeit. ({2}) Sie haben sechs Forderungen in Ihrem Antrag gestellt, die aber eigentlich quasi schon alle erfüllt sind. Es fehlt eine siebte, nämlich die Forderung nach der Erhöhung der Sektsteuer, um die kaiserliche Kriegsmarine wieder in Gang zu setzen und sie zur Rohstoffsicherung einzusetzen. ({3}) – Genau, zur Sache. – Im Ernst: Machen Sie sich keine Sorgen um die deutsche Industrie. Sie wird die Rohstoffe selbst organisieren, wie sie das bisher auch geschafft hat. Viel mehr Sorge muss man sich machen über zu viel staatliche Bürokratie für die Betriebe bei ihrem wirtschaftlichen Handeln im Ausland. Da müssen wir aufpassen; denn Bürokratie wird zur Wettbewerbsverzerrung beitragen. Wir Freie Demokraten stehen für eine Entwicklungszusammenarbeit mit Kernthemen wie Bildung, Familienplanung, Menschenrechte, fairer Handel und echte Investitionen, um die Lebensbedingungen in den Staaten des Südens zu verbessern. Mit Bildung wird es eine Entwicklung geben, die dann auch wirklich partnerschaftlich Wirtschaftswachstum und Wohlstand in den Ländern erzeugen kann und damit auch für neue Märkte für die deutsche Industrie in diesen Regionen sorgt. Sie setzen nach wie vor auf Ausbeutung. Aber einem Ausbeuter wird man auf lange Sicht keine Rohstoffe vermitteln wollen. ({4}) Was wir Freie Demokraten seit Jahren von der Bundesregierung fordern, ist eine Geostrategie über alle Ressorts hinweg, nämlich Außen, Entwicklung und Verteidigung, damit wir eine kohärente Politik bekommen. Wir haben das in vielen Regionen dieser Welt schmerzlich vermisst. Denken Sie an Syrien, denken Sie an den Sahel, denken Sie an Libyen oder an viele weitere asiatische und afrikanische Regionen! Da es keine Strategie gibt, erleben wir immer wieder spontane Alleingänge von Ministern, zuletzt von unserem Entwicklungsminister, der zum Beispiel im Sahel davon sprach, mal eben Boko Haram zu entwaffnen und Tausenden von jungen Menschen Arbeitsplätze zu geben, oder vor drei Tagen die Aufkündigung der Entwicklungszusammenarbeit mit Myanmar, völlig unabgestimmt mit dem Außenministerium, mit der deutschen Botschaft vor Ort und den Durchführungsorganisationen in Myanmar. So strategielos darf es allerdings nicht weitergehen. Das muss die Bundesregierung hier zur Kenntnis nehmen. Es wird Zeit für etwas Neues, für etwas Zukunftsweisendes. Ihren Antrag von vorgestern lehnen wir ab. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Sascha Raabe, SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der AfD zielt darauf ab, Rohstoffe für die deutsche Industrie vornehmlich aus Afrika sozusagen postkolonial zu sichern; das ist ja das, was Ihnen eigentlich vorschwebt. Der Kollege von der FDP hat es schon gesagt: Das ist ein Ansatz, der in Afrika dazu geführt hat, dass wir heute immer noch Grenzziehungen haben, die den Ländern Schwierigkeiten bereiten. Der Antrag ist das Papier nicht wert, auf dem er geschrieben ist. Deswegen sage ich Ihnen ganz ehrlich: Ich will mich dazu gar nicht weiter äußern. Es ist traurig, dass Ihnen zum Thema Rohstoffe in erster Linie nur einfällt, wie wir hier mehr Gewinne machen können, anstatt das Augenmerk darauf zu richten, dass es in den betroffenen Ländern Minen gibt, in denen Kinder schuften müssen, ({0}) wo Menschen wirklich sieben Tage die Woche für Ihre Handys und für Ihre Wohlstandsprodukte rackern müssen. Anstatt sich Gedanken zu machen, wie man das Leben dieser Menschen verbessern kann, fällt Ihnen nichts anderes ein, als hier wieder neu aufzulegen: Hauptsache, die deutsche Industrie kriegt billig Rohstoffe. – Das ist schäbig, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({1}) Genauso schäbig und unanständig ist es, dass Sie immer wieder die deutsche Entwicklungszusammenarbeit diskreditieren und in den Schmutz ziehen. Sie haben in Ihren Antrag geschrieben: Deutschland dagegen setzt seine Entwicklungsleistungen vielfach ein, um in Partnerländern ideologische Ziele umzusetzen, die eher einer moralischen Lehrmeisterhaltung als konkreten Notwendigkeiten … gerecht werden. ({2}) Sie haben vorhin auch noch mal gesagt: politisch bedeutungslose Entwicklungszusammenarbeit. – Na gut, lautes Brüllen ersetzt nicht kluges Denken. Aber das sind wir von Ihnen ja gewohnt. ({3}) Ich will Ihnen mal sagen, was die deutsche Entwicklungszusammenarbeit leistet; denn das ist mir mehr wert, als sich mit Ihrem Antrag zu beschäftigen. Sie bringen es ja immer wieder fertig, Programme zur Frauengleichstellung, die in den Ländern sehr wichtig ist, ({4}) zu verspotten. Sie verspotten Programme zur reproduktiven Gesundheit. Da geht es darum, Menschen Familienplanung zu ermöglichen. ({5}) Wir versuchen, Genitalverstümmelungen zu verhindern, Frauen Rechte zu verschaffen. ({6}) Das zu diskreditieren und sich darüber lustig zu machen, schlägt dem Fass den Boden aus. Ich sage das Folgende für die Zuschauer, weil ich mich mit Ihnen nicht mehr beschäftigen möchte, ({7}) damit wenigstens diese wissen, was wir hier machen. Ich nehme mal den Bereich „EINEWELT ohne Hunger“: Wir investieren jährlich 1,5 Milliarden Euro in die Ernährungssicherung und die landwirtschaftliche Entwicklung weltweit. Allein seit September 2017 konnten 350 000 Kleinbäuerinnen und Kleinbauern ihr Einkommen durch Trainings- und Beratungsleistungen um knapp 30 Prozent steigern. Wir haben 140 000 Menschen aus knapp 29 000 Haushalten gesicherte Landrechte vermittelt, damit Landkonflikte anhand von Dokumenten gelöst werden. Auch das ist ein Ergebnis deutscher Entwicklungszusammenarbeit. In dem Bereich „globale Gesundheit“, den Sie gerade verspottet haben, investieren wir jährlich 1 Milliarde Euro in Gesundheitssysteme, damit Epidemien und vernachlässigte Krankheiten bekämpft werden können. Wir unterstützen den Globalen Fonds zur Bekämpfung von HIV/Aids, Tuberkulose und Malaria. Wir haben dadurch maßgeblich beigetragen, globale Infektionskrankheiten einzudämmen. Allein 2018 haben wir 18 Millionen Menschen Zugang zu antiretroviraler HIV-Behandlung verschafft, 80 Millionen Menschen auf HIV getestet und 10 Millionen Menschen mit HIV-Präventionsmaßnahmen erreicht. Alles das, was Sie unter dem Begriff „sexuelle Gesundheit“ verspotten, hilft Menschenleben retten, und das machen wir mit deutscher Entwicklungszusammenarbeit, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({8}) Wir haben – das sage ich jetzt im Namen des ganzen Hauses; denn das Haus außer der AfD hat es mitgetragen und dankenswerterweise die Mittel im Haushalt zur Verfügung gestellt – die globale Impfallianz GAVI unterstützt und es dadurch geschafft, die Kindersterblichkeitsrate im Durchschnitt von 76 auf 64 Todesfälle pro 1 000 Lebendgeburten zu senken. Wir haben 30 Millionen Kinder geimpft und dadurch 1 Million Todesfälle vermieden. Wir haben Klinikpartnerschaften aufgebaut, mehr als 60. Ich könnte hier noch ganz lange fortfahren. Aber vor allem eines möchte ich am Ende sagen: Wir unterstützen auch die zivilgesellschaftlichen Akteure, weil es ganz viele NGOs gibt, die draußen im Feld den Ärmsten der Armen helfen, sich für Frauen und für Kinder einsetzen, gegen Kinderarbeit etwas tun. Allein im Jahr 2019 fördern wir mit 1 Milliarde Euro die politischen Stiftungen, die Kirchen und die privaten Träger. Ich möchte die ganzen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer vor Ihren Verleumdungen und Verspottungen in Schutz nehmen und ihnen meinen herzlichen Dank aussprechen. ({9}) Ihr macht eine tolle Arbeit für die Ärmsten der Armen! Wir sind stolz auf euch, und wir sehen, dass wir in einer Welt leben. Wir spielen Probleme in Deutschland nicht gegen Hunger in Afrika aus. In diesem Sinne: Wir hier stehen für eine Gesellschaft, eine Welt. Und wenn Sie sich außerhalb stellen, soll uns das egal sein; davon lassen wir uns nicht beirren. Vielen Dank, meine Damen und Herren. ({10})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Raabe. – Die Kollegin Eva-Maria Schreiber hat das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Eva Maria Schreiber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004882, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! „Entwicklungspolitik zum gegenseitigen Nutzen konzipieren“, das klingt erst mal harmlos. Was die AfD allerdings unter „gegenseitigem Nutzen“ versteht, entpuppt sich ganz schnell als „Germany first“. Es geht um Rohstoffe für Deutschland: In der Einleitung die Beschwerde, dass deutsche Unternehmen nicht genug Rohstoffe bekämen, da – ich zitiere – „andere Nationen sich bereits ohne zweck- und realitätsfremde Anspruchshaltungen den Zugriff auf die infrage kommenden Rohstoffvorkommen gesichert haben“. Daraus ergeben sich die Forderungen des Antrags: schauen, wo es die Rohstoffe gibt, welche wir benötigen, dort abbauen, alles mit dem Segen, aber ohne Mitwirkung der öffentlichen Hand. Und das Einzige, was das Entwicklungsministerium dann noch tun darf: in den entsprechenden Ländern Infrastruktur, Straßen und Häfen errichten zum Abtransport der Rohstoffe. Der globale Süden als deutscher Selbstbedienungsladen. Die Berliner Konferenz mit der Aufteilung der Kolonien in Afrika war 1884; dort sind Sie anscheinend stehen geblieben. ({0}) Wir Linke standen immer an der Seite derer, die sich gegen Kolonialismus und Unterdrückung gewehrt haben, und wir stehen an der Seite derer, die sich für gerechte Handelsbeziehungen einsetzen und gegen den Ausverkauf ihrer Länder und Rohstoffe. Das heißt für uns auch, dass wir eine Abkehr von einer Politik brauchen, die die Gräben zwischen Arm und Reich auf der Welt vertieft hat. Durch Freihandelsabkommen wie den EPAs oder Mercosur und Hermes-Bürgschaften wird die Rohstoffzufuhr gesichert und werden nötige Exportbeschränkungen verboten. Das aber macht den Aufbau von Wertschöpfungsketten in den Ländern des Südens unmöglich. Nur wenn auch höherwertige Produkte dort produziert werden, kann Entwicklung gelingen. Wenn der Bundesregierung wirklich an globaler Gerechtigkeit gelegen ist, muss sie während ihrer Ratspräsidentschaft auf EU-Ebene einen Kurswechsel einleiten. ({1}) Wenn wir den Geist des Kolonialismus endlich austreiben wollen und wenn wir den Ländern des globalen Südens wirtschaftlichen Nutzen bringen wollen, dann müssen wir uns einsetzen für gerechte Handelsbeziehungen, für menschenrechtliche Sorgfaltspflichten der Unternehmen und für eine Rohstoffpolitik, die Lebensgrundlagen verbessert, statt sie zu zerstören. ({2}) Das wäre Politik „zum gegenseitigen Nutzen“. Danke. ({3})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der nächste Redner ist der Kollege Dieter Janecek, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dieter Janecek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004312, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Dr. Maier, 2019 gab es dreieinhalbtausend Femizide. Ich übersetze das mal für Sie: Das sind Gewaltverbrechen, Morde an Frauen in Lateinamerika. Deswegen finde ich es schändlich, wie Sie heute dieses Thema in Ihrer Rede behandelt haben. Ich finde es schändlich, wie Sie darüber reden, und das entspricht nicht unserem Wertekanon. ({0}) Sie als AfD schreiben in Ihrem Antrag, dass Sie eine Rohstoffpolitik auf der Basis des chinesischen Modells wollen. Ich sage Ihnen ganz deutlich: Ich möchte keine Rohstoffpolitik, bei der die menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten keine Rolle spielen. ({1}) Ich möchte auch keine Rohstoffpolitik, bei der es uns gleichgültig ist, ob Menschen vor Ort die Lebensgrundlagen genommen werden oder wir Kinderarbeit fördern. ({2}) Und ich möchte auch nicht, dass wir afrikanische Staaten in die Schuldenknechtschaft zwingen. Was wir brauchen, sind Rechtsstaatsdialoge und eine Entwicklungspartnerschaft auf Augenhöhe. Das ist übrigens auch gut für die deutsche Wirtschaft; denn wir sind vor Ort so gut vernetzt wie kein anderes Land auf der Welt. Das hilft uns auch, Vertrauen zu gewinnen, und Vertrauen ist die Basis für eine gute wirtschaftliche Entwicklung der Partnerstaaten auf Augenhöhe. ({3}) So weit, so schlecht zu Ihrem Antrag. Aber jetzt kommt’s; Sie schießen noch den Vogel ab. Sie hatten ja bis gestern noch einen zweiten Antrag. Bei dem ging es um die Rohstofffrage bei der Elektromobilität, und da haben Sie Ihr grünes Herz entdeckt. Der Andenflamingo spielte eine Rolle ({4}) und der Bauer in Bolivien bei den Lithiumvorkommen. Das sind ernste Themen; ich will mich überhaupt nicht, wie Sie das immer tun, in irgendeiner Form darüber lächerlich machen. Aber in dem Moment, in dem Sie in dem Antrag schreiben, man brauche da eine sehr strikte, nach Sozial- und Umweltrecht orientierte Entwicklungszusammenarbeit, aber ausschließlich für Unternehmen der Elektromobilität, machen Sie sich komplett lächerlich, mit Verlaub. ({5}) Ich sage Ihnen mal was zur Rohstoffsituation, die wir heute haben. Metalle und Seltene Erden sind nicht erneuerbar. Wir haben eine Verantwortung. Verantwortung in der Welt heißt, dass wir auf Sorgfaltspflichten, auf Lieferketten und darauf schauen müssen, dass wir unsere eigene Nachfrage, auch die der Industrie, so steuern, dass wir in der Zukunft weniger Rohstoffe brauchen, zum Beispiel, indem wir die Kreislaufwirtschaft stärken. ({6}) Sie reden oft so über Lithium, als wäre es erst mit der Batterie erfunden worden. Das gibt es seit Jahrzehnten in der Förderung der chemischen Industrie, der Metallschmelze und der Stahllegierungen. Schauen Sie, wenn Sie ein Auto mit fossilem Kraftstoff fahren, mal vorne rein. Dort ist eine Blei-Säure-Batterie; das ist die Realität heute. Also, was Sie hier für einen Popanz aufstellen: auf der einen Seite Menschenrechte, Soziales, auf der anderen Seite China. ({7}) – Frau von Storch, Sie können es ja sowieso nicht ertragen, wenn man das Wort „Gender“ mal in den Mund nimmt. ({8}) Man muss nur in Ihre Fraktion schauen, um festzustellen, warum das so ist. Vielleicht sollten Sie sich mal gegenseitig kennenlernen, an Ihrem Weiblichkeitsdefizit arbeiten. ({9}) Aber das ist einfach Ihre Position, die Sie haben: hü und hott, für Menschenrechte und gegen Menschenrechte, aber Hauptsache gegen die Elektromobilität, dann für China, doch irgendwie wird das Ganze noch im nationalen Interesse formuliert. Also, das sind zwei wirklich wirre Anträge, von denen Sie ja einen heute vorgelegt haben. Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen bei der Beratung in den Ausschüssen. Danke schön. ({10})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Peter Stein, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Peter Stein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004416, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, wenn es eines Beweises bedurft hätte, dass es den menschengemachten Klimawandel gibt, dann ist das die seit Jahren anhaltende Dürre in den Anträgen der AfD zur Entwicklungspolitik. ({0}) Man möchte sagen: Herr, lass Hirn regnen, damit diese Dürre mal irgendwann beendet wird. ({1}) Die AfD möchte hier wieder die Entwicklungspolitik missbrauchen. Sie möchte sie nutzen, um die Rohstoffversorgung der deutschen Industrie sicherzustellen; so liest man es bereits in der Überschrift. Am besten solle man es China gleichtun und sich von – so heißt es in Ihrem Antrag – ideologischen Zielen und einer moralischen Haltung lösen. Sie von der AfD sprechen von „zweck- und realitätsfremden Anspruchshaltungen“, wir von den Regierungsfraktionen sprechen in der Entwicklungspolitik von Partnerschaft auf Augenhöhe. Sie von der AfD wollen einen deutschen Rohstoffbeauftragten, der geeignete Fördergebiete in Entwicklungs- und Schwellenländern identifizieren soll, wir Christdemokraten wollen den Zielländern eine Zusammenarbeit anbieten, eine Zusammenarbeit, die uns den Zugang zu Märkten unter gegenseitig fairen Bedingungen eröffnet und die den Ländern im südlichen Teil dieser Welt eine vollständige Produktionskette aufbauen hilft und Jobs für die oft sehr junge Bevölkerung schafft. Werte Kollegen, wir haben den ausbeuterischen Rohstoffkolonialismus des letzten Jahrhunderts als Fehler verstanden und wollen ihn international endgültig beenden. Sie wollen mit einem Beauftragten einen deutschen Chefausbeuter einrichten. Und damit nicht genug: Sie fordern auch noch, dass sich die deutsche Entwicklungszusammenarbeit auf den Bau von Infrastruktur zu begrenzen habe, mit dem Ziel, die Rohstoffe leichter nach Deutschland bringen zu können – sozusagen eine deutsche „Belt and Road“-Initiative. Ich glaube, da übernehmen Sie sich wirklich deutlich. Ja, Deutschland ist natürlich abhängig von Rohstofflieferungen; wir sind aber auch abhängig von einer guten wirtschaftlichen Gesamtentwicklung in den Zielländern: ohne stabile, prosperierende Absatzmärkte kein Export. Gerade die rohstoffreichen Länder Afrikas müssen mit unserer Partnerschaft ihren eigentlichen Reichtum bei sich selbst investieren: in Industrie, Dienstleistungen, Sozialsysteme, Jobs und auch in Bildung. Deutschland wird in Zukunft nur dann global bestehen, wenn auch in unseren Partnerländern unser Wohlstandsniveau, unsere Umwelt- und Arbeitsstandards und unsere Rechtsstaatlichkeit erreichbar werden. Ich wiederhole daher, dass ich sehr dankbar bin, dass wir heute später am Tag bei einem anderen Tagesordnungspunkt über die wichtigen Themen Lieferketten und Rohstoffsicherheit auf vernünftige und nachhaltige Art und Weise sprechen werden. Deutschland kommt dabei als globalem Akteur und als Exportnation eine bedeutsame Verantwortung zu; das dürfte eigentlich unstrittig sein. Sie von der AfD jedoch formulieren hier nichts anderes als ein – es wurde schon gesagt – „Germany first“, und das unter Wirtschaftskolonialstrukturen. ({2}) Ich weise Sie jedoch darauf hin: An diesem „First“-Denken sind schon größere Nationen gescheitert. Und auch für das Deutschland, das sich einige in Ihren Reihen vorstellen, hat es zum Glück nicht für 1 000 Jahre gereicht. ({3}) Die Bundesregierung kommt unserer demokratischen und wirtschaftlichen Verantwortung mit der Rohstoffstrategie nach; auch das wurde bereits von meinem Kollegen Sauer ganz klar herausgearbeitet. Wir als Unionsfraktion fühlen uns im Kontext der globalen Zusammenhänge der Einhaltung der SDGs, den Lebensbedingungen der Menschen, unserem Planeten und dabei natürlich auch der Wirtschaft verpflichtet. Mir liegt die partnerschaftliche Zusammenarbeit gerade auch mit Rohstoffländern aus entwicklungspolitischer, aber auch aus wirtschaftlicher Sicht sehr am Herzen, und es tut mir schon sehr weh, wenn ich sehe, wie Sie eine Fairness in der Zusammenarbeit hier geradezu verweigern wollen. Wir haben in vielen Ländern durch unsere partnerschaftlichen Ansätze gerade in den letzten Jahren hier große Fortschritte erlebt. Ich erfahre dabei überall in der Welt viel Anerkennung gegenüber Deutschland für unsere fairen Kooperationsbedingungen. Ganz ehrlich, von diesen Standards möchte ich nicht einen Millimeter nach rechts abrücken. ({4}) Wir stärken mit unserer Politik die lokale Wertschöpfung, den Privatsektor sowie die Zivilgesellschaft vor Ort. Wir motivieren zur guten Regierungsführung – das klappt nicht immer, aber wir motivieren – und schaffen dafür die entsprechenden Anreize. Wir stärken die Ausbildung und Forschung vor Ort und sorgen für einen fairen Technologietransfer und für Partnerschaft auf Augenhöhe. Und ich verwahre mich – ich denke, im Namen aller demokratischen Fraktionen – gegen jeden Versuch, die heutige Form unserer Entwicklungszusammenarbeit in der von Ihnen geforderten Art und Weise zu rekolonialisieren. Unser Weg ist der einzige und wahre im nationalen Interesse Deutschlands. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Kollege. – Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.

Dietrich Monstadt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004113, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Verehrte Damen! Meine Herren! Heute beraten wir abschließend das Medizinprodukte-EU-Anpassungsgesetz. Dieses Gesetz setzt die Regelungen der beiden EU-Verordnungen zur Zulassung von Medizinprodukten und über In-vitro-Diagnostika in nationales Recht um. Die erste Verordnung tritt bereits am 26. Mai 2020 als geltendes Recht in allen Mitgliedstaaten in Kraft, die zweite Verordnung am 26. Mai 2022, sodass die Umsetzung jetzt erfolgen muss. Ziel der EU-Verordnungen ist die Gewährleistung eines reibungslos funktionierenden Binnenmarktes für Medizinprodukte. Es sollen hohe Standards für die Qualität und Sicherheit von Medizinprodukten und ein hohes Maß an Sicherheit und Gesundheitsschutz für Patientinnen und Patienten und andere Personen in allen Mitgliedstaaten erreicht werden. Medizinprodukte sollen die Gesundheit der Patienten verbessern. Wer in Deutschland beispielsweise eine Insulinpumpe erhält, muss sich darauf verlassen können, dass das Risiko ihres Einsatzes so gering wie nur möglich ist. Wir setzen damit die europäischen Vorgaben um. Meine Damen und Herren, insgesamt müssen mehr als 500 000 Produkte nach der sogenannten Medical Device Regulation neu zertifiziert werden. Wer sich mit dem komplexen Markt beschäftigt hat, musste erkennen, dass diese Umsetzung sich als ausgesprochen holprig erweist. Nicht nur müssen mehr Medizinprodukte aus allen Risikoklassen ein bestimmtes, strengeres Zulassungsverfahren durchlaufen; auch die Benannten Stellen benötigen eine neue Akkreditierung. Bereits in der ersten Lesung habe ich an dieser Stelle davon berichtet, dass wir nicht ausreichend Benannte Stellen haben. In der Zwischenzeit sind zwei dazugekommen; das reicht aber leider immer noch nicht aus. Aktuell hat uns die Information erreicht, dass in Italien die erste Benannte Stelle ihre Arbeit aufgrund der Coronaepidemie einstellen musste. Deshalb müssen wir nachdrücklich von der EU fordern, dass die Verordnungen insbesondere vor dem Hintergrund der zeitlichen Abläufe auch umgesetzt werden können. ({0}) Ich möchte an dieser Stelle Gesundheitsminister Jens Spahn danken, dass er sich auf EU-Ebene so intensiv für eine Verlängerung der Übergangsfristen eingesetzt hat und einsetzt. Das hat immerhin dazu geführt, dass das neueste Korrigendum zur MDR zumindest für bestimmte Medizinprodukte der Klasse I eine längere Übergangsfrist von vier Jahren festschreibt. ({1}) Das allein würde aber nicht ausreichen. Auch vor dem Hintergrund der schwierigen Verfahren in der EU kann es im Interesse der Patientengesundheit zukünftig notwendig werden, dass die zuständigen Bundesoberbehörden wesentlich häufiger als bisher Sonderzulassungen erteilen müssen. Diese vielfältigen Situationen reichen von der Einzelzulassung für einen bestimmten Patienten bis zur Zulassung von Produktgruppen einzelner oder mehrerer Hersteller. Es ist insbesondere bei Medizinprodukten für seltene Erkrankungen mit einer erhöhten Anzahl von Anträgen auf Sonderzulassungen zu rechnen. Sonderzulassungen zur Sicherstellung einer ausreichenden Versorgung der Bevölkerung mit Medizinprodukten sind daher sinnvoll. ({2}) Meine Damen und Herren, die deutsche Gesundheitswirtschaft steht im Bereich der Medizinprodukte vor einer nicht zu unterschätzenden Herausforderung. Die Gesundheitswirtschaftliche Gesamtrechnung des BMWi zeigt, dass im Jahr 2018 mit circa 369 Milliarden Euro rund 12 Prozent der Bruttowertschöpfung durch die Gesundheitswirtschaft generiert wurden. 2018 betrug die deutsche Exportsumme allein für Medizintechnik circa 131 Milliarden Euro. 93 Prozent der deutschen Hersteller sind kleine oder mittelständische Unternehmen. Vor dem Hintergrund dieser Situation werden die beiden EU-Verordnungen zur Zulassung von Medizinprodukten und über In-vitro-Diagnostika angewendet. Dass wir mit diesem Gesetzentwurf und diesem Rechtsrahmen Rechtssicherheit für alle Betroffenen wie auch für die Hersteller schaffen, halte ich für die entscheidende Herausforderung dieses Gesetzentwurfs. Meine Damen und Herren, ein weiterer wichtiger Aspekt dieses Gesetzentwurfs ist, dass das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte – BfArM – in Zukunft direkt Maßnahmen zur Risikoabwehr bei Produkten einleiten kann. ({3}) Die neuen europäischen Medizinprodukte-Verordnungen verlangen, dass die Mitgliedstaaten meldepflichtige Vorkommnisse zentral erfassen und bewerten. Zukünftig kann das BfArM als zentrale deutsche Bundesbehörde Gefahren erkennen, kommunizieren und eindämmen. Ebenso wird die Beteiligung der zuständigen Ethikkommission bei klinischen Studien und Leistungsstudien – wenn also Medizinprodukte auf ihre Wirksamkeit geprüft werden – gestärkt. Das begrüßen wir sehr. ({4}) In diesem Gesetzentwurf werden außerdem noch wichtige sogenannte fachfremde Änderungsanträge berücksichtigt. Die öffentliche Anhörung hat gezeigt, dass sich Krankenkassen nicht in jedem Fall an die gesetzlichen Vorgaben zum Ausschreibungsgeschehen im Hilfsmittelbereich halten. Hier mussten wir reagieren. Zukünftig können Aufsichtsbehörden rechtswidrige Verträge zur Hilfsmittelversorgung beenden und ihren Vollzug verhindern. Die Krankenkassen werden verpflichtet, ihre Absicht, Verträge zur Hilfsmittelversorgung abzuschließen, unionsweit bekannt zu machen, und es wird ein Schiedsverfahren im Hilfsmittelbereich eingeführt. Damit soll insbesondere sichergestellt werden, dass der gesetzgeberische Wille uneingeschränkt umgesetzt wird. Ein weiterer Änderungsantrag betrifft die Auflösung des DIMDI. Ich begrüße sehr, dass die Ressourcen des BfArM und des DIMDI nun gebündelt werden sollen und somit die Organisation verbessert wird. Ich kann Ihnen die Annahme dieses Gesetzentwurfs uneingeschränkt empfehlen. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Kollege. – Der nächste Redner ist der Kollege Jörg Schneider, AfD-Fraktion. ({0})

Jörg Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004880, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Zuschauer! Im Jahr 2017 wurden von der Europäischen Union zwei Verordnungen auf den Weg gebracht. Es geht um Medizinprodukte. Ursache dafür war unter anderem wohl ein Skandal mit fehlerhaften Brustimplantaten französischer Produktion. Man möchte mit der neuen Medizinprodukte-Verordnung die Prüfung von Medizinprodukten innerhalb der EU vereinheitlichen. Ich denke, das ist etwas, was vielleicht uns allen nutzen würde. Herr Monstadt, Sie sind eben schon sehr kritisch mit den beiden Verordnungen und auch mit der Umsetzung umgegangen, und ich möchte vielleicht doch mal auf einige Punkte eingehen und sagen, was das jetzt konkret für uns bedeuten könnte. Erstens droht tatsächlich die Gefahr von Engpässen; denn auch Produkte, die schon länger im Gebrauch sind, müssen neu zertifiziert werden. Das wird nicht in allen Fällen bis zum 26. Mai 2020 gelingen, und es kann durchaus passieren, dass wir dann einige Produkte nicht mehr verfügbar haben. Ich denke, wir haben gerade eine Situation, in der die Gesundheitspolitik in der Kritik steht. Und dann Schlagzeilen wie „Engpass von Produkt XY, schuld ist die Politik“ zu produzieren – ich weiß nicht, ob Sie das wirklich wollen. ({0}) Der zweite Punkt ist: Es wird mehr Bürokratie geben. Auch heute schon muss ich als Hersteller, wenn ich mein Produkt bei den gesetzlichen Krankenversicherungen listen lassen will, ein sogenanntes Nutzenfeststellungsverfahren durchlaufen. Dieses Nutzenfeststellungsverfahren soll nun nach der Umsetzung dieser Verordnungen der EU quasi noch mal stattfinden. Das heißt, wir haben hier eine Verdoppelung, und ich denke mir, da kann man schon mal von ausufernder Bürokratie reden. ({1}) Ausufernde Bürokratie: Großen Unternehmen macht das in der Regel keine großen Probleme. Die haben ganze Abteilungen, die sich mit nichts anderem beschäftigen als damit, irgendwelche Formulare für Behörden auszufüllen. Wir haben aber – das haben Sie eben auch schon gesagt – auch sehr viele kleine Unternehmen. Von den 11 000 Unternehmen, die in Deutschland Medizinprodukte herstellen, ist die überwiegende Zahl klein oder sehr klein. Diese Unternehmen werden Probleme mit der Bürokratie haben. Es wird unter Umständen zu Unternehmensübernahmen kommen. Das bedeutet, wir haben weniger Wettbewerb, wir haben weniger Innovation, wir haben unter Umständen höhere Preise, und wenn die Unternehmen, die ein Unternehmen übernehmen, aus dem Ausland kommen, dann haben wir sogar noch einen Abfluss von Know-how ins Ausland. Ich denke, auch das ist nicht unbedingt wünschenswert. ({2}) Der letzte Punkt ist: Das größte Problem dabei ist im Moment der fehlende bzw. lückenhafte institutionelle Rahmen. Wir haben noch keine Zertifizierungsstellen in ausreichender Zahl; Sie haben es eben selber gesagt. Es fehlt auch noch eine Guideline für die eigentliche Prüfung der Produkte, und im Grunde genommen haben wir auch noch keine funktionierende Datenbank, in der die Ergebnisse hinterher zur Verfügung gestellt werden können. Das kann doch zu folgender Situation führen: Wir haben ein Produkt in ausreichender Menge, der Hersteller hat seine Hausaufgaben gemacht, nur die Bürokratie kommt nicht mehr hinterher. Das ist dann das Ergebnis von EU-Verordnungen. Wissen Sie, manchmal beneide ich die Briten doch ein bisschen. ({3}) Wir haben ganz klare Forderungen gestellt: Dieses Gesetz darf erst in Kraft treten, wenn es tatsächlich den institutionellen Rahmen gibt. Wir haben weiterhin gefordert: Es darf nicht sein, dass Produkte, die schon lange erfolgreich und ohne Beanstandungen verwendet werden, neu zertifiziert werden müssen. Wir fordern auch, dass dort, wo schon im nationalen Rahmen Prüfungen stattfinden, diese nicht aufgrund einer EU-Verordnung wiederholt werden müssen. Das ist das, was wir dazu gefordert haben, und ich denke mir, die Umsetzung dieser Forderungen würde Ihr Gesetz wirklich wesentlich besser machen. Ich danke Ihnen. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Ich erteile das Wort der Kollegin Sabine Dittmar, SPD-Fraktion. ({0})

Sabine Dittmar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004261, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Medizinprodukte-EU-Anpassungsgesetz ist so trocken und technisch, wie es klingt. Es ist aber ein wichtiges Gesetz; denn Medizinprodukte sind ein fester Bestandteil unseres täglichen Lebens. Das können die Brille, das Pflaster, ein Verband, ein Gelenkersatz oder eine Herzklappe sein. Sie kommen beim Fiebermessen, bei der Blutuntersuchung oder beim Zahnarzt zum Einsatz, und dabei geht es immer um die gute und verlässliche Versorgung von Patientinnen und Patienten. Deshalb ist es wichtig, geeignete gesetzliche Rahmenbedingungen dafür zu haben, dass gute und in ihrer Qualität gesicherte Medizinprodukte zur Anwendung kommen und verfügbar sind. ({0}) Nur wenige Monate nach dem Skandal um die schadhaften Brustimplantate hat die Europäische Kommission im September 2012 den Entwurf für eine EU-Medizinprodukte-Verordnung vorgelegt. Fast fünf Jahre dauerte dann das Ringen auf europäischer Ebene auch um die Antwort auf die Frage, wie Hochrisikomedizinprodukte für Patientinnen und Patienten sicherer gemacht werden können. Ich will ehrlich sein: Zufrieden bin ich mit der europäischen Antwort nicht. Für mich macht es keinen Unterschied, ob ein Patient eine Tablette einnimmt oder ein Stent-Implantat erhält. In beiden Fällen sind die Anforderungen, die an den medizinischen Nutzen, an die Qualität und an die Sicherheit zu stellen sind, gleich hoch. Es wäre aus meiner Sicht richtig gewesen, in der EU-Medizinprodukte-Verordnung für den Marktzugang von Hochrisikomedizinprodukten ein amtliches Zulassungsverfahren vorzusehen, wie wir es auch im Arzneimittelbereich kennen. Dass es dazu nicht gekommen ist, finde ich persönlich sehr schade. ({1}) Unabhängig davon begrüße ich, dass es mit den EU-Verordnungen über Medizinprodukte und In-vitro-Diagnostika erstmals einen einheitlichen und verbindlichen Rechtsrahmen für den Marktzugang und die Marktüberwachung in Europa gibt. Wir alle haben die Diskussion anlässlich der sogenannten Implant Files noch gut in Erinnerung. Kritisiert wurde hier unter anderem der Mangel an klinischen Prüfungen von Implantaten. Die EU-Medizinprodukte-Verordnung stellt jetzt explizit klar, dass jedes implantierbare Produkt in Europa durch den Hersteller klinisch geprüft werden muss. Vergleichsdaten von gleichwertigen Produkten reichen nicht aus. Eine zusätzliche unabhängige klinische Begutachtung durch ein europäisches Expertengremium ist möglich. Es ist immer eine Konformitätsbewertungsstelle – ein sehr schwieriges Wort für eine Fränkin – zu beteiligen, die staatlich benannt und überwacht wird. Der Hersteller ist darüber hinaus zur klinischen Nachbeobachtung verpflichtet. Damit haben wir jetzt Instrumente, die zu einer besseren Qualität und Sicherheit von Hochrisikomedizinprodukten beitragen können. Und wir werden sehr genau beobachten, ob sich diese Instrumente in der Praxis mit Blick auf die Patientensicherheit bewähren. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Wort zu den Benannten Stellen. Ja, bisher gibt es in Europa noch zu wenige. Ich bin dem Bundesgesundheitsminister deshalb wirklich sehr dankbar, dass er sich mit dieser Frage frühzeitig an die Europäische Kommission gewandt hat. Die nun vereinbarte Verlängerung der Übergangsfrist für die Zertifizierung von Medizinprodukten der Klasse I wird zu einer Entlastung der bisher Benannten Stellen beitragen und so hoffentlich Versorgungsengpässe vermeiden. Kritisiert wurde in der Vergangenheit auch die mangelnde Transparenz bei Vorkommnissen im Medizinproduktebereich. Wenn ein Problem bekannt wird, muss sichergestellt sein, dass die betroffenen Patientinnen und Patienten schnell informiert und fehlerhafte Produkte nicht weiterverwendet und vertrieben werden. ({2}) Auf der Grundlage der EU-Medizinprodukte-Verordnung können künftig alle Medizinprodukte anhand einer eindeutigen Produktidentifizierungsnummer zurückverfolgt werden. Alle vorhandenen Daten werden im Deutschen Medizinprodukteinformations- und Datenbanksystem und später auch in der europäischen Datenbank EUDAMED zusammengeführt und öffentlich zugänglich gemacht. Zusammen mit dem Implantateregister, das wir im vergangenen Jahr auf den Weg gebracht haben, werden wir künftig hier ein weitaus höheres Transparenzniveau haben. ({3}) Ich bin auch sehr froh, dass mit den Ländern eine Verständigung über die Zuständigkeit bei der Vigilanz und Überwachung von Medizinprodukten gelungen ist. Zukünftig kann das BfArM bei Gefahr im Verzug oder dann, wenn der Hersteller seinen Sitz im Ausland hat, unmittelbar selbst Maßnahmen zum Schutz und zur Sicherheit von Patientinnen und Patienten anordnen. Damit werden die Befugnisse der Länderbehörden sinnvoll ergänzt. Der Gesetzentwurf enthält auch weitreichende Verordnungsermächtigungen für das Bundesgesundheitsministerium, unter anderem für nähere Regelungen zur nationalen Sonderzulassung von Medizinprodukten. Ich möchte hier noch einmal deutlich machen, dass aus meiner Sicht das Inverkehrbringen und die Inbetriebnahme von Medizinprodukten, die das EU-Konformitätsbewertungsverfahren noch nicht durchlaufen haben, im Interesse der Patientensicherheit grundsätzlich die Ausnahme bleiben und ausschließlich befristet ermöglicht werden sollten. ({4}) Auch das Verfahren für Meldungen von mutmaßlich schweren Vorkommnissen mit Medizinprodukten wird in einer Rechtsverordnung geregelt werden. Um sicherzustellen, dass rechtzeitig und korrekt gemeldet wird, wäre es aus meiner Sicht richtig, den Verstoß gegen entsprechende Meldepflichten künftig zu sanktionieren. ({5}) Sehr geehrte Damen und Herren, beide EU-Verordnungen sind Zeichen eines wichtigen Reformprozesses in Europa. Die Verordnungsgeber verbinden damit das Versprechen eines hohen europäischen Sicherheitsniveaus für Medizinprodukte. Erst wenn die Verordnungen nach Ablauf aller Übergangsfristen volle Wirkung entfaltet haben, werden wir sehen, ob dieses Versprechen gehalten werden kann. Ich will an dieser Stelle nicht verschweigen, dass die SPD-Fraktion sich beispielsweise beim Umgang mit Explantaten oder hinsichtlich eines Fehlermeldesystems im nationalen Recht weiter gehende Regelungen zugunsten der Patientensicherheit und der Patientenrechte gewünscht hätte. ({6}) Ich kann Ihnen hier zusagen: Wir werden das weiter im Auge behalten. ({7}) Fachfremd unterstützen wir mit dem Gesetzentwurf die Aufsicht im Bereich der Hilfsmittelversorgung; Kollege Monstadt hat es schon dargestellt. Wir führen ein Schiedsverfahren für die Hilfsmittelverträge ein. Wir wollen damit die flächendeckende, wohnortnahe und qualitative Hilfsmittelversorgung sicherstellen und vor allem Versorgungslücken mangels entsprechender Verträge vermeiden. Insgesamt ist es ein gelungenes Gesetz. Ich bitte um Ihre Zustimmung. ({8})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Frau Kollegin Dittmar. – Die nächste Rednerin ist für die FDP-Fraktion die Kollegin Katrin Helling-Plahr. ({0})

Katrin Helling-Plahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004742, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Minister! Natürlich müssen wir unser deutsches Medizinprodukterecht an die europäischen Vorgaben anpassen. Da enthält der heute von der Bundesregierung vorgelegte Gesetzentwurf einige richtige Selbstverständlichkeiten. An einigen Stellen ist er zu kurz gesprungen. Vor allem aber lässt er – wie es so die Eigenart des Ministers ist – ganz viele relevante Fragen, insbesondere zu den Sonderzulassungen, die das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte erteilen können soll, offen. Der Minister betreibt wieder einmal Outsourcing wichtiger Fragestellungen aus der Verantwortlichkeit des Parlaments in sein Ministerium. Einem – in wesentlichen Elementen – Blackbox-Gesetz können wir nicht zustimmen. ({0}) Die eigentliche Problematik liegt aber ganz woanders. Ab 26. Mai gilt die Medical Device Regulation unmittelbar. Das ist in 82 Tagen. Von Tag zu Tag geht mehr die Angst um – bei Patienten wie Unternehmen. Alle wissen: Wir sind nicht vernünftig vorbereitet. Damit Sie sich ein Bild machen, wie die Lage bei unseren mittelständischen Medizinprodukteherstellern aussieht, habe ich Ihnen zwei Zitate aus E-Mails mitgebracht. Das erste Zitat: Genau das, was wir befürchtet haben, ist … jetzt eingetreten: Man teilt uns lapidar mit, dass man die zertifizierende Tätigkeit in 2020 aufgeben wird! Dies bedeutet, dass wir ab Mai 2020 keine Benannte Stelle mehr haben, und im Augenblick ist es unmöglich, eine neue Benannte Stelle zu finden. Das zweite Zitat: Um existenzielle Schwierigkeiten für das Unternehmen zu verhindern, ist ein mittel- oder sogar kurzfristiges Einstellen der Produktion bestimmter Produkte unausweichlich. Dazu werden Produkte zählen, die seit Jahrzehnten am Markt etabliert sind und … Patienten gute Dienste geleistet haben, ohne Komplikationen. Statt einer Unterstützung kleiner und mittlerer Unternehmen, die das Rückgrat der deutschen Wirtschaft sind, wird das Gegenteil erreicht: nämlich eine Verdrängung vom Markt, die zu Lasten der Versorgung der Bevölkerung geht. Somit werden spezielle, individualisierte Medizinprodukte aufgrund der enormen Kostensteigerung bei der Entwicklung und Aufrechterhaltung am Markt dem … Patienten nicht mehr angeboten, da die Kosten die Umsätze solcher Produkte signifikant übersteigen. ({1}) Meine Damen und Herren Kollegen, wir haben viel zu wenige neu zertifizierte Benannte Stellen, sind weit hinter Plan. Personalkapazitäten bei den Benannten Stellen fehlen. Wir haben schon jetzt einen Zertifizierungsstau. Die europäische Datenbank EUDAMED fehlt ebenso wie delegierte Rechtsakte und Implementierungsrechtsakte für die MDR. Wir laufen sehenden Auges in ein riesiges Chaos und müssen auf europäischer Ebene richtig Druck machen. Stimmen Sie deshalb unserem Antrag zu! Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank. – Die nächste Rednerin: die Kollegin Kathrin Vogler, Die Linke. ({0})

Kathrin Vogler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004181, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Giftige Hüftgelenke, minderwertige Brustimplantate, Stents, die Schlaganfälle verhindern sollten, aber tatsächlich mehr davon auslösten, Herzschrittmacher, die Patientinnen und Patienten völlig unkontrolliert Stromschläge verpassten: Medizinprodukte, die kranken Menschen helfen sollten, haben in den letzten Jahrzehnten immer wieder großes Leid verursacht. Hiergegen soll die Medizinprodukte-Verordnung der EU Abhilfe schaffen, und ganz sicher stellt sie auch eine deutliche Verbesserung dar. Aber leider hat sich die Bundesregierung im Rahmen der Verhandlungen zugleich für herstellerfreundlichere Regelungen starkgemacht und den Patientenschutz dabei wieder ausgebremst. Das Gesetz soll nun die Vorgaben der EU in Deutschland umsetzen. Positiv ist: Die verbesserte Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern und eine bundeseinheitliche Marktüberwachung können tatsächlich die Patientensicherheit erhöhen. Das haben wir als Linke immer gefordert. Aber leider haben Sie zugleich Bestimmungen eingebaut, die das Sicherheitsniveau eher absenken. Dazu zählt zum Beispiel die Möglichkeit, künftig viel mehr neue Medizinprodukte per Sonderzulassung auf kranke Menschen loszulassen. Wir finden – wie übrigens auch die Kollegin von der SPD –, dass Sonderzulassungen auf ganz konkrete Ausnahmefälle begrenzt und zeitlich befristet sein müssen, um unnötige Risiken für Patientinnen und Patienten zu vermeiden. ({0}) Zudem sollen die Aufsichtsbehörden bei Meldungen von schwerwiegenden Vorkommnissen ihre Risikobewertung jetzt dahin gehend vornehmen, ob ein unvertretbares Risiko für die Patientinnen und Patienten vorliegt. Mit dieser Einschränkung wird die Patientensicherheit gegenüber den EU-Vorgaben unnötig ausgehebelt, und das finden wir falsch. ({1}) Meine Damen und Herren von der Koalition, bei verschreibungspflichtigen Arzneimitteln gilt zu Recht ein Werbeverbot außerhalb von Fachkreisen. Ich kann nicht verstehen, warum die Koalition das nicht wenigstens auch für Medizinprodukte vorsieht, zumindest in den höheren Gefahrenklassen. ({2}) Was uns auch noch fehlt, ist eine Verpflichtung der Hersteller, für ihre Produkte eine Haftpflichtversicherung abzuschließen. Denn es ist überhaupt nicht einzusehen, dass letzten Endes die Solidargemeinschaft der Krankenversicherten für fehlerhafte Produkte der Hersteller haften soll, wenn diese etwa insolvent werden wie damals der französische Hersteller der Brustimplantate, die illegal mit Industriesilikon gefüllt waren. Das ist überhaupt nicht einzusehen. ({3}) Es ist jetzt in der Verantwortung des Gesundheitsministers, bei den vielen noch zu ergänzenden Verordnungen dem Patientenschutz klaren Vorrang zu geben. Wir werden das beobachten. Aus all diesen Gründen und weil für Die Linke der Patientenschutz immer vor der Wirtschaftsförderung kommt, können wir uns heute leider nur enthalten. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Das Wort hat die Kollegin Kordula Schulz-Asche, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Kordula Schulz-Asche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004405, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Neuordnung des EU-Rechts zu Medizinprodukten ist nicht vom Himmel gefallen, sondern ist die Folge von einer ganzen Reihe von Skandalen – sie sind hier schon angesprochen worden –: gefährliche Brustimplantate und im letzten Jahr die Aufdeckung des Implant-Files-Skandals durch das Redaktionsnetzwerk. All das hat dazu geführt, dass allen klar geworden ist: Patientensicherheit muss immer an erster Stelle stehen. ({0}) Wir hätten uns auf EU-Ebene, ehrlich gesagt, schon mehr gewünscht. Aber leider haben sich Lobbyisten auch aus diesem Hause an bestimmten Stellen in Europa durchsetzen können. Ich finde, das ist ein trauriges Beispiel. Aber letztendlich kann ich sagen, dass wir diese Neuregelungen in Gänze weitgehend begrüßen, auch die Anpassungen an deutsches Recht, wie sie uns heute vorliegen. ({1}) Aber leider scheint es, wenn wir uns jetzt die deutsche Variante angucken, als ob an manchen Punkten die Ziele „Patientensicherheit“ und „bessere Qualität“ etwas aus den Augen verloren wurden, wie die Anhörung zu diesem Gesetzentwurf gezeigt hat. Wir befürchten tatsächlich Versorgungsengpässe, und zwar aufgrund der Tatsache, dass es bisher zu wenig Benannte Stellen, also Zulassungsstellen für Medizinprodukte, gibt. Es gibt deswegen Ausnahmeregelungen. Ausnahmeregelungen können aber auch immer zulasten der Qualität gehen, und das darf im Medizinprodukterecht nicht der Fall sein. ({2}) Meine Damen und Herren, vieles soll noch in Verordnungen geklärt werden; auch das ist schon gesagt worden. Der Inhalt dieser Verordnungen ist völlig unklar. Da gibt es wirklich offene Fragen. Ich weiß nicht, was wir davon halten sollen, wenn nicht klar ist, was das Ziel ist und in welche Richtung diese Verordnungen gehen sollen. Der wichtigste Aspekt des Patientenschutzes wird nicht angegangen: Wir brauchen dringend, meine Damen und Herren, eine verpflichtende Haftpflichtversicherung für Anwender, Betreiber und Hersteller von Medizinprodukten. ({3}) Das fordern wir schon seit sehr vielen Jahren; denn die Patientenrechte müssen endlich umgesetzt werden. Wir haben gesehen: Am Ende gehen fehlerhafte oder falsche Medizinprodukte immer zulasten der Patientinnen und Patienten, und schließlich sind sie auch noch in finanzieller Hinsicht die Opfer. Das dürfen wir nicht länger zulassen. ({4}) Deswegen werden wir uns bei diesem Gesetzentwurf enthalten. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Stephan Pilsinger von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Stephan Pilsinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004853, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor mittlerweile über fünf Jahren wurde bekannt, dass die französische Firma PIP im großen Stil mangelhafte Brustimplantate in Verkehr gebracht hat. Über 400 000 Frauen weltweit waren von dem Skandal betroffen. Bei dieser Zahl handelt es sich aber lediglich um eine Schätzung der Europäischen Kommission. Ein funktionierendes System zur Überprüfung und Registrierung von Medizinprodukten existierte zum damaligen Zeitpunkt nicht. Um solche Fälle in Zukunft zu verhindern, ist es unbedingt notwendig, die Erfüllung wesentlicher Gesundheits- und Sicherheitsanforderungen an Medizinprodukte von nun an verbindlich zu zertifizieren. Dazu gehört auch, dass die nationalen Behörden die Zertifizierungsstellen überwachen und kontrollieren. Nach über vier Jahren der Verhandlungen zwischen Kommission, Rat und dem Europäischen Parlament ist am 25. Mai 2017 die neue Verordnung über Medizinprodukte, kurz MDR, in Kraft getreten. Damit werden endlich verbindliche Regelungen getroffen, die die Sicherheit der Nutzerinnen und Nutzer von Medizinprodukten langfristig gewährleisten. Die Medizinprodukte-Verordnung schafft einen verlässlichen und nachhaltigen Rechtsrahmen für Medizinprodukte, der nicht nur ein hohes Maß an Sicherheit und Gesundheitsschutz gewährleistet, sondern gleichzeitig auch europäische Innovationen in diesem Bereich ermöglicht und fördert. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf passen wir das nationale Medizinprodukterecht nun rechtzeitig vor Geltungsbeginn der Verordnung im Mai 2020 an die neuen EU-Vorgaben an. Uns ist aber auch bewusst, dass der anstehende Geltungsbeginn der Verordnung insbesondere kleine und mittelständische Unternehmen vor große Herausforderungen bei der praktischen Umsetzung stellt. Das hängt vor allem mit den sogenannten Benannten Stellen und den zuständigen Behörden zusammen, die in den kommenden Monaten eine reibungslose Umstellung gewährleisten müssen. Durch die MDR werden die Anforderungen an die Benennung und Überwachung der Prüfstellen nochmals verschärft. Das heißt, alle europäischen Benannten Stellen müssen mit Geltungsbeginn der MDR neu benannt werden. Aufgrund der langen Dauer dieses Benennungsprozesses zeichnet sich daher ein Engpass bei der Zahl der Benannten Stellen ab. Diese sind aber dringend notwendig, da sie die Produkte der Hersteller nach den Regelungen der neuen Verordnung zertifizieren müssen. Auch die Bundesregierung hat erkannt, dass hier dringender Handlungsbedarf besteht, und hat sich auf europäischer Ebene für eine Anpassung von Übergangsfristen eingesetzt. Bei Produkten niedriger Risikoklasse fehlte es bisher an einer entsprechenden Vorschrift, wie sie die Verordnung bei Medizinprodukten höherer Risikoklasse bereits vorsah. Dank des von der Bundesregierung unterstützten zweiten Corrigendums zur Medizinprodukte-Verordnung wird vielen Unternehmen besonders im kleinen und mittelständischen Sektor der Übergang erleichtert. Konkret bedeutet das: Medizinprodukte der niedrigen Risikoklasse I, die mit Ende der Umsetzungsfrist vom 25. Mai 2020 höher klassifiziert werden, profitieren nun von einer verlängerten Frist bis zum 26. Mai 2024. Die Behörden und Benannten Stellen werden dadurch deutlich entlastet, und das hilft nicht nur den kleineren Herstellern, sondern auch den Unternehmen, die unverzichtbare Medizinprodukte höherer Risikoklassen herstellen, beispielsweise für die Verwendung im OP oder im intensivmedizinischen Bereich. Diese Tatsache sollte uns aber nicht davon ablenken, dass wir noch immer nicht über eine ausreichende Zahl Benannter Stellen verfügen. Vom ursprünglich angesetzten Ziel, nämlich bis zum Geltungsbeginn EU-weit etwa 50 Einrichtungen bereitzustellen, sind wir aktuell noch weit entfernt. Wir müssen also davon ausgehen, dass es nach Geltungsbeginn der neuen Verordnung zu Wartezeiten für Unternehmen kommt. Und das ist ein kritischer Punkt; ({0}) denn kleine und mittlere Unternehmen kann das in eine wirtschaftliche Schieflage bringen. Die Umsetzung der neuen MDR kann nur dann funktionieren, wenn alle nötigen Voraussetzungen für einen reibungslos ablaufenden Zertifizierungsprozess vorhanden sind. Bevor wir in eine Situation geraten, in der kleine und mittelständische Medizintechnikunternehmen vom Markt verschwinden und mit ihnen natürlich auch eine große Anzahl von Produkten, müssen wir geeignete Übergangsvoraussetzungen und adäquate Begleitmaßnahmen schaffen. Damit unterstützen wir nicht nur den Wirtschaftsstandort Deutschland, sondern stellen auch die Versorgungssicherheit für die Zukunft sicher. ({1}) Und das sind wir vor allem den Nutzerinnen und Nutzern der Medizinprodukte schuldig. Vielen Dank. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Kollege Pilsinger. – Ich schließe die Aussprache.

Bernhard Loos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004806, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute steht zur Verabschiedung an das Gesetz mit dem sperrigen Namen – ich lese es mal vor – „Gesetz zur Durchführung der Verordnung (EU) 2017/821 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Mai 2017 zur Festlegung von Pflichten zur Erfüllung der Sorgfaltspflichten in der Lieferkette für Unionseinführer von Zinn, Tantal, Wolfram, deren Erzen und Gold aus Konflikt- und Hochrisikogebieten sowie zur Änderung des Bundesberggesetzes“. Das kann man sich also sehr leicht merken. Warum zitiere ich den Wortlaut? Damit jedem klar wird, dass wir allein über die nationale Durchführung dieser speziellen EU-Verordnung betreffend diese vier speziellen Metalle und deren Einfuhr entscheiden, über nichts anderes. Wir legen nicht den Inhalt und den Umfang der EU-Verordnung fest oder weiten diese aus. Wir gestalten damit schon gar nicht ein nationales Lieferkettengesetz. Insofern gehen die Anträge der Opposition am Thema vorbei. Im Übrigen hat die Bundesregierung mit der Fortschreibung ihrer Rohstoffstrategie vom 15. Januar 2020 bereits die richtigen Antworten vorgelegt und 17 konkrete Maßnahmen vorgestellt. Aus Sicht der Union ist bei der Umsetzung dieser EU-Konfliktminerale-Verordnung eine Eins-zu-eins-Umsetzung geboten und ausreichend. Wir wollen keine weitere zusätzliche Bürokratie in Deutschland und auch keine zusätzlichen Kosten. Wir wollen keinen deutschen Sonderweg, und wir wollen keine Schippe obendrauf legen. Wir als CDU/CSU wollen auch nicht, dass diese Umsetzung eine Art Blaupause für ein nationales allgemeines Lieferkettengesetz wird. ({0}) Über den NAP und welche Schlussfolgerungen zu ziehen sind, debattieren wir dann, wenn wirklich belastbare Ergebnisse vorliegen – erst dann. ({1}) Zurück zur Sache selbst, zur Umsetzung der EU-Konfliktminerale-Verordnung: Die EU-Mitgliedstaaten haben eine wirksame und einheitliche Durchführung der EU-Verordnung sicherzustellen. Ziel ist ein einheitliches System für das Erfüllen von Sorgfaltspflichten bei Rohstofflieferketten für diese Metalle. Die maßgeblichen materiellen Regelungen, insbesondere die Sorgfaltspflichten der Importeure, finden sich daher in der EU-Verordnung selbst, die unmittelbar anwendbar ist. Für Deutschland legen wir die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe als die zuständige Behörde fest. Wir gehen von etwa 200 Einführern pro Jahr aus, bei denen risikobasierte Nachkontrollen als Stichproben durchgeführt werden sollen. In der intensiven Anhörung am 27. Januar haben sich vor allem zwei Fragestellungen herausgebildet: erstens eine Unternehmenslistung und zweitens die Erhöhung des Zwangsgeldes. Die Union lehnt eine wie auch immer geartete Listung durch die BGR ab. Und dies hat auch gute Gründe. Erstens. Eine Transparenz ist bereits gegeben durch die von der EU-Verordnung vorgegebenen Offenlegungs- und Informationspflichten im Internet. Jeder kann dort frei recherchieren. Zudem wird von der BGR ein jährlicher Rechenschaftsbericht erstellt und in einem Fachgespräch mit den Nichtregierungsorganisationen diskutiert werden. Zweitens. Wir wollen keine deutsche Prangerliste, die doch nur zu einer Verlagerung der Einfuhrwege führen würde. Dass eine Listung positive Effekte für die einführenden Unternehmen haben könnte, glaubt doch wohl niemand ernsthaft. In anderen EU-Ländern ist dies auch nicht vorgesehen, weder in den Niederlanden, Frankreich noch in Italien. Drittens und noch wichtiger. Eine solche Liste ist auch in der EU-Verordnung gar nicht gewollt. Wir wollen einen EU-weiten einheitlichen Vollzug und keine Wettbewerbsnachteile. Wir wollen eine Eins-zu-eins-Umsetzung, nicht mehr und nicht weniger. Viertens. Es bestünden auch Probleme mit dem Steuergeheimnis, da eine solche vollständige Liste wohl aus Daten der Zollverwaltung erstellt werden müsste. Bei der Höhe des Zwangsgeldes bleiben wir bei den angemessenen maximalen 50 000 Euro beim Erstverstoß. Auch das hat gute Gründe: Erstens. Dies ist bereits der doppelte Satz der einschlägigen verwaltungsrechtlichen Vorschriften. Zweitens. Eine Dynamisierung, zum Beispiel am Umsatz, wäre völlig neu und systemfremd, zudem sagt Umsatz nichts über Gewinn aus. Drittens. Es gilt grundsätzlich festzuhalten: Ein Zwangsgeld dient nur der verwaltungsverfahrensrechtlichen Durchsetzung und ist kein Bußgeld. Für Bußgeldvorschriften fehlt den einzelnen EU-Mitgliedstaaten die Kompetenz. Lassen Sie uns die EU-Verordnung heute so umsetzen. Im Übrigen wird von der EU-Kommission 2023 die Verordnung auf ihre Wirksamkeit geprüft. Lassen Sie uns dann nochmals Bilanz ziehen und nötigenfalls nachjustieren. Danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Kollege Loos. – Der nächste Redner ist der Kollege Dietmar Friedhoff, AfD-Fraktion. ({0})

Dietmar Friedhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004719, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste auf den Tribünen! Rohstoff als Thema ist untrennbar verbunden mit dem Zugriff der Industrienationen auf diese Ressourcen zur Sicherung ihrer Leistungs- und Marktfähigkeit. Es ist leider auch verbunden mit Gewalt und Krieg. Unsere Welt hat sich verändert; sie verändert sich immer schneller: Konsumsteigerung, Bevölkerungswachstum und Umweltzerstörung bilden eine unglückliche Allianz. Deswegen muss Rohstoffpolitik immer im Dreiklang gedacht werden: Rohstoff, Mensch und Umwelt. Dabei sollte alles ideologiefrei betrachtet und endlich mal wieder ergebnisoffen diskutiert werden. Deswegen Schluss auch an dieser Stelle mit Augenwischerei. Es gibt immer mehr Aktionen wie rote Hände, grüne Knöpfe, blaue Engel. Man ist bemüht, etwas zu tun. Aber führt es zum Ziel? Unser Antrag soll aus der Theorie befreien und endlich mal ein praktisches Beispiel geben für ein ehrliches Handeln. Stoppen wir Elektromobilität zum Schutz von rohstoffreichen Entwicklungsländern, zum Schutz ihrer Menschen, gerade ihrer Kinder. Begründung: Bei der Bewertung von Mobilität der Zukunft wird uns vorgegaukelt, ein Batterieelektromobil spare gegenüber einem deutschen Diesel CO2. Stimmt das? Ist ein batteriebetriebenes Fahrzeug umweltschonend? Warum gibt es keine Verpflichtung zu Angaben im Bereich des Ressourcenrucksackes? Schützt das nur die eigenen Kinder bei uns in Deutschland, weil sie hier bessere Luft haben, oder schützt es auch die Menschen vor Ort in den Abbaugebieten? Wie steht es um die Nachhaltigkeit der Lieferkette, Herr Raabe? Wie steht es um die Arbeitsbedingungen vor Ort? Wie steht es um die Recyclingfähigkeit, um die Wiederverwertbarkeit, um die Sicherheit? Und warum öffnet man einen Markt, ohne diese Schritte vorher überhaupt klar definiert zu haben? ({0}) Ein Beispiel soll hier helfen: Die Region Hannover schafft nun ihre Gasbusse ab, um batteriebetriebene Elektrobusse zu kaufen. Investitionsvolumen über 40 Millionen Euro für über 40 Busse. Die Region Hannover will ja CO2-neutral werden. Ich habe dazu eine Anfrage an die Region gestellt und gefragt: Wie viel CO2 wird bei der Produktion dieses Busses aufgewendet, vor allen Dingen bei der Produktion der Batterie? Kann man sicher sein, dass die Rohstoffe ohne Einsatz von Kinderarbeit abgebaut werden, und – vor allen Dingen – wie werden die Batterien entsorgt? Die Antwort der Region lautete dreimal: Keine Ahnung; es liegen uns keine Erkenntnisse vor. – Unfassbar, oder? Eine CO2-neutrale Region ohne haltbare Werte? Es liegen übrigens vonseiten der Feuerwehr noch gar keine wirklichen Löschkonzepte für solche Elektrobusse vor, sie hat keine besondere Schutzkleidung und keine Abtransportmöglichkeit für ausgebrannte Busse. Unfassbar? Ja! Aber leider Gottes deutsche Realität. ({1}) Dass die Produktion dieser Akkus zwischen 15 und 30 Tonnen CO2 verursacht, wird ausgeklammert. Dass keiner weiß wohin mit den Akkus nach dem Betrieb, wird ausgeklammert. Dass Menschen vor Ort ihre Lebensgrundlage durch eine massive Zerstörung der Umwelt entzogen wird, wird ausgeklammert. So müssen für 1 Tonne Lithium 2 Millionen Liter Wasser verdunsten. Das ist Tiefenwasser, das wiederum den Bauern fehlt. Das wiederum zerstört die Lebensgrundlage der indigenen Bevölkerung und der Kleinbauern. Chemiekeulen werden benötigt, um das Kobalt – nicht den Kobold – vom Kupfer zu trennen. Böden und Wasser werden verschmutzt. Kinder werden in den Minen eingesetzt. Auf batteriebetriebene Mobilität derzeit zu bauen, bedeutet nicht Klimaschutz, sondern definitiv Umweltzerstörung. ({2}) Das forciert Korruption, Gewalt und Kinderleid. Zum Schluss werden wir den Restmüll wieder in Afrika entsorgen, wo kleine Kinder auf den brennenden Müllhaufen stehen und diese Rohstoffe wieder herausholen. Deshalb sollte gerade die batteriebetriebene E-Mobilität kein grünes Siegel tragen, sondern derzeit noch blutige Hände. Deswegen sind der deutsche Diesel, die deutsche Umwelttechnik wie auch die saubersten Kohle- und Gaskraftwerke der Welt – alles „made in Germany“ – echter Umweltschutz für echte Entwicklungspolitik, gerade in Afrika. ({3}) Abschließend: Es ist klar im deutschen Zukunftsinteresse, eigenen Zugriff auf Rohstoffe für Zukunftstechnologien zu formulieren und durchzusetzen, aber „made in Germany“: nachhaltig, umweltschonend und menschenwürdig – eben echt blau gedacht. Danke schön. ({4})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Für die SPD-Fraktion hat als Nächstes das Wort der Kollege Dr. Sascha Raabe. ({0})

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! In Afrika gibt es viele Länder mit vielen Rohstoffen. Eigentlich könnte man denken: Das ist ja ein Segen für diese Länder, weil sie sich dann gut entwickeln können, Wertschöpfung und Wohlstand schaffen müssten. Aber leider ist in vielen Ländern Afrikas der Rohstoffreichtum eher Fluch als Segen. Woran liegt das? Das liegt daran, dass es viele Bergbauunternehmen gibt, auch viele ausländische, die über das Kapital verfügen, dort Rohstoffe abzubauen. Das allein wäre noch nicht so schlimm; denn wenn diese Unternehmen dort Steuern und Lizenzgebühren zahlen würden und auf die Einhaltung der Menschenrechte und des Arbeitsrechts achten würden, dann hätten alle etwas davon – auch wenn wir langfristig natürlich wollen, dass das einheimische Firmen machen und die Weiterverarbeitung dort erfolgt; das wäre also eine gute Sache. Leider gibt es aber viele schwarze Schafe unter den ausländischen Unternehmen, die zulassen, dass dort ausbeuterische Kinderarbeit und Zwangsarbeit herrscht. Es gibt in einem Land wie der Demokratischen Republik Kongo vor Ort Bürgerkriegsparteien, sogenannte Warlords, die Kinder als Sklaven in Minen schuften lassen und dann mit den Erlösen einen Krieg finanzieren, in dem sie Kinder als Soldaten missbrauchen. Heute gehen wir einen historischen Schritt, weil wir den schwarzen Schafen, die auch aus Europa oder Deutschland heraus auf diese Weise Profit machen, Einhalt gebieten. Das ist eine gute Stunde für unser Parlament, aber auch eine gute Stunde für die Menschen in Afrika und besonders im Kongo, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({0}) In meinem Wahlkreis in Hanau gibt es mit Umicore und Heraeus zwei große Edelmetall verarbeitende Unternehmen. Als Entwicklungspolitiker, der schon seit 2002 hier im Bundestag ist, habe ich mit diesen Unternehmen über viele Jahre Gespräche geführt und gesagt: Mensch, ich möchte eigentlich, dass es eine gesetzlich verbindliche Regelung gibt, dass alle Unternehmen menschenrechtliche Standards und Arbeitnehmerrechte einhalten müssen. Am Anfang, vor sieben oder acht Jahren – Herr Wirtschaftsminister, das ist jetzt auch für Sie interessant; denn man denkt oft, Wirtschaft und Entwicklung stehen immer gegeneinander –, haben die noch gesagt: Jetzt kommt der romantische Entwicklungspolitiker mit seinen idealistischen Vorstellungen. Nein, wir wollen auf keinen Fall etwas Gesetzliches. Das ist nur Bürokratie. – Es klingt ja auch bei einigen Kollegen aus der Union im Wirtschaftsausschuss immer noch an, dass jede Regelung immer nur negativ für die Wirtschaft wäre. Dann haben diese Unternehmen mir jedes Jahr vorgelegt, welche Standards sie freiwillig erfüllen. Das wurde immer mehr. Dann kam der Dodd-Frank Act in den USA; 2010 hat Präsident Obama dieses Gesetz erlassen. Es sollte der Finanzmarktregulierung dienen. Die Amerikaner haben beschlossen, dass Unternehmen, die an US-Börsen gelistet sind und aus der Demokratischen Republik Kongo Mineralien beziehen, auf die Einhaltung von Menschenrechten achten müssen, und dass deren Erlöse nicht mehr der Konfliktfinanzierung dienen. Wir haben uns immer weiter angenähert. Dann habe ich irgendwann mal zu der Fachvereinigung Edelmetalle, mit der ich eigentlich immer sehr konstruktiv im Austausch war, gesagt: Ich will doch nur, dass das, was ihr freiwillig macht, für alle verpflichtend gilt, damit gleiche Wettbewerbsbedingungen herrschen. Das muss doch in eurem Interesse sein. – Dann hat es bei denen Klick gemacht. Sie haben gesagt: „Ja, stimmt“, und ich habe sie an meiner Seite gehabt. Wir hatten 2014, 2015 ein Trilog-Verfahren im Europäischen Parlament; denn auch das Europäische Parlament wollte diese verbindlichen gesetzlichen Regelungen. Der Rat wollte die Freiwilligkeit. Dann haben wir es als SPD-Fraktion damals geschafft, Herr Altmaier, trotz aller Stimmen aus Ihrem Haus, die bei der Freiwilligkeit bleiben wollten, den damaligen Wirtschaftsminister Gabriel davon zu überzeugen, dass er sich in Brüssel für verbindliche gesetzliche Regeln einsetzt. ({1}) Deutschlands Stimme im Rat hat dann 2016 wirklich den Ausschlag dafür gegeben, dass wir 2017 das erste Mal – das erste Mal! – in der EU eine Verordnung geschaffen haben, mit der wir für einen Teilbereich der Wirtschaft in einem besonders problematischen Gebiet eine verbindliche Regelung im Lieferkettenbereich erreicht haben, nämlich bei der Förderung von diesen Mineralien aus Hochrisiko- und Konfliktregionen. Das ist ein großer Schritt, weil er die Tür für anderes öffnen kann. Ich möchte mich ausdrücklich bei den Kollegen Ulrich Freese und Bernd Westphal, die das unterstützt haben, bedanken. Wir haben mit dem Durchführungsgesetz wirklich etwas hinbekommen. Wir hätten gerne noch ein bisschen mehr geschafft, aber die EU-Verordnung ist gut und das Durchführungsgesetz ist es auch. Wir wollen spätestens bei der Revision 2023 erreichen, dass das auch auf Kobalt ausgeweitet wird, dass wir das auf die gesamte Lieferkette – also über den sogenannten Upstream-Bereich hinaus auf den Downstream-Bereich und damit auf die Hersteller – ausweiten, damit nicht irgendwelche vorgefertigten Produkte aus China eingeführt werden können. Wir wollen also Schlupflöcher stopfen und Freigrenzen beschränken. Es ist aber gut, dass wir jetzt einen ersten Schritt machen. Da unterscheiden wir uns auch von meinem Vorredner von der Union, der gesagt hat, dass er gerade nicht will, dass das als Blaupause für andere Bereiche gilt. Doch, Herr Loos, doch, Herr Wirtschaftsminister Altmaier, ({2}) wir wollen ein Lieferkettengesetz; denn es muss eine Selbstverständlichkeit sein, dass sich Unternehmen an Menschenrechte halten, und zwar überall, meine sehr verehrten Damen und Herren. Das muss bei der Produktion aller Güter gelten; das muss für die Näherin in Bangladesch gelten genauso wie für denjenigen, der in Kolumbien Kohle abbaut, oder für Menschen, die in Minen in Afrika schuften. Für alle Produkte, für alle Rohstoffe, für alles, was in die EU geliefert wird, müssen die menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten erfüllt sein. Wir müssen das, Herr Minister Altmaier, auch endlich in den Handelsverträgen so verankern, dass es sanktionsbewehrt ist, wenn sich Partnerländer nicht daran halten. ({3}) Es darf nicht so sein wie jetzt, dass zwar eine Banane nur dann in die EU geliefert werden kann, wenn sie die richtige Länge und Breite hat, es aber nicht interessiert, unter welchen Bedingungen so eine Banane gepflückt wird, ob die Arbeiter Pestiziden ausgesetzt sind oder Kinder an der Arbeit beteiligt sind. Es muss uns doch darum gehen, dass hier in Europa und in Deutschland nur Produkte auf den Markt kommen, bei deren Produktion die Menschen anständig bezahlt werden und die nicht durch ausbeuterische Kinderarbeit hergestellt werden, meine Damen und Herren. ({4}) Deswegen sagen wir Ihnen: Im Koalitionsvertrag, Herr Wirtschaftsminister Altmaier, steht, dass wir, wenn die Unternehmen nicht freiwillig eine bestimmte Quote erfüllen und ihren Sorgfaltspflichten nicht nachkommen, ein Gesetz auf den Weg bringen werden. Im ersten Rücklauf war das, was die Unternehmen präsentiert haben, ein Desaster. Und wir wollen den anständigen Unternehmer schützen. Es muss doch auch in Ihrem Interesse sein, den anständigen Unternehmer zu schützen. Wenn man den anständigen Unternehmer schützen will, dann muss man ihn vor den schwarzen Schafen schützen; denn die haben einen Wettbewerbsvorteil zulasten derjenigen, die die Standards halten. Deswegen sage ich: Dieses Gesetz ist ein erster guter Schritt. Wir brauchen jetzt ein Lieferkettengesetz für alle Bereiche. Dafür lassen Sie uns hier im Haus gemeinsam streiten. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003124

Vielen Dank, Herr Kollege. – Der nächste Redner: für die FDP-Fraktion der Kollege Olaf in der Beek. ({0})

Olaf In der Beek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Deutschland ist als Wirtschaftsstandort zwingend auf Rohstoffimporte angewiesen. 100 Prozent aller metallischen Rohstoffe, die unsere Hightechindustrie benötigt, müssen importiert werden. Ohne diese Rohstoffe gibt es keine Smartphones und Digitalisierung. Ohne diese Rohstoffe wird es auch die Energiewende der Bundesregierung samt E-Mobilität nicht geben. ({0}) Die Versorgung der deutschen Wirtschaft mit Seltenen Erden und Metallen ist einer der zentralen Punkte der internationalen Wirtschafts- und Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands. Umso enttäuschender ist das, was aus dem Wirtschaftsministerium kommt. Außer dem notwendigen Durchführungsgesetz für die ohnehin schon beschlossene Konfliktminerale-Verordnung kommt aus dem Hause von Minister Altmaier wieder – Sie ahnen es schon – nichts. Bei 100 Prozent Importabhängigkeit null Initiative. Damit sind Sie zumindest wirtschaftspolitisch, lieber Herr Minister, ein Leichtgewicht. Ich darf das, glaube ich, sagen. Wir brauchen eine echte Rohstoffstrategie, die mehr ist als die bisher von der Bundesregierung vorgelegte Ideensammlung. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Rohstoffsicherheit, die Achtung von Menschenrechten und die Einhaltung von Umweltstandards kann, ja muss miteinander einhergehen und zusammen gedacht werden. Der Widerspruch, den Grüne und Linke hier aufbauen, ist konstruiert: Ja, wir müssen sicherstellen, dass die Rohstoffe, die unsere Wirtschaft braucht, nicht die Kriegskassen von Warlords füllen. Ja, wir müssen kein Kobalt aus kongolesischen Minen, in denen Kinder als Sklaven zur Arbeit gezwungen werden, annehmen. Und ja, wir wollen, dass rohstoffreiche Entwicklungsländer davon auch profitieren. Aber zu glauben, dass wir all das durch Verbote und Strafen umsetzen können, ist ein Irrglaube. ({2}) Schauen wir doch auf die rohstoffreichen Regionen in Afrika und Zentralasien. Überall dort sichert sich China Zugang zu weltweit nachgefragten kritischen Rohstoffen. Schon heute ist China der globale Hauptlieferant Seltener Erden. Im Kongo betreiben chinesische Unternehmen unter katastrophalen Bedingungen Kobaltminen. Landauf und landab sind in Afrika, Zentralasien und Lateinamerika chinesische Unternehmen aktiv, mit gravierenden Folgen für die Menschen und die Umwelt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen endlich eine Außenhandels-, eine Außenwirtschafts- und eine Entwicklungspolitik, die diesen Namen verdient, und diese müssen aufeinander aufbauen. Das geht nur gemeinsam mit der Wirtschaft, und das geht nur durch eine abgestimmte europäische Politik. ({3}) Der Blick auf die Konfliktminerale-Verordnung beispielsweise zeigt in die richtige Richtung. Gemeinsame europäische Lösungen sind effizienter und zielführender als 27 nationale Lieferkettengesetze. ({4}) Wir brauchen eine Politik, die unseren Unternehmen den Zugang zu kritischen Rohstoffen sichert und gleichzeitig auf die Einhaltung von Menschenrechten und Umweltstandards achtet. Abwarten und Tee trinken nützt da nichts, Herr Minister Altmaier. Vielen Dank. ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin in der Debatte ist die Kollegin Eva-Maria Schreiber für die Fraktion Die Linke. ({0})

Eva Maria Schreiber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004882, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Heute diskutieren wir den Entwurf der Koalition zur Umsetzung der EU-Konfliktminerale-Verordnung. Sie wollen sicherstellen, dass Importe von Zinn, Tantal, Wolfram oder Gold in die EU keine bewaffneten Konflikte mitfinanzieren. Das ist ein erster guter Schritt in die richtige Richtung. Aber warum nur diese vier? Wäre es nicht sinnvoll, zumindest Kobalt hinzuzunehmen? Oder andere Mineralien und Rohstoffe? Um jeden Rohstoff können Konflikte ausbrechen. Abgesehen davon: Wenn wir endlich ein anständiges umfassendes Lieferkettengesetz hätten, bräuchten wir über Konfliktmineralien gar nicht mehr zu debattieren. ({0}) Im Koalitionsvertrag versprechen Sie starke Durchführungsverordnungen. Ihr Entwurf sieht bei Verstößen Zwangsgelder in Höhe von maximal 50 000 Euro vor. Glauben Sie, eine solche Summe kratzt millionenschwere Unternehmen auch nur ansatzweise? Das zahlen sie doch aus der Portokasse. ({1})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Raabe?

Eva Maria Schreiber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004882, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja, gerne.

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin Schreiber, ich war bei den Anhörungen und möchte Ihre Aussage präzisieren. Sie sagten, 50 000 Euro Zwangsgeld seien Ihrer Meinung nach zu wenig, weil ein millionenschweres Unternehmen dies aus der Portokasse bezahlen werde. So habe ich Sie verstanden. Sie sollten aber wissen, dass dieses Zwangsgeld so oft erhoben werden kann, bis die Verordnung erfüllt ist. Ich möchte nur sagen: Das ist im Gesetz geregelt. Die Höhe des Zwangsgeldes kann jede Woche neu festgelegt werden. Das sind dann nach zehn Tagen eine halbe Million Euro. Das ist schon ein scharfes Schwert, um die Verordnung durchzusetzen. Das wollte ich nur zur Information sagen.

Eva Maria Schreiber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004882, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herzlichen Dank für die Information. – Die aktuelle Rohstoffpolitik verursacht zudem weitreichendere Probleme als die Finanzierung bewaffneter Konflikte. Der Rohstoffhunger geht auf Kosten der künftigen Generationen und auf Kosten der Menschen im globalen Süden. Dort sind Umweltzerstörung, schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen, ausbeuterische Arbeitsbedingungen und neokoloniale Abhängigkeitsverhältnis an der Tagesordnung. Ich sage Ihnen einmal, welche Themen bei mir laufend auf dem Tisch landen. Das sind Themen wie Mord, Totschlag, schwere Körperverletzung, Vergewaltigung, Erpressung, Landraub, moderne Sklaverei, Korruption, Kinderarbeit, Brandstiftung usw. usw. Wollen Sie hier wirklich weiterhin auf Freiwilligkeit bauen, Herr Altmaier? ({0}) Weil wir etwas anderes unter „global gerecht“ und „nachhaltig“ verstehen, haben wir heute einen eigenen umfassenden Antrag eingebracht. Wir brauchen endlich Maßnahmen, die eine Senkung unseres Rohstoffverbrauchs einleiten. Die müssen sozial- und umweltverträglich sein. Die Gewinne aus dem Rohstoffabbau müssen den Ländern des Südens zugutekommen und dürfen nicht einfach in die Taschen der Konzerne fließen. Das bedeutet: Nein zu Technologien wie Tiefseebergbau und Ja zu Kreislaufwirtschaft, Nein zu weiteren Freihandelsabkommen und Ja zum Aufbau von Wertschöpfungsketten in den Ländern des Südens, Nein zu einem Weiter-so und Ja zu Gerechtigkeit für die Menschen im globalen Süden heute und für die zukünftigen Generationen auf der ganzen Welt. Danke. ({1})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Uwe Kekeritz. ({0})

Uwe Kekeritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004066, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Seit Jahrzehnten gibt es aus den Ländern des globalen Südens Berichte über untragbare Menschenrechtszustände; so natürlich auch im Rohstoffbereich. Und wir sind daran nicht ganz unbeteiligt. Für unsere Handys, Tabletts und Computer müssen meist junge Menschen unter unsäglichen Bedingungen arbeiten. Sie werden nicht selten versklavt oder auch misshandelt. Milizen, Warlords, kriminelle Terrorbanden nutzen Einnahmen aus dem Rohstoffhandel. Sie sind für blutige Konflikte, Waffen-, Drogen- und auch Menschenhandel mitverantwortlich. Das haben wir schon viel zu lange hingenommen. Das muss endlich beendet werden. ({0}) Unzählige Dokumentationen schildern die Verhältnisse. Es kann keiner hier in diesem Haus sagen, er wisse nicht darüber Bescheid. Deshalb ist eine EU-Verordnung notwendig. Allerdings, die vorliegende EU-Verordnung und auch das Umsetzungsgesetz sind bei Weitem nicht ambitioniert genug. Sascha Raabe, auch wenn er hier sehr positiv gesprochen hat, kritisiert diese Punkte auch immer wieder. Der Downstream-Bereich wird von der Verordnung nicht abgedeckt. Die Schwellenwerte gerade beim Goldimport sind rein willkürlich gesetzt. Die niedrigen Bußgelder, die der Gesetzentwurf vorsieht, werden weitgehend wirkungslos bleiben. Es ist geradezu eine Provokation, dass die Liste der Unternehmen, die von der EU-Verordnung betroffen sind, nicht veröffentlicht werden soll. Die Zivilgesellschaft, die Medien, aber auch die Wissenschaft müssen Zugang zu diesen Informationen haben. ({1}) Ohne Transparenz ist die Regelung wertlos. Diese und andere Punkte zeigen: Die Regierung will keine wirkliche Lenkungswirkung erreichen. Das passt auch gut zu Ihrer Weigerung, sich für ein Lieferkettengesetz einzusetzen. Wir fordern deshalb die Koalition nochmals auf, endlich den Widerstand gegen Ihre eigenen Minister Müller und Heil aufzugeben und diese bei der Einführung eines Lieferkettengesetzes zu unterstützen. ({2}) Wir fordern Sie auch auf, endlich vom Prinzip der Freiwilligkeit Abstand zu nehmen; denn am Ende werden wir Regelungen verabschieden, die den Schutz von Mensch und Umwelt in Lieferketten ernst nehmen. Minister Altmaier wird nicht in der Lage sein, dies auf Dauer zu verhindern. ({3}) Allerdings: Je länger die Regierung wartet, desto mehr trägt sie zur sozialen und ökologischen Destabilisierung der betroffenen Länder bei, mit allen negativen Konsequenzen für das Land selbst, für die Region, aber auch für uns. ({4}) Wir brauchen Rechte für Mensch und Umwelt, und wir brauchen genau deshalb verbindliche Regelungen für Unternehmen. Immer mehr Unternehmen sehen das genauso. Sie wollen ein Level Playing Field, das aber durch diese Verordnung nicht geschaffen wird. Im besten Fall kann die EU-Verordnung nur als ein ganz schwacher Anfang gewertet werden. Wir sind aufgefordert, weiter daran zu arbeiten. Danke schön. ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Stefan Rouenhoff. ({0})

Stefan Rouenhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004867, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Europäische Union hat im Jahr 2017 mittels Verordnung verbindliche Sorgfaltspflichten bei der Einfuhr von vier Rohstoffen aus Konflikt- und Hochrisikogebieten festgelegt: Zinn, Tantal, Wolfram, deren Erze und Gold. Die Verordnung verfolgt das richtige Ziel: Die Finanzierungsquellen von bewaffneten Gruppen in Konflikt- und Hochrisikogebieten müssen ausgetrocknet werden. ({0}) Wir wollen heute das Durchführungsgesetz verabschieden, welches dazu notwendig ist. Der vorliegende Gesetzentwurf findet die richtige Balance, und die richtige Balance, Herr Raabe, bedeutet, dass nicht jeden Tag ein neues Zwangsgeld verhängt werden kann, sondern dass eine angemessene Zeit zur Handlung gewährleistet wird. ({1}) Es gibt ein Zertifizierungssystem. Darüber hinaus sind die direkten Zulieferer die Adressaten. Das Durchführungsgesetz erfüllt alle Kriterien der Konfliktminerale-Verordnung, geht aber nicht darüber hinaus. Wir haben also tatsächlich eine Eins-zu-eins-Umsetzung, und das ist auch richtig; denn wir brauchen keinen deutschen Sonderweg an dieser Stelle. Entscheidend ist, dass wir mit diesem Gesetz ein Level Playing Field auf europäischer Ebene erreichen. Das, was für die deutschen Unternehmen gilt, muss natürlich auch für Unternehmen in anderen Mitgliedstaaten gelten. Ich möchte an dieser Stelle den Mittelständlern jegliche Ängste nehmen. Die gesetzlichen Regelungen werden kleine und mittlere Unternehmen nicht überfordern. Das stellen die festgelegten Schwellenwerte für jährliche Einfuhrmengen sicher. Damit wird klar: Nicht die kleinen, sondern nur die größeren Rohstoffimporteure sind betroffen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte nun zu der gerade von NGOs und auch einigen Abgeordneten vorgeworfenen Intransparenz kommen; ich sage das besonders in Richtung von Herrn Kekeritz. Schauen wir uns doch genau an, was von den größeren Importeuren tatsächlich verlangt wird: die Bereitstellung von Informationen zur Lieferkettenpolitik, Berichte über Strategien zur Einhaltung der Sorgfaltspflicht in der Lieferkette, Offenlegung von Verfahren für eine verantwortungsvolle Beschaffung und ein jährlicher Bericht über die Einhaltung der EU-Vorgaben, erstellt von unabhängigen Dritten. Gleichzeitig wird in der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe eine neue Geschäftseinheit geschaffen. Sie agiert als staatliche Kontrollinstanz, um die Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben zu überprüfen und durchzusetzen. Die Bundesanstalt muss zudem einen jährlichen Rechenschaftsbericht vorlegen; das hat bereits der Kollege Loos erwähnt. Auf Basis des Berichts werden jährliche Fachgespräche mit der Zivilgesellschaft, also mit den Nichtregierungsorganisationen, durchgeführt. All das zeigt: Von mangelnder Transparenz kann wirklich keine Rede sein, Herr Kekeritz. ({2}) Auch wenn es immer wieder Rufe nach einer Unternehmensliste gibt: ({3}) Sie entfaltet genau das, was wir nicht wollen. Wir wollen keine Prangerwirkung, wir wollen keine Vorverurteilung von Unternehmen, von unserem Mittelstand in Deutschland, Herr Kekeritz. ({4}) Mit den neuen Regelungen gibt es umfassende Informations- und Offenlegungspflichten für alle größeren Rohstoffimporteure, öffentlich zugänglich, online einsehbar. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Konfliktminerale-Verordnung ist fokussiert und klar umrissen. Ihre Einhaltung kann die Finanzierungsquellen bewaffneter Gruppen in Konfliktregionen reduzieren, indem sie die europäischen Rohstoffimporteure stärker in die Verantwortung nimmt. Aber – das ist an die Adresse des Kollegen Raabe gerichtet – wir sollten die Schlagkraft europäischer gesetzlicher Regelungen nicht überschätzen. Wir sind auf den internationalen Rohstoffmärkten nicht alleine unterwegs. Private und staatliche Unternehmen aus Ländern wie China fragen immer größere Mengen an Mineralien nach. Schon durch diese Tatsache sinkt das relative ökonomische Gewicht europäischer Unternehmen bei der Beschaffung von Rohstoffen. Deshalb – und das möchte ich an dieser Stelle erwähnen – ist die überarbeitete Rohstoffstrategie der richtige Ansatz. Der Einfluss und die Aktivitäten deutscher Unternehmen in den Abbaugebieten sollten wieder erhöht werden. Durch die dauerhafte finanzielle Absicherung der bestehenden Kompetenzzentren für Bergbau und Rohstoffe schaffen wir Planungssicherheit für deutsche Unternehmen, eine zentrale Voraussetzung für weiteres wirtschaftliches Engagement. Eine Sache müssen wir uns sehr bewusst vor Augen führen: Deutsche und europäische Unternehmen werden bei der Durchsetzung von Menschenrechten in Konfliktgebieten nur eine unterstützende Rolle einnehmen können, aber nicht die Hauptrolle. Wir brauchen verstärkte diplomatische Anstrengungen auch auf bilateraler Ebene. Vielen Dank. ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Deshalb schließe ich die Aussprache.

Susanne Ferschl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004715, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Arbeitszeiten der Beschäftigten sind zu dokumentieren, und zwar der Anfang, das Ende und deren Dauer. Das sagt nicht nur Die Linke, sondern das sagt letztendlich auch ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom Mai letzten Jahres. Aktuell werden Hunderttausende Beschäftigte um ihren Lohn geprellt, weil die Arbeitszeiten nicht richtig dokumentiert werden. 1 Milliarde unbezahlte Überstunden waren es allein 2019, und die Jahre davor sah es nicht besser aus. Wie lange will denn die Bundesregierung diesen unhaltbaren Zustand noch akzeptieren? ({0}) Ich habe ja mittlerweile begriffen, dass die Mühlen des Parlaments bisweilen langsam mahlen; aber nach zehn Monaten ist immer noch keine Gesetzesinitiative in Sicht. Das Einzige, was in Sicht ist, ist die Aufführung des nächsten GroKo-Theaters. Der vorherige Akt in diesem Theater war die Grundrente, uns allen gut in Erinnerung: Die Union hat blockiert, monatelanger Streit, und raus kam lediglich ein Minikompromiss. ({1}) Und jetzt, beim Thema Arbeitszeit, ist es so: Das SPD-geführte Arbeitsministerium hat zum Urteil ein Gutachten in Auftrag gegeben, dieses dem Ausschuss für Arbeit und Soziales zur Verfügung gestellt und klar festgestellt: Es gibt gesetzgeberischen Handlungsbedarf. ({2}) Und was macht das CDU-geführte Wirtschaftsministerium? Es gibt auch ein Gutachten in Auftrag, das im Übrigen zum gleichen Ergebnis kommt, ({3}) und enthält den gewählten Parlamentariern das Gutachten monatelang vor. ({4}) Erst durch massiven Druck ist es gelungen, dafür zu sorgen, dass uns dieses Gutachten zur Verfügung gestellt wurde. Das ist ein inakzeptabler Vorgang für dieses Parlament. ({5}) Und es wird nicht besser. Jetzt verweigert sich das Wirtschaftsministerium auch noch der Empfehlung des eigenen Gutachtens. Es schreibt, es komme zu der Einschätzung, dass kein zwingender Handlungsbedarf vorliegt, sondern vielmehr die Höchstarbeitszeiten anzupassen sind. Meine Damen und Herren von der Union, das ist wirklich absurd; das ist Politik auf dem Rücken der Beschäftigten. ({6}) Hören Sie doch endlich auf, sich wie auf dem Wochenmarkt zu benehmen, nach dem Motto: Tausche Arbeitnehmerschutz gegen mehr Flexibilität. ({7}) Hier wird die Gesundheit der Beschäftigten aufs Spiel gesetzt. Überlange Arbeitszeiten machen krank, genauso zu kurze Ruhezeiten. Das sagt die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. Permanent quatscht die Union davon, sie sei die Mitte und mache Politik für die Mitte. ({8}) Ja sind 40 Millionen Beschäftigte vielleicht keine Mitte? ({9}) Permanent stellt sich die Union als Partei dar, die den Rechtsstaat durchsetzen will. ({10}) Aber EU-Recht umsetzen ist nicht, oder wie? In bester Andreas-Scheuer-Manier stellt man sich hin und sagt: Was interessiert mich das Geschwätz des Europäischen Gerichtshofs? ({11}) An die Adresse der gesamten Großen Koalition sage ich ganz deutlich: Wir brauchen keine tariflichen Öffnungsklauseln, und wir brauchen keine Experimentierräume. ({12}) Das Arbeitszeitgesetz ist hochflexibel. Wer das bestreitet, hat von der betrieblichen Realität keine Ahnung. ({13}) Ich war 17 Jahre lang Gesamtbetriebsratsvorsitzende in einem Unternehmen mit unterschiedlichen Standorten. An keinem dieser Standorte ist irgendein Produkt nicht produziert worden oder irgendeine Arbeit nicht erledigt worden aufgrund des Arbeitszeitgesetzes. ({14}) In der europäischen Arbeitszeitrichtlinie steht – ich zitiere –: Die Verbesserung von Sicherheit, Arbeitshygiene und Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer … stellen Zielsetzungen dar, die keinen rein wirtschaftlichen Überlegungen untergeordnet werden dürfen. Schreiben Sie sich das endlich hinter die Ohren. ({15}) Setzen Sie endlich den Auftrag des Europäischen Gerichtshofs um. Um nichts anderes geht es in unserem Antrag; ({16}) denn jede Stunde Arbeit und jeder Arbeitnehmer zählt. Vielen Dank. ({17})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Torbjörn Kartes. ({0})

Torbjörn Kartes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004774, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste auf den Tribünen! Mittlerweile ist, glaube ich, fast unbestritten, dass wir einen Reform- bzw. Anpassungsbedarf in unserem Arbeitszeitgesetz haben. ({0}) Damit ist es mit den Gemeinsamkeiten dann aber auch schon vorbei; denn der Teufel steckt bekanntlich im Detail, und die Vorstellungen über den richtigen Weg gehen auch hier im Haus teilweise sehr weit auseinander. Fakt ist: Das Arbeitszeitgesetz ist in den 90er-Jahren entstanden, und natürlich hat sich unsere Arbeitswelt seitdem verändert. Ob wir das nun gut finden oder weniger gut finden: Durch den technologischen Wandel ist es Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zunehmend besser möglich, von unterschiedlichen Orten und zu verschiedenen Tageszeiten zu arbeiten. Dadurch wird es unter anderem leichter, Familie und Beruf gut miteinander zu vereinbaren, was wir ja alle gemeinsam wollen. Klar ist also, dass wir das Arbeitszeitgesetz anpassen müssen, damit die Arbeitszeit individueller und persönlicher gestaltet werden kann. ({1}) Gleichzeitig werden wir aber darauf achten, dass wir den Schutz unserer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht vernachlässigen. ({2}) Beides muss zusammengehen: Arbeitsschutz und flexiblere Arbeitszeiten. Daran werden wir hier gemeinsam arbeiten. ({3}) Das Arbeitszeitgesetz ist insgesamt immer noch ein sehr gutes Gesetz. Es schützt Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. ({4}) Es enthält im Übrigen wesentlich intelligentere Regelungen, als Sie es in Ihrem Antrag darstellen. Unter Verweis auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs sollen nach Ihrem Antrag alle Arbeitgeber verpflichtet werden, die Arbeitszeiten ihrer Mitarbeiter zu erfassen. ({5}) Wenn man das in dem EuGH-Urteil nachliest, stellt man fest: So ganz pauschal, wie Sie das hier vortragen, steht das da überhaupt nicht drin. ({6}) Da steht drin, dass Arbeitgeber verpflichtet sind, „ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzuführen, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann“. Die Erfassung kann aber auch durch den Arbeitnehmer erfolgen. ({7}) Von einer originären Verpflichtung des Arbeitgebers steht da zunächst mal gar nichts drin. Im Übrigen ist das in der Praxis in manchen Bereichen nur sehr schwer vorstellbar. ({8}) In dem Urteil liest man auch noch etwas von Spielräumen – die haben Sie heute hier auch nicht erwähnt –, die die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung eines solchen Systems haben sollen: Ausnahmen sind insbesondere dann möglich, „wenn die Dauer der Arbeitszeit wegen besonderer Merkmale der ausgeübten Tätigkeit nicht bemessen und/oder vorherbestimmt ist oder von den Arbeitnehmern selbst bestimmt werden kann“. Dann ist ein solches System der Zeiterfassung auch nach dem EuGH-Urteil überhaupt nicht notwendig. Auch das verschweigen Sie ganz bewusst in Ihrem Antrag. Das Urteil ist also wesentlich komplexer. Eine Umsetzung in Deutschland müsste aus meiner Sicht deutlich differenzierter erfolgen, als Sie es hier vorschlagen, jedenfalls dann, wenn die Umsetzung zu unserer heutigen Arbeitswelt passen soll. ({9}) Zudem sollte man zunächst die Frage beantworten, zumindest kurz darauf eingehen, ob es wirklich einen rechtlich zwingenden Anpassungsbedarf gibt und ob der uns in der Praxis – daran habe ich erhebliche Zweifel – weiterbringt. ({10}) In Deutschland muss heute schon jede Überstunde erfasst werden. Sowohl der Betriebsrat als auch die zuständige Aufsichtsbehörde können heute schon gemäß § 17 Absatz 4 Arbeitszeitgesetz vom Arbeitgeber die unverzügliche Übermittlung von Arbeitszeitnachweisen verlangen. Das ist eine Norm, die immer gerne übersehen wird. Und die Aufsichtsbehörden können heute schon gemäß § 17 Absatz 2 Arbeitszeitgesetz die Aufzeichnung der Arbeitszeit anordnen, wenn es den Verdacht eines Verstoßes gibt. Hätte sich ein Arbeitnehmer in Deutschland also an die entsprechende Aufsichtsbehörde gewandt, hätte diese auch die notwendigen Maßnahmen treffen können. ({11}) Das heißt, es liegt – aus meiner Sicht – wie so oft nicht am Rechtsrahmen, über den wir hier debattieren, es fehlt vielmehr eine konsequente Durchsetzung dessen, was wir hier in Deutschland geregelt haben. Um auch das deutlich zu sagen: Fast 1 Milliarde unbezahlte Überstunden sind natürlich viel zu viel; das geht nicht, da sind wir uns vollkommen einig. Die müssten aber heute auch schon dokumentiert werden, und das ist der Punkt. Ich glaube nicht, dass es etwas bringt, immer weiter nur nach Dokumentationspflichten zu rufen. Wir müssen vielmehr den Druck erhöhen, dass richtig dokumentiert wird. ({12}) Ich möchte abschließend noch etwas zum Thema Dokumentation sagen. Das Bundesarbeitsministerium selbst hat – hatte, muss man jetzt schon sagen – eine App entwickelt, die heißt „einfach erfasst“. Mit wenigen Klicks, also sehr unbürokratisch, konnten Arbeitnehmer damit Beginn und Ende der Arbeitszeit dokumentieren, und das wurde dann per E-Mail an ihren Arbeitgeber gesandt, ganz formlos. Wir hatten hier im Haus auch schon darüber gesprochen. Jetzt die traurige Nachricht dazu: Das Ministerium hat die App eingestellt – gerade als sie begann, richtig erfolgreich zu werden –, aus Kostengründen, wie man mir geantwortet hat, und weil der Bundesrechnungshof etwas dagegen hatte. Da kann ich Ihnen nur sagen: Auch das kann so nicht bleiben! Bei einem Haushalt des Ministeriums von 150 Milliarden Euro muss es dafür eine Lösung geben. Das würde jedenfalls den Menschen in der Praxis deutlich mehr helfen. Deshalb werden wir an dieser Stelle auch nicht lockerlassen. Vielen Dank. ({13})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der AfD der Kollege Jürgen Pohl. ({0})

Jürgen Pohl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004856, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Werte Kollegen! Das Arbeitszeitgesetz ist fraglos und in erster Linie ein wichtiges soziales Schutzgesetz für die Arbeitnehmer; dieses Gesetz hat sich insgesamt bewährt. Allerdings – und das räumen wir ein – sollte man im Rahmen der Tarifautonomie prüfen, ob man nicht im Hinblick auf spezielle Situationen, wie zum Beispiel bei saisonalen oder branchenbedingten Gründen, etwas ändern, etwas Staub aus dem Gesetz blasen muss. Die AfD, die neue Volkspartei, die Partei der kleinen Leute, ({0}) bekennt sich ausdrücklich zum Schutz des Arbeitnehmers, und ich bin froh, dass wir die kleinen Leute vertreten – nicht dass wir Gefahr laufen, erschossen zu werden, weil wir zu den reichen ein Prozent gehören, ({1}) oder in den Gulag geschickt zu werden. Die AfD bekennt sich aber auch ausdrücklich zu solchen Vorschriften, die notwendig sind, um flexible Anpassungen der Arbeitszeit für alle Beteiligten zu ermöglichen. Dafür sind den Tarifpartnern im Rahmen der Tarifautonomie Regelungskompetenzen zu geben. Damit können sie in ihren Branchen Regelungen treffen. Flexibilität in der Arbeitszeit ist grundsätzlich nichts Verwerfliches; sie trägt unter anderem auch zum Schutz der Arbeitsplätze bei, dies insbesondere im Tourismus oder bei Kleinbetrieben. Bei der Definition und bei der Gestaltung der Arbeitszeit geht es nicht nur um den zeitlichen Umfang, sondern auch um Beginn und Ende sowie um die Lage der täglichen Arbeitszeit. Bei all diesen Fragen steht nicht der Gesetzgeber, sondern stehen vor allem die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer in der Verantwortung. Ich weise noch einmal darauf hin, dass bei Fragen der Arbeitszeit bereits heute die Betriebsräte ein Mitwirkungs- und ein Mitspracherecht haben. ({2}) Das Rad muss also nicht neu erfunden werden. Eine Reglementierung gewissermaßen bis zum letzten Punkt und Komma lehnen wir ab. ({3}) Aber ich sage Ihnen: Unter der Prämisse einer Schutzfunktion soll ein modernes Arbeitszeitgesetz flexible Möglichkeiten der Arbeitszeitgestaltung zulassen, die von den Arbeitnehmern auch überwiegend gewünscht werden. Nicht immer steht hinter dem Wunsch nach Flexibilisierung auch, dass der Arbeitnehmer im betrieblichen Tagesablauf benachteiligt werden soll. Insgesamt sind ordentliche Regelungen zur Arbeitszeiterfassung in den deutschen Betrieben gegeben, Vertrauensarbeitszeit ist üblich geworden. Wir brauchen nicht mehr. Folgerichtig hat der EuGH in seinem Urteil auch nur die spanische Situation gerügt und nicht die deutsche. ({4}) Gleichwohl gibt es Handlungsbedarf im Rahmen des Arbeitszeitrechtes. – Ich bin froh, dass ich nicht zu diesem einem Prozent gehöre. Sie sind ja heute wieder so verbittert – nicht dass mir hier etwas passiert. ({5}) – Für die Zuschauer zu Hause: Die PDS, die Kommunisten, wollen jetzt ein Prozent der Reichen erschießen oder in den Gulag stecken, um sie dort arbeiten zu lassen. ({6}) Wir kommen zurück zur Arbeitszeit. Es gibt Handlungsbedarf im Arbeitszeitrecht. Zum Beispiel ist es üblich, dass wir im Handwerk die Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte bereits anrechnungsfähig gestalten. Hier ist Bedarf für die Industrie gegeben. Derartige Aspekte sollten aber primär in den Tarifverträgen geregelt werden. Öffnungsklauseln tragen dazu bei, dass Betriebspartner für ihren Verantwortungsbereich zu vernünftigen Lösungen kommen. Dazu ist es erforderlich, dass eine wesentlich höhere Tarifbindung sowohl für Betriebe und Unternehmen wie auch für die Beschäftigten erreicht wird. Hier braucht es jetzt keine linken Lobbyverbände – wie die Gewerkschaften heute aufzufassen sind –, sondern funktionierende, schlagkräftige Gewerkschaften ({7}) wie zum Beispiel AidA, die neue Gewerkschaft der solidarischen Patrioten. Ich bedanke mich bei Ihnen und wünsche jetzt Zeit zum Überlegen. ({8})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächste spricht für die Fraktion der SPD die Kollegin Gabriele Hiller-Ohm. ({0})

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eines ist klar: Das Arbeitszeitgesetz dient dem Schutz von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. ({0}) Deshalb ist es gut, dass der Europäische Gerichtshof im letzten Jahr geurteilt hat, dass die tägliche Arbeitszeit vollumfänglich gemessen werden soll. Ich begrüße das ausdrücklich. ({1}) Wir werden die Pflicht zur Dokumentation der Arbeitsstunden deshalb wie vom Europäischen Gerichtshof gefordert im Arbeitszeitgesetz verankern. Unser Minister Hubertus Heil arbeitet bereits an einem entsprechenden Gesetzentwurf. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Sie sehen, Ihr Antrag ist also überflüssig. ({2}) Ich freue mich natürlich dennoch, die Position der SPD zu diesem Thema noch einmal deutlich machen zu können. Denn man kann es nicht oft genug sagen: Das Arbeitszeitgesetz ist ein Arbeitsschutzgesetz. ({3}) Wir müssen es vehement gegen eine Flexibilisierung und Dynamisierung zulasten der Beschäftigen verteidigen, meine Damen und Herren. ({4}) Schon Kaiser Wilhelm II. wusste, dass ohne Maßnahmen zum Arbeitsschutz kein Wohlstand und Fortschritt möglich sind. Arbeitsschutz hatte über all die Jahre bei den Konservativen einen hohen Stellenwert. Deshalb ist es nicht nachvollziehbar, dass gerade jetzt von konservativer Seite an dem Arbeitszeitgesetz gerüttelt wird. Liebe Kolleginnen und Kollegen auf der rechten Seite des Hauses, ({5}) ich rate Ihnen: Nehmen Sie sich beim Arbeitsschutz ein Beispiel an Kaiser Wilhelm II.! Auch wissenschaftlich ist belegt, dass lange Arbeitszeiten hohe gesundheitliche Risiken nach sich ziehen: Kopfschmerzen, Schwindel, Verdauungsprobleme, Schlafstörungen, Stress, Burn-out, Depressionen, übermäßiger Alkoholkonsum und ein erhöhtes Risiko für Schlaganfälle, das sind alles Symptome, die mit zu langen Arbeitszeiten in Verbindung stehen. ({6}) Der Mensch ist eben nicht unbegrenzt belastbar. Besonders in Zeiten neuer Arbeitsformen, immer flexiblerer Arbeitszeiten und ständiger Erreichbarkeit muss sichergestellt werden, dass die gesetzlichen Arbeitszeiten eingehalten werden. ({7}) Ja, wir stehen durch den Fortschritt vor großen Veränderungen in der Arbeitswelt. Das ist uns allen hier im Hause klar. Ich frage Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wird sich aber auch der Mensch verändern? Wird er plötzlich keine Erholung und keinen Schlaf mehr brauchen? Wird sich der Mensch auch nach zehn und mehr Arbeitsstunden noch voll konzentrieren können und somit Arbeitsunfälle ausschließen? Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, wird nicht so sein. Deshalb muss sich der technische Fortschritt an den Menschen anpassen, und niemals umgekehrt. Deshalb müssen wir Arbeitsstunden dokumentieren, und das Arbeitszeitgesetz muss eingehalten werden. Genau dafür kämpfen wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten. ({8})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der FDP der Kollege Johannes Vogel. ({0})

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es kommt selten vor – ich würde sagen: sehr selten –, dass ich Kolleginnen und Kollegen von der Linken in einer arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Debatte recht geben muss. ({0}) Aber in einer einzigen Hinsicht muss ich das heute tun. Der Eiertanz, den diese Bundesregierung nach dem EuGH-Urteil seit Monaten veranstaltet, ist wirklich ein Skandal. Es wird Zeit, dass Sie hier einmal zu einer einheitlichen Position kommen, liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition. ({1}) Ja, es gibt unterschiedliche Gutachten, wie dieses Urteil auszulegen ist. Es gibt unterschiedliche Positionen des Arbeitsministeriums und des Wirtschaftsministeriums, Hubertus Heil gegen Peter Altmaier. Aber die Beschäftigten in diesem Land, die Unternehmen in diesem Land, die Menschen, die das Arbeitszeitgesetz anwenden müssen, haben ein Anrecht darauf, dass Sie uns einmal mitteilen: Was ist denn die Position dieser Bundesregierung? Muss aus Ihrer Sicht das Arbeitszeitgesetz nach dem EuGH-Urteil angepasst werden oder nicht? Auf diese Klarheit haben die Menschen ein Anrecht, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Es reiht sich ein in die Kaskade des Nichtstuns dieser Koalition beim Arbeitszeitgesetz. Wie lange reden wir jetzt schon über dieses Thema? Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Andrea Nahles, eine Sozialdemokratin, war es, die das Thema auf die Agenda gebracht hat. Wir haben Ihnen einen konkreten Gesetzentwurf in dieser Legislaturperiode vorgelegt. ({3}) Sie können ruhig sagen, dass Sie es besser machen können. Sie haben allerdings in Ihrem Koalitionsvertrag versprochen, dass Sie etwas beim Arbeitszeitgesetz machen. Was ist bis jetzt passiert? Nada, niente, nichts! Das ist zu wenig, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition. ({4}) Reden wir einmal über die Sache. Da gibt es natürlich Unterschiede, gerade zu den Kolleginnen und Kollegen von der Linken. ({5}) Sie tragen ja wie ein Mantra den Satz vor sich her – wir haben ihn von der Linken gehört; wir haben ihn von der SPD gehört; ich bin mir ganz sicher, dass wir ihn auch von Beate Müller-Gemmeke von den Grünen hören werden; zwischen die Grünen und die Linken passt bei diesem Thema wie immer kein Blatt –: ({6}) Das Arbeitszeitgesetz ist ein Arbeitnehmerschutzgesetz. ({7}) Wissen Sie, was? Das ist völlig richtig. Der Punkt ist, dass Sie nicht sehen, dass wir alle das teilen. Ich verstehe schon, dass das Ihre gedanklichen Schubladen ein bisschen überfordert. Diese sind einfach: CDU/CSU und FDP irgendwie für die Arbeitgeber, Sie für die Arbeitnehmer. Die Sache ist: Das ist hier überhaupt nicht der Punkt. ({8}) Der Punkt ist, dass das Arbeitszeitgesetz nicht mehr in die Zeit passt und dass heute Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die das moderne Arbeiten leben wollen, schon millionenfach gegen dieses Gesetz verstoßen oder in starren Korsetts eingesperrt sind. Deshalb dürfen wir nicht ignorieren, wenn ein Gesetz nicht mehr in die Zeit passt. Wir müssen es endlich modernisieren, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({9}) Wir leben eben nicht mehr in den Zeiten von Kaiser Wilhelm, den die Kollegin Hiller-Ohm allen Ernstes als Kronzeugen für das Arbeitszeitgesetz angeführt hat, ({10}) sondern wir leben in Zeiten des digitalen Arbeitens. Ein Arbeitszeitgesetz, das aus einer Zeit kommt, in der das Smarteste ein Telefon ohne Wählscheibe war, passt nicht mehr in die Zeit. Deshalb muss es endlich modernisiert werden. ({11}) Wir wollen nicht, dass irgendjemand in Summe mehr arbeiten muss oder weniger Pausen machen darf. Aber wir wollen, dass die Menschen endlich selbstbestimmt entscheiden können, wie sie unter der Woche ihre Arbeitszeit verteilen. Deshalb: Modernisieren Sie endlich das Arbeitszeitgesetz, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition! ({12})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Beate Müller-Gemmeke. ({0})

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Gäste! Seit fast zehn Monaten liegt jetzt das EuGH-Urteil zur Dokumentation der Arbeitszeit auf dem Tisch, und doch hat die Bundesregierung noch immer keinen Plan, wann und wie das Arbeitszeitgesetz angepasst werden soll; denn Wirtschaftsminister Altmaier bremst und macht daraus eine unendliche Geschichte. Gute Regierungsarbeit sieht wahrlich anders aus. ({0}) Das Urteil hat heftige Debatten ausgelöst, die aus meiner Sicht in keiner Weise nachvollziehbar sind. Im Arbeitszeitgesetz steht zwar, dass nur die Überstunden dokumentiert werden sollen. Aber hier stellt sich schon die Frage, wie denn die Überstunden nachgewiesen werden sollen. Sollen sie Pi mal Daumen geschätzt werden, Herr Vogel? Die Antwort ist eigentlich ganz logisch: Nur wenn die Beschäftigten wissen, wie viel sie gearbeitet haben, nur dann wissen sie auch, ob sie zu viel gearbeitet haben. ({1}) Deshalb muss eigentlich schon heute die gesamte Arbeitszeit dokumentiert werden, ganz einfach in einer Excel-Tabelle, per App oder handschriftlich. Wo ist eigentlich das Problem? ({2}) Aber für Wirtschaftsminister Altmaier ist die Dokumentation der Arbeitszeit ein riesengroßes Problem, und deshalb stand er gleich nach dem Urteil auf der Bremse. Er hat keinen Handlungsbedarf gesehen und wollte das auch mit einem Rechtsgutachten beweisen. Das Ergebnis des Gutachtens hat der Minister dann aber monatelang unter Verschluss gehalten. Ich habe zweimal schriftlich nachgefragt. Auch bei der zweiten Antwort im Februar weicht der Wirtschaftsminister aus. Er bleibt vage und geheimnisvoll. Spätestens da war klar: Das Ergebnis passt dem Minister überhaupt nicht. Seit dieser Woche ist das Gutachten endlich öffentlich. Da steht jetzt ganz eindeutig: Die Arbeitszeit muss dokumentiert werden, und das muss auch gesetzlich geregelt werden. Lange auf der Bremse stehen, Ergebnisse unter Verschluss halten und dann doch klein beigeben müssen, das ist einfach nur peinlich. ({3}) Absurd ist diese unendliche Geschichte auch, weil Arbeitsminister Heil ebenfalls ein Gutachten in Auftrag gegeben hat. Schon im Herbst kam Professor Bayreuther zu dem Ergebnis, dass natürlich die Arbeitszeit dokumentiert werden muss, und zwar Beginn, Ende und Dauer der Arbeitszeit. Es ist also schon lange klar: Das EuGH-Urteil muss umgesetzt werden. Es geht immerhin, Herr Vogel, um Gesundheitsschutz. ({4}) Es geht auch darum, dass alle Arbeitsstunden tatsächlich bezahlt werden. Deshalb muss der Wirtschaftsminister jetzt seine Blockade beenden und endlich in den Arbeitsmodus wechseln. ({5}) Das Arbeitszeitgesetz muss angepasst werden, und zwar konsequent. Das muss vor allem schnell gehen. Vielen Dank. ({6})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächstes spricht für die Fraktion der CDU/CSU die Kollegin Dr. Astrid Freudenstein. ({0})

Dr. Astrid Freudenstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004277, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ja, es gibt ein Urteil des EuGH. Inwieweit sich daraus für uns gesetzgeberischer Handlungsbedarf ergibt, darüber haben meine Vorredner und Vorrednerinnen ausgiebig gesprochen. Aber selbst wenn wir hier zu dem Ergebnis kommen, dass es Handlungsbedarf für uns gibt, stellt sich noch immer die Frage nach dem Wie. ({0}) Wenn meine Mitarbeiterin morgens zu Hause die Zeitung liest: Ist das dann schon Arbeitszeit oder noch Freizeit? Es könnte ja sein, dass sie die Zeitung tatsächlich schon zur Vorbereitung auf die Presseauswertung im Büro liest. Arbeit oder Freizeit? Das ist gerade in Abgeordnetenbüros eine schwierig zu beantwortende Frage. Das wird jeder Kollege bestätigen können. Wenn Ihre Mitarbeiter abends in den sozialen Medien unterwegs sind und nachschauen, wie sich die Kommentare entwickeln: Schreiben sie das dann als Arbeitszeit auf oder nicht? Oder: Wenn ein Mitarbeiter – meiner macht das gerne – Homeoffice macht, um gleichzeitig auf sein kleines Kind aufpassen zu können, dann ist das eine Form von hybridem Arbeiten, und es ist nicht ganz einfach zu erfassen, wann die Arbeit anfängt und wo sie aufhört. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich möchte anhand dieser Beispiele sicher nicht für eine ausufernde Vertrauensarbeitszeit plädieren. Aber diese Beispiele zeigen ganz gut, wie sich unsere Arbeitswelt entwickelt, vielleicht auch und gerade bei uns im Bundestag. Es ist nicht so einfach, wie es in Ihrem Antrag steht: einfach die geleistete Arbeitszeit erfassen und fertig. ({1}) Wenn wir die Arbeitszeiterfassung hier neu regeln, dann müssen wir das praxisnah und praktikabel machen und eben auch die neuen Arbeitsformen einbeziehen. In der Tat könnten Arbeitnehmer und Arbeitgeber da mehr Rechtssicherheit gebrauchen. Grundsätzlich gilt: Das Schutzprinzip des Arbeitszeitgesetzes ist nicht veraltet. Es muss aber auch für neue Formen der Arbeit taugen. Darüber hinaus finde ich auch, dass wir in der Tat bei den Überlegungen mutig sein dürfen. Insbesondere die Digitalisierung eröffnet den Beschäftigten ja auch mehr Autonomie bei der Arbeitszeitgestaltung. Aber wie erfassen wir diese? In unseren Unternehmen wird die Arbeitszeiterfassung derzeit schon sehr unterschiedlich gehandhabt. Selbst innerhalb einzelner Unternehmen gibt es verschiedene Vorgehensweisen. Führungskräfte zeichnen ihre Arbeitszeit meist anders oder gar nicht auf, anders als bei Fach- oder Hilfskräften. Genaue Daten dazu haben wir gar nicht. Die meisten Menschen, mit denen ich über das Thema spreche, sind ganz zufrieden damit, wie es bisher läuft. ({2}) Vertrauensarbeitszeit ist eher in höherqualifizierten Berufen üblich, die auch besser bezahlt sind. Unter denjenigen, die ihre Arbeitszeit schon heute voll erfassen, sind oft Beschäftigte mit weniger gut bezahlten Tätigkeiten. An dieser Stelle müssen wir die Arbeitszeit auch deswegen genau erfassen, um gerade dort Ausbeutung zu verhindern. Aber auch bei Tätigkeiten, die recht einfach zu erfassen sind, etwa beim Schichtarbeiter bei BMW, ist die Arbeitszeiterfassung schon heute Standard. Das ist der Status quo. ({3}) Wir werden auch künftig viele Arbeitnehmer mit einer ganz klaren Arbeitszeiterfassung schützen müssen, seien es Schichtarbeiter, Erzieherinnen oder Krankenschwestern. Aber wir müssen natürlich bei einer Neuregelung auch all den Arbeitnehmern gerecht werden, die genau diese Flexibilität und genau diese Freiheit genießen, die ihnen diese neuen Arbeitsformen ermöglichen. ({4}) Gerade für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und für digitale Tätigkeiten ist eine flexible Arbeitszeiterfassung Gold wert. Herzlichen Dank. ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Bernd Rützel für die Fraktion der SPD. ({0})

Bernd Rützel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004392, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 14. Mai letzten Jahres hat nicht gesagt, dass das Arbeitszeitgesetz flexibel werden muss. ({0}) Es hat nicht gesagt, dass es entgrenzt werden muss. Das Arbeitszeitgesetz ist flexibel. Aber das Urteil hat klar herausgearbeitet, dass jede geleistete Arbeitsstunde auch bezahlt werden muss ({1}) und dass das Arbeitszeitgesetz ein Arbeitsschutzgesetz ist. Darum geht es heute, und man merkt natürlich, wo der Wunsch besteht, einiges zu verändern. Aber das haben wir nicht auf dem Schirm, das machen wir nicht mit; denn das Arbeitszeitgesetz schützt die Menschen, liebe Kollegin Freudenstein, lieber Kollege Kartes und lieber Herr Kollege Vogel. Sie sind hier auf dem Holzwege. ({2}) Ich will an dieser Stelle ausdrücklich betonen, dass viele Unternehmer hierbei sehr vorbildlich handeln. Sie haben Tarifverträge und haben Betriebsräte. Die Menschen arbeiten gerne in diesen Betrieben, und sie wissen um ihre guten Rahmenbedingungen. Um diese Unternehmer, liebe Kolleginnen und Kollegen, geht es nicht. Diese Unternehmer müssen nichts befürchten, im Gegenteil: Es wird sich vieles für sie verbessern, weil sie nicht mehr mit den Billigheimern konkurrieren müssen, die ihnen in einem unfairen Wettbewerb das Leben schwer machen. ({3}) Es gibt in Zukunft keine Vorteile mehr für die Betrügerinnen und Betrüger und für die Ausbeuter. Ich nenne sie so; denn wenn, wie wir gehört haben, jedes Jahr 1 Milliarde geleistete Arbeitsstunden nicht bezahlt werden, dann ist das Betrug und ist das Ausbeutung, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({4}) Wir haben ein demografisches Problem. Die 1964 Geborenen sind der größte Jahrgang, den es je in Deutschland gab. Diese Menschen gehen Mitte der 20er-Jahre in die Rente. Deshalb ist es aus diesen Gründen, aber auch aus ganz persönlichen Gründen jedes Einzelnen wichtig, dass die Menschen lange arbeiten können, dass sie gesund bleiben, dass sie ein gutes Leben haben, dass sie lange im Arbeitsleben bleiben können. Deswegen muss man dafür sorgen, dass sie das auch können, dass sie gesund bleiben. ({5}) Deswegen ist der Arbeitsschutz hier besonders wichtig. ({6})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Herr Rützel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Vogel?

Bernd Rützel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004392, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, bitte.

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Kollege Rützel, ich will das wirklich mal verstehen. Sie führen immer an, dass es – – ({0}) – Nein, ich will das wirklich gern verstehen. Sie führen immer an, dass es so viele unbezahlte Überstunden gibt, und dann sagen Sie gleichzeitig, das Gesetz, so wie es ist, sei super und dürfe auf gar keinen Fall verändert werden. Merken Sie so ein bisschen den logischen Bruch? Sie beklagen einen Missstand und sagen gleichzeitig: Alles muss so bleiben, wie es ist. Das ist ja grotesk. Ich würde Sie gern fragen: Wenn das so unerträglich ist, was heute in Deutschland stattfindet, warum reformieren Sie das Gesetz nicht und machen etwas anderes daraus? ({1})

Bernd Rützel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004392, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bin sehr froh, lieber Kollege Vogel, dass Sie mich fragen, und ich will auch sehr gerne vielleicht aufklärend auf Sie einwirken. ({0}) Das Problem ist jetzt – wir haben das beim Mindestlohngesetz gesehen –, dass die Überstunden dokumentiert werden müssen, aber nicht, wann und wo sie entstehen. Der Beginn und das Ende der Arbeitszeit, die Pausen, wann sie stattfinden, das ist nicht überprüfbar. Der EuGH hat ja dieses Urteil gefällt, ({1}) weil der spanische Kollege geklagt hat, und deswegen werden wir dieses Gesetz ändern, ({2}) und wir werden es öffnen, natürlich; es ist mehrfach angeklungen. Der Kollege Bayreuther, der vom BMAS beauftragt worden ist, hat in seinem Gutachten ja auch niedergeschrieben – ich bin Ihnen dankbar für Ihre Frage und die Redezeit; ansonsten hätte ich gar nicht genügend gehabt – , dass das notwendig ist. Auch heute ist es schon angeklungen. Ich bin froh, dass jetzt auch der Wirtschaftsminister Altmaier, der bis vor Kurzem noch hier gesessen ist, aufgrund eines Gutachtens zu dem Ergebnis gekommen ist, dass das angepasst werden muss. ({3}) Ich bin froh, dass das jetzt öffentlich ist. Ich bin froh, dass Einigkeit herrscht. In der Sache ist die Angelegenheit klar. Beide Gutachten sind zu dem Ergebnis gekommen: Wir müssen das Gesetz ändern, damit nicht mehr betrogen werden kann. ({4}) Ich verstehe die Aufregung hier nicht. Ich dachte, dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Seite der ehrlichen Unternehmer sind. Sie gilt es zu schützen; schwarze Schafe gilt es zu identifizieren. Wissen Sie, es ist doch eigentlich völlig normal, dass die Arbeitszeit aufgeschrieben wird, und das ist das, was jetzt gefordert ist: die Arbeitszeit aufzuschreiben, auf einem Zettel, mit Beginn und Ende. Das kann jeder selber tun, da ist nichts dabei. Wem das zu trivial und zu einfach ist, der kann auch ein elektronisches Arbeitszeitsystem einführen; aber das muss nicht sein, das kann man machen. Dann kann man kontrollieren, und das schützt. Deswegen bin ich froh, dass wir das jetzt sehr bald angehen. ({5}) Wir hatten nämlich jetzt viel anderes zu tun: Grundrente und diese ganzen Themen, Arbeit-von-morgen-Gesetz. Ich könnte Ihnen das alles vorbeten. Das hat uns in unserem Ausschuss sehr ausgelastet, aber jetzt gehen wir das an. Vielen Dank. ({6})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Deshalb schließe ich die Aussprache.

Christoph Vries (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004926, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir machen heute und hier den Luftverkehr noch sicherer. Safety first oder, um es in der Sprache ganz korrekt zu sagen, Security first, dieses Motto gilt nicht nur bei den Sicherheitskontrollen, über die wir uns schon unterhalten haben, sondern auch bei den Zuverlässigkeitsüberprüfungen für all jene, die in sensiblen Bereichen des Luftverkehrs tätig sind. Risiken minimieren und Sicherheit maximieren, das ist das Leitmotiv dieses Gesetzentwurfs, der ein guter Entwurf ist, meine Damen und Herren. Wir müssen immer im Blick haben, dass der Luftverkehr im Fokus des internationalen Terrorismus steht. Wir wissen das. Leider ist es auch so, dass sogenannte Innentäter bei Anschlägen oder Anschlagsversuchen sehr häufig eine gewichtige Rolle spielen. Mit diesem Gesetz schützen wir sensible Bereiche in Flughäfen, an Flugzeugen und im Luftraum noch besser vor solchen Personen, die mit ihrem Wissen, ihren Befugnissen und ihren Erkenntnissen viele Möglichkeiten haben, um die Luftsicherheit zu gefährden. ({0}) Das machen wir zum Beispiel, indem die Luftsicherheitsbehörden künftig Daten bei der Bundespolizei und beim Zollkriminalamt abfragen können. Sehr sinnvoll und auch neu sind die Abfragen beim Erziehungsregister und auch der Zugriff auf Daten des staatsanwaltschaftlichen Verfahrensregisters. Laufende Strafverfahren können dadurch jetzt schneller hinsichtlich ihrer Relevanz überprüft und beurteilt werden, statt dass es nötig ist, wie bisher die einzelnen Staatsanwaltschaften postalisch abzufragen. Meine Damen und Herren, dies entlastet nicht nur die Staatsanwaltschaften, sondern verkürzt auch die bisher oft monatelangen Bearbeitungszeiten. Insofern sind diese neuen Verfahren und der Zugriff im Interesse aller Beteiligten. ({1}) Der größte Fortschritt aus unserer Sicht ist, dass wir den Ländern die Schaffung eines gemeinsamen Luftsicherheitsregisters ermöglichen. Wenn dieses Register in Zukunft geschaffen sein wird, wird es tagesaktuell sein und einen raschen Abgleich erlauben, so wie es ihn in dieser Form bisher nicht gab. Im Sinne der Luftsicherheit wünschen wir, dass die Bundesländer die Einführung dieses Luftsicherheitsregisters rasch umsetzen werden. Das ist hier auch unser Appell heute. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Anhörung, die wir gemeinsam durchgeführt haben, hat noch einmal gezeigt, dass sich Luftsicherheitsbehörden, Luftfahrtexperten, aber auch Branchenvertreter einig sind, dass die angestrebten Verbesserungen notwendig, sinnvoll und auch zielführend sind. Es gab einzelne Kritikpunkte, zum Beispiel an der Heranziehung des staatsanwaltschaftlichen Verfahrensregisters. Aber diese sind aus unserer Sicht von den Experten überzeugend ausgeräumt worden. An dieser Stelle möchte ich unserem Koalitionspartner ausdrücklich danken, der den guten Argumenten gefolgt ist und diesen Sicherheitsgewinn durch dieses Gesetz unterstützt. Vielen Dank für die konstruktive Zusammenarbeit, liebe Kollegin Mittag, lieber Kollege Özdemir. ({2}) Ich muss heute aber auch noch einige Worte zur Initiative der FDP verlieren, die ja bereits zum zweiten Mal einen Antrag einbringt, in dem sie die Abschaffung der ZÜP für Privatpiloten fordert. Ich kann es Ihnen nicht ersparen: Ihren Wunsch, diese Berufsgruppe zu privilegieren, kann man nur als Klientelpolitik bezeichnen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) – Nein. – Es gibt überhaupt keinen nachvollziehbaren Grund, warum ein Privatpilot am Flughafen anders behandelt werden soll als Verkäufer im Duty-free-Shop, als Reinigungskräfte im Sicherheitsbereich oder Kofferpacker auf dem Rollfeld. Mit der Union jedenfalls ist so eine Privilegierung nicht zu machen. ({4}) Auch das war ein Ergebnis der Anhörung, die wir hatten, und daran ändern auch unterschiedliche Vorgaben in anderen EU-Staaten nichts: Wir lehnen eine solche Privilegierung ganz entschieden ab. Ich sehe es vielmehr als Aufgabe der Bundesregierung, für das deutsche Modell der ZÜP europaweit zu werben. Die EU-Kommission hat das Thema Innentäter ja bereits aufgegriffen und strebt eine Regelung nach deutschem Vorbild an. Hier sollte die Bundesregierung weiter Überzeugungsarbeit leisten. Sie hat sicherlich hier unsere Unterstützung. Zu Gesprächen mit der FDP bin ich gern bereit. Wir haben ja schon besprochen, Herr Kollege, wie wir die ZÜP für Privatpiloten künftig vereinfachen können. Denkbar ist zum Beispiel, dass Folgeanträge entfallen oder dass die Überprüfung alle fünf Jahre automatisch im Hintergrund erfolgt. Ich werde jedenfalls bei der anstehenden Novellierung der Luftsicherheitsverordnung dafür werben. Es gibt auch Signale aus dem Ministerium, die das positiv bewerten. Insofern freue ich mich, dass wir mit der Novellierung der Zuverlässigkeitsüberprüfung nicht nur eine Verbesserung bei der Luftsicherheit erreichen, sondern auch wichtige Schritte für eine Beschleunigung der Verfahren gehen. Insofern kann ich auch der Opposition diesen Gesetzentwurf nur wärmstens zur Zustimmung empfehlen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({5}) Das gilt aber nicht für den Antrag der Grünen zum Waffengesetz, den Sie hier heute sehr kurzfristig noch angedockt haben. Selbstverständlich ist nach Hanau Vorsicht geboten. Aber Aktionismus hilft eben auch nicht weiter. Es ist schon heute so, dass die Behörden das persönliche Erscheinen von Waffenbesitzern anordnen können, wenn Zweifel an der Zuverlässigkeit bestehen. Auch eine Bescheinigung der Zuverlässigkeit durch ein Gutachten kann bereits eingefordert werden. Das heißt, wir werden über das Thema sprechen müssen – das hat auch der Innenminister gesagt –, aber sicherlich nicht in dieser Form, wie Sie uns das heute vorgelegt haben. Vielen Dank. ({6})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Martin Hess für die AfD. ({0})

Martin Hess (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004749, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kollegen! Der Regierungsentwurf zur Verbesserung der Rahmenbedingungen luftsicherheitsrechtlicher Zuverlässigkeitsüberprüfungen ist dringend nötig; denn Innentäter mit besonderem Zugang zu Einrichtungen und Abläufen des Luftverkehrs sind eine der größten Bedrohungen der zivilen Luftfahrt. Angesichts der seit vielen Jahren bestehenden Bedrohungslage ist allerdings verwunderlich, dass diese Sicherheitslücke erst jetzt geschlossen wird. Aber wie sagt man so schön: Besser spät als nie. ({0}) Völlig verantwortungslos ist allerdings, dass Sie die Anregungen des Bundesrates nicht umgesetzt haben. Natürlich muss die Identität von Passagieren vor dem Einsteigen in ein Flugzeug zwingend festgestellt und auch mit den Buchungsdaten abgeglichen werden. Bei Ihrem Entwurf fehlt eine solche Regelung. Deshalb ist es weiterhin möglich, dass Personen ohne vorherige Identifikation ein Verkehrsflugzeug besteigen. Angesichts der katastrophalen Folgen, die sich daraus ergeben können, ist diese Gesetzeslücke inakzeptabel. Sie setzen unsere Bürger damit einem nicht hinnehmbaren Risiko aus. Sorgen Sie endlich für umfassende Sicherheit im Luftverkehr, und verankern Sie diese Identitätsprüfung im Gesetz! ({1}) Nun zur FDP. Mit Ihrem Antrag zeigen Sie wieder einmal: Die FDP ist keine Partei der inneren Sicherheit, sondern eine Klientelpartei, nicht nur für Hoteliers, sondern jetzt auch für Privatpiloten. ({2}) Wer angesichts der massiven Gefahrenlage ernsthaft fordert, Zuverlässigkeitsüberprüfungen für Privatpiloten und Luftsportler gänzlich abzuschaffen, der negiert ernstzunehmende Bedrohungsszenarien und disqualifiziert sich damit selbst. Denn auch relativ leichte Sportflugzeuge können in den Händen von unzuverlässigen Personen massiven Schaden anrichten. Ein Terrorist könnte zum Beispiel in den Anflugsektor eines Verkehrsflughafens einfliegen mit dem Ziel, einen Airbus zu rammen. Hunderte Tote wären die Folge. Daran sieht man doch ganz deutlich: Sie wollen hier pure Interessenpolitik für Privatpiloten auf Kosten der Sicherheit unserer Bürger betreiben. ({3}) Das sieht man schon daran, dass Sie die Zuverlässigkeitsüberprüfung beibehalten wollen, wenn es um das Personal der Flugsicherung geht, um die Loader, die Koffer ein- und ausladen, oder um die Leute der Flughafenfeuerwehr. Diese hart arbeitenden Menschen gehören offensichtlich nicht zur Klientel der FDP. ({4}) In Anlehnung an einen Ihrer Wahlslogans gilt für die AfD: Sicherheit first, Privilegien second. Es hat gute Gründe, dass der Gesetzgeber alle Personen, die regelmäßig Zugang zu den Sicherheitsbereichen eines Flughafens haben, auf ihre Zuverlässigkeit überprüft. Das muss auch so bleiben. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab. ({5}) Auch die Grünen haben einen Antrag kurzfristig dazugestellt. Darin spielen sie wieder mit irrationalen Ängsten vor Legalwaffenbesitzern und missbrauchen dabei den Amoklauf von Hanau. Dabei hat dieses abscheuliche Verbrechen doch eines ganz klar gezeigt: Wir brauchen keine erneute Verschärfung des Waffengesetzes, sondern eine Verbesserung der Kommunikation zwischen allen öffentlichen Stellen in Deutschland, damit vollzugsrelevante Erkenntnisse auch die zuständige Behörde erreichen. ({6}) Der Generalbundesanwalt hätte alarmiert sein müssen, als er das rassistische Pamphlet eines offenkundigen Psychopathen erhielt. Er hätte über dieses Schreiben selbstverständlich die örtlich zuständigen Sicherheitsbehörden informieren müssen, damit diese weitere Schritte zur Gefahrenabwehr einleiten. Dass hier keine Kommunikation erfolgt ist, zeigt doch ganz offenkundig, dass in diesem Bereich so schnell wie möglich gehandelt werden muss. ({7}) Fakt ist: Wir haben kein gesetzgeberisches Defizit im Waffenrecht, sondern ein Kommunikations- und Vollzugsdefizit bei den Behörden. Wäre die zuständige Waffenbehörde informiert worden, dann hätte sie bereits nach derzeit geltendem Recht die Waffenbesitzkarte des Täters widerrufen oder zurücknehmen müssen. Also, liebe Grüne, hören Sie endlich auf mit diesem ständigen Ruf nach der Verschärfung des Waffenrechts! Das ist billiger Populismus und löst die wahren Probleme nicht. Deshalb werden wir auch Ihren Antrag ablehnen. ({8})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Für die Fraktion der SPD spricht als Nächster der Kollege Mahmut Özdemir. ({0})

Mahmut Özdemir (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004368, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir verabschieden heute ein Gesetz, das ein sehr wichtiger Baustein für die Luftsicherheit ist. Wir schreiben ins Gesetz höchste Anforderungen an die Zuverlässigkeit derjenigen hinein, die ihren Dienst im Luftverkehr oder in der Luftverkehrswirtschaft verrichten, indem wir das Luftsicherheitsgesetz, das Bundeszentralregistergesetz und die Strafprozessordnung verändern. Diese Veränderungen führen zu mehr und höchster Sicherheit in unserer Luftfahrt und machen uns zum europäischen Vorreiter in Sachen Sicherheitsstandards. Zweck des Gesetzes ist es, vom Reinigungsbetrieb bis ins Cockpit nur Personen in die verletzlichen Sicherheitsbereiche unserer Flughäfen und der Luftverkehrswirtschaft zu lassen, die strafrechtlich unbescholten und zweifelsfrei rechtstreu sind. Das wird durch eine verbesserte Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden geschehen. Der so erzeugte Informationsaustausch hat das Ziel, die Zuverlässigkeit der Beschäftigten im Luftverkehr zu bewerten. Erkenntnisse aus polizeilichen, aber eben auch aus staatsanwaltschaftlichen Quellen führen zu der Zuverlässigkeitsentscheidung als Ergebnis einer umfassenden Gesamtwürdigung – ein Ergebnis, das Zweifel an einer persönlichen Eignung und Zuverlässigkeit von Antragstellern im Idealfall auf ein Mindestmaß reduziert. Nur so verringert man die Gefahr, dass Täter von innen, aus dem Betrieb heraus, die Luftsicherheit schädigen können. Die Errichtung und die gemeinsame Führung eines Luftsicherheitsregisters zusammen mit den Ländern als zentraler Erkenntnisspeicher erleichtern diesen Austausch. Der Zugriff auf das Zentrale Staatsanwaltschaftliche Verfahrensregister und der Abgleich vervollständigten die Prognoseentscheidung für Antragstellerinnen und Antragsteller, ob diese Person zuverlässig genug ist, in sensiblen Bereichen des Luftverkehrs tätig zu werden. In der Anhörung haben wir Sozialdemokraten diese Regelung und diesen Zugriff auf das Zentrale Staatsanwaltschaftliche Verfahrensregister sehr sorgfältig geprüft, weil wir der Überzeugung waren, dass angesichts eines eingeleiteten Ermittlungsverfahrens bei der Staatsanwaltschaft im Zuge einer Erlaubniserteilung sehr deutlich und sehr präzise darauf geachtet werden muss, dass die Unschuldsvermutung stets gilt, dass wir niemandem einfach voreilig aufgrund eines Eintrags in dieser Datei eine solche Erlaubnis verweigern. Es ist eben nur eine von vielen Erkenntnisquellen, und deshalb halten wir Sozialdemokraten diese Änderung auch für tragbar. ({0}) Dieses Gesetzgebungsverfahren offenbart aber auch, wie andere Fraktionen in diesem Hause es mit der Luftsicherheit halten und wie sie sie gewährleisten wollen. Nehmen wir uns einmal den gerade angesprochenen Antrag der FDP vor. Sie fordern die Abschaffung der Zuverlässigkeitsüberprüfung für Privatpiloten. Ihre Haltung ist klar und einfach: Wer als Privatpilot das notwendige Kleingeld hat, soll von der Sicherheitsüberprüfung freigestellt werden, während die Reinigungskräfte am Flughafen komplett durchleuchtet werden müssen. Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Ich finde es dreist, hier so einen Antrag zu stellen. ({1}) Sie vertrauen in der Konsequenz gutbetuchten Privatpiloten mehr und stellen so ausschließlich die Flughafenbeschäftigten unter Generalverdacht. Ich weiß jetzt nicht, ob Sie die Hoteliers so sehr verprellt haben, dass Sie jetzt Ihr Heil bei den Privatpiloten suchen; aber wir werden das auf jeden Fall ablehnen. ({2}) Wir Sozialdemokraten wachen schließlich über einen Staat, der Sicherheit für alle nicht am Geldbeutel bemisst. Zusammenfassend: Für uns ist dieser Gesetzentwurf der erste Abschluss von zwei weiteren Bausteinen, die aus unserer Sicht noch kommen mögen und kommen sollen – ich möchte hier noch mal die Initiative von Boris Pistorius aus Niedersachsen ansprechen –, damit wir am Ende des Tages wissen, wer tatsächlich an Bord eines Flugzeugs ist und ob diese Person, die im Flugzeug sitzt, auch tatsächlich die Person ist, die auf der Bordkarte namentlich erwähnt ist. Der dritte und letzte Baustein aus unserer Sicht ist jedoch – das ist im Koalitionsvertrag verankert; da werde ich die Union sehr deutlich in die Pflicht nehmen –, dass wir mehr staatliche Verantwortung in den Sicherheitskontrollen haben müssen und haben werden. Die Privatisierung, die Beleihung ist gescheitert. Wenn wir Sicherheit wollen, dann müssen wir das mit eigenen staatlichen Kräften machen. Wir als Sozialdemokraten werden auch diese beiden Initiativen nicht zuletzt mit einer Anhörung am 20. April für den ID-Check mit der Bordkarte und mit einem weiteren gesetzgeberischen Verfahren hinsichtlich der Rückverstaatlichung der Sicherheitskontrollen durchsetzen. ({3}) In diesem Sinne: Ich bitte Sie um Zustimmung für den Gesetzentwurf der Koalition und um Ablehnung des Klientelantrags von der FDP. Vielen Dank. ({4})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die FDP der Kollege Manuel Höferlin. ({0})

Manuel Höferlin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004057, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die Menschen, die tagtäglich im Luftverkehr unterwegs sind, haben einen Anspruch auf Sicherheit, und das ist uns wichtig. Im vorliegenden Gesetzentwurf schießen aber einige Regelungen über das Ziel hinaus; es wurde schon angesprochen, allerdings etwas anders gesehen. Es geht zum Beispiel um die Abfrage des Registers für Strafverfahren. In diesem Register werden unabhängig vom Ausgang des Verfahrens die Vorgänge und Anzeigen gespeichert, die dort bearbeitet werden, und auch wenn jemand freigesprochen wird, werden am Ende dort Daten vorgehalten. Wenn dann aber der Verdacht zu einem Berufsverbot führt, ist das nicht hinnehmbar. Allein durch die vielen dort eingestellten Verfahren, die es möglicherweise jetzt durch Ihr Netzwerkdurchsetzungsgesetz und dessen Automatismus gibt, könnte es sein, dass Äußerungen, zum Beispiel bei Facebook, dazu führen, dass die Zuverlässigkeit infrage gestellt wird. Meine Damen und Herren, das ist unverhältnismäßig; deswegen lehnen wir das ab. ({0}) In die ZÜP fließen zum Beispiel auch Informationen der Nachrichtendienste ein. Details dazu können den Betroffenen aber nachher aus Sicherheitsgründen nicht mitgeteilt werden. Auch das ist rechtsstaatlich sehr problematisch. Es gibt dann möglicherweise keinen Rechtsweg; deswegen können wir dem nicht zustimmen. Es gibt immer noch den Versuch von Ihnen, die Sportpiloten, die Privatpiloten – als einziges Land in der ganzen EU – einer Sicherheitsüberprüfung zu unterziehen, ({1}) und das hat nichts mit Berufsgruppen oder Klientel zu tun. Vielleicht gehen Sie mal in den Luftsportverein vor Ort und gucken sich an, was dort bei den Motorseglern, bei der Jugend gemacht wird; das ist der Nachwuchs im Fliegerbereich. Nicht nur wir sehen das ja so. Selbst der Bundesrat, an dem Sie oder Sie beteiligt sind oder waren, hat 2016 die Abschaffung der Zuverlässigkeitsüberprüfung für Privatpiloten gefordert. Denn die EU schreibt nur vor, dass Menschen, die in der gewerblichen Luftfahrt tätig sind, zu überprüfen sind, nicht die Privatpiloten, nicht die Luftsportler. Sie gehen einen Sonderweg, und die Europäische Union klagt deshalb zu Recht vor dem EuGH gegen Deutschland. ({2}) Sie behandeln letztlich Ungleiches gleich, und Sie behandeln Gleiches ungleich. Sie behandeln nämlich Berufspiloten und Bodenpersonal, das tagtäglich beruflich im Sicherheitsbereich von großen Flughäfen arbeitet, wie den Hobbymotorsegler, der in seinem ganzen Leben vielleicht ein- oder zweimal auf einem Flugplatz ist, meine Damen und Herren, und Sie behandeln den Hobbypiloten aus Saarbrücken und Straßburg – – aus Saarbrücken und Stuttgart genau so wie den – – Sie behandeln ihn anders als den Piloten aus Salzburg zum Beispiel. ({3}) Das heißt, wenn ich im EU-Ausland kurz hinter der Grenze eine Pilotenlizenz habe, dann muss ich nicht überprüft werden; wenn ich aber in Deutschland eine Pilotenlizenz habe, muss ich überprüft werden – und das, obwohl genau die Piloten, die nur wenige Kilometer hinter der Grenze ihre Lizenz bekommen, die gleichen Sicherheitsbereiche betreten und die gleichen Lufträume befliegen dürfen und auch genauso – ich will gar nicht sagen – nah an die Airbusse und die großen Flugzeuge rankommen können wie die anderen mit ihrer Lizenz aus Deutschland. Deshalb: Hören Sie endlich auf, die deutschen Hobbypiloten unter Generalverdacht zu stellen. Sie sind keine Gefahr. Schaffen Sie die ZÜP bitte ab. Herzlichen Dank. ({4})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege André Hahn für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. André Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004288, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Luftverkehr war und ist eines der symbolträchtigen Ziele für Anschläge von Terroristen. Deshalb ist es absolut richtig, dass nur solche Personen Zugang zu sicherheitsrelevanten Bereichen in Flughäfen erhalten, deren Zuverlässigkeit gründlich überprüft wurde. Hier sind wir uns alle einig. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung schießt aber in einigen Punkten tatsächlich weit über das eigentliche Ziel hinaus. Insbesondere die Schaffung der Möglichkeit des Zugriffs von Luftsicherheitsbehörden auf das zentrale Verfahrensregister der Staatsanwaltschaften sehen wir kritisch, weil hier unverhältnismäßig in Grundrechte der betroffenen Bürgerinnen und Bürger eingegriffen wird. ({0}) Die Anhörung im Innenausschuss hat gezeigt, dass unsere Bedenken auch von mehreren Sachverständigen geteilt werden. Denn mit der Ermöglichung des Zugriffs auf das Zentrale Staatsanwaltschaftliche Verfahrensregister wird dessen strenge Zweckbindung, wonach die dort gespeicherten Daten ausschließlich für Strafverfahren genutzt und verarbeitet werden dürfen, weitgehend ausgehebelt. Und noch ein Punkt begründet unsere Ablehnung: Wir halten es für völlig inakzeptabel, dass die Regierungsfraktionen in ihrem Änderungsantrag im Wege des sogenannten Omnibusverfahrens gleich auch noch Änderungen am Waffengesetz vornehmen wollen, ohne vor dem Hintergrund der Ereignisse von Halle und Hanau noch einmal grundsätzlich die aktuellen Erfordernisse zu debattieren. Beides, also Zuverlässigkeitsprüfung und Waffengesetz, hat ganz offenkundig nichts miteinander zu tun. Aber der Opposition wird dadurch die Möglichkeit genommen, zu einem hochbrisanten Thema eine Expertenanhörung durchzuführen. Die Koalition setzt darauf, dass auf diese Weise hochumstrittene Regelungen einfach mal so durchgewunken werden. Wir als Linke lehnen ein derartiges Verfahren entschieden ab. ({1}) Abgesehen davon wäre es beim staatsanwaltschaftlichen Verfahrensregister zumindest möglich gewesen, den Zugriff auf Straftaten mit einer besonderen Tatschwere einzuschränken oder eine Beschränkung hinsichtlich des betroffenen Personenkreises vorzunehmen. Selbst ins Erziehungsregister für Verfehlungen Jugendlicher soll Einblick genommen werden. Es kann doch aber wohl nicht gewollt sein, dass jemand, gegen den zum Beispiel im Zusammenhang mit Unterhaltsstreitigkeiten ein Ermittlungsverfahren läuft, deshalb keine Zulassung als Pilot erhält; darauf wurde ja auch in der Anhörung hingewiesen. Auf die Problematik der Einbeziehung des Verfassungsschutzes, dessen Auskünfte einer gerichtlichen Prüfung weitgehend entzogen sind, hat Herr Höferlin zu Recht hingewiesen. Kernpunkt unserer Kritik: Wir halten es für höchst bedenklich, wenn immer mehr Personen, die mit der Strafverfolgung gar nichts zu tun haben, auf diese spezifischen Daten zurückgreifen können. Wir als Linke meinen: Auch im hochsensiblen Bereich des Luftverkehrs gilt der rechtsstaatliche Grundsatz, dass ein möglicherweise legitimer Zweck nicht alle Mittel heiligt, die denkbar sind. ({2}) Deshalb werden wir den Gesetzentwurf ebenso ablehnen wie den Antrag der FDP, der es leider versäumt hat, die gegenwärtige Praxis von Zuverlässigkeitsprüfungen grundsätzlich zu hinterfragen. Stattdessen wollen Sie Ausnahmen für Ihre mit Fluglizenz ausgestattete Klientel. Dafür stehen wir nicht zur Verfügung, und da sind wir uns ausnahmsweise sogar mal mit der Union einig. Herzlichen Dank. ({3})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächste spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Irene Mihalic. ({0})

Dr. Irene Mihalic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004353, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Flughäfen sind herausgehobene Infrastrukturknotenpunkte, und ihre Sicherheit ist deshalb zweifellos von großer Bedeutung. Richtig ist auch, dass sich die Bundesregierung vor diesem Hintergrund mit der Frage möglicher Innentäter beschäftigt. Da die FDP ja gerne die Zuverlässigkeitsüberprüfung für Privatpiloten abschaffen will ({0}) und das unter anderem damit begründet – das haben Sie ja gerade noch mal gemacht, Herr Höferlin –, dass ausländische Piloten diese auch nicht hätten: Da wurde ja in der Anhörung im Innenausschuss deutlich, welche praktische Bedeutung die Überprüfung hat; denn nur Piloten mit einer solchen Überprüfung können sich im Flughafen und im Sicherheitsbereich ohne Begleitung frei bewegen; ({1}) das hat die Anhörung ergeben. Deswegen ist das Instrument kein leerer Formalismus, sondern hat auch einen ganz praktischen Nutzen. ({2}) Aber wir verhandeln ja heute nicht nur das Luftsicherheitsgesetz, sondern die Bundesregierung hat – der Kollege Hahn hat es eben erwähnt – ja auch noch ein paar waffenrechtliche Punkte im Gesetzentwurf untergebracht. Warum Sie das nicht offen machen, sondern hier quasi im Gesetzentwurf verstecken, kann man schon erahnen, wenn man sich Ihre Vorschläge anschaut. Heute in der Vereinbarten Debatte zu Hanau haben Sie sich sehr häufig dafür gelobt, das Waffenrecht in der Vergangenheit verschärft zu haben, nur um es jetzt, gleich ein paar Stunden später, wieder zu entschärfen. Es ist nach dem schrecklichen Anschlag in Hanau doch das völlig falsche Signal, die Dokumentationspflichten der Schützenvereine im Waffenrecht abzuschleifen, ({3}) obwohl den Vereinen doch auch eine soziale Kontrollfunktion zukommt. Stattdessen hätten Sie besser die Idee des Bundesinnenministers aufgreifen sollen, der nach Hanau gesagt hat, dass man sich die Kriterien für die persönliche Eignung von Waffenbesitzern noch mal ganz genau anschauen muss. Wir haben das getan und legen Ihnen deshalb hier einen eigenen Antrag zum Waffenrecht vor, der unter anderem vorsieht, dass die im Waffengesetz vorgeschriebene Überprüfung auch in psychologischer Hinsicht verbessert wird. ({4}) Wenn wir unseren Antrag nachher in den Innenausschuss überweisen, dann möchte ich darum bitten, dass wir uns dieser Sache möglichst bald wieder annehmen, gerne auch zusammen mit dem Bundesinnenminister. Das wäre jedenfalls angemessen. Denn erst in der Folge des rechtsterroristischen Anschlags in Hanau wird wieder mehr darüber geredet und nachgedacht, dass Menschen in Deutschland auch durch legale Waffen sterben. Dabei handelt es sich nicht um die einzige Tat in jüngster Zeit, die mit einer legalen Waffe begangen wurde. Wir erinnern uns: Ende Januar starben sechs Mitglieder einer Familie durch einen Täter aus ihrer Mitte mit einer legalen Waffe. Wenn Sie schon unsere anderen Vorschläge zur Veränderung des Waffenrechts, die wir hier mehrfach eingebracht haben, alle ignorieren, dann befassen Sie sich wenigstens eingehend mit unserem heutigen Antrag; denn die Zuverlässigkeitsprüfung im Waffenrecht muss endlich halten, was sie verspricht. Herzlichen Dank. ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Michael Brand für die CDU/CSU. ({0})

Michael Brand (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003742, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir leben in unsicheren Zeiten. Zu Recht ist gestern in Hanau und heute hier gefordert worden, dass der Staat wirklich alles tun muss, damit Menschen ohne Angst auf die Straße gehen können. Es geht um Prävention von Gewalt, es geht um das Minimieren von Gefahren für Leib und Leben der Bevölkerung. Dem dient auch der vorliegende Gesetzentwurf im Bereich Luftverkehr. Niemand hätte für möglich gehalten, dass vollbesetzte Passagiermaschinen in Wolkenkratzer gesteuert werden, um Tausende von Menschen umzubringen. Wir beraten über Grenzfragen, vor die wir durch neue Risiken gestellt werden. Es kann und darf auf verbesserte Zuverlässigkeits- und Sicherheitsüberprüfungen nicht verzichtet werden, weil eben nicht ausgeschlossen werden kann, dass Terroristen und Einzeltäter gesetzliche Lücken dazu nutzen, um als Innentäter in Flughäfen oder als Piloten mit Flugzeugen viele Menschen in Gefahr zu bringen. Der Gesetzentwurf besteht aus einem Bündel detaillierter und sehr sinnvoller Maßnahmen. Es geht um verbesserte Zuverlässigkeitsüberprüfungen, um einen besseren Austausch zwischen Bund und Ländern und auch international. Die Regelungen sind maßvoll, und sie erhöhen die Sicherheit in unseren unsicheren Zeiten. Prävention von Gewalt ist doch unser aller Ziel. Das erreichen wir aber nur, indem wir konkrete Maßnahmen umsetzen. Deshalb habe ich einige Anmerkungen und ernstgemeinte Fragen zum Antrag der Grünen. Frau Mihalic, ich will das Angebot, das Sie ausgesprochen haben, annehmen; denn zum Thema Prävention müssen sich auch die Grünen prüfen. Sie müssen sich ehrlich fragen, was sie an Prävention auch verhindern. ({0}) Ich frage hier einmal – und das ohne jede Provokation und Polemik –: Kann im Licht der neuen Gefahren wirklich jede alte grüne Position so bleiben? Muss nicht wegen Gewaltprävention und dem Recht auf Leben ohne Angst zumindest der Austausch von Daten über potenzielle Gewalttäter und Gefährder zwischen den unterschiedlichen staatlichen Ebenen endlich besser möglich werden? ({1}) Und ist es etwa richtig, dass Stellen des Bundes und Stellen der Länder, die vor Ort die Prävention organisieren müssen, wichtige Informationen nicht übermitteln dürfen? Oder die Speicherfristen: Kann es richtig sein, dass im Mordfall Lübcke glücklicherweise gerade noch vor Ablauf der Vernichtungsfristen Daten vorlagen, ohne die die Aufklärung erheblich erschwert, ja, man muss sagen, unmöglich gewesen wäre? Denn die DNA-Spur des Täters, die gefunden worden ist, wäre wenige Wochen später nicht mehr zum Abgleich vorhanden gewesen. Oder nehmen Sie das Thema „vernünftige Vorratsdatenspeicherung“: Auch das hat was mit Prävention und mit Strafverfolgung zu tun. ({2}) In Zeiten, in denen Menschen sich völlig zu Recht an den Staat wenden und sagen: „Tut was! Redet nicht nur!“, braucht es wirksame Antworten, die nicht über das Ziel hinausschießen, aber eben auch nicht zu schwach sind. Lassen Sie uns in aller Ruhe auch darüber reden und Lösungen suchen – ohne Rituale auf allen Seiten. Es gibt ja auch Anlass für neue Gesetzgebung: demnächst mit dem neuen Bundespolizeigesetz und der Novellierung des Bundesverfassungsschutzgesetzes. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist auch der Lackmustest, ob die demokratischen Parteien hier im Deutschen Bundestag dem Rechtsstaat die Mittel geben, damit er wehrhaft sein kann. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe nicht nur wegen Walter Lübcke, nicht nur wegen der unschuldigen Opfer von Hanau die Bitte: Ein jeder hier prüfe – unvoreingenommen –, was wir tun können, damit wir hinbekommen, was viele von uns fordern: Man muss in diesem Land ohne Angst frei leben können. Wir müssen auch neue Wege gehen und neue Akteure einbinden; denn wir brauchen zur Prävention die Unterstützung der ganzen Zivilgesellschaft. Ich will es hier einmal offen ansprechen – das Waffenrecht ist erwähnt worden –: In meinem Wahlkreis kenne ich ausnahmslos ordentliche Leute, die als Sportschützen ihrem Sport nachgehen und ihre Tradition pflegen. Ich kenne darunter niemanden, wirklich niemanden, der irgendwelche Entschuldigungen oder Erklärungen für den Attentäter von Hanau, den Mörder von Walter Lübcke oder für andere Gewalttaten hätte. Und weil das so ist, dürfen wir nicht zulassen, dass diese Leute, die doch unsere Verbündeten im Kampf gegen Extremismus und Terror sind, ins falsche Licht gesetzt werden. Die Frage muss daher nicht „ob“ lauten, sondern „wie“: Wie können wir diese Tausenden ordentlichen Leute in eine gesellschaftliche Strategie zur Prävention von Gewalt einbinden? Die, die den Sport lieben, sind nicht Gegner; sie sind, weil verantwortungsvoll, Verbündete im Kampf gegen Gewalt und Gewalttäter. Und selbstverständlich muss auch der Staat dafür sorgen, dass Waffen nicht in die Hände von Extremisten, von kranken oder wahnhaften Menschen gelangen. Da besteht nach Hanau neuer Handlungsbedarf; das hat der Bundesinnenminister zu Recht angesprochen, und auch das muss sich das Parlament vornehmen. Zum Schluss: Wenn wir auch hier offen reden und als Gesellschaft miteinander und nicht gegeneinander arbeiten, dann werden wir in der Prävention von Gewalt sehr viel wirkungsvoller. Das hilft allen, und das kann Leben retten. Vielen Dank. ({4})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Letzte Rednerin in der Debatte ist für die Fraktion der SPD die Kollegin Susanne Mittag. ({0})

Susanne Mittag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004355, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unser Gesetzentwurf dient dazu, die Sicherheit im Luftverkehr zu verbessern. Das tun wir, indem wir die Menschen, die in den Cockpits sitzen, und die, die in der Luftsicherheit arbeiten, einer besonderen Prüfung unterziehen. ({0}) Das ist deshalb so wichtig, weil Menschen, die einen besonderen Zugang zu Flughäfen und ihren Einrichtungen haben, eine zentrale Rolle in puncto Sicherheit spielen, ({1}) auch wegen ihres Insiderwissens und ihrer Fähigkeiten. Das macht ihr Berufsbild für terroristische Organisationen und für die organisierte Kriminalität nämlich sehr interessant. Mit den Erweiterungen der Luftsicherheitsüberprüfung, die wir hier einführen, werden wir uns künftig ein besseres Bild über deren Zuverlässigkeit machen, und wir kümmern uns auch um die Innentäterproblematik. Das ist in anderen Wirtschaftsbereichen schon ein völlig gängiges Modell. In Zukunft können die Luftsicherheitsbehörden der Länder bei der Überprüfung einer Person zusätzlich, wie schon erwähnt, Daten der Bundespolizei, des Zollkriminalamtes und des Zentralen Staatsanwaltlichen Verfahrensregisters abfragen. Falls das irgendwer noch nicht mitbekommen hat: Dabei geht es nur um den Verfahrensstand und nicht um die ganze Akte. – Diese Daten werden dann im Luftsicherheitsregister zusammengefasst, und man kann immer den aktuellen Datenstand abfragen. Dieses neue Register systematisiert die Ergebnisse der Zuverlässigkeitsüberprüfung und ermöglicht den zentralen und systematischen Zugang zu den Informationen sowie – ganz wichtig – deren Austausch auf Länderebene. Diese Art der Datenharmonisierung ist in anderen Sicherheitsbereichen gängige Praxis und hier längst überfällig. Aber auch die Mitarbeiter der Luftverkehrssicherheit profitieren von dem Register; denn der Mitarbeiter oder die Mitarbeiterin kann künftig den Arbeitgeber in der Branche oder das Bundesland wechseln, ohne jedes Mal neu überprüft zu werden. Wir fordern die Zuverlässigkeitsüberprüfung im Übrigen auch für Privatpiloten, und zwar aus zwei Gründen: Es kann auch ein kleines Flugzeug zum Absturz gebracht werden und Schaden anrichten, und – das ist viel wichtiger – es reicht, dass diese Menschen fliegen können. Wie können wir sonst sicher sein, dass jemand mit diesen Kenntnissen nicht die Absicht hat, auch ein größeres, ein anderes Flugzeug zum Absturz zu bringen? Falls Sie sich erinnern können: Das gab es schon. Außerdem – ich sagte es an dieser Stelle schon einmal – wollen wir keinen Flickenteppich bei den Zuverlässigkeitsüberprüfungen des Luftpersonals haben, sondern einheitliche und gerne auch hohe Sicherheitsstandards, auch wenn Sie, wie gesagt, Ihren Hobbypiloten gerne einen Sonderstatus sichern wollen. Da können wir leider nicht mitgehen. ({2}) Apropos Lücken schließen: Wir wollen Sicherheit nicht nur aufseiten des Flugpersonals gewährleisten, sondern auch aufseiten der Fluggäste. Das heißt, wir fordern, dass in Zukunft die Identität des Passagiers sichergestellt werden muss. Künftig soll, wie schon erwähnt, die Identität des Passagiers mit der Bordkarte abgeglichen werden. Dieses Vorgehen ist üblich auf vielen Flughäfen dieser Welt; das ist überhaupt nicht überall eingestellt worden. Das ist absolut gängige Praxis; es wird doppelt kontrolliert. Warum sollten wir es in Deutschland also dem guten Willen der Fluggesellschaften überlassen, ob das gemacht wird oder nicht? Flughäfen sind die größten Grenzdurchgangsstationen, die man hat. Der Betrieb dort ist viel größer als an den tatsächlichen Ländergrenzen. Das wird der nächste Schritt in Sachen Luftsicherheit sein. Der Bundesrat ist offensichtlich schon einmal auf unserer Seite. Heute beginnen wir mit dem ersten wichtigen Schritt und verabschieden hoffentlich mit möglichst großer Zustimmung diesen Gesetzentwurf. Herzlichen Dank. ({3})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.

Norbert Kleinwächter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004781, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Vielen Dank. – Werter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Europa ist mehr als die EU. Europa ist größer, weiter und klüger, als es der Brüsseler Bürokratieapparat je sein wird. ({0}) Europa bedeutet Mannigfaltigkeit der Regionen und Nationen, Vielfalt der Kulturen, der Einstellungen und der Politik. Aber Europa wird auch beneidet für seinen bereichernden gegenseitigen kulturellen Austausch und die immerwährende Verständigung miteinander, die vor allem vom Respekt vor der Meinung und der Tradition des anderen getragen wird. Die wahren Europäer sind nicht die, die von sich am lautesten behaupten, europäische Werte zu vertreten, sondern diejenigen, die diesen Austausch und diesen Respekt wirklich leben. ({1}) Viele von ihnen haben die politische Überzeugung, dass sie Europa viel besser außerhalb der EU leben; denn die EU lässt diesen Respekt oft missen. Diese Überzeugung führte die Briten aus der EU heraus und die Schweiz niemals in sie hinein. Lehren sollte diesen Respekt voreinander das Erasmus-Programm, das gerade bei vielen Studenten zum Aushängeschild für die europäische Zusammenarbeit geworden ist. Erasmus+ ist das EU-Programm für Bildung, Jugend und Sport, das mit dem Ziel ins Leben gerufen wurde, die akademische Mobilität zu erhöhen. Und so hat das Programm von 2014 bis 2020  4 Millionen Menschen gefördert, davon 2 Millionen Studenten und 800 000 Dozenten. ({2}) Wir als AfD stehen hinter diesem Programm. ({3}) Erasmus+ ist eine einzigartige Möglichkeit, andere Länder kennenzulernen, Frieden und Verständigung zu leben und den eigenen Horizont zu erweitern. In einem völlig anderen Geiste aber handelt die EU-Kommission. Nach ihrem Willen sollen unsere Studenten Großbritannien und die Schweiz nicht mehr kennenlernen dürfen. Die Schweiz wurde 2015 aus dem Programm ausgeschlossen, weil sie das Personenfreizügigkeitsabkommen mit dem EU-Mitglied Kroatien nicht unterzeichnet hat. ({4}) Als Nächstes sollen die Briten ausscheiden. Großbritannien soll seinen Status als Programmland verlieren, wenn es keine weiteren Abkommen gibt, und der Regierung ist das herzlich egal. „Es gibt keine Pläne der Bundesregierung für Initiativen zur Förderung des Studierendenaustausches zwischen Deutschland und dem Vereinigten Königreich“, äußert sie frech. Damit geht sie völlig verantwortungslos über die Wünsche der deutschen Studenten hinweg. ({5}) Aus allen potenziellen Zielländern wählten im Jahr 2016  11 Prozent aller Austauschstudenten eine britische Universität, Tendenz steigend. Das ist wahrlich auch kein Wunder, schließlich zählen die britischen Universitäten weltweit zu den besten. Das trifft, wie man weiß, auch auf einige Schweizer Universitäten zu – auf die deutschen meist leider nicht mehr, wie internationale Rankings schonungslos offenbaren und wie „Die Welt“ übrigens gestern auch titelte. Liebe Kollegen, erwarten Sie nicht, dass Großbritannien uns anbettelt, im Erasmus-Programm bleiben zu dürfen. Die haben das nicht nötig. Deutschland profitiert von einem Verbleib des Vereinigten Königreichs viel mehr als umgekehrt. ({6}) – Allein in Göttingen sind neunmal so viele Studenten aus Deutschland nach Großbritannien gegangen als umgekehrt. Da habe ich zum Beispiel die Zahlen her. ({7}) – Sie können sich gern zu einer Zwischenfrage melden, Herr Kollege. Das sogenannte EU-Parlament fordert nunmehr eine Verdreifachung des Budgets für Erasmus+. Wir sagen klar: Das kann man machen, aber nur unter der Bedingung, dass die akademisch attraktivsten Länder Europas, die Schweiz und Großbritannien, ab 2021 als Programmländer in Erasmus enthalten sind. Und wir erwarten, dass sich die Bundesregierung hierfür nachdrücklich einsetzt. ({8}) Die Bundesregierung muss endlich ihre Passivität aufgeben. Bislang zieht sie sich darauf zurück, Verhandlungen abzuwarten. Sie meint gar in ihrer Antwort auf unsere Kleine Anfrage, es sei nicht zu erwarten, „dass mit dem Ausstieg Großbritanniens die Attraktivität des Programms Erasmus+ sinkt“. Ganz ehrlich: Wer das allen Ernstes annimmt, der verkennt, dass die allermeisten Studenten ihr Erasmus-Semester gut investieren und es eben nicht auf Steuerzahlerkosten am Strand in Malta, Rumänien oder der Türkei verbummeln. Und ja, Sie haben richtig gehört: Die Türkei ist, was die Schweiz und Großbritannien nicht mehr sein dürfen: ein Erasmus-Programmland. Werte Kollegen in der Bundesregierung, bitte verfolgen Sie das Ziel, Erasmus attraktiv zu erhalten. Erasmus ohne die besten Hochschulstandorte Europas ist nicht zeitgemäß. Es bringt auch nichts, Erasmus+ stattdessen immer weiter zu diversifizieren und zu einem Programm für berufliche Bildung und Fortbildung zu machen. Wir sind für Klasse statt Masse. Deswegen brauchen wir ein zielgenaues Programm, das sich an der Programmatik der Magna Charta Universitatum und der Bologna-Erklärung orientiert. Nur dann ist die gravierende Erhöhung der Erasmus-Mittel zu rechtfertigen. ({9}) Wir fordern Sie von der Bundesregierung also auf: Setzen Sie sich bei den Verhandlungen zum mehrjährigen Finanzrahmen dafür ein, dass die Mittelerhöhung für Erasmus an Verhandlungen mit Großbritannien über den Verbleib und mit der Schweiz über die Rückkehr ins Erasmus-Programm gekoppelt wird! Keine Schweiz und kein Großbritannien? Dann eben auch keine zusätzlichen Mittel. – Das muss die Devise sein. Herzlichen Dank. ({10})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Dr. Michael von Abercron. ({0})

Dr. Michael Abercron (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004650, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden heute über ein Programm, dessen Namensgeber ein Universalgelehrter und großer Humanist war. Von Erasmus von Rotterdam stammt ein Zitat, das zu diesem Antrag passt: Je weniger wir die Trugbilder bewundern, desto mehr vermögen wir die Wahrheit aufzunehmen. Ich glaube, das passt sehr gut zu dem Antrag, zu dem wir eben etwas gehört haben. ({0}) Der vorliegende Antrag besteht allerdings nicht nur aus solchen Trugbildern, sondern er ist auch voller Widersprüche. Der Antrag fordert neben einer Stärkung des Erasmus+-Programms gleichzeitig seine Verkleinerung. Er fordert auch, dass Nicht-EU-Länder wie die Schweiz und Großbritannien wieder bzw. weiterhin mitmachen sollen, lehnt aber ebenso die Teilnahme der Türkei ab. Versuchen wir einmal, die Widersprüche ein bisschen zu durchschauen. Beginnen wir mal mit dem Programmland Großbritannien. ({1}) Da wird zunächst kritisiert, dass die Ausgaben von Erasmus+ steigen, obwohl das Vereinigte Königreich vielleicht als Programmland ausscheidet. ({2}) Ich gehe davon aus, dass wir alle einig sind, dass das Partnerland Großbritannien dabeibleibt. Völlig unrealistisch ist hingegen die Forderung in Ihrem Antrag, dafür eine Ergebnisgarantie der Bundesregierung zu verlangen. Wie wir alle wissen, kann man in supranationalen Verhandlungen das Ergebnis nicht vorherbestimmen, und schon gar nicht kann die Bundesregierung für die Gesamtheit aller Partnerländer mitbestimmen. Ebenso wenig können wir hier in diesem Hohen Hause Garantien für das Handeln der Vertreter und Vertreterinnen unserer Partnerländer einfordern. Noch aber ist das Vereinigte Königreich ein Programmland. Deshalb können wir auch nicht das einfordern, was jetzt noch Realität ist. Wir können allerdings darum werben, dass Großbritannien nach dem kompletten Vollzug des Brexits weiterhin Partnerland bleibt. ({3}) Und dazu, meine Damen und Herren, laden wir Sie alle recht herzlich ein. ({4}) Selbstverständlich setzt sich auch die Bundesregierung für den Verbleib von Großbritannien als Erasmus-Partnerland ein. ({5}) Kommen wir zum Thema Mittelerhöhung. Meine Damen und Herren, für die Mittelerhöhung gibt es einen ganz entscheidenden Grund, eine herausragende Begründung, nämlich: Mehr Auszubildende sollen Gelegenheit bekommen, Auslandserfahrungen zu sammeln. ({6}) Das trägt nicht nur zur Gleichwertigkeit von beruflicher und akademischer Bildung bei, sondern es verbessert auch die Qualität und die Perspektiven unserer jungen Auszubildenden. Geht es nach dem vorliegenden Antrag, so soll die Teilnahme von Azubis die internationalen Austauschprogramme wie Erasmus schwächen. Meine Damen und Herren, was ist denn das für ein verzerrtes Bild von einer modernen dualen Ausbildung? Das geht so nicht. ({7}) Die CDU/CSU Fraktion steht sehr klar für die Gleichwertigkeit von beruflicher und akademischer Bildung. Für uns gilt: Der Mensch fängt nicht erst beim Bachelor an. Aus voller Überzeugung unterstützen wir deshalb eine Fort- und Weiterbildung im Ausland für möglichst viele Berufsgruppen. Kommen wir zum Thema Schweiz. Von der eidgenössischen Seite konnte leider eine Zeit lang nicht mehr gewährleistet werden, dass alle internationalen Programmteilnehmer auch die Möglichkeit bekommen, für ihren Studienaufenthalt einzureisen. Hintergrund war ein Volksentscheid zur Einwanderung. Selbstverständlich ist es das gute Recht der Schweiz, zu entscheiden, wer in die Eidgenossenschaft einreisen darf. Dieser Zusammenhang war es aber, der dazu führte, dass die Schweiz nicht mehr am Erasmus-Programm teilnehmen konnte. Aber es gibt Hoffnung: Die Einreisebestimmungen für Studenten sind wieder mit dem Erasmus-Programm kompatibel, und es gibt in der Schweiz erhebliche Bemühungen, wieder in den Schoß von Erasmus+ zurückzukehren, sei es als Partnerland, sei es aber auch mit nationalen kompatiblen Programmen. Knackpunkt sind hier die Kosten. Von der Schweiz wird verlangt, dass sie sich wie die anderen EWR-Staaten gemäß ihrem Bruttoinlandsprodukt beteiligt. Beim Forschungsprogramm Horizon 2020 etwa akzeptiert die Eidgenossenschaft diese Bedingung inzwischen. Wir sehen darin ein sehr positives Anzeichen, dass auch die Verhandlungen zu Erasmus, die bald beginnen werden, für uns erfolgreich verlaufen können. ({8}) Verehrte Kollegen der AfD, Sie fordern in Ihren Anträgen grundsätzlich Dinge aus den vier Kategorien „unmöglich“, „erledigt“, „sinnlos“ und „verwerflich“. ({9}) Heute ist Ihnen daraus der perfekte, unverträgliche Cocktail gelungen: ({10}) Unmöglich war es, ein Land als Programmland bei Erasmus+ zu behalten, in das die Studenten nicht garantiert einreisen konnten. Erledigt, weil fest geplant, ist die Wiederaufnahme von Verhandlungen mit der Schweiz, die im Herbst kommen sollen. Sinnlos ist Ihre Forderung, dass die Bundesregierung europäische Verhandlungsergebnisse garantieren soll. Und verwerflich ist Ihr Wunsch, Erasmus+ mit dem Ausschluss von Azubis zu stärken. Wir lehnen daher Ihren Antrag ab. ({11})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion der FDP der Kollege Dr. Jens Brandenburg. ({0})

Dr. Jens Brandenburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erasmus ist weit mehr als ein Bildungsaustausch. Es steht für Weltoffenheit, gemeinsame Erfahrungen, persönliche Reife, das Erlernen einer neuen Sprache, den kulturellen Blick über den eigenen Tellerrand hinaus und auch für neue Freundschaften, die entstehen. Diese interkulturelle Verständigung ist immer noch das beste Mittel gegen Vorurteile, Populismus und nationale Engstirnigkeit. ({0}) Die AfD behauptet in ihrem Antrag, der Gedanke, junge Menschen für Europa zu begeistern, verliere an Gewicht. Das Gegenteil ist doch richtig: In Zeiten, in denen Rechtspopulisten wie Sie Europa madig reden und unser Land in eine nationale Isolation führen wollen, brauchen wir nicht weniger, sondern mehr europäischen Austausch. ({1}) Sie haben eben behauptet, Herr Kleinwächter, dass Sie – angeblich – hinter Erasmus stehen. Wenn man Ihren Antrag und auch Ihr Verhalten der letzten Jahre hier im Parlament anschaut, erkennt man, dass Sie Erasmus-Mittel kürzen wollen. Das ist also eine Mogelpackung, was Sie zumindest in der Überschrift vorlegen. ({2}) Wir wollen die Erasmus-Mittel ausbauen, heute mehr denn je. Genau dafür sollte sich auch die Bundesregierung in den europäischen Haushaltsberatungen einsetzen. Ich freue mich sehr, Herr von Abercron, dass auch die CDU/CSU-Fraktion diese Forderung unterstützt; denn auf unsere schriftlichen Fragen hat die Bundesregierung uns gegenüber jede Zuständigkeit an diesem Auftrag abgelehnt. Also schön, wenn wir da gemeinsam kämpfen. Der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union ist eine sehr schmerzhafte Zäsur. Zwei Drittel der jungen Briten haben ja gegen den Austritt, gegen den Brexit gestimmt. Man kann nur hoffen, dass kommende Generationen einmal die Chance ergreifen, sich wieder gemeinsamen mit uns in einer Europäischen Union zu vereinen. ({3}) Unter den Folgen des Brexits dürfen aber jetzt nicht diejenigen leiden, die den europäischen Gedanken weiter leben wollen. Lassen wir den Austausch mit Großbritannien also nicht abreißen! Für deutsche Erasmus-Studierende ist Großbritannien das drittwichtigste Gastgeberland. Auch umgekehrt kommen jedes Jahr über Erasmus viele junge Briten nach Deutschland. Lassen wir diese junge Generation nicht im Stich! Wir wollen, dass Großbritannien Programmland in Erasmus bleibt. ({4}) Nun klagen Sie von der AfD, gerade Herr Frömming – heute nicht anwesend –, so oft über Überakademisierung und eine Vernachlässigung der beruflichen Bildung. Jetzt beantragen ausgerechnet Sie, in Erasmus die sogenannte – Zitat – „Kerngruppe der Studenten“ als einzige Gruppe in den Blick zu nehmen. ({5}) Wenn es konkret wird, wollen Sie von der Gleichwertigkeit der beruflichen Bildung also nichts mehr wissen. Das ist heuchlerisch. ({6}) Da Sie so gerne in der Vergangenheit leben: Schauen Sie sich gerne die Tradition der Wandergesellen an. Die machen sich seit dem späten Mittelalter auf den Weg, um nach der Ausbildung ihren Horizont zu erweitern, von anderen zu lernen und die Welt zu entdecken. Diesen Gedanken sollten wir im modernen Europa wiederbeleben. ({7}) Formal steht Erasmus auch Azubis offen. Nicht einmal 3 Prozent der Azubis nutzen das. Es scheitert oft an bürokratischen Hürden, an Ansprache, Beratung, Lehrplänen in den beruflichen Schulen, auch an der Vermittlung von Partnerbetrieben. Deshalb sagen wir als Freie Demokraten: Wir brauchen das, was wir mit dem DAAD für Studierende haben, eine Art Rundum-sorglos-Paket für den Auslandsaufenthalt, auch für die berufliche Bildung. ({8}) Stärken wir Erasmus! Behalten wir Großbritannien als Programmland in Erasmus, und unterstützen wir die berufliche Bildung! Ein entsprechender Antrag der Freien Demokraten liegt dem Ausschuss bereits vor. Wir freuen uns sehr auf die Beratung. ({9})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion der SPD die Kollegin Ulrike Bahr. ({0})

Ulrike Bahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004246, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Gäste! Das Erasmus-Programm ist ein großer Schatz für Europa – durch meine bildungspolitische Brille gesehen sogar der größte und wertvollste der gesamten Europäischen Union. Jeder in das Programm investierte Euro ist gut angelegtes Geld. Das Programm bildet und prägt. Es lässt junge Leute über den Tellerrand schauen und schafft damit auch die Möglichkeit, hinter die Fassade zu blicken, die uns die Rechtspopulisten vorgaukeln wollen. ({0}) Die Rechtspopulisten stehen für vieles, aber nicht für ein offenes und geeintes Europa, wie Sie hier mit dem eingebrachten Antrag versuchen zu suggerieren. ({1}) Gut also, dass das Erasmus-Programm zu den Erfolgsgeschichten europäischer Bildungspolitik gehört. Gut, dass sich jedes Jahr Hunderttausende auf den Weg machen, um das bunte und vielfältige Europa kennenzulernen. Und es ist gut und richtig, dass das Europäische Parlament die Mittel für das neue Erasmus+-Programm nicht nur verdoppeln möchte, sondern sogar eine Verdreifachung anstrebt. Das unterstütze ich und auch die gesamte SPE-Fraktion im EU-Parlament. Ich bin verwundert, dass sich die Antragsteller um ein ausgewiesenes proeuropäisches Programm sorgen; denn es ist doch Ihre Partei, die eigentlich die EU verlassen möchte, ({2}) die mit dem Gedanken spielt, das Europäische Parlament aufzulösen und damit das einzige durch alle Europäerinnen und Europäer direkt gewählte Organ hinter sich zu lassen. Sie sind die Partei, die genau das Gegenteil von dem vorhat, wofür das Erasmus-Programm steht: ein offenes, freies und tolerantes Europa, das voneinander lernt. ({3}) Ich erkenne bei Ihnen vor allem Egoismen und Abschottung. Sie erschweren mit Ihrer Politik den interkulturellen Austausch, indem Sie Ressentiments schüren und das Programm exklusiv den Studierenden vorbehalten möchten. Es waren Ihre Abgeordneten, die am 31. Januar, dem Tag des Brexits, von einem „Freudentag für Europa“ gesprochen haben. Dass sich ausgerechnet Ihre Partei jetzt Sorgen macht über das proeuropäischste Programm überhaupt, finde ich, mit Verlaub, heuchlerisch. Sie wollen es schrumpfen. ({4}) Ich möchte meinen Blick auf ein anderes Problem lenken. Noch immer wird das Erasmus-Programm viel zu oft als Austauschmöglichkeit nur für Studierende gesehen. Das ist aber zu kurz gedacht. Auch Azubis oder junge Berufstätige haben die Möglichkeit, eine Erasmus-Förderung zu erhalten. Beide Gruppen sind in der Förderstatistik unterrepräsentiert. Gerade einmal 5,3 Prozent der Azubis sind 2017 für Ausbildungszwecke ins Ausland gegangen, und nur jeder Zweite hat dabei eine Erasmus-Förderung erhalten. Das ist zu wenig. Das müssen wir ändern. Wenn wir also von echter Gleichwertigkeit zwischen beruflicher und akademischer Bildung sprechen, ist es meiner Fraktion ein Anliegen, das Programm verstärkt an die Azubis zu tragen, hier gezielter zu informieren und auch die Betriebe von den Vorteilen eines Austausches zu überzeugen. Nur so kann ein gelebtes Europagefühl für alle entstehen. Herzlichen Dank. ({5})

Thomas Oppermann (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003820

Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Nicole Gohlke für die Fraktion Die Linke. ({0})

Nicole Gohlke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004041, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Das Erasmus-Programm ist ein Beitrag zum Zusammenwachsen Europas. Es ist ein Stück gelebte europäische Integration. Jedes Jahr profitieren Hunderttausende Studierende und zunehmend auch Auszubildende von der Unterstützung durch Erasmus+ und können mithilfe dieses Programms ins Ausland gehen und dort Erfahrungen sammeln. Eine wirklich gute Sache! Jetzt liegt uns ein Antrag der AfD vor, der sich angeblich um die Attraktivität des Erasmus-Programmes sorgt und sich für den Verbleib von Großbritannien und der Schweiz im Programm starkmacht, nachdem in Großbritannien mit Boris Johnson ein Rechtsautoritärer an die Regierung gekommen ist, ({0}) dessen Brexit-Politik auch das Erasmus-Programm in Schwierigkeiten bringt. Ich muss ehrlich sagen: Ich nehme Ihnen von der AfD Ihre Sorge um den europäischen Austausch und um Erasmus keine Sekunde lang ab. Keine Sekunde! ({1}) Ich denke, Ihre Rede, Herr Kleinwächter, hat das gerade noch einmal bewiesen. Ihr Herr Meuthen hat doch Boris Johnson gerade erst zum harten Brexit gratuliert mit den Worten „Make Britain great again!“, ({2}) in Abwandlung des Wahlkampfslogans von Donald Trump, der bekanntlich den Brexit mit allem, was darauf folgt, begrüßt und Europa als den größten Gegner der USA bezeichnet hat. ({3}) Sie haben sich im EU-Wahlkampf doch Nigel Farage als Unterstützung geholt, und Sie arbeiten europaweit mit Gruppen und Parteien zusammen, die sich ganz rechts außen verorten: mit Rassisten, mit Nationalisten und Sympathisanten von faschistischen Diktatoren. ({4}) Wenn Ihnen wirklich am internationalen Austausch gelegen wäre, dann müssten Sie sich für Verständigung einsetzen, für Respekt und für Solidarität. ({5}) Dann wäre es übrigens folgerichtig, sich für eine Aufstockung der Mittel des Erasmus-Programms einzusetzen und besonders diejenigen Gruppen in den Blick zu nehmen, die bislang bei der Erasmus-Förderung noch benachteiligt sind, wie die in beruflicher Ausbildung oder finanziell Schwache. Für diese Menschen interessiert sich der AfD-Antrag aber gar nicht. In Ihrem Redebeitrag gerade sprechen Sie auch noch von „Klasse statt Masse“ und meinen damit nur die Studierenden. ({6}) Das ist bezeichnend und wirklich entlarvend. ({7}) Dabei ist gerade beim Zugang zu Erasmus noch viel Luft nach oben, finden wir; denn Kindern ohne finanzstarken familiären Hintergrund reicht die Erasmus-Förderung in der Regel eben nicht aus, um den Auslandsaufenthalt tatsächlich stemmen zu können. Wer schon im Heimatland jobben muss, um überhaupt studieren zu können, dem reicht der Zuschuss nicht, um ins Ausland zu gehen. Da gibt es noch einiges nachzubessern; denn wir als Linke wollen, dass Auslandserfahrungen und kultureller Austausch allen möglich sind, und zwar unabhängig vom Geldbeutel der Eltern. ({8}) Die Schwierigkeiten, vor denen das Erasmus-Programm heute steht, haben ihren Grund auch in der rassistischen Demagogie und dem Nationalismus, den die AfD hier in Deutschland und ihre Verbündeten in anderen Ländern verbreiten. Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns das Erasmus-Programm weiter stärken und ausbauen ({9}) und damit zu einem Beitrag gegen Chauvinismus und Nationalismus machen. Vielen Dank. ({10})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Nicole Gohlke. – Schönen guten Abend, liebe Kolleginnen und Kollegen! ({0}) – Sind Sie überrascht? Warum sind Sie überrascht? Dass ich Sie so freundlich begrüße? Das mache ich immer. ({1}) Nächster Redner in der Debatte: Kai Gehring für Bündnis 90/Die Grünen. ({2})

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erasmus+ ist ein Erfolgsmodell, Europa ist ein Geschenk, und der AfD-Antrag ist eine pure Zumutung. ({0}) Eigentlich wäre damit alles gesagt; aber ich will mir ein bisschen mehr Mühe geben als dieser Dünnbrettbohrerantrag der AfD, der ja eine harmlose Überschrift hat, aber einen gefährlichen Inhalt. ({1}) Die AfD will Mittel für Erasmus+ dramatisch kürzen. Wir sind für eine drastische Erhöhung, für eine deutliche Aufstockung; denn unser Kontinent und die junge Generation leben und wachsen durch Austausch, Verständigung, Weltoffenheit. Das ist Ihnen ein Dorn im Auge. Uns ist das ein Herzensanliegen; denn Bildungsmobilität ist für alle da und nicht nur für einen erlauchten Kreis. ({2}) – Ja, das ist keine Kunst. Ihr Antrag ist eine Seite lang und wirklich das Papier nicht wert, auf dem er steht; aber ich setze mich damit ja auseinander. ({3}) – Ich habe ihn gelesen. Die Antieuropa-Fraktion Deutschlands, kurz AfD, ({4}) weint ja Krokodilstränen über den Brexit. Wie bigott ist das denn eigentlich? Ihre Brüder im Geiste haben den Brexit mit verursacht durch Lügen und Fake News. ({5}) Deshalb sind Sie an dieser Stelle als verlogen enttarnt. ({6}) Wir sagen: Partnerschaft und Kooperation, keine Rosinenpickerei, erfolgreiche Brexit-Verhandlungen und dass die junge Generation dabei nicht bestraft werden darf. ({7}) Kommen wir zum Heftigsten in Ihrem Antrag. Bildungsaustausch will die Antieuropa-Fraktion Deutschlands, kurz AfD, auf „ambitionierte Studenten“ reduzieren. Ich finde es skandalös, dass die AfD Studentinnen aus Erasmus offenkundig ausschließen will. ({8}) Das ist frauenfeindlich; denn es geht eben auch um Studentinnen. ({9}) Frauen und Männer sind selbstverständlich gleich viel wert und haben auch gleich viel Talent. ({10}) Es ist im Übrigen auch skandalös, dass die AfD – lesen Sie Ihren eigenen Antrag – Azubis und Schülerinnen und Schüler aus Erasmus+ ausschließen will. Ja, wie elitär ist das denn? Das ist ja unglaublich! ({11}) Das ist ein Affront gegen Auszubildende. Das ist akademisch elitär und engstirnig. Wir wollen, dass unterrepräsentierte Gruppen den Weg ins europäische Ausland finden. ({12}) Denn Austausch öffnet in der Regel Horizonte – vielleicht nicht bei Ihnen, aber bei den allermeisten Menschen –, beschert teilweise sogar privates Glück. Beides ist der AfD suspekt. ({13}) Seit dem Start von Erasmus sind mehr als 1 Million transnationale Erasmus-Babys geboren – welch ein Graus für die völkisch-nationalistischen Blut-und-Boden-Politiker. ({14}) Welch ein Glück für Europa und die Zukunft Europas. ({15}) Der Namensgeber des Erasmus-Programms würde den AfD-Antrag mit großer Begeisterung ablehnen, und wir werden das auch tun. Vielen Dank. ({16})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Kai Gehring. – Nächste Rednerin: Ronja Kemmer für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Ronja Schmitt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004617, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Das Semester in Schweden war fachlich, sprachlich, aber auch für die persönliche Entwicklung eine der besten Entscheidungen, die ich bis dato getroffen habe.“ So oder so ähnlich lautete der letzte Satz in meinem Erfahrungsbericht über das Erasmus-Semester in Schweden. Und so wie mir ging es ganz vielen anderen Kommilitoninnen und Kommilitonen, die das wahrscheinlich in ihren Erfahrungen auch genauso bestätigen würden. Und deswegen sind das Erasmus-Programm und seine Vorgänger nicht ohne Grund mitunter das erfolgreichste Programm innerhalb der Europäischen Union; denn der Austausch, der Sprachenerwerb, die vielen Themen werden auch in Zukunft eine Rolle spielen. Ja, wir leben heute in einer digitaleren, in einer vernetzteren Welt. Aber genau das, die persönliche Erfahrung im Austausch mit anderen, im Ausland zu leben, in Kontakt zu treten, woanders zu studieren, dort auch die Sprache zu lernen, kann nicht ersetzt werden, und das wollen wir weiter stärken; dafür stehen wir als Unionsfraktion. ({0}) Natürlich spielt es, wie gesagt, auch eine wichtige Rolle, im Studium andere Dinge zu lernen und Erfahrungen zu machen, gerade durch Diskussion und den persönlichen Austausch. Und das wollen wir weiterführen, auch trotz des Brexits, gerade auch mit Blick auf Großbritannien. Der Brexit hat natürlich nicht nur Auswirkungen auf das Erasmus-Programm; vielmehr geht es um das ganze Kapitel der Zukunft von Bildungs- und Forschungszusammenarbeit, das wir ganz grundsätzlich neu aufsetzen möchten und müssen. Deswegen ist es für uns auch entscheidend gewesen, dass wir der Bundesregierung hier ein entsprechendes Mandat für die Verhandlungen erteilt haben. Wir haben das deswegen getan, weil wir davon überzeugt sind, dass der Bereich Bildung und Forschung eine europäische Koordinierung und Förderung braucht; auch das halten wir in höchstem Maße für sinnvoll. Nun aber direkt zu Ihrem, ich sage mal, Antrag, auch wenn es eigentlich das Wort fast nicht wert ist. ({1}) Es ist ja nicht so, dass die Attraktivität des Erasmus-Programmes wegen des Brexits von heute auf morgen irgendwie hinfällig wäre. Das ist absoluter Quatsch. In erster Linie – das muss man leider an dieser Stelle noch einmal sagen – haben sich die Briten mit dieser Entscheidung ins eigene Knie geschossen. ({2}) Dass aber gerade Sie jetzt hier auftreten und Krokodilstränen weinen, wo Sie doch genau diese Entscheidung damals bejubelt und beklatscht haben, ({3}) ist an Heuchelei – das wurde schon oft gesagt – nicht zu überbieten. ({4}) Wenn wir darüber sprechen, wie Programmgenerationen von Erasmus weiterentwickelt werden können – das müssen wir natürlich diskutieren –, dann reden wir doch mal über positive Aspekte, zum Beispiel darüber, wie wir darüber hinausgehend ein Europa-Stipendium entwickeln können, das vielleicht nicht nur ein Semester, sondern ein ganzes Studium im Ausland fördert. ({5}) Sprechen wir darüber, dass wir natürlich Semesterzeiten harmonisieren müssen, dass die Hochschulen mit der Anerkennung von Leistungen, die im Ausland erworben wurden, vorankommen müssen. Das sind wirklich Themen, um die wir uns kümmern müssen. Von alldem ist in Ihrem Antrag natürlich nichts zu finden. ({6}) Es bleibt ein zentraler Punkt – auch der wurde schon mehrfach angesprochen, aber ich komme daran einfach nicht vorbei –: Es bleibt absolut richtig – wir wollen die Unterstützung sogar ausbauen –, dass Berufsschüler und Azubis künftig natürlich auch von diesem Austausch profitieren. ({7}) Dass gerade Sie, wo Sie uns immer vorwerfen, wir würden – angeblich – zu wenig für die berufliche Bildung tun, sich hierhinstellen und diesem Personenkreis die Förderung untersagen wollen, ({8}) also mit Verlaub: Das ist falsch, das ist ungerecht, aber es passt eben in Ihr Weltbild, das einer Abschottung gleichkommt. ({9}) Eine Frage bleibt dann am Ende noch offen. Herr Erasmus von Rotterdam ist heute Abend schon mehrfach angesprochen worden, und auch da ist Ihre Widersprüchlichkeit kaum zu überbieten. ({10}) Gerade Sie, die den Bologna-Prozess seit jeher kritisieren, eine erfolgreiches EU-Programm schlechtreden, haben sich diesen kosmopolitischen Denker als Namensgeber für Ihre Stiftung ausgesucht. ({11}) Das ist ein Widerspruch, auch den lassen wir Ihnen so nicht durchgehen; denn der Rest dieses Hauses steht für einen freien Europäischen Hochschulraum, für den Ausbau von Erasmus, aber eben für alle: für Studenten wie für diejenigen in der beruflichen Ausbildung. Dieses Programm ist Dünger für Toleranz, Dünger dafür, dass man miteinander ins Gespräch kommt, sich austauscht. Das ist der beste Unkrautvernichter gegen die Wurzeln des Rechtspopulismus. Deswegen werden wir Erasmus auch weiterhin stärken. ({12})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Ronja Kemmer. – Der letzte Redner in dieser Debatte: Dr. Karamba Diaby. ({0})

Dr. Karamba Diaby (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004259, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Was hat das Persönlichkeitsmodell „Big Five“ mit Erasmus zu tun? Ich finde, sehr viel. Es gibt fünf Persönlichkeitsdimensionen: emotionale Stabilität, Geselligkeit, Offenheit, Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit. Studien zeigen deutlich: Bereits wenige Monate im Ausland beeinflussen die Persönlichkeit und machen die Teilnehmenden unter anderem offener für neue Erfahrungen und neue Ideen. Das wird auf die neuen internationalen Kontakte zurückgeführt. Wie Sie alle wissen, erlebt Europa seit einigen Jahren ein politisches Erdbeben. Die national-radikalen Kräfte sind auf dem Vormarsch. Gerade in dieser Zeit ist es wichtig, dass wir den Austausch, den Dialog und das gemeinsame Lernen und Forschen fördern. ({0}) Das Erasmus-Programm fördert seit 32 Jahren Studienaufenthalte und Praktika in 33 Ländern – mit insgesamt über 9 Millionen Geförderten. In Deutschland nutzen das Erasmus+-Programm aktuell circa 100 000 Menschen. Ich bin froh darüber, dass wir die Zahl der am Erasmus+- Programm Teilnehmenden auf 12 Millionen verdreifachen wollen. Natürlich stellt es eine Zäsur dar, dass Großbritannien aus der Europäischen Union ausgeschieden ist. Wir arbeiten aber daran, dass die guten wissenschaftlichen Beziehungen und der Dialog nicht darunter leiden werden. Die Zusammenarbeit mit Großbritannien in Sachen Erasmus+ sollte weitergeführt werden, doch die Entscheidung liegt nicht allein bei uns. Liebe Kolleginnen und Kollegen, am Anfang habe ich davon gesprochen, welche positiven Folgen ein Aufenthalt im Ausland auf die Persönlichkeit hat. Ich glaube, dass ein Aufenthalt im Ausland auch für einige hier in diesem Hohen Hause eine gute Idee wäre. ({1}) Ich glaube, wir brauchen in unserer Zeit mehr denn je Offenheit. Das Erasmus+-Programm trägt hervorragend dazu bei; fördern wir es also weiter. Danke schön. ({2})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Diaby. – Ich schließe die Aussprache.

Dr. Jürgen Martens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004816, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ja, zu im Verhältnis zu früheren Sitzungen nicht ganz so später Stunde – es hätte noch schlimmer kommen können; das muss man sagen – kommt das Beste wie üblich zuletzt. ({0}) Es folgt eine ernstzunehmende Debatte; denn das Strafrecht ist – so wird es jedenfalls genannt – das schärfste Schwert des Rechtsstaates, und entsprechend sorgsam sollten wir mit seiner Anwendung sein. ({1}) Allerdings: Der Grundsatz, das Strafrecht sei Ultima Ratio staatlichen Handelns, wird vom Gesetzgeber, so scheint es uns, schon lange nicht mehr beachtet. Wir häufen fortlaufend neue Strafvorschriften an, ohne den Nachweis ihrer Erforderlichkeit zu verlangen. Und wir verzichten auf eine fortlaufende Überprüfung des Normenbestandes dahin gehend, ob die bestehenden Vorschriften geänderten Bedingungen im gesellschaftlichen Leben noch entsprechen. Was 1870 oder 1970 strafwürdig war, ist es heute oft nicht mehr. Die Majestätsbeleidigung ist gestrichen worden, die Strafbarkeit homosexueller Handlungen auch. Die Gotteslästerung ist noch da. Die Internetkriminalität war 1870 eher noch unterentwickelt, und so brauchten wir neue Regelungen. Es gibt aber gleichwohl Regelungen, die überholt worden sind, wie der Scheckkartenmissbrauch oder die Nachbildung von Halbleitertopografien, meine Damen und Herren. ({2}) Ohne Evaluierung des Normbestandes entstehen also Wertungswidersprüche, und das ist nicht harmlos. Solche Wertungswidersprüche wecken nämlich Zweifel daran, ob das Strafrechtssystem insgesamt noch als gerecht betrachtet werden kann. Ein klassischer Wertungswiderspruch ist das Zuparken eines Behindertenparkplatzes in der Innenstadt – das ist eine Ordnungswidrigkeit, wie wir alle wissen – und das Schwarzfahren in der Straßenbahn; das ist eine Straftat. Diesen Wertungswidersprüchen müssen wir nachgehen. Unsere Strafjustiz – so wird immer wieder beklagt –, ist überlastet. Viele Verfahren werden geführt ohne Sanktionsentscheidung, aber gleichwohl verbrauchen diese Verfahren ein enormes Maß an personellen und sachlichen Ressourcen. Wir wollen, dass sich Strafrecht und Strafverfolgung auf erhebliches Unrecht konzentrieren, um dort mit der gebotenen Schnelligkeit, Gründlichkeit und Wirksamkeit zu handeln. ({3}) Wenn wir das Strafrecht als wirksames Mittel zur Bekämpfung von erheblichen Straftaten erhalten wollen, dann müssen wir eben den Normbestand überprüfen. Eine schlichte Fortsetzung der bisherigen Strafrechtspolitik wäre auch schon mit Blick auf die Ressourcen der Strafjustiz nicht wirklich verantwortbar. Der Weg der unreflektierten, inflationären Strafrechtsgesetzgebung und der damit verbundenen Fehlleitung von Ressourcen ist sogar für den Rechtsstaat insgesamt gefährlich; denn hier kann bei Bürgern der Eindruck entstehen, dass einerseits die Übertretung von Strafnormen folgenlos bleibt, während andererseits Taten, die allgemein als strafwürdig empfunden werden, nicht mit dem erforderlichen Nachdruck verfolgt werden. ({4}) Das führt zu einer Bedeutungserosion des Strafrechts, der wir als Rechtsstaatspartei entgegentreten wollen. Anders gesagt: Verbote auszusprechen, ist einfach; das ist billig, das kostet nur die Druckerschwärze für den Druck des Gesetzblatts. Verbote durchzusetzen, erfordert Ressourcen, und davon haben wir nicht unbegrenzt viele. Wir müssen uns also mit der Frage auseinandersetzen, welche Normen wir brauchen, welche unverzichtbar sind und wie wir sie durchsetzen wollen. Mit diesem Antrag wollen wir der Bundesregierung den Auftrag erteilen, die notwendige Überprüfung zu beginnen. Mögliche Ansätze zeigen wir in diesem Antrag reichlich auf. Ich freue mich auf eine, so hoffe ich doch, sachliche Diskussion über diesen Antrag. Vielen Dank. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Martens. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Axel Müller. ({0})

Axel Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004829, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit dem etwas sperrigen Titel Ihres Antrags legen Sie uns vonseiten der FDP-Fraktion einen Antrag vor, der aus unserer Sicht für eine Strafrechtsreform nicht geeignet ist und auch nicht die richtigen Ansätze dafür bietet; denn er enthält Punkte, denen eine klare Absage zu erteilen ist. Zum Ersten. Sie kritisieren, dass das Strafrecht seiner Funktion als letztes Mittel zur Durchsetzung von Recht und Ordnung nicht mehr gerecht werde, weil es sich mit Dingen beschäftige, die keiner strafrechtlichen Regelung oder Verfolgung mehr bedürfen. Die Hauptkritik ist, dass sich die Justiz mit der Verfolgung von Bagatelldelikten aufhalte und die Veränderung der gesellschaftlichen Wirklichkeit zudem einzelne Strafrechtsnormen reformbedürftig machen würde. Zwei Punkte greife ich heraus. Der erste Punkt ist: Sie wollen die Strafbarkeit des Ladendiebstahls – wie auch andere in diesem Hause – im Bagatellbereich abschaffen. Die Grenze setzen Sie bei etwa 50 Euro an. Das ist immerhin etwa ein Achtel dessen, was ein Hartz-IV-Empfänger monatlich zur Verfügung hat, also nicht ganz wenig. Das Zweite: Sie wollen die Leistungserschleichung, das im Volksmund als Schwarzfahren bezeichnete kostenlose Benutzen öffentlicher Verkehrsmittel, für straflos erklären. Stattdessen sollen beide Delikte – Diebstahl wie Schwarzfahren – als Ordnungswidrigkeiten geahndet werden, so wie Falschparken, eine Geschwindigkeitsüberschreitung oder das Zuparken eines Behindertenparkplatzes – um Ihr Beispiel aufzugreifen. Der zweite Punkt erscheint mir noch bedenkenswerter. Andere Strafrechtsnormen, wie beispielsweise § 166 StGB – von Ihnen als Gotteslästerung bezeichnet –, der dem Schutz von Religion und Weltanschauung dient, wollen Sie zur Disposition stellen, da er nicht mehr zeitgemäß sei. Das kommt aus unserer Sicht zumindest in Teilen einer Kapitulation des Rechtsstaates gleich. ({0}) Sie verschieben die Werteordnung unseres Rechtssystems in bedenklicher Art und Weise, da Sie den Schutz von Eigentum und Vermögen deutlich reduzieren. Sie verkennen mit Ihrer angekündigten Abschaffung des § 166 StGB aus unserer Sicht die Bedeutung dieser strafrechtlichen Norm. Sie schützt die Glaubensfreiheit positiv wie negativ und nicht den Inhalt des religiösen Bekenntnisses, das von einem säkularen Staat nicht geschützt wird. Gerade in Zeiten wie diesen eine strafrechtliche Verkürzung im Bereich der Glaubensfreiheit vorzunehmen, ist für uns das falsche Signal, der falsche Ansatz. Wir brauchen auch die Mittel des Strafrechts. Das ist keinesfalls gesellschaftlich überholt, sondern aktueller denn je. ({1}) Meine Damen und Herren, auch sonst hinkt Ihr Antrag den aktuellen Entwicklungen und Verbesserungen für die Justiz, die die Große Koalition geschaffen hat, hinterher. Sie sagen, die Justiz sei überlastet, weil sie sich mit den Massenverfahren, wie Ladendiebstahl und Leistungserschleichung, herumschlagen müsse. Das führe dazu, dass Prozesse nicht in der gebotenen Geschwindigkeit durchgeführt werden könnten. Untersuchungsgefangene müssten beispielsweise wegen Verstoßes gegen den Beschleunigungsgrundsatz freigelassen werden. Dabei übersehen Sie völlig, dass diese schwere Kriminalität bei den Landgerichten behandelt wird und die Bagatelldelikte dort gar nicht angesiedelt sind. Gerade die Landgerichte haben wir aber mit dem Pakt für den Rechtsstaat deutlich gestärkt. Wir haben eine umfassende Reform des Strafprozessrechts, gepaart mit zahlreichen Elementen der Verfahrensbeschleunigung, gegen den Widerstand der FDP durchgesetzt. Personell findet derzeit ein Stellenaufwuchs in Höhe von 2 000 Stellen bei den Richtern und Staatsanwälten statt. Das ist genau die Zahl, die Sie als fehlend monieren. Ich hatte vor Kurzem die Gelegenheit, mit ehemaligen Kollegen aus dem Bereich der Justiz ins Gespräch zu kommen. Die waren voll des Lobes für diesen Pakt für den Rechtsstaat.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Herr Müller, erlauben Sie eine Frage oder Bemerkung?

Axel Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004829, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Selbstverständlich, Herr Professor Martens.

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Gut, Herr Dr. Martens.

Dr. Jürgen Martens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004816, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, sehr geehrter Herr Kollege. – Eine Frage zu den 2 000 Stellen, die ausgeschrieben worden sind. Von denen sind 200 bei der Bundesanwaltschaft, also nicht bei den Gerichten, zu verorten. Wie viele Stellen sind bei den Gerichten zusätzlich geschaffen worden?

Axel Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004829, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank für die Frage. – Nach unseren derzeitigen Informationen über 1 200. Ich sage Ihnen auch, was im Land Baden-Württemberg geschehen ist. Ich habe mich heute dort noch einmal erkundigt. Bislang wurden seit Amtsantritt unseres derzeitigen Justizministers 700 neue Stellen geschaffen, aktuell 251 Stellen für Richter und Staatsanwälte. Derzeit läuft eine weitere Einstellungsrunde. Allein an meinem früheren Landgericht sind innerhalb weniger Monate vier neue Richterstellen geschaffen worden. ({0}) Sie nehmen mir im Grunde genommen den weiteren Teil meiner Rede vorweg. ({1}) – Das würde ich an dieser Stelle nicht leugnen wollen, allerdings angeführt von einem CDU-Justizminister, Frau Kollegin Brantner. ({2}) In meinem Wahlkreis gab es im Übrigen im letzten Jahr 50 Haftsachen bei den Landgerichten. In keinem einzigen Fall wurde die sechsmonatige Frist verletzt. In allen Fällen konnte innerhalb der sechsmonatigen Frist, die für Untersuchungshaftgefangene gilt, binnen derer eine Hauptverhandlung durchzuführen ist, die Hauptverhandlung begonnen werden. Im gesamten Oberlandesgerichtsbezirk Stuttgart ging die Zahl der vorgelegten Akten wegen einer Verlängerung der Haftfortdauer über die Sechsmonatsfrist hinaus aufgrund von § 162 StPO zurück. Das ist die niedrigste Zahl seit dem Jahr 2009. Das mag in anderen Bundesländern anders sein. Justiz ist aber Aufgabe der Länder, und die müssen die Justiz organisatorisch und personell so ausstatten, dass sie auch arbeiten kann. Es gibt nicht zuletzt von Gesetzes wegen bei Gerichten die Möglichkeit, in eigener Verantwortung Abhilfe zu schaffen. Wir haben das mit einer dritten Strafkammer getan. Auch bei der Bagatellkriminalität hat die Staatsanwaltschaft bei der Entscheidung zwischen Opportunitätsprinzip und Legalitätsprinzip die Möglichkeit, sich dafür zu entscheiden, das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung abzulehnen und beispielsweise eine Verfahrenseinstellung unter Auflagen durchzuführen. Im Ergebnis komme ich zum Schluss – ich habe den Antrag sehr ernst genommen, Herr Professor Martens –, dass es für uns keinen Grund gibt, Ihrem Antrag zu folgen. Vielen Dank. ({3})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Axel Müller. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Thomas Seitz. ({0})

Thomas Seitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004891, Fraktion: Alternative für Deutschland (AfD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Dieser Antrag ist typisch für eine FDP, die sich gerne in der Rolle des Erneuerers sonnt, aber vor allem heiße Luft produziert. Und hoffentlich haben Sie sich gründlich überlegt, was Sie tun werden, falls Ihr Antrag unsere Zustimmung findet. Sie wollen die Bundesregierung auffordern, die Strafnormen des StGB wie des Nebenstrafrechts auf eine Modernisierung zu prüfen, mit dem hehren Ziel, die Justiz zu entlasten. Liebe Kollegen von der FDP, in Thüringen hätten Sie ganz selbstständig alle Strafnormen des Nebenstrafrechts überprüfen können. ({0}) Dazu hätte allerdings gehört, dass die Vertreter Ihrer Partei die übertragene Regierungsverantwortung auch annehmen, anstatt sang- und klanglos abzudanken. ({1}) Zurück zum Antrag. Wie es sich für einen Schaufensterantrag gehört, werden zahlreiche Problemfelder angeführt, ohne selbst klar Position zu beziehen. Dafür sollen andere liefern: die Regierung und eine Expertengruppe. Werte Kollegen, das ist so mittelmäßig und ideenlos. Reicht es denn bei Ihnen nicht einmal mehr für Populismus? ({2}) Stattdessen maßen Sie sich an, sich hier zum Verteidiger der Freiheitsrechte der Bürger aufzuspielen, ausgerechnet in der Woche, in der auch Ihre Vertreter in Thüringen dazu beigetragen haben, einen Stalin-Verehrer aus der Mauermörder-Nachfolgepartei zum Ministerpräsidenten zu küren. ({3}) Die Verweigerung der Wahrnehmung der Abgeordnetenrechte durch Ihre Vertreter hat genau das bewirkt. ({4}) – Es gibt auch das Unterlassen. Stellen Sie eine Zwischenfrage, wenn Sie möchten. ({5}) Wenn Sie wiederholt das Nebenstrafrecht ansprechen, dann zeigen Sie uns nur, dass Sie von der Praxis keine Ahnung haben. Eine Streichung des gesamten Nebenstrafrechts mit Ausnahme des BtMG würde eine Staatsanwaltschaft mit 30 bis 35 Vollzeitstellen in der Größenordnung von etwa 3 bis 4 Amtsanwälten entlasten. Wenn wir aber die Strafbarkeit des Fahrens ohne Fahrerlaubnis sowie die Strafbestimmungen des Aufenthalts- und Ausländerrechts beibehalten – dafür steht die AfD uneingeschränkt; denn illegal bleibt illegal –, reduziert sich die Entlastung vielleicht auf einen Amtsanwalt. Wenn es absehbar keinen Kahlschlag, sondern nur eine stellenweise Bereinigung gibt, dann ist ein Entlastungseffekt überhaupt nicht mehr messbar. Historische überholte Tatbestände ohne tatsächlichen Anwendungsbereich kann man gerne streichen. Die juristischen Fachverlage freut es. Nur geht dann die Entlastung der Justiz gegen null. Also wieder einmal viel Lärm um nichts. ({6}) Deutlich wird in Ihrem Antrag, dass Sie kein Herz für Bagatelldelikte haben, also sozialschädliche Verhaltensweisen wie Ladendiebstahl oder Schwarzfahren gerne straflos hätten. Angesichts Ihrer rasanten Annäherung an das linke Spektrum ist das zumindest konsequent. ({7}) Bei Ihrem Marsch nach links hätten Sie aber bemerken können, dass wir das Thema Schwarzfahren und dazu passend das Thema Ersatzfreiheitsstrafe in dieser Legislatur bereits ausgiebig behandelt haben. Dazu ist einfach alles gesagt. Dazu braucht man keine neuen Experten zu hören. Der rechtstreue Bürger hat auch bei der FDP wieder einmal das Nachsehen: der brave und anständige Bürger oder dann im Grunde genommen der dumme Bürger, derjenige, der vor dem Fahrtantritt ein Ticket löst, auch wenn sein Budget knapp ist, oder der sich in seinen Ausgaben beschränkt, wenn am Ende des Einkommens noch zu viel vom Monat übrig bleibt. Genauso wenig wie man Altersarmut mit einer Erhöhung des Flaschenpfands beseitigt, kann man ein zu geringes Lohnniveau und zu hohe Steuern und Abgaben dadurch korrigieren, dass der Diebstahl geringwertiger Sachen straflos bleibt. Wer sich asozial verhält – Straftatbestände beschreiben nun einmal asoziales Verhalten –, ändert sein Verhalten nicht dadurch, dass man ihn verhätschelt. Nicht Straffreiheit, sondern eine konsequente Sanktionierung braucht es. Diese Sanktionierung findet in unserer Justiz statt und äußert sich in Verfahrenseinstellungen wegen geringer Schuld. Der Ersttäter eines Ladendiebstahls braucht im Regelfall keine Verurteilung, wenn er allein durch die Aufdeckung der Tat und die Einleitung des Ermittlungsverfahrens hinreichend beeindruckt ist. Bei schwereren oder wiederholten Taten dagegen ist die konsequente Anwendung des Strafrechts unerlässlich. Wir sind gespannt, ob Sie Ihren Antrag noch nachbessern werden. Sollten wir dann aber zustimmen, kann auch die Bundeskanzlerin das nicht mehr rückgängig machen. Vielen Dank. ({8})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Dr. Johannes Fechner. ({0})

Dr. Johannes Fechner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004270, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste auf den Tribünen! Die FDP schlägt eine Überprüfung einiger Straftatbestände vor. Das ist ein legitimer Ansatz. In der Tat kann man sich, wenn Statistiken zeigen, dass Straftatbestände keine Anwendung mehr finden, darüber unterhalten, diese abzuschaffen. Eines will ich aber klar sagen: Es ist das Kernelement einer wehrhaften Demokratie und eines starken Rechtsstaates, dass die Normen, die wir uns hier geben, konsequent durchgesetzt werden. Deswegen ist es richtig, dass wir in der nächsten Woche Straftatbestände verschärfen, um gegen die rechten Attacken im Netz und auch in der analogen Welt etwas tun zu können. Das ist das Zeichen einer wehrhaften Demokratie und eines starken Rechtsstaates. Da macht es Sinn. ({0}) Wenn in Krankenhäusern immer häufiger das medizinische Personal attackiert wird oder wenn Kommunalpolitiker üblen Anfeindungen im Netz ausgesetzt sind, wenn Beleidigungen millionenfach über das Internet, über die sozialen Netzwerke verbreitet werden oder wenn engagierte Bürger mit Mord- oder Vergewaltigungsandrohungen überzogen werden, dann muss der starke Rechtsstaat Flagge zeigen. Das können wir nicht dulden. Deswegen müssen wir die Verschärfung der Straftatbestände nächste Woche auf den Weg bringen. ({1}) Nun bringen die besten Gesetze nichts, wenn wir zu wenig Personal in den Polizeirevieren und in den Gerichten haben. Deswegen ist es in der Tat notwendig, dass der Pakt für den Rechtsstaat umgesetzt wird, dass die 220 Millionen Euro von den Ländern tatsächlich für 2 000 zusätzliche Richterinnen und Richter sowie Staatsanwältinnen und Staatsanwälte in die Hand genommen werden. Eines kann nicht sein, nämlich dass wir Personalengpässe nutzen, um Straftatbestände oder Normen abzuschaffen. Nein, wir müssen in Personal investieren, um unsere freiheitliche Gesellschaft zu verteidigen. Ich sage das so deutlich, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) In der Tat: Ich kann dem FDP-Antrag in einigen Punkten zustimmen. ({3}) Wir sollten eine strafrechtliche Entrümpelungsaktion starten und uns anschauen, ob ein einzelner Straftatbestand tatsächlich noch genutzt wird. Aber ich finde: Sie haben es sehr allgemein formuliert. Sie hätten schon etwas präziser sein können. Ich glaube, es wäre sinnvoller, wenn sich Rechtspolitiker der vernünftigen Fraktionen treffen und eine solche strafrechtliche Entrümpelungsaktion vorbereiten würden. Ich glaube, das würde eher zum Ziel führen. Ich möchte ausdrücklich daran erinnern: Wir haben in dieser Wahlperiode bereits Straftatbestände abgeschafft, zum Beispiel die sogenannte Majestätsbeleidigung. Für die SPD-Fraktion kann ich sagen: Wenn wir schon dabei sind, Straftatbestände abzuschaffen, dann ist festzustellen: Es fehlt in Ihrer Liste einer, dessen Abschaffung, wie ich finde, überfällig ist. Wenn schwangere Frauen in schwierigen Situationen Informationen brauchen, dann müssen wir ihnen das schnell und einfach ermöglichen, auch um Rechtssicherheit für die Ärztinnen und Ärzte zu schaffen. ({4}) Lassen Sie uns, wenn es um die Abschaffung von Straftatbeständen geht, mit dem § 219a StGB beginnen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({5})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Dr. Johannes Fechner. – Nächster Redner: für die Fraktion Die Linke Friedrich Straetmanns. ({0})

Friedrich Straetmanns (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004907, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der FDP-Fraktion, ein Strafrechtsreformgesetz vorzubereiten, klingt durchaus interessant. Wir sollten eine solche Reform zum Anlass nehmen, uns noch einmal vor Augen zu führen, was wir als Gesellschaft mit dem Strafrecht eigentlich wollen. Schaut man in klassische und in soziale Medien, so bekommt man immer wieder den Eindruck, der Zweck sei die Befriedigung kollektiver Rachegelüste. Doch eigentlich muss es uns doch darum gehen, zu schauen, warum Menschen straffällig geworden sind und wie man in der Zukunft dafür sorgen kann, dass sie es nicht mehr werden. ({0}) Resozialisierung ist der Schlüssel zu einer friedlicheren Gesellschaft, und unter diesem Aspekt muss unser Strafrecht auf den Prüfstand. Wir teilen daher die Intention Ihres Antrages weitgehend. Am Strafrecht wurde durch die Regierungskoalition in den letzten Jahren erheblich herumgepfuscht. Ein Beispiel dafür, dass auch rechtstechnisch unsauber gearbeitet worden ist, ist die Strafbarkeit sogenannter Autorennen in § 315d Strafgesetzbuch. Den haben Sie von der Regierungskoalition so unbestimmt und weit gefasst, dass er jetzt durch ein Amtsgericht aus Baden-Württemberg dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt werden muss. ({1}) Anstatt innezuhalten und zu evaluieren, legt die Koalition eine Strafrechtsverschärfung nach der anderen vor. Das lehnen wir als Linke konsequent ab. ({2}) Meine Fraktion hat daher viele parlamentarische Initiativen unterbreitet. So sehen wir zum Beispiel eine Straffreiheit für das Fahren ohne Fahrschein, das sogenannte Schwarzfahren. Wir sind auch beim Cannabiskonsum nicht für eine Strafverfolgung, sondern dafür, den Gesundheitsschutz entsprechend auszubauen. Wir wollen die Lebensmittelretterinnen und Lebensmittelretter entkriminalisieren; denn in einer Gesellschaft des Überflusses muss es Straffreiheit für das sogenannte Containern geben. ({3}) Wir sind gleichfalls sehr darum bemüht, die Ersatzfreiheitsstrafe abzuschaffen. Unser Gesetzentwurf dazu sieht als Alternative die Verrichtung gemeinnütziger Arbeit vor. Für alle diese Punkte, gerade aber den letzten, gilt: Hier werden hauptsächlich ökonomisch schlechtergestellte Menschen zum Ziel der Strafverfolgung. Die Tatbestände sind insoweit für meine Fraktion und mich Ausdruck von Klassenjustiz und gehören abgeschafft. ({4}) Eine grundlegende Überarbeitung des § 211 Strafgesetzbuch – das ist der sogenannte Mordparagraf – halten wir ebenfalls für dringend angebracht. ({5}) Eine Kommission könnte hierbei durchaus hilfreich sein. Ich plädiere jedoch für eine politische Kommission, da dieses wichtige Thema auch politisch behandelt werden muss. Wir halten die Vorschläge des Deutschen Anwaltvereins zur Frage des Mordparagrafen, die Mordmerkmale mit den emotionalen und moralisch aufgeladenen Punkten zu streichen, für dringend diskussionswürdig und würden uns freuen, hier mit Ihnen in eine intensive Debatte einzutreten. Vielen Dank. ({6})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Friedrich Straetmanns. – Nächste Rednerin in der Debatte: Canan Bayram für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Canan Bayram (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004665, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Feststellungspunkte des Antrags der FDP haben unsere volle Unterstützung, lieber Herr Kollege Martens. Völlig richtig ist: Es fehlen vor allem eine Bestandsaufnahme und eine Wirkanalyse hinsichtlich der Änderungen im Strafverfahren der letzten 15 Jahre. Die vergangenen Wahlperioden waren geprägt von einer ausufernden, überwiegend symbol- und klientelpolitisch motivierten Strafrechtsgesetzgebung. Zwar hatte sich die Koalition in ihrem Koalitionsvertrag endlich erstmals evidenzbasierte Kriminalpolitik als Ziel gesetzt, aber Strafrecht ist für die Koalition weiter ein Allheilmittel. Auf die tatsächliche Wirkung kommt es nicht an. Was vor allem zu interessieren scheint, ist die politische Verkaufbarkeit. Jüngste Beispiele dafür sind die Forderung nach der Strafbarkeit der Verunglimpfung der europäischen Hymne oder die Forderung, Alltagsäußerungen von Jugendlichen auf dem Schulhof, etwa „Ich knall dir gleiche eine!“, als Bedrohung einzustufen. Das schießt weit über unser gemeinsames Ziel der Bekämpfung von Hass und Hetze hinaus. Strafverfolger und Gerichte werden sich bedanken. ({0}) Als Beispiel für unser Anliegen einer rationalen und effektiven Kriminal- und Sanktionspolitik, ({1}) für die Beschränkung des Strafrechts auf das Wesentliche und die Entlastung der Justiz: Die grüne Fraktion hat einen Gesetzentwurf erarbeitet, mit dem das Fahren ohne Fahrschein, das sogenannte Schwarzfahren, von einer Straftat zu einer Ordnungswidrigkeit herabgestuft wird. Von der Koalition wurde das bislang noch nicht unterstützt. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Ihr Vorschlag, eine Expertengruppe zur Strafrechtsreform einzusetzen, ist allerdings kaum hilfreich, eher etwas hilflos. ({3}) Beim Bundesjustizministerium liegen unaufgearbeitete Berichte von Reformkommissionen auf Halde, etwa zu den Tötungsdelikten, zur Strafprozessordnung oder zur Gesamtreform der Sexualdelikte. Da wäre eine weitere Expertengruppe eher eine Überforderung. Oder glauben Sie, dass wir zu dem Modernisierungsprojekt der audiovisuellen Dokumentation der Hauptverhandlung in dieser Legislaturperiode noch etwas Beschlussfähiges bekommen? – Ja, genau, ich auch nicht. Was wir eher bräuchten, wäre eine Art Therapieplan für die Strafrechtsmessies der Koalition. ({4}) Ich hätte da als probates Therapeutikum gegen den grassierenden Strafrechtspopulismus ({5}) einen Vorschlag, nämlich Thomas Fischers leicht verständliches Buch „Über das Strafen“ an die Mitglieder der Koalitionsfraktionen als Pflichtlektüre über die Osterferien zu verteilen. Es kostet 22,99 Euro, als E-Buch etwas weniger. ({6}) Vielleicht sollten wir hier sammeln, um die notwendige Grundausstattung für die Deckung der Kosten zusammenzukriegen. ({7})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Frau Bayram. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Alexander Hoffmann. ({0})

Alexander Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004304, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Ich will am Ende dieser Debatte versuchen, diese Debatte, die offensichtlich von Werbeblöcken überfrachtet ist, Kollegin Bayram, und die an mancher Stelle etwas ausufert, ein Stück weit zu ordnen. Zunächst einmal, Kollege Fechner, wenn Sie den § 219a StGB anbringen, dann – das muss ich Ihnen schon sagen – erklären Sie doch mal bitte, wie wir der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gerecht werden wollen, das zu Recht sagt: Ein Schwangerschaftsabbruch ist kein medizinischer Eingriff wie jeder andere, und ein Schwangerschaftsabbruch darf eben nicht kommerzialisiert werden. – Genau das hat sich doch in unserer Reform niedergeschlagen. Lange waren wir uns einig, und ich hätte mir gewünscht, dass Sie die Kraft haben, zu dieser Einigkeit zu stehen. ({0}) Ein paar Sätze zu dem FDP-Antrag. Er enthält ja durchaus richtige Aspekte. Es ist richtig, dass es im StGB veraltete Normen gibt, die man rausschmeißen kann. Es ist auch richtig, dass das Strafrecht immer Ultima Ratio sein muss und dass ein Verhalten nur dann unter Strafe gestellt werden darf, wenn es dauerhaft und nachhaltig Individualrechte oder die Rechte der Gesellschaft beeinträchtigt. Spätestens gemessen an diesem Aspekt muss man sagen, dass Sie in Ihrem Antrag die völlig falschen Schlüsse ziehen. Der Kollege Müller hat es angesprochen: Sie wollen den einfachen Diebstahl entkriminalisieren, zur Ordnungswidrigkeit machen, genauso wie das Schwarzfahren. Dazu muss man sagen: Man muss sich auch mit der Sozialverträglichkeit dieses Verhaltens beschäftigen. Natürlich, wenn ich den einzelnen Fall betrachte, dann kann ich sagen: Das ist ja kein Problem. – Aber de facto wird das im Ergebnis dazu führen – das erkläre ich nachher noch –, dass die Anzahl der einfachen Ladendiebstähle und die Anzahl der Schwarzfahrten in dem Moment eher zunehmen, wo Sie das zur Ordnungswidrigkeit degradieren. Dann haben Sie das Problem, dass die Solidargemeinschaft derjenigen, die den ÖPNV bezahlt nutzen, derjenigen, die im Laden Geld bezahlen, am Schluss auch noch den Schaden bezahlen muss, den diese Massendelikte verursachen. ({1}) Diese Fälle sind heute schon Massendelikte. Deren Anzahl würde steigen. Ich will Ihnen auch erklären, warum: weil diejenigen, die einfache Ladendiebstähle begehen, und diejenigen, die schwarzfahren, in der Regel Serientäter sind und in der Regel aus dem sozial schwachen Milieu kommen. ({2}) Wenn Sie daraus eine Ordnungswidrigkeit machen, dann wird es ein Bußgeld geben. Das Bußgeld ist am Ende des Tages aber nicht beitreibungsfähig. De facto ist das dann straflos. Wenn Sie es bei der Straftat belassen, dann haben Sie die Geldstrafe. Wenn die nicht beigetrieben werden kann, haben Sie die Ersatzfreiheitsstrafe. ({3}) Jetzt kann man natürlich sagen: Die JVAs sind ohnehin voll. Da gibt es aber – kleiner Werbeblock für Bayern – ganz tolle Initiativen – auch in anderen Bundesländern, aber die in Bayern sind natürlich ganz besonders gut –, zum Beispiel „Schwitzen statt Sitzen“, wo man die Geldstrafe abarbeiten kann. Der individualpräventive Charakter ist an der Stelle gewahrt. Hier vielleicht ein Hinweis: Das Argument, wir müssten etwas entkriminalisieren, weil die Justiz ausgelastet sei und die JVAs voll seien, ist für mich wirklich – Entschuldigung – das allerletzte Argument. Das wäre keine Effizienzsteigerung, sondern die Kapitulation des Rechtsstaats. ({4}) Ihr Antrag ist am Ende allein deswegen zu weit reichend – auch das will ich Ihnen vor Augen führen –, weil Sie schreiben, § 166 StGB – Strafbarkeit von Gotteslästerung – sei altbacken. Sie nehmen den Begriff „Gotteslästerung“. Ein Blick ins Gesetz hilft: Bis zur letzten Strafrechtsreform hieß der Paragraf noch so. „Gotteslästerung“ klingt halt besonders altbacken. Die aktuelle Bezeichnung ist ({5}) „Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen“. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie sich die Anzahl der Strafverfahren anschauen, muss man ehrlicherweise sagen: Gerade in der heutigen Zeit ist es richtig und wichtig, dass wir sehr genau ziselieren, wie man Glaubensrichtungen bezeichnen kann, wie man mit ihnen umgehen kann. Im jüngsten Fall hat jemand den Islam als Krebsgeschwür der Gesellschaft bezeichnet. Und so was wollen Sie als Ordnungswidrigkeit durchgehen lassen? Ich glaube nicht, dass das dem gesellschaftlichen Frieden förderlich ist. ({6}) Genauso, liebe Kolleginnen und Kollegen, verhält es sich beim § 167a StGB, Störung der Bestattungsfeier. Nur weil eine Norm im Strafrecht selten zur Anwendung kommt, kann ich doch nicht davon ausgehen, dass ich sie abschaffen kann. Entschuldigung, wer eine Bestattungsfeier stört, ({7}) der ist doch mindestens genauso schlimm, auch vom Unrechtsgehalt her, wie jemand, der jemand anders beleidigt. Daraus können Sie doch nicht allen Ernstes eine Ordnungswidrigkeit machen. ({8}) Deswegen geht Ihr Antrag vollkommen an der Sache vorbei. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({9})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Alexander Hoffmann. – Letzter Redner in der Debatte: Dr. Karl-Heinz Brunner für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Karl Heinz Brunner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004256, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Als letzter Redner ist es manchmal schon fast müßig, über einen Antrag zu sprechen. Er hat eigentlich einen guten Ansatz; es geht darum, unser Strafrecht, wie es sich derzeit darstellt, zu entschlacken. Lieber Kollege Martens, ich schätze Sie ausgesprochen; aber ich hätte gedacht, wenn man schon einen Antrag auf Entschlackung des Strafrechts macht, dann macht man ihn ein bisschen besser, insbesondere hinsichtlich der Beispiele. Sie unterstellen in diesem Antrag beispielsweise, dass durch eine Entschlackung und Überführung von Straftatbeständen in das Bußgeldverfahren eine große personelle Entlastung zum Tragen käme. Sie nennen auch PEBB§Y, das Personalerhebungsmodell, das in allen 16 Bundesländern durchgeführt wird, und bitten um eine Auswertung. Sie würden feststellen, dass, wenn bei PEBB§Y auch das Personal des Innenministeriums, also die Polizeidienststellen, mit einbezogen würden, eine Verlagerung eines Straftatbestands in den Ordnungswidrigkeitenbereich nur ein ganz minimales Einsparpotenzial beim Personal hat; denn wenn der Tatbestand als solches verwerflich und ahndungsfähig ist, dann muss zuerst die Polizei vor Ort ermitteln, ganz gleich, ob das eine OWI oder eine Straftat ist. Das gleiche Personal ist erforderlich, der gleiche Sachverhalt muss ermittelt werden, nur die Rechtsfolge als solche ist eine andere. Und wir wissen, dass eine hohe Anzahl von Bußgeldverfahren – das kann der Kollege aus Bayern bestätigen – bei den Staatsanwaltschaften und letztendlich bei den Gerichten landen, und zwar als Einspruch gegen den Bußgeldbescheid. Auch das muss eingepreist werden. Ich sage, viele der Beispiele, mit denen Sie ein Entschlacken des StGB fordern, sind ungeeignet; der Kollege Fechner hat es richtigerweise gesagt. Wären wir an den § 219a StGB gegangen, hätte ich gesagt: Okay, darüber können wir debattieren; das ist ein vernünftiger Vorschlag. ({0}) Hätten Sie vorgeschlagen, § 211 StGB anzugehen oder das Strafgesetzbuch von all den nationalsozialistischen Ideologien, die noch darinstecken, zu entschlacken, hätte ich gesagt: Okay, das können wir mitmachen. – Aber Sie haben Bereiche wie den Scheckkartenmissbrauch angesprochen; Sie meinen hier wahrscheinlich nicht § 266, sondern § 266b StGB. Dieser bezieht sich natürlich nicht nur auf Scheckkarten, sondern auch auf die Nutzung moderner Zahlungsmethoden wie Apple Pay. Den Missbrauch, der in diesem Zusammenhang entsteht, wollen wir auf jeden Fall ahnden. Und wir sind mit Sicherheit der Auffassung, dass die Verschleppung in die DDR nicht mehr die oberste Priorität im Jahr 2020 hat; aber Verschleppungen nach China beispielsweise haben eine Relevanz. Ich möchte nicht haben, dass jemand ungestraft im Tiergarten irgendjemanden abcatcht, der dann in Peking, im Unrechtsstaat, wieder erscheint. Deshalb bitte ich darum, darüber nachzudenken, wie wir seriöser, vernünftiger und vor allen Dingen besser eine Überarbeitung und Entschlackung des Strafrechts auf den Weg bringen. Ich glaube, wir sind dazu in der Lage. Dazu braucht es aber nicht den Antrag der FDP. ({1})

Claudia Roth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003212

Vielen Dank, Karl-Heinz Brunner. – Ich schließe die Aussprache und bedanke mich für eine vergnügliche halbe Stunde bei unseren Rechtsgelehrten und Rechtsgelehrtinnen.