Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einer aktuellen Studie zufolge erreichen Menschen zum Ende ihrer 40er-Jahre ihren emotionalen Tiefpunkt,
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und das über Länder, Geschlechter und Einkommen hinweg. Genauer gesagt: Mit 47,2 Jahren hadern die Menschen am meisten. Aber – das kann ich Ihnen auch aus eigener Erfahrung sagen – danach wird es wieder besser.
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Meine Damen und Herren, es ist wahrscheinlich ein historischer Zufall, aber als Großbritannien am 31. Januar die Bande mit Brüssel kappte, waren die Briten genau 47 Jahre und einen Monat Mitglied der Europäischen Union.
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Nun ist Großbritannien ein Drittstaat. Deshalb wird – da, glaube ich, brauchen wir uns nichts vorzumachen – unser Verhältnis zwangsläufig weniger eng sein als bisher. Bei allem Respekt für die Entscheidungen, die in Großbritannien getroffen worden sind: Ich und, ich glaube, viele von uns bedauern das sehr. Ich mache mir auch keine Illusionen darüber, dass das die Europäische Union verändern wird.
Aber genauso – vielleicht auch angesichts all dessen, was bis zum 31. Dezember dieses Jahres ansteht – ist jetzt der richtige Zeitpunkt, nach vorne zu schauen und die Zukunft zu gestalten: einerseits innerhalb der Europäischen Union, andererseits vor allen Dingen die Zukunft der Europäischen Union und ihr Verhältnis zu Großbritannien und unser bilaterales Verhältnis zu Großbritannien.
Dabei ist eines klar: Eine möglichst enge Partnerschaft mit Großbritannien ist das, was wir wollen, und zwar in allen Bereichen. Dafür legt der Mandatsentwurf, den die Kommission am 3. Februar vorgelegt hat und den die Mitgliedstaaten voraussichtlich am 25. Februar beschließen werden, eine gute Grundlage.
Für uns steht in den kommenden Monaten in den Verhandlungen vor allen Dingen eines im Mittelpunkt, nämlich der Schutz der Bürgerinnen und Bürger und die Wahrung der Interessen der Bürgerinnen und Bürger, und zwar sowohl in der Europäischen Union als auch in Großbritannien. Das gilt zum Beispiel mit Blick auf die Vereinbarungen zu Wirtschaft und Handel. Großbritannien bleibt zwar ein enger Freund und Partner, aber Großbritannien wird auch Wettbewerber. Boris Johnson selbst wird in der ihm eigenen Art nicht müde, das ständig zu betonen. Deshalb: Ja, die Europäische Union strebt eine Freihandelszone ohne Zölle und ohne Quoten an. Das bedeutet aber gleichzeitig: null Dumping und null unfairer Wettbewerb.
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Im Moment hören wir aus London leider auch andere Töne. Großbritannien wird das aber beachten müssen, vor allen Dingen dann, wenn es weiter einen zollfreien Zugang zum größten Binnenmarkt der Welt haben möchte. Auf jeden Fall – das haben wir gestern in einem Gespräch mit Michel Barnier, dem Chefunterhändler der Europäischen Union, in Berlin noch einmal besprochen – gilt: Auf einen Wettlauf nach unten, was Umweltstandards oder die Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und Verbraucherinnen und Verbrauchern angeht, werden wir uns nicht einlassen können und werden wir uns auch nicht einlassen.
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Auch im Bereich der inneren Sicherheit – bei der Terrorbekämpfung oder bei der Verfolgung grenzüberschreitender Kriminalität – steht der Schutz der Bürgerinnen und Bürger im Mittelpunkt. Deshalb werden wir darauf achten, dass wir in Zukunft sehr eng kooperieren, insbesondere dort, wo es um den Datenaustausch geht – das ist eine besondere Herausforderung –, unter der Voraussetzung, dass ein hohes Maß an Datenschutz gewährleistet ist und dass die Menschenrechte und weiteren Rechte der Bürgerinnen und Bürger im Zusammenhang mit Datenschutz – das wird ein immer wichtigeres Thema in der digitalen Welt – ohne Abstriche eingehalten werden, so wie London es zugesagt hat.
In der Außen- und Sicherheitspolitik bieten wir Großbritannien eine neue, eine maßgeschneiderte Partnerschaft an. Das müssen wir auch, weil wir Großbritannien gerade in dieser Beziehung auch in Zukunft brauchen werden. Als ständiges Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und als enger Partner in den G-7- und den G-20-Formaten bleibt London ein zentraler Ansprechpartner für uns. Ohne die Abstimmung in Brüssel brauchen wir aber neue Formate der Zusammenarbeit. Deshalb ist es gut, dass die Europäische Union schon vor Ende 2020 „strukturierte Konsultationen“ mit Großbritannien beginnen will.
Und auch bilateral, liebe Kolleginnen und Kollegen, jenseits der Verhandlungen mit der Europäischen Union, werden wir weiter eng mit unseren britischen Freunden zusammenarbeiten. Mein Kollege Dominic Raab und ich wollen dazu schon in den kommenden Wochen eine gemeinsame Erklärung unterzeichnen, mit der zum Beispiel regelmäßige Treffen auf Ministerebene und Staatssekretärskonsultationen zwischen Deutschland und Großbritannien vereinbart werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Grundprinzip, das für die Brexit-Verhandlungen galt, das muss nun auch für die anstehenden Verhandlungen gelten: Je geschlossener wir als Europäische Union auftreten, desto besser wird auch unser Verhandlungsergebnis sein, insbesondere wenn es darum geht, einen fairen Wettbewerb zu gewährleisten.
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Dabei, meine sehr verehrten Damen und Herren, zählen wir auch auf die Unterstützung des Parlamentes. Die heute zur Abstimmung stehende Stellungnahme bietet dazu, wie ich finde, in der Sache eine gute Basis.
Ich kann Ihnen noch etwas zu sagen: Sie können sich darauf verlassen, dass wir als Bundesregierung den Deutschen Bundestag und die zuständigen Ausschüsse in jede Phase der Verhandlungen, die jetzt anstehen, weiter eng einbeziehen, insbesondere auch dann, wenn wir in der zweiten Hälfte dieses Jahres die Ratspräsidentschaft innehaben, um Sie zu informieren, aber auch, um uns mit dem Parlament abzustimmen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Studie, die ich zu Beginn zitiert habe, macht auch Hoffnung für die Zukunft; denn nach 47,2 Lebensjahren steigt die Glückskurve der Menschen wieder an.
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In diesem Sinne werden wir jetzt auch zügig zusammen mit der Kommission, nämlich mit Michel Barnier, die Verhandlungen beginnen, und zwar in Gesamtpaketen. Wir wollen nicht, dass einzelne Themen verhandelt werden und möglicherweise versucht wird, mit einzelnen Mitgliedstaaten der Europäischen Union Sondervereinbarungen zu treffen, sondern wir werden das als Mitgliedstaaten der Europäischen Union gemeinsam angehen.
Deshalb: Lassen Sie uns die kommenden Monate nutzen, um mit unseren britischen Freundinnen und Freunden – das werden sie bleiben, auch unsere Partner; wichtige Partner bei all den globalen Herausforderungen, denen wir uns gegenübersehen – gemeinsam als Europäer eine gute Lösung für die Zukunft Europas zu finden.
Herzlichen Dank.
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Jetzt hat das Wort der Kollege Martin Hebner, AfD.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich beginne nicht wie mein Vorredner damit, von einer Midlife-Crisis zu berichten, sondern ich berichte von einer Feier; einer Feier in London auf dem Parliament Square am 31. Januar. Dort haben britische Bürger zu Zehntausenden ihre Freiheit gefeiert;
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die Freiheit und die Unabhängigkeit von der EU. Ich war mit dabei. Es war eine tolle Feier.
Jetzt bekommen wir von Ihnen hier einen Antrag vorgelegt, mit dem Sie glauben den Briten die Einhaltung der EU-Vorschriften wieder aufzwingen zu können. In Ihrem Antrag steht das Ziel einer vertrauensvollen Zusammenarbeit unter Einhaltung der Regeln der EU. Meine Damen und Herren, glauben Sie tatsächlich, dass Sie den Briten diese wieder oktroyieren können? Ich weiß nicht, ob Sie von den Ergebnissen der Unterhauswahlen im Dezember gehört haben.
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Das war ein glatter Erfolg. Es war eine klare Aussage: Die Briten wollen ihre Freiheit zurück. – Das passiert jetzt auch.
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Zu Beginn ein Zitat von 2018. Ich zitiere jetzt Herrn Schrader: „Der Brexit sollte ... Anlass für eine Grundsatzdiskussion sein“, ob die EU sich nicht „auf Kernkompetenzen nach einem strengen Subsidiaritätsprinzip“ beschränken sollte. Sie sollte „es den einzelnen Mitgliedstaaten überlassen“, „über ihre Integrationsschritte in eigener Souveränität zu entscheiden“. Dies würde einer „gesellschaftlichen Spaltung“ entgegenwirken. – Wie gesagt, das ist einige Jahre her.
Aber wissen Sie, was die EU macht? Das genaue Gegenteil! Schauen Sie sich mal Guy Verhofstadt an, übrigens der Verhandlungsführer der EU für den Brexit.
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Er riet dazu, die Möglichkeit zum Ausscheiden aus der EU künftig zu unterbinden. Und weiter sagte er ganz richtig, dass der Brexit das Scheitern der EU markiert. Doch er zieht daraus die komplett falschen Schlussfolgerungen. Er sagte nämlich, daraus müsse man ganz klar die Schlussfolgerung ziehen, diesen Club als geschlossenen Club zu definieren. Das ist die komplett falsche Richtung. Die Mitgliedschaft in diesem Fall als Zwang zu etablieren, ist ein Unding.
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Die Briten werden nicht auf die zunehmenden Forderungen nach Einhaltung der EU-Regeln reagieren. Sie werden in dem Falle die EU-Vorschriften nicht weiter akzeptieren. Ich muss Ihnen ganz klar sagen: Diese waren mit ein Grund für den Brexit.
Der Antrag der grünen Regierung, das heißt von CDU, SPD und Grünen, läuft auf die vollumfängliche Übertragung des Verhandlungsmandats auf die Europäische Kommission hinaus und damit auch auf einen Souveränitätsverlust Deutschlands. Genau das wollen wir nicht.
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Dass sich die CDU und die SPD derzeit nach Thüringen nicht viel zutrauen, ist nachvollziehbar.
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Aber dass Sie die deutschen Verhandlungskompetenzen in die Hände einer ehemaligen deutschen Bundesministerin legen –
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man muss sich klarmachen: sie war in diesem Bundeskabinett ohnehin nicht sehr erfolgreich; aufgefallen durch „besondere Kompetenzen“,
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weswegen sie dann auch weggelobt werden musste –, zeugt schon von einer Selbstaufgabe der eigenen Interessen.
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Doch, meine Damen und Herren, es sind nicht Ihre Interessen, die Sie verfolgen sollten, sondern die Interessen der deutschen Bürger. Es sind in dem Falle – das muss man auch ganz klar sagen – Aufgaben, die einer dringenden Notwendigkeit unterliegen. Eine zentrale Erfahrung aus dem Brexit ist: Es muss jetzt sukzessive eine Regelung für den Fall weiterer Austritte geschaffen werden. Wahrscheinlich sind das Polen, Dänemark und Ungarn.
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Kommen wir zurück zu Herrn Verhofstadt. Der Chefunterhändler der Austrittsverhandlungen zum Brexit sagte erst vor wenigen Tagen – ich zitiere –: Was bedeutet nationale Souveränität heute noch? Weiter: Die EU-Mitgliedstaaten haben ihre Souveränität schon lange verloren. – Das muss man sich mal vor Augen führen. So jemand soll dann die weiteren Verhandlungen zum Brexit vertrauensvoll führen? Meine Damen und Herren, das schafft nur weitere Probleme in den gerade genannten Ländern Polen, Dänemark und Ungarn.
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Wir als AfD sind im Europarat in einer gemeinsamen Fraktion mit den britischen Konservativen, den Tories. Wir sind in der Fraktion der Europäischen Konservativen, der demokratischen Allianz. Was, glauben Sie, habe ich in den letzten Tagen in den Sitzungswochen im Januar von den britischen Kollegen zum Thema EU gehört? Glauben Sie tatsächlich, dass hier eine freundliche Zusammenarbeit mit einem Herrn Verhofstadt und im Übrigen auch mit einem Herrn Barnier noch möglich ist? Es ist nicht im Interesse der deutschen Bürger und des deutschen Staates, die Verhandlungen weiter in deren Hände zu legen.
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Wir wissen, dass Boris Johnson im Moment ein sehr starkes Verhandlungsteam aufbaut und einen enormen Zeitdruck macht. Im Übrigen ist es eine Katastrophe, dass die EU daran denkt, die Verhandlungen erst im nächsten Monat überhaupt zu starten. Vollkommen widersinnig! Sie wollen auf dem Altar der Einheitlichkeit der EU unsere Interessen komplett opfern?
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Meine Damen und Herren, wenn Sie für die Erhaltung des Euros schon Hunderte Milliarden der deutschen Steuerzahler opfern,
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sage ich Ihnen: Das geht so nicht. Das kann so nicht weitergehen. Das ist unakzeptabel.
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Die anderen Länder werden ihre nationalen Forderungen sehr konkret einbringen, nur Sie für Deutschland mal wieder nicht. Ich möchte auch ganz klar darauf hinweisen: Das ist genauso wie bei den Verhandlungen zum Mercosur-Abkommen, sprich: der Agrarpolitik, bei der die offensichtlichen Interessen der deutschen Landwirtschaft schon seit Längerem auf der Strecke bleiben. Noch immer ignorieren Sie die Interessen und die berechtigten Anliegen unserer Landwirtschaft, geopfert auf dem Altar des EU-Zusammenhalts, finanziert allein vom deutschen Steuerzahler und zelebriert auf Kosten unserer Landwirte.
Meine Damen und Herren, wir wissen heute schon: Die EU hängt nur noch am deutschen Steuerzahler. Jetzt sollen die britischen Nettozahlungen von Deutschland noch zusätzlich geschultert werden plus unsinniger Zukunftsprojekte wie dem Green Deal zum Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft. Nicht mit uns; ganz klar. Mit uns wird es keine solch sozialistischen Hirngespinste geben.
(Beifall bei der AfD – Sonja Amalie Steffen [SPD]: Wir wollen auch nicht mit euch!] – Jan Korte [DIE LINKE]: Meine Güte!
Im Interesse Deutschlands können wir nur klar darauf hinweisen: Machen wir den Brexit zu einem Erfolg! Das liegt auch in unserem Interesse.
Vielen Dank.
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Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Dr. Katja Leikert, CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist so: Der Brexit ist tatsächlich gekommen. Noch spüren wir das hier nicht. Es ist eher so ein bisschen wie die Ruhe nach einem Sturm. Aber für die Kolleginnen und Kollegen im Europäischen Parlament ist der Brexit schon vollzogen. Vor zwei Wochen fand dort die Abstimmung statt. Wir haben die Bilder des Abschieds noch vor Augen. Es gibt einfach nichts daran zu rütteln. Darin unterscheiden wir uns fundamental, Herr Hebner: Der Brexit ist und bleibt ein historischer Fehler und ist leider eben keine nur vorübergehende depressive Phase von Endvierzigern. Er ist und bleibt ein trauriges Kapitel.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Brexit produziert am Ende nur Verlierer. Er schwächt Europa und damit denjenigen Teil der Welt, der wie kein anderer für Menschenrechte und Freiheit steht und weltweit dafür eintritt.
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Nicht zuletzt bedeutet der Brexit, dass eine Handelsnation wie Großbritannien aus dem größten Binnenmarkt der Welt austritt. Auch das bleibt ein Irrsinn.
Das Brexit-Referendum erinnert uns darüber hinaus daran, dass die repräsentative parlamentarische Demokratie ein Fortschritt ist. Es reicht eben nicht, sich zu Demonstrationen zu versammeln, Herr Hebner. Gerade deshalb sind alle immer wieder dazu aufgefordert, jeden Tag gegen jede Falschinformation und gegen plumpen Populismus aufzustehen.
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Es kann sein, dass Sie gerne auf Chaos abzielen, aber es gibt ein Austrittsabkommen. Es gibt einen geregelten Austritt, und es ist eben kein Chaos-Brexit geworden. Genau das ist das Verdienst der Europäer. Wir haben geduldig, fair und vor allem geschlossen verhandelt. Es war nicht immer leicht, wenn man sich die Situation in London angeguckt hat. Es war ein Durcheinander, das alle Elemente von einem Shakespeare-Drama aufgeboten hat: Intrigen, Verrat, jede Menge Opfer und dazwischen ein tapferer, aufrechter Speaker, der immer wieder versucht hat, für Ordnung zu sorgen.
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Manche – auch hier in diesem Hohen Haus; Sie haben es eben getan – behaupten ja gerne, dass die Europäische Union selbst schuld sei an diesem Drama.
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Arbeitnehmerfreizügigkeit, Migration, das sind ja so Ihre Themen, die Sie anführen. Und wir alle wissen – besonders diejenigen von uns, die viel vor Ort in ihren Wahlkreisen sind –, dass in diesen Fragen nicht immer alles glattläuft. Wir wissen auch, liebe Kolleginnen und Kollegen: Für die Europäische Union gibt es eben keine Blaupause. Es ist richtig, dass Fehlentwicklungen schneller korrigiert werden müssen. Es ist auch richtig, dass die neue Kommission unter Ursula von der Leyen diese großen Themen jetzt beherzt angeht, auch die Reform des Asylsystems.
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Ich hätte mir gewünscht, dass die Briten sich in so einer depressiven Phase eben nicht schnell davonmachen, sondern bei dem Prozess mitmachen und sich konstruktiv einbringen.
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Es ist natürlich immer leichter, einfach rauszugehen und sich wieder in den Nationalstaat zurückzuziehen. Aber es gilt das Gleiche, was auch in einer Familie gilt: Gerade in schwierigen Zeiten müssen wir eben auch zusammenstehen. Nur so wird man nach einer Krise gemeinsam stärker.
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– Es wurde ja keiner terrorisiert an der Stelle, Herr Kleinwächter. – Fakt ist: Wer rausgeht, ist eben draußen und muss auch so behandelt werden.
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Fakt ist aber auch: Der Brexit ändert nichts daran – was ein Blick auf die Weltkarte zeigt –: Großbritannien gehört zu Europa und wird immer zu Europa gehören. Briten und Europäer bleiben Nachbarn, und wir wollen, dass wir gute Nachbarn bleiben. Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, wollen wir ein möglichst enges Verhältnis zu den Briten. Die Grundlinien zieht unser Antrag – unser Außenminister hat es skizziert –: Wir wollen ein gutes Handelsabkommen mit den Briten abschließen, und wir wollen eine ganz enge Partnerschaft natürlich bei der inneren und äußeren Sicherheit.
Für uns ist dabei entscheidend: Wir brauchen faire Wettbewerbsregeln. Uns von der CDU/CSU liegt das Thema Wettbewerb am Herzen. Für uns ist das nichts Schlimmes.
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Aber es müssen eben die Voraussetzungen stimmen. Wir brauchen gleiche Chancen für unsere Unternehmen, und dies muss die Grundlage unserer zukünftigen Handelsbeziehungen sein. Dazu gehört eben auch ein transparenter Mechanismus zur Überwachung dieser gleichen Chancen. Denn bei uns ist der Eindruck erweckt worden – nach wie vor; da verrate ich kein Geheimnis –, dass die Briten sich eben unfaire Vorteile verschaffen wollen. Das aber – auch das zeichnet die neue Beziehung aus – können wir nicht zulassen.
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Sinnvoll ist es aus Sicht der CDU/CSU-Fraktion, dass eben die EU-Standards – das ist das, was wir erwarten – auch in Großbritannien beachtet werden, und zwar dynamisch, sodass jede Änderung auf EU-Ebene in Großbritannien mit vollzogen wird. Genau das hat auch das Europäische Parlament gestern gefordert. Noch sieht man das in London anders und möchte das nicht. Um das ganz deutlich zu sagen: Auch für die künftigen Verhandlungen gilt, dass es eben keine Rosinenpickerei geben kann. Man kann nicht ein bisschen Binnenmarkt machen mit ein paar Standards von hier und dort, die man irgendwie passend findet. Und es gilt auch: Wer eine Steueroase vor Europas Küsten schaffen möchte, kann eben keinen unbeschränkten Marktzugang bekommen.
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Bei allem Ärger über die Schmutzkampagne der Brexiteers und die nach wie vor teils feindselige Rhetorik der britischen Regierung – und da bitten wir auch um Abrüstung –: Wir Europäer wollen in den kommenden Monaten den Grundstein für eine erfolgreiche gemeinsame Zukunft legen. Wir wollen nicht, dass dieses Drama wie bei Shakespeare endet. Wir strecken die Hand aus und hoffen darauf, dass die Hand in Großbritannien auch ergriffen wird.
Herzlichen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Michael Link, FDP.
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Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Wir müssen heute als Bundestag von unseren Mitwirkungsrechten Gebrauch machen und der Bundesregierung eine stringente Positionierung für die Formulierung des EU-Verhandlungsmandats mit auf den Weg nach Brüssel geben. Aus Sicht meiner Fraktion müssen dafür drei Prinzipien gelten:
Klarheit. Wir wollen keinen seitenlangen Wunschzettel, sondern ein klar definiertes Verhandlungsmandat.
Einheit. Wir fordern, dass sich die Bundesregierung für die Geschlossenheit der EU-27 starkmacht und keine Alleingänge während der Verhandlung unternimmt.
Und – ganz wichtig – Realismus angesichts eines schwierigen Verhandlungspartners Boris Johnson, der zurzeit scheinbar vor Kraft kaum laufen kann.
Wir müssen also vom Ende her denken. Wir sollten uns fragen, was wir bis Ende des Jahres dringend erreicht haben sollten – die Uhr tickt –, dann, wenn die Übergangsfrist ausläuft und der ungeordnete Brexit erneut droht. Was wollen wir erreicht haben? Aus unserer Sicht sind dies im Bereich der wirtschaftlichen Partnerschaft ein präzises, schlankes, zielgenaues Freihandelsabkommen und im Bereich der Sicherheitspartnerschaft sichtbare Fortschritte bei der Zusammenarbeit bei innerer und äußerer Sicherheit.
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So könnten wir die ohnehin gravierenden Auswirkungen des Brexits abfedern und einen ungeordneten Brexit verhindern. Dafür muss sich die Regierung einsetzen.
Doch was legen Große Koalition und Grüne heute zum Start der Verhandlungen vor? Aus unserer Sicht viele Allgemeinplätze, viel, was man auch unterschreiben kann – ja –, aber am Ende einen wachsweichen Antrag ohne klare Ziele.
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Keine Spur von Klarheit, Kolleginnen und Kollegen, stattdessen seitenlanges Prosa, ohne die Bundesregierung – und das ist wichtig – am Ende in die Pflicht zu nehmen. Es gibt zwar einen kurzen Verweis auf die deutsche Ratspräsidentschaft, aber keine Präzisierung der besonderen Rolle, die der Bundesregierung zukommt. Sie erwähnen zum Beispiel nicht, dass Deutschland sich ohne Wenn und Aber gegen ein gemischtes Abkommen und für ein Abkommen von der EU direkt, ein EU-only-Abkommen, einsetzen müsste.
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Es kam auch heute vom Minister kein einziges Wort dazu. Was wäre das für ein Signal gewesen, wenn Deutschland sich klar positioniert hätte! Es kam auch kein Wort des Ministers zur Rolle des Europäischen Parlaments. Deshalb fehlen Ihrem Antrag aus unserer Sicht der Mut und der Sinn für die Realität gleichermaßen. An diesem Punkt helfen uns keine Wunschzettel und keine politisch korrekten Allgemeinplätze, sondern wir müssen die Bundesregierung in die Pflicht nehmen. Es gibt viele in der EU, die vor so einem EU-only-Abkommen noch zurückschrecken, die sich hinter den Verträgen verstecken oder hinter einer scheinbar opportunen öffentlichen Meinung. Aber was wäre es für ein Signal aus Berlin in die EU hinein und vor allem auch für die Verhandlungen gewesen? Was wäre es für eine Stärkung des Chefunterhändlers Michel Barnier gewesen, wenn wir das gemacht hätten?
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Wir brauchen diese Stärkung; denn das Worst-Case-Szenario des ungeordneten Brexits ist eben noch immer nicht gebannt. Deshalb, Kolleginnen und Kollegen, bringen wir heute als FDP-Fraktion einen eigenen Antrag ein. Wir fordern, dass sich die Bundesregierung bei der Formulierung des Verhandlungsmandats ohne Wenn und Aber für ein EU-only-Freihandelsabkommen einsetzt, das zielgenau konzipiert ist und das nur EU-Kompetenzen betrifft. Das würde zu den Plänen passen, die Michel Barnier hat, das würde seine Verhandlungsposition stärken.
Man kann später immer noch in einzelnen Sektoren, in denen es nicht gelingt, EU-only abzuschließen, sektorale Abkommen machen, die man nach Jahresfrist, wenn die Uhr nicht mehr so schnell tickt wie jetzt, im normalen Verfahren ratifiziert; aber bis zum Jahresende läuft die Zeit. Wir werden mit dem Ansatz, den wir heute von der Bundesregierung hören, die Gefahr, am Ende ohne Abkommen dazustehen, nicht ausräumen. So werden wir unsere Verhandlungsposition gegenüber Johnson nicht stärken.
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Kolleginnen und Kollegen, der schwierige Teil des Brexits steht uns noch bevor. Wenn wir als Bundestag mitwirken wollen, dann sollten wir den Mut haben, der Bundesregierung deutlich klarere Aufträge zu erteilen, als in den vorliegenden Anträgen von Koalition und Grünen enthalten sind.
Ich danke Ihnen.
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Nächster Redner ist der Kollege Andrej Hunko, Die Linke.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir reden heute über die künftigen Beziehungen zwischen der EU und Großbritannien. Für Die Linke will ich hier ganz klar sagen: Wir wollen auch künftig sehr gute Beziehungen zu den Menschen in Großbritannien. Es darf keine Strafmentalität sein; es muss gute Beziehungen in der Zukunft geben.
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Zu den Signalen, die gegenwärtig aus Großbritannien kommen, insbesondere von Boris Johnson, die darauf hindeuten, ein Dumping in puncto sozialer Rechte, Arbeitsschutz, Ökologie oder Verbraucherschutz einzuleiten, sagen wir ganz klar: Wir wollen kein solches Dumping. Wir unterstützen auch jede Verhandlungsstrategie, die sich gegen ein Dumping, gegen einen Wettlauf nach unten in Europa einsetzt.
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Grundlage der heutigen Diskussion ist der Verhandlungsvorschlag der EU-Kommission. Dazu gibt es einen Antrag an die Bundesregierung. In diesem Verhandlungsvorschlag stehen gute Sachen – es finden sich zum Beispiel durchaus Passagen gegen ein solches Dumping – aber es stehen auch kritische Punkte in dem Verhandlungsvorschlag.
Ein Punkt, den ich ansprechen möchte, betrifft die künftige Justizkooperation, da geht es um Strafverfolgung. Im Verhandlungsvorschlag der EU-Kommission ist festgehalten, dass in Zukunft nur dann kooperiert wird, wenn Großbritannien Mitglied der Europäischen Menschenrechtskonvention und Mitglied des Europarates bleibt. Das wurde auch im Austrittsabkommen vereinbart. Es ist gut, dass das vereinbart wurde, und es ist auch gut, dass das konditionalisiert wird. Was ich nicht verstehe, ist, dass die Europäische Union selbst dieser Menschenrechtskonvention noch nicht beigetreten ist, wozu sie seit 2009 verpflichtet ist.
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Der Beitritt wäre eine Stärkung der Menschenrechtskonvention, des Gerichtshofs in Straßburg und auch eine Stärkung der Verhandlungsposition.
Im Verhandlungsmandat stehen aber auch Punkte – auch das will ich sagen –, die wir sehr kritisch sehen. Da ist von künftigen gemeinsamen Militärmissionen die Rede, von sogenannten GSVP-Missionen; es werden gemeinsame Aufrüstungsprojekte anvisiert. Es werden sogar Geheimdienstkooperationen anvisiert, inklusive des Austausches sensibler Daten, ohne dass das in irgendeiner Weise etwa an Menschenrechte oder an das Völkerrecht, wie in der Justizkooperation, gekoppelt wird. Das lehnen wir sehr deutlich ab.
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Ich will daran erinnern, dass Großbritannien am völkerrechtswidrigen Krieg gegen den Irak 2003 beteiligt war, und es wurde kürzlich vom Menschenrechtsgerichtshof wegen der anlasslosen Massenüberwachung durch den britischen Geheimdienst verurteilt. Also, eine solche Kooperation wollen wir nicht.
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Zusammengefasst: Wir sind natürlich für Verhandlungen; wir sind gegen einen ungeregelten Austritt; wir sind für Kooperationen, die im Bereich sozialer Rechte und Umweltschutz einen Fortschritt bedeuten. Aber andere Sachen sehen wir kritisch.
Herr Link, Sie haben gerade gesagt, es sollte ein EU-only-Abkommen sein, bei dem die nationalen Parlamente nichts mehr zu sagen haben. Bei den Freihandelsabkommen mit Kanada oder mit den USA, CETA und TTIP, haben wir uns damals alle dafür eingesetzt, dass es gemischte Abkommen werden, das heißt, dass auch die nationalen Parlamente etwas zu sagen haben. Ich denke, das sollte auch hier der Fall sein.
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Vor allen Dingen wollen wir ein hohes Maß an Transparenz. Wir wollen als Parlament und auch als Öffentlichkeit sehr früh über mögliche Verhandlungsergebnisse informiert werden.
Lassen Sie mich zum Schluss über einen wichtigen Fall reden, der in Großbritannien in den nächsten Wochen und Monaten verhandelt wird, über den Fall des Journalisten Julian Assange. Nächste Woche beginnt der Prozess. Ich hoffe sehr, dass die skandalöse Auslieferung an die USA – mit Strafmaßandrohung von 175 Jahren – nicht vollzogen wird.
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Ich hoffe, dass Julian Assange freigelassen wird und dass wir Ende des Jahres ein gutes Abkommen mit Großbritannien haben werden. Dann wäre 2020 auf jeden Fall ein sehr schönes Jahr.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Jetzt hat das Wort die Kollegin Dr. Franziska Brantner, Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Das Vereinigte Königreich ist nicht mehr Teil der Europäischen Union.
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Aber wir haben trotzdem eine große gemeinsame Herausforderung: Wir müssen die liberale Demokratie in Europa verteidigen und stärken.
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Wenn wir uns auf dieses Ziel einigen können, dann können die künftigen Beziehungen nicht zu einem Öko- und Sozialdumping führen und auch nicht zu einem Steuerwettbewerb; denn es geht um die finanzielle Grundlage der liberalen Demokratie.
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Deswegen ist auch das Pochen auf gemeinsame Standards keine Rache oder wie auch immer, sondern diesem übergeordneten Ziel nachfolgend; sonst erreichen wir dieses Ziel nämlich nicht. Es ist gut, dass wir heute in unserer Stellungnahme festhalten, dass die Gewährleistung fairer Wettbewerbsbedingungen als Grundlage des Abkommens zu verankern ist.
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Das ist klar und deutlich, und ich bin froh, dass wir das gemeinsam mit der Koalition haben festhalten können.
Aber am Ende wird es darauf ankommen, das nicht nur zu vereinbaren, sondern auch durchsetzen zu können. Herr Johnson hat ja jetzt schon mit Blick auf den Austrittsvertrag gesagt, dass er gar nicht kontrollieren will. Das heißt, wir müssen sicherstellen, dass die Regeln durchsetzbar und sanktionierbar sind. Das von der EU-Kommission vorgeschlagene Mandat ist hier zweideutig. Da stand nämlich drin, dass die Durchsetzbarkeit, die Sanktionierbarkeit, nur für „all relevant areas“ gilt, also nur für die relevanten Bereiche.
Wir haben in unserem Antrag klar festgehalten, dass die Sanktionierbarkeit in allen Bereichen gelten muss. Das ist ein großer und wichtiger Schritt, den wir hier gemeinsam gegangen sind.
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Es muss – ich zitiere – „verbindliche und durchsetzbare vertragliche Regelungen einschließlich Streitschlichtungs-, Durchsetzungs- und Sanktionsmöglichkeiten geben“, und zwar im gesamten Anwendungsbereich der Handelsbeziehungen. Das ist ein großer Schritt. Herr Maas, das müssen Sie jetzt auch in die Verhandlungen in Brüssel einbringen. Das ist im Mandatstext nämlich noch unklar. Wir zählen darauf, dass Sie den Willen dieses Hauses auch wirklich umsetzen.
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Mit diesem interfraktionellen Antrag senden wir von diesem Haus aus ein starkes Zeichen. Es ist schade, dass die FDP nicht mit dabei ist. Es ist aber auch bezeichnend, dass der Schutz von Umwelt und sozialen Rechten sowie die Gewährleistung fairer, gleicher Chancen für unsere Unternehmen im Forderungsteil Ihres Antrags gar nicht vorkommen.
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Deswegen haben Sie auch Ihren eigenen Antrag eingebracht. Es ist schade, dass wir da nicht gemeinsam kämpfen können.
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Es zeigt, wo Ihre Prioritäten liegen. Auch Sie sagen in Ihrem Antrag, dass man später natürlich auch ein gemischtes Abkommen braucht. In unserem Antrag steht, dass man zuerst ein EU-only-Abkommen macht. Von daher ist Ihr Vorwurf an uns, das stehe nicht darin, einfach nicht korrekt. Das zeigt einfach, wo Ihre Prioritäten liegen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen enge Beziehungen angesichts der Herausforderungen. Diese müssen wir gemeinsam fair angehen. Wir müssen jetzt alles tun, damit dieses Abkommen Europa stärkt und nicht schwächt. Ich bin zuversichtlich, Herr Maas, dass Sie das nutzen, um diese Krise zu meistern. Dann sind wir am Ende stärker als zu Beginn. Das ist Ihr Auftrag; wir zählen auf Sie.
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Nächster Redner ist der Kollege Markus Töns, SPD.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der britische Premierminister hat in den letzten Wochen viele Ankündigungen über die künftigen Beziehungen gemacht. Zuerst wollte er ein Modell wie zwischen der EU und Norwegen, dann wollte er ein Modell wie mit Kanada, und zum Schluss war die Rede von Australien. Beim Stichwort „Australien“ fängt man schon an, darüber nachzudenken, welches Abkommen die EU mit Australien eigentlich hat. Da fällt einem nicht viel ein. Da wären wir bei WTO-Regeln. Das ist, glaube ich, ein bisschen wenig für die Beziehungen zu Großbritannien, die wir zukünftig aufbauen wollen.
Wichtig ist doch: Wir brauchen eine Partnerschaft mit fairem Wettbewerb, mit hohen Umwelt- und Sozialstandards, und zwar für alle Bürgerinnen und Bürger in unserem Land; das ist wichtig.
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Die entscheidende Frage ist: Was wollen wir erreichen? Wir brauchen ein Level Playing Field, das heißt keinen Dumpingwettbewerb vor unserer Haustür. Großbritannien muss unsere Sozial- und Umweltstandards einhalten; sonst kann es keinen Zugang zum Binnenmarkt geben.
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Es kann nicht sein, dass es am Ende ein Singapur an der Themse gibt. Das wird die Europäische Union und das dürfen auch wir nicht zulassen.
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Welche Rolle spielt in dieser Frage der EuGH? Klar ist: Wenn es um die Auslegung des Unionsrechts geht, gilt, dass der EuGH entscheidet. Das ist ein Grundpfeiler unserer Rechtsordnung. Das gilt auch im Verhältnis zu Großbritannien, und das ist eine der Grundbedingungen, über die wir reden. Die müssen klar sein.
Es geht um Sicherheitspolitik. Wir brauchen eine starke Zusammenarbeit in der Außenpolitik, bei der Verteidigung, bei der inneren Sicherheit, in der Entwicklungspolitik. Der Außenminister hat das vorhin schon alles erwähnt. Wir sind auch auf dem Weg, das zu verhandeln. Hier gilt es, frühzeitig einen Rahmen dafür festzulegen. Ich glaube, wir sind in der Lage, das zu machen.
Ich sage an die Kolleginnen und Kollegen der FDP gerichtet – Frau Brantner hat es eben schon gesagt –: Es ist schade, wirklich schade, dass Sie sich an dieser Stellungnahme nicht beteiligen.
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Herr Kollege, der Kollege Hebner würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Nein, das möchte ich nicht, danke. – Es ergibt keinen Sinn, sich bereits jetzt darauf festzulegen, welche Form der Vertrag haben wird, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP.
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Das ist leider ein Stück weit kleinkariert. Deshalb: Schade, dass Sie sich nicht beteiligen. Das schränkt unseren Verhandlungsspielraum ein. Übrigens will auch Michel Barnier diese Einschränkung des Verhandlungsspielraums nicht; das ist nicht im europäischen Interesse.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Verhandlungen werden nicht einfach. Die Kommission hat bis jetzt für das Austrittsabkommen gut und hart verhandelt, aber was jetzt kommt, ist ganz entscheidend. Die 27 müssen Geschlossenheit zeigen. Diese Geschlossenheit ist entscheidend für den Erfolg dieser Verhandlungen.
Ich will noch einmal deutlich machen: Es ist an der Bundesregierung – deshalb ist diese Stellungnahme so wichtig –, die Europäer, die 27, während der deutschen Ratspräsidentschaft zu einigen, zu einen und beieinanderzuhalten. Dann wird es gelingen, dass wir weiterhin zusammenstehen. Dann wird es gelingen, dass diese Europäische Union stark gemacht wird.
Ich sage es noch einmal: Ein Cherry Picking vonseiten der Briten, das Großbritannien einen Zugang zum Binnenmarkt ermöglicht, bei dem es aber keine Regeln einhält, werden wir nicht zulassen. Ich bin dankbar dafür, dass wir heute diese Stellungnahme abgeben können.
Herzlichen Dank.
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Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Sandra Weeser, FDP.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Warum dreht sich beim Brexit alles um ein Handelsabkommen? Unsere Unternehmen brauchen endlich Klarheit. Sie bereiten sich seit 2016 auf den Brexit vor, sie halten Lagerbestände, sie binden Ressourcen, sie haben alternative Lieferketten aufgebaut, und sie bilden Rücklagen. Wir können es uns nicht leisten, das Rückgrat unserer Wirtschaft, den deutschen Mittelstand, weiter so hinzuhalten.
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Wir müssen den Handel mit dem Vereinigten Königreich für unsere Unternehmen so einfach wie möglich gestalten, entweder durch eine Eins-zu-eins-Übernahme der EU-Standards oder eben durch ein gutes Abkommen, das auch den Wettbewerb zwischen dem EU-Modell und dem Vereinigten Königreich zulassen kann.
Oft wird suggeriert, EU-Handelsabkommen seien nicht gut für Deutschland, seien nicht gut für die Bürger, für die Bauern und nicht gut für die Unternehmen. Also müsste man der EU misstrauen wie bei TTIP, wo die Verhandlungen durch den öffentlichen Druck gescheitert sind. Schauen wir uns CETA an. Bis heute liegt diesem Haus kein Gesetzentwurf für die Ratifizierung vor.
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Beim Brexit, meine Damen und Herren, darf uns das nicht passieren. Es bleiben nicht einmal mehr elf Monate, um klare Regeln für den zukünftigen Umgang mit dem Vereinigten Königreich aufzustellen. Boris Johnson droht von seiner Insel aus schon mit einem No-Deal-Szenario. Genau deswegen brauchen wir ein EU-only-Abkommen.
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Das ist keine Einengung unseres Handelsspielraumes, wie die CDU meint, sondern notwendige Prioritätensetzung. Handelsfragen liegen in der ausschließlichen Kompetenz der EU; hier werden die Rahmenbedingungen für internationale Marktzugänge und Wettbewerbsvorteile geregelt.
Deutschland muss dabei seine strategischen Vorteile im Blick behalten und die EU-Ratspräsidentschaft nutzen, um ein entsprechendes Abkommen zum Erfolg zu führen. Gleichzeitig müssen wir die Bürger über den Gang dieser Verhandlungen informieren, sonst droht uns nämlich auch hier ein Debakel à la TTIP.
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Was können wir mit unserem EU-only-Abkommen erreichen? Erstens endlich feste Rechts- und Tätigkeitsbedingungen für unsere Unternehmen. Da fällt mir ein: Haben wir denn jetzt die 900 Zöllner ausgebildet und eingestellt? Sind sie einsatzbereit?
Zweitens Klarheit im Handeln auch auf politischer Ebene. Der Eklat zwischen Trump und Johnson zur Huawei-Zulassung hat den Briten einen Vorgeschmack geboten und gezeigt, wie es ist, ohne den Backup der EU dazustehen.
Drittens brauchen wir Planungssicherheit. Unternehmen können sich an neue Spielregeln anpassen, ja; aber dafür müssen sie diese auch kennen.
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Konzentrieren wir uns also in den kommenden Monaten auf den Handel. Ein EU-only-Abkommen kann in diesem straffen Zeitplan erreicht werden. Das Zustandekommen eines gemischten Abkommens halte ich nicht für realistisch. Wir sollten unserer Wirtschaft hier einen strategischen Vorteil sichern. Das könnten wir mit einem EU-only-Abkommen.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Detlef Seif, CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Es lässt sich nicht mit Sicherheit vorhersehen, ob der Brexit für das Vereinigte Königreich längerfristig positiv ist oder zu einem großen Schaden im Lande führen wird. Eines ist aber gewiss: Das Land hat einen sehr steinigen Weg vor sich.
Vize-Premierminister Michael Gove hat die Wirtschaft Anfang der Woche darauf eingeschworen, dass es in den nächsten Jahren keinen reibungslosen Handel mit der Europäischen Union geben wird. Bisher hat man den Landsleuten in Partylaune wohlklingend gesagt: Make Brexit a success – mache den Brexit zum Erfolg –, get Brexit done – lasst es uns endlich durchziehen –, dann geht es uns besser.
Bereits Ende 2018 kam die britische Regierung in einer Wirtschaftsanalyse selbst zu dem Ergebnis, dass die Wirtschaftsleistung des Landes nach dem Brexit bei Zugrundelegung des Szenarios eines Freihandelsabkommen um 3,4 bis 6,4 Prozent schrumpfen wird. Das sind nicht nur für Ökonomen Hammerzahlen, verbergen sich dahinter doch Arbeitslosigkeit, wirtschaftliche, politische und soziale Verwerfungen.
Es gibt jetzt schon einen deutlichen Abwärtstrend. Er könnte auch die innere Sicherheit des Landes berühren. Zum Beispiel ist in der Wirtschaft die Automobilbranche betroffen: Honda schließt 2021 sein Werk in Swindon. Nissan hat davon Abstand genommen, seinen Geländewagen im Vereinigten Königreich in Sunderland zu produzieren, und überlegt, seine Produktion ganz nach Japan zu verlagern. Toyota macht seinen Verbleib davon abhängig, ob jetzt Handelshemmnisse entstehen. Jaguar Land Rover streicht 4 500 Arbeitsplätze im Zuge des Brexits. Ford schließt im September 2020 sein Motorenwerk. Die Verlagerung der Opel-Astra-Produktion steht im Raum. BMW hat angekündigt, seine drei Werke im Land zu schließen, sollten Störungen in den Lieferketten entstehen. Meine Damen und Herren, Zulieferer und andere Unternehmen sind bereits abgezogen. Das ist ein starkes Ding. Das müssen wir uns vor Augen halten. Deshalb: Lassen Sie diese Schönrederei bleiben.
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Auch der Zusammenhalt des Landes ist gefährdet. Selbst wenn man Schottland ein weiteres Unabhängigkeitsreferendum verweigert: Im Prinzip ist die Krisensituation im Land vorhanden. Sinn Féin ist in der Republik Irland eine starke Kraft geworden. Sie setzt sich für die Wiedervereinigung Irlands ein. Was für Irritationen und Zentrifugalkräfte entstehen dort zurzeit? Diese hat doch niemand mehr unter Kontrolle.
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Meine Damen und Herren, auch in Richtung AfD, weil wir etwas anderes gehört haben: Wenn wir eines aus dem Brexit lernen müssen, dann das, gegen Fake News, falsche Informationen, und Populismus noch deutlicher und intensiver vorzugehen, als wir es bisher gemacht haben.
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Wenn sich dieser Geist in den weiteren Verhandlungen fortsetzen sollte, dann sehe ich düster. Das bisherige Verfahren hat deutlich gemacht, was eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union bedeutet. Nahezu alle Bereiche sind betroffen. Wir sind eng miteinander verwoben und verzahnt. Das kann man nicht einfach auseinanderreißen.
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Mit Ablauf der Übergangsfrist fallen Tausende Regelungen weg. Es ist ausgeschlossen, dass wir in der Kürze der Zeit auch nur annähernd ein zufriedenstellendes, umfassendes Abkommen finden können. Es muss deshalb das Ziel sein, so viel wie möglich zu vereinbaren. Dazu gehören Regelungen zu den wirtschaftlichen Beziehungen, zur Sicherheitspartnerschaft und zu den Themen, die von vorrangigem Interesse sind. Es ist schade, dass sich die FDP bei dem Punkt nicht beteiligt, weil ich weiß, dass wir insgesamt auf derselben Linie liegen.
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Aber wenn man jetzt EU-only festschriebe, würde man verhindern, dass in anderen Punkten, die vielleicht in die Zuständigkeit von Mitgliedstaaten fallen, Regelungen bis zum 31. Dezember 2020 ausgeschlossen wären. Und deshalb können wir uns diesem Ansatz leider auch nicht anschließen.
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Meine Damen und Herren, Boris Johnson und seine Berater stellen auch jetzt schon Kernaussagen der Politischen Erklärung infrage. Eine Bindung an EU-Standards sei nicht sinnvoll. Das Vereinigte Königreich hat ja selbst hohe Standards. Warum sollte man sich dann irgendwie binden? Der Europäische Gerichtshof sollte im Wege einer Vorabentscheidung Berücksichtigung finden. Das Gericht solle nun keine Rolle mehr spielen.
Meine Damen und Herren, auch in Zukunft streben wir natürlich eine enge und freundschaftliche Partnerschaft an. Aber eines ist doch klar: Es geht nicht um jeden Preis. Deshalb müssen wir unseren britischen Freunden klarmachen, dass das Vereinigte Königreich nur dann einen breiten Zugang zum Binnenmarkt haben kann, wenn es auch unsere Standards einhält und wenn dadurch das Projekt Europäische Union nicht gefährdet ist.
Vielen Dank.
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Katharina Dröge, Bündnis 90/Die Grünen, hat als Nächste das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Aussagen von Boris Johnson lassen erahnen, dass die Verhandlungen über die zukünftigen Beziehungen mit Großbritannien nicht einfacher werden als die Verhandlungen, die wir über den Austritt geführt haben. Umso wichtiger ist es, dass die Europäische Union geschlossen in die Verhandlung geht und dass wir als Deutscher Bundestag alles dafür tun, sie dabei zu unterstützen.
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Das Verhandlungsmandat, das die Europäische Kommission vergangene Woche vorgelegt hat, ist aus unserer Sicht eine gute Grundlage für diese Verhandlungen. Ich muss auch sagen: Wir haben hier im Bundestag viele kontroverse Debatten über Handelsabkommen, über Handelsmandate geführt. Wenn das, was die Europäische Kommission mit Blick auf Großbritannien vorlegt, Standard für weitere Handelsabkommen würde, würden wir Grüne sagen, dann wäre wirklich ein wichtiger Schritt erreicht.
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Dieses Mandat schreibt klare Regeln zum Level Playing Field und zum Klimaschutz vor. Das Pariser Klimaabkommen wird Essential Element dieses Abkommens sein. Es gibt auch klare Regeln zum Thema Wettbewerb und in den Bereichen Verhinderung von Steuerdumping, Beihilferecht und Nachhaltigkeit. Unser Job als Deutscher Bundestag – deswegen haben wir Grüne uns gemeinsam mit CDU/CSU und SPD auf eine Artikel-23-Stellungnahme geeinigt – ist es, der Regierung das mit auf den Weg zu geben, was sie in den Verhandlungen in Brüssel noch erreichen sollte. Meine Kollegin Franziska Brantner hat es eben schon gesagt: An einer Stelle ist dieses Mandat noch nicht klar genug, nämlich beim Thema „Durchsetzbarkeit von Standards im gesamten Anwendungsbereich des Handelsabkommens“.
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Hier senden wir als Deutscher Bundestag – ich freue mich wirklich, dass wir uns einigen konnten – einen klaren Auftrag an die Bundesregierung, in Brüssel zu verhandeln, dass der gesamte Bereich des Handelsabkommens auch sanktionierbar und durchsetzbar wird, gerade in den Bereichen Nachhaltigkeit und soziale Standards.
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Ich sage das auch mit Blick auf einen Wirtschaftsminister, der sich nicht so klar positioniert wie Sie, Herr Maas, heute in der Debatte. Wenn wir ihn im Wirtschaftsausschuss fragen: „Wie stellen Sie sich die künftigen Beziehungen vor?“, dann schillert das, und als mögliche Partnerschaft mit Großbritannien wird das Beispiel JEFTA genannt. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Darauf dürfen wir uns als Europäische Union nicht einlassen.
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Bei einem Punkt erwarten wir von Ihnen noch mehr. Das wird die zukünftige Anpassung von Standards sein. Es kann sein, dass wir nicht in allen Bereichen der Beziehungen dynamische Anpassungen erreichen werden. Dann werden wir auch über regulatorische Kooperationen reden müssen. Wir erwarten von Ihnen – wir wollen das gemeinsam mit dem Europäischen Parlament durchsetzen –, dass wir keine Weiterentwicklung des Vertrages haben, ohne dass die Parlamente zwingend miteinbezogen sind und dieser Weiterentwicklung zustimmen müssen.
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Ein letzter Satz zur FDP. Ich verstehe nicht, wie man sich so aus der Debatte verabschieden kann. In Ihren Reden haben Sie, Frau Weeser, haben Sie, Herr Link, sich einzig auf das Thema Freihandelsabkommen konzentriert. Die künftigen Beziehungen mit Großbritannien werden sich nicht nur um ein Freihandelsabkommen drehen, es wird auch um die innere Sicherheit, um die Außenpolitik gehen. Wir erwarten – das ist in Ihren Forderungen nicht zu erkennen –, dass wir nicht nur ein Freihandelsabkommen um jeden Preis – egal, Hauptsache schnell; so schreiben Sie es im Endeffekt in Ihrem Forderungsteil – abschließen, sondern dass auch die Freien Demokraten anerkennen, dass es unser Job ist, gemeinsam für faire Standards, gemeinsam für ein Level Playing Field und gemeinsam für die Sicherung der Standards, die wir im Binnenmarkt vereinbart haben, zu kämpfen. Ich finde es schade, dass Sie sich hier aus der Debatte verabschiedet haben.
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Jürgen Hardt, CDU/CSU, hat jetzt das Wort.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man in diesen Tagen in Großbritannien ist, hat man das Gefühl, das mich immer im Studium überkommen hat: Man büffelt wochenlang für eine Klausur, man geht in sie hinein, schreibt fünf Stunden, geht aus dem Hörsaal heraus und hat das Gefühl, mehr als eine Vier ist es nicht geworden, dennoch ist man einfach nur froh, dass es vorbei ist. – Ich glaube, das ist die Stimmung, die im Augenblick in Großbritannien herrscht. Der Schalter ist auf „Brexit“ umgelegt. Deswegen haben die Bürgerinnen und Bürger auch Boris Johnson gewählt, wenngleich man darauf hinweisen muss, dass der klare Wahlsieg der Tories bei diesen Wahlen auf das Mehrheitswahlsystem zurückzuführen ist. Wenn man die Ergebnisse, die die Parteien bei der Wahl im Herbst 2019 erzielt haben, betrachtet, stellt man fest: 45 Prozent waren klare Befürworter des Brexits, 51 Prozent wollten zumindest ein zweites Referendum. Die Stimmungslage im Land ist also weiterhin gespalten und, so glaube ich, eher tendenziell Brexit-kritisch.
Aber wir müssen uns darauf einstellen, dass die Regierung Großbritanniens bis Ende des Jahres die Übergangsphase beenden will, also ein Abkommen erreichen will. Deswegen haben wir in unserem Antrag geschrieben, dass wir der Meinung sind, dass ein EU-only-Abkommen der richtige Weg ist. Denn etwas, was in den Mitgliedstaaten auch noch ratifiziert werden muss, ist bis Dezember nicht erreichbar.
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Insofern hätte die FDP diesen Punkt auch mit uns machen können. Aber das wird uns nicht daran hindern, gemeinsam hier in diesem Hause diesen Prozess zu begleiten.
Ich möchte drei Punkte herausgreifen, die für mich als Außenpolitiker besonders wichtig sind. Ich finde es total wichtig, dass wir mit Großbritannien eine enge Sicherheitspartnerschaft weiter pflegen, und zwar nicht nur als treue Verbündete innerhalb der NATO, sondern auch, was die europäischen Anstrengungen der Außen- und Sicherheitspolitik, der PESCO und der Rüstungszusammenarbeit anbetrifft. Die PESCO ist grundsätzlich so angelegt, dass sie nur EU-Mitgliedern offensteht. Ich glaube, dass man darüber nachdenken muss, ob man im Rahmen eines Vertrages über die künftigen Beziehungen EU/Großbritannien auch eine Möglichkeit findet, die den Briten den Weg öffnet zum einen zum Europäischen Verteidigungsfonds, wenn sie sich an Verteidigungs- und Rüstungsprojekten, an der Entwicklung von Verteidigungswaffen beteiligen wollen, und zum anderen zur Unterstützung der PESCO-Projekte selbst. Das könnte, wie ich finde, ein Element eines solchen Vertrages sein.
Der zweite Aspekt, der mir besonders wichtig ist: Durch den zukünftigen Beziehungsvertrag darf nicht die Situation entstehen, in der Nordirland eine Art Zwitterstellung einnimmt. Ich hielte es sowohl für unsere Wirtschaft als auch für die britische Wirtschaft für problematisch, wenn man als Unternehmen in Nordirland über die nicht vorhandene Grenze zwischen Nordirland und Irland faktisch freien Zugang zum Binnenmarkt hätte, aber gleichzeitig auch volles Mitglied des Marktes in Großbritannien wäre. Das würde uns – das wäre zum Vorteil der Bürger Nordirlands, aber zum Schaden der anderen – in eine Situation bringen, die dem Binnenmarkt, aber letztlich auch Großbritannien schaden würde. Deswegen glaube ich, dass dieser Vertrag klar regeln muss, dass bestimmte Sonderstellungen in den Wirtschaftsbeziehungen, die vielleicht jetzt für Nordirland gerechtfertigt sind, auf Dauer entsprechend verändert werden.
Das Dritte, was ich erwähnen möchte: Ich glaube, dass wir als Deutsche über die Beziehungen EU/Großbritannien hinaus ein starkes Interesse daran haben, den jahrhundertelangen Freund Deutschlands Großbritannien eng an uns zu binden. Wir sollten den Vorschlag, über den wir bereits im letzten Jahr im Rahmen der Königswinter Konferenz in Oxford diskutiert haben und den mein Kollege Norbert Röttgen und der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Unterhauses, Tom Tugendhat, gemacht haben, prüfen, nämlich ob wir mit der britischen Regierung, mit dem britischen Parlament, mit dem britischen Volk einen britisch-deutschen Freundschaftsvertrag schließen, in dem wir – ähnlich wie mit anderen Ländern – Fragen des bilateralen Jugendaustausches, der bilateralen Kulturbeziehungen usw. usf. entsprechend weiterentwickeln.
Das wären drei Dinge, die ich noch gerne zur Debatte beitragen würde. Ansonsten freue ich mich, dass es doch insgesamt auf dem Weg der EU im Verhältnis zu Großbritannien hier in diesem Haus eine breite demokratische Unterstützung gibt.
Herzlichen Dank.
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Metin Hakverdi, SPD, hat als Nächster das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der 31. Januar 2020 wird sich tief in das Gedächtnis der Europäischen Union eingraben. Erstmals in ihrer Geschichte hat die Europäische Union einen Mitgliedstaat verloren. Der 31. Januar ist dann aber auch das Ende einer langwierigen Hängepartie. Der Brexit ist nunmehr vollzogen. Gleichwohl wird er uns noch sehr lange, in diesem Jahr und darüber hinaus, politisch beschäftigen. Bis zum Ende des Jahres müssen wir unser Verhältnis zum Vereinigten Königreich auf ein neues Fundament stellen. Das ist ambitioniert angesichts der vielen zu regelnden Sachverhalte. Aus meiner Sicht kommt es jetzt auf drei Dinge an.
Erstens. Ziel jeder Verhandlung muss es sein, dass wir eine möglichst enge und freundschaftliche Beziehung zum Vereinigten Königreich behalten. Das Vereinigte Königreich ist einer unserer wichtigsten Partner. Kulturelle und historische Bezüge stehen dafür, dass wir uns nie trennen.
Zweitens. Für diese Beziehung – wie eng auch immer sie ausgestaltet werden kann – wird gelten: Es muss einen Unterschied machen, ob ein Staat Mitglied der Europäischen Union ist oder nicht. Der Zugang zum europäischen Binnenmarkt wird nunmehr ein anderer sein.
Drittens. Auch bei den Verhandlungen zum Rahmen künftiger Beziehungen gilt: Wir müssen als EU-27 zusammenstehen. Verhandlungsführerin ist die EU-Kommission; Punkt.
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Die Interessen einzelner Mitgliedstaaten sind dabei durchaus wichtig. Sie können aber nur über die Kommission eingespeist werden. Allen Mitgliedstaaten muss klar sein, dass wir als Europäische Union nur dann erfolgreich sein können, wenn wir zusammenstehen, also auch zusammenstehen während der Verhandlungen mit dem Vereinigten Königreich. Wir tun gut daran, wenn wir uns als Schicksalsgemeinschaft verstehen. Deswegen halte ich es für keine gute Idee, lieber Kollege Hardt, dass wir laut über einen bilateralen Freundschaftsvertrag nachdenken.
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Das können wir gerne machen – ich teile im Übrigen auch Ihr Ansinnen dazu –, aber erst wenn die wichtigen Verhandlungen zum Rahmen künftiger Beziehungen beendet sind. Alles andere würde unsere Freunde, die anderen Mitgliedstaaten, doch nur irritieren; es würde sie irritieren, wenn der größte verbleibende Mitgliedstaat der Europäischen Union jetzt ein bilaterales Verhältnis zu dem Vereinigten Königreich während der Verhandlungen aufbauen will.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Europäische Union ist eine Wertegemeinschaft. Auch dies spielt bei den Verhandlungen mit dem Vereinigten Königreich eine wichtige Rolle. Deshalb werden wir uns nicht auf einen Wettbewerb nach unten einlassen. Innerhalb und außerhalb der EU setzen wir uns für bessere Arbeitsbedingungen, für bessere Umweltstandards und für eine sozial gerechte Besteuerung ein. Dazu passt kein „race to the bottom“ zwischen uns, der EU, und dem Drittstaat Vereinigtes Königreich.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt gilt es, wachsam zu sein. Populisten hier wie dort werden diesen schwierigen Prozess nutzen wollen, um die Menschen im Vereinigten Königreich und auch hier bei uns aufzuhetzen.
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Wir dürfen diesen Populisten nicht auf den Leim gehen.
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Es ist im nationalen Interesse unseres Landes, dass die Europäische Union die besten Beziehungen zum Vereinigten Königreich besitzt.
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Werden sie ruhig älter als 47 Jahre!
Ich bedanke mich.
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Voraussichtlich letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Katrin Staffler, CDU/CSU.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist oft so bei wichtigen historischen Ereignissen, dass man sich noch lange danach genau daran erinnert, was man zum jeweiligen Zeitpunkt getan hat. Mir geht es so mit dem 23. Juni 2016, als ich abends im festen Glauben ins Bett gegangen bin, dass ich am nächsten Tag aufwachen werde und dieses Gespenst „Brexit“ Geschichte sein wird, und dann am nächsten Tag aufgewacht bin und leider das Gegenteil der Fall war. Viele von uns erinnern sich sicherlich daran, wie groß die Angst damals gewesen ist, dass mit dem Austritt der Briten die europäische Idee vom Zusammenhalt, von der Stärke durch gemeinsames Handeln verloren geht und auf dem Spiel steht. Deswegen habe ich größten Respekt davor, dass die Europäische Union in den Verhandlungen zum Austrittsabkommen Geschlossenheit gezeigt hat, Einigkeit gezeigt hat. Obwohl der Druck groß war, haben wir uns nicht hetzen lassen, sondern sind zusammengestanden. Das, meine Damen und Herren, ist gute europäische Politik im Sinne der Bürgerinnen und Bürger innerhalb der EU.
Jetzt stehen die durchaus sehr breit gefächerten Verhandlungen über die künftigen Beziehungen an. Wir verhandeln über die künftige Wirtschaftspartnerschaft, über die Zusammenarbeit bei innerer, bei äußerer Sicherheit, in der Verteidigungspolitik, in der Bildung, im Bereich Forschung, im Verkehr. Die Liste könnte man beliebig weiterführen. Ich glaube, ein ganz wesentlicher Bestandteil wird die Wirtschaftspartnerschaft sein. Wir wünschen uns, dass wir auch künftig eine sehr enge Kooperation mit unseren britischen Freunden haben werden. Damit müssen dann aber auch umfangreiche Standards verbunden sein, weil klar ist: Je enger eine Partnerschaft ist, desto strikter werden wir darauf achten, dass faire Wettbewerbsbedingungen eingehalten werden. Es darf an dieser Stelle auch für die britischen Freunde keinen einseitigen Rabatt geben.
Das Gleiche gilt für den Bereich der inneren Sicherheit. Ja, natürlich wünschen wir uns auch da einen umfangreichen Informationsaustausch, eine starke operative Zusammenarbeit, wenn es um die Strafverfolgung geht. Wir wünschen uns eine enge Anbindung an Europol usw. Aber auch das kann es nicht zum Nulltarif geben. Die Voraussetzung dafür ist auch hier eine uneingeschränkte Beachtung der europäischen Standards, zum Beispiel im Bereich des Datenschutzes.
Jetzt komme ich zu einem weiteren Punkt, den wir in unserem Antrag genannt haben. Natürlich möchten wir auch eine Zusammenarbeit mit Großbritannien als hervorragendem Wissenschaftsstandort. Man muss aber sagen: Schon die Entscheidung für den EU-Austritt hatte gewisse negative Auswirkungen auf den Status Großbritanniens als renommierte Forschungsnation. Der Anteil von namhaften Forschern aus Nicht-EU-Staaten, die im Rahmen von einem Horizon-2020-Stipendium ins Vereinigte Königsreich gekommen sind, ist gesunken: 2015 waren es noch 515 Nicht-EU-Forscher, 2018 dann schon 200 weniger. Und bei den Institutionen hat sich die Zahl sogar halbiert.
Jetzt hat der britische Premierminister Boris Johnson zwar versprochen, dass die britische Regierung mögliche Ausfälle kompensieren wird. Aber, ehrlich gesagt, würde ich nicht darauf wetten, dass er sich daran auch noch erinnern kann. Und eine einseitige Kompensation auf britischer Seite nützt uns, ehrlich gesagt, für die weitere Zusammenarbeit ja auch nicht wirklich.
Was wirklich weiterhelfen würde, wäre, wenn Großbritannien weiterhin an den großen Förderprogrammen wie Horizon Europe und Erasmus+ teilnehmen würde. Dazu müssen dann aber – erstens – die grundsätzlichen Voraussetzungen für eine Aufnahme als Drittstaat vorhanden sein. Zweitens muss ein Level Playing Field insbesondere bei den Beihilfen gewahrt werden. Und natürlich brauchen wir auch eine angemessene Beteiligung finanzieller Natur des Vereinigten Königsreichs, damit das gewährleistet sein kann.
Fakt ist: Würden wir alle Verbindungen zwischen der EU und Großbritannien komplett kappen, würde nicht nur Großbritannien verlieren, sondern Gesamteuropa. Und wie man so schön sagt: Nach den Verhandlungen ist vor der Verhandlung. Die Verhandlungen zu den Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU werden sicherlich nicht leichter werden, als es die Austrittsverhandlungen waren. Entscheidend ist aber: Die EU muss weiterhin Geschlossenheit zeigen; wir müssen einig sein. Natürlich ist der Wunsch Großbritanniens legitim, eigene Regelungen und Standards zu setzen. Aber natürlich ist es genauso legitim, dass wir unsere Interessen als Europäische Union auch schützen.
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Die Zeit ist knapp. Die Verhandlungsmasse ist, ehrlich gesagt, kaum zu bewältigen. Trotzdem müssen wir Vertrauen in unsere Verhandlungsführer haben. Und wichtig ist, dass wir auch künftig mit einer Stimme sprechen. Und vielleicht kommt es dann irgendwann wieder zu einem Tag, an dem wir sagen können: Wisst ihr eigentlich noch, was wir gemacht haben, als Großbritannien wieder Teil der Europäischen Union geworden ist?
Vielen Dank.
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Damit schließe ich die Aussprache.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kollegen! Der islamistische Terrorismus ist die größte Gefahr für die Sicherheit unserer Bürger. Der vereitelte Rizin-Anschlag in Köln hat uns die erschreckende Dimension dieser Bedrohung vor Augen geführt. Hätten unsere Sicherheitskräfte nicht rechtzeitig eingegriffen, wären laut Gutachter vom Robert-Koch-Institut womöglich 13 500 Tote und noch mal so viele Verletzte zu beklagen gewesen – 27 000 potenzielle Opfer durch nur einen islamistischen Anschlag. Das zeigt jedem in aller Deutlichkeit, dass unser Staat mit aller Konsequenz und Härte diesen Terror bekämpfen muss.
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Aber die Bundesregierung macht genau das Gegenteil. Sie beteuert zwar immer, alles Menschenmögliche gegen den Terror zu unternehmen; aber in Wirklichkeit sind Sie ganz offensichtlich nicht willens, unsere Bürger vor islamistischen Terroristen effektiv zu schützen. Dies sieht man zum einen an Ihrer verheerenden Migrationspolitik, die dazu führt, dass immer mehr potenzielle Terroristen in unser Land strömen, zum anderen aber auch sehr deutlich daran, wie Sie in unserem Land mit dem fundamentalistischen Islam, der den geistigen Nährboden für islamistische Barbaren darstellt, umgehen. Anstatt diesen unnachgiebig und mit aller Härte zu bekämpfen, lassen Sie ihn nahezu ungehindert in unserem Land agieren. Genau das soll und muss mit unserem Antrag korrigiert werden.
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Ich möchte hier zwei Aspekte besonders beleuchten:
Erstens: die islamistische Muslimbruderschaft. Laut Einschätzung von Burkhard Freier, dem Präsidenten des Verfassungsschutzes von Nordrhein-Westfalen, geht von den Muslimbrüdern längerfristig eine größere Gefahr aus als von Salafisten und sogar dem „Islamischen Staat“. Über die Tarnorganisationen der Muslimbrüder sagt Herr Freier Folgendes:
Die IGD und das Netzwerk kooperierender Organisationen verfolgen trotz gegenteiliger Beteuerungen vor allem eines: Die Errichtung islamischer Gottesstaaten und in letzter Konsequenz auch in Deutschland.
Und trotzdem lassen Sie es zu, dass sich die Muslimbruderschaft in ganz Deutschland immer weiter ausbreitet. Vor allem in Sachsen erwirbt diese Muslimbruderschaft strategisch Immobilien. Es kommt – und das sind die offiziellen Erkenntnisse Ihres Ministeriums – zu einer gefährlichen Annäherung zwischen Muslimbrüdern und Salafisten. Muslimbrüder kopieren dabei Anwerbe- und Radikalisierungskonzepte für Jugendliche.
Alle diese Fakten belegen völlig unzweifelhaft die Staatsfeindlichkeit von Muslimbrüdern und ihren Organisationen, und deshalb sind diese sofort zu verbieten.
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Zweitens: der Moscheeverband DITIB. DITIB wird zweifelsfrei von Erdogan gesteuert, der völlig ungeniert bei einem Deutschlandbesuch den Gruß der Muslimbrüder zeigt. DITIB lässt in unserem Land Kinder für den Sieg der türkischen Armee im völkerrechtswidrigen Einsatz in Syrien beten, hat seine Imame in unserem Land im großen Stil Gegner Erdogans ausspionieren lassen, verweigert konsequent die Kooperation mit Deradikalisierungsinitiativen und lässt zentrale Figuren der Muslimbrüder in den Moscheen auftreten.
Trotz alldem fordert der SPD-Innensenator von Berlin allen Ernstes, dass sich Organisationen wie DITIB oder Muslimbrüder um Terrorrückkehrer kümmern sollen. Sie helfen damit einem islamischen Despoten, den Islamismus in unserem Land zu verbreiten. Schluss damit!
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Sie müssen endlich aus Ihrer Lethargie erwachen und eine klare Grenzlinie zur größten Gefahr für unsere Gesellschaft ziehen. Dazu muss sich die Politik in Deutschland endlich eindeutig positionieren und eine unmissverständliche Botschaft an Islamisten richten: Der politische Islam gehört nicht zu Deutschland;
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wer die Werte und Regeln unseres Landes nicht teilt oder unsere Gesellschaft sogar aktiv bekämpft, der hat unser Land zu verlassen.
Und natürlich darf es nicht bei Bekenntnissen bleiben.
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Wir müssen endlich anfangen, den Islamismus mit aller Härte und Konsequenz zu bekämpfen. Islamistische Organisationen sind ohne Wenn und Aber klar verfassungsfeindlich. Wir dürfen deshalb nicht weiterhin, wie Sie das tun, naiv und hilflos deren Treiben in unserem Land zuschauen, sondern müssen jetzt alle erforderlichen Maßnahmen treffen, um unser Land und unsere Bürger vor solchen Staatsfeinden zu schützen.
Genau hierzu ist unser Antrag ein erster wichtiger Schritt. Den Antrag abzulehnen, hieße, unsere freiheitliche Gesellschaft nahezu schutzlos ihren Feinden zu überlassen.
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Das können und werden wir nicht zulassen.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Christoph de Vries, CDU/CSU.
(Beifall bei der CDU/CSU
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die AfD widmet sich mit diesem Antrag einmal mehr einem ihrer Lieblingsthemen,
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nämlich der vermeintlichen Islamisierung und dem Schutz des Abendlandes davor. Herr Hess, auch wenn Sie hier versucht haben, Sachthemen in den Vordergrund zu rücken, wissen wir doch, worum es Ihnen geht: Sie wollen Ängste wecken vor den sogenannten Messermännern und Kopftuchmädchen, wie Frau Weidel und andere Ihrer Kollegen Muslime in Deutschland in diesem Parlament grundsätzlich verunglimpfen.
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Ich finde es sehr befremdlich, dass ausgerechnet die AfD in ihrem Antrag eine engere Sicherheitskooperation mit Israel fordert. Wir müssen uns wahrlich nicht von einer Partei belehren lassen, deren Mandatsträger in Yad Vashem und bei offiziellen Gesprächen in Israel ausdrücklich nicht willkommen sind.
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Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang den israelischen Botschafter Jeremy Issacharoff zitieren, der mitteilte, wegen der Haltung der AfD zum Holocaust jeden Kontakt zur Partei zu meiden.
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Er sagte:
Mehrere Male hat ihr Führungspersonal Dinge gesagt, die ich als hochgradig beleidigend für Juden, für Israel und für das ganze Thema des Holocaust empfinde.
Das sollte Ihnen mal zu denken geben, meine Damen und Herren.
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Ihr Problem ist, dass Sie regelmäßig Islam mit Islamismus verwechseln, also mit dem politischen Islam, dass Sie alle Muslime zu Islamisten machen.
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Ich sage Ihnen: Das ist Unsinn. Die große Mehrheit der rund 4,5 Millionen Muslime in Deutschland lebt hier in Frieden und Freundschaft unter uns. Das sollten Sie auf dieser Seite des Hauses endlich mal zur Kenntnis nehmen.
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Wahr ist aber auch – das sprechen Sie an –: Wir haben in Deutschland eine Bedrohungslage durch islamistischen Terrorismus, dessen Nährboden der Islamismus ist. Das belegen die Zahlen: 600 Straftaten im Jahr 2018, 700 Gefährder, 500 sogenannte relevante Personen in Deutschland. Der Verfassungsschutz spricht deshalb von einer anhaltend hohen Gefährdung durch islamistisch motivierte Anschläge. Aber es ist anders, als Sie sagen: Wir begegnen dieser Gefahr ganz entschieden und auf vielfältige Weise. Dazu zählt der erhebliche Stellenaufwuchs bei den Sicherheitsbehörden. Allein beim BKA haben wir 1 000 Stellen geschaffen.
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Im letzten November erst wurde eine neue Abteilung „Islamistisch motivierter Terrorismus/Extremismus“ geschaffen. Allein in den letzten zehn Jahren sind neun islamistische Organisationen und Vereine verboten worden. Sie sehen also: Die Koalition ist bei der Bekämpfung des Islamismus hellwach und handelt konsequent, meine Damen und Herren, und dafür brauchen wir Ihre Anträge hier nicht.
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Auch im Bereich der Prävention tut sich einiges, aber längst nicht genug. Das hat auch damit zu tun, dass die Parteien des linken Spektrums vielfach eine viel zu große Nachsichtigkeit gegenüber den Vertretern des politischen Islam üben.
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Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren: Das ist grundfalsch. Das Motto aller Demokraten muss, ob bei religiösem Extremismus oder politischem Extremismus, immer dasselbe sein: Keine Toleranz für Intoleranz. Jeder Extremist ist Mist, meine Damen und Herren.
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Denn natürlich ist es so: Der religiöse Fundamentalismus führt zu Parallelgesellschaften, zur Ablehnung unserer Grundwerte, und er gefährdet auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Deswegen müssen wir ihn gemeinsam bekämpfen.
Lassen Sie mich dazu etwas auf meine Heimatstadt Hamburg bezogen sagen: Hier werden die Vertreter des politischen Islam nicht nur toleriert, hier werden sie von Rot-Grün
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auch noch hofiert.
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Das zeigen die Islamverträge, die durch den Senat mit sehr problematischen Verbänden geschlossen wurden. An diesen Verträgen hält der Senat seit Jahren trotz eklatanter Verstöße auch noch unbeirrt fest, obwohl es breite Kritik aus der Politik und aus der Gesellschaft, zum Beispiel von Frauenverbänden und Menschenrechtlern, gibt.
Auch im Bund agiert man – das muss man sagen – zuweilen blauäugig. Ich denke da zum Beispiel an die Kampagne des BMJV „Wir sind Rechtsstaat“. Das ist eine gute Kampagne; aber man sollte nicht ausgerechnet mit dem Präsidenten des Zentralrats der Muslime werben, dessen größte Mitgliedsverbände mit ATIB die Vertretung der türkischen Ultranationalisten ist und mit den Muslimbrüdern eine Vereinigung, die laut Verfassungsschutz die Errichtung eines islamischen Gottesstaates will. Wenn man so was macht, macht man den Bock zum Gärtner. Das sollte nicht sein.
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Deshalb ist es wichtig, den Fehlentwicklungen entgegenzusteuern. Die Bundesregierung macht das; ich habe es angesprochen. Wir machen das auch schon im Vorfeld. Wir haben die Fördermittel für DITIB aus dem Programm „Demokratie leben!“ gestoppt nach all den Verfehlungen, die wir dort entdecken mussten. Wir haben die Fördermittel gestoppt für den schiitischen Dachverband IGS, dessen Mitglied das Islamische Zentrum Hamburg ist, die Blaue Moschee des Mullahregimes. Das Bundesinnenministerium hat zuletzt Sprachkenntnisse verpflichtend gemacht für die Einreise-, Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung für Auslandsimame.
Ich sage aber auch: Wir müssen den säkularen, liberalen Muslimen in Deutschland insgesamt mehr den Rücken stärken.
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Es darf nicht sein, dass Mädchen hier in unserem Land gehänselt werden, weil sie kein Kopftuch tragen, oder dass säkulare Muslime bedroht und als Ungläubige beschimpft werden; denn das sind doch genau die Menschen, die sich hier gut integriert haben und auch Vorbilder sind.
Was wir uns wünschen und brauchen, ist ein moderner, ein liberaler Islam, der sich Deutschland zugehörig fühlt, der sich dem Einfluss ausländischer Regierungen konsequent entzieht und der die Identifikation seiner Gläubigen mit unserem Land fördert. Ich bin sicher: Wenn das gelingt, dann wird auch dem Islamismus der Nährboden in unserem Land entzogen.
Vielen Dank.
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Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Stephan Thomae, FDP.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen! Verehrte Kollegen! Meine Damen und Herren! Herr Kollege de Vries, Sie haben es völlig richtig gesagt: Jeder Extremismus ist von Übel, egal ob von rechts oder von links oder islamistisch motiviert. Jeder Extremismus ist eine Herausforderung, eine Belastungsprobe, ein Stresstest für die freiheitliche Demokratie.
Extremismus ist aber immer mehrdimensional, er ist nie monokausal, er ist nie eindimensional, sondern er ist immer ein vielschichtiges Phänomen. Deswegen braucht es auch zur Bekämpfung von Extremismus immer mehrdimensionaler Konzepte. Es kommt nämlich darauf an, wo jemand gerade steht. Wenn jemand sich längst radikalisiert hat, dann brauchen wir natürlich die polizeiliche Gefahrenabwehr, dann brauchen wir natürlich robuste strafrechtliche Mittel. Dann muss aber auch im Strafvollzug ein Deradikalisierungskonzept greifen können, und daran fehlt es zurzeit noch. Da haben wir im Augenblick zu wenig zu bieten, um sicher sein zu können, dass jemand, der eine Strafe verbüßt, am Ende, wenn er seine Freiheitsstrafe verbüßt hat, deradikalisiert entlassen wird.
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Wichtig ist – Herr Kollege de Vries, auch das haben Sie schon angesprochen –: Wir brauchen eine tragfähige, belastbare, funktionierende Ursachenbekämpfung. Wir brauchen Präventionskonzepte; denn besser als jede Bekämpfung von extremistischen Straftaten ist es doch, die Ursachen zu bekämpfen, also dafür zu sorgen, dass eine Radikalisierung gar nicht erst stattfindet.
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Dabei kommt es nicht darauf an, dass wir sinnlos nachschärfen bei polizeilichen Vorschriften oder beim Strafrecht. Das ist das Thema, das Sie in Ihrem Antrag angehen. Ich war sehr überrascht, zu lesen, dass Sie israelische Sicherheitskonzepte in Deutschland implantieren wollen. Meine Damen und Herren, die Sicherheitsprobleme Israels sind ganz anderer Natur als die Probleme, die wir in unserer Gesellschaft haben. Israel befindet sich in einer Art militärischem Abwehrkampf gegen Terrorismus. Wir haben mit ganz anderen Phänomenen zu kämpfen. Mir kommt es ein bisschen so vor, als würden Sie sozusagen am Knie operieren wollen, obwohl sich jemand die Schulter gebrochen hat. Wir müssen schon überlegen: Was sind unsere Probleme? Wo müssen wir hier ansetzen? Die Situation bei uns ist ganz anders als in Israel.
Wir müssen uns überlegen, wie wir die Entstehungsgründe für Extremismus trockenlegen können. Darauf kommt es an. Um die Entstehungsgründe trockenlegen zu können, müssen wir sie verstehen. Sie sind manchmal ideologischer Natur, häufig aber auch psychologischer oder soziologischer Natur. Auf diese Entstehungsgründe müssen wir gesellschaftspolitische Antworten finden und nicht in erster Linie sicherheitspolitische.
Wir müssen bei der Jugend ansetzen, in der Lebensphase, in der sich Menschen typischerweise radikalisieren.
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Welche Entstehungsgründe gibt es bei jungen Leuten? Was sind die psychologischen, soziologischen Hintergründe? Denn in jungen Jahren, in frühen Lebensphasen entsteht die Anfälligkeit für Extremismus und Radikalisierung, aber eben auch die Resilienz, die Widerstandskraft, die Abwehrkraft gegen die Versuchungen radikaler Tendenzen. Deswegen müssen wir hier ansetzen.
Da kann es auch ein Instrument sein, Organisationen zu verbieten; aber durch eine möglicherweise zu starke Sicherheitspolitik kann auch genau das Gegenteil des Angestrebten erreicht werden: Sie verstärken Radikalisierungstendenzen, und damit machen Sie es sich dann sogar noch schwerer. Oder: Durch das Verbot von Organisationen verschwindet ja auch nicht das Gedankengut, das zur Radikalisierung führt, verschwinden nicht die Menschen, die radikalisieren; Sie drängen sie vielmehr in den Untergrund, und es wird dadurch schwerer, den Extremismus zu bekämpfen. Man muss also jedes Mal genau überlegen, zu welchen Mitteln man greift
Deswegen ist Ihr Antrag zu reaktiv, er ist zu eindimensional, er ist unterkomplex für ein komplexes Problem. Das Problem ist komplex, deswegen brauchen wir auch komplexe, mehrdimensionale Antworten. Das leistet Ihr Antrag nicht. Deswegen ist Ihr Antrag schlecht, und deswegen gibt es für uns nur eine Antwort: ihn am Ende abzulehnen.
Vielen Dank.
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Uli Grötsch, SPD, hat als Nächster das Wort.
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Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herzlich willkommen zur Debatte um den gefühlt 150. Antrag aus der AfD-Fraktion zum immer wieder gleichen Thema! Am Anfang möchte ich sagen: Wir bekämpfen jede Form von Extremismus gleichermaßen,
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egal ob es religiöser Extremismus ist, Rechtsextremismus oder welcher ‑ismus auch immer. Den 180-Grad-Blick, den Sie in Ihrem Antrag fordern, den haben wir dank unserer Sicherheitsbehörden schon seit Jahren.
Dennoch picken Sie sich hier die für Sie angenehmste Form heraus, die Islamisten – oder sagen wir besser: den Islam; den meinen Sie ja, die Religion,
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neben allem, was hier so links im Plenarsaal sitzt, für Sie sozusagen der Urfeind.
Dabei wissen Sie ganz genau, dass der Rechtsextremismus mit über 24 000 Extremisten das höchste Personenpotenzial hat.
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Aber ich kann Sie beruhigen – Sie wissen das; ich sage es nur der Vollständigkeit halber auch heute wieder: Auch die Islamisten haben unsere Sicherheitsbehörden natürlich auf dem Radar.
Jetzt fordern Sie, dass unsere Behörden mit Israel zusammenarbeiten sollen, um Islamisten zu bekämpfen. Dazu möchte ich schon gerne einen Satz sagen: Sie inszenieren sich hier als Verfechter jüdischer Interessen und des Existenzrechts Israels. Ihr Arbeitskreis „Juden in der AfD“ dient Ihnen dabei nur als Feigenblatt; er hat nämlich nur 20 Mitglieder. Dass Sie, Herr Gauland, bei der Rede des israelischen Präsidenten zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz offenbar demonstrativ geschlafen haben
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und dass Ihre Kollegen in den Ländern die Finanzierung der Gedenkstättenarbeit beenden wollen, das zeigt doch, was Sie in Wirklichkeit von unserer deutschen Verantwortung und dem Existenzrecht Israels halten.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir leben in Zeiten, in denen in Berlin die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus eine Broschüre herausgeben muss, wie man sich bei rechtsextremen Störversuchen bei Führungen in Gedenkstätten verhalten soll. Laut einer Zählung der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ lehnen 80 Prozent der Facebook-Kommentare unter der Erklärung Ihrer Parteivorsitzenden zum 75. Gedenktag der Befreiung von Auschwitz unsere Erinnerungskultur ab. Ihre Anhänger schreiben – ich zitiere –:
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Immer dieses Gelaber über die Juden. Ich kann diesen Rotz nicht mehr hören. – Das sind die Worte Ihrer Anhänger. – Das ist von den Juden so gewollt, sie sind die Staatsmacht.
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Oder: Sollte mal verboten werden, immer von Neuem zu erinnern. – Das kommt Ihnen bestimmt auch bekannt vor. – Oder – hören Sie gut zu, was Ihre Anhänger unter Ihren Facebook-Kommentaren schreiben; ich zitiere –:
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Den Holocaust gab es doch gar nicht. – Unwidersprochen, dieser Kommentar.
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Und wenn Sie 10 weitere Arbeitskreise in der AfD für Juden gründen und sich bürgerlich anpinseln – das ist Ihr wahres Gesicht, und das wissen alle Demokratinnen und Demokraten in diesem Land.
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Am Ende, weil Sie in Ihrem Antrag auch Prüfaufträge an das Bundesamt für Verfassungsschutz verteilen, nur noch einmal zur Erinnerung: Auch die AfD ist so ein Prüffall des Verfassungsschutzes. Der baden-württembergische Landesverband wird schon beobachtet, Herr Hess. Ihr rechtsextremistischer Flügel wird auch bereits beobachtet. Ihre Jugendorganisationen werden in Teilen dieses Landes heute schon beobachtet. In diesem Land werden wir in diesem Jahr erfahren, ob die Beweise ausreichen, damit der Bundesverband der AfD, Sie, auch ein Beobachtungsobjekt des Bundesamtes für Verfassungsschutz wird. Das würde ich für richtig halten; denn – das ist auch wichtig zu sagen –: Allein durch demokratische Wahlen wird man noch nicht zum Demokraten.
Vielen Dank.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulla Jelpke, Die Linke.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Tat geht es wieder einmal um die Lieblingswahnvorstellung der AfD: die angeblich drohende Islamisierung Deutschlands.
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Wieder einmal schürt die AfD Angst und Hass. Diesem müssen wir entschlossen entgegentreten, meine Damen und Herren!
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Denn es gibt nur wenige Themen, bei denen die Wahrnehmung und die Realität so weit auseinanderklaffen wie bei der Zahl der Muslime, die in Deutschland leben. In einer Meinungsforschungsstudie von Ipsos vom vergangenen Jahr schätzen die Befragten durchschnittlich den Anteil der Muslime an der Bevölkerung der Bundesrepublik auf 21 Prozent. In Wahrheit machen Muslime gerade einmal 4 Prozent der Bevölkerung aus. In dieser Zahl sind übrigens auch diejenigen inbegriffen, die aufgrund ihres Passes als Muslime gezählt werden, selbst wenn sie bekennende Atheisten sind oder noch nie im Leben eine Moschee betreten haben. Wie absurd es angesichts solcher Zahlen ist, von einer angeblichen Islamisierung zu sprechen, sollte jedem vernunftbegabtem Menschen klar sein.
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Besorgniserregend sind allerdings auch Umfragen, die zum Beispiel in der vergangenen Woche vom Landesinnenministerium in Hessen präsentiert wurden: Dort denkt jeder vierte Polizist, dass in Deutschland eine Islamisierung bevorsteht. Wenn sich solche Wahnvorstellungen schon in Teilen des Staatsapparates breitmachen,
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wenn dort Fake News wie von der AfD und aus rechten Schmuddelecken geglaubt wird, dann haben wir in der Tat ein Problem. Dieses Problem heißt Rassismus, heißt Islamfeindlichkeit und kommt aus der sogenannten Mitte der Gesellschaft.
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Meine Damen und Herren, jeden zweiten Tag wurde im vergangenen Jahr in Deutschland eine Moschee, eine muslimische Einrichtung oder ein religiöser Repräsentant islamfeindlich angegriffen. Das erklärt die Bundesregierung in der Antwort auf eine Große Anfrage der Linksfraktion zum Thema „antimuslimischer Rassismus“. Hinzu kommen alltägliche Diskriminierungen und Übergriffe gegen Muslime, zum Beispiel, dass Muslimas auf offener Straße beschimpft, bespuckt werden, ihnen die Kopftücher weggerissen werden und anderes mehr. Um die tausend islamfeindliche Straftaten registriert die Bundesregierung jährlich, und das ist nur die Spitze des Eisberges. Denn man muss einfach wissen, dass die Scham, zur Polizei zu gehen und diese Dinge anzuzeigen, sehr groß ist.
Die Linke sagt hier ganz klar: Islamfeindlichkeit muss ebenso entschieden bekämpft werden wie Antisemitismus und andere Formen des Rassismus.
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Meine Damen und Herren, die AfD legt in ihrem Antrag einen besonderen Schwerpunkt auf die Bekämpfung der Muslimbruderschaft. Keine Frage, die Muslimbruderschaft ist eine äußerst unsympathische Vereinigung, eine Strömung, die in ihrer Ablehnung der pluralen Demokratie, ihrem patriarchalen Familienbild und ihren reaktionären Moralvorstellungen, ich würde einmal sagen, dem durchschnittlichem AfD-Mitglied allemal näher steht als den demokratischen Vorstellungen der Linken
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und der Mitte der Gesellschaft. Aber wir sind hier weder in Kairo noch in Aleppo oder in Istanbul, in Deutschland droht keine Machtübernahme der Muslimbrüder. Solange die Anhänger der Bruderschaft sich an unsere Gesetze halten, gilt für sie wie für alle die im Grundgesetz garantierte Religionsfreiheit, und dabei sollten wir auch bleiben.
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Ich lehne es aber strikt ab, solche zweifelhaften Verbände von staatlicher Seite auch noch besonders zu fördern und zu begünstigen. Das gilt insbesondere für Vereinigungen, die direkt als Einflusswerkzeuge ausländischer Regierungen hier agieren, wie zum Beispiel den türkischen Islamverband DITIB. Da sagt Die Linke ganz klar: Die Kungelei der Bundesregierung und der Landesregierungen mit solchen Marionetten Erdogans muss endlich ein Ende haben!
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Türkische Religionsbeamte, die Hass schüren und für den Angriffskrieg auf Syrien beten, haben in Deutschland in der Tat nichts verloren, und das hat auch nichts mit Religionsfreiheit zu tun.
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Die Türkei hat sich zur zentralen Aktionsplattform für islamistische und terroristische Organisationen im Nahen Osten entwickelt – das war bereits 2016 die Einschätzung der Bundesregierung. Trotzdem muss man sagen, dass mit dem Paten Erdogan, der im Grunde genommen die Muslimbrüderschaft featuret und vorantreibt, auch heute immer noch zusammengearbeitet wird. Heute ziehen seine islamistischen Söldnertruppen eine Blutspur von Syrien bis nach Nordafrika und morgen vielleicht auch nach Europa.
Deswegen sagen wir ganz klar: Es muss Schluss sein mit der Zusammenarbeit mit Erdogan. Es muss Schluss damit sein, dass seine Organisation und Religionspropagandisten hier finanziell unterstützt werden.
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Mit dem Entzug von Waffenlieferungen und von Finanzhilfe kann man wirklich den Boden für islamistische Gruppen entziehen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Irene Mihalic, Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Islamismus und Rechtsextremismus zählen zweifellos zu den größten Bedrohungen für die innere Sicherheit. Das untermauern die Berichte des Verfassungsschutzes, das zeigen uns journalistische, aber auch wissenschaftliche Arbeiten, und das wird natürlich auch durch die Anschläge der letzten zehn Jahre mehr als deutlich, sowohl durch die geplanten und die erfolgreich verhinderten als auch durch die tatsächlich durchgeführten, leider mit vielen Verletzten und auch Toten. Daher ist es wichtig und richtig, dass entsprechende Bestrebungen wirklich eingehend analysiert werden, meine Damen und Herren.
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Wir als Grüne haben wiederholt und immer wieder auf die zum Teil gravierenden Defizite in diesem Bereich hingewiesen, die wir dringend anpacken müssen. Was wir aber ganz sicher nicht brauchen, ist ein weiterer Heuchelantrag der AfD,
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ein Antrag, in dem Sie Dinge fordern, die zum Teil schon Realität sind, zum Beispiel die Beobachtung der Muslimbrüder, ein Antrag, in dem Sie Ihren Ausländerhass mit scheinbarer Religionskritik wenn auch nur sehr schlecht zu überdecken versuchen.
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Dann kommt auch noch gerade aus Ihrer Feder die Idee einer bilateralen Sicherheitskooperation mit Israel. Ja, wahrscheinlich hat Herr Gauland genau davon geträumt, als er im Deutschen Bundestag bei der Rede des Präsidenten Rivlin hier im Plenarsaal eingeschlafen ist.
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Nein, meine Damen und Herren, es ist genau ein solches Verhalten, es ist genau dieses Verhalten wie das von Ihnen zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, das uns allen zeigt, wie Sie in Wirklichkeit zu Israel und der historischen Verantwortung Deutschlands stehen, nämlich gar nicht.
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Selbstverständlich ist der gewaltorientierte Islamismus ein virulentes Problem in unserer Gesellschaft; dem müssen wir allerdings mit ernsthaften Initiativen begegnen. Wir als Grüne haben in der Vergangenheit immer wieder auf den Handlungsbedarf hingewiesen. Unsere Vorschläge liegen seit Langem auf dem Tisch. Wir brauchen endlich ein bundesweites Präventions- und Deradikalisierungsnetzwerk.
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Wir hatten dazu in der letzten Wahlperiode auch eine große Anhörung im Innenausschuss. Die Experten haben uns allesamt in unseren Forderungen bestätigt; nur leider hat die Bundesregierung diese Impulse nicht aufgenommen. Deswegen haben wir weiterhin nur Stückwerk und einen riesengroßen Flickenteppich. Wir brauchen bei der Prävention aber endlich ein vernetztes Vorgehen von Bund, Ländern, Kommunen und auch der Zivilgesellschaft, damit wir überall gleichmäßig hohe Standards haben.
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Wir müssen die Radikalisierung effektiv da bekämpfen, wo sie ihren Ausgang nimmt, Herr Thomae; das sehen wir ganz genauso wie Sie, und hier müssen wir endlich entscheidend vorankommen.
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Auch drängen wir seit Langem darauf, dass wir mit Blick auf die vielen Hundert deutschen IS-Kämpfer im Ausland keine Laissez-faire-Politik betreiben dürfen, nach dem Motto „Aus den Augen, aus dem Sinn“. Wir sind nach der vorläufigen militärischen Niederlage des IS für die deutschen Staatsbürger in Syrien und im Irak verantwortlich. Wir müssen endlich eine geordnete Rückkehr nach Deutschland organisieren, damit radikalisierte Menschen nicht völlig unkontrolliert nach Deutschland einreisen und möglicherweise unter dem Radar der Sicherheitsbehörden hier Anschläge begehen. Aussitzen ist hier keine Lösung. Die Rückkehr muss geordnet organisiert werden, damit deutsche IS-Kämpfer hier in Deutschland garantiert der Strafverfolgung zugeführt werden können.
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Denn auch die Gefahr von islamistisch motivierten Anschlägen bleibt trotz einer gewissen Beruhigung im letzten Jahr unverändert hoch.
Die parlamentarische Aufklärung des Anschlags auf dem Breitscheidplatz zeigt, dass es einen dringenden Reformbedarf bei der föderalen Zusammenarbeit der deutschen Sicherheitsbehörden gibt. Landes- und Bundespolizeien sowie die Verfassungsschutzbehörden arbeiten viel zu häufig aneinander vorbei. Sie tauschen sich lose im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum aus, für das es im Übrigen immer noch keine einheitliche Rechtsgrundlage gibt. Außerdem gibt es immer noch keine klaren Verantwortlichkeiten für länderübergreifende Fälle.
Aber die Bundesregierung geht die dringend notwendigen Reformen in diesem Bereich einfach nicht an, sondern bleibt bei ihrem verheerenden Ansatz einer rein situativen Sicherheitspolitik. Anstatt über effektive Problemlösungen zu diskutieren, haben wir hier monatelang über die Fußfessel für Gefährder geredet. Wohin solche sicherheitspolitischen Blindflüge führen, zeigt die Arbeit unseres Untersuchungsausschusses Woche für Woche.
Gleich nach dieser Debatte hier geht es übrigens genau dort in diesem Untersuchungsausschuss weiter, und ich bin ziemlich gespannt, wen die AfD heute in den Untersuchungsausschuss schickt. – Sie sind zwar physisch anwesend, aber wenn wir einmal ganz ehrlich sind, das Arbeiten dort haben Sie jetzt nicht gerade erfunden,
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und Frau von Storch hat den Ausschuss ja schon früh aus purer Lustlosigkeit verlassen.
Wenn es Ihnen mit der Bekämpfung des islamistischen Terrorismus wirklich ernst ist, ja, dann machen Sie doch im Untersuchungsausschuss einmal richtig mit und schicken nicht jede Woche einen anderen Abgeordneten zu den Sitzungen. Legen Sie einmal Ihre geistige Vollverschleierung ab und lesen Sie die Akten!
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Dann sind Sie vielleicht auch in der Lage, den Zeugen ein paar kluge Fragen zu stellen und etwas zur Aufklärung beizutragen.
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In diesem Untersuchungsausschuss hätten Sie längst zeigen können, dass es Ihnen beim Thema Islamismus ernst ist. Aber dafür interessieren Sie sich nicht, und das zeigt wieder einmal Ihre tiefe Missachtung parlamentarischer Arbeit. Wir alle wissen das nicht erst seit den Vorgängen in Thüringen letzte Woche: Die parlamentarische Demokratie ist für Sie nur Mittel zum Zweck, unsere verfassungsmäßige Ordnung zu untergraben.
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Daher werden Sie zu Recht vom Verfassungsschutz untersucht,
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übrigens genau wie die in Ihrem Antrag genannten Organisationen auch.
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Herr Kollege Müller, ich erteile Ihnen als nächstem Redner das Wort.
Vielen Dank. – Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nachdem der Kollege Hess hier eine flammende Wahlkampfrede gehalten hat, ist es an der Zeit, glaube ich, den Antrag wieder auf sein Normalmaß zu reduzieren. Er ist nämlich weniger spektakulär, als Sie ihn hier vorgestellt haben.
Er besteht aus zwei Teilen. Im ersten Teil nennt er vier Punkte, die der Deutsche Bundestag feststellen möge: ad 1 die zunehmende Gefährdungslage für die freiheitlich-demokratische Grundordnung durch islamistische Organisationen, ad 2 deren Verschleierungstaktik, wenn es um Verbindungen zur Muslimbrüderschaft geht, ad 3 die Feststellung, dass unter dem Deckmantel humanitärer Hilfe eine Weiterbildung und Radikalisierung sowie Anwerbung zugunsten des islamistischen Terrors betrieben werde, und schließlich ad 4, dass Islamismus die geistige Grundlage für den islamistischen Terror liefere. Im zweiten Teil des Antrags folgern Sie daraus dann, dass die Bundesregierung diese Entwicklungen verstärkt beobachten möge, Verbote prüfen solle und eine bilaterale Zusammenarbeit mit Israel zur Bekämpfung des islamistischen Terrors anstreben möge.
In der Begründung stützen Sie sich dann im Wesentlichen auf die Erkenntnisse, die wir alle schon haben, auf die Erkenntnisse der Sicherheitsbehörden, und ihnen ist auch gar nicht zu widersprechen; die Kollegin Mihalic hat das gerade noch einmal deutlich gemacht. Das wirft aber schon die Frage auf, welchen Mehrgewinn bzw. welche Erkenntnis wir aus Ihrem Antrag eigentlich gewinnen können. Die Antwort ist: keine, keine relevante jedenfalls.
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Soll denn der Mehrgewinn etwa sein, dass Sie, wie Sie es gerade wieder tun, versuchen, hier Stimmungsmache zu bringen? Soll das der Mehrgewinn sein? Es dürfte dem Hause doch allgemein bekannt und auch weitestgehend, so hoffe ich doch, Konsens sein, dass islamistische Ideologien, die religiöse Normen über die der weltlichen stellen, mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland nicht in Einklang zu bringen sind. Wesentliches Merkmal der Demokratie ist die Religionsfreiheit. Das gilt allerdings auch für den Islam, Herr Kollege Hess. Die Geschlechtergleichheit lehnt islamistische Ideologie ebenfalls ab. Islamismus ist ein Synonym für die Unfreiheit, den natürlichen Gegner der rechtsstaatlichen und freiheitlichen Demokratie.
Die rechtsstaatlich garantierte demokratische Freiheit macht es für die Demokratie aber zuweilen auch schwer, sich ihrer Feinde zu erwehren, da diese die Spielräume, die ihnen die freiheitliche Demokratie gewährt, über die Gebühr ausnutzen, um sie zu bekämpfen. Ich glaube, diesen Gedanken können die Mitglieder der AfD-Fraktion sehr gut nachvollziehen. Der thüringische Landesverband hat das ja auch eindrucksvoll bewiesen.
Doch unsere Demokratie ist nicht schutzlos, im Gegensatz zu dem, was Sie hier ausführen. Sie ist wehrhaft und verfügt über eindrucksvolle Mechanismen und rechtsstaatliche Einrichtungen, die bislang allen Angriffen standgehalten haben. Seit den islamistischen Terroranschlägen vom 11. September 2001, also seit fast 20 Jahren, haben wir in Deutschland die Sicherheitsbehörden in Bund und Land gestärkt und ihnen zahlreiche Befugnisse gegeben, die oftmals auch zu Diskussionen geführt haben. Polizei, Verfassungsschutz, Nachrichtendienste, Justiz, sie alle sorgen dafür, dass wir in einem der sichersten Länder dieser Erde leben, auch wenn ein islamistisch motivierter Terroranschlag wie der vom Breitscheidplatz bedauerlicherweise nicht verhindert werden konnte, weil es eine hundertprozentige Sicherheit einfach nicht gibt.
Das funktioniert aber nicht allein mit den Mitteln der Repression, wie Sie von der AfD das hier wieder einmal deutlich zu machen versucht haben, sondern es braucht auch Präventivangebote. Wir haben auch die Repression gestärkt. Ich darf nur einmal daran erinnern, wie wir uns im Dezember des Jahres 2019 zu dem Antrag auf Verbot der Hisbollah gestellt haben. Es braucht aber auch Präventionsarbeit auf allen Ebenen, in Bund, Ländern wie Gemeinden, wie zum Beispiel das Nationale Präventionsprogramm des Bundesministeriums des Innern gegen den islamistischen Terrorismus.
Sie allerdings wollen einmal mehr suggerieren, dass wir in der Terrorabwehr erhebliche Defizite hätten, dass wir auf einem islamistischen Pulverfass sitzen würden, dessen Lunte bereits brenne, und wollen dadurch ein Klima der Angst in der Bevölkerung erzeugen, das wiederum den Nährboden für die von Ihnen geschürte Intoleranz bereiten soll. Und das machen wir hier nicht mit.
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Daher, meine sehr verehrten Damen und Herren, sehe ich überhaupt keine Anhaltspunkte für die Art der Zusammenarbeit mit Israel, die Sie auch noch verlangen. Ehrlich gesagt, ist das wieder einmal ein Stück aus der Geschichte: Die AfD oder die misslungene Darstellung als Freund und Unterstützer Israels. – Das hat doch mit der Realität, wie die Abwehrreaktionen der jüdischen Gemeinde und des jüdischen Staates Israel gegenüber Ihren Anbiederungsversuchen zeigen, wirklich nichts mehr gemein. Der Vorschlag eines Austauschprogramms zwischen israelischen und deutschen Polizisten kommt, glaube ich, aus der Welt von Absurdistan. Man möge sich einmal vorstellen, deutsche Polizisten würden in Israel Dienst tun.
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Das ist doch das Ergebnis einer völligen Geschichtsvergessenheit.
Vielen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Dr. Bernd Baumann, AfD.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In meiner Heimatstadt Hamburg zeigt sich deutlich, was in Deutschland in Sachen Islamismus alles schiefläuft. Der verheerendste Terroranschlag der Geschichte, der von Nine Eleven in New York auf das World Trade Center mit 3 000 Toten, wurde in Hamburg geplant und organisiert. Die Altparteien hatten vorher nichts gemerkt. Auch der Verfassungsschutz hatte gepennt. So etwas darf sich nie mehr wiederholen, meine Damen und Herren!
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Die Politik aber lernte daraus – nichts. Auch Olaf Scholz, der heutige Vizekanzler hinter Frau Merkel, verschloss seine Augen vor der Radikalisierung des Islams. Als Hamburger Regierungschef wollte er durch Anbiederung die Integration der Muslime erkaufen, und die Radikalen wollte er beschwichtigen. Als Ansprechpartner wählte Scholz die großen Islamverbände. Er schloss mit ihnen 2012 einen offiziellen Staatsvertrag, auch mit der sogenannten DITIB, dem größten Islamverband. Der kontrolliert allein fast 1 000 Moscheen in Deutschland, ist aber der türkischen Regierung direkt unterstellt. Erdogan und seine Imame diktieren, was in deutschen Moscheen geglaubt und gepredigt wird. Das kann überhaupt nicht so weitergehen, meine Damen und Herren.
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Auf dem Papier hatten DITIB-Funktionäre natürlich alles Mögliche versprochen. Sie redeten den Gutmenschen nach dem Mund und wollten sich laut Vertrag unbedingt einsetzen für religiöse Toleranz, für Gleichberechtigung von Mann und Frau, für Homosexuelle, für unsere Demokratie und Verfassung; angeblich alles werde getan für Frieden, Freundschaft, für Menschenrechte. Aber, meine Damen und Herren, das Gegenteil war der Fall. Die Islamverbände wurden immer radikaler, immer frauenfeindlicher, immer verfassungsfeindlicher, und wieder haben Sie alle nichts bemerkt.
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Die Zahl der gewaltbereiten Dschihadisten explodierte in Hamburg unter Olaf Scholz auf das Zehnfache. Der Vorsitzende der DITIB-Moschee in Hamburgs größtem Stadtteil wurde ertappt, wie er seinen Glaubensbrüdern predigte: Demokratie ist für uns nicht bindend, uns bindet allein der Koran. – Ein anderer hoher DITIB-Funktionär bezeichnete die Deutschen als „Köterrasse“, als „Hundeclan“; weiter: „Diese Schlampe mit dem Namen Deutschland hat uns den Krieg erklärt“.
Meine Damen und Herren, die Grünen fanden diese Verachtung für Deutschland so super, dass sie diesen DITIB-Mann gleich als ihren Kandidaten für die Bürgerschaftswahl aufstellten. Wie verrückt kann man überhaupt noch werden, meine Damen und Herren!
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Schlimmer noch: Für die bloßen Lippenbekenntnisse, für hohle Versprechungen, hat der rot-grüne Senat die Islamverbände massiv gefördert. Sie können längst eigene muslimische Mitglieder in die wichtigen Rundfunkräte unserer öffentlich-rechtlichen Sender schicken. Sie bekamen Einfluss auf deutsche Schulen, deutsche Universitäten, Steuerprivilegien und vieles mehr. Und so gewinnen radikalisierte Muslime immer mehr Macht in Deutschland.
Meine Damen und Herren, wir dürfen der Täuschung und der Verschlagenheit vieler Islamverbände nicht länger erliegen. Wir müssen uns wehren. Stimmen Sie unserem Antrag zu!
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Nächster Redner ist der Kollege Helge Lindh, SPD.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Rede soll ein Bekenntnis sein. Sie soll ein Bekenntnis einer Schuld sein. Das ist meines Erachtens längst überfällig.
Gerade dieser Antrag gebietet es, daran zu erinnern, was wir brauchen. Wir brauchen ernsthaft einmal ein Denkmal in unserem Herzen, unserem Hirn und unserem Handeln für die Leistungen, die Musliminnen und Muslime in den letzten Jahrzehnten in diesem Land für dieses Land erbracht haben.
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Und wir brauchen ein Mahnmal in unserem Herzen, unserem Hirn und in unserem Handeln für das, was an Gewalt und Missachtung Musliminnen und Muslimen in diesem Land in den letzten Jahrzehnten widerfahren ist. Im Namen aller, die in der Vergangenheit und gegenwärtig in der politischen Kultur und in der politischen Klasse dieses Landes Verantwortung tragen, sage ich jetzt hier: Ich entschuldige mich dafür, für diese Diskurse der letzten Jahrzehnte,
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diese unnützen, diskriminierenden, stigmatisierenden Islamdebatten. Wir haben so viele davon erlebt. Wir alle in diesem Raum wissen das genau, und alle wissen, dass die AfD letztlich auch ein Ergebnis genau dieser Debatten ist.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, was ist eine Lehre der Schande von Thüringen? Eine Lehre von Thüringen ist: Man spielt nicht mit der Demokratie. – Genau das aber tut die AfD.
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Wer mit der Demokratie spielt, der spielt mit Menschen,und dieses Spiel hat auch Opfer.
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Insbesondere sind Muslime aktuell und in der Vergangenheit Opfer dieses perfiden Spiels.
Weil das so ist, stehen wir als SPD-Fraktion
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ganz entschieden nicht an der Seite von Michael Heym, Fraktionsvize der CDU in Thüringen, sondern ganz entschieden an der Seite von Angela Merkel. Und weil das so ist – –
Herr Kollege, guten Morgen erst einmal, –
Guten Morgen.
– erlauben Sie eine Zwischenfrage eines Kollegen von der AfD?
Ich erlaube sie und hoffe, dass er die Frage vorher auch gut auswendig gelernt hat und sie sauber aufsagen wird.
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Lieber Herr Kollege, es gab keine Gelegenheit, eine Frage auswendig zu lernen, weil wir alle überrascht sind, wie Sie von dem Thema dieser Debatte abweichen.
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Aber da Sie das tun, möchte ich gerne hier zum Fall Thüringen eine Frage stellen; denn Sie haben das offenkundig gerade selbst zum Thema gemacht und hier kundgetan, man hätte hier die Demokratie irgendwie beschädigt.Dann erklären Sie doch bitte einmal sowohl mir als auch den Zuschauern auf der Tribüne und auch draußen,
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wie es eigentlich funktionieren kann, dass, wenn ein – dann demokratisch gewählter – Ministerpräsident von den Mitgliedern des Parlaments gewählt wird und eine rechtsstaatliche Partei von ihrem Recht Gebrauch macht, einen sozialistischen Ministerpräsidenten nicht zu wählen,
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das in irgendeiner Weise die Demokratie beschädigen soll, oder welche Rechtsgrundlage Sie dafür sehen, dass dies eben nicht rechtens sein soll. Das müssten Sie uns allen hier noch einmal erklären, bitte.
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Bevor jetzt Kollege Lindh das Wort hat, kann ich nur darauf hinweisen, dass das ein anderes Thema ist und dass wir dazu eine Aktuelle Stunde haben.
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Aber Herr Lindh hat die Möglichkeit, darauf zu antworten.
Ja, mit Freude antworte ich, weil es natürlich zusammenpasst. Sie können das ja in der Aktuellen Stunde noch ausführen; es wird aber nicht besser werden.
Thüringen ist das Beispiel für einen perfiden spielerischen – im schlechten Sinne –, destruktiv-spielerischen Umgang mit der Demokratie. Und genau das machen Sie hier auch.
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Auf dem Antrag steht zwar „Islamismus“, aber Ihnen ist – sprechen wir es auf Deutsch aus – Islamismus doch scheißegal, wenn ich das hier sagen darf. Es interessiert Sie nicht.
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Das Thema dieses Antrages ist antimuslimischer Rassismus und Islamhass; nichts anderes streben Sie damit an.
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Deswegen rede ich sehr wohl zum Thema, ich rede genau zum Thema. Jedes andere Thema wäre verfehlt. Und deshalb werde ich auch weiter zu diesem Thema reden und werde weiter sagen: Wir stehen an der Seite all derer – ich erwähne jetzt zum Beispiel Marco Wanderwitz, auch wenn ich ihn hier gar nicht sehe; aber es betrifft auch andere –, die ganz klar Widerspruch üben gegen jede Form des Kompromisses mit der Form von Politik, die Sie betreiben, und wir halten als Demokratinnen und Demokraten hier in diesem Hause alle zusammen.
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Was haben die erlebt, und weshalb halte ich es für notwendig, dieses Bekenntnis der Schuld abzugeben? Es vergeht keine Veranstaltung zum Thema Islam oder Muslime oder Migration, in der nicht nach fünf bis zehn Minuten der Hinweis auf Verfassungstreue kommt. Haben Sie sich einmal überlegt, wie sich Muslime fühlen, wenn man sie immer damit konfrontiert, als ob man ihnen erklären müsste, was Demokratie und Verfassung seien? Lesen Sie die Werke von Hilal Sezgin. In jeder ihrer Lesungen steht irgendwann eine selbsternannte Bildungsbürgerin oder ein selbsternannter Bildungsbürger auf, liest ihr beispielsweise eine Sure vor und erklärt ihr, wie schrecklich frauenfeindlich, menschenfeindlich und demokratiefeindlich der Islam sei, und sie muss sich rechtfertigen und erklären.
Was ist in den Moscheen los gewesen? Ich habe es erlebt, ich war nämlich nach dem Anschlag von Christchurch da, als Menschen verängstigt waren und hofften, Polizeischutz zu bekommen. Was bedeutet es für Musliminnen und Muslime, dass gestern wieder in vier Moscheen in Nordrhein-Westfalen Morddrohungen eingegangen sind, eine Morddrohung in Hagen unterschrieben mit „Combat 18“? Was macht das mit Menschen? Stellt sich einer in diesem Hause diese Frage? Nein! Das ist genau das Thema Ihres Antrages: der Islamhass und die Islamophobie.
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Deshalb gehe ich noch weiter; denn wir haben die Souveränität, auch auf uns selbst zu schauen. Ich schäme mich ausdrücklich, dass aus meiner Partei ein Thilo Sarrazin kommt. Ich weiß noch: Ich habe damals als Juso 25 Minuten meines Zorns für eine Philippika gegen ihn genutzt. Dieser Mann, Thilo Sarrazin – und das ist richtig –, gehört nicht zu uns; er gehört zu Ihnen und in die Pegida und nirgendwo sonst.
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Wenn man – das ist in den letzten Jahrzehnten geschehen; wir alle sollten uns überlegen, was passiert ist – im Alltag stückweise Verachtung sät, wenn man Muslimen und Muslimas erklärt, wie ihr Islam zu sein hat, was wir von ihnen erwarten, wie sie sich zu verhalten haben, wird man am Ende Hass ernten.
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Das Ergebnis ist unter anderem die AfD.
Daher appelliere ich an uns alle: Erklären wir nicht weiterhin Muslimen und Muslimas in diesem Land, was moderner Islam ist. Hören wir auf mit dieser Kultur der Bevormundung, und klären wir zum Beispiel endlich auf, was für ein Skandal der NSU war, was struktureller Rassismus in diesem Land angerichtet hat und was es bedeutet, in diesem Land zum Beispiel als Frau mit Kopftuch, bestens ausgebildet, zu versuchen, eine Stelle in einem Krankenhaus oder im Management zu bekommen. Wenn wir diese Fragen beantwortet haben, dann, erst dann können wir weitere Debatten über Islamismus führen.
Vielen Dank.
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Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen, von mir Ihnen! – Danke Helge Lindh. – Der nächste Redner: für die FDP-Fraktion Konstantin Kuhle.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am 14. Januar 2020 entschied das Bundesverwaltungsgericht, dass der türkische Staatsangehörige Ahmet K. aus Göttingen, meinem Wahlkreis, nicht als Gefährder in die Türkei abgeschoben werden darf. Der 29-Jährige ist wegen Körperverletzungs- und Betrugsdelikten vorbestraft. Die Behörden hatten sein Telefon abgehört und auf diese Weise herausgefunden, dass er Kontakte in die islamistische Szene hat. Die Behörden stuften ihn als Gefährder ein und nahmen ihn in Abschiebehaft, und das niedersächsische Innenministerium ordnete am 5. April 2019 die Abschiebung als Gefährder nach § 58a des Aufenthaltsgesetzes an, die sogenannte Gefährderabschiebung.
Nach Auffassung des Ministeriums ist Ahmet K. nicht lediglich ein Anhänger der radikal-religiösen Einstellung, sondern er sympathisiert ganz offen mit dem „Islamischen Staat“ und kann sich vorstellen, einer militanten, gewaltbereiten Auslegung des Islam zu folgen. Er hält auch persönlich den Einsatz von Gewalt für die Durchsetzung seiner islamistischen Auffassung für gerechtfertigt.
Das Bundesverwaltungsgericht hat sich entschieden, festzuhalten, dass die Bedrohung für die Sicherheitslage in Deutschland nicht hinreichend dargetan ist, und diese Person hält sich weiter in Göttingen, in meinem Wahlkreis, auf. Das Bundesverwaltungsgericht hat nicht entschieden, dass er nicht gefährlich ist, sondern es hat entschieden, dass die Gefährlichkeit, die für ein Vorgehen nach § 58a des Aufenthaltsgesetzes erforderlich wäre, nicht dargetan ist.
Dieser Fall zeigt: Es geht vom gewaltbereiten Islamismus in Deutschland eine ganz konkrete Gefahr für die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger aus, und wir sind als Politik, als Staat verpflichtet, das Leben und die körperliche Unversehrtheit unserer Bürgerinnen und Bürger zu schützen.
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Deswegen ist es auch richtig, hier über Islamismus miteinander zu sprechen. Aber sobald es konkret wird, liebe Kolleginnen und Kollegen von der AfD, ist bei Ihnen völlig tote Hose. Deswegen will ich in der Kürze der Zeit vier Vorschläge machen, die ganz wichtig sind bei der Bekämpfung von Islamismus und bei der Bekämpfung von gewaltbereitem Extremismus.
Das ist erstens die Erkenntnis – und das ist hier auch schon hinreichend deutlich gemacht worden –, dass die wichtigsten Verbündeten im Kampf gegen gewaltbereiten Extremismus und gegen gewaltbereiten Islamismus moderate Muslime sind. Weltweit sind die meisten Opfer von Islamismus Muslime. Deswegen brauchen wir für die Bekämpfung von Islamismus die Kooperation mit islamischen Verbänden, brauchen wir ein Aufeinanderzugehen, brauchen wir Prävention. Da ist von Ihnen hier nichts zu lesen, und deswegen ist dieser Antrag völlig an der Sache vorbei und hat überhaupt nichts mit der Lebensrealität von Muslimen in Deutschland zu tun.
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Zweitens. Die wissenschaftliche Expertise in den Sicherheitsbehörden muss gestärkt werden; das ist von der Kollegin Mihalic schon gesagt worden.
Drittens. Der Fall Anis Amri hat uns gezeigt, dass im föderalen Abstimmungsprozess unserer Sicherheitsbehörden noch deutlich Nachbesserungsbedarf besteht. Deswegen braucht es eine Föderalismusreform III im Bereich der inneren Sicherheit und eine gesetzliche Grundlage für das GTAZ.
Viertens. Wir brauchen eine einheitliche europäische Gefährderdefinition.
Das alles wären konkrete Dinge, die man tun kann. Aber hier einfach das Wort „Islam“ aufzuschreiben und ein bisschen Islamismus miteinander zu vermengen, bringt uns überhaupt nicht weiter, und deswegen muss dieser Antrag abgelehnt werden.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Konstantin Kuhle. – Nächster Redner: Philipp Amthor für die Fraktion der CDU/CSU.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Grundanliegen der AfD, klare Haltung gegen religiösen Extremismus, gegen den Islamismus zu zeigen, ist ganz richtig. Das entspricht auch dem Handeln unserer Sicherheitsbehörden. Aber Ihr Antrag, so wie Sie ihn heute vorgelegt haben, ist vor allem eines: Er ist scheinheilig. Er ist scheinheilig in gleich dreifacher Hinsicht: zum einen in der Frage, wie Sie den Verfassungsschutz verengen. Man kann Ihnen eigentlich gratulieren; denn Sie machen große Fortschritte in der parlamentarischen Arbeit. Die Seiten 170 bis 228 des Verfassungsschutzberichts – Islamismus und religiöser Extremismus – haben Sie anscheinend gelesen. Ich kann Ihnen nur empfehlen: Lesen Sie doch auch die Seiten davor, die Seiten 46 bis 92. Da geht es um Rechtsextremismus, und damit sollten Sie sich auseinandersetzen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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– Sie sagen, das sei nicht das Thema.
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Ich will Ihnen auch sagen: Für uns ist eines klar: Den Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung gibt es nicht à la carte,
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sondern den gibt es nur im Gesamtzusammenhang, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Wenn Sie dann sagen: „Das ist alles gar nicht so schlimm“, will ich in aller Klarheit erwidern: Liebe Kolleginnen und Kollegen, diejenigen, die Extremisten in ihren eigenen Reihen dulden und Grenzen zum Extremismus verschwimmen lassen, sind nicht besser als die Extremisten selbst. – Das muss für uns klar sein.
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– Schön, dass Die Linke da nicht klatscht, liebe Kolleginnen und Kollegen; auch das sollten wir sehen.
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Aber die Scheinheiligkeit bezieht sich nicht nur auf Ihren Umgang mit dem Extremismus, sondern natürlich auch auf Ihre Haltung zu Israel. Es ist schön und richtig, dass Sie eine stärkere bilaterale Sicherheitskooperation mit Israel fordern. Das entspricht der Realität unserer Sicherheitsbehörden, und das ist auch ein richtiges Ziel; aber zu bilateralen Beziehungen gehören eben immer zwei. Ich kann Ihnen empfehlen, mit israelischen Kollegen zu reden. Wenn man sich nämlich mit den Kollegen aus Israel unterhält, erfährt man vor allem eines: dass sie in großer Sorge sind über den aufstrebenden Rechtspopulismus in Deutschland. – Und Sie sind kein Beitrag für bessere bilaterale Beziehungen zu Israel.
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Außerdem bezieht sich die Scheinheiligkeit natürlich darauf, dass Sie hier überhaupt über den Verfassungsschutz reden. Ich erinnere mich hier noch an Debatten, als sich der Verfassungsschutz ganz bewusst und richtig entschieden hat, beim Flügel näher hinzuschauen und auch die Beziehungen zur rechtsextremistischen Gruppierung innerhalb der AfD anzuschauen. Da war Ihre Forderung noch, den Verfassungsschutz am besten abzuschaffen, seine Haushaltsmittel völlig zu reduzieren.
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Dazu muss man eines sagen: Da sind Sie keinen Deut besser als die Linkspartei und andere.
({8})
Der Verfassungsschutz ist kein Mittel des politischen Kampfes, der dann blind sein soll auf einer Seite, sondern er soll volle Front gegen jede Form von Extremismus angehen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Außerdem – auch das ist angeklungen – ist Ihre Lösung reichlich eindimensional. Dass Sie über Vereinsverbote in der islamistischen Szene reden, ist richtig, und das ist auch etwas, was unser Bundesinnenministerium praktiziert. Aber wir dürfen alle nicht vergessen: Vereinsverbote können vielleicht organisatorische Strukturen einschränken, aber sie verhindern dadurch noch lange nicht die extremistische Gesinnung. – Deswegen brauchen wir zusätzlich zu repressiven Maßnahmen Prävention und Integration. Für genau einen solchen ganzheitlichen Ansatz steht unsere Regierungskoalition.
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Herr Kollege Amthor, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung von Frau De Ridder?
Ja.
Vielen Dank, lieber Kollege Amthor, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Sie haben eben darauf verwiesen – so war zumindest Ihre Rede zu verstehen –, dass der Extremismus von rechts dem von links aufs Haar gleiche. Ich weiß nicht, ob ich Sie da richtig verstanden habe; aber Sie scheinen ein Anhänger der Hufeisentheorie zu sein, die eine Gleichsetzung beider Formen des Extremismus vornimmt und damit auch der Formen der Gewalt, die damit möglicherweise einhergehen.
Halten Sie dies nicht für eine gefährliche Gleichsetzung, und besteht damit intendiert nicht auch die Möglichkeit einer völligen Verharmlosung der extremen Gewalt von rechts?
({0})
Mir ist beispielsweise keine Gewalttat von links bekannt,
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die etwa eine Moschee oder eine Synagoge angegriffen hat, sehr wohl aber Letzteres in Bezug auf Halle im Rahmen von rechter Gewalt. Wie schätzen Sie das ein, und habe ich Sie da richtig verstanden?
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Frau Kollegin De Ridder, zuallererst ich bin nicht ein Freund der Hufeisentheorie. Aber ich bin ein ganz fest überzeugter Freund unserer Verfassung und des Verfassungsschutzes, und dazu gehört eine klare Haltung gegen jede Form von Extremismus.
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Es wundert mich dann doch sehr, dass man jetzt auch in der SPD anscheinend diese Theorie heranzieht. Genauso, wie man den Befürwortern einer klaren Haltung gegen Rechts- und Linksextremismus vorwirft, dadurch Rechtsextremismus verharmlosen zu wollen, versucht man mit dieser Theorie, Linksextremismus zu verharmlosen. Für uns gibt es da keine Abstriche. Das, was strafbar ist, das, was sich gegen unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung richtet, muss bekämpft werden, und dafür stehen wir mit fester Überzeugung.
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– Ja, das können Sie ja gerne rufen.
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Ich glaube, es ist bezeichnend, dass man sich hier angesprochen fühlt, wenn andere klar gegen Extremismus vorgehen. Das müssen Sie zuallererst mit sich selbst ausmachen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, um noch mal ein bisschen die Emotionen rauszunehmen: Wenn Sie alle von rechter und linker Seite etwas Sachliches für den Verfassungsschutz tun wollen, dann rate ich Ihnen: Wenn man Islamismus, wenn man Extremismus effektiv bekämpfen möchte, dann braucht man dafür nicht nur Sonntagsreden auf den Verfassungsschutz, sondern dann braucht man einen Verfassungsschutz mit Kompetenzen auf der Höhe der Zeit. Genau daran arbeiten wir mit der bevorstehenden Novelle des Bundesverfassungsschutzgesetzes.
Wenn wir es jetzt schaffen, Kompetenzen auf der Höhe der Zeit zu gestalten – mit der Onlinedurchsuchung, mit der Quellentelekommunikationsüberwachung, mit der forensischen Systemkopie –, dann haben wir einen Verfassungsschutz, der stark ist, der gut vorgehen kann, der noch besser als heute gegen jede Form von Extremismus streiten kann. Das zu tun, ist unsere feste Grundüberzeugung.
Herzlichen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({4})
Vielen Dank. – Nächste Rednerin: für die Fraktion der SPD Aydan Özoğuz.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für mich ist eines erst mal sehr klar festzustellen: Für Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist jeder Extremismus einer, den man zu bekämpfen hat.
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Wir akzeptieren überhaupt keinen Extremismus; ich glaube, dahin zielte die Frage eben auch nicht. Das möchte ich hier noch einmal klarstellen.
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An dieser Stelle muss man noch mal sagen – da es eben schon Beschimpfungen von einer Seite des Hauses gab –: Vielleicht wäre es ganz angebracht, zu sagen: Wir danken unseren Sicherheitsbehörden, wir danken unserer Polizei dafür,
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dass sie – ob nun islamistische Gefährder oder Rechtsextremisten – alle im Visier hat, alle wirklich verfolgt und uns und unsere Gesellschaft vor Extremismus schützt.
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Ich möchte drei Punkte kurz ansprechen, die mir in diesem Antrag besonders auffallen und die ich sehr wichtig finde: Er ist verallgemeinernd, er ist scheinheilig – das wurde eben schon gesagt –, und er ist eben auch diffamierend.
Verallgemeinernd ist Folgendes: Die AfD hat in ihrem Antrag eine ganze Reihe von Zeitungsberichten zusammengestellt – übrigens interessant, weil Medien von Ihnen ja sonst eher beschimpft werden und eher nicht als Wahrheitsfinder bekannt sind –, und es wird folgendes Bild gezeichnet – das möchte ich schon noch mal betonen –: Gerade die Organisationen, die sich nicht zur Muslimbruderschaft bekennen, wären umso gefährlicher. Also alle, die das nicht tun, die gar nichts dazu sagen, sind umso gefährlicher. – Es ist eine lose Ansammlung von Verdachtsmomenten, aus denen eine verschwörungstheoretische Schlussfolgerung gezogen wird. Das ist so simpel, wie es abstrus ist, und das ist vor allen Dingen auch sehr gefährlich.
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Im Übrigen ist der Antrag sehr scheinheilig und berechnend, wenn man so will, weil er die Zusammenarbeit mit der israelischen Polizei einfordert. Ich finde, dazu ist wirklich genug gesagt worden. Ich finde es einfach bezeichnend, wenn auch in Israel gesagt wird, dass man Mitglieder der AfD gar nicht erst empfangen möchte; das sagt alles darüber. Mit diesem Antrag wollen Sie etwas anderes suggerieren; aber ich glaube, das gelingt Ihnen hier nicht.
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Was natürlich auch wichtig ist, ist der Teil, wie diffamierend Sie hier eigentlich vorgehen. Sie erwecken den Eindruck, dass die genannten Tendenzen hin zu einem islamischen Gottesstaat, zu einem islamistischen Extremismus von allen Muslimen in Deutschland geteilt werden. Mit keinem Wort gehen Sie darauf ein, wie viele Menschen es gibt, die beispielsweise nach Deutschland geflohen sind, um gerade vor solchen Extremisten zu fliehen, um von denen und von solchen Strukturen wegzukommen.
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Das ist die pauschale Diffamierung, die nicht hinnehmbar ist.
Ein letztes Wort. Herr de Vries, ich fand es dann doch etwas eigenartig, dass Sie hier ein bisschen Hamburger Wahlkampf reinbringen,
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ausgerechnet mit einer Idee, die von Ole von Beust stammt und die die CDU in Hamburg jahrelang hin und her debattiert hat und nie zu einem Ergebnis kam. Es hat zu einem wirklich guten Ergebnis geführt,
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nämlich zu sagen: Man spricht mit Verbänden, man handelt mit ihnen, man lässt sie Dinge aufschreiben, und man macht das eben gemeinsam.
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Sie sollten wissen, dass es keine Staatsverträge sind – das kann mir auch Herr Baumann noch dreimal sagen, der es eigentlich auch wissen müsste –; es sind Gesellschaftsverträge, die da geschlossen wurden. Es ist der richtige und wichtige Schritt, um gemeinsam zu besseren Vereinbarungen mit diesen Verbänden zu kommen. Diese sollten wir überall in Deutschland haben und nicht immer nur schlechtreden, damit man am Ende auf die Vereine draufschlagen kann.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Aydan Özoğuz. – Letzter Redner: Dr. Volker Ullrich für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zum Ende der Debatte darf ich das Gesagte einordnen. In Deutschland gilt Religionsfreiheit, und das gilt auch für den Islam. Aber die Religionsfreiheit wird, obwohl es ein schrankenloses Grundrecht ist, nicht ohne Schranken gewährt. Die Beschränkungen ergeben sich aus der verfassungsmäßigen Ordnung. Das bedeutet, dass Religionsausübung natürlich die grundlegenden Wertentscheidungen unserer Verfassung beachten muss: die Trennung zwischen Staat und Religion, Pluralismus, Individualität, die Würde des Menschen und die Unverletzlichkeit der Person.
Vor diesem Hintergrund ist festzustellen, dass der Islamismus in seiner gewaltbereiten Ausprägung eine Bedrohung für die freiheitlich-demokratische Grundordnung darstellt. Der wehrhafte Rechtsstaat muss sich mit den Mitteln des Rechtsstaates, mit den Mitteln des Gesetzes und ordnungsgemäßer Verfahren gegen diese Bedrohung stellen. Wir dürfen dieser Bedrohung nicht begegnen, indem wir als Rechtsstaat selbst die Maßstäbe verlieren. Deswegen heißt es ganz klar, dass wir mit unserer gesetzlichen Ordnung gegen den Islamismus kämpfen. Das darf nicht dazu führen, dass wir Hasspredigen mit Hasspredigen vergelten. Vielmehr müssen wir deutlich machen, dass dieser freiheitliche demokratische Staat insgesamt gegen jeden Extremismus kämpft, gleich welcher Couleur; denn die Bedrohungen mögen aus unterschiedlichen Richtungen kommen, aber sie alle wollen die verfassungsmäßige Ordnung zersetzen. Dagegen setzen wir uns zur Wehr.
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Es ist bereits viel über diesen Antrag gesagt worden. Er ist auch entlarvend, beispielsweise wenn Sie im Punkt 3 Ihres Beschlusstextes davon sprechen, dass sich Nichtdeutsche und Menschen mit Migrationshintergrund radikalisieren und abwenden. Ich kenne auch genügend Deutsche, die sich von der freiheitlich-demokratischen Grundordnung abwenden wollen. Einige davon sind auch in Ihrer Partei. Solange Sie sich davon nicht distanzieren, machen Sie sich schuldig, dass auch Sie diese Ordnung beseitigen wollen.
({1})
Das gilt insbesondere auch für die Frage des Antisemitismus. Es ist schon ein perfides Spiel, wenn Sie auf der einen Seite eine Kooperation mit Israel vorschlagen und auf der anderen Seite jemanden in Ihren Reihen dulden – Herr Gauland hat Herrn Höcke einen Mann der Mitte genannt –, der eine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad fordert. 180 Grad bedeutet: genau andersherum. Das zeigt, dass Sie all das, was unser Land groß gemacht hat, nämlich die Erinnerung an den Holocaust und die schlimmsten Stunden unserer Geschichte, beseitigen wollen. Sie haben es als Vogelschiss bezeichnet, Herr Kollege Gauland. Das zeigt, dass Sie es nicht ernst meinen und dass Sie Antisemitismus in Ihren Reihen dulden. Deswegen ist es entlarvend und peinlich, wenn Sie als AfD hier von einer Kooperation mit Israel sprechen.
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Es geht darum, dass wir Radikalisierung bekämpfen. Dazu brauchen wir einerseits den starken Rechtsstaat mit seinen Verfahren. Dort haben wir gehandelt und werden weiter handeln. Allein über 1 000 neue Stellen beim Bundeskriminalamt zeigen, dass wir dieser Gefahr ins Auge sehen und dass der wehrhafte Rechtsstaat handeln möchte.
Aber es ist nicht allein die Frage der gesetzlichen Voraussetzungen, sondern wir müssen auch über folgende Fragen sprechen: Warum radikalisieren sich Menschen? Warum wird jemand zum Hassprediger? Kein Mensch wird als Islamist, als Linksextremist oder als Rechtsextremist geboren. Menschen werden dazu. Die Frage, die wir uns stellen müssen, ist: Was passiert in sozialen Gemeinschaften, was passiert in entsprechenden Umfeldern, dass sich Menschen radikalisieren? Dieser Staat muss neben den gesetzlichen Grundlagen stärker in die Bildungs- und Präventionsarbeit investieren. Er muss sich fragen: Was können wir an den Schulen, was können wir bei den Lehrplänen tun, damit Menschen nicht zu Radikalen werden? Sie sollten Respekt und Toleranz üben und in Bezug auf die Religion deutlich machen, dass religiöse Vorschriften oder gar die gewaltsame Durchsetzung von religiösen Vorschriften nicht im Einklang mit unserer Verfassung stehen, vor allen Dingen auch nicht im Einklang mit einem toleranten und respektvollen Miteinander in diesem Staat. Das ist das, was uns leiten muss.
All das binden wir zusammen: die Wachsamkeit gegen den Extremismus religiöser Art, gegen den Extremismus anderer politischer Art, aber auch eine Ermutigung all derjenigen Menschen, auch der vielen Muslime, die schlichtweg friedlich, tolerant und respektvoll mit uns leben wollen. Das ist die Stärke unseres Landes. Die lassen wir uns von niemandem nehmen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Dr. Volker Ullrich. – Damit schließe ich die Aussprache.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit – das war der Slogan, der auf Spruchbändern, Mauern und Wänden allgegenwärtig war, als ich im September den Sudan besucht habe. Es war der Slogan der Freiheitsbewegung, getragen vor allen Dingen von jungen Sudanesinnen und Sudanesen. Nach 30 Jahren eiserner Diktatur war ihnen das bis dahin sowohl im Land, aber auch außerhalb des Landes kaum Vorstellbare gelungen, nämlich die Unterdrückung des Baschir-Regimes gewaltlos abzuschütteln. Die Tatsache, dass die sudanesische Regierung im Fall Baschir jetzt die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof sucht, zeigt den großen Willen der Übergangsregierung, die Verbrechen der Vergangenheit aufzuarbeiten und damit Vertrauen in der Bevölkerung zu schaffen.
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Der Übergangsprozess, in dem das Militär, alte Eliten und die junge Zivilgesellschaft zusammenarbeiten, gelingt bis heute – das ist für viele überraschend – wirklich gut. Die politische Wirkung dieses auch in der Region beispiellosen Umbruchs geht weit über den Sudan hinaus. Viele in Afrika und der arabischen Welt blicken gerade jetzt gebannt und voller Hoffnung auf das sudanesische Modell.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass nach jahrzehntelanger Diktatur die politische Transition immer noch auf tönernen Füßen steht. Hinzu kommen die äußerst prekäre wirtschaftliche Lage und die weitverbreitete Vetternwirtschaft, ein Erbe der Baschir-Zeit. All das stellt die noch sehr junge Demokratiebewegung vor fast unlösbare Aufgaben. Deshalb waren wir ganz bewusst im September 2019 die Ersten, die nach der friedlichen Revolution in den Sudan gereist sind und dort auch Angebote zur Unterstützung gemacht haben. Es ging darum, deutlich zu machen: Wir unterstützen die Übergangsregierung auf dem schwierigen Weg in Richtung Demokratie und wirtschaftlicher Öffnung. Es ist ein wichtiges Zeichen, dass in Kürze auch der deutsche Bundespräsident nach Karthum reisen wird.
Wie sehr die Verantwortlichen im Sudan gerade auf uns, auf Deutschland, setzen, ist in meinen mittlerweile drei Treffen mit Premierminister Hamdok sehr, sehr deutlich geworden. Ein Grund dafür ist, dass wir den Sudan auch während der Baschir-Zeit nie aus den Augen verloren haben. Wir sind seit Langem der einzige westliche Truppensteller in der Friedensmission UNAMID. Und schon zu Baschirs Zeiten hatten wir belastbare Gesprächskanäle auch zu den Kräften, die jetzt im Sudan Verantwortung tragen – auch dank eines von uns unterstützten Mediationsprojektes vor Ort.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Frieden im Sudan und die Wiederbelebung der dortigen Wirtschaft, das sind die zwei großen Prioritäten, die sich die Übergangsregierung gesetzt hat. Auch daran orientiert sich unsere Unterstützung.
Was den Frieden angeht: Khartum hat erste, mutige Schritte unternommen, um die Konflikte in Darfur und anderen Landesteilen gemeinsam mit den dortigen Rebellengruppen zu lösen. Das ist wahrlich keine einfache Aufgabe.
Wie weit der Weg hin zu einem dauerhaften Frieden allerdings noch ist, das haben auch die Unruhen Anfang dieses Jahres in West-Darfur noch einmal gezeigt. Deshalb hat die Regierung von Premierminister Hamdok – anders als die Vorgängerregierung – ausdrücklich um eine Verlängerung der Friedensmission UNAMID gebeten. Die von Großbritannien und uns ausgehandelte Sicherheitsratsresolution und der heute zur Debatte stehende Antrag der Bundesregierung tragen dem deshalb besonders Rechnung.
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Gleichzeitig, liebe Kolleginnen und Kollegen, arbeiten wir bereits an der Ausgestaltung einer zivilen Nachfolgemission. Denn die Zukunft des Sudans steht und fällt letztlich mit der Bereitschaft der internationalen Gemeinschaft, Transition als politische Aufgabe zu begreifen und diese dauerhaft und nachhaltig zu begleiten.
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Das wollen wir tun und heute auch zum Ausdruck bringen.
Der Generalsekretär der Vereinten Nationen wird dem Sicherheitsrat dazu in Kürze eigene Vorschläge unterbreiten. Wir werden dabei darauf achten, dass die Vereinten Nationen auch in Zukunft die zentrale Stütze im Transitionsprozess und bei der Friedenskonsolidierung sind und auch bleiben.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch bilateral werden wir die Aussöhnung weiter flankieren; das ist auch bitternötig. Deshalb habe ich Premierminister Hamdok angeboten, dass wir unser Engagement im Bereich der Mediation fortführen, wenn das von sudanesischer Seite gewünscht wird. Wir haben das Versprechen eingelöst, dass die Übergangsregierung durch die Max-Planck-Stiftung bei der Ausarbeitung einer Übergangsverfassung unterstützt wird. Das findet jetzt statt.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Baschir-Regime hat das Land aber nicht nur politisch unterdrückt, sondern es hat es vor allen Dingen auch wirtschaftlich ausgeplündert. Wenn wir nicht wollen, dass die friedliche Revolution an wirtschaftlicher Not und enttäuschten Erwartungen in der Bevölkerung scheitert, dann müssen wir auch hier ansetzen. Wir haben deshalb die internationale Unterstützergruppe „Friends of Sudan“ mit ins Leben gerufen, die das Engagement der internationalen Finanzinstitute und Finanzgeber mobilisieren, vor allem aber auch koordinieren soll.
In diesem Rahmen dringen wir auch auf eine – das wird ein wichtiges Thema werden, wenn der Sudan wirtschaftlich eine Perspektive bekommen soll – vollständige Aufhebung der bilateralen US-Sanktionen, die die wirtschaftliche Entwicklung des Sudans zusätzlich belasten.
({4})
Um schnelle Fortschritte zu erzielen, setzen wir zudem auf bilaterale Stabilisierungsprojekte, vor allem im besonders vernachlässigten Energiebereich. Auch das ist eine Voraussetzung dafür, um im Sudan wieder eine funktionierende Infrastruktur aufzubauen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es sendet ein wichtiges politisches Signal, wenn der Deutsche Bundestag heute beschließt, die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit nach über 30 Jahren wieder aufzunehmen; der Kollege Müller wird dazu auch noch ein paar Ausführungen machen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es lohnt sich, politisches Kapital in die Zukunft des Sudans zu investieren. Jeder Erfolg, aber eben auch jeder Misserfolg des neuen sudanesischen Modells werden weit über die Grenzen dieses Landes hinaus ausstrahlen. Deshalb hat Deutschland von Anfang an klargemacht, wo wir stehen: auf der Seite der Sudanesinnen und Sudanesen, die für Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit protestiert haben.
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Um genau sie geht es auch, wenn wir heute der Beteiligung an der Friedensmission UNAMID und der Wiederaufnahme unserer Entwicklungszusammenarbeit zustimmen, worum ich Sie herzlich bitte.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Heiko Maas. – Nächster Redner: Petr Bystron für die AfD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Minister, Sie haben es gerade gesagt: Wir diskutieren heute die Verlängerung des Bundeswehreinsatzes im Rahmen der Mission der Vereinten Nationen UNAMID in Darfur.
Die Mission wurde im Jahr 2007 beschlossen. Die Bundeswehr wurde für ihre Einsätze im Rahmen dieser Mission bisher vom Bundestag stets mandatiert, seit 2017 auch mit den Stimmen der AfD.
({0})
Wir machen uns die Entsendung deutscher Soldaten in Krisengebiete im Ausland nicht leicht. Deswegen prüfen wir jede Verlängerung auch eines bereits mehrere Jahre laufenden Mandats sehr sorgfältig.
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Die UNAMID-Mission ist nicht ungefährlich. Unsere Soldaten sind in einem Krisenherd, in dem schon eine halbe Million Menschen umgebracht wurden. Im Laufe der Zeit sind auch 70 Angehörige der Mission ums Leben gekommen. Gerade vor diesem Hintergrund erkennen wir das Engagement deutscher Soldaten in dieser gefährlichen Lage an und danken ihnen für ihren Einsatz fern der Heimat.
({2})
Bei der Entscheidung über die Verlängerung des Mandats stellen wir uns die Frage: Was sind die Prioritäten? Erstens Schutz der Zivilbevölkerung, Unterstützung der humanitären Hilfe vor Ort und Überwachung der Einhaltung der Menschenrechte; zweitens Vermittlung zwischen der Regierung und den Rebellen und drittens Vermittlung zwischen Bevölkerungsgruppen in lokalen Konflikten.
Wir von der AfD fühlen uns genauso wie alle anderen demokratischen Parteien auch den humanitären Zielen dieser Mission verpflichtet. In unserem Grundsatzprogramm bekennen wir uns zu den Werten der Charta der Vereinten Nationen sowie des Völkerrechts.
({3})
Und in unserem Parteiprogramm sprechen wir uns klar dafür aus, Fluchtursachen zu bekämpfen und Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten.
Gerade in diesem Kontext ist es uns wichtig, dass die Mission zur Stabilisierung der Region und zur Eindämmung der Migrationsströme aus dem Süden Afrikas nach Europa beigetragen hat.
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Wir begrüßen es auch, dass im Laufe der Zeit die Anzahl der stationierten Kräfte verringert werden konnte; denn das war früher mal die größte Peacekeeping-Mission. Mittlerweile wurde sie auf 4 050 Blauhelme und 2 500 Polizisten reduziert.
Wir sind zutiefst davon überzeugt, dass die Krise in Darfur ohne die UNAMID-Mission eskalieren würde und es zu weiteren Migrationsströmen kommen würde. Unter Berücksichtigung all dieser Faktoren spricht sich die AfD für die Fortsetzung der deutschen Beteiligung an UNAMID aus.
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Lieber Herr Minister, Sie haben es schon angesprochen: Die Mission läuft dieses Jahr aus. Es werden neue Diskussionen geführt. Sie haben gesagt: Deutschland ist das einzige europäische Land, das sich an der Mission beteiligt. – Wir würden es sehr begrüßen, wenn gerade in diesem Kontext die so viel beschworene europäische Solidarität greifen würde und wenn es Ihnen gelänge, zumindest die Franzosen zu überzeugen, sich mit daran zu beteiligen.
Danke schön.
({6})
Vielen Dank. – Nächster Redner: der Minister Dr. Gerd Müller.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir sprechen heute über einen neuen Sudan. Außenminister Heiko Maas hat es angesprochen: Nach 30 Jahren gibt es jetzt eine zivile Übergangsregierung. Premierminister Abdalla Hamdok, den ich vor genau einer Woche in Khartum getroffen habe, hat eine hoffnungsvolle Agenda eines Verfassungsprozesses, ausgerichtet auf demokratische Strukturen, die Zulassung von Parteien und das Ziel von Wahlen. Ganz besonders wichtig ist auch die Verankerung der Gleichstellung von Frau und Mann. Denn diese Transformationsentwicklung haben insbesondere junge Frauen im Sudan auf den Weg gebracht, die wir unterstützen wollen.
({0})
Und, Markus Grübel: Auch die Achtung der Religionsfreiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind sein Ziel.
Deshalb sind Deutschland und Europa aufgefordert, dies jetzt wirksam zu unterstützen. Ich bin dankbar und begrüße den Beschluss des Deutschen Bundestages zur Wiederaufnahme der bilateralen EZ. Wir sind vorbereitet und starten sofort mit einem 80-Millionen-Euro-Programm. Good Governance, Landwirtschaft, Ausbildung und Energie sind die Schwerpunkte.
Sudan und Äthiopien sind zwei Beispiele einer neuen Aufbruchsstimmung auf dem afrikanischen Kontinent. Die deutsche Ratspräsidentschaft muss Afrika in den Mittelpunkt stellen. Afrika braucht nicht weniger als einen Jahrhundertvertrag mit der Europäischen Union als Nachfolgeabkommen des Cotonou-Abkommens.
({1})
Wir brauchen eine neue partnerschaftliche Zusammenarbeit. Dazu sind sechs Schwerpunkte wichtig, die ich hier in die Diskussion dieses Vertrages mit der Afrikanischen Union einbringen möchte:
Erstens ein neuer institutioneller Rahmen mit einem ständig tagenden EU-Afrika-Rat und der Vernetzung aller Politikbereiche der Europäischen Union und des afrikanischen Kontinents.
Zweitens ein Compact gegen Hunger und Not zur Stärkung der wirtschaftlichen Entwicklung. Afrika wird sich bis 2050 bevölkerungsmäßig verdoppeln. Aber ein Afrika ohne Hunger ist möglich – so wir das wollen. Der geplante Afrika-Ansatz im mehrjährigen Finanzplan der Europäischen Union ist vollkommen unzureichend. Zur Lösung der Herausforderungen auf dem afrikanischen Kontinent ist zumindest eine Verdoppelung des Afrika-Haushaltsansatzes notwendig. – Kein Beifall? Es wird hier offenbar anders gesehen,
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aber das ist meine klare Einschätzung. Wissen Sie, die Mittel für den jährlichen EU-Afrika-Ansatz von 5 Milliarden auf 6 Milliarden Euro für die nächsten sieben Jahre festzusetzen, das sind Regentropfen. Da brauchen wir nicht von Handlungsfähigkeit vor Ort zu sprechen.
Drittens. Der EU-Green-Deal muss auf Afrika ausgeweitet werden. Notwendig ist ein großes Investitions- und Innovationsprogramm. Afrika muss der Kontinent der erneuerbaren Energien werden. Derzeit werden 450 Kohlekraftwerke geplant und gebaut. Ein 2-Grad-Ziel wäre dann für uns alle höchstens schwarze Luft und ganz sicher Illusion. Wir wissen, was zu tun ist, aber wir tun es nicht.
Viertens. EU und Afrika: Notwendig ist ein Migrations- und Zuwanderungsabkommen.
Fünftens. Wir brauchen eine neue, faire Handelspolitik – Stichwort „Lieferketten“ – als Antwort auf die afrikanische Freihandelszone.
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Handel schafft Arbeitsplätze und Zukunft, meine Damen und Herren. Ich war in Nordostnigeria und habe dort mit ehemaligen Boko-Haram-Kämpfern gesprochen. Die sagten mir unter vier Augen: Ich hatte nichts, keine Perspektive, keinen Job, kein Geld, kein Essen, und mir wurden 1 Dollar, Essen und ein Gewehr geboten. Das war mein Einstieg bei Boko Haram. – Wir brauchen ein Gegenkonzept, nämlich Entwicklung und Zukunft für die Jugend der afrikanischen Länder.
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Sechstens. Liebe Sicherheitspolitiker, das werden wir in München miteinander vertiefen: Notwendig ist der Aufbau gemeinsamer Sicherheitsstrukturen und einer vernetzten Sicherheitspartnerschaft von Europa und der Afrikanischen Union. Der Marshallplan mit Afrika und die Agenda 2063 sind das Zielkonzept und das Umsetzungskonzept.
Ich sage ganz klar: Handeln wir nicht jetzt an diesen sechs Punkten entlang, dann werden wir mit gewaltigen Folgeproblemen konfrontiert werden.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Gerd Müller. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Ulrich Lechte.
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Sehr geehrte Frau Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Gäste!
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Präsidentin!
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Habe ich das „in“ vergessen?
Ja.
Das tut mir leid.
Wir wissen nicht, woran es liegt. Das kriegen wir aber wieder hin.
Nicht von der Zeit abziehen, bitte. – Vor zwei Tagen hat die Übergangsregierung des Sudan beschlossen, den gestürzten Despoten Omar al-Baschir an den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag auszuliefern. Dort wird er sich für seine Verbrechen gegen die Menschlichkeit, für Kriegsverbrechen und Völkermord in Darfur verantworten müssen. Das ist eine sehr gute Nachricht.
Einerseits ist damit international die Botschaft verbunden, dass derart unmenschliche Verbrechen nicht vergessen werden. Wir verfolgen das Ziel der Gerechtigkeit, auch wenn dazu ein langer Atem nötig ist. Das stärkt auch unsere regelbasierte, multilaterale Weltordnung.
Andererseits ist es aber auch eine gute Nachricht für den politischen Wandel im Sudan und für die Bemühungen der internationalen Gemeinschaft im Rahmen der UNAMID-Mission. Es waren ja gerade die Kriegsverbrechen in der Region Darfur, die dazu geführt hatten, dass die Vereinten Nationen und die Afrikanische Union diese Mission 2007 beschlossen haben. Und es waren diese Gräueltaten, die ein außerordentliches Engagement der internationalen Gemeinschaft ausgelöst haben. Mit über 20 000 Blauhelmsoldaten war UNAMID über lange Zeit die größte UN-Friedensmission weltweit. Umso erfreulicher ist es, dass wir mit der Auslieferung des gestürzten Diktators al-Baschir nach Den Haag nun einen ganz erheblichen Erfolg vorweisen können.
Wie Sie wissen, wurde die UNAMID-Mission inzwischen erheblich reduziert; das wurde hier auch schon gesagt. Es sind insgesamt weniger als 5 000 Blauhelmsoldaten dort. Und wir planen einen Ausstieg aus der Peacekeeping-Mission und den Übergang zu einer Peace-Support-Mission. Ende Januar dieses Jahres hat der sudanesische Premierminister einen Brief an den UNO-Generalsekretär und an den UN-Sicherheitsrat geschickt, in dem er seine Wünsche für eine solche „special political mission“ als Folgemission für UNAMID skizziert. Diese Vorstellungen sind sehr umfangreich und bedeuten auch weiterhin ein starkes Engagement der internationalen Gemeinschaft. Aber ich denke, die sudanesische Bevölkerung hat es nach dem Sturz des Despoten verdient, dass wir sie nicht im Stich lassen, sondern den politischen Wandel im Land weiter unterstützen.
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Nur ein langer Atem hat uns so weit gebracht, und deswegen sollten wir auch jetzt nichts überstürzen. Der Übergang von UNAMID zur Folgemission muss sorgfältig ausgearbeitet werden. Als Mitglied des Sicherheitsrats und als Co-Federführer des UNAMID-Dossiers kommt Deutschland dabei eine besondere Verantwortung zu.
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Daher hat es mich etwas verwundert, liebe Bundesregierung, dass uns ein Mandatsantrag vorliegt, mit dem die Beteiligung der Bundeswehr nicht wie gewöhnlich um ein Jahr verlängert wird, sondern lediglich um neun Monate. Ich hoffe und bete, dass Sie es schaffen, in neun Monaten alles so weit hinzubekommen, dass wir den Abzug durchführen und dann den Übergang gestalten können. Da bin ich mal gespannt. Ansonsten wäre es einfacher gewesen, um ein Jahr zu verlängern. Und falls es dann möglich wäre, die Soldaten früher zurückzuholen – es sind ja derzeit nur vier Leute –, hätte man das ja machen können. Diesen Kniff habe ich nicht ganz verstanden. Aber die Abschmelzung der Obergrenze für die Zahl der Soldaten war gut.
Zu unserer Position zur EZ spricht gleich der Kollege in der Beek.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Ulrich Lechte. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Christine Buchholz.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich begrüße auf der Tribüne drei sudanesische Aktivistinnen der hier in Deutschland aktiven Gruppe „Sudan Uprising“.
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Es war die große Mehrheit der Bevölkerung selbst, die vor fast einem Jahr den Diktator Omar al-Baschir im Sudan gestürzt hat. Millionen von Menschen gingen für ihre politischen und sozialen Rechte auf die Straße und streikten. Sie haben ihre Revolution gegen Militär und Milizen verteidigt. Das ist die gute Nachricht.
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Jahrzehntelang wurde der Sudan von Omar al-Baschir beherrscht. Er nutzte Konflikte um Weideland und Ackerflächen in der Provinz Darfur bewusst aus, um einen blutigen Bürgerkrieg zwischen verschiedenen Ethnien anzuzetteln. Millionen wurden vertrieben, Hunderttausende von Baschirs brutalen Dschandschawid-Milizen getötet.
Im Rahmen der UN-Militärmission UNAMID wurden Bundeswehrsoldaten nach Darfur entsandt. Es hieß, ein internationaler Militäreinsatz würde diesen Konflikt beenden. UNAMID ist die teuerste UN-Mission aller Zeiten, und sie hat den Bürgerkrieg bis heute eben nicht beendet.
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Die Linke hat diesen Einsatz von Anfang an abgelehnt.
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Seit 2016 haben EU und Bundesregierung begonnen, die Kooperation mit dem Diktator Baschir zu suchen. Eine zentrale Rolle dabei spielten die Rapid Support Forces, die Nachfolgemiliz der Dschandschawid. Die Motivation von EU und Bundesregierung war so banal wie brutal: Baschir sollte an den Grenzen des Sudan Flüchtlinge aufhalten, die nach Europa wollen. Das war von Anfang an zynisch.
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Als die Massenbewegung Baschir zu Fall brachte, waren es die Rapid Support Forces, die ein Blutbad an hundert Demonstranten anrichteten. Heute regiert in Khartum eine Übergangsregierung, bestehend aus zivilen Kräften der Oppositionsbewegung einerseits und militärischen Kräften des alten Regimes andererseits, unter anderem dem Chef der Rapid Support Forces, Generalleutnant Daglo, genannt „Hemeti“.
Der Kampf um den politischen und wirtschaftlichen Einfluss im Sudan ist im vollen Gange, und es mischen Regional- und Großmächte mit, die alle ihre eigenen Interessen im Sinn haben. Das sind Ihre „Friends of Sudan“: unter anderem die Vereinigten Arabischen Emirate, Saudi-Arabien,
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Ägypten, die USA, mehrere europäische Staaten, darunter auch Deutschland.
Ich sage Ihnen: Keine dieser Mächte sind die wahren Freunde von denen, die die Revolution im letzten Jahr getragen haben.
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Um das erneute Mandat für den Bundeswehreinsatz zu begründen, beschönigt die Bundesregierung darüber hinaus die Lage in Darfur. So behauptet sie, dass sich die Situation dort mit Ausnahme des Marra-Gebirges stabilisiert habe. Das stimmt einfach nicht. Ein Beispiel: Erst im Dezember eskalierte die Lage im Westen der Provinz. Milizionäre der Rapid Support Forces attackierten ein Geflüchtetenlager: Über 80 Menschen wurden getötet, 190 verletzt, Zehntausende flohen. Ein Bewohner des angegriffenen Camps berichtete: Dieses Ausmaß an Gewalt war wie in den schlimmsten Tagen des Darfur-Konfliktes.
Meine Damen und Herren, wie üblich bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr zieht die Bundesregierung hier keine ehrliche Bilanz. Das ist nicht hinnehmbar.
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Eine verstärkte Wiederaufnahme der Entwicklungszusammenarbeit ist gut. Der dazu vorliegende Antrag der Bundesregierung ist allerdings eine Ohrfeige für die Demokratiebewegung.
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Sie tun so, als wenn die Rapid Support Forces gar nicht mehr da wären, obwohl sie führende Positionen im Staat einnehmen.
Die Linke sagt: Es darf keinen Freibrief für die Bundesregierung zur Zusammenarbeit mit ebendiesen Kräften geben.
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Wir fordern in unserem Antrag die Einstellung der direkten, aber auch der indirekten Zusammenarbeit der Bundesregierung und der EU mit dem sudanesischen Militär und den Rapid Support Forces.
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Die Große Koalition fordert in ihrem Sudan-Antrag, den wirtschaftlichen Reformprozess zu unterstützen. Das klingt harmlos; aber es ist nichts als die diplomatische Umschreibung der Forderung des IWF nach Subventionskürzungen bei Weizen, Brennstoff und Medizin. Erinnern wir uns: Genau diese Maßnahmen setzte das Baschir-Regime um. Daraufhin kam es zur Verdopplung des Brotpreises und zu Massenprotesten.
Anstatt die Schulden aus der Baschir-Zeit mithilfe eines Spardiktats auf die Bevölkerung abzuwälzen, wollen wir, dass die Schulden endlich gestrichen werden.
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Wir wollen eine Entwicklungszusammenarbeit, die an den Bedürfnissen der Bevölkerung ausgerichtet ist und nicht an der neoliberalen Logik des IWF oder den Interessen von deutschen oder anderen internationalen Unternehmen.
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Wir wollen keine migrations- und sicherheitspolitische Zusammenarbeit, die die Kräfte des alten Regimes stärkt. Und wir sagen Nein zur Beteiligung der Bundeswehr an dem UNAMID-Einsatz.
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Zum Schluss noch eins: Niedersachsen hat aufgrund der beschönigten Lageeinschätzung des Auswärtigen Amtes den Abschiebestopp nach Sudan aufgehoben. Das ist fatal und versetzt viele hier lebende Sudanesinnen und Sudanesen in große Sorge. Wir sagen ganz deutlich: Es braucht einen umfassenden Stopp der Abschiebung in den Sudan. Dafür werden wir als Linke immer weiter streiten.
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Vielen Dank, Christine Buchholz. – Bevor ich den nächsten Redner aufrufe, möchte ich eine Gruppe begrüßen – Sie haben sie sicher schon gesehen –, die im Häs hierhergekommen ist,
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und zwar die Narrenvereinigung Hegau-Bodensee. Deswegen „im Häs“; das ist das Alemannische in der fünften Jahreszeit. Herzlich Willkommen hier in unserem Haus!
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Ich begrüße eine Narrenvereinigung, und wir reden gerade über die Außenpolitik. Ich spare mir jetzt einen Kommentar. – Nächster Redner: Dr. Frithjof Schmidt für Bündnis 90/Die Grünen.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, es ist ein kleines politisches Wunder. Was so lange fast unmöglich schien, haben die friedlichen Proteste im Sudan, getragen vor allem von Frauen und der Jugend, im letzten Jahr möglich gemacht: Diktator al-Baschir wurde abgesetzt und eine demokratische Transformation eingeleitet. Und vorgestern hat die Übergangsregierung beschlossen, Baschir an den Internationalen Strafgerichtshof auszuliefern. Das ist ein großer Erfolg, auch wenn die Entmachtung des bisherigen diktatorischen Regimes bisher höchstens zur Hälfte gelungen ist.
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Im Sudan – ich glaube, das muss man ganz klar sagen – existiert heute so etwas wie eine politische Doppelherrschaft. Baschirs bisherige Generäle und politische Vertraute kontrollieren nach wie vor wichtige Sektoren der Staatsmacht. Im aktuellen Übergangsrat finden sich weiterhin einflussreiche Akteure wie Milizenführer „Hemeti“, die versuchen, die zivile Regierung zu sabotieren, und die in der Tat eine extreme Bedrohung für die Durchsetzung einer vollständigen Demokratisierung darstellen. Ihnen darf nicht das Feld überlassen werden.
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Sich das klarzumachen, ist von zentraler Bedeutung, wenn wir darüber reden, was die internationale Gemeinschaft jetzt tun kann und muss.
Die demokratischen Kräfte in der neuen Regierung haben neben dem Kampf um die weitere Demokratisierung auch die Aufgabe, die alten, ungelösten gesellschaftlichen Probleme des Landes jetzt endlich zu lösen und zu bearbeiten: die katastrophale wirtschaftliche Situation, die gewaltsamen Konflikte in Darfur, in Südkordofan und in der Region Blauer Nil und die verheerenden Auswirkungen der Klimakrise in der gesamten Region.
Umso wichtiger ist, dass die internationale Gemeinschaft, insbesondere die Europäische Union und auch Deutschland, die demokratischen und friedensfördernden Kräfte im Sudan ganz gezielt in diesem schmalen Fenster der Gelegenheit, das jetzt politisch entstanden ist, aktiv unterstützt. Ich glaube, Frau Buchholz, das ist entscheidend. Ich kann nicht verstehen, dass Sie sozusagen dem Gesamtprojekt der Vereinten Nationen ablehnend gegenüberstehen. Es ist eine schwierige Situation; aber genau diese Kräfte müssen politisch unterstützt werden, und dazu muss die UNO unterstützt werden.
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Deswegen ist es das politische Gebot der Stunde, die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit mit dem Sudan, die über 30 Jahre ausgesetzt war, wieder aufzunehmen. Meine Damen und Herren von der Koalition, es ist gut, dass Sie das in Ihrem Antrag auch so sehen. Allerdings ist bisher nicht klar, mit welchen politischen Bedingungen Sie eine längerfristige Entwicklungszusammenarbeit verbinden wollen. In der Situation der faktischen politischen Doppelherrschaft, in der sich das Land befindet, ist es aber unabdingbar und zentral, wenn wir sicherstellen wollen, dass die Leistungen und die Gelder tatsächlich dem demokratischen Wandel im Land zugutekommen.
Deswegen formulieren wir in unserem Antrag Erwartungen. Wir wollen Fortschritte bei Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, bei der gleichberechtigten aktiven Teilhabe von Frauen und marginalisierten Gruppen am Transformationsprozess, bei der Gestaltung eines sogenannten Transitional-Justice-Prozesses, also einer rechtlichen Aufarbeitung der jahrzehntelangen Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sudan und auch der Gewalt gegen Demonstrantinnen und Demonstranten im Jahr 2019, und bei freien, fairen, gleichen und geheimen Wahlen 2022.
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An diesen Zielen muss sich die Zusammenarbeit orientieren.
Deswegen muss übrigens auch Schluss sein mit der falschen Orientierung der bisherigen Politik der Europäischen Union, die das Regime von al-Baschir als Stabilitätsanker bei der Eindämmung und Abwehr von Migrationsbewegungen aus Afrika nach Europa bezeichnet und gestützt hat.
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Ich sage auch ganz klar: Hier vermissen wir bisher eine klare Selbstkritik der Bundesregierung, die diese falsche Politik bis zum Schluss mitgetragen hat. Wenn man jetzt so tut, als hätte man mit al-Baschir gar nicht zusammengearbeitet und eigentlich schon immer die demokratischen Kräfte im Lande unterstützt, dann ist das, Herr Außenminister Maas, wirklich eine maßlose Übertreibung dessen, was da getan wurde; es war anders.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, klar ist für unsere Fraktion auch, dass in dieser Lage die Entscheidung des UN-Sicherheitsrates zur Verlängerung der gemeinsamen Blauhelmmission mit der Afrikanischen Union durch ein technisches Roll-over richtig ist. Deshalb unterstützen wir auch die Mandatsverlängerung für den Einsatz der Bundeswehr, so wie wir den Einsatz bisher immer unterstützt haben.
Gerade in Bezug auf die anhaltenden gewaltsamen Konflikte im Sudan besteht jetzt die einzigartige Möglichkeit, ein umfassendes Friedensabkommen zu erreichen, und zwar für alle Regionen, in denen diese Konflikte stattfinden; das sind mindestens drei.
Deshalb muss das politische Engagement der Vereinten Nationen im Sudan sichergestellt und gestärkt werden, auch mit einem dann neu formulierten Blauhelmmandat, was die UNO ja jetzt im März auch vorlegen will. Das sollte Deutschland dann wirkungsvoll politisch unterstützen.
Danke für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Dr. Frithjof Schmidt. – Nächste Rednerin: Ursula Groden-Kranich für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Afrika ist außen- und entwicklungspolitisch für uns der Kontinent mit den größten, manchmal schier überwältigenden Herausforderungen, aber auch der mit den größten Chancen.
Der Sudan hat geografisch bedingt eine Schlüsselrolle in Afrika. Seine Nachbarschaft zu Ägypten, zu Libyen und Äthiopien machen den Sudan zum beispielhaften Brennpunkt diverser Interessenkonflikte, von Flüchtlingsströmen, Milizen und bewaffneten Konflikten, losgelöst von den eigenen innenpolitischen Problemen, deren Lösung sich langsam abzeichnet; Außenminister Maas und andere haben ja eben darauf hingewiesen. Daraus folgt aber auch, dass jeder Lichtblick im Sudan eine große Strahlkraft über die Landesgrenzen hinaus entwickeln kann. Daher lohnt sich jedes Engagement im Sudan – auch von Deutschland.
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Auch Bundesminister Müller sagte es eben: Die eigentliche Arbeit im Sudan beginnt jetzt. Jetzt entscheidet sich die Zukunft des Landes. – Es ist an uns und an der Europäischen Union, hier gemeinsam mit den afrikanischen Staaten Verantwortung für die Zukunft zu übernehmen.
Ich bin sehr froh, dass die Bundesregierung, sowohl das Außenministerium als auch das BMZ, unser Engagement im Sudan sehr ernst nimmt. Ich danke unseren Soldatinnen und Soldaten für ihren Einsatz vor Ort.
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Ich selbst werde voraussichtlich im Juni an einer Delegationsreise mit Staatsministerin Müntefering teilnehmen und bin sehr gespannt auf meinen persönlichen Eindruck von der Arbeit unseres Landes und unserer Partner.
Erlauben Sie mir in diesem Zusammenhang noch eine Bemerkung. Wichtig ist nicht nur, wie wir unseren Einsatz im Sudan für die dortige Bevölkerung gestalten, sondern auch, wie wir mit unseren internationalen Partnern zusammenarbeiten und ob wir uns als verlässliche Teams erweisen – nach innen wie nach außen.
Die deutsch-französische Partnerschaft beispielsweise können wir nicht nur im bilateralen Miteinander unserer Länder erproben und festigen, sondern auch und gerade bei gemeinsamen Einsätzen im Ausland. Dass Franzosen und Deutsche hier aufgrund ihrer unterschiedlichen Systeme und historischen Hintergründe teils unterschiedliche Vorstellungen und Herangehensweisen haben, darf nicht dazu führen, dass die Mission ins Stocken gerät; denn über die Ziele sind wir uns schließlich einig – auch in den Vereinten Nationen.
Dieses Thema war gestern auch im Auswärtigen Ausschuss ein wichtiger Programmpunkt bei unseren Gesprächen mit den Kolleginnen und Kollegen der Assemblée nationale. Ich fand, es war eine sehr spannende Diskussion, die die unterschiedlichen Herangehensweisen, aber auch die gemeinsamen Ziele gezeigt hat. Das sollten wir viel öfter tun.
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Ich werbe insofern ausdrücklich dafür – wie es im Titel unseres Koalitionsantrages heißt –, den Transformationsprozess im Sudan zu unterstützen, und zwar auf allen Ebenen und mit allen verfügbaren Instrumenten: mit konkreter Entwicklungshilfe, mit privatwirtschaftlichem Engagement und auch mit der zahlenmäßig ja sehr moderaten Beteiligung deutscher Kräfte an den UN-Missionen UNAMID und möglicher Nachfolgemissionen.
Dies ist übrigens auch eine Rückmeldung, die wir aus dem Sudan von NGOs und zivilen Helferinnen und Helfern bekommen: Der Aufbau einer stabilen Zivilgesellschaft und Demokratie kann nur mit umfassender demokratischer Bildung, gerade auch mit der Stärkung von Mädchen und Frauen, gelingen. Aber zur Absicherung dieses Engagements brauchen wir auch weiterhin den Schutz der Helferinnen und Helfer durch das Militär.
Im Sinne eines Responsible Exit wäre es fatal, um jeden Preis auf einen möglichst schnellen Abzug der Blauhelme zu setzen. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Wenn wir die Mission UNAMID jetzt behutsam beenden bzw. in eine geordnete Folgemission überführen, gibt es eine realistische Chance, die gesamte Region am Horn von Afrika zu stabilisieren.
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Diese historische Chance sollten wir nutzen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Ursula Groden-Kranich. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Dietmar Friedhoff.
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Werte Frau Präsidentin! Werte Herren Minister! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer auf den Tribünen! Ausgangslage: Der Sudan liegt zwischen Ägypten, Äthiopien und Eritrea. Damit ist ein stabiler Sudan für Deutschland von großem Interesse, gerade in Bezug auf Terror und Migration.
Der Sudan hat derzeit 44 Millionen Einwohner, davon sind 42 Millionen Muslime und 2 Millionen Christen. Die Bevölkerung des Sudan, Herr Müller, wird bis 2050 auf über 80 Millionen Menschen anwachsen. Die ethnische Zusammensetzung des Sudan ist kompliziert. Araber stehen ethnischen Afrikanern und Muslime stehen Christen gegenüber. Die Scharia gehört zur Rechtsprechung. Den Frauen wird eine untergeordnete Rolle zugewiesen. Sexuelle Gewalt gegen Frauen ist keine Seltenheit, ebenso Gewalt gegen Homosexuelle. Auf dem Weltverfolgungsindex für Christen steht der Sudan auf Platz sieben; Christen werden aufgrund ihres Glaubens verfolgt und getötet.
Darüber hinaus gehört der Sudan zu jenen Ländern in Afrika, in denen die brutale Beschneidung von Frauen noch besonders tief in Tradition und Kultur verankert ist. 87 Prozent der 15- bis 49-jährigen Frauen im Sudan sind beschnitten. Die Qual der Mädchen fängt in der Regel vor ihrem elften Lebensjahr an. Danach beginnt ein lebenslanges Leiden und Schmerzen, die wir alle uns wohl kaum vorstellen können. Auch die Zahl der beschnittenen Mädchen in Deutschland steigt.
Der Sudan hat ein massives Umweltproblem, was fälschlicherweise als Klimawandelproblem dargestellt wird.
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Warum? – Katastrophal ist die Rodung riesiger Waldflächen, was die Ausbreitung der Wüste beschleunigt.
Nun steht der Sudan eventuell vor einer gesellschaftlichen und politischen Veränderung. Hin zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit? Das wäre schön. Im Jahr 2022 soll frei gewählt werden.
Die Gesellschaftswende ist zudem bemerkenswert weiblich. Seit al-Baschir gestürzt wurde, sprechen Frauen im Radio über Gleichberechtigung, und die rigiden Bekleidungsregeln für Frauen wurden gelockert. Dieses Bild ist jedoch ein Bild aus Teilen der Großstädte und hat mit dem Leben der Frauen auf dem Land doch wohl nur wenig zu tun. Aber immerhin, es scheint sich ja was zu bewegen.
Was wollen die Anträge nun erreichen? Die Linken wollen den Militäreinsatz beenden und eine Kooperation mit der Übergangsregierung im Bereich Migrations- und Grenzmanagement aussetzen. Dafür wollen sie die Abschiebung in den Sudan beenden und den Flüchtlingen in Deutschland eine Bleibeperspektive eröffnen.
Die Grünen schreiben gerne und viel über Religionsfreiheit, Frauenrechte und Geschlechtergerechtigkeit. Haben sie annähernd eine Ahnung, wie sie das in einem archaischen muslimischen Land mit ethnischen Konflikten überhaupt machen wollen? Ein kritischer Blick nach Afghanistan kann hier durchaus helfen.
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Der Antrag von CDU/CSU und SPD hat durchaus Entwicklungspotenzial. Der Sudan ist ein Beispiel für die Herausforderung auf dem Chancenkontinent Afrika mit all seinen Facetten: von Menschenrecht bis Umweltzerstörung, von Glaubensfreiheit bis Bevölkerungsentwicklung. Unterstützen wir die Wende im Sudan hin zu mehr Gerechtigkeit! Leisten wir humanitäre Hilfe und militärische Beratung! Aber benennen wir bitte endlich die wirklichen Probleme im Sudan; denn nur das kann sinnvolle Lösungen hervorbringen und vor allen Dingen eins: Es schützt die Menschen, vor allen Dingen die Mädchen.
Vielen lieben Dank.
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Vielen Dank, Kollege Friedhoff. – Nächster Redner: Christoph Matschie für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Veränderungen im Sudan, die wir hier gerade diskutieren, die man durchaus historisch nennen kann, haben einen Grund: Das ist eine mutige und starke Zivilgesellschaft, die für diese Veränderungen auf die Straße gegangen ist. Ich habe großen Respekt vor ihr und große Dankbarkeit für ihren Einsatz.
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Den Kolleginnen und Kollegen, die darüber diskutieren, was alles noch nicht geworden ist, und die die Entwicklung problematisieren, möchte ich zunächst einmal sagen: Ja, wir befinden uns in einer Übergangsphase. Diese Übergangsphase ist auch noch sehr fragil. Aber die Proteste, das Engagement der Zivilgesellschaft haben erreicht, dass der langjährige Diktator al-Baschir gestürzt worden ist, und sie haben erreicht, dass es eine Übergangsregierung gibt, die zumindest zur Hälfte zivil geführt wird und die Chance auf eine Demokratisierung bietet; in drei Jahren sollen freie Wahlen durchgeführt werden. Ich finde, das ist ein riesiger Erfolg, den wir von Deutschland aus unbedingt unterstützen sollten.
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Herr Kollege Schmidt, ich bin ein bisschen anderer Meinung, ob wir alles mit Konditionalitäten versehen sollten: „Wir helfen euch nur, wenn …“ Ich glaube, dass jetzt die Zeit ist, dass wir der Zivilbevölkerung im Sudan, die unter den dramatischen wirtschaftlichen Bedingungen leidet, das Signal geben, dass die Veränderungen, die bis jetzt erreicht wurden, von der internationalen Gemeinschaft unterstützt werden. Hier setzen wir alle Hebel in Bewegung, um schnell dafür zu sorgen, dass sich die wirtschaftliche Lage bessert und dass dies im Alltagsleben spürbar wird. Das muss doch jetzt unser Ziel sein und nicht die Aufstellung aller möglichen Konditionalitäten.
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich fand es gut, dass Heiko Maas als deutscher Außenminister und als erster europäischer Außenminister unmittelbar nach dem Erfolg der friedlichen Revolution in Khartum war. Ich finde es auch ausdrücklich gut, dass Deutschland die Gruppe „Friends of Sudan“ mit initiiert hat und mitträgt. Wie anders soll man denn die gravierenden Probleme dieses Landes lösen als unter Einbeziehung wichtiger Nachbarländer, wichtiger Länder, die Einfluss auf die Entwicklung im Iran haben? Da kann man noch so lange theoretisieren, Frau Buchholz. Nein, wir brauchen all diese Länder in der Gruppe „Friends of Sudan“, wenn wir wirklich etwas zur Verbesserung der Lage beitragen wollen.
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Ich will an dieser Stelle in Richtung unserer amerikanischen Freunde ganz deutlich sagen: Wir brauchen eine Beendigung der Sanktionen, und es muss schnellstmöglich passieren, dass der Sudan von der Liste terrorunterstützender Staaten genommen wird; denn nur dann können wir auch den Entschuldungsprozess, der für den Sudan so dringend notwendig ist, in Angriff nehmen. Das ist jetzt das Gebot der Stunde.
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Einige Kolleginnen und Kollegen waren dabei, als Ende Oktober letzten Jahres eine Delegation der Zivilgesellschaft aus dem Sudan hier in Berlin war und mit uns das Gespräch gesucht hat. Auch diese Delegation hat uns mit auf den Weg gegeben: Wir brauchen jetzt dringend eure Unterstützung. Wir brauchen klare politische Signale. – Das ist ein wichtiger Grund für den Antrag, den wir heute hier diskutieren, nämlich nach über 30 Jahren die Entwicklungszusammenarbeit mit dem Sudan wieder aufzunehmen und alles zu tun, was man von Deutschland aus tun kann, um die positive Entwicklung und die Demokratisierung im Sudan zu unterstützen.
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Ich bin auch froh über die Ankündigung von Bundesminister Müller, dass das BMZ schon bereitsteht, dass schon Ideen entwickelt worden sind, sodass, wenn der Antrag heute hier im Parlament beschlossen wird, die Arbeit auch unmittelbar losgehen kann. Denn eins ist doch wichtig: jetzt keine Zeit zu verlieren, nicht an der Seitenlinie zu warten und zu gucken, wie es dort weitergeht und ob es gut ausgeht. Wir wissen am Ende nicht, wie es ausgeht. Das kann heute niemand prognostizieren. Aber was ich weiß, ist, dass wir die Möglichkeiten haben, die Demokratisierung zu unterstützen. Das ist ein Gewinn für den Sudan, das ist ein Gewinn für die ganze Region; aber es ist auch ein Gewinn für uns hier in Deutschland. Denn unser Interesse muss es doch sein, Demokratie und Zivilgesellschaft auf dem afrikanischen Kontinent zu stärken. Deshalb bitte ich um die Unterstützung dieses Antrags.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Christoph Matschie. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Olaf in der Beek.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Sudan ist im Umbruch. 36 Jahre nach dem Ausbruch des Bürgerkriegs im Sudan und nach 30 Jahren Terrorherrschaft Omar al-Baschirs besteht für das Land zumindest die Hoffnung auf einen Neuanfang.
Nach dem Sturz al-Baschirs im vergangenen Jahr und der Bildung einer Übergangsregierung hat sich die neue Führung des Landes zu einer Übergangsphase verpflichtet, an deren Ende freie Wahlen stehen sollen. Die Aufrichtigkeit dieser Bestrebung zeigt sich ganz eindeutig darin, dass die Übergangsregierung einer Auslieferung al-Baschirs an den Internationalen Strafgerichtshof zugestimmt hat. Daran, dass auch Deutschland die Entwicklung im Sudan unterstützen muss, besteht für uns Freie Demokraten kein Zweifel.
Die Liste der Aufgaben, die vor dem Sudan liegt, ist aber sehr lang. Der Aufbau demokratischer rechtsstaatlicher Strukturen muss vorangetrieben werden. Weiterhin schwelende innerstaatliche Konflikte müssen gelöst werden. Ein Versöhnungsprozess muss angestoßen werden. Der herrschenden Wirtschaftskrise, Hunger, Armut und Not im Land muss begegnet werden.
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Deshalb ist es wichtig, dass wir uns jetzt damit beschäftigen, wie wir im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit einen Beitrag leisten können. Die gegenwärtigen Entwicklungen zeigen, dass die Beteiligung Deutschlands an der gemeinsamen Mission von UN und Afrikanischer Union, UNAMID, richtig und notwendig war. Dafür gebührt den Soldatinnen und Soldaten im Einsatz unser aller Dank.
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Hierzu braucht es jetzt eine Weiterentwicklung, die auch den Kapazitätsaufbau durch Maßnahmen der EZ einschließt. Kurzum: Die bisherigen militärischen, diplomatischen und humanitären Hilfsmaßnahmen müssen zur Unterstützung und langfristigen Sicherung des Friedensprozesses im Sudan um EZ ergänzt werden. Wir brauchen eine Vernetzung dieser Maßnahmen und einen kohärenten Ansatz.
Die Wiederaufnahme staatlicher bilateraler Entwicklungszusammenarbeit kann dabei jedoch nur ein Baustein sein und sollte angesichts der sich ständig ändernden Lage im Land wohlüberlegt sein. Gerade deshalb halte ich es für unglücklich, dass die Koalition und die Grünen ihre Anträge zur Sofortabstimmung heute ins Plenum eingebracht haben. Es geht darum, dass wir ein Land unterstützen können, das noch über Jahre, vielleicht Jahrzehnte auf unseren außen-, sicherheits- und entwicklungspolitischen Beistand angewiesen sein wird.
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Da sind sorgfältige parlamentarische Beratungen wichtiger als übereilte Beschlüsse. Dass das nicht alle so sehen, das finden wir schade.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir unterstützen das Grundanliegen der Antragsteller, die Entwicklungszusammenarbeit mit dem Sudan wieder zu ermöglichen. Wir fordern die Bundesregierung auf, auch Möglichkeiten zu prüfen, den Sudan nun auch in die HIPC-Initiative zu begleiten, welche Schuldenerleichterungen generieren kann. Da es aber ganz offenkundig keine Strategie zur Vernetzung von Außen‑, Sicherheits- und Entwicklungspolitik gibt, werden wir uns bei der Abstimmung über die Anträge der Koalition und der Grünen enthalten.
Ich komme zum Schluss. Anstatt einer Sofortabstimmung wäre die Erarbeitung einer solchen Strategie im Rahmen der parlamentarischen Beratungen der nachhaltigere Weg gewesen. Dafür, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind die Gremien da.
Danke schön.
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Vielen Dank, Olaf in der Beek. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Markus Koob.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Juni dieses Jahres feiern wir die Gründung der Vereinten Nationen zum 75. Mal, die 1945 als Nachfolger des Völkerbundes gegründet worden sind. Bei allen Diskussionen, die wir zu Recht über die Reformbedürftigkeit der Vereinten Nationen führen, darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die Vereinten Nationen bei der Schaffung und Sicherung von Frieden immer noch das Maß der Dinge sind. Auch das zeigt sich heute bei unserer Diskussion zum Thema Darfur und zur Verlängerung des Mandats für UNAMID.
Darfur, eine Region im westlichen Sudan, befindet sich – wie der gesamte Sudan – derzeit in einem tiefgreifenden Wandel. Der Militärputsch und die Festnahme des Langzeitmachthabers al-Baschir im April des letzten Jahres haben ein erfreuliches Fenster geöffnet, die Lebensbedingungen der Bevölkerung – auch der Darfurs – endlich nachhaltig zu verbessern. Ich begrüße die ergriffenen Maßnahmen, mahne jedoch konsequentes politisches Handeln an und möchte daran erinnern, dass die Mehrung von Sicherheit und Wohlstand nur Gewinner kennt. Noch stehen Korruption sowie hohe Staatsverschuldung einer positiveren Entwicklung entgegen. Der sudanesische Premier Abdalla Hamdok muss seinen eingeschlagenen hoffnungsvollen Weg fortsetzen, um die Defizite abzubauen.
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Dabei hat er gewiss die volle Unterstützung des Deutschen Bundestages.
UNAMID, um deren Verlängerung es nun heute wieder geht, der sogenannte hybride Einsatz der Afrikanischen Union und der Vereinten Nationen in Darfur, wurde erst im Jahr 2007 durch die Vereinten Nationen initiiert, nachdem der Bürgerkrieg bereits vier Jahre zuvor begonnen hatte. Im Zuge dieses Krieges wurden nicht nur 300 000 Zivilisten getötet, sondern zudem Tausende Menschen vertrieben, zahlreiche Frauen vergewaltigt. Es war eine humanitäre Katastrophe, die dort vor aller Augen geschah und die erst durch UNAMID erfolgreich unterbunden werden konnte. Deshalb ist es eigentlich keine Frage, ob wir unser Engagement verlängern, sondern nur noch, wie wir es verlängern. Die derzeitige Mission ist in ihrer heutigen Größe nicht mehr mit den Anfangsjahren vergleichbar. Im Moment sind in Darfur noch vier deutsche Soldatinnen und Soldaten stationiert. Die Höchstgrenze soll daher ab dem 1. April 2020 auf dann 20 Soldatinnen und Soldaten gesenkt werden. Unsere Soldatinnen und Soldaten nehmen auch in Zukunft vor allem Führungs‑, Beratungs- und Unterstützungsaufgaben wahr.
Dass das erfolgreiche Ende UNAMIDs bevorsteht, lässt sich bei guter Hoffnung am Horizont erahnen. Die Frage lautet nur, wann die Mission in Darfur diesen Horizont auch erreicht. Das erneuerte Mandat soll nun noch bis Ende 2020 dauern. Zweifellos muss dennoch im Anschluss an den UN-Sonderbericht über eine Folgepräsenz – darüber ist heute schon mehrfach gesprochen worden – beraten und entschieden werden. Am Ende von UNAMID böte sich dann die Gelegenheit – nicht nur für Deutschland –, den europäischen Fokus in Afrika zu schärfen. Das zeigt einmal mehr, dass Sicherheit und Entwicklung nur Hand in Hand gehen können. Deshalb möchte ich den Rest meiner Redezeit dafür verwenden, ein Schlaglicht auf eine andere Region Afrikas zu richten.
Wir haben gestern in der Diskussion über die Verlängerung des Mandats für den Einsatz im Südsudan auch das Thema Sicherheit in Afrika generell angesprochen. Da ist im Moment neben Libyen eine Region leider sehr stark im Blickpunkt: Das ist die Sahelregion. Hier sehen wir ebenfalls, was passieren kann, wenn Entwicklungen, zarte Pflänzchen der Entwicklungshilfe, durch schwierige Sicherheitslagen erschwert, teilweise unterbunden oder zunichtegemacht werden. Deshalb möchte ich an uns alle appellieren – auch vor dem Hintergrund der positiven Erfahrungen, die wir im Sudan gemacht haben –, nicht zu vergessen, im Sahel genau hinzuschauen und zu überlegen, was wir hier tun können und unternehmen müssen, um die dortigen Erfolge aus den letzten Jahren nicht kaputtgehen zu lassen und eine Entwicklung dieser Region auch in Zukunft zu ermöglichen.
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Ich sehe uns hier als Bundesrepublik Deutschland, aber auch als Europäer in der Verantwortung, dass wir diese Menschen nicht alleinlassen, dass wir dort helfen und unseren Beitrag, der ja schon in beeindruckender Weise von den Soldatinnen und Soldaten gerade in Mali erbracht wird, leisten und schauen, wie wir unser Engagement in dieser Region weiter stärken können, wie wir die Situation dort verbessern können und mit welchen Partnern wir dies kraftvoll erreichen können. Uns alle, glaube ich, eint das Ziel, dass wir in Afrika überwiegend den Kontinent der Chancen sehen wollen und nicht den Kontinent der Herausforderungen. Dazu müssen wir unseren Teil beitragen. Das sollten wir als Deutscher Bundestag auch bereitwillig tun. Ich freue mich auf die weiteren Diskussionen zum Thema Afrika nicht nur im Auswärtigen Ausschuss, sondern auch in den übrigen Ausschüssen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Markus Koob. – Nächste und letzte Rednerin in dieser Debatte: Anita Schäfer für die CDU/CSU-Fraktion.
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Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich fasse zusammen. Es ist wahr: UNAMID gehört zahlenmäßig nicht zu den großen Einsätzen der deutschen Bundeswehr. In ihrer Wirkung ist die deutsche Präsenz dafür aber umso bedeutsamer. UNAMID ist eine gemeinsame Mission von Vereinten Nationen und Afrikanischer Union. Deutschland ist das einzige europäische Land, das sich an dem Einsatz beteiligt. Auch deshalb ist die Verlängerung des Mandats von großer Bedeutung. Die Bundesrepublik unterstreicht durch ihre Beteiligung, dass wir international Verantwortung übernehmen, und das auch militärisch.
Gerade im Sudan können wir Erfolge vorweisen. Die Sicherheitslage hat sich im gesamten Land und besonders in Darfur in den vergangenen Jahren verbessert. Unter diesen Bedingungen können wir nun von einem Peacekeeping zu einem Peacebuilding übergehen. Die internationale Gemeinschaft hat eine klare und überlegte Exit-Strategie; denn im Herbst 2020 soll die Mission enden. Damit endet aber keineswegs das deutsche und internationale Engagement. Deutschland steht auch weiterhin an der Seite des Sudan.
Daher debattieren wir heute nicht nur über die Fortsetzung des Mandates für UNAMID, sondern auch über einen Antrag der Fraktionen von Union und SPD. Mit ihm wollen wir den Transformationsprozess im Sudan unterstützen. Dazu soll die bilaterale politische, wirtschaftliche und entwicklungspolitische Zusammenarbeit mit dem Sudan wieder aufgenommen und ausgebaut werden. Mit diesem Schritt stellen wir sicher, dass der Demokratisierungsprozess im Sudan von einer wirtschaftlichen Stabilisierung begleitet wird. Anderenfalls könnte eine Verschärfung der ökonomischen Lage dazu führen, dass das Vertrauen der Menschen in den Übergang und die Demokratie schwere Schäden nimmt. Eine dauerhafte und nachhaltige Stabilisierung des Sudan hilft den Menschen vor Ort und liegt eindeutig auch in unserem Interesse.
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Als Vorsitzende der Parlamentariergruppe Östliches Afrika habe ich vor zwei Wochen einen Vertreter des Souveränen Rates sowie Vertreter der sudanesischen Botschaft zum Gespräch empfangen. Wir haben die Situation im Land diskutiert und auch darüber, vor welchen Herausforderungen die Bürger des Sudan stehen. In meinen Gesprächen sehe ich immer wieder den großen Stolz der Menschen darauf, dass sie es aus eigener Kraft geschafft haben, die Diktatur von al-Baschir abzuschütteln. Auch mich hat diese historische Leistung des sudanesischen Volkes sehr beeindruckt. Für mich steht außer Frage, dass ein stabiler Sudan in die ganze Region Ostafrika und die Sahelzone positiv ausstrahlen wird.
Im Rahmen der Geberkonferenz der Friends of Sudan im April werden wir aber auch unsere Erwartungen an den Sudan noch einmal verdeutlichen. Ich sehe es als eine wichtige Wegmarke, dass die Regierungsgewalt vollständig in ziviler Hand liegt und das Militär sich aus der Politik zurückzieht. Wir werden im Auge behalten, ob die Regierung in der Lage ist, die Sicherheit und Rechte der Bürger zu schützen. Die Gewährleistung belastbarer staatlicher Strukturen werden wir ebenso begleiten. Nur ein funktionierendes Staatswesen, das Bildung, Gesundheit und die Versorgung der Bürger sichert, sichert auch den Frieden.
1989 hat der Deutsche Bundestag die Beziehungen zum Sudan abgebrochen. Das war angesichts der verheerenden Menschenrechtsverletzungen und des Bürgerkrieges mehr als gerechtfertigt. Ich sehe es daher als sehr positives Signal, dass der Sudan den ehemaligen Diktator al-Baschir an den Internationalen Strafgerichtshof ausliefern möchte. Das ist ein wichtiger Schritt zur Aufarbeitung und Aussöhnung, aber auch eine Stärkung des Völkerrechts und der Menschenrechte. Der Moment ist gekommen, die Beziehungen Deutschlands zum Sudan nach drei Jahrzehnten wieder aufzunehmen. Dass wir an diesen Punkt gekommen sind, dafür möchte ich auch den Angehörigen der Bundeswehr, den Polizeibeamten und den Entwicklungshelfern danken, die sich vor Ort mit ganzer Kraft einsetzen.
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Wir zeigen den Menschen im Sudan mit dem vorliegenden Antrag, dass wir ihren Kampf für Freiheit und Demokratie anerkennen und wir an ihrer Seite stehen. Wir zeigen, dass wir über militärische Einsätze hinaus Verantwortung übernehmen. Und wir zeigen, dass alle diejenigen, die für die Demokratie einstehen, nicht alleine sind. Darum möchte ich Sie alle bitten: Stimmen Sie der Mandatsverlängerung für UNAMID zu, und stimmen Sie dem Antrag von Union und SPD zu, die Beziehungen zum Sudan wieder aufzunehmen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Anita Schäfer. – Ich schließe die Aussprache.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich war viele Jahre als Gewerkschaftssekretärin bei der IG Metall beschäftigt. Meine Aufgabe war, Betriebsratswahlen zu unterstützen und die Betriebsräte in den Betrieben zu beraten. Ich finde, es gibt nichts Demokratischeres im Betrieb als Betriebsräte.
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Arbeitgeber und Manager sind eingesetzt, Betriebsräte dagegen gewählt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, sie müssen sich alle vier Jahre zur Wahl stellen. Die Beschäftigten können mit ihrem Kreuz dokumentieren, ob sie mit der Arbeit einverstanden waren oder nicht. Die Wahlbeteiligung liegt in der Regel höher als bei Bundestagswahlen, bei 70 bis 80 Prozent.
Immer wieder habe ich erlebt, wie in meinem Gewerkschaftsbüro die Türe aufging. Eine kleine Gruppe von Beschäftigten kam rein mit den Worten: Jutta, wir haben ein Problem. Was können wir tun? – Die Probleme, die dahintersteckten, waren oftmals sehr ähnlich bzw. die gleichen: Es ging darum: Die Arbeitszeiten stimmen nicht, die Bezahlung ist ungerecht, die Arbeitsbedingungen sind Mist, es gibt keinen Tarifvertrag usw. usf. – Und jetzt? Um solche Probleme in den Griff zu kriegen, braucht man einen Betriebsrat.
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Und die Betriebsräte brauchen Kandidaten und Rechte, um sich für die Interessen der Leute einsetzen zu können.
Wenn Beschäftigte in Betrieben mitreden, sind meistens die Gehälter höher; es gibt mehr Urlaub und kürzere Arbeitszeiten. Trotzdem ist der Anteil der Betriebsräte rückläufig. Betriebsräte und diejenigen, die einen Betriebsrat gründen wollen, sehen sich immer häufiger Angriffen ausgesetzt. Das ist eine Kampfansage von einigen Arbeitgebern. Sie lehnen offen Demokratie am Arbeitsplatz ab. So werden Betriebsräte regelrecht zum Abschuss freigegeben. Dieses Verhalten ist zutiefst undemokratisch
({2})
und hat mit der vielbeschworenen Sozialpartnerschaft rein gar nichts zu tun. Ich versuche, es Ihnen an drei kleinen Beispielen, die aber typisch sind, noch mal zu verdeutlichen.
Es macht mich wütend, wenn ich höre, dass einem Betriebsratsmitglied der AMEOS-Kliniken fristlos gekündigt wurde, weil er sich für einen Tarifvertrag eingesetzt hat.
({3})
Wenn ein Betrieb wie AMEOS ein attraktiver Arbeitgeber sein will, dann braucht er einen Betriebsrat. Ist es denn so schwer zu begreifen?
Ich begreife nicht, dass die Geschäftsleitung der AMEOS-Kliniken 2017 auf einer Betriebsversammlung den Beschäftigten sinngemäß drohte: Entweder ihr wählt bestimmte Leute, oder es kommt hier im Betrieb zu Kündigungen. – Unglaublich ist so was! Das ist Wahlbeeinflussung und im Grunde absolut unzulässig.
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Als letztes Beispiel nenne ich die Biokette Alnatura. Sie hat mit einem Rechtsstreit über vier Jahre systematisch die Gründung von Betriebsräten verhindert. Alnatura hat zwar alle Rechtsstreitigkeiten verloren, aber die Initiatoren sind auch aus dem Betrieb raus. Somit hat die Firma trotz aller Niederlagen vor Gericht am Ende ihr Ziel erreicht.
Immer wieder kommen Arbeitgeber ungeschoren davon, wenn sie Betriebsräte behindern. Das zeigen die Beispiele. Aber das, Kolleginnen und Kollegen, macht mich wütend, und das in dem Jahr, in dem wir 100 Jahre Betriebsverfassung feiern. Das kann doch alles wirklich nicht wahr sein!
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Meine Damen und Herren, es liegt an uns, die Demokratie in den Betrieben zu schützen. Antidemokratischen, verfassungsfeindlichen Arbeitgebern muss das Handwerk gelegt werden.
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Dazu brauchen wir Schwerpunktstaatsanwaltschaften und ausreichend qualifiziertes Personal. Und wieso werden Arbeitgeber bei Ordnungswidrigkeiten privilegiert? Bei jedem Nachbarschaftsstreit ist ein Ordnungsgeld von bis 250 000 Euro möglich. Verstöße gegen die Datenschutz-Grundverordnung werden mit bis zu 4 Prozent des jeweiligen weltweiten Jahresumsatzes sanktioniert. Und wie sieht es bei Verstößen gegen das Betriebsverfassungsgesetz aus? Das Ordnungsgeld beträgt mindestens 5 Euro, aber höchstens 10 000 Euro. Das ist doch ein schlechter Witz, sage ich Ihnen.
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Ist uns die gelebte Demokratie in den Betrieben so wenig wert? Immer häufiger müssen Beschäftigte erst streiken, bevor Arbeitgeber mit ihnen oder ihrer Gewerkschaft verhandeln. So geschehen auch bei AMEOS, bei der Gilde Brauerei in Hannover und bei Amazon. Was sind das für Arbeitgeber, die nicht einmal bereit sind, mit ihren Leuten und den zuständigen Gewerkschaften überhaupt auch nur zu reden?
Ja, wir müssen Betriebsräte endlich besser schützen. Sie sind gelebte Demokratie im Betrieb.
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Denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Ja. – Wir sind der Gesetzgeber. Lassen Sie uns endlich Gesetze machen, die die Belegschaften und die Betriebsräte vor der Willkür solcher Arbeitgeber schützen.
Vielen Dank.
({0})
Vielen Dank, Jutta Krellmann. – Nächster Redner: Uwe Schummer für die CDU/CSU-Fraktion.
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Verehrtes Präsidium! Kolleginnen und Kollegen! Der Arbeitsmarkt und die gesamte Wirtschaft befinden sich in einem strukturellen Wandel. Wir wollen diesen Wandel begleiten, auch politisch. Dieser Wandel darf nicht nur technisch perfekt und von Digitalisierung bestimmt sein, nein, er muss auch sozial gestaltet werden.
Für die soziale Gestaltung gerade in Großunternehmen waren in der Vergangenheit die Betriebsräte immer zentral. Von daher ist die betriebliche Mitbestimmung, die im Februar 1920, in der Weimarer Zeit, von dem Reichsarbeitsminister Heinrich Brauns, der vorher katholischer Pfarrer in Essen war, auf den Weg gebracht wurde, ein ganz zentrales Instrument der Betriebsverfassung, das wir in diesem Jahr, in dem wir 100 Jahre Betriebsrätegesetz feiern, weiterentwickeln wollen. Mit dem Reichsarbeitsminister Heinrich Brauns hatten wir in der Weimarer Zeit einen im Grunde christlich-sozialen Politiker, der neben der Betriebsverfassung auch die Arbeitslosenversicherung und die Arbeitsgerichte geschaffen hat – wesentliche Grundlagen unseres heutigen sozialen Staates.
Wichtige Rechte werden von den Arbeitnehmervertretern wahrgenommen. Ich war selbst Betriebsrat und bin seit 44 Jahren in der IG Metall. Betriebs- und Personalräte haben wichtige Mitspracherechte bei Arbeitszeiten, bei Einstellungen, bei Kündigungen, bei Weiterbildungen. Sie können auf Augenhöhe beide Seiten des Betriebs so zusammenführen, dass wir am Ende neben der sozialen Ebene Wertschöpfung und Produktivität in den Unternehmen haben. Es gibt eine produktive Kraft des sozialen Friedens, des Miteinanders. Das wussten schon die Kaufleute in der Hansezeit: Bevor eine Hansekogge auslief, war das Erste, nachdem die Matrosen angeheuert waren, die Wahl eines Matrosensprecherrates, weil man wusste, dass es besser ist, mit allen gemeinsam zu verhandeln, als jeden Einzelnen herauszupicken und dann zu schauen, dass man Individualverträge schließt. Es ist produktiver, es ist für die Wirtschaft interessanter und es ist wichtig für das soziale Gefüge im Unternehmen, wenn man sich auf eine solche Betriebsverfassung verständigt und auf dieser Basis auf Augenhöhe miteinander arbeitet.
Es gibt Ausnahmen, es gibt Unternehmer, die diese Klugheit nicht besitzen. Nach einer Studie ist es so, dass im Bereich der Metall- und Chemieindustrie in 16 Prozent der 835 Betriebe, die erstmals Betriebsratswahlen durchführten, die Initiatoren dieser Wahl durch Kündigung und Mobbing daran gehindert werden sollten.
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16 Prozent! Das ist nicht die Normalität, das ist die Ausnahme, aber die muss man sich ansehen.
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Von diesen 16 Prozent der Unternehmen wurden 44 Prozent durch externe Agenturen und Beratungsfirmen dabei beraten. Die Normalität ist aber das Miteinander. Wir haben keine Verhältnisse wie im Wilden Westen oder wie in Amerika; wir haben bei uns in Deutschland schon eine Kultur des Miteinanders und der sozialen Partnerschaft.
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Es ist in der Tat nicht akzeptabel, wenn beispielsweise bei den AMEOS-Kliniken in Sachsen-Anhalt, wie eben ausgeführt wurde, Tarifverhandlungen und betriebliche Mitbestimmung durch Kündigungen boykottiert bzw. blockiert werden sollen. Dazu hat sich auch die Landtagsfraktion der CDU in Sachsen-Anhalt ganz klar positioniert, an der Seite der Beschäftigten.
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Es ist wichtig, dass die Tarifverhandlungen mit dem Schweizer Gesundheitskonzern, die jetzt gestartet werden, zu einem vernünftigen Ende gebracht werden.
Wir wollen – das haben wir im Koalitionsvertrag vereinbart – in diesem Jubeljahr der Betriebsverfassung – 100 Jahre betriebliche Mitbestimmung, Betriebsrätegesetz – die Bildung von Betriebsräten erleichtern, weil wir spüren: Wir haben kein Qualitätsproblem, sondern wir haben ein Quantitätsproblem, wenn nur noch in ganzen 9 Prozent der Betriebe – in der Regel solche mit über 200 Beschäftigten – insgesamt 41 bis 42 Prozent der Beschäftigten durch betriebliche Mitbestimmung vertreten werden. Von daher ist es wichtig, dass wir die beiden Welten – die digitale Welt, die Onlinewelt, die Welt der Plattformökonomie und die klassische Welt der betrieblichen Mitbestimmung – zusammenführen. Viele der neuen Unternehmen kennen sich nämlich mit dieser Form der betrieblichen Wirklichkeit, der betrieblichen Mitbestimmung nicht aus. Beide Welten müssen zueinander geführt werden. Das ist eine Aufgabe. Ein Instrument kann sein – das werden wir miteinander prüfen –, im Rahmen der Betriebsverfassung zum Beispiel Onlinewahlen zu ermöglichen.
({4})
Da, wo kein Unternehmen im klassischen Sinne existiert, wo es keine Fabrikhalle und kein schwarzes Brett gibt,
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sondern wo beispielsweise Fahrräder und eine App wie bei Delivery Hero das Unternehmen definieren, brauchen wir andere Instrumente, um die betriebliche Wirklichkeit abzubilden.
Es ist auch sinnvoll und wichtig, dass wir den Wahlvorgang entbürokratisieren, dass beispielsweise in Betrieben mit bis zu 200 Beschäftigten optional der Betriebsrat auch über eine Belegschaftsversammlung gewählt werden kann, die Hürden also nicht so hoch bleiben.
Wir wollen auch die Initiatoren bis zum Wahlvorstand – ich glaube, das ist ein ganz zentraler Ansatz –, die bislang keine Schutzrechte haben, durch eine neutrale Stelle, in welcher Form auch immer, unterstützen, damit eine Betriebsratsgründung vollzogen werden kann.
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Wie wir das erreichen können – über die Wahlordnung, über das Betriebsverfassungsgesetz –, das werden wir prüfen; aber wir sind wild entschlossen, entsprechend zu handeln.
Ich finde, dass wir auch die Vernetzung von betrieblicher Mitbestimmung und Mitarbeiterkapital brauchen. Wir wollen in diesem wichtigen Jahr die soziale Partnerschaft durch Kapitalpartnerschaft ergänzen. Deshalb ist der steuerliche Freibetrag für Mitarbeiterbeteiligungen, also wirtschaftliche Beteiligungsrechte, hilfreich und sinnvoll.
Ich glaube, beide Themen sind spannend in diesem Jubeljahr der betrieblichen Mitbestimmung.
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Vielen Dank, Uwe Schummer. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Jürgen Pohl.
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Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Liebe Gäste! Die betriebliche Mitbestimmung ist ein hohes Gut. Sie ist zentraler Bestandteil unserer sozialen Marktwirtschaft. Weltweit beneiden uns Arbeitnehmervertreter um die gesetzliche Ausgestaltung der Mitbestimmung in unserem Land.
Das heißt aber nicht, dass wir uns auf dem Erreichten ausruhen dürfen. In einer sich radikal ändernden Arbeitswelt müssen wir die Mitbestimmungs- und Mitwirkungsrechte der Arbeitnehmer den Erfordernissen dieses Wandels anpassen. Das darf allerdings nicht dazu führen, dass wir das bestehende Gesetz verkomplizieren oder es zum Strafgesetzbuch ausbauen, wie es die Linken heute wollen.
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Wir als AfD wollen einen konstruktiven Weg gehen.
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Dabei bekennen wir uns ausdrücklich zur Sozialpartnerschaft in den Betrieben und in Unternehmen. Wir sprechen uns klar und deutlich für die Tarifautonomie der Tarifpartner aus. Wir setzen uns mit allem Nachdruck für eine gute, vernünftige Zusammenarbeit zwischen Arbeitgebern, Betriebsräten und Arbeitnehmern ein. Folglich begrüßen wir ein gutes und verantwortungsvolles Miteinander der Betriebspartner
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auf der Grundlage der bestehenden Gesetze.
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Wir wollen kein Gegeneinander wie Sie, wir wollen einen vernünftigen Umgang miteinander.
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Das heißt, wir wollen zufriedene Mitarbeiter und ein Unternehmen, das seine Betriebsziele erreicht.
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Natürlich – das ist klar, und da rufen Sie ja schon dazwischen – verkennen wir nicht, dass es im Betrieb auch gegensätzliche Interessen gibt. Diese gegensätzlichen Interessen müssen aber im Geiste der Sozialpartnerschaft gelöst werden und nicht, wie Sie es vorhaben, Genossen von den Linken, im Klassenkampf. Das ist falsch.
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Unserer Ansicht nach bietet das geltende Betriebsverfassungsgesetz insgesamt eine gute Grundlage. Es bedarf keiner Strafverschärfung.
Die Linken sprechen in ihrem Antrag von unerträglichen Grauzonen, von Betriebsrats- und Gewerkschaftsbashing, also Verfolgung. Das ist grober Unfug.
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In Einzelfällen kommt so etwas vor, im Großen und Ganzen herrscht aber Betriebsfrieden in den Unternehmen, vor allen Dingen in den kleinen Unternehmen, in den mittelständischen und Familienunternehmen.
Wir wollen keine Grabenkämpfe, liebe Kollegen von den Linken. Wir hassen die Marktwirtschaft nicht. Wir sind die Partei der Marktwirtschaft.
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Das ist der Unterschied.
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Wir setzen uns für eine verantwortungsvolle Mitwirkung und die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Unternehmen ein. Anstatt einen Interessenausgleich zu fördern, gießen die Linken Öl ins Feuer und stellen die Arbeitgeberseite unter Generalverdacht; das ist das Problem. Ganz ehrlich, es schaudert mich, wenn ich das Wort „Schwerpunktstaatsanwaltschaften“ lese.
({10})
Schwerpunktstaatsanwaltschaften sollen dann wie Kettenhunde auf die Arbeitgeber gehetzt werden. Das ist der falsche Weg.
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Wir brauchen keine Hilfe für links abgerutschte Gewerkschaften –
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nicht die gehören gestärkt –, wir brauchen Hilfe für Betriebsräte. Da stimme ich mit dem Kollegen Schummer überein. Wir haben doch den Typus des Generaldirektors, der einsam herrscht, überhaupt nicht mehr in Deutschland. Wir haben Mitwirkungsrechte, Mitbestimmungsrechte, Informationsrechte, Anhörungsrechte, Beratungsrechte, Widerspruchsrechte, Unterlassungsansprüche, Anspruch auf Betriebsvereinbarung, wir haben Anspruch auf rechtliche Vertretung und Schulung. Wenn ich etwas vergessen haben sollte: Entschuldigung. Wir haben rechtliche Mittel. Wir können zum Arbeitsgericht gehen, können dort Anträge stellen, wir setzen Einigungsstellen ein, wir können sogar strafrechtlich vorgehen, wenn etwas ist. Freunde, wir haben alles. Was wollen Sie jetzt mehr?
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Was wir mehr brauchen – und da bin ich ebenfalls in Übereinstimmung mit der CDU –: Wir müssen unser Betriebsverfassungsgesetz den aktuellen Bedingungen anpassen. Tut mir leid, Kollege, wenn ich es Ihnen jetzt – –
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– Ich weiß, Thüringer Verhältnisse: Man darf nicht mehr loben.
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Wir brauchen zum Beispiel eine qualitative Stärkung der Betriebsräte, das heißt Vereinfachung der Betriebsratswahl. Warum senken wir nicht die Schwelle und sagen, dass Betriebe mit bis zu hundert Beschäftigten dem vereinfachten Wahlverfahren unterliegen? Warum reichen uns, wenn Wahlvorschläge für die Betriebsratswahl eingereicht werden, nicht zwei Unterschriften? Das heißt, wir müssen die Hemmschwellen abbauen, damit Betriebsratswahlen leichter durchgeführt werden können, und nicht die Arbeitgeber bestrafen. Ich garantiere Ihnen: Bei einer Vereinfachung der Wahl von Betriebsräten werden sich mehr Kandidaten als bisher für die Betriebsratswahl aufstellen lassen.
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Die Wahl eines Betriebsrates ist und bleibt zuallererst Sache der Beschäftigten selbst und nicht des Arbeitgebers. Deshalb bedarf es Ihres Antrages nicht. Es widerspricht zutiefst dem Geist der Sozialpartnerschaft, dem Arbeitgeber mit Strafvorschriften zu drohen. Drohungen, Strafen und Verbote sind das Weltbild linker Demagogen.
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– Das ist so. – Wir dagegen bekennen uns zur Sozialpartnerschaft und zur sozialen Marktwirtschaft. Was Sie wollen, ist Sozialismus, Planwirtschaft.
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Wir wollen eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Arbeitgebern und Betriebsräten. Die Alternative für Deutschland bekämpft sich – –
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– billig, billig, infantil und billig! – bekennt sich ausdrücklich zur Sozialpartnerschaft und unterstützt und anerkennt die Arbeit der Betriebsräte. Wir verstehen uns als Partei des kleinen Mannes,
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und wir werden in den nächsten Wochen und Monaten, auch im Hinblick auf unseren Sozialparteitag, weitere Vorschläge unterbreiten. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit – wenn sie denn von Ihrer Partei genehmigt wird.
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Jetzt noch einmal zu den Linken – ich habe noch eine Minute –: Sie meinen doch nicht wirklich, dass Sie mit einer Verschärfung der Strafvorschriften die Betriebsratsarbeit innerhalb der Firmen verbessern. Also ich gehe davon aus: Das war ein demagogischer, plakativer Antrag, der äußerst dünn daherkam.
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Sie müssten ihn mal veröffentlichen, damit die Bevölkerung draußen sieht, auf welchem Niveau hier gearbeitet wird.
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Ich bedanke mich. Frohes Schaffen! Wiedersehen!
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Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Bernd Rützel.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Also ich bin froh, und es ist auch gut so, dass wir heute über dieses Thema und über diesen Antrag sprechen. Deswegen danke, dass Sie, liebe Linke, diesen eingebracht haben.
({0})
Herr Schummer, Sie haben eine Ausweitung des Kündigungsschutzes gefordert für Initiatoren einer Betriebsratswahl. Ich glaube Ihnen das. Sie sind Betriebsrat gewesen, so wie ich. Sie sind Gewerkschafter, so wie ich. Ich glaube Ihnen das. Nur, wenn Sie hier stehen, dann sprechen Sie ja auch für Ihre Partei, für die CDU.
({1})
Überzeugen Sie Ihre Partei, und wir machen das ganz schnell gemeinsam,
({2})
den Kündigungsschutz auszuweiten für die, die Betriebsräte gründen wollen; das bekommen wir ganz schnell hin.
Die Linken beschäftigen sich in ihrem Antrag, der schon etwas dünn ist, muss ich sagen, mit zwei Punkten, zum einen mit Schwerpunktstaatsanwaltschaften – ich gehe gleich darauf ein –, zum anderen mit der Privilegierung von Arbeitgebern im Betriebsverfassungsgesetz.
Aber der erste Satz Ihres Antrages heißt: „Wer sich für Demokratie im Betrieb einsetzt, lebt gefährlich …“
({3})
Das stimmt doch nicht, liebe Leute. Jugend- und Auszubildendenvertreter, Personalräte, Betriebsräte, Schwerbehindertenvertrauensleute – all die sind doch diejenigen, die sich einsetzen für die Kolleginnen und Kollegen, die das Leben der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer besser machen, die auch die Betriebe erfolgreicher machen, die auch geschätzt und geachtet sind. Ich will an dieser Stelle sagen – und da unterstütze ich ausdrücklich Jutta Krellmann, die das noch einmal herausgearbeitet hat –: Diese Menschen sind eine ganz wichtige Stütze für die Demokratie in unserem Land. Denn es gibt mehr Personal- und Betriebsräte als Gemeinderäte bzw. Stadträte, die auch immer wieder gewählt werden. Diese Menschen sind also eine ganz wichtige Stütze der Demokratie. Deswegen müssen wir Danke sagen, dass sie diese Arbeit machen; diese Menschen haben unsere Achtung verdient.
({4})
Aber es ist wahr: Wir müssen die Betriebsräte stärken.
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Denn sie werden bekämpft und sie werden behindert. Manche Arbeitgeber – manche! –, die bekämpfen Betriebsräte wie der Teufel das Weihwasser, sie geben viel Geld aus für Anwaltskanzleien, um sich Anwälte einzukaufen, die Betriebsräte verhindern sollen. Deswegen möchte ich zwei Dinge ansprechen:
Erstens. In § 119 des Betriebsverfassungsgesetzes werden entsprechende Straftaten genau beschrieben. Eine Straftat ist grundsätzlich ein Offizialdelikt, und ein Offizialdelikt wird von Amts wegen verfolgt, von der Staatsanwaltschaft. Aber im Betriebsverfassungsgesetz steht, dass diese Taten Antragsdelikte sind. Das ist ungefähr so: Wenn ich hier vor dem Reichstag bei Rot über die Ampel gehe, dann werde ich, wenn es sich hierbei um ein Offizialdelikt handelt und die Polizei mich erwischt, angehalten und zur Rechenschaft gezogen. Wenn es sich dagegen um ein Antragsdelikt handelt, kommt es darauf an, ob ein Passant, der gesehen hat, dass ich bei Rot über die Ampel gegangen bin, mich anzeigt; erst dann wird gekuckt, ob man mich anklagt. Deswegen brauchen wir diesen Wechsel vom Antrags- zum Offizialdelikt. Das ist ganz einfach, man sehe sich Absatz 2 von § 119 an. Wenn man den streichen würde – ich muss das Minister Altmaier einmal vorschlagen –, würde das die Bürokratie entlasten, es würde weniger Anträge geben, es würde weniger Komplikationen geben. Das wäre gut für die Betriebsräte, das wäre gut für alle, die hier tätig sind. Das würde uns auch helfen, das Ganze zu stärken.
({6})
Der zweite Punkt: Wir als öffentlicher Auftraggeber geben viel Geld aus. Diese öffentlichen Aufträge sollten wir nur noch an tarifgebundene Unternehmen geben.
({7})
Das ist wichtig. Nicht der billige Jakob soll das Geschäft machen. Deswegen brauchen wir ein Bundestariftreuegesetz. Das ist notwendig, das bedeutet Fairness. Und auch unsere Rolle als Vorbild gebietet, dass wir das machen.
({8})
Umfragen haben ergeben, dass der allergrößte Teil der Bevölkerung das genauso sieht und ebenfalls will, dass öffentliche Gelder nicht verdummt werden, sondern dass es den Menschen auch wieder zugutekommt.
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Es gibt noch viel mehr Dinge, die wir im Ausschuss beraten werden. Das vereinfachte Wahlverfahren wurde angesprochen, ebenso die Nachwirkung von Tarifverträgen. Das ist nämlich wichtig, wenn immer mehr Betriebe über Nacht zersplittert werden. Darauf geht Yasmin Fahimi nachher in einem ganz speziellen Fall ein.
Ich bedanke mich sehr.
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Vielen Dank, Bernd Rützel. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Carl-Julius Cronenberg.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin Krellmann, bei meiner Jungfernrede vor zwei Jahren – Sie erinnern sich – habe ich Sie eingeladen, unsere Familienunternehmen im Sauerland zu besuchen. Ich wollte Ihnen zeigen, dass Mittelständler keine Lohnräuber sind. Sie sind im August dann auch gekommen,
({0})
und dafür bin ich Ihnen dankbar.
({1})
Die Geste hatte mir als frisch gewähltem Abgeordneten gezeigt, dass Sie bereit sind, zuzuhören und respektvoll in den Dialog einzutreten. An meiner Ablehnung Ihrer Forderungen von damals hat das nichts geändert, und es wird Sie auch kaum überraschen, dass dies auch bei Ihrem heute vorliegenden Antrag so ist.
Ihr Antrag erweckt den Anschein, ein großer Teil der Beschäftigten in Deutschland sei einem Turbokapitalismus der schlimmsten Kategorie ausgesetzt und würde unter massivem Union Busting oder Betriebsrat-Bashing leiden. Das ist nicht der Fall. Im Gegenteil: Die Arbeitszufriedenheit steigt, die Lebenszufriedenheit ist hoch wie nie, und das ist auch gut so.
Doch ich räume gerne ein, dass es Ihnen immer wieder gelingt, Probleme anzusprechen, die ich zumindest früher als Unternehmer nicht so im Blick hatte. Es geht um Menschen, die mit ihren Nöten vielleicht doch ab und zu im toten Winkel geblieben waren. Deshalb habe ich neben der großen Expertise von Johannes Vogel und allen anderen FDP-Kolleginnen und -Kollegen auch Ihre Mahnungen immer als wertvollen Beitrag in den Debatten wahrgenommen, die Sie wie eben und wir alle mit großer Leidenschaft führen.
Sie schreiben: „Betroffene Beschäftigte brauchen … gesetzlichen Schutz.“ Den haben sie, und zwar in § 119 des Betriebsverfassungsgesetzes. Denn Behinderung von Betriebsräten ist strafbewehrt. Es mag Beispiele dafür geben; Sie haben das angeführt. Aber es gibt keine repräsentative Empirie, die die Dramatik Ihres Antrags belegt. Die pauschale Unterstellung, Arbeitgeber wollten betriebsrats- und gewerkschaftsfreie Zonen, weise ich zurück.
({2})
Im Gegenteil: Ich spreche oft mit Arbeitgebern und Betriebsräten, die an einem Strang ziehen, und zwar in die gleiche Richtung, insbesondere, wenn es um Investitionen geht. Sie wissen genau, dass sie alle im selben Boot sitzen. Wer dagegen zu früh oder zu stark nach staatlicher Regulierung ruft, der gefährdet Investitionen und Arbeitsplätze.
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Ein Betrieb ist wie die Gesellschaft, nur in klein. Deshalb ist gerade in diesen Zeiten das Fördern einer Vertrauenskultur das Gebot der Stunde, nicht jedoch das Befördern von Misstrauen. Demokratie ist anstrengend, im Kleinen wie im Großen. Sie zwingt uns, Kompromisse zu finden und gleichzeitig unterscheidbar zu bleiben. Fehlt das eine, sind wir blockiert, fehlt das andere, suchen die Wähler nach Alternativen.
Ja, Betriebsräte brauchen Schutz. Aber Tarifautonomie, Subsidiarität und Vertragsfreiheit brauchen auch Schutz vor staatlichen Eingriffen, weil Menschen mit gesundem Sozialverhalten ihre Angelegenheiten meist besser regeln als der Staat,
({4})
weil diese Merkmale das Fundament unserer sozialen Marktwirtschaft sind, und dafür streite ich hier.
Genauso werde ich immer dafür streiten, dass jeder Abgeordnete in diesem Hause seine Überzeugungen und Forderungen frei artikulieren kann, ohne befürchten zu müssen, dass er oder sie oder seine Familie oder sonst wer dafür geschmäht oder das Wahlkreisbüro oder irgendwas da draußen angegriffen wird.
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Ja, unser parlamentarisches System schließt auch hässliche Positionen nicht aus, lässt auch Positionen am Rande der Erträglichkeit zu. Aber gerade das macht vielleicht auch seine Stärke aus. Diese politische Ordnung, diese Kultur der Toleranz wird in diesen Tagen herausgefordert, und das erfüllt mich mit großer Sorge. Sie zu verteidigen, verstehe ich auch als meinen Wählerauftrag. Rechtsstaat und Toleranz wiegen am Ende schwerer als ein Wahlprogramm. Demokratie ist liberal, oder sie ist nicht.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin in der Debatte ist die Kollegin Beate Müller-Gemmeke für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Gäste! Das Betriebsrätegesetz vor 100 Jahren war ein Meilenstein. Seither können sich die Beschäftigten einmischen, mitreden, ihre Arbeitswelt aktiv mitgestalten. Die Mitbestimmung ist also gelebte Partizipation und Demokratie, und dieses demokratische Miteinander muss gestärkt werden.
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Die Gründe dafür – die Fakten – sind bekannt. Die weißen Flecken bei der Mitbestimmung sind groß. Betriebsratswahlen werden behindert und teilweise verhindert. Teilweise wird die Mitbestimmung sogar strategisch bekämpft. Es besteht also Handlungsbedarf; denn dieser Trend muss gestoppt werden.
({1})
Deshalb haben wir bereits 2015 und dann im Jahr 2018 einen Antrag in den Bundestag eingebracht und konkrete Vorschläge gemacht, wie die Mitbestimmung gestärkt werden kann. Seit unserem ersten Antrag sind jetzt fünf Jahre vergangen; passiert ist aber rein gar nichts. Sie, die Regierungsfraktionen, reden nur über die Mitbestimmung. Das ist zu wenig. Sie müssen auch endlich handeln.
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Zwei Vorschläge möchte ich Ihnen noch einmal kurz mit auf den Weg geben.
Erstens. Wenn Betriebsräte nicht erwünscht sind, wenn es deshalb Kündigungen gibt, wenn die Beschäftigten gemobbt werden, wenn es Abmahnungen hagelt, dann sind das alles Straftaten nach § 119 Betriebsverfassungsgesetz. Dennoch haben die Arbeitgeber in der Regel nichts zu befürchten, und deshalb sollen die Staatsanwälte zukünftig selber ermitteln können; denn bestehendes Recht muss endlich durchgesetzt werden.
({3})
Zweitens. Die schwierigste Phase ist, wenn sich die Beschäftigten auf den Weg machen, um erstmalig einen Betriebsrat zu gründen. Sie sind dann besonders von Benachteiligungen bedroht. In dieser Situation brauchen auch diese aktiven Beschäftigten den besonderen Schutz nach § 78 Betriebsverfassungsgesetz. Wenn Arbeitgeber Betriebsräte verhindern wollen, dann müssen wir ganz eindeutig auf der Seite der Beschäftigten stehen und sie gesetzlich besser schützen.
({4})
Wenn die Mitbestimmung gestärkt wird, dann hat das auch positive Effekte in den Unternehmen: auf Produktivität, Löhne, Weiterbildung, Ausbildung, Integration von Migrantinnen und Migranten und auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Es wäre auch ganz allgemein ein wichtiges Zeichen für zivilgesellschaftliches Engagement, für solidarisches Miteinander und für unsere demokratischen Werte.
Die Betriebsräte und Gewerkschaften sind wichtig; denn sie sind immun gegen die AfD, sie stehen auf gegen Hass, Hetze und Rassismus. Sie verteidigen unsere Demokratie in den Betrieben. Auch deshalb muss die Mitbestimmung gestärkt werden.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Torbjörn Kartes.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste auf den Tribünen! Der hier vorliegende Antrag der Linken überzeugt mich nicht. Ich finde ihn schon vom Duktus her schwierig und vor allen Dingen einseitig formuliert.
Sie unterstellen gleich zu Beginn im ersten Satz, den Sie da formuliert haben: Wer sich in unserem Land für Demokratie im Betrieb einsetzt, also für betriebliche Mitbestimmung, der lebt gefährlich. – Um auch das gleich an dieser Stelle vorneweg zu sagen: Es gibt zweifellos Arbeitgeber, die sich rechtswidrig verhalten, die versuchen, die Gründung von Betriebsräten zu verhindern. Sie gehen teilweise sicher nicht anständig mit ihren Mitarbeitern um, keine Frage. Sie haben sicher auch unsere Aufmerksamkeit verdient. Aber – und das kommt mir in Ihrem Antrag deutlich zu kurz; Sie führen es eigentlich gar nicht aus –: Das ist doch ganz sicher nicht die Mehrheit aller Arbeitgeber hier in Deutschland. Ich finde, wenn man einen solchen Antrag hier einbringt, dann sollte man das zumindest differenziert tun. Dann sollte man zumindest auch deutlich machen, dass die Mehrzahl der Arbeitgeber in Deutschland sich anständig verhält.
({0})
Wir haben ein gut funktionierendes Betriebsverfassungsrecht hier in Deutschland. Es hat sich über hundert Jahre entwickelt. Arbeitgeber und Betriebsräte arbeiten in aller Regel vertrauensvoll zum Wohl der Arbeitnehmer und des Betriebs zusammen. Das ist doch die Botschaft: Wir bekämpfen die schwarzen Schafe; aber wir dürfen auch stolz sein auf unsere betriebliche Mitbestimmung in Deutschland.
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Nun geht es Ihnen heute darum, dass wir Betriebsräte vor mitbestimmungsfeindlichen Arbeitgebern schützen sollen, insbesondere vor denjenigen, die versuchen, Betriebsratswahlen aktiv zu verhindern. Da sind wir uns auch einig. Aber was auch untergeht in Ihrem Antrag: Ein solches Verhalten ist bereits heute rechtswidrig. Es ist sogar ein Straftatbestand. Nach § 119 Absatz 1 Satz 1 Betriebsverfassungsgesetz – das ist auch schon erwähnt worden – wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft, wer die Wahl eines Betriebsrats behindert oder beeinflusst. Ich finde, das hätten Sie in Ihrem Antrag durchaus auch mal erwähnen können; denn so schutzlos sind Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland zu Recht eben nicht.
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Ich glaube, es kommt viel eher darauf an, dass solches Fehlverhalten konsequent zur Anzeige gebracht und bis zum Urteil verfolgt wird. Hier geht es immerhin um persönliche Haftung, um eine Straftat. Das wird den allermeisten, wenn Strafverfolgung wirksam funktioniert, auch nicht mehr egal sein. Ich bin mir sicher, dass das deutlich mehr bringen würde als Ihre Vorschläge, die Sie umsetzen wollen, die aber ihre Wirkung in der Praxis verfehlen würden.
Ich möchte noch auf einen Punkt in Ihrem Antrag eingehen. Das betrifft Ihren Vorschlag, das Höchstmaß des Ordnungsgelds in § 23 Absatz 3 Betriebsverfassungsgesetz von 10 000 auf 25 000 Euro zu erhöhen. Man muss, denke ich, ganz kurz erklären, wann es überhaupt so ein Ordnungsgeld gibt. Dafür brauchen Sie einen Arbeitgeber, der seine gesetzlichen Verpflichtungen aus dem Betriebsverfassungsrecht grob verletzt. Er muss dann vor ein Arbeitsgericht kommen. Dort wird dann eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung getroffen. Er bekommt eine bestimmte Handlung aufgegeben, zum Beispiel die Bekämpfung der Gründung eines Betriebsrates zu unterlassen. Dies ignoriert er dann bewusst; es ist ihm im besten Sinne egal. Dann bekommt er ein Ordnungsgeld von maximal 10 000 Euro. Auch das ist ihm egal. Denn er sagt: Ich zahle lieber das Geld, als dass ich einen Betriebsrat habe.
Glauben Sie wirklich, dass dieser davon beeindruckt wäre, dass er anstatt 10 000 Euro maximal 25 000 Euro zu zahlen hätte? Ich glaube das nicht. Deshalb glaube ich auch nicht, dass Ihr Vorschlag bei diesen speziellen Arbeitgebern etwas bringen würde. Vielmehr treffen Sie solche Arbeitgeber – ich habe es schon erwähnt – mit dem Strafrecht, insbesondere im Wiederholungsfall. Diese werden zunehmend den Imageschaden fürchten, wenn sich herumspricht, was für ein Arbeitgeber sie sind. Übrigens müssen wir auch dafür das Gesetz nicht ändern, sondern vielmehr an der Kultur der Arbeitswelt weiter arbeiten und Rechtsverfolgung entsprechend durchsetzen.
Ich komme zum Schluss. – Klar ist für uns als Union aber auch, dass betriebliche Mitbestimmung Zukunft hat, dass sie wichtig und richtig ist und dass sie gerade in Zeiten des digitalen Wandels große Bedeutung hat. Daher wollen wir insbesondere auch das allgemeine Initiativrecht von Betriebsräten für Weiterbildung stärken. Wir werden die Gründung und Wahl von Betriebsräten erleichtern. Wir wollen sicherstellen, dass auch bei grenzüberschreitenden Sitzverlagerungen von Gesellschaften die nationalen Vorschriften über die Mitbestimmung gesichert werden. Das sind Maßnahmen, die das Betriebsverfassungsrecht fit für die Zukunft machen und sinnvoll weiterentwickeln. Daran werden wir auch in dieser Legislatur noch arbeiten.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion der FDP der Kollege Till Mansmann.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Natürlich kommt es in Unternehmen zu Interessenkonflikten zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Unser ganzes System der Tarifautonomie, der Sozialpartnerschaft, des umfangreichen Arbeitsrechts, des Diskriminierungsschutzes und vieles andere spiegeln das in der Gesetzgebung wider.
Die Frage ist nun, ob neue Regelungen, die wir hier natürlich immer fordern können, dabei helfen, die Konflikte zu entschärfen und zu lösen, oder ob wir mit solchen Maßnahmen bereits aufgebaute Fronten, wie Sie sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei, in Ihrem Antrag plastisch beschreiben, nicht eher verhärten.
({0})
Sie sagen in Ihrem Antrag im Grunde, die Regelungen des Betriebsverfassungsgesetzes gäben den Arbeitnehmern bislang nur ein stumpfes Schwert in die Hand, das Sie schärfen wollen. Wir wissen ja ganz praktisch, dass sich, um im Bild zu bleiben, manchmal die Klingen kreuzen müssen. In der Regel entstehen dabei jedoch auch Verletzungen, die es zu vermeiden gilt. Gleich in § 2 des Betriebsverfassungsgesetzes heißt es doch, dass eine „vertrauensvolle Zusammenarbeit“ das gemeinsame Ziel sein soll. Von diesem Grundsatz entfernen Sie sich doch ein Stück,
({1})
vermutlich, weil Sie nicht wirklich an diese grundsätzliche vertrauensvolle Zusammenarbeit glauben.
In diesem Zusammenhang möchte ich Sie gerne daran erinnern, dass im Mittelpunkt des Betriebsverfassungsgesetzes sowohl der Erfolg des Betriebes als auch das Wohlergehen des Arbeitnehmers steht. Ihr Antrag krankt an einem schrägen Bild, das Sie von unserer Wirtschaftsordnung haben. Vielleicht schwebt Ihnen so eine Art grundsätzliche Dialektik vor, ein Gegensatz von Gut und Böse, unternehmerische Autorität gegen Demokratie oder auch Profit gegen Wohlergehen. Ich bin überzeugt, dass dieses falsche Bild die Ursache für den etwas schiefen Antrag ist.
Und in diesem Umfeld werfen Sie dem Gesetzgeber vor, einseitig aufseiten des Arbeitgebers zu stehen, wie Ihre Formulierung, man müsse die „Privilegierung für Arbeitgeber“ aufheben, zeigt. Damit werden Sie der eigentlich klaren und fairen Rollenverteilung im Betriebsverfassungsgesetz nicht gerecht, das ja gerade umgekehrt aufgebaut ist: Obwohl zur Erreichung des unternehmerischen Ziels nicht nötig, ermöglicht es gerade der Arbeitnehmervertretung, was man umgekehrt als Privilegierung bezeichnen könnte. Aber genau das wollen wir auch nicht machen. Wir würden den Fehler ja dann sozusagen umkehren.
Ich glaube fest daran, dass die freie und soziale Marktwirtschaft, das, was Sie kapitalistische Wirtschaftsordnung nennen, ohnehin das beste Kooperationsmodell ist.
({2})
Wenn nach einem stärker regelnden Staat gerufen wird, stellt sich für uns immer die Frage, ob die daraus logisch folgenden, eher autoritären Regelungsmechanismen am Ende wirklich besser funktionieren. Wir brauchen natürlich auch immer diese Regelungen, Kontrolle, staatliche Aufsicht. Aber wir müssen das richtige Maß und die richtige Mitte finden. Das ist Ihnen in diesem Antrag nicht gelungen. Deswegen lehnen wir ihn ab. Aber wir stimmen natürlich dem Überweisungsvorschlag zu.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion der SPD der Kollege Michael Gerdes.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer meinen beruflichen Werdegang kennt, den wird es kaum wundern: Die betriebliche Mitbestimmung liegt mir nicht nur am Herzen. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass Mitbestimmung ein Unternehmen voranbringt, dass Mitbestimmung viele Vorteile hat, und zwar für Arbeitnehmer wie Arbeitgeber.
Heute ist mal wieder die Stunde der Mitbestimmung. Deswegen sage ich hier noch mal deutlich: Mitbestimmung ist kein Bremsklotz für unternehmerische Tätigkeit. Arbeitnehmervertreter sind auch keine Problemmacher. Produktivität wird da gesteigert, wo Mitbestimmung gelebt wird. Da können die Probleme im Betriebsablauf gelöst werden. Es geht eben nicht nur um Löhne und Arbeitszeiten. Betriebsräte haben zahlreiche und vielfältige Aufgaben, und sie tragen Verantwortung.
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Liebe Jutta Krellmann, mit Blick auf die negativen Beispiele rund um die Verhinderung von Betriebsratswahlen weiß ich, wie gut wir es in der Montanmitbestimmung hatten: Man war nicht immer einverstanden mit einzelnen Aktionen und Entscheidungen von uns Betriebsräten, aber niemand hat die Notwendigkeit unserer Betriebsratstätigkeit infrage gestellt oder sie gar mit unredlichen Mitteln und Methoden zu verhindern versucht. Meine Kollegin Yasmin Fahimi wird nachher noch mal darauf eingehen, denke ich.
Aber es ist keine Frage: Die Bekämpfung von Betriebsräten, das sogenannte Union Busting, ist zu verurteilen, möglicherweise auch härter zu bestrafen. Ich glaube aber nicht, dass die gezielte Verhinderung von Gewerkschaftstreffen oder die Einschüchterung von Arbeitnehmervertretern die maßgeblichen Probleme sind.
Dass die Tarifbindung schwächer wird und sich weniger Betriebsräte bilden, hat vielfältige Gründe. Ein Blick auf die Zahlen reicht aus: Mitbestimmung hängt mit der Größe der Betriebe zusammen, ist von Branche zu Branche anders, unterscheidet sich auch regional. Die wenigsten Betriebsräte haben, wie wir wissen, kleine und mittlere Unternehmen.
Es verändern sich aber auch die Einflussgrößen der Mitbestimmung insgesamt, genauso wie sich Berufe und Betriebe verändern, wie sich das gesellschaftliche Selbstverständnis von Arbeit und Leben wandelt. Wie organisieren sich Erwerbstätige denn eigentlich, wenn Tätigkeiten, Arbeitsorte und Arbeitszeiten flexibler werden und sich damit auch die Bezugsgrößen der Betriebsratsarbeit verändern? Wie gehen wir damit um, wenn die Start-up-Szene wenig von Tarifverträgen hält, dafür aber Mitarbeiterbeteiligung zum Ziel setzt? Schwarz-Weiß-Kategorien wie „böse Arbeitgeber kontra gute Arbeitnehmervertreter“ bringen uns nicht weiter.
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Am Rande sei gesagt: Es gibt auch Arbeitsplätze, bei denen das Betriebsverfassungsgesetz nicht eins zu eins umsetzbar ist, sosehr ich mir das wünschen würde. Man denke etwa an die zahlreichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von uns Abgeordneten.
Für uns als Politik besteht die Aufgabe darin, das Betriebsverfassungsgesetz zu überprüfen und in die Gegenwart zu übersetzen. Die Große Koalition hat sich dazu bekannt, die Gründung und Wahl von Betriebsräten zu erleichtern. Das werden wir tun.
({2})
– Um auf die Frage „Wann?“ zu antworten: Wir haben das im Rahmen des Arbeit-von-morgen-Gesetzes II mit unserem Arbeitsminister Hubertus Heil besprochen. Hubertus Heil ist dran. Wir werden das in den Gremien prüfen und auch diskutieren.
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Ich wünsche mir, dass wir eine echte, wahrnehmbare Stärkung der Mitbestimmung erreichen. Dazu sollte meiner Meinung nach der Kündigungsschutz für Betriebsratsgründer schon vor der Einladung zur Wahlversammlung gehören.
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100 Jahre Betriebsrätegesetz – ein Grund zu feiern, aber kein Grund, um auszuruhen.
Lassen Sie mich noch einen letzten Satz an die AfD sagen. Ihre Ausführungen waren realitätsfremd und wenig erkenntnisreich. Die einzige Erkenntnis, die ich gewonnen habe, ist die Unkenntnis der AfD. Als Vertreter von Arbeitnehmern versagen Sie faktisch auf der ganzen Linie.
Herzlichen Dank und Glück auf!
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Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Uwe Biadacz.
({0})
– Marc Biadacz. Sorry!
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Uwe hätte Ihnen auch gestanden.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Als ich gestern Ihren Antrag, liebe Linke, gelesen habe, habe ich mir erst mal Ludwig Erhard zur Hand genommen und gesagt: Ich muss einmal wieder seine Ausführungen zur sozialen Marktwirtschaft durchlesen. Und, meine Damen und Herren, was habe ich darin gelesen? Der Mensch steht im Mittelpunkt.
({0})
Diesen Grundgedanken gab es auch 100 Jahre zuvor im Betriebsrätegesetz: Der Mensch steht im Mittelpunkt. – Auf diese Errungenschaft können wir hier in diesem Hohen Haus zu Recht stolz sein, meine Damen und Herren.
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Sehr geehrte Fraktion Die Linke, was aber schreiben Sie?
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Sie schreiben von – ich zitiere – „unter Druck setzen“, von Einschüchterung, von „undemokratischen Arbeitgebern“ und davon, dass es regelrecht gefährlich ist, sich für die Demokratie in Betrieben einzusetzen.
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Was für ein Bild vermitteln Sie hier? Die Arbeitswelt, die Sie hier andeuten, zeigt uns: Das ist Schwarzmalerei, das ist nichts anderes als die Dämonisierung der Arbeitgeber. So einfach ist die Welt nicht. Das ist nicht unser Leitbild, meine Damen und Herren.
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Wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion sehen Arbeitnehmer und Arbeitgeber als Team. Die Interessen des Arbeitgebers können doch nur davon geleitet sein, motivierte, gute Mitarbeiter zu haben, die das Unternehmen dann auch erfolgreich machen.
Aber folgen wir mal der Logik Ihres Antrags. Danach würde es in Deutschland gar keine Betriebsräte geben, weil die Menschen Angst haben, sich für ihre Anliegen einzusetzen. Ist so die Realität, meine Damen und Herren? Nein. 41 Prozent der Beschäftigten arbeiten in Betrieben mit einem Betriebsrat.
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In Großunternehmen ist der Betriebsrat Standard. Ja, in kleineren Unternehmen sieht die Zahl etwas ernüchternd aus. Nichtsdestotrotz: In 18 Prozent aller Betriebe, wo kein Betriebsrat besteht, bestehen andere Vertretungsorgane: Mitarbeitervertretungen, Belegschaftssprecher oder runde Tische.
Herr Biadacz, gestatten Sie eine Zwischenfrage vonseiten der Linken?
Sehr gerne.
Bitte sehr.
({0})
Also, Sie sehen: Ich bin nicht Heinz Erhardt.
({0})
Aber ich wollte Sie gerne fragen: Haben Sie bei meiner Rede zugehört? Ich habe nämlich gesagt: Mit den Arbeitgebern, die sich so verhalten, muss etwas gemacht werden. Ich habe nicht davon gesprochen, dass ich der Meinung bin, dass alle Arbeitgeber sich so verhalten. Aber mit den Arbeitgebern, die sich so verhalten, muss man reden und die muss man bestrafen. Das ist doch richtig; denn die machen im Grunde Demokratie zu einem Wildwuchs. Das geht doch gar nicht. Also müssten Sie dafür eintreten und sagen: Wir möchten gerne, dass dort Demokratie Einzug hält.
Ich frage Sie: Haben Sie zur Kenntnis genommen, dass der größte Teil der Beschäftigten hier in Deutschland überhaupt keine Betriebsräte hat, dass die Anzahl der Betriebsräte gesunken ist? Was sind denn bitte schön Ihre Vorschläge, damit sich das ändert? Und bitte nach vorne und nicht nach hinten gerichtete Vorschläge!
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Vielen Dank für die Anmerkung. – Nur, wenn ich mir Ihren Antrag anschaue, stelle ich fest: eine Seite und nur Schwarzmalerei.
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Ich wollte hier einfach noch mal zeigen, dass die Arbeitswelt auch anders aussehen kann. Ich glaube, das muss in diesem Haus auch diskutiert werden, und dann können wir auch über die vorhandenen Missstände reden.
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Meine Damen und Herren, weil ich gerade Ihren Antrag angesprochen habe – es ist ja nur eine Seite –: Ich würde Ihnen gerne die zweite Seite füllen wollen für Ihren nächsten Antrag. Lassen Sie uns auch darüber reden, wie sich die Arbeitswelt und unsere Lebenswelt verändern im Zuge der Digitalisierung. Wir werden andere Formen haben, die zeigen, wie wir mit Betriebsräten, wie wir mit Mitbestimmung gerade in Start-ups, in jungen, innovativen Unternehmen umgehen müssen. Darauf sollten wir hier einen Blick werfen. Ich komme selber aus einem Start-up. Ich habe, bevor ich in den Deutschen Bundestag gewählt worden bin, in einem Start-up gearbeitet. Dort wird es andere Formen geben,
({2})
und deswegen müssen wir das Betriebsverfassungsrecht anpassen und schauen, wie wir diesen Unternehmen gerecht werden können, damit eben auch dort Mitbestimmung mit Flexibilität einhergehen kann.
({3})
Deswegen, meine Damen und Herren, lassen Sie uns diese zweite Seite angehen und nicht nach hinten, sondern nach vorne schauen. Denn die Transformation der Arbeitswelt wird zu Veränderungen führen, und wir dürfen hier den Blick nicht abwenden.
Lassen Sie mich am Schluss noch eines sagen: Wenn wir nicht versuchen, die Digitalisierung und die Start-ups in diese Diskussion aufzunehmen, dann verlieren wir die Innovationskraft in Deutschland; denn in den Start-ups werden eine neue Kultur und eben auch neue Arbeitsformen entstehen. Darum sollten wir uns gemeinsam die schwarzen Schafe anschauen, aber niemanden als Dämon darstellen, auch nicht die Arbeitgeber. Wenn wir das hinbekommen, dann werden wir mit der Digitalisierung in Deutschland die Mitbestimmung in Unternehmen, in Start-ups innovativ, flexibel und in die Zukunft gerichtet gestalten.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Katharina Dröge für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Zum Glück sind wir heute 100 Jahre weiter als bei der Einführung des Betriebsrätegesetzes. Damals haben viele Unternehmen Betriebsräte als Organisation des Widerstands und des Aufruhrs gegen den Unternehmer betrachtet. Heute sehen das in der Tat sehr viele Unternehmen in diesem Land anders und betrachten Betriebsräte als wichtigen Bestandteil ihrer Unternehmen.
Aber, Herr Biadacz, Sie haben in Ihrem Versuch, das Positive zu beschreiben – was in dieser Debatte auch einen Platz finden muss –, die andere Seite vergessen, und um die geht es hier eben heute auch. Wir müssen feststellen: Auch 100 Jahre nach Einführung des Betriebsrätegesetzes gibt es zu viele Unternehmen, die keine Betriebsräte haben, gibt es Unternehmen, die ihre Betriebsräte behindern oder sogar bekämpfen. Und wenn Ihnen der Antrag der Linken zu kurz war, was die Lösungsvorschläge betrifft, wie man damit umgehen soll, dann empfehle ich Ihnen einfach den Antrag, den wir 2018 eingebracht haben. Darin finden sich neun Punkte, in denen wir konkret aufgeschrieben haben, wie man Betriebsräte besser unterstützen und schützen kann.
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Es reicht nicht, sich hier nur hinzustellen und zu sagen: Lassen Sie uns nicht über die schlechte Seite reden. – Wir sind nun mal als Parlament gewählt, um zu schützen, um zu regeln. Dazu habe ich von Ihnen einfach gar nichts gehört.
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Ich rede hier ganz bewusst als Wirtschaftspolitikerin in dieser Debatte, weil es meine feste Überzeugung ist, dass partnerschaftliche Mitbestimmung in den Betrieben ein elementarer Bestandteil guter Wirtschaftspolitik ist,
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ja, dass Unternehmen etwas davon haben, wenn sie Betriebsräte haben, wenn sie gute Mitbestimmung haben. Denn die Idee der Mitbestimmung ist im Endeffekt ganz einfach: Aus dem Gedanken „Ich habe Beschäftigte, die Menschen sind, die für mich arbeiten“ wird der Gedanke „Ich habe Beschäftigte, die Menschen sind, die mit mir arbeiten“. Das ist das Wertvolle der betrieblichen Mitbestimmung; das nutzt den Unternehmen. Unternehmen, die mitbestimmt sind, sind innovativer, weil sie auch die guten Anreize und Anregungen der Beschäftigten aufnehmen, weil sie mehr in Weiterbildung investieren und damit am Ende in die Zukunft gehen.
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Mein Heimatbundesland ist Nordrhein-Westfalen. Ich habe mich in den letzten Wochen intensiv mit Betriebsräten aus der Stahlbranche unterhalten. Gerade in der Krise zeigt sich der Wert von Mitbestimmung und von Betriebsräten; denn sie denken weiter, sie entwickeln schon jetzt die Lösungsansätze für ihre Unternehmen in der Zukunft, und sie helfen, das zu kommunizieren, was notwendig ist.
Gerade am Beispiel der Stahlindustrie sage ich: Das Zerrbild, das viele Menschen zeichnen, dass Betriebsräte nichts mit Themen wie Klimaschutz oder Ähnlichem anfangen können, ist absolut falsch.
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Vor allem in der Stahlindustrie leisten die Betriebsräte eine so wichtige Arbeit, indem sie zeigen, warum gerade im klimaneutralen Stahl die Zukunft für die Beschäftigten liegt. Deswegen wäre es auch so wichtig, dass sie in diesem Bereich ein stärkeres Initiativrecht bekommen würden.
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Wir brauchen Betriebsräte, wenn es um den Wandel der Wirtschaft geht. Die Digitalisierung wurde von Ihnen, Herr Biadacz, gerade ja auch angesprochen. Wir haben dafür in der letzten Sitzungswoche Vorschläge gemacht; denn wir sagen: Gerade wenn ein Wandel wie die Digitalisierung die Arbeit so stark verändert, dann braucht es eine stärkere Mitbestimmung der Beschäftigten in diesem Bereich, insbesondere bei den Fragen zum Thema „Mobiles Arbeiten und Datenschutz“: „Wie gestalten wir Homeoffice?“ und „Wann müssen Beschäftigte erreicht werden?“ Das sind alles Vorschläge, die wir auf den Tisch gelegt haben.
Sie haben recht: Die Mitbestimmung braucht ein Update für das digitale Zeitalter. Schließen Sie sich einfach unseren Vorschlägen an.
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Vielen Dank. – Als Nächste spricht für die Fraktion der SPD die Kollegin Yasmin Fahimi.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen hier im Saal, aber vor allem auch draußen an den Monitoren! Ich möchte heute über die Mitbestimmung nicht abstrakt, sondern anhand eines konkreten Beispiels aus meiner Heimatstadt Hannover reden.
Im ältesten Traditionsunternehmen, der Gilde Brauerei, tobt gerade ein Tarifkampf, und zwar kein normaler, sondern einer, der sich zunehmend zum Skandal entwickelt. Seit 2016, seitdem die Gilde Brauerei zum TCB-Konzern gehört, gibt es keinen gültigen Tarifvertrag mehr. Das Ergebnis sind Einkommensunterschiede von bis zu 15 000 Euro jährlich für die gleiche Arbeit.
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Das hat mit fairer Entlohnung nichts mehr zu tun; das ist reine Willkür.
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Und, na klar, wie zu erwarten: Die Arbeitgeberseite verweigert Tarifverhandlungen. Die NGG ruft zur Urabstimmung auf. 94 Prozent der Mitglieder stimmen für Arbeitskampfmaßnahmen. – So traurig, so bekannt; nichts Neues.
Nun aber die Reaktion der Geschäftsführung: In einer Nacht-und-Nebel-Aktion wird der Betrieb in vier Teile aufgespalten, und zwar ohne korrekte Unterrichtung des Betriebsrats und selbstverständlich auch ohne gesetzlich vorgeschriebenen Interessenausgleich.
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Die verankerten Mitbestimmungsrechte werden hier also einfach völlig missachtet.
Stattdessen passiert Folgendes: Am nächsten Morgen stehen Trennwände in der Betriebshalle. Unter Aufsicht von Sicherheitskräften müssen die Beschäftigten neue Arbeitskleidung anziehen,
({3})
und es wird ihnen gesagt, dass sie sich mit den „betriebsfremden“ Kollegen jetzt nicht mehr austauschen dürfen. Dem Betriebsratsvorsitzenden werden arbeitsrechtliche Konsequenzen angedroht,
({4})
wenn er seiner Tätigkeit weiter nachgeht, mit der Begründung, dass er jetzt in einem Bereich tätig wäre, der gar keinen Betriebsrat mehr haben würde. Wie zynisch ist das denn?
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Das, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ist die Realität in unserem Land – jetzt, hier und heute.
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Dieses Verhalten der Gilde-Geschäftsführung ist in mehrfacher Hinsicht ein Verstoß gegen das Betriebsverfassungsgesetz und eine Behinderung von Betriebsratsarbeit.
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Aber was juckt es sie? Es gibt eben nicht ausreichend strenge Sanktionen. Richtig.
Aber es geht noch weiter. Die Aussperrung von 14 Mitarbeitern erfolgt dadurch, dass ihre Namen öffentlich an die Werkstore geheftet werden.
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Natürlich hat die NGG entsprechende Beschwerde eingelegt. Aber wo sind wir denn? Leben wir im Mittelalter, wo man unliebsame Gesellen an den Pranger stellen kann? Das wahre Ziel ist offensichtlich: Hier sollen die Belegschaft gespalten, die Belegschaft eingeschüchtert und das Recht auf Mitbestimmung kalt ausgesperrt werden – und das ohne uns, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({9})
Deswegen geht an den Kollegen Cronenberg meine Einladung nach Hannover, sich diese Betriebsrealität einmal anzuschauen.
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Offensichtlich müssen wir dafür sorgen, dass diese Art und Weise, Mitarbeiter während eines Arbeitskampfes unter Druck zu setzen, stärker sanktioniert wird. Deswegen brauchen wir nicht nur höhere Strafen; wir brauchen auch eine Ausweitung sanktionsfähiger Missstände.
({11})
Ich will an dieser Stelle gar nicht weiter darauf eingehen, was meine Vorredner Bernd Rützel und Michael Gerdes bereits gesagt haben. Wir als SPD haben im Koalitionsvertrag eine Reihe von Maßnahmen zur Stärkung der Betriebsräte vorgesehen.
Ich will aber noch mal ausdrücklich sagen, dass dieses Beispiel zeigt, dass wir eine längere Nachwirkzeit von Tarifverträgen brauchen
({12})
und dass eine effektive Gestaltung von Mitbestimmung auf Dauer ohne wirksame Tarifverträge kaum möglich ist. Ich bin dem Arbeitsminister Hubertus Heil sehr dankbar dafür, dass er sich für ein Bundestariftreuegesetz einsetzt.
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Die Abspaltung von Unternehmensteilen darf zukünftig nicht mehr zur Tariflosigkeit führen. Deswegen – das muss ich allerdings auch sagen – geht der Antrag der Fraktion Die Linke nicht weit genug.
({14})
Ich will zum Abschluss meinen Kolleginnen und Kollegen in Hannover noch einmal zurufen: Lasst euch nicht spalten! Ihr kämpft nicht nur für eure Arbeitsplätze, ihr kämpft für Respekt und Arbeitnehmerrechte im ganzen Land. Meine, unsere Solidarität habt ihr!
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Vielen Dank. – Letzte Rednerin in der Debatte ist für die Fraktion der CDU/CSU die Kollegin Dr. Astrid Freudenstein.
({0})
Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Im Antrag der Linken steckt eine Menge Klassenkampf,
({0})
doch die Wirklichkeit in den Betrieben und darüber hinaus sieht Gott sei Dank anders aus.
({1})
Erst vor wenigen Monaten haben sich in Bayern beim „Zukunftsforum Automobil“ Arbeitgeber, Betriebsräte und die Politik zusammengesetzt und konstruktiv darüber gesprochen, wie man die Arbeitsplätze in der Automobilindustrie in Bayern sichern kann – auf Augenhöhe –, und es ist ein Erfolgsmodell geworden.
Betriebliche Mitbestimmung ist ein wichtiger Teil der Sozialpartnerschaft und damit unserer sozialen Marktwirtschaft. Heute wissen wir – die Unternehmer wissen das natürlich auch –, dass aus wirtschaftlicher Sicht die Betriebe mit der Mitbestimmung gut und sogar besser fahren als ohne.
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Nicht nur Studien zeigen das, sondern auch unsere Erfahrungen im Alltag oder eben auch und gerade in Krisenzeiten.
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In den allermeisten Fällen läuft die Zusammenarbeit von Arbeitgebern und Arbeitnehmern gut und lautlos ab. Trotzdem – das ist richtig – geht die betriebliche Mitbestimmung seit den 90er-Jahren zurück. In Bayern etwa werden nur noch 41 Prozent der Beschäftigten von Betriebsräten vertreten, und auch die Zahl der Betriebe mit Betriebsräten sinkt. Warum ist das so? Die Linke sagt: Die bösen Arbeitgeber sind schuld. – Ja, die gibt es. Es gibt die Arbeitgeber, die aktiv und teilweise mit unlauteren Mitteln Betriebsräte be- oder verhindern.
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Aber es gibt natürlich auch andere Erklärungsmöglichkeiten für den Schwund betrieblicher Mitbestimmung, und auch die sollte man hier nennen, selbst wenn sie sich nicht ganz so gut als Argument für den Klassenkampf eignen. Die sinkende Tarifbindung zum Beispiel ist ein starker Faktor für die schwindende betriebliche Mitbestimmung. Es zeigen sich auch die Auswirkungen des Strukturwandels, zum Beispiel mit dem Trend zu kleineren Betriebseinheiten und insbesondere mit dem wachsenden Dienstleistungsbereich.
Was also können wir als Politik tun und ändern, um die betriebliche Mitbestimmung in Deutschland wieder zu stärken? Klar, wir könnten die Sanktionierungsmöglichkeiten gegenüber den Arbeitgebern krass ausweiten, wie es Die Linke fordert. Aber wir wissen ja, dass immer härtere Strafen nicht unbedingt weiterhelfen.
({5})
Meine Kollegen haben bereits beschrieben, was wir uns im Koalitionsvertrag vorgenommen haben. Wir wollen zum Beispiel die Betriebsratswahlen vereinfachen und Onlinewahlen ermöglichen. Wir wollen die betriebliche Mitbestimmung natürlich erhalten und auch modernisieren. Wir müssen es auch. Aber wir wollen nicht die feine Balance zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern mit einseitigen Maßnahmen stören, Maßnahmen etwa, wie kürzlich aus der Berliner SPD vorgeschlagen. Die Berliner SPD hat gefordert, nur noch jene Start-ups mit öffentlichen Geldern zu fördern, die einen Betriebsrat haben. Da haben dann selbst die Grünen einen Vogel gezeigt, und zwar zu Recht, und gemeint, dass man jungen Unternehmern nicht mit zusätzlichen Auflagen das Gründen erschweren sollte.
Frau Freudenstein, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dehm?
Nein, momentan nicht.
({0})
Okay.
Natürlich wäre eine Betriebsratspflicht nach Berliner SPD für die Gründerszene fatal. Jeder, der einmal einen Blick in ein solches Unternehmen geworfen hat, weiß: Dort läuft Mitbestimmung ganz anders. Oft sind die Mitarbeiter direkt an der Firma beteiligt, und die Hierarchien sind flach. Wenn das Unternehmen dann erfolgreich ist und aus seinem Start-up-Status herausgewachsen ist, kommt ohnehin die gesetzlich verfasste Mitbestimmung dazu.
Lassen Sie uns also gerne darüber diskutieren, wie wir das Betriebsverfassungsgesetz in Zeiten von Digitalisierung und Globalisierung modernisieren können oder wie wir als Politik ganz pragmatisch gemeinsam mit den Betriebsräten und den Arbeitgebern Arbeitsplätze sichern können. Das eingangs erwähnte „Zukunftsforum Automobil“ in Bayern hat gute und sichere Arbeitsplätze zum Ziel. Alle miteinander haben dort eine „Qualifizierungschance Automobil Bayern“ für bis zu 50 000 Beschäftigte beschlossen, unterschrieben vom bayerischen Ministerpräsidenten, von den Vorstandsvorsitzenden der Automobilkonzerne und ganz selbstverständlich von den Betriebsräten – auf Augenhöhe, weil es nur so geht.
Herzlichen Dank.
({0})
Vielen Dank. – Der Kollege Dehm erhält Gelegenheit für eine Kurzintervention.
Frau Kollegin Freudenstein, Sie haben ja gehört, was die Kollegin Fahimi über die Gilde Brauerei gesagt hat, wo nicht nur betriebliche Mitbestimmung mit Füßen getreten wird, sondern wirklich auch die Würde der Menschen, die dort arbeiten. Dort gibt es ein Defizit an Mitbestimmung. Das kann man zu einem kleinen Teil ausgleichen, indem sich auch Parlamentarier – die Kollegin Fahimi, ich und ein paar andere haben dies schon getan – für die Kolleginnen und Kollegen, für die Streikenden, für die Ausgesperrten engagieren, vor Ort sind und sprechen. Könnten Sie sich vorstellen, Ihre Aussage, dass die Effizienz der Betriebe steigt, wenn die Mitbestimmung, die Beteiligung und das Mitdenken der Kolleginnen und Kollegen zunehmen – das sage ich auch als Arbeitgeber –, in Hannover bei der Gilde Brauerei zur Ermutigung der Kolleginnen und Kollegen, die dort streiken, zu wiederholen?
({0})
Möchten Sie entgegnen?
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Herr Kollege, wie erwähnt, finde ich es nicht richtig, wenn Betriebsräte behindert oder verhindert werden. Das habe ich hier im Bundestag ausdrücklich gesagt. Das können Sie den Kollegen in Hannover auch gerne ausrichten.
({0})
Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Damit schließe ich die Aussprache.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Linke hat diese Aktuelle Stunde zur Ministerpräsidentenwahl in Thüringen beantragt. Warum? Weil die Wahl von Herrn Kemmerich zum Ministerpräsidenten mit Stimmen von FDP, CDU und AfD Bedeutung hat – weit über die Grenzen Thüringens hinaus.
({0})
Es geht um die Frage, in welchem Zustand unsere Demokratie ist.
({1})
Dieser Zustand ist alarmierend. Die unumstößliche Lehre aus der deutschen Geschichte,
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der Nachkriegskonsens aller demokratischen Parteien war: Kein Fußbreit den Faschisten!
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Keine Zusammenarbeit mit Nazis, weder direkt noch indirekt.
Aber genau das ist geschehen: am 5. Februar. Keine zwei Wochen nach dem 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz lässt sich der Kandidat der FDP, die es mit Ach und Krach überhaupt in den Landtag geschafft hat, mit Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten wählen.
({4})
Der linke Ministerpräsident Bodo Ramelow, der großen Rückhalt in der Bevölkerung hat, verliert sein Amt, und die AfD jubelt. Der Faschist Björn Höcke gratuliert zur Wahl.
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Nein, das war kein Versehen.
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FDP und CDU wussten, was passieren kann.
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Wir alle wissen von den Vorwarnungen, von den Absprachen. Und niemand, wirklich niemand hat Herrn Kemmerich gezwungen, die Wahl anzunehmen,
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und niemand hat Herrn Lindner dazu gezwungen, für das Amt viel Glück zu wünschen, anstatt diesen Vorgang klar zu verurteilen.
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Hier wurde eindeutig ausgetestet, wie weit man gehen kann. Nur auf Druck der Öffentlichkeit und auf Druck couragierter Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP, nur auf diesen Druck hin kündigte Herr Kemmerich am nächsten Tag seinen Rücktritt an.
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Ich danke den vielen Antifaschistinnen und Antifaschisten, die aufgestanden sind und lautstark deutlich gemacht haben: Das lassen wir nicht zu! Das ist ein Tabubruch! Hochgefährlich für unsere Demokratie!
({11})
Das zeigt, wie wichtig es ist, dass Antifaschistinnen und Antifaschisten aufstehen, dass der Protest laut bleibt. Genau dieser laute Protest ist der Unterschied zu 1930 und die große Chance, die wir heute haben, zu verhindern, dass die deutsche Geschichte sich wiederholt.
({12})
Aber der Scherbenhaufen ist da. Unsere Demokratie hat großen Schaden genommen. Ich kann die vielen Mitglieder von Union und FDP verstehen, die jetzt ihren Parteiaustritt erklären. Auch wenn ich als Linke andere politische Überzeugungen habe, freut mich das nicht; denn es ist nicht gut, wenn wir Menschen für die Demokratie verlieren.
({13})
Viele Menschen haben ihr Vertrauen in unsere Demokratie durch diese Wahl verloren,
({14})
die zwar formal demokratisch, aber gegen alle demokratischen Grundwerte war.
({15})
Es ging um Macht um jeden Preis – mit dem Ziel, auf Biegen und Brechen Bodo Ramelow zu verhindern; einen Ministerpräsidenten mit höchsten Beliebtheitswerten,
({16})
weil er in Thüringen eine sozial gerechte Gesellschaft gestaltet,
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akzeptiert bis in konservative Kreise.
Die CDU hält bis heute in völliger Verantwortungslosigkeit ihren Unvereinbarkeitsbeschluss aufrecht.
({18})
Sie verweigert jede Zusammenarbeit mit der Linken.
({19})
– Ja, ja. – Die Lehre aus der Weimarer Republik lautet aber, dass alle demokratischen Kräfte zusammenstehen müssen: gegen rechts, gegen Faschismus.
({20})
Das ist die Verantwortung aller Demokraten für unsere Demokratie. Aber die CDU wiederholt wie ein Mantra die nachweislich falschen Behauptungen, dass Die Linke ihre Vergangenheit nicht aufgearbeitet habe, dass wir keine Demokraten seien. Absurd!
({21})
Der Grund, warum uns die CDU ausgrenzt, ist ein völlig anderer:
({22})
weil wir, Die Linke, dieses Wirtschaftssystem infrage stellen; weil wir laut fordern, dass Multimillionäre gerechte Steuern auf ihr Vermögen zahlen sollen; weil wir laut fordern, dass grundlegende Dinge der Daseinsvorsorge, wie Wohnen, Energie, Gesundheitsversorgung, nicht dem Diktat des Marktes unterworfen werden, sondern in öffentliche Hand gehören.
({23})
Wir fordern konsequent, dass von dem enormen Wirtschaftswachstum, von der enormen Wirtschaftskraft in unserem Land endlich alle Menschen profitieren. Sie grenzen Die Linke aus, damit Sie die Legende aufrechterhalten können, dass Ihre Politik, die die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergehen lässt, alternativlos sei. Das ist unverantwortlich!
({24})
Denken Sie an die Menschen in Thüringen!
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Diesen Freitag wird das erste Mal seit 70 Jahren ein Bundesland im Bundesrat nicht vertreten sein. Wichtige Entscheidungen können in Thüringen nicht gefällt werden, weil keine Regierung vorhanden ist. Das ist ein unhaltbarer Zustand. Der muss schnellstmöglich behoben werden.
({26})
Mein Appell an Sie, Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP, lautet: Hören Sie auf mit den unsinnigen Ratschlägen in Richtung Thüringen!
({27})
Sie, Herr Lindner, schlagen vor, dass Stefan Kaufmann ein Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten werden soll. Der erfährt davon aus der Presse. Er will gar nicht kandidieren. Das ist doch absurd.
({28})
Lassen Sie die Menschen vor Ort entscheiden! Es geht um den Erhalt unserer Demokratie.
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Sie müssen jetzt Ihren Schlusssatz sagen.
Es geht darum, dass die Gesellschaft nicht weiter auseinanderdriftet – in Thüringen und in der ganzen Republik.
Vielen Dank.
({0})
Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Paul Ziemiak.
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Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Es ist richtig, dass wir heute diese Aktuelle Stunde haben. Es geht darum, über Verantwortung zu sprechen, über das zu sprechen, was in der vergangenen Woche passiert ist. Ich habe dazu als Generalsekretär der CDU
({0})
deutliche und klare Worte gefunden. Es geht um die Verantwortung. Es geht auch um die Verantwortung von uns als Union.
({1})
Es ist ein Ministerpräsident mit Unterstützung der AfD gewählt worden.
({2})
– Danke für die Bestätigung, warum das genau falsch ist. Ich sage Ihnen noch einmal, warum.
({3})
Es ist viel geschrieben worden über die AfD, über ihre Beziehungen zur rechtsextremen Szene, über das, was Sie kundtun, zum Beispiel den Volkstod durch Bevölkerungsaustausch. Sie machen die Parlamente in Deutschland verächtlich. Sie fordern in der Erinnerungskultur an die Shoah eine 180-Grad-Wende, also genau das Gegenteil von dem, was wir in unserer Gesellschaft leben.
({4})
Meine Damen und Herren, ich könnte jetzt meine komplette Redezeit auf weitere Beispiele verwenden.
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Ich glaube, ein Tweet der AfD in der vergangenen Woche, nach der Wahl des Ministerpräsidenten, bringt ihre komplette Haltung auf den Punkt.
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So twitterte der Sprecher der Abgeordneten der AfD im Europäischen Parlament nach der Wahl in Thüringen – mit der Erlaubnis des Präsidenten zitiere ich – unter dem Hashtag „Thüringen“: „Die Auswanderung Michel Friedmans rückt näher.“
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Genau das ist der Grund, warum in Deutschland kein Ministerpräsident mit den Stimmen solcher Leute gewählt werden darf.
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So etwas, meine Damen und Herren, kann man nur mit einem Wort beschreiben: Das ist widerwärtig.
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Dann gibt es einige, die fragen: Warum nennt der CDU-Generalsekretär Herrn Höcke einen „Nazi“?
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Ganz einfach: Weil er einer ist,
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weil er erwiesenermaßen einer ist. Und Sie wissen es. Deswegen werde ich das auch weiterhin tun.
Meine Damen und Herren, werte Kolleginnen und Kollegen, aber all dieser Zorn und diese Wut und die politische Auseinandersetzung innerhalb einer Demokratie, auch mit der AfD, rechtfertigt nicht – auch nicht in der vergangenen Woche – die unglaublichen Beleidigungen und Beschimpfungen von Herrn Kemmerich oder von Kolleginnen und Kollegen der FDP und anderer Parteien; ich schließe meine mit ein. Es gibt keine Rechtfertigung für Gewalt,
({12})
egal ob links, egal ob in der politischen Mitte. Ich sage das auch, weil ich gelesen habe, dass die Kinder beschützt werden müssen, weil die Familien beleidigt wurden. Das gilt für alle Parteien.
Und übrigens – das füge ich hinzu –: Wir setzen uns hier auseinander mit Herrn Höcke, mit Herrn Gauland und wie sie alle heißen.
({13})
Aber die Familien und die Kinder – auch die von AfD-Abgeordneten – haben damit nichts zu tun.
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Kinder sind Kinder, und Kinder haben ein Recht, Kinder zu sein, meine Damen und Herren.
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Dann wird jetzt wieder vorgetragen, die CDU müsse ihr Verhältnis zur Linken überdenken, gerade in dieser Situation; es sei doch langsam an der Zeit. Ja, was sollen wir da überdenken? Sollen wir die Mauertoten noch mal nachzählen?
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Sollen wir überlegen, ob wir ein anderes Verhältnis zu sozialistischen Diktaturen, die Sie unterstützen, haben wollen? Sollen wir als CDU noch mal überlegen, ob Deutschland in der EU bleiben soll, ob wir noch in der NATO bleiben sollen? Meine Damen und Herren, Teile Ihrer Partei werden vom Verfassungsschutz beobachtet, Teile Ihrer Partei distanzieren sich nicht von Gewalt gegen Menschen.
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Was gibt es da zu diskutieren mit uns?
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Herr Ramelow ist der Kandidat der Linken, und deswegen wird er von uns keine Unterstützung bekommen bei der Wahl zum Ministerpräsidenten; das gilt auch für jeden anderen Kandidaten der Linken.
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– Stimmt alles nicht? Ich will Ihnen mal was sagen: Wir gedenken heute des Bombardements von Dresden, wo Zehntausende Menschen getötet wurden. In einem verbrecherischen Krieg, der von deutschem Boden ausging, sind damals durch ein Bombardement Zehntausende Menschen gestorben. Sie kennen alle Bomber-Harris; er ist das Symbol für die Bombardierung Dresdens. Über Twitter verbreitet heute die Jugendorganisation der Partei Die Linke – ich zitiere mit der Erlaubnis des Präsidenten –: „Bomber Harris do it again!“ – Es wird keine Zusammenarbeit mit jemandem geben, der so eine Jugendorganisation hat, meine Damen und Herren.
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Es gibt viele Schlüsse, die wir aus der vergangenen Woche ziehen müssen. Es gibt viel zu tun, übrigens auch für mich als Generalsekretär, auch für alle in der Union. Ich will nicht nur mit dem Finger auf andere zeigen. Aber ich sage Ihnen ganz deutlich: Eine Sache wissen wir doch auch; es geht jetzt darum, dass wir die politische Mitte in diesem Land stärken und nicht die Ränder, und dafür wird die CDU/CSU-Bundestagsfraktion arbeiten.
Danke schön.
({21})
Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion der AfD ihr Vorsitzender Dr. Alexander Gauland.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn ein Außerirdischer vor, sagen wir, sechs Wochen auf Deutschland geblickt hätte und nun in den letzten Tagen noch einmal, muss er das Gefühl haben, ein Meteor habe eingeschlagen und einen Putsch ausgelöst, dem nun auch die CDU-Vorsitzende zum Opfer gefallen ist. Doch, meine Damen und Herren, es gab weder einen himmlischen Steinschlag noch einen Putsch, sondern es wurde in einem deutschen Parlament ein demokratischer Abgeordneter von anderen Demokraten zum Ministerpräsidenten gewählt.
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Das ist die natürlichste und demokratischste Sache von der Welt.
({1})
Meine Damen und Herren, es ist auch natürlich und demokratisch, dass eine Partei, wenn sie sieht, dass der eigene Kandidat keine Chancen hat,
({2})
einen anderen, ihr immer noch näher stehenden Kandidaten wählt, zumal sie den Wählern die Abwahl des alten Ministerpräsidenten versprochen hat. So weit, meine Damen und Herren, so normal.
({3})
Nicht normal ist es in einer Demokratie, das Ergebnis „rückgängig“ zu machen, wie die Kanzlerin es formulierte,
({4})
weil die abgegebenen Stimmen ideologisch anrüchig erscheinen.
({5})
Denn Abgeordnete sind in ihrem Abstimmungsverhalten frei. Nicht einmal Walter Ulbricht wäre hier Frau Merkel gefolgt. Bei dem galt noch die Parole: Wir müssen alles in der Hand haben, aber es muss demokratisch aussehen. – Und das hier sieht nicht mal demokratisch aus.
({6})
Nicht normal ist es, meine Damen und Herren, wenn linker Straßenterror aus der sogenannten Zivilgesellschaft gegen Angehörige des Gewählten und gegen Büros der FDP diesem versuchten Verfassungsbruch Nachdruck verschaffen will. Irgendeinen Faschisten braucht die Linke offensichtlich immer.
({7})
Meine Damen und Herren, wir wissen heute, dass das Misstrauensvotum gegen Willy Brandt im Jahr 1972 an einer vom MfS gekauften Stimme gescheitert ist. Niemand ist damals und später auf die Idee gekommen, die erfolgreichen Brandt-Jahre als illegitim zu betrachten. Gemäß der neuen Logik sind AfD-Stimmen offensichtlich schmutziger als gekaufte MfS-Stimmen.
({8})
Wenn das gilt, liebe bürgerliche Kollegen, werden Sie künftig häufig auf Görlitzer Koalitionen, also alle gegen einen, zurückgreifen müssen, was uns nur stärker macht.
({9})
Ob Sie das alles wirklich durchdacht haben?
Der nächste Schritt dürfte dann sein, dass das Kooperationsverbot mit der Linken aufgehoben wird, wie es Herr Günther fordert. Ich fürchte, Herr Günther setzt sich eher durch als Herr Ziemiak;
({10})
denn – so seine Logik – die Hufeisentheorie sei falsch, man könne die AfD nicht mit der Linken vergleichen.
({11})
Stimmt, an einem Ende des Hufeisens steht eine demokratische Volkspartei,
({12})
am anderen Ende stehen die Erben der Mauermörder,
({13})
die noch immer Enteignung und Sozialismus fordern.
({14})
Sollte die CDU, anders als Herr Ziemiak jetzt sagt, diesen Weg gehen und beispielsweise Bodo Ramelow ins Amt verhelfen,
({15})
„dann wüsste wirklich niemand mehr, wofür die Christdemokraten stehen“, wie es der Kommentator der „Welt“ formuliert hat.
({16})
Meine Damen und Herren, uns kann das nur recht sein. Wir wären dann die einzige Oppositionspartei,
({17})
und die Union würde die SPD auf dem Weg in die Bedeutungslosigkeit begleiten.
({18})
Gut, dass Konrad Adenauer und Helmut Kohl das nicht mehr erleben müssen.
({19})
Schade nur, liebe Kollegen von der CDU, dass dann eine bürgerliche Mehrheit auf lange Zeit keine Machtoption mehr sein dürfte.
Danke schön.
({20})
Nächster Redner in der Debatte ist für die Fraktion der SPD der Kollege Carsten Schneider.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beschäftigen uns hier in der Aktuellen Stunde mit der Wahl des Ministerpräsidenten in Thüringen in der vorigen Woche, am 5. Februar. Am 6. Februar 1919 hat in Weimar die Nationalversammlung ihre Arbeit aufgenommen. 101 Jahre später wird in Thüringen ein Ministerpräsident der FDP gewählt, der gerade einmal 5 Prozent der Wählerstimmen hinter sich hatte.
({0})
Er wurde gewählt mit Stimmen der AfD, die in Thüringen von dem besonders rassistischen völkischen Flügel von Herrn Höcke repräsentiert wird. Dies ist ein maßgeblicher Tabubruch in der deutschen Geschichte, und deswegen war der Aufschrei in der Bevölkerung und in der bundesdeutschen Öffentlichkeit so wichtig.
({1})
Warum ist das ein Tabubruch? Wir haben an der Zeit 1919 bis 1933 gesehen – das sollte man ab und zu nachschlagen, Herr Gauland –, dass Demokratien keine Ewigkeitsgarantie haben.
({2})
Wir haben gesehen, dass gerade dann, wenn rechtsautoritäre Parteien nicht isoliert, sondern eingebunden werden – so schreiben es die Harvard-Professoren Steve Levitsky und Daniel Ziblatt in ihrem Buch „Wie Demokratien sterben“ –, wenn Angst, Opportunismus oder Fehleinschätzung etablierte Parteien dazu bringen, Extremisten in den Mainstream zu führen, die Demokratie in Gefahr ist.
({3})
Genau das ist in Thüringen geschehen.
Wissen Sie, mein Heimatland ist wunderschön; es ist aber auch klein und überschaubar. Man kennt sich, insbesondere diejenigen, die in der Politik sind. Jeder wusste es. Ich habe es vorher noch in einem Tweet öffentlich gemacht und sowohl in Richtung der FDP als auch der Union gesagt: Lasst euch nicht mit Stimmen der AfD wählen. Das ist eine Finte. – Leider sind die FDP und die Union bewusst auf diese Finte eingestiegen, nur um Bodo Ramelow als Ministerpräsidenten zu verhindern.
({4})
Meine Damen und Herren, das war für FDP und CDU kein Ruhmesblatt.
Kurz darauf gab es unterschiedliche Reaktionen. Herr Söder war sehr klar, sehr schnell – um 16 Uhr. Er hat seine Lektion in Bayern gelernt und weiß, was passiert, wenn man sich zu sehr nicht nur der Themen, sondern auch der Sprache der Extremisten bedient.
({5})
Herr Lindner, Sie haben eine Verteidigungs-, eine Sowohl-als-auch-Rede gehalten; ich war mir nicht ganz sicher, es war so wie immer. Sie haben jedenfalls keine politische Verantwortung übernommen. Im Gegenteil: Sie haben Herrn Kemmerich gute Nerven gewünscht und viel Glück.
({6})
Und jetzt haben Sie angeblich nichts mehr damit zu tun. Herr Lindner, ich finde, Sie sollten einmal in Ihrem Leben politische Verantwortung übernehmen, einmal!
({7})
Dass es kein Problem der FDP ist, will ich ganz klar sagen. Es ist auch kein Problem der Demokratie in Deutschland, sie ist stabil, das hat sich gezeigt; denn sehr viele Kollegen aus Ihrer Fraktion und Ihrer Partei haben sich sehr eindeutig, sehr schnell positioniert und gesagt: Mit Stimmen dieser extremistischen AfD lässt man sich nicht ins Amt heben. Davon sollten Sie lernen.
({8})
An die Union: Ich bin einigermaßen entsetzt gewesen – das muss ich Ihnen ehrlich sagen –, dass Sie, Herr Kollege Ziemiak, hier eine solche Rede wider die Linkspartei gehalten haben. Ich glaube, das wird dem Tabubruch, der in Thüringen stattgefunden hat, und auch der Führungslosigkeit, die an dieser Stelle leider in Teilen der Union geherrscht hat, nicht gerecht. Das ist heute hier ein Ablenkungsmanöver gewesen, insbesondere vor dem Hintergrund der Vergangenheit der Union als Blockpartei.
({9})
Ich will Ihnen das nicht vorwerfen, das gehört zur Geschichte dazu; aber man sollte auch dazu stehen.
Die CDU in Ostdeutschland muss sich überlegen, ob sie mit der fatalen Gleichsetzung von Linkspartei und AfD und dem Ausschließen einer Zusammenarbeit sowohl hier im Bundestag als auch in den Parlamenten in Thüringen und in den anderen ostdeutschen Ländern nicht das Geschäft der politischen Rechten betreibt.
({10})
Das führt dazu, dass Sie an dieser Stelle einfach nicht dicht sind, dicht, Sie wissen schon, was ich meine.
Sie haben sowohl in Sachsen-Anhalt als auch in Thüringen – man kann das in der „Zeit“ heute nachlesen – Kolleginnen und Kollegen, die sehr offen sprechen und sagen, es sei doch überhaupt kein Problem, mit der AfD zu koalieren, sie sei doch gewählt. Es ist aber ein zentrales Problem für die CDU. Ich bin froh, dass die Bundeskanzlerin im Koalitionsausschuss und auch sonst sehr klar reagiert hat. Sie hat klare Kante gezeigt. Das war à la bonne heure!
({11})
Sie müssen es für die Union auf Dauer klären. Es gibt Kooperationen auf kommunaler Ebene, und diese Kooperationen dürfen in diesem demokratischen Land, in der Bundesrepublik Deutschland, nicht sein. Wir müssen auf die politische Rechte in Deutschland nicht nur aufpassen; vielmehr dürfen wir ihr keinen Spaltbreit geben. Die Sozialdemokraten sind das Bollwerk des Antifaschismus.
Vielen Dank.
({12})
Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der FDP der Kollege Christian Lindner.
({0})
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! In Thüringen hat ein Freier Demokrat für das Amt des Ministerpräsidenten kandidieren wollen, um für seine fünfköpfige Fraktion ein Signal für die politische Mitte zu setzen.
({0})
Er wurde gewählt mit Stimmen der FDP, der CDU und vor allem Stimmen der AfD. Dadurch wurden die Motive dieser Kandidatur in ihr Gegenteil verkehrt.
({1})
Wir sind verletzt, weil wir Zweifel an unserer klaren Haltung als demokratische Partei der Mitte geweckt haben. Und wir sind beschämt, weil wir der AfD ermöglicht haben, uns und darüber hinaus die parlamentarische Demokratie zu verhöhnen.
({2})
Dafür entschuldige ich mich namens der Freien Demokraten.
({3})
Die Freien Demokraten tragen Verantwortung für den Schaden von Thüringen. Dieser Verantwortung haben wir uns aber gestellt und binnen 24 Stunden die notwendigen ersten Konsequenzen gezogen.
({4})
Anders als hier von der Kollegin der Linken und dem Kollegen der SPD gesagt worden ist und anders als die AfD zuruft: Ich habe am Mittwoch in meiner ersten Reaktion nicht „viel Glück“ gewünscht.
({5})
Ich habe mein Amt als Parteivorsitzender an die klare Abgrenzung der FDP von jeder Kooperation mit der AfD gebunden.
({6})
Dabei allein wird es nicht bleiben. Wir arbeiten grundlegend auf; wir unterziehen uns einer Prüfung.
({7})
Dazu setzen wir eine Arbeitsgruppe
({8})
unter Leitung unseres Experten für Rechtsextremismus Benjamin Strasser ein. Sie wird neue Narrative und Methoden der AfD sowie deren Einfluss und unsere Reaktion darauf untersuchen. Dazu werden wir auch Ratschläge von außen hören.
Erfurt war ein Fehler, aber wir unternehmen alles, damit er sich nicht wiederholen kann.
({9})
Die Entscheidung im Thüringer Landtag war nicht Ausdruck einer neuen Position der FDP, sondern Anlass für eine Bestätigung unserer Haltung. Mit einer Partei wie der AfD kann es keine Kooperation geben.
({10})
Wir sind nicht Ihr Steigbügelhalter zur Macht.
({11})
Herr Gauland, Sie haben hier heute von „bürgerlichen Regierungen“ und einem „bürgerlichen Lager“ gesprochen. Das passt ja in einen neuen Erzählstrang der AfD. Waren es früher die Altparteien, so sprechen Sie jetzt von einem angeblichen bürgerlichen Lager mit CDU und FDP.
({12})
Die AfD vertritt in Wahrheit ein Denken völkischer Überlegenheitsfantasien, das auf Ausgrenzung und Antiliberalität basiert.
({13})
In Thüringen, Herr Gauland, versucht sich die AfD in Anknüpfung an den Nationalsozialismus.
({14})
Die AfD ist nicht, war nicht und wird nie Teil eines bürgerlichen Lagers sein, im Gegenteil. Wenn Sie von Bürgerlichkeit sprechen, dann wollen Sie sich nur selbst verharmlosen, und Sie entwerten den Begriff des Bürgersinns damit.
({15})
Das hat der 5. Februar doch gezeigt: Ihn loben Ihre Vordenker als neue, feine Variante im taktischen Arsenal der AfD.
Ihr öffentliches Angebot einer Beteiligung an der Regierung haben Union und FDP abgelehnt. Im Thüringer Landtag haben Sie dann einen eigenen Kandidaten vorgeschlagen, und zum ersten Mal in der Geschichte des deutschen Parlamentarismus haben Sie diesen Kandidaten dann selbst nicht gewählt, sondern stattdessen im Geheimen einen anderen Kandidaten.
({16})
Sie sprechen hier von Normalität und Demokratie, Herr Gauland. In Wahrheit war es Destruktion,
({17})
und das ist nicht fein und taktisch, das ist verschlagen und ehrlos.
({18})
Verehrte Anwesende, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind mit Kritik konfrontiert, und wir nehmen Kritik an.
({19})
Wenn aber FDP und AfD gleichgesetzt werden, wenn jüdische Kommunalpolitiker der FDP in Frankfurt als Nazi beschimpft werden,
({20})
wenn Parteibüros diffamiert und beschmiert werden, wenn Kinder von FDP-Mitgliedern angegangen werden, dann werden wir uns zur Wehr setzen.
({21})
Wir haben einen Fehler gemacht, den wir aufarbeiten. Wenn aber der Versuch unternommen wird, diesen Fehler zu instrumentalisieren, um uns auch in anderen Fragen mundtot zu machen, dann werden wir uns nicht einschüchtern lassen.
({22})
Wir haben uns vorführen lassen – mein letzter Gedanke – von ganz rechts, und nun wird von ganz links dasselbe versucht. Alles, was man schon immer an der FDP abgelehnt hat, kommt nun in einen Topf mit Erfurt, von Jamaika bis zur Klimapolitik. Da darf sich niemand täuschen: Auch in polarisierten Zeiten werden wir weiter für Freiheit, den Rechtsstaat, unser Verständnis von Marktwirtschaft und die politische Mitte unsere Stimmen erheben.
({23})
Vielen Dank. – Nächste Rednerin in der Debatte ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Katrin Göring-Eckardt.
({0})
– Unterlassen Sie bitte diese albernen Zwischentöne,
({1})
die Sie da gerade äußern!
({2})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man braucht nur vier Buchstaben, um eine klare demokratische Haltung auszudrücken: Nein! Nein sagt man zu Faschismus,
({0})
Nein sagt man zu Rechtsextremisten,
({1})
und Nein sagt man zu Ihnen von der AfD, meine Damen und Herren.
({2})
Nein sagt man auch, wenn man von der AfD zum Ministerpräsidenten gewählt worden ist, und ein solches klares Nein hätte es am letzten Mittwoch sofort gebraucht, als die AfD mit ihrem Schmierentheater mit einem eigenen Kandidaten versucht hat, die Demokratie vorzuführen.
({3})
Das, was Sie dort versucht haben, ist misslungen. Sie haben weitergemacht und versucht, die Demokratie auszuhöhlen und schließlich zu erschüttern.
({4})
Das ist Ihnen misslungen – und das ist gut so –, weil die Demokratinnen und Demokraten gemeinsam aufgestanden sind, meine Damen und Herren.
({5})
Ich will Ihnen eines sagen: Mit der Demokratie und mit dem Parlament zockt man nicht. Das ist kein Spiel. Ich bin sehr froh darüber, dass wir in diesem Land, in diesem gemeinsamen Land, nach dem Grauen des Nationalsozialismus, nach dem Kulturbruch der Nazis, nach dem furchtbaren Verlust der Menschlichkeit wieder ein demokratisches Gemeinwesen errichtet haben.
Wir arbeiten jeden Tag daran, diese Verfassung zu schützen und unsere Demokratie gegen ihre Feinde wetterfest zu machen. Wer diese bewusst zerstören will, der liebt dieses Land nicht, der will dieses Land brennen sehen. Sie lieben dieses Land nicht; Sie wollen es brennen sehen. Deswegen stehen die Demokratinnen und Demokraten hier gemeinsam auf, meine Damen und Herren.
({6})
Natürlich ist es sehr bedenklich, dass FDP und CDU in Thüringen wohl dachten, sie kämen damit irgendwie durch. Wer heute in der „Zeit“ liest, wie einzelne Abgeordnete der Landtagsfraktionen das sehen, der muss auch darüber erschüttert sein, dass es vorher tatsächlich viele gewusst haben.
({7})
Sie, Christian Lindner, haben in den letzten Tagen versucht, sehr deutlich zu machen, wo Sie stehen.
({8})
Ich habe sehr wohlwollend zur Kenntnis genommen, dass Sie jetzt sagen, Sie wollen das in Ihrer Partei aufarbeiten. Das ist gut, und das ist richtig. Aber Sie können nicht sagen, dass das von Anfang an alles klar war. Ich habe es nicht verstanden; es war am Anfang geschwurbelt. Deswegen frage ich Sie auch ganz klar und deutlich: Ist Nationalliberalismus heute wirklich noch eine Wurzel der FDP, wie Sie es beim Dreikönigstreffen gesagt haben – ja oder nein? Wenn Sie Nein sagen, dann bin ich sehr froh; denn dann können wir als Demokratinnen und Demokraten gemeinsam arbeiten.
({9})
Natürlich ist und bleibt es für mich nicht erträglich, dass die Thüringer CDU-Fraktion – so muss man es sagen – sich heute noch hinstellt und sagt: „Wir konnten das doch nicht wissen“, und so tut, als ob die AfD in Thüringen von Ehrenmännern durchzogen wäre.
({10})
– Nein, die AfD in Thüringen wird von Herrn Höcke, von einem Faschisten, angeführt; der Flügel wird beobachtet. Das hat nichts mit Ehre zu tun; das sind auch nicht die Freunde vom Feuerwehrverein, sondern das sind die, die die Demokratie wirklich untergraben und aushöhlen wollen, meine Damen und Herren.
({11})
Einen klaren Kompass hatten am letzten Mittwoch sehr viele. Zuallererst hatten ihn aber die Bürgerinnen und Bürger, die auf die Straße gegangen sind und vor der Staatskanzlei und dem Thüringer Landtag und in vielen Orten der Republik demonstriert haben.
({12})
Das waren Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, das waren Ärztinnen und Ärzte, das waren Polizistinnen und Polizisten, das waren Antifaschistinnen und Antifaschisten. Ich finde, darüber können wir gemeinsam sehr froh sein. Es waren aber auch andere. Es war ein Großteil der Medien. Es war ein Großteil der demokratischen Parteien hier in Berlin, die das deutlich gemacht haben.
({13})
Ich sage das ausdrücklich in Ihre Richtung, Herr Ziemiak. Ich war sehr froh über Ihr Statement. Ich war sehr froh über das Statement von Annegret Kramp-Karrenbauer, von Angela Merkel, von Herrn Kretschmer. Man könnte die Liste noch verlängern; auch Herr Söder ist hier erwähnt worden. Ich war sehr froh darüber. Das ist aber auch ein Auftrag für uns, weil es niemals einen Zweifel geben kann, dass niemals wieder eine Partei, die von einem Faschisten angeführt wird, Königsmacherin sein darf: nirgendwo, für keine Mehrheit, für gar nichts, meine Damen und Herren.
({14})
Eines ganz am Schluss: Ich bin ja Teil der Bürgerrechtsbewegung der DDR.
({15})
– Jetzt drehen Sie völlig frei. – Deswegen ist es mir ganz persönlich nicht leicht gefallen, Verhandlungen mit der Linken in Thüringen vor der letzten Legislaturperiode zu führen.
({16})
Ich will das ganz persönlich sagen, weil das nur aus einem einzigen Grund ging,
({17})
weil sich die Linkspartei dort mit ihrer Vergangenheit als SED-Nachfolgepartei auseinandergesetzt hat.
({18})
– Ich sage Ihnen das, und bitte Sie, das nachzulesen. – Als jemand, der Bündnis 90 mitbegründet hat, als jemand, der in der DDR für die Demokratie auf die Straße gegangen ist, bitte ich Sie ganz herzlich, nicht Ihre Identität zu verraten. Das ist schwierig genug. Das verstehe ich auch. Ich sehe nicht, dass es eine Äquidistanz ist. Sie sagen immer: Das ist ein Unterschied. – Aber man muss sich anschauen, was es bedeutet, in der politischen Situation in Ostdeutschland zu sagen: „Wir werden auf keinen Fall …“ Ich glaube, wenn man Demokratie will, dann geht es heute nicht mehr so einfach. Das ist meine herzliche Bitte.
({19})
Ich bin 1989 für Freiheit und für Demokratie auf die Straße gegangen. Das Großartige an den letzten Tagen ist, dass wir alle gesehen haben: Demokratie braucht Haltung. Sie braucht Überzeugung. Dann ist sie wehrhaft. Das haben wir gemeinsam gemacht: die Demokratinnen und Demokraten in diesem Haus und in diesem Land. Darauf können wir stolz sein. Deswegen bin ich zuversichtlich, meine Damen und Herren, dass es gelingt, sie nicht zu dem zu machen, was Sie gerne wollen, nämlich die Demokratie zu unterhöhlen. Sie ist stark, sie ist wehrhaft. Unsere Verfassung steht. Darauf können wir stolz sein.
Vielen Dank.
({20})
Liebe Kollegen und Kolleginnen, dies ist eine handfeste Debatte und Aussprache. Es liegt mir fern, sie abzuwürgen oder zu reglementieren. Aber die Geräusche, die Sie vor der Rede von Katrin Göring-Eckardt gemacht haben, deuten darauf hin, dass Sie einer Rednerin nicht den gleichen Respekt entgegenbringen
({0})
wie einem Redner. Das werde ich als Präsident immer unterbinden.
({1})
Als nächster Redner hat das Wort für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Tankred Schipanski.
({2})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Mitglied der CDU Thüringen und Kreisvorsitzender eines CDU-Verbandes erhalte ich seit vergangenem Mittwoch viele Anfragen von Parteifreunden, Bürgerinnen und Bürgern. Ich möchte Sie an den Fragen und Antworten in den nächsten fünf Minuten gerne teilhaben lassen und freue mich, dass auch Gäste aus Thüringen dieser Debatte auf der Tribüne beiwohnen.
Frage eins: Warum habe ich nach den Ereignissen vom 5. Februar von einem Tabubruch gesprochen? Wir haben an diesem Tag bei der Ministerpräsidentenwahl im dritten Wahlgang ein kalkuliertes Chaos erlebt, in dem die AfD die Hauptrolle spielte. Das taktische Verhalten der AfD hat gezeigt, dass sie es mit einem eigenen Kandidaten nicht ernst gemeint hat, sondern die bürgerlichen Parteien vorführen wollte; bedauerlicherweise mit Erfolg. Es zeugt von mangelndem politischen Gespür, dass die Fraktionen von FDP und CDU im Thüringer Landtag in diese Falle getappt sind.
({0})
Dass die FDP die AfD als Steigbügelhalter akzeptierte, ist beschämend. Dafür hat sich Christian Lindner heute entschuldigt. Dieser Makel würde aber gleichfalls an der CDU Thüringen kleben, wäre sie in eine Regierung unter Kemmerich eingetreten.
Zur Wahrheit gehört ferner, dass diese Situation auch deshalb zustande kommen konnte, weil die CDU in Thüringen die Wahlniederlage bei der letzten Landtagswahl nicht akzeptiert hat und nicht willens war, die ihr vom Wähler übertragene Oppositionsrolle einzunehmen.
Frage zwei: War die Wahl Kemmerichs ein Fehler? Meines Erachtens hat die CDU-Fraktion im Thüringer Landtag bei der Ministerpräsidentenwahl einen Fehler gemacht. Dieser Fehler ist aber nicht unwiderruflich, wenn man dazu steht, Verantwortung übernimmt und – wenn sich die Möglichkeit bietet – diesen berichtigt. Das heißt natürlich nicht, den absurden Aufforderungen zu folgen, Ramelow proaktiv zu wählen. Übrigens war es auch ein Fehler, dass sich Bodo Ramelow, ohne eine Mehrheit im Parlament hinter sich zu wissen, der Wahl gestellt hat.
({1})
Ein weiterer Fehler war zudem, dass Kemmerich die Wahl überhaupt angenommen hat.
({2})
Frage drei: Bedurfte es in dieser Situation eines Hinweises aus Berlin? Ich sage: Ja. Die CDU Deutschland und die CDU Thüringen haben eine ganz klare Positionierung zum Verhältnis und zum Umgang mit der Linken und der AfD. Wenn ein CDU-Präsidiumsmitglied, das zudem einen Landesverband führt, vom klaren Kurs seiner Partei abweichen möchte und nach einer Wahl nach links und rechts blinkt, dann erwarte ich einen Hinweis aus der Bundespartei.
Frage vier: Warum ist diese klare Abgrenzung nötig? Es geht um Abgrenzung und nicht um Ausgrenzung. AfD und Linke wollen keinen Politikwechsel, sondern einen Systemwechsel. Sie wollen ausweislich ihrer Parteiprogramme den demokratischen Verfassungsstaat überwinden, sie wollen ein anderes Gesellschaftssystem,
({3})
abseits unserer bewährten Staatsordnung. Sie verfolgen jeweils ihre Ideologie und bedienen sich des Populismus
({4})
ohne Wertekompass und ohne Bekenntnis zu unserer freiheitlichen Demokratie.
Ramelow ist kein „flauschiger Linker“, wie es in der SPD heißt, und der rechte Höcke ist in der AfD kein Einzelfall. Es gibt keinen Platz für Verharmlosung.
({5})
Frage fünf: Darf man die Parteien am politischen Rand jenseits der Mitte gleichsetzen? Natürlich sind Linke und AfD nicht gleich, aber die Zusammenarbeit mit ihnen ist für die Union gleich unmöglich. Das ist Markenkern der Union.
({6})
Ich kann nur davor warnen, den Fehler der SPD in Thüringen nachzumachen. Vor fünf Jahren hat sie dort das Experiment gewagt, unter der Führung eines linken Ministerpräsidenten eine Regierungskoalition einzugehen. Sie brach damit ein Tabu, in der Hoffnung auf neue Stärke. Es gab im Herbst 2014 Demonstrationen in Thüringen – friedlich, mit Kerzen vor Kirchen gegen die Koalition von Wahlverlierern.
War die Thüringer SPD mit ihrer Strategie erfolgreich? Im Gegenteil: Sie beschleunigte ihren Schrumpfungsprozess und ist jetzt bei einstelligen Wahlergebnissen angelangt: von der Beliebigkeit zur Bedeutungslosigkeit.
({7})
Frage sechs: Warum hat sich die Bundeskanzlerin aus Südafrika zu Wort gemeldet? Angela Merkel steht ganz sicher nicht im Verdacht, Politik nach DDR-Vorbild zu machen. Das ist absurd.
({8})
Vielmehr hat sie ihren CDU-Parteifreunden empfohlen, das Ergebnis einer Ministerpräsidentenwahl rückgängig zu machen, das nur zustande kam, weil die AfD die Wahl für ihr taktisches Manöver missbrauchte und FDP und CDU ihr das mit ihrem Verhalten erst ermöglichten.
Frage sieben: Wird jetzt in Berlin entschieden, was in Thüringen zu geschehen hat?
({9})
Nein. Der Koalitionsausschuss hat eine Empfehlung gegeben. Einzig und allein die Verfassungsorgane im Freistaat Thüringen entscheiden über den Weg aus ihrer Regierungskrise. Das betrifft die Ministerpräsidentenwahlen wie auch eventuelle Neuwahlen, die ich persönlich für unglücklich halten würde.
In der Thüringer Union haben nun die Kreisvorsitzenden das Heft des Handelns in die Hand genommen. Es wird einen Landesausschuss und Landesparteitag geben. Der Weg für einen Neustart ist geebnet.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({10})
Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist für die Fraktion der AfD der Kollege Tino Chrupalla.
({0})
Herr Präsident! Liebe Gäste auf der Besuchertribüne! Meine Damen und Herren! Liebe Landsleute! Auch werte Vertreter auf der Regierungsbank! Es ist gut, dass wir hier und heute über Thüringen reden, über all das, was sich nach der demokratischen Wahl des FDP-Kandidaten Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten des Freistaates Thüringen abgespielt hat, also darüber, wie diese demokratische Wahl von den meisten Medien und allen Parteien mit Ausnahme der AfD in den Schmutz gezogen wurde, auch von Teilen der FDP.
({0})
Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Ich hätte vieles in diesem Land für möglich gehalten, spätestens seit unsere Bundeskanzlerin 2015 gegen jedes Recht und Gesetz die Grenzen öffnete.
({1})
Aber das, was nach der rechtmäßigen demokratischen Wahl des FDP-Kandidaten Thomas Kemmerich geschah, hätte ich mir nun wirklich nicht vorstellen können.
({2})
Und darum sage ich: Werte Bundeskanzlerin, Ihr Verhalten und das vieler Ihrer Parteifreunde ist zutiefst beschämend.
({3})
Sie haben vor aller Welt das Vertrauen in die deutsche Demokratie erschüttert. Damit haben Sie dem Ansehen Deutschlands erheblichen Schaden zugefügt.
({4})
– Ja, da können Sie krakeelen. Die Wahrheit tut weh.
Die Wahrheit ist: Sie haben Ihre parteipolitischen Interessen über den Parlamentarismus gestellt.
({5})
Das muss man sich einfach mal vergegenwärtigen: Da wird einem frisch gewählten FDP-Ministerpräsidenten vom fernen Südafrika aus der Rücktritt empfohlen. Während eines Staatsbesuchs ordnet Bundeskanzlerin Merkel in Pretoria an: Das muss rückgängig gemacht werden.
({6})
Und das sind Zeichen einer Bananenrepublik, muss ich Ihnen sagen.
({7})
Und ich sage es Ihnen: Wir leben längst in einer Republik, in der ein paar rapide an Vertrauen und Einfluss verlierende Parteien sich mit allen Mitteln – auch mit unlauteren – an die Macht klammern; denn was wir in Thüringen erlebt haben, war die Kriegserklärung des Altparteienstaates an den Parlamentarismus.
({8})
Bisher war es ein untrügliches Kennzeichen für Diktaturen, wenn Wahlen für nichtig erklärt wurden, deren Ausgang den Herrschenden nicht genehm war. Seit dieser Woche wissen wir: Hier wollen massive Kräfte, dass letztlich nicht mehr Wähler und Parlamente entscheiden. Diese Herrschaften und ihre medialen Steigbügelhalter reden gerne und viel von Demokratie. Aber wenn die Demokratie zu Ergebnissen führt, die ihnen nicht in den Kram passen, dann pfeifen sie auf den Wert der demokratischen Selbstbestimmung. Dann treten sie den Parlamentarismus mit Füßen.
({9})
Meine Damen und Herren, ich bin in der DDR aufgewachsen und war alt genug, zu begreifen, wie sich ein System hinter einer demokratischen Fassade einrichtet. Angela Merkel ist wie ich selbst ein Kind der DDR. Dennoch agiert sie immer stärker im Stil einer Staatsratsvorsitzenden als im Stil einer Kanzlerin.
({10})
Nach alter SED- und FDJ-Schule annulliert sie nicht nur eine Ministerpräsidentenwahl. Nein, sie zerstört das Fundament unserer Demokratie, die freie Meinungsäußerung. Nur weil ihr Ostbeauftragter Hirte den FDP-Kandidaten Kemmerich zur unerwünschten Wahl gratulierte, wurde er entlassen.
({11})
Genau so entsteht ein Klima der Angst und des Hasses: Angst davor, das Falsche zu sagen, Angst davor, die Falschen zu wählen, und der Hass auf den vermeintlichen Gegner.
({12})
Meine Damen und Herren, seit seiner Wahl zum Ministerpräsidenten sind Herr Kemmerich und seine gesamte Familie Tag und Nacht auf Polizeischutz angewiesen. Warum wohl? Gegen ein System, das solche Ängste schürt und instrumentalisiert, sind die DDR-Bürger 1989 auf die Straße gegangen. Aber sie haben sich die Freiheit nicht erkämpft, um sie nun wieder zu verlieren, weil die Altparteien um ihre Existenz fürchten.
({13})
Meine Damen und Herren, zur Demokratie gehören die Fähigkeit zum Kompromiss und die Bereitschaft und die Kraft, Niederlagen einstecken und anerkennen zu können. Diese Eigenschaften kann ich weder bei der Bundeskanzlerin noch bei weiten Teilen der CDU, SPD, Grünen, FDP, Linken und der Medien erkennen. In diesem Sinne waren die Ereignisse in Thüringen keine Schande, wie die „Bild“-Zeitung urteilte, und auch kein weiterer Schritt zur Unkultur, wie „Die Zeit“ schrieb. Es ist unverantwortlich, den Menschen einen solchen Unsinn auch noch einreden zu wollen.
({14})
Thüringen war ein Fanal. Die Ereignisse offenbarten den fragilen Zustand unserer Demokratie. Sie haben uns gezeigt, wie leichtfertig CDU, SPD, Grüne, FDP, Linke und Teile der Medien unsere Freiheit und Demokratie aufs Spiel setzen.
({15})
Sie werfen uns vor, wir sägten am Ast der Demokratie.
({16})
Aber in Wirklichkeit tun Sie es selbst.
({17})
Ich plädiere eindringlich dafür, dass wir zu einem fairen politischen Diskurs zurückkehren.
({18})
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({19})
Vielen Dank. – Als Nächste spricht für die Fraktion der SPD die Kollegin Elisabeth Kaiser.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich am 5. Februar in Straßburg zur Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung eintraf, wusste ich noch nicht, welch traurige internationale Berühmtheit mein Heimatland Thüringen an diesem Tag erlangen würde. CDU und FDP haben in Thüringen den gemeinsamen demokratischen Konsens verlassen und mit den Stimmen der AfD einen Ministerpräsidenten gewählt. Der Schlag, den dieses verantwortungslose Verhalten der beiden Thüringer Landtagsfraktionen unserer Demokratie versetzte, war auch in Frankreich schmerzlich zu spüren. Wie sollten wir unseren französischen Freunden erklären, was gerade in Deutschland passiert ist?
({0})
Aber als demokratische Parlamentarier bestärkten wir in Straßburg unser gemeinsames Ziel, dass es keine Zusammenarbeit mit Antidemokraten und Faschisten geben darf, und auch keine Tolerierung!
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Thüringen hat erschreckend gezeigt, welche Gefahr für unsere Demokratie mit der AfD in die Parlamente eingezogen ist. Jetzt müssen wir den Schaden begrenzen. Für uns als SPD ist klar, dass der sofortige Rücktritt von Thomas Kemmerich als Ministerpräsident
({2})
unumgänglich war und Neuwahlen das Gebot der Stunde sind.
({3})
Die Thüringer SPD fürchtet sich nicht vor einer Neuwahl; denn hier geht es um unsere Demokratie, um unsere Werte und um Haltung.
({4})
Die scheinen CDU und FDP in Thüringen verloren zu haben. Verloren ist damit auch die Basis einer Zusammenarbeit mit den beiden Parteien. Sie braucht neue Legitimation.
Das eigentlich Besorgniserregende ist, dass bei FDP und CDU in Thüringen nicht wirklich ein Einsehen in die Unsäglichkeit ihres Verhaltens herrscht. Ein Liberaler lässt sich mithilfe der AfD wählen. Die CDU unterstützt das. Und was geschieht? Die FDP behauptet, das sei eben Demokratie. Die CDU spricht von Stärkung der bürgerlichen Mitte. Und nur nach Intervention aus Berlin wird beigedreht. Aber die Haltung der Thüringer FDP und CDU ist nach wie vor die gleiche. Bis heute: keine offizielle Verlautbarung aus den Erfurter Parteizentralen zu den Geschehnissen am letzten Mittwoch, keine Entschuldigung, keine Klarstellung, nichts! „Beschämend“ nenne ich das.
({5})
Fakt ist leider auch, dass bereits in vielen Thüringer Kommunalparlamenten eine aktive Zusammenarbeit zwischen AfD, CDU und FDP herrscht. Unter dem Deckmantel von Sachfragen ist das gelebte Realität. Besorgniserregend dabei ist aber, dass mich selbst politisch gut informierte Menschen fragen, warum es denn eigentlich so dramatisch sei, dass Thomas Kemmerich mit den Stimmen der AfD gewählt worden ist. Hier zeigt sich die eigentlich große Gefahr für unsere Demokratie, nämlich das Missverständnis von demokratisch gewählten Parteien und demokratischen Parteien.
({6})
Nur weil eine Partei per Wahl demokratisch legitimiert ist, ist sie in ihren Werten und Prinzipien noch lange nicht demokratisch.
({7})
Ich nenne drei Gründe – nur drei –, warum die AfD eine demokratiefeindliche Partei ist.
Erstens. Sie nutzt demokratische Verfahren, um Chaos in den Parlamenten zu stiften, und untergräbt so die Bedeutung der repräsentativen Demokratie und die Souveränität des Volkes.
({8})
Jüngstes infames Beispiel ist Thüringen, wo die AfD ihren eigenen Kandidaten mit der Aufstellung zur Ministerpräsidentenwahl zur Schachfigur machte, ohne ihn ernsthaft wählen zu wollen.
({9})
Der AfD ist es dabei völlig egal, dass sie mit ihren Manövern demokratische Verfahren ad absurdum führt.
({10})
Zweitens wird die AfD von Menschen geführt, die unsere bestehende Demokratie abschaffen möchten. Björn Höcke wie auch andere führende AfD-Mitglieder stellen die deutsche Erinnerungskultur zum Holocaust infrage. Sie relativieren regelmäßig die Gräueltaten der Nationalsozialisten.
({11})
Im Bundestag reden AfD-Abgeordnete von Säuberung und Umvolkung. Die AfD spricht davon, das bestehende System abzuschaffen. Aber was heißt das denn anderes, als unsere Demokratie abschaffen zu wollen?
({12})
Und – drittens – gehören zahlreiche Mitglieder der AfD rechtsextremen Gruppierungen an oder pflegen Kontakte zu entsprechenden Netzwerken. Jüngstes Beispiel: der Fraktionschef in Arnstadt. Und Höcke selbst schreibt für Publikationen der Neuen Rechten. All das zeigt uns doch, dass die AfD eben keine demokratische Partei ist; denn Demokratie bedeutet auch: die Macht der Mehrheit bei gleichzeitigem Schutz von Minderheiten.
({13})
Die AfD will aber die Macht Gleichgesinnter bei Ausschluss Andersdenkender.
({14})
Deshalb sollte jede und jeder genau überlegen, wem man Macht verleiht, wenn man die AfD wählt. Hier trägt jeder Verantwortung.
({15})
All den Menschen, die zweifeln, möchte ich sagen: Ja, Demokratie – das Aushandeln von Lösungen und das Vermitteln zwischen Interessen – ist anstrengend. Aber unsere Demokratie muss uns die allergrößten Mühen wert sein. Sie ist doch die einzige Staatsform, in der jeder Einzelne die größtmögliche Freiheit hat, bei gleichzeitigem Schutz seiner eigenen Rechte.
({16})
Wir sind gewählt, um sachlich und politisch zu streiten, um schließlich eine breite Mehrheit für die beste Lösung zu finden. Das ist die Aufgabe von Demokratinnen und Demokraten, dafür kämpfen wir jeden Tag – jetzt erst recht.
Vielen Dank.
({17})
Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist für die Fraktion Die Linke der Kollege Jan Korte.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Kollege Ziemiak, ich habe versucht, in der Kürze den Tweet zu recherchieren, den Sie hier zitiert haben. Das war nicht „der Bundesverband“ oder „unser Jugendverband“; es war eine Ortsgruppe des Jugendverbandes. – So viel dazu.
({0})
Ich will Ihnen mal sagen – in dieser Logik –: Sie haben in Ihrer Partei einen Arbeitskreis „kritische Rechtsradikale“, genannt: WerteUnion.
({1})
Ich sage auch nicht, dass das, was die sagen und twittern, die Meinung von Paul Ziemiak,
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der Bundeskanzlerin oder Ihrer Fraktion ist. Was Sie hier verbreiten, sind Fake News – um das mal gleich vorweg zu sagen.
(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Marian Wendt [CDU/CSU]: Dann können Sie sich doch jetzt distanzieren, Herr Korte! Wieso sagen Sie denn nicht, dass es ein falscher Tweet ist? Sagen Sie es doch einfach!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, was ist die historische Zäsur in Thüringen gewesen? Die historische Zäsur in Thüringen ist folgende gewesen: Nach den Verheerungen des Faschismus und dem Zweiten Weltkrieg, nach 1945,
({3})
gab es unter den deutschen Konservativen, unter den Bürgerlichen eine Erkenntnis, nämlich nie wieder mit Nazis zu kooperieren.
({4})
Das war der Common Sense in diesen Kreisen, und zwar wohl wissend, dass es in der Weimarer Republik anders gewesen ist, wo relevante Teile der Konservativen Hitler an die Macht verholfen haben. Das ist die historische Zäsur, und sie ist schlimm genug.
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Ein paar grundsätzliche Anmerkungen will ich mal machen. Ich hatte ja eben bei Ihnen, Kollege Ziemiak oder Kollege Schipanski, den Eindruck: Okay, es ist irgendwas begriffen worden; es hat sich irgendwas bei Ihnen geändert. – Das hielt aber leider nur bei den ersten zehn Sätzen an. Deswegen will ich folgende historische Anmerkung machen, weil wir sonst nicht verstehen können, worüber wir reden:
Erstens: Ja, in der Tat: Meine Partei Die Linke
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ist die Rechtsnachfolgepartei der SED. Das haben wir auch nie verschwiegen; das steht auf der Homepage. Darüber haben wir uns gestritten und gerungen in der Partei.
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Und wir haben vor allem – und das ist die entscheidende Frage; das unterscheidet uns, wie viele Tausend andere Sachen, fundamental von Ihnen, von den Rechtsextremen – daraus eine Schlussfolgerung gezogen, die heißt: Nie wieder Sozialismus ohne demokratischen Rechtsstaat.
({8})
Das ist die Schlussfolgerung, die meine gesamte Partei daraus gezogen hat.
({9})
Deswegen – Kollege Ziemiak, Sie regen sich so auf – stimmen wir hier auch grundsätzlich keinen Einschränkungen von Bürgerrechten zu. Das ist nämlich auch eine Lehre aus der Geschichte.
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Zweitens. Jetzt will ich aber noch mal was zu Ihrer Geschichte sagen, weil Sie ja eben über SED, DDR usw. geredet haben. Ich darf mal daran erinnern – denn darüber reden Sie gar nicht; das verschweigen Sie einfach –, dass die CDU Deutschlands sich 1990 mit der CDU der DDR vereinigt hat.
({11})
Dasselbe gilt übrigens für die FDP in Bezug auf die LDPD. Man muss einfach mal daran erinnern. Vielleicht auch für die Jüngeren will ich sagen: Die CDU der DDR war keine Oppositionspartei oder gar eine Widerstandsgruppe,
({12})
sondern sie war Teil der DDR-Regierung und fand alles richtig, was die DDR-Regierung gemacht hat, inklusive Mauerbau. Daran muss man mal erinnern.
({13})
Ihre Bigotterie in dieser Frage stinkt zum Himmel.
Die Konrad-Adenauer-Stiftung – das war die Konrad-Adenauer-Stiftung, nicht das „Neue Deutschland“ – hat zu der Partei, mit der Sie sich vereinigt haben, kurz und knapp gesagt: Die CDU der DDR war „Hilfsorgan der SED“.
({14})
Deswegen finde ich das schon relativ schräg.
Der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, Reiner Haseloff, war bereits ein Jahr vor meiner Geburt in Osnabrück, in Niedersachsen, Mitglied der Ost-CDU. Ich möchte daran erinnern. Henry Worm, heute für Ihre Partei, Kollege Ziemiak, Vizepräsident des Thüringer Landtages, war von 1982 bis 1989 Mitglied der SED.
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Das ist ja kein Problem, wenn man sich damit auseinandersetzt.
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Aber Sie verlieren darüber kein Wort und stellen sich hier als moralischer Richter hin.
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Das lassen wir Ihnen nicht mehr durchgehen; damit muss Schluss sein.
Wir könnten auch mal über die Vergangenheit der Bundesrepublik nachdenken. Seit 1949 – ich finde, daran muss man hin und wieder erinnern – gab es 26 Bundesminister und einen Kanzler, die früher in der NSDAP, der SS oder der SA gewesen sind.
({18})
Man muss daran doch mal erinnern. Vielleicht brauchen Sie mal dringend – so wie unsere Partei es hat – eine historische Kommission, die sich mit Ihrer Geschichte einmal kritisch auseinandersetzt.
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Denn die Gleichsetzung von links und rechts führt immer zur Verharmlosung von Faschismus und Massenmord. Das ist auf jeden Fall richtig.
Und ich will auch noch mal eines deutlich sagen: Egon Bahr und Reinhard Höppner haben zu diesem Vergleich von DDR und Nationalsozialismus Folgendes gesagt:
Die Unterschiede zwischen den Bergen von Leichen, die das Dritte Reich hinterlassen hatte, und den Bergen von Akten der Stasi wurden und werden vermischt.
Darüber sollte man hin und wieder mal nachdenken, bei aller notwendigen Schärfe, mit der wir uns hier gegenseitig Unterstellungen machen.
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In diesem Sinne: Sie haben ja gerade innerparteilich ein paar Dinge zu klären, ist so mein Eindruck. Wenn Sie schon dabei sind, gehen Sie doch auch mal eine Runde in sich. Eines ist mit Blick auf Thüringen schon relativ bizarr: Ausgerechnet die, die die Hütte angezündet haben, machen im Minutentakt kluge Ratschläge an andere. Das ist so daneben und so aus der Zeit gefallen.
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Ich glaube, es ist jetzt Zeit zur Umkehr. Dass ausgerechnet ich Sie daran erinnern muss, mit Blick auf Thüringen endlich Ihrer staatspolitischen Verantwortung gerecht zu werden,
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daran können Sie erkennen, was für ein fettes Problem Sie haben.
Vielen Dank.
({23})
Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Marco Wanderwitz.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, es macht Sinn, sich zu Beginn der Debatte noch mal das Wahlergebnis vom Oktober anzuschauen:
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In Thüringen hat damals die Linkspartei 31 Prozent bekommen, die AfD 23 Prozent.
({1})
Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik haben damit die politischen Ränder eine Mehrheit der Wählerstimmen erhalten,
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anders als beispielsweise in Brandenburg und in Sachsen wenige Wochen zuvor. Es macht schon Sinn, dass auch ich noch einmal darauf hinweise
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– wenn Sie von beiden Seiten laut schreien, scheine ich ja nicht so falsch zu liegen –:
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In Brandenburg haben wir es mit der Höcke-AfD,
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also dem extremsten Teil dieser rechtsradikalen Partei, zu tun.
Die Wochen vergingen. Es wurde gesprochen, es wurde übereinander gesprochen. Eine Mehrheit für einen Ministerpräsidentenkandidaten, eine Ministerpräsidentenkandidatin hat sich nicht abgezeichnet. Gleichwohl ging der amtierende Ministerpräsident in eine Ministerpräsidentenwahl. Das ist zumindest gewagt.
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– Zu Ihnen komme ich gern, Herr Brandner. Sie gehören ja auch zum Höcke-Flügel Ihrer Partei. – Die AfD wählte im dritten Wahlgang den von ihr selbst aufgestellten Kandidaten nicht. Keine einzige Stimme hat er bekommen. Sie haben das Ziel gehabt, mit dieser Wahl die Demokratie verächtlich zu machen. Das ist Ihnen leider gelungen.
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Herr Kemmerich ist dann mit der Annahme der Wahl in diese Falle getappt. Ich danke Kollege Lindner ausdrücklich für die heute nochmals erfolgte Einordnung. Vielen Dank dafür! Natürlich hätte Herr Kemmerich diese Wahl nie annehmen dürfen; denn Demokraten dürfen sich nicht von Rechtsradikalen abhängig machen.
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Zurück zum Wahlergebnis. Leider sehen wir seit geraumer Zeit, dass sich die Wahlergebnisse in den alten Ländern und den neuen Ländern nach wie vor, teilweise mehr als je zuvor, erheblich unterscheiden. Die Mitte ist schwächer. Die wirtschaftliche Lage in den neuen Ländern hat sich beispielsweise im Verhältnis zu den 90er-Jahren wesentlich verbessert. Die Mitte, die regierungstragenden Parteien, profitieren davon aber nicht. Warum? Auch nach 30 Jahren ist die Demokratie, sind demokratische Prozesse und demokratische Wirkmechanismen weniger verinnerlicht, werden teilweise offen abgelehnt und diskreditiert.
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Die fehlende Unterscheidung – auch Kollegin Kaiser hat das hier angesprochen – zwischen einer demokratisch gewählten und einer demokratischen Partei ist leider weit verbreitet.
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Die mangelnde Akzeptanz von Minderheitenrechten, Kompromissfindungen, Mehrheitsentscheidungen – die Demokratie tragende Elemente – ist leider an der Tagesordnung. Der europäische Gedanke, von dem kein anderes Land mehr profitiert als die Bundesrepublik Deutschland, hat weniger Anhänger als in den alten Ländern. Die Extreme sind wählbarer, als das in den alten Ländern der Fall ist.
Zur AfD hat Katrin Göring-Eckardt hier das Nötige gesagt.
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Ich möchte im Licht der Rede des Kollegen Korte gerne noch einmal darauf hinweisen, wer die Spinne im Netz der ehemaligen DDR war: Die staatstragende Partei, die einzige Partei, die etwas zu melden hatte, war die SED.
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Es gibt viele aufrechte Christdemokratinnen und Christdemokraten, die Ihre Parteigenossen zum Beispiel in Hoheneck, in meinem Wahlkreis, als politische Gefangene eingesperrt haben.
Ich möchte bei dieser Gelegenheit – Stichwort: die Extreme sind wählbarer – den Blick auf Ihre Fraktionsvorsitzende im Thüringer Landtag, Frau Hennig-Wellsow, lenken. Sie ist Unterzeichnerin des Manifests der Antikapitalistischen Linken, vom Verfassungsschutz als linksextremistisch eingestuft.
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Die Extreme auf beiden Seiten sind leider in den neuen Ländern auch 30 Jahre nach der Friedlichen Revolution und der Wiedervereinigung wählbarer. Vor uns liegt also eine große Aufgabe, die wir weiterhin gemeinsam ausfüllen müssen.
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Die freiheitlich-demokratische Grundordnung, die Demokratie zu verteidigen, für sie zu werben – ich lade Sie alle in der Mitte dieses Hauses, die sich beteiligen möchten, herzlich gern dazu ein.
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Vielen Dank, Marco Wanderwitz. – Nächste Rednerin: Dr. Frauke Petry.
Sehr geehrte Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! In einem sind wir uns in diesem Haus vielleicht sogar einig: Die Causa Kemmerich und die Reaktionen darauf haben ein politisches Erdbeben in diesem Land und auf mehrerlei Weise tatsächlich ein Desaster für dieses Land verursacht. – Über die Gründe könnten wir freilich nicht uneiniger sein.
Liebe Linke, Sie instrumentalisieren eine Debatte über die Wahl eines FDP-Abgeordneten Kemmerich und verstecken nicht einmal, dass es Ihnen im Kern gar nicht um die Verhinderung nationalsozialistischer Umtriebe geht, sondern um die Abschaffung von Wettbewerb, geheimen Wahlen und die Beerdigung eines demokratischen Selbstverständnisses. Ausgrenzung ist Ihre Strategie. Sie hassen im Kern die demokratische Kontroverse; denn ohne Kontroverse – das kennen Sie gut – gibt es nur eine Meinung.
Wir wissen alle, liebe FDP, liebe CDU, dass dieses Desaster eines mit Ansage war. Es wussten genug Führungskräfte in beiden Parteien Bescheid. Sie waren nur wieder einmal auf den medialen Shitstorm von links und Grün in keiner Weise vorbereitet. Und so dominieren wieder einmal die Linken am Ende die offizielle politische Lesart.
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Das ist ein Desaster par excellence. Sie verschlafen seit 2015 eine Antwort auf die AfD. In Strategiepapieren seit 2015 können Sie lesen, dass genau das, was in Thüringen passiert ist, geplant war – schon lange. Man müsste den politischen Gegner nur endlich einmal ernst nehmen.
Liebe SPD und Grüne, Sie sind hier besonders scheinheilige Vertreter; denn Sie müssten eigentlich kleinlaut zugeben, dass Sie im Vorfeld in Thüringen einen bürgerlichen Ministerpräsidenten verhindert haben. Sie haben sich einer Wahl zum Beispiel von Herrn Mohring im Vorfeld verweigert,
({1})
und damit haben Sie genau das, was passiert ist, erst ermöglicht, nämlich eine Zuspitzung der Ränder.
All diejenigen, die eilfertig und reflexartig jetzt gleich wieder von Weimarer Verhältnissen reden, machen einen dramatischen Fehler. Sie stellen erstens die Wahl von Herrn Kemmerich, einem Kandidaten der Mitte, mit der Wahl eines Extremisten gleich. Schlimm! Ich verstehe die Angst, aber die Gleichsetzung ist dennoch falsch. Zweitens. Sie entwerten die Lehre aus den Weimarer Verhältnissen für den Bürger, für die Wähler; denn außerhalb der politischen Kreise versteht niemand, was Sie sagen. Ich rede nicht über die Aktivisten auf der Straße, die Linksterroristen, die Anschläge usw. Das ist nicht das normale Volk. In CDU und FDP werden dazu noch reihenweise politische Persönlichkeiten entsorgt, Herr Lindner fast, andere gleich ganz. Sie helfen damit der AfD auf für mich unvorstellbare Weise.
Noch dramatischer ist das, was folgt – ich bitte Sie, sich das wirklich zu Herzen zu nehmen –: Mit dem Rücktritt von Herrn Kemmerich vereiteln Sie am Ende die Möglichkeit – ich betone: die Möglichkeit –, das Potenzial einer bürgerlichen Regierung zu heben. Sie, auch Sie alle hier, verhelfen damit Herrn Björn Höcke, an die AfD-Spitze vorzudringen. Jetzt glauben Sie ja nicht, dass das gut wäre; denn während die AfD aktuell führungslos ist und keine Strategie hat und stagniert,
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obwohl sie massenweise Steilvorlagen Ihrerseits geboten bekommt, wird das unter Björn Höcke nicht mehr passieren. Seine Berater haben eine Strategie, sie haben eine Vision, und sie werden zwar nicht demokratisch, aber trotzdem die AfD am Ende einen. Und gnade Gott diesem Land, was dann passiert. Herr Björn Höcke will tatsächlich ein anderes Deutschland, andere an der linken Seite wollen das auch; aber Sie immunisieren durch Ihr Verhalten Björn Höcke für eine Wählerschaft,
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die die Begriffe „Nazi“ und „Faschismus“ schon lange nicht mehr ernst nimmt, weil sie über Gebühr genutzt wurden. Das ist das eigentliche Drama von Thüringen. Es ist auch Ihr Werk, und ich frage mich besorgt, welche politische Antwort Sie darauf in Zukunft finden wollen.
Herzlichen Dank.
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Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Christoph Matschie.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich will zunächst einmal sagen: Ich finde es gut, dass sich die CDU hier von dem Verhalten in Erfurt klar distanziert hat, dass auch die FDP sich entschuldigt hat. Ich will auf der anderen Seite aber auch sagen: Ich finde es falsch, wenn Sie jetzt versuchen, Ihren Fehler hinter Angriffen auf Die Linke zu verstecken.
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Da gehört erst einmal ein bisschen mehr Demut auf die Tagesordnung; denn der Tabubruch von Erfurt
({1})
war kein Zufall. Das war kein Zufall! Wäre das anders gewesen, hätte Kemmerich die Wahl nicht annehmen dürfen. Wäre das anders gewesen, hätte sich auch die Union in Thüringen nicht so verhalten dürfen, wie sie sich verhalten hat. Man kann es in Zeitungen nachlesen. Der Generalsekretär der Thüringer CDU, Herr Walk, hat das in einem Statement klargemacht. Er sagte – ich zitiere –: Ja, wir wussten alle, dass diese theoretische Möglichkeit bestand;
({2})
wir wussten es alle, und trotzdem hat sich die CDU nicht anders verhalten. – Ich finde, das ist ein bisschen mehr des Nachdenkens in Ihren Reihen wert, anstatt sofort wieder zum Gegenangriff überzugehen.
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Ich glaube, das Problem ist ein bisschen grundsätzlicher. Schon kurz nach der Thüringer Landtagswahl hat der Vizevorsitzende der Thüringer CDU-Landtagsfraktion, Herr Heym, für ein Bündnis aus CDU, FDP und AfD offensiv geworben, und er hat das als „bürgerliche Mehrheit“ bezeichnet.
({4})
Ja, für solche Strategien – Sie sehen es, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Union – gibt es nur Beifall von der AfD.
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Eines muss klar bleiben: Die AfD ist niemals Bestandteil einer bürgerlichen Mehrheit oder bürgerlichen Politik.
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Es gibt einen Konsens in der Nachkriegsgeschichte dieser Republik, und dieser Konsens besagt,
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dass es keine Zusammenarbeit mit Parteien gibt, die den Faschismus verharmlosen,
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die nicht bereit sind, die Verantwortung aus dieser Geschichte zu tragen.
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Und die AfD ist nicht bereit dazu; das haben die Äußerungen von Ihnen, Herr Gauland, gezeigt – wenn Sie diese Geschichte als Vogelschiss bezeichnen –,
({10})
und das zeigen uns die Äußerungen von Herrn Höcke in Thüringen, der eine 180-Grad-Wende in der Geschichtspolitik verlangt. Diese Partei hat aus der Geschichte nichts gelernt und darf deshalb nicht Bestandteil des demokratischen Konsenses werden.
({11})
– Ja, die Wähler werden das am Ende auch entscheiden, da bin ich sicher.
({12})
– Ein Zwischenhoch für die AfD ist noch kein dauerhafter Erfolg.
Ich bin sicher: Wenn die demokratischen Parteien in diesem Land zusammenstehen, wird es niemals für die AfD eine Chance geben, die Politik in diesem Land zu bestimmen; da bin ich ziemlich sicher.
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Dass es hier um einen Grundkonsens der Nachkriegspolitik geht, haben uns auch die internationalen Reaktionen gezeigt; ich will nur zwei ganz kurz zitieren. In der „New York Times“ heißt es: Die Wahl bringt den desaströsen Zustand der politischen Mitte in Deutschland zum Ausdruck.
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Und in der „Washington Post“ heißt es: Der politische Konsens der politischen Mitte zerfällt, und diese Entwicklung hat nationale und kontinentale Bedeutung.
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Ich finde, das sind Sätze, über die Union und FDP ein bisschen länger und tiefer nachdenken sollten.
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Bei allem, was hier diskutiert worden ist, ist mir wichtig, am Schluss noch einmal darauf hinzuweisen: Das Problem in Thüringen ist ungelöst. Es ist ungelöst, weil Union und FDP im Moment jede politische Lösung blockieren.
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Herr Ziemiak, es gibt genau zwei Möglichkeiten, das Dilemma in Thüringen jetzt aufzulösen. Die erste Möglichkeit: Sie unterstützen eine Minderheitsregierung Rot-Rot-Grün.
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– Und wenn Sie sagen: „Niemals!“, dann muss Ihre Partei für Neuwahlen in Thüringen stimmen.
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Eines muss klar sein, Herr Ziemiak: Wer den Scherbenhaufen anrichtet, darf sich hinterher nicht davor drücken, diesen Scherbenhaufen auch wieder aufzuräumen!
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Machen Sie den Weg frei für Neuwahlen in Thüringen!
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Vielen Dank, Christoph Matschie. – Der nächste Redner ist Marco Bülow.
Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Über den Tabubruch, die AfD ist jetzt viel geredet worden. Das Argument, das noch nicht gefallen ist – es wundert mich; das muss man sich einmal anschauen –: In Thüringen hat sich jemand zum Ministerpräsidenten wählen lassen wollen und ist ja dann auch gewählt worden, der 5 Prozent bekommen hat. Von den eigentlich Wahlberechtigten hatte nicht einmal jeder Dreißigste die FDP gewählt. Alleine schon diese Arroganz zu besitzen, als jemand, der noch nicht einmal von jedem Dreißigsten unterstützt wird, Ministerpräsident werden zu wollen, das spricht schon für sich.
({0})
Ich gebe Christoph Matschie recht: Das war kein Zufall, das war geplant, und jeder wusste davon. Deswegen geht es nicht nur darum, dann am Ende zurückzutreten, sondern vielleicht einmal dazu zu stehen, was man eigentlich wollte: Man wollte Ministerpräsident werden, und man wollte es mithilfe der rechten Stimmen werden. Es wäre nur gerecht, wenn man wenigstens einmal dazu stehen würde. Aber genau das tut die FDP nicht, und das tat auch der Ministerpräsident nicht. Ich glaube, darüber sollten wir diskutieren.
({1})
Auch die Glückwünsche, die danach aus den Reihen der CDU/CSU und der FDP ausgesprochen worden sind, kamen doch von Leuten, die wussten, was am Ende herausgekommen ist. Auch die waren geplant. Auch diese Leute stehen nicht dazu, warum sie sozusagen aus dem Echo herausgekommen sind.
Stattdessen wird von der „Mitte“ gefaselt. Was ist denn das für eine Mitte, wenn auf der einen Seite gesagt wird: „Das ist die Mitte“, wenn einer Ministerpräsident wird, der 5 Prozent hat, während auf der anderen Seite ein Ex-Ministerpräsident steht, der Beliebtheitswerte von über 70 Prozent hat,
({2})
von diesen Leuten aber als extremistisch bezeichnet wird? Wo ist denn da die Mitte? 70 Prozent der Bevölkerung zählen nicht?
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Was heißt hier Mitte? Über diese sinnentleerte Mitte ist auch heute wieder ganz viel geredet worden. Heißt das ohne Haltung, ohne Kompass, und heißt das, die Fahne in den Wind zu halten? Ja, dann können wir uns vielleicht auf diese Mitte einigen. Aber genau das ist der Begriff, der sinnentleert wird.
Oder bedeutet Mitte – so wie die Politik der letzten Jahre, vieler Jahre, in denen Union und FDP immer wieder Verantwortung getragen haben – zum Beispiel, den Niedriglohnsektor auszuweiten, heißt das hohe Ungleichheit, heißt das Ausweitung der Waffenexporte, heißt das kein Klimaschutz? Ist das die Mitte, von der Sie hier sprechen? Ich glaube, wir sollten einmal über diesen Begriff reden, der sinnentleert als Phrase benutzt wird; genau darüber sollten wir hier einmal sprechen.
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Jedenfalls steht die Mitte im Augenblick eben nicht für Stabilität, und sie steht vor allen Dingen nicht für die Abgrenzung gegen rechts, sondern sie steht fast schon dafür, dass man am Ende vielleicht doch kooperieren könnte. Und genau das muss verhindert werden! Dafür sollten wir uns alle einsetzen, und zwar aus der Mitte der Gesellschaft heraus.
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Wer die Demokratie verteidigen möchte, wer die Grenzen ziehen sollte, der sollte sich eben nicht hinter Floskeln wie „die Mitte“ verstecken, der sollte klare Kante zeigen, vor allen Dingen in der Politik, und der sollte auch sagen, welche Fehler man selbst gemacht hat, anstatt nur auf die AfD und auf die Wählerinnen und Wähler der AfD zu zeigen, der sollte sich fragen: Welche Fehler haben wir gemacht, und was müssen wir jetzt beginnen, um es wieder richtig zu machen? Das wäre die richtige Abgrenzung. Das wäre die Strategie, die Demokratie zu verteidigen.
Danke schön.
({6})
Vielen Dank, Marco Bülow. – Der letzte Redner in der Aktuellen Stunde ist Michael Kuffer für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Wir können aus Thüringen Lehren ziehen, wir können diese Lehren annehmen und das alles letztlich als eine wenn auch schmerzhafte, aber doch immerhin eine Chance nutzen. Oder wir können es durch Rechthaberei vergeigen – ebenso durch den Versuch, daraus politischen Honig zu saugen. Liebe Kollegin Mohamed Ali, Sie sind heute mit Ihrer Rede zumindest an dieser Aufgabe bereits gescheitert.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Thüringen zeigt nicht, dass sich Thomas Kemmerich von Extremisten wählen lassen wollte. Es zeigt, dass bei der FDP für einen Moment die Versuchung größer war als die Klarheit,
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und das reicht dann leider bei einem solchen Manöver der AfD eben nicht. Insofern bin ich dem Kollegen Lindner für seine Rede heute dankbar.
Natürlich hat die AfD in Thüringen getäuscht und manipuliert. Sie haben einen Kandidaten zur Wahl gestellt – nicht damit er gewählt wird, sondern gerade, um ihn nicht zu wählen und damit ein taktisches Spiel zu treiben. In Thüringen hat die AfD gezeigt, dass ihr die Täuschung näher liegt als die Wahrhaftigkeit des politischen Angebots.
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Sie haben mit Herrn Höcke in Thüringen einen Mann an der Spitze Ihrer Partei, der nicht nur faktisch den Holocaust leugnet,
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der ein Faschist ist, einen Mann, der öffentlich fordert, Maßnahmen zu ergreifen – ich zitiere –, „die ihrem eigentlichen moralischen Empfinden zuwiderlaufen“.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer nach dieser Aussage noch Zweifel hat, dass damit gewaltsame Maßnahmen gegen Andersdenkende insinuiert werden, der verschließt die Augen vor dem Offensichtlichen.
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Solche politischen Vorstellungen werden wir als Union weiter bekämpfen, die werden wir immer bekämpfen, weil Sie damit alles infrage stellen, worunter Millionen von Menschen so unsagbar gelitten haben und wofür umgekehrt die Nachkriegsgeneration jahrzehntelang so hart gearbeitet hat, nämlich aus diesem größten Trümmerhaufen der Geschichte wieder dieses wunderbare Land und diese wunderbare Demokratie aufzubauen.
Selbstverständlich kann es keinen Ministerpräsidenten und keine Regierung geben, die auf einem solchen Fundament steht, auf solchen Vorstellungen gründet, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Jetzt sage ich Ihnen einmal etwas zu Ihrer politischen Verantwortung: Man kann nicht gleichzeitig einerseits Rechtsextremisten und Neonazis ein Angebot machen und andererseits Bürgerlichen; das schafft man nicht.
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Oder, umgekehrt gesagt: Man schafft es nur, wenn man brutalst täuscht, betrügt oder manipuliert.
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Lieber Herr Gauland, man kann nicht auf Thüringen den Nazi-Höcke loslassen und sich in Berlin im Sommerinterview hinsetzen, zurücklehnen und sagen: „Ich habe es doch nicht gesagt.“ So geht es nicht.
({9})
Herr Gauland, die Haltung, mit der Sie hier immer in Ihrem Stuhl sitzen – das sage ich Ihnen ganz ehrlich –, steht symbolisch für Ihre Teilnahmslosigkeit gegenüber Leuten wie Herrn Höcke und dem Flügel,
({10})
und sie steht symbolisch für Ihre Teilnahmslosigkeit gegenüber diesem Parlament.
({11})
Ob der Flügel nun im Zentrum Ihrer Partei oder am Rand steht, ist letztlich völlig egal. Entscheidend ist, was Sie dagegen unternehmen und ob Sie ihn bekämpfen.
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Ich sage Ihnen: Man kann sich hier auch durch Unterlassen an der Demokratie versündigen.
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Nun muss ich aber auch in Richtung der Linken sagen: Man ist nicht nur Demokrat, wenn man links wählt oder Die Linke unterstützt.
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Man kann dem Kampf gegen den Rechtsextremismus nicht dienen, wenn man ihn gleichzeitig für andere Zwecke ausnutzen will. Davor will ich Sie ausdrücklich warnen.
({15})
Demokrat ist man vor allem, wenn man sich klar und glaubwürdig von Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung abgrenzt, von Gewalt gegen Polizisten und Repräsentanten unseres Staates.
({16})
Wir werden Die Linke nicht mit dem Rechtsextremismus in einen Topf werfen. Wir sind klar in der Einordnung, dass der Linksextremismus und der Linksterrorismus ein polizeiliches und der Rechtsextremismus darüber hinaus ein gesellschaftliches Problem ist. Wir sind klar in der Differenzierung der verschiedenen Formen des Extremismus und im Erkennen von Faschismus. Aber eines muss ich Ihnen sagen, und das kann ich nicht stark genug betonen: Ich kann Sie nur nachdrücklich auffordern, nicht weiter einen Beitrag zur Geschichtsleugnung der anderen Art zu leisten, sei es vorsätzlich oder auch nur fahrlässig.
Damit komme ich zum Ende.
({17})
Unter dem Unrechtsregime der DDR haben so viele Menschen so sehr gelitten, sind Menschen gebrochen, Leben zerstört und auch beendet worden. Wir müssen das weiterhin klar benennen, und Sie müssen anfangen, das klar zu benennen. Ein Staat, in dessen Namen solche Verbrechen geschehen sind,
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hat keine Legitimation, er hatte nie eine, er ist ein Unrechtsstaat gewesen.
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Es gibt an dieser Stelle keine Unterscheidung zwischen undemokratisch und Unrecht, liebe Kolleginnen und Kollegen.
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Vielen Dank, Michael Kuffer. – Damit ist die Aktuelle Stunde beendet.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Dieses Gesetz, das wir heute hier debattieren und beschließen werden, hat einen Gewinner, und das sind die gesetzlich Versicherten; denn sie können darauf vertrauen, dass ihre Beitragsgelder dort ankommen, wo sie benötigt werden. Die Risiken, wer wo wie oft krank ist und wie viel das kostet, sind ungleich verteilt. Deswegen wurde vor 25 Jahren ein Ausgleichsmechanismus zwischen den Kassen eingeführt, der Risikostrukturausgleich. Das bisherige System des Ausgleichs hat allerdings Schwächen. Es war zu ungenau, es führte zu Wettbewerbsvorteilen für einige wenige Kassen, und schließlich stellte sich heraus, dass es zumindest möglich war, das System zu manipulieren. Hinweise deuten darauf hin, dass Krankenkassen Einfluss auf die Diagnosestellung der Ärzte nahmen, um Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds zu erhöhen.
Meine Damen und Herren, mit diesem Gesetz, das wir heute beschließen, machen wir diesen Ausgleich gerechter. Die Kassen, die wirklich mehr Geld für die Versorgung ihrer Versicherten benötigen, sollen dieses Geld auch erhalten. Um dies zu erreichen, gestalten wir das Zuweisungssystem genauer. Wir berücksichtigen zukünftig regionale Ausgabenunterschiede. Hochkostenfälle werden finanziell abgefedert, und in die Berechnungen des Ausgleichs fließen jetzt alle Krankheiten ein; bislang war es nur eine begrenzte Anzahl.
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Außerdem treten wir auf die Manipulationsbremse. Es darf aus unserer Sicht keinerlei Anreize geben, die Diagnosestellung der Ärzte zu beeinflussen.
Ja, meine Damen und Herren, wir sind für Wettbewerb, wir sind für Wettbewerb auch im Gesundheitswesen; aber wir wollen einen Wettbewerb um die beste Versorgung und nicht um die besten Finanztricks.
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Wenn Diagnosen auffällig stark ansteigen, hat das daher Auswirkungen auf die Zuweisung.
Bestimmte Verträge zwischen Ärzten und Kassen, sogenannte Selektivverträge, nehmen wir stärker unter die Lupe. Dadurch wollen wir frühzeitig erkennen, wenn es einen Manipulationsversuch gibt. Dazu richten wir für diese Art von Verträgen ein Vertragsverzeichnis ein. Außerdem stärken wir die Prüfkompetenzen des Bundesamtes für Soziale Sicherung. Wir verbessern insgesamt die Transparenz und die Zusammenarbeit bei den Aufsichtsbehörden und geben – auch das ist Ausdruck eines funktionierenden Wettbewerbs – den Krankenkassen ein Klagerecht untereinander. Damit stärken wir auch die Selbstkontrolle.
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, funktionierender Wettbewerb ist wichtig, weil 70 Millionen gesetzlich Versicherte in diesem Land ein gutes Leistungsangebot bekommen sollen. Zu einem echten Wettbewerb gehört unserer Meinung nach aber auch eine echte Wahlfreiheit. Deshalb wäre es aus unserer Sicht richtig und auch logisch gewesen, die regionalen AOKen bundesweit zu öffnen und sie auch unter eine einheitliche Aufsicht zu stellen. Dafür haben wir aber keine Mehrheit gefunden. Das ist Teil der Wahrheit. In diesem Punkt ist das Gesetz für uns ein Kompromiss, mit dem wir aber das umsetzen, was möglich ist.
Ich möchte noch auf ein Thema zu sprechen kommen, weil es ein sehr dringliches Thema ist. Weil es so dringlich und wichtig ist, haben wir es in dieses aktuelle Gesetz aufgenommen. Es geht um die Lieferengpässe bei Arzneimitteln.
Meine Damen und Herren, weil sich die Meldungen dazu häufen und weil Patienten das in der Apotheke spüren und uns das immer wieder melden, haben wir jetzt in diesem Gesetz eine ganze Reihe von Maßnahmen aufgegriffen, sie aufgenommen und uns darauf verständigt: Wir erweitern die Kompetenzen der zuständigen Bundesoberbehörden. Wir führen Meldepflichten ein, und zwar für die Pharmahersteller und die Großhändler. Damit können wir schneller auf Engpässe reagieren. Wir sorgen außerdem dafür, dass Versicherte, wenn ihr Arzneimittel einmal nicht lieferbar ist – das ist ein aus Sicht der Patientinnen und Patienten in diesem Land ganz wichtiger Punkt –, aber ein vergleichbares Arzneimittel, dann dieses Arzneimittel ohne Aufpreis erhalten können.
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Meine Damen und Herren, insgesamt schafft dieses Gesetz eine gute Grundlage dafür, dass die Versichertengelder wirtschaftlich sinnvoll eingesetzt werden. Es ist deswegen ein gutes Gesetz für die gesetzlich Versicherten in diesem Land. Es stärkt den Wettbewerb, es kommt den Versicherten zugute, es schafft Vertrauen.
Ich bedanke mich auch im Namen des Ministers für die guten Beratungen im parlamentarischen Prozess und darf Sie herzlich um Ihre Zustimmung bitten.
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Vielen Dank, Dr. Gebhart. – Nächster Redner: Detlev Spangenberg für die AfD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir hatten gestern schon über einen unserer Anträge gesprochen. Der passte gestern dazu: Lieferengpässe wirksam begrenzen. – Deswegen rede ich dazu heute nicht mehr. Ich möchte Sie trotzdem noch einmal daran erinnern: Sichern Sie endlich wieder die Arzneimittelproduktion in Deutschland und in Europa! Sichern Sie endlich den Standort Deutschland und Europa bei dieser Produktion, sonst erleben wir weitere Fiaskos, die wir jetzt gerade bei China und Indien sehen.
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Wir können uns doch auf solche Wackelstaaten nicht verlassen, meine Damen und Herren. Holen Sie die Produktion nach Europa und Deutschland zurück! Das ist die Aufforderung noch mal in aller Deutlichkeit.
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Mit unserem Antrag „Verbindliche patienten- und aufgabengerechte Personalvorgaben für alle im Krankenhaus tätigen Berufsgruppen einführen“, meine Damen und Herren, wollen wir erstens eine Ausgliederung der Kosten aller in den Krankenhäusern tätigen Berufsgruppen aus den DRGs erreichen. Zweitens fordern wir damit, patienten- und aufgabengerechte Personalvorgaben für alle im Krankenhaus tätigen Berufsgruppen einzuführen.
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Das heißt, wir können nicht bloß für eine Berufsgruppe, in dem Fall für das Pflegepersonal, eine Personaluntergrenze bestimmen.
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Meine Damen und Herren, die Deutsche Krankenhausgesellschaft stellt Umsetzungsprobleme bei den Personaluntergrenzen fest.
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Sie sagt: Ganze Stationen werden zeitweise geschlossen, oder Kliniken melden gelegentlich Bereiche bei der Leitstelle des Rettungsdienstes ab. Diese Zahlen sind ein alarmierendes Zeichen, dass die Pflegepersonaluntergrenze zu Einschränkungen bei der Versorgung führen kann. – Das sagt zum Beispiel Dr. Gerald Gaß, Präsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft.
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– Ich rede darüber, was ich denke, meine Damen und Herren. Lassen Sie das mal meine Sorge sein.
Der Verband der Krankenhausdirektoren erklärt in seiner Stellungnahme vom Mai Ähnliches. Außerdem sprechen sich die Krankenhausdirektoren und die Deutsche Krankenhausgesellschaft für ein bedarfsorientiertes Personalbemessungssystem in einer Ganzhauskonzeption aus. Damit ist gemeint, dass man auch aus anderen Abteilungen das Personal heranziehen kann,
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wenn in einer Abteilung die Untergrenze nicht erreicht werden kann.
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In Zeiten von allgemeinem Personalmangel ist aus unserer Sicht die jetzige starre, unflexible Untergrenzenregelung nicht geeignet, Versorgungssicherheit zu gewährleisten und die Arbeitsbedingungen zu verbessern.
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Wir fordern weiterhin die Personaluntergrenzenregelung und die Herausnahme der Kosten des ganzen im Krankenhaus beschäftigten Personals, das wir dort haben, aus den DRGs.
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Meine Damen und Herren, über den zweiten Antrag zum Fairer-Kassenwettbewerb-Gesetz sprachen wir schon im Ausschuss. Ich stelle die anderen Anträge noch mal kurz vor. „Wettbewerb in der privaten Krankenversicherung stärken – Altersrückstellungen beim Anbieterwechsel mitnehmen lassen“: Das ist das Thema. Das zielt darauf ab, meine Damen und Herren, private Krankenversicherten den Anbieterwechsel zu erleichtern bzw. überhaupt zu ermöglichen. Im Entwurf zum Fairer-Kassenwettbewerb-Gesetz richten Sie sich grundsätzlich auch an der Monopolkommission aus. Somit sollten Sie sich auch an deren Empfehlungen zur Wettbewerbsstärkung bei den PKVs orientieren. Das können Sie also auch berücksichtigen.
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Meine Damen und Herren, das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz von 2009 hat den Wechsel ja erst möglich gemacht. Die Aussage der Monopolkommission vom März 2017 ist eindeutig. Sie sagt: In der privaten Krankenversorgung müssen die Wechselmöglichkeiten der Bestandskunden von einer Kasse zur anderen verbessert werden. – Das haben wir im Moment immer noch nicht gemacht; das ist die Forderung. Im Moment haben wir die Situation, dass langjährige bei einer privaten Krankenkasse Versicherte ihre Altersrückstellungen bei einem Wechsel nicht uneingeschränkt mitnehmen können – das ist das Problem – und dass die Lebenswirklichkeit einen Wechsel letztendlich unmöglich macht. Wir haben den berühmten Basisvertrag dabei. Der wird aber nur von 0,3 Prozent der dort Versicherten in Anspruch genommen, sodass über 99 Prozent, wenn sie wechseln, den Nachteil haben, dass sie ihre Rückstellungen nicht mitnehmen können.
Denken Sie an Ihre Redezeit?
Ja. – Letzter Satz: Die Monopolkommission schlägt auch hier vor, die Altersrückstellungen entsprechend dem Gesundheitszustand mitzunehmen. Diese Wechselmöglichkeiten würden die Versicherungen zwingen, den Versicherten gegebenenfalls bessere Verhandlungspositionen zu verschaffen. Sie würden damit auch eine bessere Leistung für die Versicherten möglich machen.
Vielen Dank.
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Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Bärbel Bas.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ja, bei diesem Gesetz geht es um ein Reformpaket. Das wird die Finanzen bei den Krankenkassen ordentlich durchwirbeln, wie wir so schön sagen. Deshalb waren die Diskussionen im Vorfeld auch sehr massiv. Wir verteilen sehr viel Geld. Für die Patienten ist das Entscheidende – das war der Ursprung dieses Finanzausgleiches –, dass Krankenkassen bei den Versicherten keine Risiken selektieren. Das heißt, dass auch Patienten und Versicherte in die Krankenkassen aufgenommen werden, die schon chronische Erkrankungen haben, die vielleicht Behinderungen haben, deren Geldbeutel klein ist, die vielleicht keinen hohen Beitrag mitbringen. Das ist der Ursprung dieses Finanzausgleiches. Wir machen jetzt ein großes Reformpaket, mit dem wir das so angleichen, dass eben kein Interesse daran besteht, Versicherte abzulehnen, sondern ein Interesse daran besteht, sie aufzunehmen und vor allen Dingen vor Ort eine vernünftige Versorgung zu gewährleisten.
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Der Staatssekretär hat es gerade schon angesprochen: Da sind verschiedene Modelle drin. Es gab früher schon einmal einen Risikostrukturausgleich. Ich will das insofern erklären, dass es damals schon einen Risikopool gab. Das sind Fachbegriffe. Dahinter steckt, dass es teure Behandlungsfälle gibt, Menschen, die wirklich das System brauchen, weil sie schwerkrank sind und dadurch hohe Kosten verursachen. Aber genau für diese Menschen sind die Krankenkassen da. Deshalb ist es richtig, dass die Krankenkassen, die diese Menschen versichern, einen Ausgleich dafür bekommen.
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Das ist entscheidend für die Versicherten; denn ansonsten werden sie abgelehnt, und das ist kein richtiger Weg.
Dann stand im Gesetzentwurf, dass wir Diagnosen in Verträgen verbieten wollen. Der SPD war es wichtig, das zu streichen. Denn es geht uns darum, dass die Krankenkassen mit den Ärztinnen und Ärzten vor Ort vernünftige Verträge machen, um die Versorgung für die Menschen zu verbessern. Deshalb war es falsch, zu sagen: Wir machen Verträge, aber wir dürfen sie nicht an bestimmte chronische Erkrankungen, für die es immer eine Diagnose gibt, binden. – Natürlich wollen wir insbesondere bei chronischen Erkrankungen gute Versorgungsverträge.
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Dieses Element hätten wir verloren, wenn wir dem Vorschlag des Ministers gefolgt wären, ein Diagnoseverbot in Versorgungsverträgen einzuführen.
Dann gab es einen Vorschlag, den ich auch noch mal erwähnen will, auch wenn der Minister heute leider nicht hier sein kann. Es gibt immer wieder den Versuch, die Selbstverwaltung zu beschneiden, die für uns Sozialdemokraten ein wichtiges demokratisches Element zum Ausgleich der Gremien ist. In den Gremien sitzen Versichertenvertreter; sie sind von den Versicherten gewählt. Ich finde, sie sollten auch den Einfluss auf die Entscheidungen behalten.
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Eine Verringerung der Mitgliederzahl von 52 auf 40 hätte dazu geführt, dass insbesondere kleinere Kassenarten keine Vertretung mehr gehabt hätten. Das haben wir für einen falschen Weg gehalten. Ich bin dankbar, dass der Koalitionspartner diesen Passus am Ende auch so gesehen hat und wir die Reduzierung der Selbstverwaltung, der Mitgliederzahl im Verwaltungsrat, gemeinsam verhindert haben und es bei der Mitgliederzahl 52 bleibt. So können alle Versichertenvertreter in diesem Gremium sein.
Das war für uns Sozialdemokraten wichtig. Ich finde, das Gesetz, das Reformpaket insgesamt, wird dazu führen, dass die Finanzen, also die Beitragsgelder der Versicherten, zielgenau dorthin verteilt werden, wo sie versichert sind und eine gute Versorgung brauchen. Dieses Reformpaket wird dafür sorgen.
Ich bin sehr gespannt, ob jetzt ein wenig Ruhe in die Kassenlandschaft einkehrt, damit sich alle wieder auf das Eigentliche konzentrieren können, nämlich auf die Versorgung der Versicherten.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Bärbel Bas. – Nächste Rednerin: für die FDP-Fraktion Christine Aschenberg-Dugnus.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Uns als FDP ist es wichtig, dass die Krankenkassen miteinander in einem fairen und transparenten Wettbewerb um die beste Versorgung ihrer Versicherten stehen.
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Das hat in der Vergangenheit aber leider nicht so richtig funktioniert, weil die Ausgestaltung des Morbi-RSA, also des Mechanismus der Verteilung an die Krankenkassen, manipulationsanfällig war und auch Fehlanreize gesetzt hat. Ich erinnere nur an das Stichwort „Upcoding“. Wir alle wissen, dass das nicht in Ordnung war. Die hier angestrebte Reform ist deswegen ein richtiger, aber auch längst überfälliger Schritt.
Meine Damen und Herren, dass Präventionsangebote im Morbi-RSA jetzt besser abgebildet werden, ist erfreulich. Allerdings geht uns das nicht weit genug, da für längerfristige Präventionserfolge leider keine Anreize gesetzt werden. Die sind aber im Sinne der Patienten und Versicherten dringend erforderlich.
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Wenn sich Krankenkassen aktiv um Prävention bemühen und ihre Versicherten damit gesünder bleiben, dann muss sich das auch in den Folgejahren für die Krankenkassen lohnen und vorteilhaft sein. Ein Umdenken ist also bei allen Beteiligten erforderlich. Die alte Devise „Je kränker, desto besser“ muss endlich aufgebrochen werden, meine Damen und Herren.
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Wir haben dazu im Ausschuss einen Änderungsantrag eingebracht. Dem haben Sie, die Koalition, leider nicht zugestimmt mit der Begründung, die vorgesehene vierjährige Evaluation reiche aus. Nein, das reicht eben nicht aus. Gerade bei dem wichtigen Thema Prävention ist das völlig unzureichend und bringt uns leider überhaupt nicht weiter.
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Unser zweiter Änderungsantrag dort zielt auf die Streichung des neu vorgesehenen Lenkungs- und Koordinierungsausschusses. Aus unserer Sicht besteht bei diesem neuen Gremium die Gefahr, dass die Sozialpartner geschwächt werden. Dies wurde übrigens auch in der öffentlichen Anhörung von fast allen Verbänden so bestätigt. Es handelt sich dabei um ein völlig sachfremdes, systemfremdes Gremium, für das es überhaupt keine Notwendigkeit gibt. Es ist nicht erkennbar, worin da die Vorteile für die Versorgung der Versicherten bestehen – und um die Versorgung geht es doch eigentlich bei allem, was wir hier machen.
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Meine Damen und Herren, positiv anmerken möchte ich – es wurde schon angesprochen –, dass das Verbot der Diagnosevergütung jetzt endlich vom Tisch ist; denn damit wären innovative Versorgungsformen verhindert worden, und das kann nicht sein.
Wir begrüßen auch, dass bei Lieferschwierigkeiten eines rabattierten Arzneimittels jetzt eben nicht 24 Stunden gewartet werden muss, bis es ausgetauscht werden kann. Das hätte dazu geführt, dass mehr Bürokratie in den Apotheken und vor allen Dingen auch Unmut bei den Patienten entstanden wären. Gut, dass auch das jetzt raus ist.
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Gut finden wir auch die vorgesehenen Maßnahmen, um Lieferengpässe zu vermeiden. Das kann aber nur ein erster Schritt sein; da müssen Sie nachlegen. Als Serviceopposition bieten wir gerne unsere Hilfe an.
Meine Damen und Herren, obwohl wir uns insgesamt mehr gewünscht hätten, bewerten wir den hier vorliegenden Gesetzentwurf doch positiv. Er ist eine deutliche Verbesserung gegenüber der bestehenden Regelung. Wir werden dem Gesetz daher zustimmen.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Aschenberg-Dugnus. – Nächster Redner: Dr. Achim Kessler für die Fraktion Die Linke.
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Geschätzte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Staatssekretär! Wir begrüßen, dass Sie den Finanzausgleich zwischen den gesetzlichen Krankenkassen verbessern; aber dadurch werden die Schäden, die der Wettbewerb für die Patientinnen und Patienten anrichtet, nicht beseitigt. Im Gegenteil: Der Wettbewerb soll sogar noch verstärkt werden, und es sollen neue Elemente eingeführt werden. Sie treiben die gesetzliche Krankenversicherung in eine Konkurrenz um die lukrativsten Versicherten und den größten Batzen Geld aus dem Gesundheitsfonds. Meine Damen und Herren, das ist ein Irrweg.
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Begreifen Sie endlich, dass Patientinnen und Patienten keine Kunden sind, die sich frei und unbeschwert für ein Produkt entscheiden können. Patientinnen und Patienten sind in einer Notsituation und auf gute medizinische Versorgung alternativlos angewiesen. Die gesetzlichen Krankenkassen sind eine solidarische Sozialversicherung und eben keine profitorientierten Privatunternehmen, und Die Linke will, dass das auch so bleibt.
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Weltweit hat der Kassenwettbewerb noch nie eine bessere Versorgung hervorgebracht. Zeigen Sie mir bitte wenigstens eine einzige Studie, die das Gegenteil beweist und nicht nur in ideologischer Verblendung behauptet.
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Wie soll das auch funktionieren? Beim Wettbewerb zählt am Ende immer das Geld und eben nicht die Versorgung.
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Wir wollen, dass gute Versorgung tatsächlich und nicht nur in der Werbung der Zweck einer Krankenkasse ist.
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Meine Damen und Herren, wir brauchen Krankenkassen, die Leistungsanträge wohlwollend überprüfen, Krankenkassen, die nicht aus jedem Formfehler gleich eine Leistungsablehnung machen oder gar völlig grundlos Leistungen verweigern. Wir brauchen Kassen, die vor Ort erreichbar sind. Wir brauchen die besten Leistungen für Kranke und eben keine Lockangebote mit Bonuszahlungen und Wellnessangebote für Gesunde und Besserverdiener.
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Meine Damen und Herren, seit über 20 Jahren hält die Mehrheit dieses Hauses trotz dieser Ungerechtigkeit am Kassenwettbewerb fest. Bei Brillen oder Zahnersatz kürzen Sie radikal, bei marketingrelevanten Leistungen satteln Sie drauf. Das ist das Resultat des Wettbewerbs, in den Sie die Kassen hetzen.
({6})
Herr Spahn legt sogar noch eine Schippe drauf: Anstatt die Kassenaufsicht zu stärken und transparenter zu machen, ermöglichen Sie den Krankenkassen, sich jetzt auch noch gegenseitig mit Klagen zu überziehen. Eine Kasse darf nun die andere verklagen, wenn sie zum Beispiel wettbewerbswidrig Werbung macht. Es ist ein Unding, dass der Kassenwettbewerb künftig auch vor den Gerichten ausgetragen werden soll;
({7})
denn Kassen sind Körperschaften, die kooperieren sollen, für die es Aufsichtsbehörden gibt und die sich an Gesetze halten müssen. Sie sind eben keine Privatunternehmen im Wettbewerb.
Meine Damen und Herren, mit der Zustimmung zum Fairer-Kassenwettbewerb-Gesetz helfen Sie der Ideologie des Wettbewerbs, Sie helfen aber nicht den Patientinnen und Patienten.
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Deshalb bitte ich Sie: Tun Sie das nicht.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Dr. Kessler. – Nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Maria Klein-Schmeink.
({0})
Sehr geehrte Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen hier im Hause! In der Tat handelt es sich um ein Gesetz, das wir heute mit den Stimmen der Grünen verabschieden, das mehr als überfällig ist, aber in die richtige Richtung geht. „Mehr als überfällig“ heißt: Wir haben hier schon im Jahre 2016 einen entsprechenden Antrag vorgelegt. Schon damals war klar: Wir haben eine Schieflage im Finanzausgleich der Kassen, wir haben eine Schieflage, die zulasten von Versicherten und Patienten geht, und wir haben eine Schieflage, die völlig falsche Anreize setzt, nämlich Anreize dazu, bei den Ausgaben zu sparen, einen möglichst niedrigen Zusatzbeitrag zu erheben und nicht mehr auf die Leistungen zu schauen. Das muss korrigiert werden.
({0})
Es ist bedauerlich, dass Sie für diese Korrektur so lange gebraucht haben; denn wir sehen, dass die Schere bei der Finanzausstattung der verschiedenen Kassen tatsächlich erheblich auseinandergeht. Die Leidtragenden sind die Versicherten der Kassen, die mit dem Rücken an der Wand stehen, aber auch derjenigen, die sich eine möglichst gute Position im Kassenwettbewerb erobern wollen. Beides können wir so nicht wollen; denn am Ende geht es um gute Leistungen für die Versicherten und nicht darum, dass man nur den niedrigsten Beitrag hat.
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An dieser Stelle, muss ich sagen, bin ich froh, dass wir jetzt diese Veränderung bekommen. Aber wir müssen gleichzeitig auch sagen: Das reicht nicht. Sie haben jetzt gerade einmal eine Angleichung der Positionen im Finanzausgleich geschaffen, also auf der Ebene der Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds. Was fehlt, ist, dass Kassen dafür belohnt werden, dass sie sich tatsächlich für ihre Patientengruppen einsetzen. Genau das fehlt.
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Ich muss sagen: Ich hätte mir sehr gewünscht, dass Sie nicht bei dieser kleinen Finanzreform stehen geblieben wären, sondern auch den Mut gehabt hätten, erstens Transparenz bei den Krankenkassen über ihr Antragsgebaren einzufordern und zweitens dafür zu sorgen, dass wir Instrumente entwickeln, mit denen wir für die Kassen, die sich für besonders aufwendig zu behandelnde Patientengruppen einsetzen, für Menschen mit Mehrfachbehinderung, für Menschen mit chronischen Erkrankungen, bei denen wir wissen, dass sie einen immensen Behandlungsbedarf haben, dem man eben nicht mit irgendwelchen pauschalen Zuweisungen gerecht wird, eine Belohnung aussetzen,
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mit denen wir dafür sorgen, dass es sich lohnt, genau diese Gruppen zu versichern und nicht nur den Beitragszahler, der möglichst viele Beiträge beistellt und gleichzeitig jung, berufstätig usw. ist. Genau da müssen wir gegensteuern.
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Wir sind aber froh, dass Sie neben den fachfremden Vorschlägen auch bei den Lieferengpässen in der Arzneimittelversorgung wirksame Maßnahmen vorgeschlagen haben. Aber auch da müssen wir sagen: Das ist nur ein erster Schritt; da muss noch mehr kommen. Von daher werden wir auch diesen Prozess sehr konstruktiv begleiten.
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Denken Sie bitte an die Redezeit.
Ich möchte gerne, dass Sie sich an diese verschiedenen Vorschläge erinnern. Was können wir tun, um die Solidarität in der gesetzlichen Krankenversicherung zu stärken, und zwar genau für diejenigen, die diese Solidarität in besonderer Weise brauchen? Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn wir da auf weitere Maßnahmen setzen können.
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Vielen Dank, Maria Klein-Schmeink. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Michael Hennrich.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Kollegin Klein-Schmeink, das Gesetz kommt rechtzeitig; das Thema hatten wir ja schon beim letzten Mal. Ich möchte auf den Zusammenhang hinweisen: Wir haben im Jahr 2016 Gutachten in Auftrag gegeben, die das Thema Morbi-RSA evaluiert haben. Wir haben das ausführlich diskutiert mit den betroffenen Krankenkassen, wir haben das ausführlich diskutiert im Ausschuss. Ich glaube, die Tatsache, dass dieser Gesetzentwurf die Zustimmung nahezu aller Krankenkassen findet, zeigt eigentlich, dass uns ein fairer Ausgleich gelungen ist. Das ist das Wichtigste: dass wir faire Finanzrahmenbedingungen schaffen, damit ein fairer Wettbewerb um die beste Versorgung unter den Krankenkassen stattfinden kann.
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Ich hätte mir gewünscht – was wir auch schon diskutiert haben –, dass wir das Thema Aufsicht zusammen mit den Ländern hätten regeln können. Ich habe Ihnen damals das Angebot gemacht, dass Sie Ihre Ministerkollegen in Baden-Württemberg dazu motivieren, einem solchen Vorschlag zuzustimmen.
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Leider Gottes ist da nichts passiert. Deswegen müssen wir zu dem Instrument der Klage greifen, um den Krankenkassen die Möglichkeit zu geben, unfairen Wettbewerb im Klageweg klären zu können, um ein einheitliches Aufsichtsgebaren hinzubekommen.
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Mir ist wichtig, dass wir auch beim Thema Selektivverträge eine Regelung gefunden haben, die es weiterhin möglich macht, dass Selektivverträge abgeschlossen werden. Ich komme aus Baden-Württemberg. Wir haben sozusagen blühende Landschaften beim Thema Selektivverträge. Das sind innovationsfreundliche Themen und Projekte. Wir sehen zu, dass fachübergreifend Versorgung stattfindet. Ich glaube, das ist heute ein ganz wichtiges Zeichen, damit das auch in Zukunft weiterhin möglich sein wird.
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Uns liegt besonders das Thema Lieferengpässe am Herzen. Liebe Frau Klein-Schmeink, ich bin Ihrer Ansicht: Das ist ein erster Schritt; es werden noch weitere Schritte notwendig sein. – Aber es ist ein gutes Signal, dass der Minister unsere Vorschläge, die wir im September präsentiert haben, aufgreift, dass wir jetzt auf europäischer Ebene diskutieren: Wie können wir in Europa an einem Strang ziehen? Welche Möglichkeiten gibt es, vernünftige vertragliche Bedingungen zu schaffen, sodass zum Beispiel Produktion wieder in Europa stattfindet? Wir haben auch auf nationaler Ebene reagiert, indem wir verschärfte Informationspflichten einführen, indem wir die pharmazeutischen Unternehmen, den Großhandel verpflichten, drohende Lieferengpässe zu melden.
Das Wichtigste ist, dass wir bei dem Thema Lieferengpässe die Apotheken und vor allem die Patienten nicht alleine lassen. Deswegen haben wir geregelt, dass sie keine Aufzahlung leisten müssen, wenn es zu Lieferschwierigkeiten kommt. Und wir gewährleisten, dass die Apotheken schnell und unbürokratisch untereinander austauschen können. Das ist ein erster Schritt.
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Wir werden jetzt abwarten, was auf der europäischen Ebene passiert, und dann nachjustieren. Aber ich glaube, es ist ein ganz wichtiges Signal, dass wir deutlich machen, dass wir uns um das Thema Lieferengpässe kümmern. Darauf haben die Versicherten einen Anspruch.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Michael Hennrich. – Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Sabine Dittmar.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Nach intensiven Beratungen verabschieden wir heute endlich das Fairer-Kassenwettbewerb-Gesetz. Im Vorfeld hat der Entwurf für viel Wirbel gesorgt. Kein Wunder, denn es geht um nichts weniger als um eine umfassende Reform der Kassenfinanzierung und damit letztendlich – und das ist das Entscheidende – um eine gute Versorgung der Versicherten. Da lohnt es sich, hart und ausdauernd zu verhandeln.
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Für uns Sozialdemokraten ist ein gut funktionierender RSA von zentraler Bedeutung. Er ist der Kit des Solidarsystems. Er stellt sicher, dass kein einziger gesetzlich Versicherter von seiner Krankenkasse aufgrund von Alter, Geschlecht oder Erkrankung diskriminiert werden kann. Bei der Reform des Risikostrukturausgleiches halten wir uns eng an die Gutachten des Wissenschaftlichen Beirates. Wir arbeiten ordnungspolitisch sauber und stringent.
Für viel Diskussion hat das geplante Verbot der Diagnosevergütung gesorgt. Einig sind wir uns alle, dass es für die bloße Vergabe, Dokumentation und Übermittlung von Diagnosen kein Geld geben darf; aber das ist auch schon lange gesetzlich so geregelt. Allerdings kommen Versorgungsverträge, die bestimmte Patientengruppen oder Erkrankungen betreffen, nicht ohne Diagnosebezug aus. Die Diagnose ist die Sprache der Medizin.
({1})
Deshalb hätte die ursprüngliche Fassung des Gesetzentwurfs in ihrer ganzen Undifferenziertheit und Pauschalität die Versorgungsverträge, die sehr gut funktionieren, erheblich gefährdet. Diese Regulierung war falsch, sie war überflüssig, und deshalb haben wir sie gemeinsam gestrichen.
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Ein weiterer Fokus lag auf dem Lenkungs- und Koordinierungsausschuss. Ich bin sehr froh, dass es uns erneut gelungen ist, den wiederholten Angriff auf die Selbstverwaltung abzuwehren.
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Unsere Sozialversicherung kann ohne die verantwortliche Rolle von Arbeitnehmern und Arbeitgebern nicht funktionieren. Die SPD wird daher die Selbstverwaltung weiterhin gegen alle Angriffe verteidigen.
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Für die Patienten und Patientinnen sind in diesem Gesetz die Maßnahmen, die wir gegen Lieferengpässe ergreifen, von unmittelbarem Interesse. Ein neuer Beirat beim BfArM wird die Versorgungslage mit versorgungsrelevanten und versorgungskritischen Wirkstoffen sehr genau beobachten. Es gibt neue Meldepflichten, es gibt ein neues Monitoring. Vor allem können die Bundesbehörden bei Bedarf Maßnahmen für verlängerte Lagerhaltung oder auch zur Kontingentierung anordnen.
Sollte ein rabattiertes Arzneimittel nicht lieferbar sein, dürfen Apotheken dieses unmittelbar und unbürokratisch austauschen. Für die Patienten entfallen die lästigen Wartezeiten. Und – was für uns Sozialdemokraten besonders wichtig war – die Mehrkosten und Aufzahlungen, wenn das Austauschpräparat teurer ist, sind nicht vom Versicherten zu tragen, sondern von der Krankenkasse.
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Insgesamt können wir mit dem Verhandlungsergebnis sehr zufrieden sein. Mit den Änderungsanträgen haben wir aus dem Gesetzentwurf ein gutes Gesetz gemacht. Ich bitte um Ihre Zustimmung.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Dittmar. – Letzter Redner in dieser Debatte: Stephan Pilsinger für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In den vergangenen Monaten haben wir intensiv und vor allem konstruktiv über die gesetzlichen Neuregelungen des Fairer-Kassenwettbewerb-Gesetzes beraten, natürlich auch darüber, welche Vorschriften vielleicht zu weit greifen.
Wir sind uns einig: Die Maßnahmen zur systematischen Stärkung des Risikostrukturausgleichs sind ganz klar notwendig. Unser Gesundheitssystem entwickelt sich weiter, und wir passen den Finanzausgleich daran an. Nur so können wir einen fairen Wettbewerb zwischen den gesetzlichen Krankenkassen auch in Zukunft sicherstellen.
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Drei Maßnahmen möchte ich besonders hervorheben.
Erstens die Regionalkomponente. Mit ihr beziehen wir im Risikostrukturausgleich künftig die lokal unterschiedlichen Ausgabenstrukturen der einzelnen Krankenkassen ein. So reduzieren wir strukturelle Fehldeckungen, die in der Vergangenheit durch die regionale Verteilung der Versicherten entstanden sind.
Zweitens das Krankheitsvollmodell. Wir berücksichtigen nicht nur 50 bis 80 Krankheiten, sondern alle, das gesamte Krankheitsspektrum. Diese Maßnahme wird Fehldeckungen auf der Ebene einzelner Versichertengruppen reduzieren.
Und drittens der Risikopool. Dieser lässt Versicherte auch in Zukunft von neuen, zumeist auch sehr teuren Therapien profitieren. Wir mindern die finanzielle Belastung für einzelne Kassen und sorgen für eine gleichmäßigere Verteilung der Kosten. Das ist wirklich fair.
Als Arzt und Parlamentarier waren mir zwei Themenbereiche im Gesetz besonders wichtig, und diese haben wir im Laufe der parlamentarischen Beratungen entscheidend verbessert.
Erstens. Das Diagnosevergütungsverbot war gefährlich, und zwar für zahlreiche besondere Versorgungsformen in der gesetzlichen Krankenversicherung, vor allem für die Verträge zur hausarztzentrierten Versorgung.
({1})
Unser Gesundheitswesen wird immer komplexer. Umso größer ist das Vertrauen der Patientinnen und Patienten in ihre Hausärzte. Sie sind ihr wichtigster Ansprechpartner. Die Hausarztverträge stärken die besondere Rolle der Hausärzte und sind damit zu einem wichtigen Standpfeiler unseres Systems geworden.
Mit dem Heil- und Hilfsmittelversorgungsgesetz haben wir 2017 bereits dafür gesorgt, dass Manipulationen in diesem Bereich verhindert werden. Daher war die Verschärfung der Regelungen schlicht nicht so notwendig, wie wir zuerst dachten.
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Deshalb haben wir die Vorschrift gestrichen und damit sichergestellt, dass die Verträge auch in Zukunft weiterentwickelt werden können.
Zweitens. In der neuen Fassung des Gesetzes wird nun auch nicht mehr zwischen hausärztlichen und fachärztlichen Diagnosen unterschieden. Dadurch stellen wir klar: Ärztliche Diagnosen werden auch in Zukunft gleichbehandelt.
Mit diesen Regelungen schaffen wir die richtigen Voraussetzungen für einen fairen Wettbewerb zwischen den Kassen. Gleichzeitig bewahren wir die erforderlichen Rahmenbedingungen für ein funktionierendes Gesundheitssystem. Ich denke, dieses Gesetz ist ein wirklich gelungenes Gesetz.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Stephan Pilsinger. – Damit schließe ich die Aussprache.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Selbstständige IT-Freelancer: ein ganz wichtiges Rückgrat deutscher Innovationskraft. Unternehmen holen sich externes Know-how für zeitlich befristete Innovationsprojekte – unverbrauchte Sicht von außen ist häufig die Quelle von Kreativität und Neuerung –, oder sie überbrücken ihren Spezialistenmangel.
Um es gleich an die linke Seite des Hauses zu sagen: Ich rede weder über Paketzusteller noch über Arbeiter in Schlachthöfen, die wir natürlich weiter vor Ausbeutung schützen müssen. Doch die Wissens- und Kreativarbeiter, vor allem die Freelancer, die müssen wir aus ihrem Korsett befreien.
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Studien zufolge beklagen mehr als die Hälfte der Unternehmen hierzulande: Beim Thema Scheinselbstständigkeit werden Rechtslage und Konsequenzen zunehmend unberechenbar.
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Bei 90 Prozent der Befragten führt dies zum vorzeitigen Ende wichtiger Projekte und Aufträge. Auf ihre Selbstständigkeit stolze Menschen verlieren Einkommensquellen. Rechtsunsicherheit wird so ein immanentes Innovationshemmnis.
15 deutsche große Unternehmen haben im Juli 2018 einen Brief an Herrn Heil geschrieben. Sie forderten den Arbeitsminister auf, einen rechtssicheren Einsatz dieser dringend benötigten Experten zu gewährleisten. Elf Monate später gab es ein Treffen zwischen Bundesarbeitsministerium und den Unternehmen. Hubertus Heil ließ sich entschuldigen. Geändert hat sich nichts.
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Meine Damen und Herren, Commerzbank, Vodafone und andere haben mittlerweile erklärt, in Deutschland auf Freelancer völlig zu verzichten. Sie vergeben jetzt ihre Aufträge ins Ausland.
Noch brenzliger ist die Lage beim Thema „Agiles Arbeiten“, eine innovative Form der Projektarbeit. Dabei werden die Anforderungen und Schritte hin zum Ziel des Projektes nicht mehr zu Beginn des Auftrags komplett vorgegeben, sondern die Beteiligten erarbeiten sie im Team und passen sie regelmäßig an. Das ist eine international komplett übliche Methode, der das deutsche Arbeits- und Sozialrecht aber unerbittlich einen Riegel vorschiebt, sobald Freelancer beteiligt sind. So was beschädigt die Innovationsarbeit in diesem Lande.
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Die Bundesregierung muss hier ohne weiteres Zögern handeln. Sie muss die Deutsche Rentenversicherung auffordern, sich endlich mit dem Thema „Agile Arbeit“ vertraut zu machen. Hier fehlen bis heute die notwendigen Kompetenzen. Es gibt laut einer Kleinen Anfrage nicht einmal interne Schulungen dazu.
Das ganze Gedöns von Hubertus Heil um Fachkräfteeinwanderung ist eine leere Hülse, wenn Freelancer ihr berufliches Glück inzwischen im Ausland suchen. Wir brauchen schnellstens die Reform des Statusfeststellungsverfahrens bei der gesetzlichen Rentenversicherung: klare Positivkriterien für rechtssichere Selbstständigkeit, Mindesthonorare pro Stunde oder pro Tag sowie den Nachweis einer ausreichenden Altersversorgung. Liebe Rot-Rot-Grün-Anhänger, so verhindert man auch Umgehungstatbestände bei den Mindestlöhnen. Agile Arbeitsmethoden dürfen nicht an den Kriterien „Weisungsgebundenheit“ und „Eingliederung“ scheitern.
Schluss damit, meine Damen und Herren, dass freie Unternehmer und Innovationsprofis in das Korsett abhängiger Beschäftigung gesperrt werden, dass sie in die Zeitarbeit gedrückt oder ins Ausland gedrängt werden! Freelancer sind das Plankton der digitalen Gesellschaft, unserer Volkswirtschaft der Zukunft.
Recht herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Dr. Sattelberger. – Nächster Redner: Thomas Heilmann für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren im Saal, auf der Tribüne und an den digitalen Endgeräten! Und in diesem Fall natürlich: Liebe IT-Freelancer! Lieber Herr Dr. Sattelberger, es ist ja ganz gut, wenn es die Opposition gibt, die mal drängelt. Das Thema drängt in der Tat, und insofern gebe ich Ihnen vorab erst mal recht: Wir sind als Koalition da zu langsam, obwohl wir es in den Koalitionsvertrag aufgenommen haben.
({0})
Ich habe es sehr bedauert, dass Sie das Thema erst gestern als Zusatzpunkt auf die Tagesordnung gesetzt haben. Das hat vielleicht auch dazu geführt, dass vier von Ihren acht Seiten im digitalen PDF leer waren, sodass man gar nicht wusste, ob die Begründung jetzt aufhört oder ob die Seiten fehlen.
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Das ist nicht ganz unsymptomatisch, weil der Antrag im Detail doch das eine oder andere enthält, was wir offensichtlich unterschiedlich sehen.
Vorweg, wie gesagt: Das Problem gibt es. Und nichts ist so schlecht für die Wirtschaft wie Rechtsunsicherheit; denn wenn ich erst einen Anwalt fragen muss, der mir dann für viel Geld auf vielen Seiten sagt, er wisse auch nicht genau, wie es ist, dann ist das ein echtes Investitionshemmnis.
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Dann droht nicht nur die Abwanderung ins Ausland, sondern ich glaube, es ist auch nicht in unserem wirtschaftspolitischen Interesse, wenn dann große – meistens ja amerikanische – IT-Konzerne die Aufträge bekommen, weil die Konzerne das Problem nicht haben, dass sie Freelancer beschäftigen.
Wir als Parlamentarier kontrollieren die Regierung, und, Frau Staatssekretärin, wir werden Druck machen; das haben wir uns in der Koalition jetzt gesagt. Wir müssen, wie es im Koalitionsvertrag auch steht, dieses Statusfeststellungsverfahren überarbeiten.
({3})
Worin wir einer Meinung sind und worüber wir in der Koalition noch diskutieren, ist das Thema Positivliste. Ich teile die Meinung Ihrer Fraktion: Rechtsunsicherheit und ‑unklarheit dürfen nie ein Instrument eines Rechtsstaats sein. Wir müssen schon sagen, was wir von den Leuten erwarten, und deswegen sollten wir das klären. Insbesondere dann – wie Sie selber ja auch formuliert haben –, wenn die Leute eine Rentenversicherung nachweisen, ist die Frage, ob sie sich der Solidargemeinschaft entziehen, keine wirkliche Frage.
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Sie wollen hier jetzt sehr viel Statistik haben. Das ist für eine Forderung der FDP überraschend.
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Überraschend finde ich auch, dass Sie die Clearingstelle verlagern wollen. Das ist eine staatliche Stelle; es gibt Rechtsschutz. Ich weiß nicht, warum man das verlegen sollte. Da bin ich anderer Meinung.
Positiv finde ich wiederum, dass Sie die Steuerberater als Prozessvertreter zulassen wollen. Das halte ich für eine Vereinfachung, die richtig ist.
({6})
– War das jetzt ein Steuerberater oder ein IT-Freelancer? Ich weiß es nicht.
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In Ihrem Antrag steht die interessante Formulierung, dass – obwohl es sich hier um Selbstverwaltung handelt – die Regierung klare Maßgaben und Vorgaben machen soll. Die Deutsche Rentenversicherung ist eine Organisation der Selbstverwaltung, und ich finde, das sollte sie auch bleiben. Deswegen finde ich auch diese Formulierung in Ihrem Antrag etwas merkwürdig.
Ich bin sehr für Weiterbildung und halte Weiterbildung für sinnvoll, aber auch das ist eine Frage der Selbstverwaltung, und insofern wäre, glaube ich, ein Appell an die Rentenversicherung richtiger als ein Appell an die Bundesregierung.
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– Na ja, Sie hätten es ja bei der Rentenversicherung – ich komme gleich noch mal darauf zurück – versuchen können; die sind da nämlich weiter, als Sie denken.
Das betrifft auch das letzte Thema, das ich aus Ihrem Antrag ansprechen möchte, nämlich Ihre Forderung, dass das Verfahren digitalisiert und transparenter gestaltet werden sollte. Dazu gehört etwas, was Sie weggelassen haben, nämlich die sogenannte Prognoseentscheidung. Es wäre doch viel besser, man könnte wissen, bevor man einen Auftrag vergeben will, ob das in dieser Konstellation sozialversicherungspflichtig oder sozialversicherungsfrei ist. Das steht in Ihrem Antrag nicht, aber ich finde, das wäre eine sehr entscheidende Verbesserung.
In Ihrem Antrag steht auch nicht, dass wir das Onlinezugangsgesetz und die entsprechenden Verfahren haben, dass die Verfahren bei der Deutschen Rentenversicherung priorisiert sind und dass wir, wenn alles gut läuft, in diesem Jahr das digitale Verfahren bekommen werden.
({9})
Da Sie den Antrag praktisch erst gestern Abend auf die Tagesordnung gesetzt haben und meine Vorbereitungszeit deswegen etwas beschränkt war, ist es mir nicht gelungen, die richtigen Leute ans Telefon zu kriegen, um sie zu fragen, wie weit das Verfahren genau ist. Deswegen kann ich Ihnen nicht endgültig versprechen, dass wir das bis zum Jahresende schaffen.
({10})
Zusammenfassend: Ihr Thema ist richtig, Ihr Thema ist wichtig, und es ist dringend. Ihre Lösungsvorschläge sind mir, ehrlich gesagt, zu ungenau, und ich bin mir ganz sicher: Herr Dr. Rosemann wird das für die Koalition noch im Weiteren ausführen. Wir sind aber beide einer Meinung: Wir kümmern uns drum.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Thomas Heilmann. – Nächster Redner für die AfD-Fraktion: Martin Hebner.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Anliegen der FDP ist richtig und berechtigt, und eine Lösung ist mehr als überfällig; denn, Herr Heilmann, das Problem ist alles andere als neu. Mit einer sozialistischen Herangehensweise an den Arbeitsmarkt wird seitens der letzten circa fünf Regierungen versucht, jedwede Form der Arbeit von IT-Freelancern zu konterkarieren. Von dieser Regierung werden wie schon von den Vorgängerregierungen – unter anderem im Übrigen auch unter Beteiligung der FDP, von 2009 bis 2013 – selbstständige IT-Freelancer als störend betrachtet.
In diesem Haus wird viel über Digitalisierung schwadroniert, es wird über deren Zukunftsnotwendigkeit diskutiert, und es wird die Bedeutung für die Wirtschaft hervorgehoben, aber auf die Leute, die vor allem für die Flexibilität und den Einsatz am Arbeitsmarkt mit sorgen, die IT-Freelancer, wird in bürokratischer Art und Weise herabgeschaut, und es kümmert sich kaum einer um deren Anliegen. Das muss dringend aufhören, meine Damen und Herren.
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Ich hoffe deswegen, dass die Regierung Ernst macht – und bitte nicht erst bis Ende des Jahres. Hier muss mehr Dynamik rein. Vielleicht nehmen Sie ein paar IT-Freelancer hinzu; das wäre ratsam.
Ausschüsse wie der Ausschuss für Arbeit und Soziales beschäftigen sich mit vielem, aber die Leute, die hier im Land als Leistungsträger arbeiten, kommen dabei kaum vor.
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Es wird ihnen dagegen schwergemacht, und zwar gerade mit der Statusfeststellung, die rückwirkend erfolgt und wie ein Damoklesschwert über Jahre hinweg über ihnen schwebt. Es werden in dem Fall wirklich Arbeiten unterbrochen, und in den Firmen wird die weitere Projektarbeit verunmöglicht.
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Diese Vorgehensweise ist untragbar.
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„Selber schuld“ heißt es im Übrigen bei vielen dieser hier etwas Linksgelagerten. Warum? Weil die Leute, die da tätig sind und viel arbeiten, gut verdienen; sie werden als sogenannte Besserverdienende bezeichnet. Das werden Sie ja schon sukzessive irgendwo als abwertend einordnen.
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Und das ist das Schlimme: dass die Leute, die in diesem Land etwas leisten, von Ihnen nicht mehr wertgeschätzt werden.
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Das ist ein Unding, und das muss dringend beendet werden. Welch verquere Welt!
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Euer Kernproblem ist das sogenannte Statusfeststellungsverfahren, nachgelagert, wie gerade schon gesagt wurde, die Beurteilung zwei Jahre rückwirkend. Das ist in dem Falle jeglichem rechtlichen Anstand zuwiderlaufend.
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Die Art und Weise, wie man hier Menschen, die arbeiten wollen, behandelt, ist ein Unding.
Hier wurde gerade schon die Abwanderung angesprochen. Meine Damen und Herren, wir haben pro Jahr in Deutschland eine Abwanderung von über 100 000 Fachkräften. Im Übrigen – ich weiß es sehr genau; ich bin auch Diplom-Informatiker –: Von vielen Fachkräften, von vielen meiner Kollegen höre ich, dass sie jetzt in der Schweiz, in Norwegen oder wo auch immer arbeiten, weil die Arbeit hier in Deutschland verunmöglicht wird. Das muss aufhören. Genau diese Problematik ist auch für die Industrie ein Riesenthema. Dass ein Arbeitsminister sich auf solche Themen nicht so schnell wie möglich meldet und sich darum kümmert, ist ein Skandal per se und auch nicht mehr hinnehmbar.
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Ein zentraler Fehler, liebe Kollegen von der FDP, in Ihrem Antrag ist: Sie heben ab auf agile Methoden. Ich nehme an, es wird wahrscheinlich hier in diesem Saal kaum jemandem bekannt sein, was darunter zu verstehen ist.
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Ich bin in agilen Projekten tätig gewesen,
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genauso wie auch in konventionellen Projekten. Man muss ganz klar sagen: Der einzige Unterschied, der hier besteht, liegt in dem Fall in der Frage der Arbeitsstrukturierung und der Vorgehensweise. Aber das hat nichts damit zu tun, dass das jetzige Statusfeststellungsverfahren dringend abzulösen ist.
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Und es hat überhaupt nichts mit der Statusfeststellung zu tun. Denn wenn Sie da irgendeine Differenzierung machen würden, liebe Kollegen von der FDP, müssten Sie auch Führerscheine jeweils differenziert nach Diesel- und Ottomotoren ausgeben. Das ist Unsinn.
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Generell möchte ich Ihnen ganz klar sagen: Wir unterstützen Ihr Vorgehen. Es ist dringende Notwendigkeit, und wir wollen hier unbedingt für die Leistungsträger in unserer Gesellschaft Abhilfe schaffen.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der AfD – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was war das jetzt? Wo war der Inhalt der Rede?
Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Dr. Martin Rosemann.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Dass ausgerechnet die AfD, die das Klima in diesem Land vergiftet, die Abwanderung von Fachkräften beklagt, ist an Hohn nicht zu überbieten.
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– Herr Hebner, wären Sie regelmäßig im Ausschuss für Arbeit und Soziales – ich weiß gar nicht, wann Sie das letzte Mal da gewesen sind –, dann wüssten Sie, dass wir die Veränderung der Arbeitswelt in allen Facetten regelmäßig diskutieren. Sie können ja gerne mal wieder vorbeikommen.
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Jetzt aber zurück zum Antrag der FDP, lieber Herr Sattelberger. Sie haben ja recht: Die Arbeitswelt ist im Wandel, und es verlangt nach neuen Antworten.
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Aber ich finde, das Thema eignet sich einfach nicht zur Skandalisierung.
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Sie haben den Brief der 15 Unternehmen an das BMAS erwähnt. Es hat einen Termin mit den 15 Unternehmen auf Staatssekretärsebene gegeben.
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Wir haben volles Vertrauen in Staatssekretär Böhning, dass er da die richtigen Gespräche führt.
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– Es wurde ein weiteres Gespräch in Aussicht gestellt.
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Darüber hinaus hat es Fachgespräche mit vielen Interessenverbänden gegeben, auch mit Vertretern aus der IT-Branche. Die selbstständige Statusfeststellung war Thema im Zukunftsdialog des BMAS; das hat einen breiten Raum eingenommen.
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Ich weiß nicht, ob Sie das nicht mitgekriegt haben: Da wurden viele der Reformoptionen für das Statusfeststellungsverfahren diskutiert.
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Kollege Heilmann hat schon darauf hingewiesen, dass sich das Thema im Koalitionsvertrag findet, übrigens auf Initiative der SPD.
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Ich kann es noch mal vorlesen: „Das Statusfeststellungsverfahren für Selbstständige wollen wir vereinfachen und zwischen den unterschiedlichen Zweigen der Sozialversicherung widerspruchsfrei ausgestalten.“ Ich kann Ihnen sagen: Dieses Vorhaben ist im Ministerium in Vorbereitung. Wir werden uns das auch im Parlament anschauen.
Im Übrigen machen wir noch mehr: Wir werden die Selbstständigen in die gesetzliche Rentenversicherung einbeziehen.
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Ja, meine Damen und Herren, damit wird dann auch die sozialrechtliche Bedeutung des Statusfeststellungsverfahrens abnehmen. Es wird nicht mehr die entscheidende Frage sein, ob Rentenbeiträge in die gesetzliche Rentenversicherung eingezahlt werden oder nicht.
Aber eines, Herr Sattelberger, muss ich Ihnen schon sagen: Durch Ihre einseitige Sicht auf die Welt, auf die Welt von Selbstständigen, im Übrigen auch im Kontext der Digitalisierung, nehmen Sie einfach nicht zur Kenntnis, dass es gleichzeitig Fälle von Missbrauch gibt, zum Beispiel bei selbstständigen Kurierfahrern oder Paketdienstleistern.
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– Na ja, Sie haben einen Satz gesagt. Sie haben gesagt, darüber wollen Sie heute nicht reden.
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Aber das gehört ja zusammen. Es sind doch zwei Seiten einer Medaille.
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Die sind oft weisungsgebunden mit täglich vorgegebenen Arbeitszeiten. Sie müssen sich teilweise den Urlaub genehmigen lassen oder ein Fahrzeug mit dem Firmenschild des Transportunternehmens kennzeichnen. Sie haben eben auf der einen Seite die Nachteile von Selbstständigkeit, auf der anderen Seite aber nicht die Vorteile von Selbstständigkeit. Sie sind nicht sozial abgesichert. Sie haften selber, und sie haben keine Unterstützung beispielsweise durch einen Betriebsrat.
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Deswegen ist es wichtig, dass wir da auch weiterhin genau hinschauen. Deswegen werden wir einer Positivdefinition von Selbstständigkeit, die Sie fordern, die sehr missbrauchsanfällig ist, auch nicht zustimmen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Dr. Rosemann. – Nächste Rednerin: Jessica Tatti für die Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Dies ist innerhalb kürzester Zeit der zweite Antrag der FDP zum Statusfeststellungsverfahren.
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In der Tat ist es ein relevantes Thema, endlich gesetzliche Klarheit herzustellen, wer selbstständig ist und wer nicht. Aber wirklich inhaltlich Neues steht im Gegensatz zum Antrag von Johannes Vogel von vor nur wenigen Wochen hier nicht drin, zumindest nicht zum Statusfeststellungsverfahren.
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Neu ist allerdings die Erwähnung eines Briefes von den Vorständen 15 deutscher Großunternehmen, darunter Bosch, BASF und Commerzbank. Mit dabei ist auch die Deutsche Telekom, bei der Sie, Herr Sattelberger, bis 2012 selbst im Vorstand saßen.
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Diese haben zur Reform des Statusfeststellungsverfahrens einen Beschwerdebrief an Minister Hubertus Heil geschrieben. Im Nachgang des Beschwerdebriefes gab es offenbar ein Treffen zwischen den Vorständen und dem Bundesarbeitsministerium.
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Hubertus Heil war nicht persönlich dabei, sondern ließ sich von seinem Staatssekretär Herrn Böhning vertreten – ein völlig normaler Vorgang.
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Für die FDP ist das anscheinend ein solcher Affront, dass sich jetzt das ganze Parlament damit befassen soll. Denn schon im Punkt 1 dieses Antrags fordern Sie eine Neuauflage des Termins für die Konzerne, bei dem Herr Heil anwesend sein soll.
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Herr Sattelberger, was glauben Sie eigentlich, wie viele Menschen es gibt, die sich in einer schwierigen Situation befinden und die froh und dankbar wären, wenn sich die Regierung die Zeit nähme, sie anzuhören?
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Und Sie haben als Abgeordneter nichts Besseres zu tun, als stellvertretend für Großkonzerne hier herumzujammern, dass diese ihre Wünsche nur an einen Staatssekretär und nicht an den Minister persönlich richten können?
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Das ist so unfassbar abgehoben, dass es mich echt wütend macht.
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Herr Sattelberger und Kolleginnen und Kollegen der FDP, das ist einfach nur lächerlich!
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Es fällt mir schwer, von dieser dreisten Klientelpolitik zur Fachpolitik zu kommen. In den nachrangigen Punkten Ihres Antrags fordert die FDP eine Reform des Statusfeststellungsverfahrens. Auch Die Linke will Rechtssicherheit für die Unternehmen und für die Freelancer,
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für diejenigen unter ihnen, die selbstbestimmt und gut bezahlt als Selbstständige arbeiten, ob in der IT-Branche oder woanders.
Vor allem aber will meine Fraktion den Missbrauch von Selbstständigkeit stoppen, wenn Unternehmen Jobs ausgliedern, um Arbeitnehmerrechte, Tarifverträge und Sozialversicherungsbeiträge zu umgehen. Das wird meine Fraktion nicht hinnehmen.
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Es gibt immer mehr prekäre Solo-Selbstständige, die zu Löhnen weit unter dem Mindestlohn und ohne soziale Absicherung hart arbeiten, zum Beispiel auf Plattformen und in der Paketzustellung, Herr Sattelberger.
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Die Bundesregierung muss daher endlich Schluss machen mit ihrer reinen Ankündigungspolitik. Legen Sie endlich einen Gesetzentwurf zur Statusfeststellung und zur sozialen Absicherung von Solo-Selbstständigen vor, am besten, bevor die FDP den nächsten Antrag dazu einreicht!
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Vielen Dank, Kollegin Tatti. – Nächster Redner: für Bündnis 90/Die Grünen Markus Kurth.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jessica Tatti, ich bin dir wirklich dankbar, dass du Punkt eins dieses Antrags passend gewürdigt hast.
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In der Tat muss man sagen: Mit diesem Antrag wird an vielen Stellen ja geradezu grotesk das Klischee der FDP als Klientelpartei bedient, indem sie sich hier als Vermittler eines Termins beim Minister andient und indem sie nur eine kleine Gruppe,
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die von dem Problem der Statusfeststellung betroffen ist, gesondert herausnimmt, ohne sich das gesamte Spektrum der Selbstständigen anzusehen.
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Das Anliegen als solches, das Statusfeststellungsverfahren zu vereinfachen, ist ja ein richtiges. Ihr Kollege Johannes Vogel hat vor einigen Wochen einen wesentlich differenzierteren und qualifizierteren Antrag vorgelegt. Und auch meine Fraktion hat vorgestern einen Antrag in der Fraktionssitzung beschlossen, den wir hier im Bundestag einbringen werden. Darin sagen wir eindeutig, dass Selbstständige mit projektbasierten Aufträgen vor Bürokratiehürden und nachträglichen Statusaberkennungen geschützt werden müssen. Wir setzen auch einen differenzierten Kriterienkatalog auf, nach dem in vereinfachter Weise die Clearingstelle der Rentenversicherung entscheiden soll. Das tut ja in der Tat not.
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Aber weil man eben nicht für einzelne Gruppen Sonderregelungen macht, gehört es auch dazu, sich das gesamte Spektrum von Selbstständigkeit und Scheinselbstständigkeit – die gibt es leider auch – anzuschauen. Hier ist zu Recht vom Kollegen Rosemann von Berufsgruppen wie Kurierdienstfahrern und vielen anderen geredet worden, die auch geschützt werden müssen.
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Politische Kunst zeichnet sich dadurch aus, dass man sich die Wirklichkeit in der gesamten Breite ansieht.
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Das geht Ihnen, jedenfalls mit diesem Antrag, komplett ab. Wenn man sich Ihren Antrag ansieht – auch wir bekommen von verschiedenen Lobbyverbänden Briefe, Forderungskataloge zugeschickt –, dann stellt man fest, dass er erkennbar in großen Teilen abgeschrieben ist, einfach Copy-and-paste. Auch das ist nicht unbedingt die Art von parlamentarischer Arbeit, die ich erwarten würde, wenn man sich mit dem Problem ernsthaft auseinandersetzen will.
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Lassen Sie mich abschließend noch eins sagen: Auf die einfachste Möglichkeit, auf das Statusfeststellungsverfahren möglicherweise ein Stück weit zu verzichten oder es deutlich zu vereinfachen, sind Sie gar nicht gekommen. Wenn Selbstständige in der gesetzlichen Rentenversicherung pflichtversichert wären, würde das Problem wesentlich einfacher zu lösen sein.
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Dann könnten wir zum Beispiel Opt-out-Regelungen machen, wonach Selbstständige mit einem besonders hohen Einkommen sich dafür entscheiden können, auf das Statusfeststellungsverfahren zu verzichten.
Sie sollten an dieser Stelle mal in sich gehen und über das Konzept der Bürgerversicherung nachdenken; dann kommen Sie vielleicht auch auf den Trichter, dass es ganz einfach geht.
Danke.
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Vielen Dank, Markus Kurth. – Nächster Redner: Max Straubinger für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir beschäftigen uns ja wieder mit dem Statusfeststellungsverfahren. Vor drei oder vier Wochen haben wir hier ja bereits einen ähnlichen Antrag der FDP diskutiert; darauf haben mehrere Vorredner auch schon hingewiesen.
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Ich habe bei „Rubikon“ nachgeschaut und habe gemerkt, dass es praktisch nur einen Unterschied gibt, nämlich dass im ersten Antrag der FDP Herr Dr. Sattelberger vergessen worden ist.
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Und deshalb gibt es einen neuen Antrag.
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Offensichtlich sind Sie von der FDP sich nicht einig; denn es ist ja bezeichnend – normalerweise sind ja die Arbeitsmarktpolitiker mit zuständig für diese Frage –, dass der Kollege Vogel diesmal nicht in der ersten Reihe sitzt. Er sitzt ganz weit hinten, beobachtet das jetzt einmal von der Hinterbank.
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Lieber Johannes Vogel, mir ist einfach aufgefallen: Also, offensichtlich habt ihr von der FDP jetzt eine linke und eine rechte Abteilung für die Behandlung von einzelnen Fragen. Das ist ja wirklich hervorragend.
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Viel Spaß dabei! Aber – ich sage es ganz ernsthaft –: Die Zeit ist uns eigentlich zu schade, die fast gleiche Vorlage einer Fraktion gleich unter zwei Tagesordnungspunkten diskutieren zu müssen, weil da in der Regel nicht viel Neues rauskommen kann.
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Es ist ja so, dass sich die Bundesregierung mit dieser Frage beschäftigt; wir haben es auch im Koalitionsvertrag hinterlegt. Aber es geht nicht nur um die Freelancer, sondern es geht um eine grundsätzliche Beurteilung, ob eine Scheinselbstständigkeit vorliegt, und es geht auch um Abgrenzungen. Der Inhalt des Antrags unterscheidet sich ja nicht groß von den Vorschlägen, die im ersten Antrag, für den Johannes Vogel hier gekämpft hat, enthalten sind.
Es wird eine Positivliste gefordert. Die FDP hat sich ja auf der linken Seite und rechten Seite darüber Gedanken gemacht; aber sie hat noch keine Kriterien für eine Positivliste aufgestellt.
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Auch eine Positivliste bedeutet, dass eine Abgrenzung vorgenommen wird. Also, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, es wird schließlich auch wiederum möglicherweise Streitfälle darüber geben, ob jemand als selbstständig zu beurteilen ist oder als Arbeitnehmer oder als jemand, der in arbeitnehmerähnlicher Tätigkeit gearbeitet hat. Das bedeutet letztendlich auch Streit.
Obwohl Sie in Ihrer Beurteilung der Rentenversicherung eine, gelinde gesagt, sehr subjektive Einstellung unterstellen, möchte ich durchaus darauf hinweisen, dass bei den ganzen Streitverfahren im vergangenen Jahr 65 Prozent der Anträge positiv verbeschieden worden sind. Im Jahr vorher waren es 62 Prozent. Also, ich sehe das Problem gar nicht. Ich glaube, dass wir auch bei einem neuen Verfahren ähnliche Ergebnisse haben werden, dass nämlich bei Gerichtsentscheidungen die Entscheidungen der Rentenversicherungen zu 70 Prozent bestätigt werden. Das Ganze ist also ein ähnlicher Fall.
Dass es Irrtümer in einer Beurteilung geben mag, ist menschlich und liegt in der Natur der Sache. Das ist bedauerlich und kann dann möglicherweise in einem weiteren Verfahren begradigt werden. Aber alles, was Sie vorschlagen, würde nicht dazu führen, dass wir dann eine heile Welt und eine heile Beurteilung haben.
Herr Straubinger, erlauben Sie eine Zwischenfrage?
Moment. – Wenn Sie glauben, allein mit einer Einkommensregelung die Selbstständigkeit angemessen erfassen zu können, dann frage ich: Welches Einkommen soll die Grundlage sein? Selbst vor dieser Frage drücken Sie sich.
Herr Straubinger, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung von Herrn Hebner?
Ja, bitte.
Herr Straubinger, herzlichen Dank für die Erlaubnis der Zwischenfrage. – Sie haben so nett und wirklich sehr unterhaltsam gerade geschildert, dass sich die Anträge ähneln. Aber es steht ja immer noch die Frage im Raum: Wann tun Sie was? Denn wenn Sie sagen, es werde von den Gerichten positiv beschieden – 62 Prozent, 65 Prozent –, dann zeigt sich doch ganz klar, dass hier dringend eine gesetzliche Korrektur erforderlich ist. Wir können doch so nicht weitermachen. Was Sie momentan beschreiben, ist: Es gehen Leute Aufträge ein und bekommen dann in dem Fall ganz klar Bescheid, dass sie als „wahrscheinlich scheinselbstständig“ eingestuft wurden. Das schafft enormen Ärger. Das schafft enorme Unsicherheit. Das führt häufig auch zu Unterbrechungen von Projekten. Wollen Sie das? Sehen Sie das als normal an? Hier ist auch dringendes Handeln erforderlich.
Sie sagen, Sie überlegen jetzt erst mal. Wie lange wollen Sie denn noch überlegen? Wie lange überlegt die Bundesregierung noch? Das dauert doch jetzt schon mehrere Legislaturperioden an. Das ist doch ein denkwürdiger Zustand.
Gut. Die Frage ist angekommen. – Herr Straubinger.
Herr Kollege Hebner, es geht eben immer auch um Abgrenzungsfragen, und Abgrenzungsfragen sind nicht so einfach zu entscheiden,
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wie man es zum Beispiel in einer lockeren Diskussion tut. Sie handeln nicht verantwortungsvoll – das ist völlig klar –, in dem Fall auch hier, wie ich es sehe.
({1})
Man muss feststellen: Wir arbeiten daran.
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Wir sind daran interessiert, dass für beide Teile, Herr Kollege Hebner, Rechtssicherheit besteht: für den Freelancer genauso wie für das Unternehmen, das einen Freelancer beschäftigt. Das ist entscheidend. Da gibt es entsprechende Kriterien, die wir jetzt festgelegt haben.
Ich kann Ihnen den Gesetzestext ja vorlesen. Es heißt im Gesetz zur Definition der nichtselbstständigen Arbeit:
Beschäftigung ist die nichtselbständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis. Anhaltspunkte für eine Beschäftigung sind eine Tätigkeit nach Weisungen und eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers.
So weit, so gut oder vielleicht auch so schlecht; denn man kann sich darüber natürlich ordentlich auseinandersetzen.
Aber Sie, liebe Kollegen von der FDP, drücken sich ja um die Formulierungen. Sie könnten ja auch einen Gesetzentwurf abliefern. Sie drücken sich aber um die Formulierungen.
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Glauben Sie, dass Sie dann bessere Abgrenzungskriterien finden würden,
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und zwar für alle Beschäftigungsverhältnisse, nicht nur für die Freelancer, sondern für alle, für die ganze Breite der Wirklichkeit des Arbeitslebens, finden würden? Da drücken Sie sich.
Deshalb: Es ist schön, dass wir über den Antrag diskutiert haben. Aber ich habe eine Bitte an die Kollegen: Einigt euch zuerst, ob die linke oder die rechte Abteilung einen Antrag einbringen darf.
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Wenn ein Antrag gestellt wird, wäre es schön, wenn alle maßgeblichen Personen, auch Herr Dr. h. c. Sattelberger, mit dabei wären.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank, Max Straubinger. – Die letzte Rednerin in dieser Debatte: Gabriele Hiller-Ohm für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, vielen Dank für Ihren durchaus bemerkenswerten Antrag, offenbart er doch wieder einmal sehr deutlich, für wen Sie hier im Bundestag Politik machen. Es sind immer wieder die Gutverdienenden, für die sich die FDP etwas einfallen lässt.
Sie setzen sich diesmal für hochqualifizierte IT-Fachkräfte ein, die als Selbstständige arbeiten. Für diese kleine Gruppe fordern Sie Sonderregelungen.
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Ja, auch uns liegen die Freelancer am Herzen. Ja, wir werden auch für diese Gruppe das Statusfeststellungsverfahren reformieren, das festlegt, ob jemand selbstständig oder scheinselbstständig arbeitet. Das haben wir mit der CDU und der CSU im Koalitionsvertrag so vereinbart. Mein Kollege Herr Rosemann hat bereits darauf hingewiesen.
Diese Neuregelung, meine Damen und Herren, wird sich dann aber auf alle Selbstständigen beziehen und nicht nur auf die Freelancer. Wir haben im Gegensatz zu Ihnen, liebe FDP, nämlich das Wohl aller Selbstständigen im Blick und nicht nur das einer kleinen Gruppe.
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Über 4 Millionen Menschen arbeiten in Deutschland als Selbstständige. Mehr als die Hälfte davon sind Solo-Selbstständige, und das sind in der Mehrzahl eben nicht die von Ihnen hofierten hochqualifizierten IT-Spezialisten. Ganz im Gegenteil: Solo-Selbstständige gibt es mittlerweile in sehr vielen unterschiedlichen Bereichen.
Die IT-Freelancer machen da gerade einmal 5 Prozent aus. Es handelt sich also um eine sehr kleine Gruppe. Sehr viele Solo-Selbstständige arbeiten hart. Sie verdienen aber oft sehr viel weniger als festangestellte Beschäftigte. Leider reicht es dann bei vielen Solo-Selbstständigen noch nicht einmal für einen guten Krankenschutz, geschweige denn für eine auskömmliche Altersvorsorge. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, diese Menschen sind Ihnen offensichtlich egal – uns nicht!
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Wir haben bereits den Mindestbeitrag zur Krankenversicherung für Selbstständige halbiert. Wir wollen auch die Selbstständigen in die gesetzliche Altersvorsorge miteinbeziehen; das wird ihnen richtig helfen – Herr Kurth hat darauf hingewiesen –, und das wird auch viele Probleme lösen.
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Unser Bundesarbeitsminister Hubertus Heil arbeitet darüber hinaus intensiv an den nötigen gesetzlichen Rahmenbedingungen für die Arbeit der Zukunft.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen durchsetzen, dass Menschen, ob angestellt oder selbstständig, gute Arbeitsbedingungen haben und faire Löhne erhalten. Damit sind im Übrigen alle Menschen gemeint und nicht nur diejenigen, die schon privilegiert sind und für die sich die FDP so gerne einsetzt. Wir, die SPD, kämpfen für gute Arbeit und gerechte Löhne für alle. Das, meine Damen und Herren, macht den großen Unterschied zur FDP.
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Vielen Dank, Frau Kollegin Hiller-Ohm. – Damit schließe ich die Aussprache.
Frau Präsidentin, ich verspreche: Da ist auch etwas für Sie dabei.
Gut.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute ein Gesetz abschließend, das zwei Bereiche betrifft, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Zum einen geht es um die Regelung für den Finanzmarkt, zum anderen betrifft dieses Gesetz die Landwirtschaft in unserem Land. So unterschiedlich diese beiden Bereiche auch sein mögen, eine Sorge verbindet die beiden: Es geht um den Schutz der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. Es kann nicht sein, dass Gewinne privat eingestrichen, aber Verluste der Allgemeinheit auferlegt werden.
({0})
Dem wollen wir auch durch diese Vorschriften vorbeugen.
Im Bereich des Finanzmarktes treffen wir Regelungen zu sogenannten zentralen Gegenparteien. Zentrale Gegenparteien sind wichtige Akteure im internationalen Finanzmarkt. Bei bestimmten Handelsaktivitäten treten sie als Käufer und Verkäufer auf. Sie stellen eine verlässliche Abwicklung von Handelsgeschäften sicher. Sie wirken als Stabilisatoren. Sie sorgen in einem Marktsegment für Transparenz, welches in der Finanzkrise 2008 intransparent war; auch deshalb war die Finanzkrise 2008 so möglich.
Wesentliche Teile des Derivatehandels wurden bilateral und an der staatlichen Aufsicht vorbei abgewickelt. Staatliche Aufsichtsstellen waren in der Krise blind. Es war nicht möglich, rechtzeitig angemessene Maßnahmen zu ergreifen. Deshalb, Kolleginnen und Kollegen, haben die G-20-Staaten für die Marktteilnehmer die Pflicht eingeführt, bestimmte außerbörsliche Derivategeschäfte über zentrale Gegenparteien abzuwickeln. Das schafft Transparenz und dämpft das Bewertungsrisiko. Damit wird für Finanzstabilität gesorgt.
Jetzt gilt es aber, diese Stabilisatoren selbst widerstandsfähiger zu machen.
({1})
Zentrale Gegenparteien managen nicht nur Risiken, sie tragen selber Risiken in sich. Im Krisenfall können sie selbst zu einer Bedrohung für das Finanzsystem werden. Bisher fehlen Regelungen, die zentrale Gegenparteien verpflichten, Sanierungs- und Abwicklungspläne aufzustellen und zu aktualisieren. Das ist der Regelungsgegenstand dieses Gesetzes.
Mit diesen gesetzgeberischen Maßnahmen wollen wir sicherstellen, dass der Staat im Fall einer erneuten Finanzkrise schnell und wirksam handeln kann. Wir wollen sicherstellen, dass zentrale Gegenparteien auch im Krisenfall handlungsfähig bleiben.
Der zweite wichtige Regelungsgegenstand dieses Gesetzes, liebe Frau Präsidentin, betrifft den Klimawandel und unsere Landwirtschaft. Der Klimawandel findet jetzt statt, auch wenn es einige noch leugnen wollen. Wetterextreme nehmen zu und treffen landwirtschaftliche Betriebe mitunter sehr hart, wie zum Beispiel im Dürresommer 2018. Betriebe waren in ihrer Existenz bedroht. Allein der Dürresommer 2018 wird den Bund und die Länder 340 Millionen Euro kosten – Geld, das Landwirte erhalten, die nicht gegen Dürre versichert waren. Denn der Anteil der gegen Dürre versicherten Ackerfläche ist verschwindend gering.
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Entsprechend groß ist die Nachfrage nach öffentlichem Geld im Schadensfall.
Nur 0,4 Prozent der Ackerfläche in Deutschland war 2018 gegen Dürreschäden versichert. Der Grund: Diese Versicherungen sind zu teuer und werden deshalb nicht nachgefragt. Wir wollen beides: unsere Landwirtschaft unterstützen, hier besser vorzusorgen, und dadurch auch das Risiko für den Steuerzahler, einzuspringen, reduzieren.
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Deshalb wollen wir die Beiträge für Dürreversicherungen steuerlich begünstigen. Künftig soll der Steuersatz für Dürreversicherungen nicht 19 Prozent, sondern 0,3 Prozent betragen.
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Damit wird der Steuersatz der Dürreversicherungen mit dem bereits bestehender Versicherungen, zum Beispiel gegen Hagelschlag, Sturm, Starkfrost, Starkregen und Überschwemmungen, gleichgestellt. Wir haben die Absicht, mit dieser Privilegierung die versicherte Ackerfläche in den kommenden Jahren signifikant zu erhöhen. In drei Jahren wollen wir das Gesetz im Hinblick auf seine Wirksamkeit evaluieren.
Zum Abschluss dieses Verfahrens danke ich den Kolleginnen und Kollegen der meisten hier im Hause vertretenen Fraktionen und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Finanzministerium für die gute Zusammenarbeit. Ich bitte um Zustimmung.
Vielen Dank.
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Vielen Dank, Herr Kollege Hakverdi. – Viel gelernt! – Nächster Redner: Stefan Keuter für die AfD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Hakverdi hat gerade schon ganz gut in das Thema eingeführt; wir sind im Thema drin. Worüber reden wir? Über zentrale Gegenparteien, sogenannte CCPs, wie beispielsweise das London Clearing House oder die Deutsche Börse. Es soll ein Fonds für Insolvenz, für Ausfallfälle, für Schadensfälle befüllt werden, und es sollen Abwicklungspläne erstellt werden. Das Ziel ist verstanden. Die Finanzmarktstabilität steht im Vordergrund, und die Kosten sollen im Schadensfall den Steuerzahler entlasten bzw. gar nicht erst treffen. Die Verschärfung der Regulatorik schreitet voran.
Die beste Maßnahme gegen Ausfälle ist aber ein wettbewerbsfähiger Bankensektor, der auch Geld verdient: durch Kredite, durch Fristentransformationen. Bei den jetzigen Rahmenbedingungen und insbesondere bei diesem katastrophalen Zinsniveau nehmen wir allerdings den Banken die Möglichkeit, hier Geld zu verdienen. Aus meiner Sicht sind nicht die CCPs, sondern die Clearing Members das potenzielle Ausfallrisiko. Das ist aber auch sehr überschaubar, weil die Banken, die es in der Regel betrifft, eh schon sehr stark reguliert sind. Die Höhe der Sicherheitsstellungen wird regelmäßig überprüft und angepasst.
Leider kamen im Vorfeld vom Bundesministerium der Finanzen und in der öffentlichen Anhörung keine Zahlen, keine belastbaren Prognosen, welche finanziellen Belastungen auf die CCPs zukommen sollen. Ein Ausfallszenario ist für mich nur vorstellbar bei chaotischen Märken, wenn keine Bewertungen mehr möglich sind und wenn die Clearing Members keine Sicherheiten mehr stellen können. Dann erst droht die Insolvenz eines CCPs. Da hilft meiner Meinung nach auch überhaupt gar kein Haftungsfonds mehr. Das wäre dann der Crash unseres Finanzsystems.
Die öffentliche Anhörung hat für mich zwei Erkenntnisse gebracht. Die erste ist, dass es gar keine Proberechnungen und keine Szenarioanalysen des Bundesfinanzministeriums gibt. Die zweite Erkenntnis ist, dass die Spitzenverbände der Kreditwirtschaft und die CCP selber gegen diese geforderte verschärfte Regulatorik überhaupt gar nicht aufbegehren. Sie scheinen sich in ihr Schicksal zu fügen. Gegen überbordende Regulatorik setzt sich die AfD ein. Da aber die Marktteilnehmer selber überhaupt keine Anstalten machen, sich hiergegen zu wehren, wollen sie das offensichtlich. Also enthalten wir uns in diesem Punkt.
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In diesen Gesetzentwurf wurde allerdings noch ein zweites Thema eingearbeitet: der Tatbestand der Dürre unter den Elementarschäden. Aus Verfahrensgründen soll das noch schnell mitbeschlossen werden. Das ist Ökopopulismus.
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Wenn Sie mich fragen, hat man dies nur gemacht, weil die Landwirte auf den Straßen standen – hier in Berlin an exponierten Positionen.
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Sie haben kleine Steuergeschenke ausgearbeitet.
Erschreckend ist auch hier, dass das Bundesministerium der Finanzen im Berichterstattergespräch überhaupt nicht mit Studien oder Forecasts aufwarten durfte. Sie wussten überhaupt nicht, was dieses Risiko, diese Absicherung, diese Steuererleichterung kosten soll.
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Ich frage mich: Nützt es den versicherten Anbauflächen, wenn wir jetzt ein bisschen an der Versicherungssteuer drehen? Ich sage Ihnen: Nein. Das Grundproblem ist, dass die Policen viel zu teuer sind.
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Zur Dürre selber – dass ich einmal zum Thema Klima hier sprechen darf, hätte ich nie gedacht –: Das Klima wandelt sich. Das Klima hat sich in Hunderttausenden von Jahren immer wieder mal gewandelt: Es gab Wärmephasen, es gab Kältephasen.
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– Richtig. Wir kommen zu den Eiszeiten. – Die letzten kleinen Eiszeiten waren beispielsweise Mitte des 15. Jahrhunderts und von circa 1600 bis 1750. Die NASA erwartet für Mitte dieses Jahrhunderts die nächste kleine Eiszeit. „Anpassung“ ist hier das Zauberwort. Der menschengemachte Klimawandel ist hier nur marginalst.
Die AfD steht an der Seite der Landwirte. Dass auch die Versicherung gegen das Dürrerisiko steuerlich begünstigt wird, begrüßen wir.
Vielen Dank.
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Danke schön. – Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Matthias Hauer.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir beschließen heute ein weiteres Gesetz, um Risiken an den Finanzmärkten zu reduzieren. Dabei geht es diesmal um zentrale Gegenparteien, sogenannte CCPs. „CCP“ steht für „Central Counterparty“. Was macht eine solche „zentrale Gegenpartei“?
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Sie übernimmt an den Finanzmärkten eine ähnliche Aufgabe wie zum Beispiel Onlinebezahlsysteme wie Paydirekt oder PayPal beim Onlineshopping. Wenn man online etwas kauft und mit einem dieser Bezahlsysteme bezahlt, dann erfolgt die Zahlung nicht direkt an den Onlineshop, sondern der Kunde zahlt an das Bezahlsystem, und das Bezahlsystem zahlt wiederum an den Onlineshop. Es steht also zwischen dem Käufer und dem Verkäufer und übernimmt dabei auch Risiken der Transaktion.
Was Paydirekt, PayPal und andere für das Onlineshopping sind, das sind die zentralen Gegenparteien für den Finanzmarkt. Zum Beispiel beim Wertpapierkauf verrechnet der Verkäufer sein Geschäft mit der CCP, und diese wiederum verrechnet zeitgleich mit dem Käufer. Die zentralen Gegenparteien tragen damit das Erfüllungsrisiko des jeweiligen Geschäfts und leisten so einen wesentlichen Beitrag zur Risikosteuerung der beteiligten Akteure und zur Finanzmarktstabilität insgesamt.
Zentrale Gegenparteien sind also grundsätzlich eine gute Sache und notwendig für die Funktionsfähigkeit der Finanzmärkte. In Deutschland übernimmt diese Rolle vor allem die Eurex Clearing AG. Als Reaktion auf die Finanzkrise und vor allem nach dem Inkrafttreten der EMIR-Verordnung im Jahr 2012 ist die Bedeutung dieser CCPs noch einmal stark gestiegen.
Mit dem Gesetz, das wir heute beschließen, beantworten wir die Frage, wie der Gesetzgeber mit CCPs umgehen will, wenn diese selbst in eine Schieflage geraten. Wir schaffen passgenaue Instrumente für deren Sanierung und Abwicklung, und wir geben der BaFin als Aufsichtsbehörde geeignete Werkzeuge an die Hand, um für den Fall der Fälle gewappnet zu sein. Wir wollen damit Finanzstabilität bewahren und gleichzeitig die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler davor schützen, die Kosten für den Ausfall einer zentralen Gegenpartei tragen zu müssen. Das wollen wir verhindern.
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In vielen EU-Staaten gibt es für die Sanierung und Abwicklung nur unzureichende Regelungen. Auch besteht dafür bislang kein EU-weites harmonisiertes Regelungswerk. Wir bedauern, dass die Gespräche auf EU-Ebene lange Zeit nicht wirklich vorangekommen sind, obwohl seit November 2016 dazu ein Vorschlag der Kommission vorliegt. Hier wäre eine europäische Lösung wirklich sinnvoll. Bis dahin gehen wir hier in Deutschland voran und schließen diese Regelungslücke auf nationaler Ebene.
Wir haben die parlamentarischen Beratungen dazu genutzt, den Gesetzentwurf der Bundesregierung noch ein bisschen zu ändern, ein bisschen besser zu machen. Durch eine Änderung im Kapitalanlagegesetzbuch geben wir Fondsverwaltern Instrumente zur besseren Liquiditätssteuerung von Investmentfonds an die Hand, damit diese in Krisenfällen besser agieren können. Damit modernisieren wir das Investmentrecht, und wir stärken Deutschland als Fondsstandort.
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Wir haben das laufende Gesetzgebungsverfahren zudem genutzt, um ein steuerliches Thema mit zu behandeln, das gerade uns als CDU/CSU am Herzen liegt: die Absenkung der Steuer auf Dürreversicherungen für die Landwirtschaft. Auch in Deutschland nehmen Extremwetterlagen zu. Das hat auch für die Landwirtinnen und die Landwirte immense Folgen. Viele von ihnen versuchen, sich gegen Extremwetterereignisse wie Hagelschlag, Sturm, Starkfrost etc. zu versichern. Obwohl auch Dürre und Trockenheit wetterbedingte Elementargefahren sind, ist nur ein verschwindend kleiner Teil der Ackerfläche, 0,4 Prozent, dagegen versichert, nicht weil die Gefahr für Dürre oder Trockenheit nicht besteht, sondern weil die Versicherungen wegen der hohen Versicherungsteuer schlicht unwirtschaftlich sind. Wir senken mit diesem Gesetz die Steuer für Dürre- und Trockenheitsversicherungen spürbar: von bislang 19 Prozent der Versicherungsprämie auf 0,03 Prozent der Versicherungssumme und damit auf denselben Steuersatz, der auch für Hagel, Sturm etc. gilt.
({3})
Wir wollen, dass sich Landwirtinnen und Landwirte damit besser vor Dürreschäden schützen können und dass somit die eigenbetriebliche Risikovorsorge einfacher wird. Deshalb sollen diese Versicherungen endlich erschwinglich werden. Das ermöglichen wir mit dem Gesetz.
Als CDU/CSU war es uns ein Anliegen, dieses Thema nicht auf die lange Bank zu schieben. Deshalb haben wir durchgesetzt, dass die Regelung rückwirkend zu Beginn dieses Jahres in Kraft treten kann, damit Versicherungsprodukte schnell entwickelt werden können und damit sich landwirtschaftliche Betriebe in Deutschland bereits in diesem Jahr, in diesem Sommer für etwaige dürrebedingte Ertragsausfälle absichern können.
Ich bedanke mich dafür, dass es eine breite Zustimmung zu unserem Vorschlag gab und mit Ausnahme der AfD, die sich enthalten hat, und der Grünen, die dagegengestimmt haben, alle anderen Fraktionen dem so zugestimmt haben. Damit wird es eben möglich, auch in diesem Jahr noch sich gegen eine mögliche Dürre abzusichern.
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Zum Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens bedanke ich mich auch bei meinen Kolleginnen und Kollegen Berichterstattern der AG Finanzen und der AG Landwirtschaft, aber auch für die konstruktive Mitarbeit und Zuarbeit bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.
Abschließend möchte ich noch die Hoffnung äußern, dass unser deutsches Gesetz zur Frage der Sanierung und Abwicklung zentraler Gegenparteien auch einen Anschub leistet für die weiteren Gespräche auf der europäischen Ebene. Gerade weil wir eine immer stärkere Verflechtung der Finanzmärkte haben, brauchen wir gerade in diesem Bereich eine Finanzmarktpolitik aus einer Hand und damit eine einheitliche Regelung in der Europäischen Union.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank, Matthias Hauer. – Nächster Redner: Dr. Florian Toncar für die FDP-Fraktion.
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Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es geht heute um die Abwicklung zentraler Gegenparteien. Das ist ein sperriger, aber wichtiger Begriff aus der Finanzwelt. Denn es geht um Unternehmen, die bei der Abwicklung von Geschäften vor allem mit Wertpapieren bzw. Derivaten zwischen Käufer und Verkäufer stehen und sowohl den Verkauf des Papiers selber abwickeln, indem sie als Zwischeninstanz das kurz selbst übernehmen und durchleiten als auch – umgekehrt – die Bezahlung, also das Geld, durchleiten. Das ist eine ganz entscheidende Kernfunktion der Finanzmärkte. Wenn sie über Nacht wegfallen würde durch eine Krise oder Pleite, wenn die Wahrnehmung dieser Aufgabe sehr kurzfristig eingestellt würde, dann wäre kein Ersatz da, dann wären die Schäden im ganzen Finanzsystem wesentlich größer, als sie sein müssten. Deswegen ist es aus unserer Sicht richtig, heute ein Gesetz zu machen, mit dem sichergestellt wird, dass mit einer solchen Krise umgegangen werden kann, ohne dass der Markt bzw. die Marktfunktion insgesamt Schaden nehmen und ohne dass gleichzeitig der Steuerzahler am Ende faktisch gezwungen ist, das betroffene Unternehmen zu retten. Dass man das nun so hinbekommt, halten wir für richtig, und wir werden dem heute auch zustimmen.
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Eines muss man in diesem Zusammenhang allerdings auch deutlich sagen: Regeln machen ist das eine. Regeln durchsetzen und umsetzen ist das andere. – Wir haben bereits seit 2015 sehr ähnliche Regeln für Banken in Krisenfällen; für diese gibt es Abwicklungsmöglichkeiten und ‑instrumente. Aber leider gibt es nicht wenige Fälle, in denen die durchaus sinnvollen und guten Abwicklungsregeln für Banken am Ende in einigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union politisch ausgehebelt worden sind und gerade nicht zur Anwendung gekommen sind, sodass wieder der Steuerzahler in die Haftung eingetreten ist. Deshalb geht der Appell an die Bundesregierung, nicht nur neue Regeln zu schaffen, sondern sich in der gesamten Europäischen Union konsequent dafür einzusetzen, dass Schlupflöcher gestopft werden und Abwicklung auch wirklich praktiziert wird. Sonst ist das alles nichts wert, was wir hier im Bundestag an Gesetzen dazu machen.
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Wir beschließen heute außerdem Änderungen bei der Versicherungsteuer. Künftig soll ein Bauer, wenn er eine Versicherung gegen Ernteausfälle aufgrund von Dürre und Trockenheit abschließt, in den Genuss einer steuerlich günstigeren Behandlung dieser Versicherung kommen. Das ist eine Gleichbehandlung mit anderen Elementargefahren wie Hagel oder Starkregen. Auch das ist gut, konsequent, systematisch korrekt und findet die Zustimmung der Freien Demokraten.
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Ausreichen wird diese Maßnahme aber natürlich noch nicht; denn – das muss man auch sagen – die Versicherungen bleiben sehr teuer. Wir meinen deswegen, dass man die Diskussion über die Absicherung von Bauern gegen Dürreschäden auf eine breitere Basis stellen muss. Wir meinen, dass man am Ende auch an einer steuerfreien Risikoausgleichsrücklage nicht vorbeikommen wird, die Landwirte in guten Jahren auffüllen können, damit sie dann in schlechten Jahren mit einer Dürre besser klarkommen als heute.
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In diesem Sinne: Zustimmung zum heutigen Gesetz. Aber wir halten weiter gehende Maßnahmen sowohl bei der Abwicklung als auch in der Landwirtschaft für dringend nötig.
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Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist für die Fraktion Die Linke der Kollege Fabio De Masi.
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Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Echtes Knallerthema: Sanierung und Abwicklung von zentralen Gegenparteien.
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Herr Keuter schafft es bei diesem Thema, auch noch über die NASA zu sprechen. Auch das muss man erst einmal hinbekommen.
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Zentrale Gegenparteien oder kurz CCPs sind so etwas wie das eBay der Finanzmärkte. Die Ware eines Verkäufers wird erst losgeschickt, wenn eBay sagt, dass das Geld des Käufers eingegangen ist. Über CCPs wird insbesondere der Handel mit außerbörslich gehandelten Derivaten abgewickelt, also mit Wertpapieren, die der Absicherung gegen Preisschwankungen zum Beispiel von Rohstoffen dienen, die aber auch sehr häufig gefährlicher Spekulation dienen. CCPs machen Sinn, weil sie wie eine Versicherung wirken. Gerät ein Verkäufer oder ein Käufer unter Stress und kann nicht liefern, springen die anderen Mitglieder des Clearinghauses ein. So wird aus einem Schnupfen an den Finanzmärkten keine Grippewelle.
Das Problem ist aber, dass die CCPs mittlerweile selbst so groß und vernetzt sind, dass sie die Finanzstabilität bedrohen. Bislang müssen diejenigen CCPs, die nicht zeitgleich Kreditinstitute sind, keine Sanierungs- und Abwicklungsstrategien vorhalten. Hierzulande gibt es zwei CCPs: die Eurex Clearing AG – sie ist ein Kreditinstitut – und die European Commodity Clearing AG – sie ist kein Kreditinstitut. Mit den neuen Vorschriften werden nunmehr beide adressiert.
Wir bemängeln am Gesetzentwurf Folgendes: So wird die Forderung, die auch die Bundesbank 2012 ursprünglich erhoben hat, der Finanzaufsicht präventive Instrumente an die Hand zu geben, um durchgreifen zu können, ignoriert. Die BaFin kann den Einsatz von Instrumenten zur Sicherung der Liquidität von Investmentfonds nicht anordnen. So bleibt es zum Beispiel den CCPs selbst überlassen, ob sie Swing Pricing zur Verteilung der Kosten auf die Anleger in einer Stresssituation anwenden. Denn oft gilt in einer Krise das Prinzip: Den Letzten beißen die Hunde. Die besser informierten Anleger – große institutionelle Investoren – ziehen als First Mover ihr Geld raus, bringen ihre Schäfchen ins Trockene und heizen so eine Krise oft erst richtig an.
Wir unterstützen hingegen die Integration der Gefahr „Dürre“ in den Katalog wetterbedingter Elementargefahren und die Absenkung des Steuersatzes der Versicherungsteuer auf 0,03 Prozent; denn wir wollen Landwirten kurzfristig helfen, die nur unzureichend gegen Risiken des Klimawandels versichert sind.
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Die Versicherungslösung ist jedoch nicht optimal. Auch wir präferieren eine zweckgebundene, steuerfreie Rücklage gegen Risiken für Landwirte.
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Ich fasse zusammen: Die Linke unterstützt Fortschritte bei der Regulierung, Sanierung und Abwicklung von CCPs. Wir werden uns aber aufgrund der aus unserer Sicht unzureichenden Kompetenzen für die Finanzaufsicht insgesamt enthalten.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Lisa Paus.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Während der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 und auch beim Griechenland-Rettungspaket war ihre Abwesenheit ein großes Problem, nämlich die Abwesenheit von Clearingstellen der zentralen Gegenparteien, über die Banken und andere Finanzdienstleister ihren außerbörslichen Derivatehandel mit einem anderen Vertragspartner abwickeln müssen. Die Abwesenheit dieser Clearingstellen bedeutete beispielsweise im Fall Griechenland: Alle kannten das Gerücht, die Deutsche Bank sei stark investiert in griechische Kreditausfallversicherungen, sogenannte CDS. Die Deutsche Bank soll also andere mit einem Derivat dagegen versichert haben, dass Griechenland pleitegeht. Wäre Griechenland tatsächlich insolvent gegangen, dann hätte das eine massive Schieflage der Deutschen Bank zur Folge haben können, so die deutsche Sorge.
Wie groß aber das Volumen dieser Derivate tatsächlich war, war damals unbekannt; denn diese Geschäfte unterlagen vollständig dem Geschäftsgeheimnis zweier Vertragspartner. Seit 2012, mit dem EMIR-Gesetz, hat sich das geändert. Seitdem muss ein großer Teil der Derivate über sogenannte zentrale Gegenparteien abgewickelt werden. Diese zentralen Gegenparteien schaffen mehr Transparenz und senken auch das Risiko für die Vertragspartner für den Fall, dass ihr Vertragspartner ausfällt. Wir Grüne haben deshalb damals die Einführung begrüßt, und wir Grüne unterstützen auch heute das vorliegende Gesetz; denn dieses Gesetz macht die inzwischen eingeführten zentralen Gegenparteien für den außerbörslichen Derivatehandel noch sicherer.
Das Gesetz legt erstmals für den Krisenfall spezifische Sanierungs- und Abwicklungsregeln fest. Es greift einer EU-Verordnung vor. Aber es ist richtig, als Land mit einem der größten Clearinghäuser der Europäischen Union für einen eventuellen Krisenfall vorbereitet zu sein.
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Dennoch hätten wir uns als Grüne mehr gewünscht und fordern die Bundesregierung auf, in den laufenden Beratungen in Brüssel für eine EU-weite Regelung insbesondere noch zwei Punkte einzubringen.
Erstens. Wir brauchen neben europaweit gleichen Sanierungs- und Abwicklungsregeln auch eine europaweit einheitliche Aufsichtspraxis. Aber das bedeutet, dass die europäischen Aufsichtsbehörden eine stärkere Rolle bekommen müssen, meine Damen und Herren; denn nur so können die nationalen Versuchungen durchbrochen werden, zusätzliches Geschäft durch lasche Aufsicht ins Land zu holen. Nur so kann das Versprechen „Nie mehr Steuergeld für Bankenrettung“ auch glaubwürdig gehalten werden.
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Zweitens. Die Größe des Ausfallfonds sollte noch einmal überprüft werden. Die Anhörung hier im Deutschen Bundestag hat bei uns Zweifel daran aufkommen lassen, dass er groß genug ist. Die Aufsichtsbehörden sollten zusätzlich Rechte bekommen, gegebenenfalls auch Nachschusspflichten auferlegen zu können, wenn sich die Risiken erhöhen.
Jede Finanzkrise verläuft anders. Die Finanzmärkte haben sich seit der letzten Krise verändert. Bestes Beispiel ist die Existenz, aber auch die zentrale Rolle, die diese Clearingstellen jetzt im Finanzsystem einnehmen. Deswegen ist es umso wichtiger, dass wir diesmal rechtzeitig etwas machen und es robust machen. Was die Robustheit angeht, ist noch etwas zu tun. In diesem Sinne: Lassen Sie uns heute das Gesetz verabschieden und weiter daran arbeiten.
Danke schön.
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Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist für die Fraktion der SPD der Kollege Rainer Spiering.
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Kolleginnen und Kollegen! Sie werden sich wundern, dass heute für die SPD ein Vertreter aus dem Bereich Ernährung und Landwirtschaft hier vorne steht. Das hat einen triftigen Grund. Ich bin unseren Finanzern total dankbar, dass sie mir die Gelegenheit geben, hier für diesen Bereich zu sprechen. Ich habe übrigens eben in der Debatte eine Menge gelernt. Respekt vor den Finanzern, dass sie das so souverän erklären!
Jetzt möchte ich auf die Frage eingehen, warum ich hier stehen darf. Wir haben im letzten Jahr erlebt, welche Auswirkungen die Klimakatastrophe hat. Wir haben hier im Haus eine Partei, die ausdrücklich erklärt, die Klimakatastrophe gebe es nicht. Wenn eine Partei ausdrücklich erklärt, dass es die Klimakatastrophe nicht gibt, muss sie natürlich auch betroffenen Landwirten nicht helfen. In der Folge hält man sich bei solchen Sachen zurück. Wir hingegen glauben, dass es eine Klimaveränderung gibt, und wir glauben, dass wir der deutschen Landwirtschaft und Ernährungswirtschaft intensiv helfen müssen.
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Jetzt ist immer die Gretchenfrage: Wie tust du es? Es ist hier eben schon mal angeklungen: Ja, wir hätten uns als Sozialdemokraten einen größeren Wurf gewünscht, bei dem mehr Kapitalmasse zur Verfügung gestellt wird. Das wäre bei einem Mittelabfluss im Rahmen der Gefahrenabwehr der GAP, also der europäischen Agrarförderung, eindeutig der Fall gewesen. Da hätten wir wesentlich mehr Geld in Bewegung setzen können. Nun muss man sagen, dass unsere Kolleginnen und Kollegen von der Union dem im Moment noch entgegenstehen. Ich bin mir aber ganz sicher, dass sie im Laufe der nächsten 18 Monate zu anderen Einsichten kommen werden.
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– Ich bin mir da ganz sicher. Ihre Parteikollegin, Frau von der Leyen, macht es im Moment mit dem Green Deal vor. Sie werden da schon auf die EU hören müssen. – Diese Zeit gilt es also zu überbrücken.
Mein tiefer Dank gilt den Finanzern dafür, dass man über das Omnibusverfahren einen Weg gefunden hat, den Versicherungen die Möglichkeit zu geben, ein Produkt, das sehr krisenanfällig ist – das muss man schon sagen –, verbilligt am Markt anzubieten.
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Genau das ist hier gemacht worden. Ich möchte da wiederholen, was der Kollege eben gesagt hat – und das finde ich besonders erstaunlich –: Die entsprechende Regelung rückwirkend zum 1. Januar dieses Jahres einzuführen, verschafft den Landwirtinnen und Landwirten jetzt die Möglichkeit, sich auf Grundlage einer Risikobewertung für dieses Jahr nachträglich zu versichern. Das finde ich außergewöhnlich.
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– Das hat ja auch keiner bestritten. Wollen Sie es noch mal hören? Sie sind einfach gut in dem Punkt. -
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Deswegen gilt mein besonderer Dank
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den Leuten, die das zustande gebracht haben, und vor allen Dingen dem Finanzminister, der dazu in der Lage war, das kurzfristig in Gesetzesform zu gießen und so die entsprechende Rechtslage zu schaffen. Herzlichen Dank an Olaf Scholz, herzlichen Dank an das Haus, dass das so toll geklappt hat!
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Sebastian Brehm.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Derivate haben für die Realwirtschaft eine hohe Bedeutung, übrigens auch für den Mittelstand. Denn mit Zins- und Währungsderivaten sichern sich Unternehmen gegen unerwünschte Veränderungen von Zinssätzen und Wechselkursen ab. Deswegen ist das ein ganz wichtiges Thema auch für die deutsche Wirtschaft. Daraus resultiert bessere Planbarkeit, höhere Stabilität der Konjunktur, und es sichert Arbeitsplätze.
Dennoch sind Derivate natürlich nie ganz unproblematisch; das hat ja die Finanzkrise auch gezeigt. Als Lehre aus der Finanzkrise haben wir damals mit der EMIR-Gesetzgebung die sinnvolle Verpflichtung geschaffen, dass viele Derivate über zentrale Gegenparteien, über die CCPs, abgewickelt werden, also über Unternehmen, die quasi zwischen den Händlern stehen und insofern das Ausfallrisiko minimieren. Durch diese Zentralisierung ist es möglich, im Krisenfall einen schnellen Überblick über die vorhandenen Handelsgeschäfte und Vernetzungen zu erhalten.
Mit der Stärkung der Rolle von zentralen Gegenparteien hat man allerdings bewusst in Kauf genommen, dass es auch Klumpenrisiken geben kann. Die zentralen Gegenparteien haben an Bedeutung gewonnen und sind inzwischen selber systemrelevant für den Kapitalmarkt. Deswegen ist es wichtig und wirklich auch notwendig gewesen, das vorliegende Gesetz zu schaffen, einmal um die Handlungsfähigkeit der CCPs zu erhöhen, aber nötigenfalls auch einen glaubwürdigen Abwicklungsrahmen zu haben. Somit ist es sinnvoll – viele einzelne Details hat der Kollege Hauer schon vorgestellt –, dieses Gesetz zu beschließen.
Dass das Gesetz gelungen ist, zeigt übrigens das Abstimmungsverhalten im Finanzausschuss, aber auch die Tatsache, dass wir schon in der Anhörung zuvor viel Lob bekommen haben, auch von der Deutschen Bundesbank und den anwesenden Experten. Der Eindruck, den Herr Keuter heute vermittelt hat, in der Anhörung habe es keine Unterstützung gegeben, ist völlig falsch. Alle Spezialisten haben gesagt, dass der von uns beschrittene gesetzliche Weg der richtige ist.
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Deswegen bin ich dankbar, dass wir das heute beschließen können.
Das zweite Thema ist – da bin ich erst recht dankbar, dass wir das in den heute vorliegenden Gesetzentwurf mit einbringen konnten –, dass wir das Risiko von Dürre und Trockenheit als Elementargefahr definieren und die Absicherung dagegen für die Bauern in unserem Land attraktiver machen, indem wir bei der Prämie den Steuersatz von 19 Prozent auf 0,03 Prozent der Versicherungssumme herabsetzen.
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Das ist ein wichtiges Signal für die Landwirtschaft in unserem Land.
Sie von der AfD sind ja gegen die Landwirtschaft; das haben Sie heute gezeigt. Ich glaube, Sie sollten mal zu einem großen Landwirtschaftstag gehen und Ihre Rede von heute wiederholen. Da würden Sie verprügelt, und zwar mit Recht.
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Wir müssen nämlich die Bauern im Bereich der Gefahrenabsicherung gegen Dürre und Trockenheit entlasten. Deswegen machen wir die Versicherungen attraktiv. Die Landwirtschaft kann sich eigenverantwortlich versichern. Gleichzeitig können die Versicherer attraktive Angebote für die Versicherungen machen.
Dass die Vergünstigung schon zum 1. Januar erfolgen kann, ist notwendig und richtig, um auch diesen Sommer gleich mit absichern zu können. Deswegen war es wichtig, die entsprechende Regelung an das Gesetz anzuhängen. Eigentlich hätte erst im Herbst ein Versicherungsteuer-Änderungsgesetz kommen sollen. Aber wir haben es vorgezogen, um den Landwirten in unserem Land zu zeigen, dass wir sie unterstützen und sie nicht im Regen stehen lassen.
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– In der Dürre.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gerade ging ein Lob an die Finanzer. Ich glaube, dass die Zusammenarbeit zwischen den Bereichen Landwirtschaft und Finanzen wirklich eine sehr gedeihliche und gute ist. Das zeigt sich an diesem Gesetz. Wir haben auch noch viel vor, zum Beispiel beim Thema CO2-Besteuerung. Wenn Landwirte aktiv Klimaschutz betreiben, aktiv Umweltschutz betreiben, brauchen sie auch Entlastung. Dass die Finanzleute im Deutschen Bundestag und in der Bundesregierung mit der Landwirtschaft so gut zusammenarbeiten, zeigt sich auch daran, dass wir aus unserer Finanz-AG Uwe Feiler als neuen Staatssekretär in das Landwirtschaftsministerium geschickt haben. Lieber Uwe Feiler, auf eine gute Zusammenarbeit in der neuen Funktion!
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Ich glaube, dass wir hier viel umsetzen können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist heute ein guter Tag für die Landwirtschaft; es ist ein guter Tag für die Stabilität des Finanzmarkts. Wenn man den komplizierten Titel des Gesetzes liest, sollte man sich vor Augen halten, dass man lieber sagen sollte: Es ist ein Sicherheits- und Stabilitätsgesetz sowohl für den Finanzmarkt als auch für unsere Landwirte. Ich bitte deswegen heute um breite Zustimmung. Lassen Sie uns ein Zeichen für Stabilität insbesondere auch unserer deutschen Landwirtschaft setzen!
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Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste auf der Tribüne! Wir reden heute über das Gesetz zur Stiefkindadoption. Weil ich die erste Rednerin in der Debatte bin, will ich kurz erklären, worum es geht. Das Bundesverfassungsgericht hat uns, dem Gesetzgeber, den Auftrag erteilt, eine Neuregelung zu treffen. Bislang durften nämlich nur Eheleute sogenannte Stiefkinder adoptieren, also Kinder, die nur noch ein leibliches Elternteil haben und dessen neuer Ehegatte das Kind adoptieren wollte. Das ist die sogenannte Stiefkindadoption. Das Bundesverfassungsgericht hat uns gesagt: So geht es nicht. Wir müssen dafür sorgen, dass auch in nichtehelichen Lebensgemeinschaften, und zwar egal, ob es sich um gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften oder um verschiedengeschlechtliche Lebensgemeinschaften handelt, Stiefkinder adoptiert werden können.
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Dann hat sich das Ministerium hingesetzt und einen sehr guten Entwurf vorbereitet. Wir von der SPD-Fraktion hatten ursprünglich vor, in diesem Zusammenhang eine große Lösung zu finden. Die große Lösung wäre gewesen, dass auch nichteheliche Lebensgemeinschaften eine sogenannte Fremdkindadoption durchführen können.
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Das war im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens mit unserem Koalitionspartner nicht zu verwirklichen. Weil wir respektvoll miteinander umgehen, haben wir uns aber bereit erklärt, von dieser großen Lösung abzuweichen und einen entsprechenden Gesetzentwurf einzubringen. Der liegt nun vor. Ich denke, das ist ein sehr guter Gesetzentwurf geworden. Er zeigt im Übrigen, wie Gesetzgebung funktioniert; denn wir sehen hier das Struck’sche Gesetz in Reinstform verwirklicht: Kein Gesetz kommt so aus dem Bundestag raus, wie es in den Bundestag hineingekommen ist. – Und das ist hier geschehen.
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Wir hatten nämlich nach der ersten Lesung im Dezember 2019 im Januar 2020 eine Sachverständigenanhörung durchgeführt. Die Sachverständigen haben uns einiges zu dem Gesetzentwurf gesagt. Wir haben über diese Änderungsvorschläge diskutiert und sie in den jetzt vorliegenden Entscheidungsvorschlag mit aufgenommen. Ich will ganz kurz sagen, welche Punkte uns beschäftigt haben, vor allem auch, welche Punkte uns die Sachverständigen genannt haben.
Der Gesetzentwurf spricht von einer verfestigten Lebensgemeinschaft. Die verfestigte Lebensgemeinschaft gibt es im Familienrecht schon, an einer einzigen Stelle, nämlich da, wo es um den nachehelichen Unterhalt geht. Also, der oder die Unterhaltspflichtige muss keinen Unterhalt für seine frühere Ehefrau oder ihren früheren Ehemann mehr zahlen, wenn die- oder derjenige wieder in einer neuen, gefestigten Lebensgemeinschaft steht. Die Sachverständigen haben uns gesagt: Na ja, wir sind hier ja nicht im Unterhaltsrecht, sondern im Adoptionsrecht, und ob man da den gleichen Begriff verwenden kann, das wissen wir nicht so genau; das ist schwierig. – Wir haben darüber diskutiert und uns bewusst dafür entschieden, weil es im Ziel eigentlich um das Gleiche geht: Eine Gemeinschaft, die sich gerade mal ergibt, darf weder dazu führen, dass der Ehegattenunterhalt entfällt, noch dazu, dass eine Adoption möglich ist. Insofern reden wir vom Ziel her über die gleiche Konstellation. Diese Lebensgemeinschaft muss verfestigt sein, und deshalb sind wir bei dem Begriff geblieben.
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Hinsichtlich der Frage, wie lange die Lebensgemeinschaft schon bestanden haben soll, hatten wir ursprünglich zwei Jahre vorgesehen. Wir haben uns jetzt auf vier Jahre verständigt. Auch die SPD-Fraktion kann sich mit den vorgeschlagenen vier Jahren anfreunden, weil man immer vom Kindeswohl ausgehen muss. Ich will an dieser Stelle eines sagen: Wir reden über Kinder, die in den allermeisten Fällen schon ein Elternteil verloren haben. Das sind fast immer Kinder, die nur noch ein Elternteil haben, weil das andere Elternteil gestorben ist, die also schon einen großen Verlust in ihrem Leben erlitten haben. Jetzt geht es darum, dass ein neues Elternteil kommt. Ich finde, das darf nicht so einfach sein, dass man eben sagt: Nach zwei Jahren Bewährung in einer Beziehung ist eine Adoption möglich. Im Übrigen hat so ein Stiefkind – das ist ein blödes Wort, aber es gibt halt kein anderes – nicht nur Rechte, es bekommt nicht nur als Kind ein neues Elternteil, sondern es geht damit auch Pflichten ein, und auch daran muss man denken. Deshalb halten wir vier Jahre statt zwei Jahre für völlig akzeptabel.
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Meine Redezeit ist fast zu Ende. Ich will nur noch einen Punkt ansprechen, der mir sehr wichtig ist: Normalerweise darf man nicht mehr verheiratet sein, wenn man ein Stiefkind adoptiert, weil man in einer neuen Lebensgemeinschaft ist. Aber wir haben uns nun dafür entschieden, in Ausnahmefällen auch bei verheirateten Menschen die Stiefkindadoption zuzulassen; denn es gibt Fälle, in denen beispielsweise aus religiösen Gründen oder aus gesundheitlichen Gründen eine Ehescheidung schlichtweg nicht möglich ist.
Sie sehen also, wir bringen heute einen wunderbaren Gesetzentwurf ein. Ich bitte wirklich um breite Zustimmung für diesen Entwurf.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion der AfD der Kollege Johannes Huber.
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Sehr geehrtes Präsidium! Sehr geehrte Damen und Herren! Obwohl wir im Gesetzentwurf der Bundesregierung statt von verfestigter lieber von stabiler eheähnlicher Lebensgemeinschaft sprechen würden, können wir der Vorlage zustimmen, weil erstens die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in engen Grenzen umgesetzt wird und weil zweitens primär auf das Wohl des Kindes abgestellt wird. Eine Zustimmung der AfD heißt aber nicht, dass wir dadurch die Demokratie kaputtmachen oder die Bundeskanzlerin den Gesetzentwurf rückgängig machen muss.
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Den Antrag der FDP lehnen wir ab, weil uns sowohl eine weiter gehende Öffnung der Stiefkindadoption für alle nichtehelichen Paare als auch eine gemeinsame Adoption von fremden Kindern zu weit geht.
Der Antrag der Grünen wiederum möchte die Stiefkindadoption für lesbische Paare nicht etwa ermöglichen, sondern sie aus ideologischen Gründen direkt abschaffen. Nach Vorstellung der Grünen soll die biologische Mutter nach Gutdünken eine weitere Frau ohne eine entsprechende Überprüfung ihrer Eignung durch das Familiengericht
({1})
oder Jugendamt zur Co-Mutter ihres Kindes machen können. Dies soll über eine sogenannte Mutterschaftsanerkennung analog zur Vaterschaftsanerkennung erfolgen. Dabei verkennen sie nicht nur, dass der Gesetzgeber die rechtliche Fiktion der Vaterschaftsanerkennung geschaffen hat, weil davon auszugehen ist, dass im Regelfall der anerkennende Vater der wahre, der biologische Vater ist; die Grünen verkennen ebenso, dass Kinder aus einer Ehe zwischen Mann und Frau entstehen. Eine Co-Mutter hingegen kann niemals die biologische Mutter des Kindes sein. Sie bleibt bestenfalls ein juristisches Konstrukt. Tatsächlich entstehen Kinder aus der Verbindung von Mann und Frau, und das ist nicht verfassungswidrig, das ist Biologie.
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Die Grünen möchten die Stiefkindadoption abschaffen, weil sie die damit verbundene Überprüfung der Co-Mutter als unverhältnismäßig und mit 300 Euro als zu teuer ansehen. Liebe Grüne, ich muss Ihnen sagen, es ist unfassbar, dass Ihnen Kinder nicht einmal 300 Euro wert sind.
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Ihnen ist es auch herzlich egal, ob die Co-Mutter charakterlich geeignet ist, ein Kind zu adoptieren. Tatsächlich dient die Überprüfung nämlich nicht der Gängelung der Co-Mutter, sondern der Sicherstellung des Kindeswohls. Das Kindeswohl mag für Sie zweitrangig sein – für die AfD ist es aber nicht verhandelbar.
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Leider muss ich Ihnen sagen, dass Sie überhaupt einen zutiefst menschenverachtenden Blick auf Kinder haben.
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Sie möchten zukünftig rechtlich verbindliche Verabredungen zwischen zwei Frauen und dem Spender über noch nicht gezeugte Kinder zulassen. Das degradiert wiederum Kinder zum reinen Objekt, zur Verhandlungsmasse, und verletzt die Würde des Menschen.
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– Ja, darüber muss man reden. – Ist das Kind dann geboren und kommen jetzt Zweifel über seine tatsächliche Abstammung, möchte es etwa – wie 80 Prozent der anderen Spenderkinder – den biologischen Vater kennenlernen, wollen die Grünen ihm noch nicht einmal die Möglichkeit geben, ihn auch zu seinem rechtlichen Vater zu machen. Denn anders als die Möglichkeit der Vaterschaftsanfechtung, die Kinder aus heterosexuellen Beziehungen haben, sehen Sie dieses Anfechtungsrecht bei Frauenpaaren nicht vor. Sie haben also nicht nur ein Problem mit den Rechten der Kinder, sondern, aus meiner Sicht, auch mit den Rechten der Väter.
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Wenn sich einer dieser Väter für sein Kind interessiert, dann sprechen Sie von einem – ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten – „Samenspender“, der sich „nachträglich … in ihre Familie hineindrängt“. Das ist aus meiner Sicht eine zutiefst widerwärtige Ausdrucksweise, die Männer sogar entmenschlicht.
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Finden Sie – und das ist mein Rat zum Schluss – zurück zum Boden des Grundgesetzes und zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, das feststellt, dass diejenigen, die einem Kind das Leben geben, von Natur aus grundsätzlich bereit und berufen sind, die Verantwortung für die Pflege und Erziehung zu übernehmen.
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Wir erinnern uns kurz: Das sind immer noch Mann und Frau.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Axel Müller.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren auf den Zuschauertribünen! Es ist schon etwas verwunderlich, Herr Kollege Huber, dass Sie sich hier an der Debatte für Ihre Fraktion beteiligen. Mir sind Sie nicht aufgefallen im Rechtsausschuss, dass Sie sich jemals im Vorfeld zu den heutigen Debattenpunkten irgendwo geäußert hätten,
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geschweige denn daran mitgearbeitet hätten.
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Aber vielleicht zeugt von dieser Haltung auch das, was Sie heute hier zum Besten gegeben haben.
Wir debattieren letztendlich, wie die Kollegin Steffen schon gesagt hat, die Umsetzung einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 26. März des vergangenen Jahres zur Stiefkindadoption in nichtehelichen Familien.
Es liegen zwei Gesetzentwürfe vor – ein Gesetzentwurf der Bundesregierung und ein Gesetzentwurf der Grünen –, ein Antrag der Fraktion der FDP und ein Entschließungsantrag der Fraktion der Linken. Die Vorlagen befassen sich zum einen mit einer Ausdehnung der Adoptionsmöglichkeiten für nichteheliche Paare, zum anderen mit der Neuregelung des Abstammungsrechts für gleichgeschlechtliche Paare.
Der von der Bundesregierung vorgelegte Entwurf hält sich an den Auftrag, den das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber erteilt hat, und geht nicht darüber hinaus. Der Gesetzentwurf der Grünen und die Anträge gehen weit darüber hinaus.
Wie sieht denn unser Auftrag aus bzw. was beinhaltet er? Ich möchte noch einmal kurz den Fall beleuchten, um den es ging: Die Mutter eines Kindes war verwitwet und lebte mit einem neuen Lebenspartner zusammen, den sie aber nicht heiraten wollte, weil sie nämlich die Witwenrente nicht verlieren wollte. Sie war mit ihrem neuen Partner übereingekommen, dass aufgrund der langjährigen Beziehung, die sie mit ihm hatte, dieser das Kind aus der früheren Ehe doch adoptieren möge.
Die bisherige Regelung im Adoptionsrecht war so, dass dies nur zulässig war, wenn sie den nichtehelichen Partner geheiratet hätte oder wenn dieser das Kind adoptiert hätte und zugleich die Elternstellung der leiblichen Mutter aufgekündigt worden wäre.
Das Bundesverfassungsgericht kam dann zu dem Ergebnis, dass dieser Ausschluss der Stiefkindadoption in nichtehelichen Familien gegen den aus Artikel 3 des Grundgesetzes folgenden Gleichbehandlungsgrundsatz verstoße. Das ist ja auch nachvollziehbar. Die entscheidende Perspektive, aus der heraus das Bundesverfassungsgericht das beurteilt hat, ist allerdings nicht die der Eltern, sondern die des Kindes, und diese Betrachtung nimmt der vorgelegte Gesetzentwurf auf. Es geht also nicht um die Selbstverwirklichung der Paare oder um gesellschaftspolitische Reformen. Für das Bundesverfassungsgericht und auch für uns steht einzig und allein das Wohl des Kindes im Zentrum der rechtlichen Beurteilung, meine Damen und Herren.
Für das Stiefkind darf es bei der Adoption keinen Unterschied machen, ob die Mutter mit dem neuen Partner verheiratet ist oder nicht. Das ist der Leitgedanke der Entscheidung, und der hat im Gesetzentwurf seinen Niederschlag gefunden. Besonders deutlich wird dies, wenn man sich vorstellt, dass das Kind mit weiteren gemeinsamen Geschwisterkindern des nichtehelichen Paares zusammenlebt. Dann entsteht ein Unterschied im Unterhaltsrecht und im Erbrecht, der nicht zu rechtfertigen ist: Das Kind verliert nämlich seine Unterhaltsansprüche und seine erbrechtlichen Ansprüche gegenüber dem bisherigen Elternteil und kann allenfalls welche gegenüber dem neuen Vater/der neuen Mutter, dem nichtehelichen Partner, gewinnen. Es ist gewissermaßen rechtlich in einer solchen Familienkonstellation das fünfte Rad am Wagen.
Das wird dem Kindeswohl aber nicht gerecht, insbesondere auch deshalb, weil das benachteiligte Kind zur Verbesserung einer nachteiligen Position selbst nichts beitragen kann. Nach der bisherigen Gesetzesvorgabe konnten das ja nur der Vater bzw. die Mutter, der leibliche Vater, die leibliche Mutter oder der nichteheliche Partner, der neue Partner, tun: indem sie sich verheirateten.
Das ändert nun der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung, ohne das für uns nach wie vor bedeutende Rechtsinstitut der Ehe dadurch zu verwässern. Er berücksichtigt das Kindeswohl insbesondere an einem Punkt: Die Verfestigung der Lebensgemeinschaft dieses nichtehelichen Paares muss mindestens vier Jahre angedauert haben, weil nur das die Erwartung begründet, dass die Beziehung auf Dauer Bestand hat – ein Umstand, der für den nach dem Bundesverfassungsgericht wichtigen Faktor der Ehe insbesondere gilt, und dem soll hier entsprechend nachgeeifert werden.
Im Unterhaltsrecht genügen – das ist richtig – für eine verfestigte Lebensgemeinschaft bereits zwei Jahre, wenn es darum geht, dass ein neuer Partner mit einem Ex-Mann oder einer Ex-Frau zusammenlebt; das kann dann die Unterhaltsansprüche gegenüber dem Ex-Partner vereiteln bzw. beschränken. Und das bringt nun die Opposition auf den Plan, auch bei der Neufassung des Gesetzes zur Stiefkindadoption eine zweijährige Dauer des Zusammenlebens des nichtehelichen Paares für ausreichend zu erachten. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung, mit vier Jahren, entspricht aber der durch das Bundesverfassungsgericht aufgezeigten Linie, dem adoptierten Kind möglichst viel Stabilität zu geben.
Die Opposition hat die Entscheidung jedoch zusätzlich als Aufforderung verstanden, auch gesellschaftspolitische Veränderungen vorzunehmen. Wesentliches Element des Antrags der FDP ist die Fremdadoption durch nichteheliche Paare; wenn das Kind bislang also keine natürliche Bindung zu den Eltern hat. Dazu hat sich das Bundesverfassungsgericht aber gerade nicht geäußert. Der Gesetzentwurf der Grünen bzw. der Entschließungsantrag der Linken wollen über das Adoptionsrecht hinaus noch das Abstammungsrecht in lesbischen Lebensgemeinschaften regeln.
Der FDP-Antrag könnte im Grunde genommen ganz leicht erledigt werden: Wenn sich das nichteheliche Paar verheiraten würde, dann könnten sie das Adoptionsrecht ausüben.
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Zu guter Letzt zum Gesetzentwurf der Grünen bzw. zum Entschließungsantrag der Linken. Was die Abstammungsfragen anbelangt, haben wir vor, in absehbarer Zeit einen eigenen Gesetzesvorschlag zur Neufassung des Abstammungsrechts vorzulegen. Es gibt durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts für uns keinen entsprechenden Handlungsauftrag, wie Sie ihn für sich ausgelegt haben.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Als Nächste spricht die Kollegin Katrin Helling-Plahr für die Fraktion der FDP.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute schreiben wir ein weiteres Kapitel der traurigen Geschichte „Die Große Koalition und ein modernes Familienrecht – das wird nichts“.
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Man ist sich in der Fachwelt einig: Das Abstammungsrecht, das man ja gemeinsam mit dem Adoptionsrecht denken muss, ist allerspätestens seit der Öffnung der Ehe für alle anzupassen. Justizministerin Barley hatte sich zumindest einmal an einen, wenn auch im Wesentlichen falschen Diskussionsteilentwurf herangewagt und damit einen Hauch von Gestaltungswillen gezeigt. Der hat das Ministerium inzwischen aber gänzlich verlassen. Der Diskussionsteilentwurf ist versandet, und auch die Initiative für den heutigen Gesetzentwurf kam nicht aus dem Ministerium. Das Bundesverfassungsgericht musste erst feststellen, dass das bestehende Adoptionsrecht verfassungswidrig ist. Die Bundesregierung musste mal wieder zum Jagen getragen werden.
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Das Ministerium hat sodann ein Diskussionspapier zur Umsetzung der Entscheidung vorgelegt und dort zwei Optionen zur Reform des Adoptionsrechts vorgeschlagen. Eine Option sah wie der heute vorliegende Gesetzentwurf nur eine Umsetzung des laut Urteilsfeststellung im Mindesten Nötigen vor: die Ermöglichung der Stiefkindadoption auch für unverheiratete Paare. Die andere, weiter gehende Option war mit einem Fünkchen Weitsicht gedacht und wollte unverheirateten Paaren darüber hinaus ermöglichen, gemeinsam ein fremdes Kind zu adoptieren. In der Verbändeanhörung haben sich fast alle Verbände für diese Option ausgesprochen. Welchen Sinn macht es, sich erst Expertenmeinungen einzuholen und dann doch gegen diese zu handeln? Das weiß wohl alleine Frau Lambrecht.
Die Verbände, aber auch die Sachverständigen in der Anhörung waren sich sogar insoweit einig: Die Situation, dass unverheiratete Paare gemeinsam keine Kinder adoptieren dürfen, ist verfassungswidrig. Warum also diese Verrenkungen, man könnte sogar sagen, dieser Stunt? Das hat die Kollegin Steffen heute auch schon durchblicken lassen: weil es schlicht nicht in das konservative Weltbild der Union passt, dass auch Unverheiratete gute Eltern sein können.
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Meine Damen und Herren von der Union, das ist so weit weg von jeglicher Empirie und der Lebensrealität der Menschen, dass ich nur betroffen staunen kann. Ihr antiquiertes Weltbild führt nur zu einem, nämlich zu Nachteilen für Kinder und deren Wohlergehen.
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Sie enthalten zum Beispiel Pflegekindern, deren Pflegeeltern nicht miteinander verheiratet sind, die mit einer Adoption einhergehenden Chancen aktiv und bewusst vor.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe gute Nachrichten: Sie müssen diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen. Auch wir Freien Demokraten haben einen Antrag vorgelegt, für den Sie heute stimmen können. Denken Sie noch einmal darüber nach.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Gökay Akbulut für die Fraktion Die Linke.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute erneut den Gesetzentwurf zur Stiefkindadoption in nichtehelichen Familien. Der Bundestag muss dazu die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts umsetzen. Das ist uns allen klar. Die Frage ist aber, wie.
Der Gesetzentwurf von Union und SPD ist nur eine Minimallösung. Auch die noch eingebrachten Änderungen der Koalition werden nämlich nicht dazu beitragen, dass eine Stiefkindadoption für alle Familienkonstellationen diskriminierungsfrei erfolgen kann. Die Änderungen führen teilweise sogar noch zu Verschärfungen.
Die Sachverständigen haben in der öffentlichen Anhörung eindeutig Kritik am bisherigen Gesetzentwurf geübt. Die Koalition hat diese Kritik in dem vorliegenden Änderungsantrag jedoch nicht berücksichtigt. Ich zitiere Professorin Dr. Hilbig-Lugani vom Deutschen Juristinnenbund:
Auch wenn das BVerfG nur zur Konstellation der Stiefkindadoption Stellung zu nehmen hatte, so lassen sich doch die Erwägungen des BVerfG auch auf die Konstellation der gemeinschaftlichen Adoption übertragen.
Zwar eröffnen Sie hier die Möglichkeit der Sukzessivadoption, also nacheinander folgende, nicht jedoch die gemeinschaftliche Adoption. Darin sieht der Deutsche Juristinnenbund, aber auch wir als Linksfraktion ganz klar einen Verstoß gegen Gleichheitsrechte.
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Die Sachverständige Constanze Körner, die als Vertreterin von „Lesben Leben Familie“ in der Anhörung gesprochen hat, begrüßt zwar, dass es eine schrittweise Öffnung der rechtlichen Rahmenbedingungen entsprechend der Lebensrealität verschiedener Familienkonstellationen gibt. Dennoch gibt es weiterhin Benachteiligungen „queerer“ Familien, von denen lesbische Frauenpaare übrigens 90 Prozent ausmachen. Diese Paare haben immer noch keine Möglichkeit, vorgeburtlich beide als Eltern anerkannt zu werden.
Wir als Linksfraktion fordern in unserem Entschließungsantrag auch, dass im Abstammungsrecht eine Elternschaftsanerkennung für eheliche und nichteheliche Kinder geschaffen wird, die in die Partnerinnenschaft hineingeboren werden.
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Bei ihnen handelt es sich nämlich nicht um Stieffamilien, sondern um Ursprungsfamilien. Sie sollten deshalb auch die gleiche rechtliche Stellung erhalten.
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Zum Abstammungsrecht gibt es sogar progressive Vorschläge des BMJV. Diese sollten jedoch auch umgesetzt werden. Insgesamt ist das Adoptionsrecht auch mit den neuen Änderungen immer noch ehezentriert, und das muss sich grundlegend ändern.
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Kinder, die in Ehen hineingeboren werden, sind rechtlich bessergestellt als nichteheliche Kinder. Das darf nicht sein. Wenn man dies nicht ändert, trägt man dazu bei, dass Ungleichbehandlungen fortgeführt werden. Der Ruf des Bundesverfassungsgerichts, das sich in seinem Beschluss besonders auf die Rechte der Kinder und den Gleichheitsgrundsatz stützt, war hier eindeutig. Wir als Linksfraktion nehmen diesen Ruf ernst, weshalb wir dem Gesetzentwurf in dieser Form nicht zustimmen werden.
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Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Katja Keul.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach der aktuellen Gesetzeslage kann ein Stiefelternteil in einer nichtehelichen Beziehung das Kind des anderen Teils nicht adoptieren. Das ist nicht nur verfassungswidrig, sondern auch offensichtlich unsinnig, und deshalb ist es richtig, dass Sie mit diesem Gesetz Möglichkeiten der Stiefkindadoption außerhalb einer Ehe ermöglichen.
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Das war es aber schon mit dem positiven Teil. Unsere Zustimmung bekommen Sie nur, weil die jetzige Rechtslage noch schlechter ist als Ihr Gesetz.
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Die Anhörung hat die Defizite dieser halbherzigen Regelung deutlich zutage gebracht.
Erstens. Die Anknüpfung an eine verfestigte Lebensgemeinschaft, die vier Jahre bestanden haben muss, geht fehl, weil sie dem Unterhaltsrecht entnommen ist und nicht an das Kindeswohl anknüpft. Besser wäre es, an die rein faktische Lebensgemeinschaft anzuknüpfen; denn die Kindeswohlprüfung wird schließlich im Adoptionsverfahren ohnehin umfangreich vorgenommen. Einer zusätzlichen formalen Hürde in Form einer Frist bedarf es daneben nicht.
Zweitens. Kinder in nichtehelichen Pflegefamilien werden nach wie vor benachteiligt, weil sie nicht gemeinschaftlich adoptiert werden können, sondern erst durch den einen und danach durch den anderen Pflegeelternteil. Sie hätten sich besser dazu durchringen sollen, die gemeinschaftliche Fremdadoption auch für nichteheliche Paare generell möglich zu machen.
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Drittens. Wird ein Kind in eine gleichgeschlechtliche Beziehung hineingeboren, handelt es sich um seine Ursprungsfamilie. Es ist eine nicht zu rechtfertigende Härte, dem Kind seinen zweiten Elternteil vier Jahre lang vorzuenthalten.
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Hier sollte statt einer Adoption eine abstammungsrechtliche Lösung möglich sein. Den entsprechenden Gesetzentwurf für die Anerkennung durch die Co-Mutter haben wir heute mit aufgesetzt.
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Fazit: Sie schaffen künstliche Hürden jenseits der Kindeswohlprüfung, die es bei einer Adoption durch Ehegatten so nicht gibt. Dabei übersehen Sie, dass die Stiefkindadoption letztlich ohnehin nur erfolgt, wenn dem Kind bislang ein Elternteil fehlt und die Adoption zu seinem Wohle erfolgt. Es steht nicht zu befürchten, dass Eltern reihenweise leichtfertig ihre Kinder zur Adoption freigeben, nur weil der andere Elternteil eine neue Beziehung hat. Es geht hier um Kinder, die einen Elternteil verloren haben oder immer nur einen hatten und denen die Chance eingeräumt werden soll, wie andere Kinder auch zwei Elternteile zu haben.
Es geht hier auch nicht um Fremdadoption, sondern um Kinder, die in einer familiären Gemeinschaft leben und die rechtlich abgesichert werden sollen. Sie verlieren nichts, sondern gewinnen neben Sicherheit auch Unterhaltsansprüche und Erbrechte. Das Kind muss im Zentrum stehen, nicht die Ehe seiner Eltern.
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Stellen Sie also endlich die eheliche und die nichteheliche Stieffamilie wirklich gleich. Lassen Sie gemeinschaftliche Adoptionen zu, unabhängig von dem Bestehen der Ehe, und geben Sie lesbischen Co-Müttern die Möglichkeit, das Kind der anderen anzuerkennen, so wie es nichtleibliche Väter auch tun können.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin in der Debatte ist für die Fraktion der SPD die Kollegin Susann Rüthrich.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebende Eltern wünscht sich jedes Kind, und für die meisten Kinder ist das glücklicherweise auch der Normalzustand. Mit dem vorliegenden Gesetz ermöglichen wir es jetzt auch Kindern, deren Eltern nicht verheiratet sind, als adoptiertes Stiefkind wieder zwei sie umsorgende rechtliche Eltern zu haben, und das ist sehr gut für diese Kinder und für ihre Familien.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sehe jedoch auch einige Abers. Ich hätte mir ebenfalls gewünscht, dass wir das Thema Adoption in Gänze betrachten und umfassend zu einem modernen und zeitgemäßen Abstammungs- und Adoptionsrecht kommen; denn Kinder leben nun einmal in den verschiedensten Familienformen. Sie je nach dem Geschlecht der Eltern oder nach dem Familienstand unterschiedlich rechtlich abzusichern, das kann aus meiner Sicht nicht im Sinne des Kindeswohls sein. Drei Beispiele, bei denen ich weiteren Handlungsbedarf sehe, möchte ich Ihnen nennen.
Erstens. Man soll zwar nicht von sich auf andere schließen; ich tue das jetzt trotzdem mal. Ich bin mit meinem Mann nicht verheiratet. Wir haben drei Kinder. Für eine Adoption wären wir aber nicht gut genug; ein weiteres Kind könnte also nicht in unsere Familie kommen. Ich finde, wenn es im Sinne des zu adoptierenden Kindes ist, dann soll es auch in eine Familie ohne Trauschein kommen können.
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Zweitens. Dass eine nichteheliche Familie stabil ist, wird jetzt bei einer Dauer von vier Jahren angenommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es soll schon Ehen gegeben haben, die kürzer gedauert haben. Wenn es also einen sozialen Elternteil gibt, der Verantwortung für das Kind übernehmen soll, warum legen wir dann die Hürde höher?
Drittens. Was gar nicht geht, ist, wenn es aufgrund dieser Vierjahresregel lesbischen Müttern noch schwerer gemacht würde, gemeinsam rechtliche Eltern zu werden. Ein Ehemann wird ja auch automatisch zum rechtlichen Elternteil, egal ob er der biologische Vater ist. Wenn wir den Zustand so, wie er jetzt ist, beibehalten, sehe ich darin eine geschlechtsspezifische Diskriminierung. Die verbietet das Grundgesetz.
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Deswegen: Lassen Sie uns nicht wieder warten, bis das Verfassungsgericht uns zum Handeln zwingt! Allen Kindern, die mit dem heutigen Gesetz wieder zwei sie umsorgende, liebende rechtliche Eltern bekommen, wünsche ich alles Gute für ihre Zukunft.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Paul Lehrieder für die Fraktion der CDU/CSU.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Vorredner haben bereits darauf hingewiesen: Das Bundesverfassungsgericht hat uns mit der Entscheidung vom März 2019 beauftragt, die Stiefkindadoption in nichtehelichen Familien zu ermöglichen. Seine Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht – hier sollten die Damen und Herren aus den Oppositionsreihen durchaus mal die Ohren spitzen – mit einer unverhältnismäßigen Ungleichbehandlung der Kinder – wohlgemerkt: der Kinder, nicht der adoptionswilligen Eltern – begründet. Dies war notwendig, und daher bin ich froh, im Anschluss für einen Gesetzentwurf zu stimmen, der das Wohl der Kinder im Blick hat. Das ist nicht nur die Grundlage des Urteils, sondern auch die Grundlage, die für das Ergebnis einer jeden Adoption als solcher ausschlaggebend ist: das Kindeswohl, Frau Helling-Plahr.
Folglich muss das Kindeswohl auch der maßgebliche Faktor bei der Frage sein, inwieweit eine Adoption über die gesetzliche, über die höchstrichterliche Grundlage hinaus zugelassen wird. Kontinuität und Stabilität sind dabei das Fundament für eine Lebenssituation, in der sich ein Kind gut entwickeln kann. Das sind wir den Kindern schuldig – nicht den Paaren, wohlgemerkt; das muss man dazu sagen. Es ging dabei absolut nicht um die mögliche Benachteiligung nichtehelicher Lebenspartner und auch nicht um sonstige Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Es gibt nun einmal keinen Rechtsanspruch auf ein Kind.
Die Ehe übrigens – meine Damen und Herren, das können Sie auch schon in den Leitsätzen zum Beschluss des Verfassungsgerichts nachlesen – kann dabei sehr wohl – –
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– Frau Kollegin Helling-Plahr hätte eine Frage.
Danke, dass Sie mich darauf aufmerksam machen. Wollen Sie denn eine Zwischenfrage zulassen?
Ja, selbstverständlich.
Bitte schön, Frau Helling-Plahr.
Das ist sehr freundlich. – Das Bundesverfassungsgericht hat, wie Sie ja schon gesagt haben, festgestellt, dass es nicht mit Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes vereinbar sein kann, dass Kinder in nichtehelichen Stieffamilien gegenüber Kindern in ehelichen Stieffamilien ungleich behandelt werden. Warum soll es aus Ihrer Sicht dann mit der Verfassung vereinbar sein, wenn Kinder in nichtehelichen Pflegefamilien gegenüber Kindern in ehelichen Pflegefamilien ungleich behandelt werden?
Weil in dem Gesetzentwurf, den wir jetzt haben, natürlich eine bestimmte Zeitdauer vorgesehen ist als Maß für eine gewisse Stabilität. Anders als Sie es in Ihrem Antrag vorgesehen haben, soll gerade nicht willkürlich alle paar Monate das Kind mit einem neuen Partner verwirrt bzw. in eine bestimmte Turbulenz gebracht werden. Damit eine stabile Entwicklung des Kindes möglich ist, haben wir auch die Dauer von vier Jahren – Frau Kollegin Steffen hat bereits darauf hingewiesen – hineingeschrieben. Wir wollen eine nachhaltige, eine stabile Familienkonstruktion voraussetzen und schaffen. Die Alternative ist: Wenn beide Partner ein eigenes Kind zusammen gezeugt haben, gibt es eine Gewähr, dass ein gewisser familiärer Verbund besteht.
In Pflegefamilien soll das Zusammenleben auch nachhaltig und auf Dauer angelegt sein, wobei die Situation dort, Frau Helling-Plahr, wieder ein bisschen anders ist. Wir wissen sehr wohl, dass zwei Drittel der Familien, die ihre Kinder in Pflegefamilien geben, das freiwillig tun, weil sie persönliche Probleme haben: Drogenprobleme, vielleicht irgendwelche beruflichen Probleme, die sie einfach nicht auf die Reihe bekommen. Deshalb haben wir uns im Übrigen auch in der letzten Legislaturperiode, bevor Sie im Bundestag waren, gegen ein Recht von Pflegefamilien auf schnelle Adoption ausgesprochen – das wurde diskutiert –, um zu verhindern, dass die freiwillige Überlassung zur Inobhutnahme – Sie müssen schon aufpassen –
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durch Eltern, die Schwierigkeiten haben, in Zukunft eben nicht mehr möglich sein wird. – Hallo!
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Frau Kollegin, Sie können doch nicht mit dem Kollegen schwätzen, wenn ich Ihnen etwas erkläre. Also, alles, was recht ist, Herr Präsident.
Fahren Sie jetzt mal fort mit Ihrer Antwort.
Es wird kein problembehaftetes Paar sein Kind in eine Pflegefamilie geben, wenn es damit rechnen muss, dass es durch eine relativ schnelle Adoption durch die Pflegefamilie das Kind dauerhaft verliert. Das war der Grund, warum wir gesagt haben: Okay, wir können das bei den Pflegefamilien so nicht machen.
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Ich hoffe, sie hat es verstanden.
Jedenfalls ist die Beantwortung der Frage jetzt beendet.
Danke. – Wenn Sie noch eine Frage haben, Frau Helling-Plahr, ich stehe gern bereit.
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Eine Adoption ist eine grundlegende, dauerhafte Statusentscheidung; darauf habe ich bereits hingewiesen. Sie ist ein gewisses Bekenntnis. Sie kann nicht ohne Weiteres einfach rückgängig gemacht werden, im Gegensatz zur Ehe, deren Aushöhlung die Opposition offensichtlich zeitweilig betreibt. Jeder, der zur Annahme eines nicht leiblichen Kindes bereit ist, sollte die Zeit erhalten, gut zu überlegen, ob er diese Verantwortung tragen möchte. Ich finde, eine Dauer von zwei Jahren, wie sie von der Opposition gefordert wird, ist kein geeignetes Kriterium, um sich ein verlässliches Bild einer dauerhaften, stabilen Lebensgemeinschaft zu machen.
Schauen Sie sich, Frau Helling-Plahr, beispielsweise mal die Norm des § 1579 Nummer 2 BGB an. Hier geht es um die Beschränkung oder Versagung von Unterhalt, da geht es nur ums Geld. Hier fordert die Rechtsprechung bereits, dass die Zahlung des Unterhalts für einen Ehegatten unzumutbar ist, wenn die Lebensgemeinschaft nicht mindestens zwei Jahre gedauert hat. Sie müssen hier grundsätzlich Maß und Mitte im Auge behalten.
Jetzt zu Ihrem Antrag, Frau Helling-Plahr: Ihnen selbst war es wohl zu gewagt, aber Sie zitieren in Ihrem Antrag die Stellungnahme eines Verbandes und machen sich damit die Auffassung zu eigen, dass die Ehe als Vision offensichtlich teilweise obsolet sein soll. Ich kann Sie beruhigen, liebe Frau Helling-Plahr: Die Anzahl der Eheschließungen in Bayern ist entgegen Ihrer Mutmaßung die letzten Jahre gewachsen. Wir haben beispielsweise momentan die Situation –
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– Bitte? Stellen Sie eine Frage, dann habe ich mehr Zeit, Frau Kollegin –, dass knapp drei Viertel der minderjährigen Kinder im Jahr 2017 bei Ehepaaren groß wurden. Die Zahl der Eheschließungen lag in den Jahren 2001 bis 2014 auf relativ konstanter Höhe zwischen 368 922 und 389 591. Seit dem Jahr 2015 ist ein Anstieg auf 400 115 bis zuletzt 2018 449 466 Eheschließungen zu verzeichnen, die sich im Jahr 2018 auf folgende Paarkonstellationen verteilten: In 416 562 Fällen handelte es sich um Ehen zwischen Mann und Frau, 16 700 waren Ehen zwischen Mann und Mann, und 16 138 waren Ehen zwischen Frau und Frau.
Ich bin all denen dankbar, die sich im wahrsten Sinne des Wortes trauen – Frau Kollegin Rüthrich, das kommt bei Ihnen möglicherweise in den nächsten Jahren auch noch – und sagen: Jawohl, ich sage nicht nur Ja zum Kind, ich sage auch Ja zu dem Partner, ich sage Ja zur Kindesmutter, ich sage Ja zum Kindesvater. – Ich glaube, das ist eine gute, stabile Situation, die geeignet ist, um dem Kind ein gutes Heranwachsen zu ermöglichen.
Frau Rüthrich, ich war in meinem früheren Leben Standesbeamter, kann dieses Amt jetzt leider nicht mehr ausüben. Ich hätte Sie auch verheiratet, wenn es darauf angekommen wäre.
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Noch mal, ich habe es eingangs ausgeführt: Es geht um das Kindeswohl, und ein verantwortlicher Umgang mit dem Kindeswohl bedingt eine stabile, dauerhafte Beziehung,
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und die halten wir, mit Verlaub, in der Ehe für ideal gegeben. Wir verkennen nicht, dass auch in anderen Situationen junge Menschen Schutz brauchen, aber der Idealfall für das Heranwachsen der Kinder ist nach wie vor eine bestehende Ehe. Daher bitte ich all die Paare, die sich mit dem Gedanken tragen, sich im wahrsten Sinne des Wortes zu trauen, sich in eine verbindliche Partnerschaft zu begeben, um dem Kind ein möglichst gutes Heranwachsen zu ermöglichen.
Herzlichen Dank.
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Das war jetzt zum Schluss noch mal der Werbeblock des ehemaligen Standesbeamten. Vielen Dank, Herr Kollege.
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Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Gut, dass wir heute das Thema der Lieferketten auf der Agenda haben. Es ist wichtig, dass wir bei diesem Thema vorankommen. Minister Müller lässt ja auch keine Gelegenheit aus, auf die Thematik hinzuweisen. Er gibt ein Zeitungsinterview nach dem anderen und tingelt durch die Talkshows, um auf die verheerenden Verhältnisse in den Lieferketten hinzuweisen. Man könnte tatsächlich fast glauben, dass er überhaupt nicht Mitglied dieser Regierung ist; denn die Regierung als Ganzes steht bei dieser Thematik schon seit Jahren auf der Bremse.
({0})
Nicht nachvollziehbar ist, dass zurzeit das Wirtschaftsministerium und das Kanzleramt versuchen, das längst überfällige Lieferkettengesetz massiv zu blockieren und zu verhindern. Inzwischen wissen wir auch, was los ist: Die Wirtschaftsverbände üben enormen Druck auf Kanzleramt und Wirtschaftsministerium aus.
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Daher freut es uns natürlich ganz besonders, dass Minister Heil und Minister Müller immer wieder öffentlich versprochen haben, dass sie im Februar ein Eckpunktepapier für ein Lieferkettengesetz vorlegen werden und das Thema während der EU-Ratspräsidentschaft vorantreiben wollen. Es reicht aber nicht aus, Lieferketten zu thematisieren; die Bundesregierung muss voranschreiten und ihr Gewicht in Europa für eine gesetzliche Regelung einsetzen.
({2})
Die Forderung nach dem Gesetz wird inzwischen von vielen Unternehmen gestellt. Und immer mehr Unternehmen wissen, dass sie von solch einem Gesetz tatsächlich auch Vorteile haben. Viele deutsche Unternehmen haben bereits selbst hohe soziale und ökologische Standards gesetzt, und deshalb fordern sie zu Recht von der Regierung, dass diese einen verbindlichen Rechtsrahmen setzt, damit weitgehend ein Level Playing Field, also annähernd gleiche Produktions- und Marktbedingungen, für alle Unternehmen geschaffen wird. Dafür ist Regierung auch da.
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Diese Unternehmen sind an fairen Verhältnissen interessiert und haben es schlicht satt, dass andere Unternehmen Standards unterlaufen und so Kostenvorteile bei der Produktion erzielen, die sich hier bei uns natürlich als Preisvorteil auf dem Markt auswirken. Und sie sagen zu Recht – noch einmal –: Es ist Aufgabe der Regierung, hier faire Verhältnisse durch klare gesetzliche Rahmenbedingungen zu schaffen. Wer das nicht versteht oder nicht verstehen will, handelt nicht im Interesse der deutschen Wirtschaft, sondern schützt lediglich schwarze Schafe.
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Viele Unternehmen weisen darauf hin, dass Zertifikate in der Beschaffung, also in der Lieferkette, immer wichtiger werden. Das heißt, Firmen müssen sich zukünftig auf Zertifikate verlassen können. Deshalb ist es notwendig, den gigantisch gewachsenen, weitgehend unkontrollierten Zertifizierungsmarkt sanft, aber doch eindeutig zu regeln, und das geschieht im Interesse unserer Firmen und im Interesse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer weltweit.
({5})
Das wesentlichste Element hierbei ist, dass Prüfunternehmen für ihre eigenen Zertifizierungen auch geradestehen. Sie müssen für das, was sie in ihren Prüfberichten bescheinigen, haften, auch gegenüber Dritten.
Werte Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, sowohl in der SPD als auch in der CDU gibt es inzwischen Parteitagsbeschlüsse, die ein Lieferkettengesetz fordern.
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Das können Sie ruhig mal der Kanzlerin und auch dem Wirtschaftsminister mitteilen.
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Stimmen Sie unseren Anträgen zu! Damit unterstützt die CSU Minister Müller, und die SPD würde Minister Heil unterstützen. Sie wissen: Beide Minister wollen einen Auftrag des Parlaments zur Unterstützung ihrer Pläne. Aber ich kenne Sie gut: Sie sind lieber bereit, dem Minister mit dem Knüppel eins aufs Schienbein zu hauen, als einem Antrag der Opposition zuzustimmen.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Stefan Rouenhoff.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben gerade von unserem Grünenkollegen Herrn Kekeritz eine flammende Rede für ein Lieferkettengesetz gehört.
({0})
– Das habe ich mir gedacht. – Das hört sich ja auch ganz schön an, was Sie da erzählt haben, Herr Kekeritz: Wenn wir erst mal ein Lieferkettengesetz haben, dann wird alles gut;
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dann gibt es keine Menschenrechtsverletzungen und auch keine Umweltzerstörung mehr.
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Liebe Grüne, ob Sie es glauben oder nicht – ich hoffe, dass Sie auch zuhören wollen –: Auch wir von der Unionsfraktion haben den klaren Wunsch, die Menschenrechtslage und die Umweltsituation in den Schwellen- und Entwicklungsländern zu verbessern.
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Aber ein Lieferkettengesetz, wie Sie es sich vorstellen, wird das Gegenteil von dem bewirken. Es wird unseren deutschen Mittelstand verunsichern, in Schwellen- und Entwicklungsländern zu investieren.
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Es wird unsere Unternehmer vermehrt davon abhalten, Zwischenprodukte aus diesen Ländern zu beziehen. Und es wird ausgerechnet jene Unternehmen in Ländern wie China oder Russland stärken, die in ihren Handels- und Investitionsbeziehungen weit niedrigere Standards ansetzen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen im Bundestag, wir brauchen kein Entwicklungs- und Investitionsverhinderungsgesetz,
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wir brauchen auch keine gutgemeinten Regelungen, mit denen wir uns die Hände in Unschuld waschen können, mit denen wir uns moralisch freikaufen können, liebe Grünen. Was wir brauchen, sind echte Entwicklungsperspektiven für die Menschen in Schwellen- und Entwicklungsländern.
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Wir brauchen viele Jobs für die schnell wachsende Bevölkerung in afrikanischen Staaten. Unsere deutschen Unternehmen können hierzu mit ihren hohen Standards einen maßgeblichen Beitrag leisten.
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– Möchten Sie auch zuhören, liebe Grüne? – Nein, Sie möchten nicht zuhören.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlich haben wir auch eine glasklare Erwartungshaltung an unsere Unternehmen. Sie haben in ihren Liefer- und Wertschöpfungsketten zum Schutz der Menschenrechte beizutragen, gar keine Frage. Dabei setzen wir mit dem Nationalen Aktionsplan „Wirtschaft und Menschenrechte“ aber zuallererst auf die freiwillige Selbstverpflichtung der Unternehmen.
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Wir haben uns innerhalb der beiden Regierungsfraktionen auf ein Verfahren verständigt; das mag Ihnen passen oder auch nicht. Aber Sie wissen ja: In der Politik wie auch beim Sport ändert man die Regeln nicht im laufenden Verfahren.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, jetzt wollen wir mal ein paar Punkte aus Ihrem Antrag aufgreifen. Sie beklagen ja – wie so häufig – die Lobbyarbeit der Wirtschaftsverbände.
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Diese ist nach Ihrer Deutung natürlich per se schlecht, während die Lobbyarbeit der sogenannten Zivilgesellschaft per se gut ist.
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Ihre Haltung ist natürlich kein Wunder, wenn zivilgesellschaftliche Nichtregierungsorganisationen knallhart für die Interessen der Grünen lobbyieren.
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Dann kann ich auch noch getrost auf Folgendes hinweisen, was Sie gerne unter den Tisch fallen lassen wollen: Im Bundesarbeitsministerium – hören Sie zu! – ist heute eine Person maßgeblich an der Umsetzung des Nationalen Aktionsplans beteiligt, die kurz zuvor noch Angestellte einer NGO war.
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– Lassen Sie mich mal ausreden. – In dieser früheren NGO-Funktion hat sie maßgeblich an einer Studie zu einem Lieferkettengesetz mitgewirkt. Als wenn das nicht genug ist: Als Ergebnis der Studie wurde auch gleich noch ein Gesetzentwurf mitgeliefert. – Bei einem Wirtschaftsvertreter wären die Grünen sofort aufgesprungen,
({16})
und hätten gesagt: Wir verlangen die Entlassung aus dem Staatsdienst. – Das möchte ich an dieser Stelle betonen.
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Ich komme noch zu einem weiteren Punkt, Herr Kekeritz, den Sie in Ihrem Antrag genannt haben. Sie fordern fast beiläufig, dass die gesetzliche Regelung in einem Lieferkettengesetz auf alle Unternehmen angewendet werden soll. Sie hören richtig: auf alle Unternehmen. Um das mal in Zahlen zu fassen: Wir haben in Deutschland 3,5 Millionen Unternehmen. Die überwältigende Zahl der Unternehmen – 3,1 Millionen – beschäftigt weniger als neun Mitarbeiter. Sie wollen also – so verstehe ich Sie, wenn ich den Text lese – jeden Kioskbesitzer, Handwerksbetrieb und Steuerberater mit Ihrem Lieferkettengesetz überziehen. Das kann nicht Ihr Ernst sein.
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Nun noch ein paar Worte zu dem, Herr Kekeritz, was auch Sie gerade gesagt haben, nämlich zu Ihrem Antrag zum Thema Prüfunternehmen. Sie schreiben, dass von Prüfunternehmen begangene Zertifizierungsfehler weder nach europäischem noch nach deutschem Recht sanktioniert werden können. Diese Aussage ist schlichtweg falsch; denn aus zwei Normen resultieren Haftungstatbestände für fehlerhafte Zertifizierungen. Sie werden heute natürlich von den zuständigen Gerichten auch regelmäßig angewendet.
Lassen Sie mich zum Schluss kommen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Menschenrechtsverstöße und Umweltzerstörungen sind im Kern auf eine fehlende Rechtsstaatlichkeit und auf ein Politik- und Verwaltungsversagen in den betroffenen Ländern zurückzuführen. Es ist originäre Aufgabe der deutschen Außenpolitik und Entwicklungszusammenarbeit,
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den Einfluss auf diese Regierungen im Interesse von Arbeits-, Umwelt- und Sozialstandards zu vergrößern.
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Dabei sollten wir nicht die ganze Last auf die Unternehmen übertragen. Wir als Union sind bereit, die unternehmerischen Sorgfaltspflichten stärker in den Blick zu nehmen, die Unternehmen stärker in die Verantwortung zu nehmen. Aber lassen Sie uns hier nicht das Kind mit dem Bade ausschütten.
Danke schön.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der AfD der Kollege Markus Frohnmaier.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben den teuersten Strom in Europa. Wir haben die zweithöchste Steuer- und Abgabenlast in Europa.
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Und laut ifo-Institut sind 620 000 Arbeitsplätze durch die schleichende Abschaffung des Verbrennungsmotors gefährdet. Die deutsche Wirtschaft pfeift aus dem letzten Loch. Und jetzt fordert der Kollege Kekeritz von den Grünen auch noch ein Lieferkettengesetz.
Lieferkettengesetz, was heißt das eigentlich? In der Theorie würde ein Lieferkettengesetz deutsche Unternehmen dazu verpflichten, lückenlos alle Bestandteile ihrer Lieferkette zu kontrollieren und auf die Einhaltung von ökologischen und sozialen Standards zu prüfen.
Was heißt das aber in der Praxis? Nehmen Sie einen beliebigen Hersteller, zum Beispiel Daimler. Laut BDI haben Hersteller wie Daimler bis zu 10 000 Zulieferer, und das bereits in der ersten Stufe der Lieferkette. Jeder dieser Zulieferer hat ebenfalls Tausende von Geschäftspartnern, die Bestandteil der Lieferkette sind. Das heißt also: Mit dem grünen Lieferkettengesetz von Herrn Kekeritz muss Daimler in Zukunft Daten zur Rohstoffherkunft von mehreren Hunderttausenden Unternehmen auswerten.
({1})
Bis zur letzten Schraube, bis zum letzten Span und bis zur letzten Batteriezelle muss der deutsche Unternehmer – alle Unternehmer! – in Zukunft Rede und Antwort stehen, selbst dann, wenn er gar keinen Einfluss und keine Kenntnis über die Wertschöpfung vor ihm hat.
Das Empörendste daran ist, dass ausgerechnet die Grünen hier einen nationalen Alleingang heraufbeschwören; denn das grüne Lieferkettengesetz würde ausschließlich deutsche Unternehmen benachteiligen.
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Damit haben wir ja schon historisch schlechte Erfahrungen gemacht. Denken Sie an die Euro-Rettung, denken Sie an die Energiewende, denken Sie an die massenhafte illegale Migration.
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– Hören Sie mal zu, dann können Sie was lernen.
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Das grüne Lieferkettengesetz führt zu einer massiven Verschiebung der Verantwortung: weg von den Staaten und den Regierungen hin zu deutschen – ausschließlich deutschen – Unternehmen. Gerade das ist – um es mit den Worten der Bundeskanzlerin zu sagen – unverzeihlich.
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Herr Kekeritz will das Versagen der milliardenschweren Entwicklungspolitik kaschieren und die vielfach unfähigen und korrupten Regierungen der Entwicklungsländer von der eigenen Verantwortung entbinden. Dabei profitieren gerade Entwicklungsländer vom Handel mit Industrienationen. Nur dank deutscher und europäischer Unternehmen konnten Entwicklungsländer in den letzten Jahrzehnten enorme Entwicklungsschübe vollbringen. Dafür sind nicht die Almosen aus dem Entwicklungsministerium verantwortlich, dafür ist nicht die Regulierungswut dieser Regierung verantwortlich. Verantwortlich für die Verbesserung der Lebensverhältnisse sind Marktöffnung und der Abbau von Handelshemmnissen, Direktinvestitionen und technologischer Transfer.
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Die Minen, Fabriken und Kraftwerke, das Engagement der deutschen und europäischen Unternehmer – nur das bringt Brot auf den Tisch der afrikanischen Familie. Deshalb mein Appell an Entwicklungsminister Müller: Hören Sie nicht auf diese grüne Gauklertruppe!
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Stellen Sie sich gegen dieses Lieferkettengesetz!
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der SPD der Kollege Frank Schwabe.
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Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Wir in diesem Hohen Hause tragen Verantwortung für die Menschen, für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Land. Aber wir tragen in der Tat auch Verantwortung – das ist gerade deutlich geworden – für die Menschen in den Ländern, in denen es eine schwache Staatlichkeit gibt und deutsche Unternehmen unternehmerisch tätig sind.
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Um es noch mal zu sagen: Es geht um die Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Es geht darum, wie lange Menschen, die für deutsche Unternehmen oder entsprechende Zulieferer tätig sind, in den Fabriken arbeiten müssen. Es geht darum, wie es mit der Gesundheitsversorgung aussieht. Es geht darum, ob dort Kinderarbeit stattfindet. Es geht darum, ob zum Beispiel durch den Bergbau Umweltschäden verursacht werden. Für das alles tragen wir Verantwortung. Wir müssen dafür sorgen, dass sich deutsche Unternehmen an entsprechende Regeln halten – natürlich gerne freiwillig. So ist es im Nationalen Aktionsplan „Wirtschaft und Menschenrechte“ angelegt.
Aber Freiwilligkeit gilt dann für alle Unternehmen, damit alle Unternehmen die gleichen Wettbewerbsbedingungen haben. Es kann doch nicht sein, dass es ein paar Unternehmen aus Deutschland gibt, die sich daran halten, und andere sagen: Nein, wir machen uns einen schlanken Fuß. – Deswegen sage ich für die Sozialdemokratie, dass wir dem Nationalen Aktionsplan „Wirtschaft und Menschenrechte“ skeptisch gegenüberstehen. Leider hat die Überprüfung in der ersten Runde ergeben, dass die Zahlen erschreckend niedrig sind und ein schwaches Bild abgeben, was die Verantwortung deutscher Unternehmen angeht.
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Genau deswegen brauchen wir eine gesetzliche Regelung, eine gesetzliche Verpflichtung, ein Level Playing Field für alle deutschen Unternehmen.
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Das ist unsere Aufgabe hier im Deutschen Bundestag, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Im Übrigen arbeitet das BMAS mit Minister Heil und Minister Müller an einem Gesetzentwurf. Es wäre schön, wenn vielleicht mal aus der Union ein bisschen Unterstützung für den eigenen Minister käme.
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Ich erinnere an den Koalitionsvertrag. Einfach mal lesen, was da drinsteht. Da steht nämlich drin: Wenn es in der zweiten Runde – die soll beendet sein im Juni dieses Jahres – eine Überprüfung gibt und deutlich wird, dass weniger als 50 Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten ihrer Sorgfaltspflicht nachkommen, dann gibt es eine gesetzliche Regelung. – Darauf bestehen die Sozialdemokratische Partei und die sozialdemokratische Fraktion ohne Wenn und Aber.
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Ich wäre ein bisschen vorsichtig, Herr Rouenhoff, wenn Sie Angriffe auf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ministeriums für Arbeit und Soziales starten, wissend, welche Papiere Sie eigentlich geliefert bekommen. Es ist nämlich so, dass für Sie Herr Kampeter, der ja mal in der Bundesregierung Verantwortung getragen hat, Ihre Papiere und Ihre Position eins zu eins formuliert – das ist nämlich die Realität –
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und dann am Ende das Wirtschaftsministerium diese Positionen entsprechend übernimmt.
Sie haben gerade formuliert – ich habe es mir aufgeschrieben –: Man ändert die Regeln nicht während des Verfahrens. – Sie wollen sie aber ändern, weil Sie in der ersten Überprüfungsrunde des NAP gemerkt haben, dass die Nummer nicht funktioniert. Deswegen kommen Sie jetzt und sagen: Wir wollen tricksen und täuschen, wir wollen alles nach hinten verschieben, und wir wollen die Regeln im Verfahren ändern. – Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen, sehr geehrter Herr Kollege.
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Viele Menschen da draußen, glaube ich, warten darauf, dass wir hier im Deutschen Bundestag Entscheidungen treffen, im Übrigen auch das Zentralkomitee der deutschen Katholiken. Es könnte ja sein, dass Sie auf das ein Stück weit hören. Dieses hat nämlich bei der Vollversammlung am 22. und 23. November des letzten Jahres auch eine gesetzliche Regelung eingefordert.
Es gibt zahlreiche Unternehmen, die sich für eine gesetzliche Regelung einsetzen. Und ich weiß gar nicht, wie Sie, Herr Frohnmaier, auf die Idee kommen, Daimler zu zitieren, weil Daimler genau eines der Unternehmen ist, das sich für eine gesetzliche Regelung einsetzt.
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Insofern: Einfach mal vorher informieren; dann ist man auf der richtigen Seite.
Ansonsten zitiere ich mit Erlaubnis des Präsidenten eine gemeinsame Position zahlreicher Unternehmen aus Deutschland:
Eine gesetzliche Regelung menschenrechtlicher und umweltbezogener Sorgfaltspflichten würde zu Rechtssicherheit und gleichen Wettbewerbsbedingungen („level playing field“) beitragen. Sie würde sicherstellen, dass für alle
– für alle! -
der gleiche Standard gilt und kein Unternehmen sich ohne Konsequenzen seiner Verantwortung entziehen oder Gewinne auf Kosten von Mensch und Natur machen darf. Das erwarten auch die Beschäftigten, die Kunden, die Investoren und die Öffentlichkeit von uns.
Unterschrieben unter anderem von KiK, Hapag-Lloyd, Nestlé, Ritter Sport, Rewe, Tchibo und vielen anderen.
Es wäre schön, wenn bei den Kolleginnen und Kollegen der Bundestagsfraktion von CDU und CSU diese Einsicht entsprechend Eingang finden würde:
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Wir brauchen eine vernünftige Regelung für die deutschen Unternehmen. Sie werden doch sicher auch entsprechende Gespräche führen. Die deutschen Unternehmer sind verunsichert. Sie wissen oftmals gar nicht: Wie machen wir das eigentlich? Welche Standards sollen wir denn anwenden? – Deswegen ist es wichtig, den Unternehmen Orientierung zu geben und am Ende klarzumachen: Wir verlangen die gleichen Kriterien von allen deutschen Unternehmen, die im Ausland tätig sind.
Wie Sie wissen: Der Kiosk ist natürlich nicht gemeint.
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Sondern es geht um Unternehmen, die einen wirklich maßgeblichen Einfluss im Ausland haben.
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Herr Schwabe, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen?
Nein. – Wir tragen Verantwortung für die deutschen Unternehmen. Wir tragen aber auch Verantwortung für die betroffenen Menschen in den Ländern, über die wir reden. Wir reden – das muss man sich klarmachen – über den Begriff „menschenrechtliche Sorgfaltspflichten“; darum geht es.
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Wir wollen, dass sich alle deutschen Unternehmen daran halten. Deswegen bin ich fest davon überzeugt, dass wir noch in dieser Legislaturperiode ein solches Lieferkettengesetz verabschieden sollten.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner für die Fraktion der FDP ist der Kollege Dr. Christoph Hoffmann.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Kollegen! Die Freien Demokraten stehen für die Einhaltung der Menschenrechte weltweit, und wir stehen auch für die Einhaltung sozialer und ökologischer Standards weltweit. Ich glaube, in diesem Ziel sind wir uns hier in der Mitte des Parlaments auch einig. Aber es geht um den Weg: Wie kommen wir zu diesem Ziel? Ich glaube, da lohnt sich ein Blick in die eigene Geschichte, in die Geschichte Europas und Deutschlands.
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Früher gab es auch in Europa Kinderarbeit.
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Wie ist sie beseitigt worden? Durch nationale Gesetze! Früher gab es keine Schulpflicht – sie wurde durch Nationalstaaten eingeführt. Das heißt, wir dürfen die Nationalstaaten auch in den Entwicklungsländern nicht aus ihrer Verantwortung entlassen; das ist wichtig.
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Wie haben sich zum Beispiel Landwirte aus der Armut befreit? Indem sie sich zusammengeschlossen haben zu Genossenschaften, um ihre Produkte im Angebot zu bündeln und damit bessere Preise zu erzielen. So war es auch im Markgräflerland, meiner Heimat. Dort gibt es die Winzergenossenschaft, und das war eine Erlösung für die Bauern. Genau so wird es auch im Süden laufen.
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Ich nenne ein Beispiel: Ghana und die Elfenbeinküste haben sich zusammengeschlossen, um das Kakaoangebot zu bündeln und damit höhere Preise zu erzielen. Das ist der Weg.
Ich nenne ein weiteres Beispiel: die Löhne der Näherinnen in Bangladesch. Sie waren immer unter Beschuss. Mittlerweile haben sie sich über Gewerkschaften und Demonstrationen erkämpft, dass der Mindestlohn von 43 auf 83 Dollar gestiegen ist – alles ohne deutsches Lieferkettengesetz.
Wir als FDP lehnen einen deutschen Alleingang ab; denn Außenhandel ist europäisches Recht. Deshalb muss es einen europäischen Ansatz und keine zig Lösungen in Europa geben; das wäre verhängnisvoll. Wir lehnen auch ein bürokratisches Lieferkettengesetz, so wie Herr Kekeritz es vorschlägt, ab. Denn: Bürokratie haben wir schon genug in Deutschland, und diese ist für die kleinen und mittleren Unternehmen, die das Rückgrat unserer deutschen Wirtschaft sind, einfach unzumutbar.
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Ein Betrug in einer solchen Lieferkette ist auch immer möglich, und dann am Ende jemanden dafür haftbar zu machen, dass 20 Schritte vorher irgendein anderer gegen die Menschenrechte verstoßen hat, ist völlig undenkbar. Ich glaube, das werden auch Sie bald einsehen.
Das Schlimmste von allem ist: Durch diese Bürokratie wird die Investitionsbereitschaft deutscher Unternehmen, zum Beispiel auf dem afrikanischen Kontinent zu investieren, dramatisch zurückgehen. Das ist genau das Gegenteil dessen, was wir brauchen.
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Was müssen wir machen? Wir müssen stattdessen die gute Regierungsführung in den afrikanischen Staaten sowie den Aufbau von Gewerkschaften und Genossenschaften in diesen Ländern auch mit Entwicklungszusammenarbeit unterstützen. Aber wir müssen auch knallhart diejenigen verfolgen, die gegen Menschenrechte verstoßen. Die EU darf sich nicht dafür zu schade sein, eine Liste von Staaten, aber auch von Unternehmen zu führen, die gegen Menschenrechte verstoßen haben, auch als Orientierung für die Unternehmen. Bei dieser Blame-and-Shame-Liste muss der Staat, muss Europa Verantwortung übernehmen.
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Deshalb noch mal an Sie, Herr Kekeritz: Um schwarze Schafe zu finden, muss man nicht gleich die ganze Herde erschießen.
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Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Eva-Maria Schreiber für die Fraktion Die Linke.
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Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Um kein Lieferkettengesetz auf den Weg bringen zu müssen, wurden im vergangenen Jahr insgesamt 3 325 Unternehmen angeschrieben. Man wollte feststellen, ob sie freiwillig darauf achten, dass in ihren Lieferketten Menschenrechte, internationale Arbeitsnormen und Umweltstandards eingehalten werden. Um die Freiwilligkeit weiter beizubehalten, mussten 50 Prozent der Antworten positiv ausfallen. Geantwortet haben 465 Unternehmen. Davon erfüllten 20 Prozent, also 93 Unternehmen, die Anforderungen. Das sind 2,8 Prozent der Angeschriebenen.
Jetzt soll noch ein zweiter Durchgang erfolgen. Glauben Sie wirklich, dass im Juni plötzlich über 50 Prozent der Unternehmen die Anforderungen erfüllen werden? Ich nicht!
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Also sage ich in Richtung Wirtschaftsministerium und Kanzleramt: Es wird höchste Zeit, die Blockade aufzugeben, bereits jetzt die Eckpunkte für ein solches Gesetz festzulegen und darüber zu diskutieren.
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Ein Lieferkettengesetz, das seinen Namen verdient, muss in meinen Augen umfassend sein:
Erstens. Die Grundlage des Gesetzes darf nicht auf einzelne Tatbestände beschränkt werden, zum Beispiel Kinderarbeit oder Gefahr für Leib und Leben. Die Menschenrechte sind unteilbar. Dazu gehören genauso existenzsichernde Löhne, das Recht auf sauberes Trinkwasser usw. Daran müssen sich große deutsche Firmen auch in ihren Lieferketten verbindlich halten.
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Zweitens müssen diese Regeln sanktionsbewehrt sein. Sonst hält sich doch wieder niemand dran.
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Drittens brauchen wir endlich Klagerechte für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen. Wem durch ein deutsches Unternehmen Unrecht widerfährt, der muss auch vor einem deutschen Gericht sein Recht bekommen. Das ist überfällig.
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Der Antrag der Grünen stellt die richtige Frage: Wer kontrolliert die Kontrolleure? – Das blühende Business mit den Zertifikaten muss einer starken staatlichen und öffentlichen Aufsicht unterliegen; die Firmen müssen staatlich akkreditiert werden.
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Es muss klar sein, dass Gefälligkeitsgutachten, Betrug und Korruption hart geahndet werden. 256 Menschen sind letztes Jahr in Brasilien auf dem Gelände einer Mine nach dem Bruch eines Staudamms, den der TÜV Süd – angeblich wider besseres Wissen – zertifiziert hatte, ums Leben gekommen. Die Prüffirma muss in solchen Fällen vollumfänglich haften und ihre Akkreditierung verlieren.
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Ein wichtiger Punkt sind auch die Kriterien, nach denen geprüft wird. Ein Beispiel für sehr unterschiedliche Prüfstandards sind die Palmölplantagen von Feronia im Kongo. Die DEG befindet, dass alles in Ordnung und auf einem guten Weg sei. Human Rights Watch berichtet dagegen über fehlende Schutzkleidung, vergiftetes Wasser und Hungerlöhne. Um solche Fälle zu vermeiden, müssen die Kriterien einheitlich sein: Was wird geprüft? Mit wem wird geredet? Nach welchen Indikatoren wird bewertet? Werden Zustände durch mangelhafte Kriterien weißgewaschen? Werden kritische Stimmen gehört, etwa von den Arbeitern, von den Gewerkschaften oder von der Zivilgesellschaft? Auch dies gehört gesetzlich festgelegt.
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Das Lieferkettengesetz gehört besser heute als morgen ins Kabinett. Nach neun Jahren Nichtstun ist es wirklich höchste Eisenbahn.
Danke.
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Vielen Dank. – Letzter Redner der Debatte ist für die Fraktion der CDU/CSU der Kollege Dr. Matthias Zimmer.
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Danke schön. – Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In den frühen 80er-Jahren fiel mir das Buch „Das Prinzip Verantwortung“ von Hans Jonas in die Hände. Besonders beeindruckt hat mich damals die Idee, dass man die Ethik der Nächstenliebe durch eine Ethik der Fernstenliebe ersetzen müsse, die eine Fernverantwortung beinhalte. Nur so werde man der Tatsache gerecht, dass Sozialbeziehungen und Schadensbeziehungen auseinanderklaffen.
Die Globalisierung hat diese Betrachtung noch einmal deutlich unterstrichen. Wir sind in globale Kontexte eingebettet, unser Handeln hat Konsequenzen in weit entlegenen Regionen der Welt. Da s betrifft auch unser Konsumverhalten. Mit unseren Käufen unterstützen wir indirekt Kinderarbeit in Kobaltminen, Arbeit unter unwürdigen oder gefährlichen Bedingungen, ausbeuterische Arbeit. Die Produkte sind nicht unschuldig, sondern sie tragen mitunter die Schande ihrer Entstehung in sich; wir wissen es nur häufig nicht.
Die Wirtschaft soll dem Gemeinwohl dienen. Das ist keine Erfindung von mir, sondern steht so beispielsweise in der Verfassung des Freistaats Bayern und in der Hessischen Verfassung. Dass Eigentum verpflichtet und sein Gebrauch dem Wohl der Allgemeinheit dienen soll, steht bekanntlich im Grundgesetz. Unzweifelhaft lässt sich der Begriff des Gemeinwohls aber nicht mehr nur nationalstaatlich fassen, wenn wir an die Menschenrechte denken. Sie sind universal, und wir haben darum eine Verpflichtung, Verletzungen der Menschenrechte anzuprangern, unsere Stimme zu erheben. Wir haben eine Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass dort, wo wir Einfluss nehmen können, Menschenrechte nicht verletzt werden.
Das gilt auch für die Wirtschaft und wird dort zunehmend auch so gesehen. Joe Kaeser hat beispielsweise unlängst einmal geschrieben, das Geschäft des Unternehmens sei es, der Gesellschaft zu dienen, also nicht den Shareholdern, sondern der Allgemeinheit. Und das tut man am besten dadurch, dass man keine Gewinne mit Menschenrechtsverletzungen macht.
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Ich glaube, bis hierhin sind wir uns weitgehend einig. Das ist auch der Geist, der die UN-Prinzipien zur Wirtschaft und zu den Menschenrechten prägt. Gewinne ohne Gewissen, das geht nicht.
Die Fragen, die wir debattieren, lauten: Was ist der beste Weg, um menschenrechtliche Sorgfaltspflichten in den Wertschöpfungsketten, in den Lieferketten zu erfüllen? Reicht es aus, an die Verantwortung der Unternehmen zu appellieren, an die Kraft der öffentlichen Meinung, oder müssen wir die Unternehmen notfalls in die Haftung dafür nehmen, was in ihren Lieferketten passiert – durch ein Gesetz, wie in anderen Ländern auch?
Im Gegensatz zu den Grünen glaube ich allerdings nicht, dass es jetzt schon an der Zeit ist, ein solches Gesetz zu beschließen. Der Kollege Kekeritz hat ja freundlicherweise darauf hingewiesen, dass wir in unseren Parteitagsbeschlüssen gesagt haben, dass wir entschlossen sind, dieses Thema weiterzuverfolgen. – Im Übrigen, lieber Kollege Kekeritz: Was ich überhaupt nicht verstehe, ist, dass man die CDU-Parteitagsbeschlüsse liest und dann noch Mitglied der Grünen sein kann. Da muss man doch vor Begeisterung sagen: Wir gehen auf die gute Seite der Macht; da ist es doch viel interessanter.
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Vielleicht wäre es ganz sinnvoll, lieber Kollege Kekeritz, diesen Parteitagsbeschluss mal dem Kollegen Schwabe zu geben, damit er keinen Zweifel daran hat, dass wir von der Union unseren Minister mit all der nötigen Sorgfalt und Power unterstützen,
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um ein solches Gesetz am Ende dann auch durchsetzen zu können, genauso wie es die SPD mit ihrem Minister macht.
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– Das war jetzt ironisch, Herr Kollege Schwabe.
Ich habe gesagt: Wir haben noch keinen Anlass, ein solches Gesetz zu beschließen; denn wir haben uns im Koalitionsvertrag verpflichtet, zunächst einmal die Überprüfung des Nationalen Aktionsplans abzuwarten. Wenn sich dabei herausstellt, dass die freiwillige Selbstverpflichtung der Unternehmen nicht ausreichend ist, dann müssen wir tätig werden – nicht nur als nationaler Gesetzgeber, sondern auch im europäischen Rahmen. Ich glaube, dass die deutsche Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr eine gute Chance ist, auch dieses Thema anzustoßen.
Da es auch erwähnt worden ist: Weil die beiden zuständigen Minister – der Minister Heil und der Minister Müller – tatsächlich bereits ein Eckpunktepapier in Arbeit haben und das in absehbarer Zeit vorstellen wollen, bin ich sehr gespannt darauf, ein Bild davon zu bekommen, wie man sich dieses Gesetz gegebenenfalls vorstellen kann.
Wir haben im Koalitionsvertrag festgelegt: Vor dem Gesetz kommt die Prüfung, ob die freiwillige Selbstverpflichtung ausreicht. – Ich finde, auch darauf müssen sich die Unternehmen in Deutschland verlassen können, aber sie sollten auch die Entschlossenheit der Bundesregierung nicht unterschätzen, den Nationalen Aktionsplan ernst zu nehmen und die menschenrechtliche Verantwortung in den Lieferketten notfalls auch gesetzlich zu verankern. Es darf keine Gewinne ohne Gewissen geben.
Herzlichen Dank.
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Vielen Dank. – Es gibt keine weiteren Redner. Deshalb schließe ich die Aussprache.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor fast einem Jahr haben wir hier im Plenum des Deutschen Bundestages schon einmal über die Anerkennung der Opfergruppen der sogenannten Asozialen und Berufsverbrecher diskutiert. Seinerzeit ging es um einen Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, dessen Inhalt meine Fraktion nicht in allen Punkten zustimmen konnte. Gründe dafür habe ich in meiner Rede vom April 2019 ausführlich dargelegt.
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Zunächst einmal teilen wir die Einschätzung nicht, dass – ich zitiere aus dem Antrag – auch „74 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz das Schicksal der Betroffenen in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt“ ist. Der zweite Diskussionspunkt bestand in einem fundamentalen Unterschied im Verständnis der Mechanismen der Gedenkkultur in Deutschland. Nach unserer Auffassung sind Gedenkstätten und Dokumentationszentren nämlich grundsätzlich frei in der Schwerpunktsetzung und inhaltlichen Gestaltung ihrer Ausstellungen, Veranstaltungen und Publikationen.
Ich erwähne diese Punkte hier nochmals verkürzt, um zu verdeutlichen, dass es in meiner Fraktion eben keinen Zweifel daran gab, dass die im Nationalsozialismus sogenannten Berufsverbrecher und Asozialen eine Anerkennung als Opfer verdienen. Von Beginn der parlamentarischen Diskussion an – in den Arbeitsgruppen, im Ausschuss, in öffentlichen Anhörungen – waren sich alle Fraktionen mit Ausnahme der AfD grundsätzlich einig, dass hier Handlungsbedarf besteht. Ich räume auch gern ein, dass es die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen war, die das Thema zuerst auf unsere politische Agenda gesetzt und mit dem ersten Antrag dazu die konstruktive Diskussion, die wir bis heute führen, angestoßen hat.
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Wir haben seit dem vergangenen Jahr in verschiedenen Gremien oft und ausführlich über das Thema gesprochen, zuletzt im Rahmen einer öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Kultur und Medien am 6. November 2019. Mit Ausnahme der AfD waren wir uns alle einig, was die Anerkennung der Opfer, die Schaffung eines öffentlichen Bewusstseins, die Erweiterung der staatlichen Gedenkkultur und die Förderung der wissenschaftlichen Erforschung betrifft.
Ausdrücklich danken möchte ich an dieser Stelle den vier Sachverständigen, die uns in unserem politischen Entscheidungsprozess mit ihrer Expertise sehr geholfen haben: Dr. Ulrich Baumann von der Stiftung „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“, Dr. Julia Hörath vom Hamburger Institut für Sozialforschung, Dr. Dagmar Lieske von der Goethe-Universität Frankfurt am Main und besonders Professor Dr. Frank Nonnenmacher, der sich durch jahrelanges Engagement und unermüdliche Arbeit viele Verdienste erworben hat, was die volle Anerkennung der sogenannten Berufsverbrecher und Asozialen als Opfer des Nationalsozialismus betrifft.
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An die Adresse der AfD-Fraktion, die festgestellt hat, dass eine Gleichstellung mit anderen Opfern nicht infrage kommt, weil die SS gern sogenannte Kriminelle als Kapos eingesetzt hat, möchte ich Folgendes zu bedenken geben: Zu den Asozialen zählten die Nazis Wohnungslose, Wanderarbeiter oder Frauen, die als sexuell verwahrlost galten. Der Begriff „asozial“ war nicht genau definiert. Er konnte bewusst breit ausgelegt werden und diente daher als Instrument der Unterdrückung.
Die als Berufsverbrecher in Konzentrationslagern Inhaftierten waren zumeist Kleinkriminelle mit mehreren Vorstrafen. Nach Verbüßen ihrer Haftstrafe wurden sie in ein Konzentrationslager eingeliefert ohne irgendeine rechtliche Grundlage. Ab 1942 wurden sie sämtlich zur sogenannten Vernichtung durch Arbeit freigegeben. Ich sehe hier keinen Bedarf für eine Einzelfallprüfung, wie die AfD es möchte. All diese Menschen sind Opfer, und sie verdienen es, rehabilitiert und öffentlich anerkannt zu werden.
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In unserem Antrag heißt es daher: „Niemand wurde zu Recht in einem Konzentrationslager inhaftiert, gequält und ermordet.“
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Diese Feststellung sollte unter allen hier Anwesenden Konsens sein.
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Was die oft in den Medien diskutierte Frage der finanziellen Wiedergutmachung betrifft, so führt unser Antrag dazu, dass Betroffene durch die volle Anerkennung als NS-Opfer endlich Leistungen nach dem Kriegsfolgengesetz, sprich: eine Entschädigung, erhalten können. Es ist natürlich keine Sternstunde für unser Land, dass diese finanzielle und gesellschaftliche Anerkennung erst 75 Jahre nach Kriegsende erfolgt,
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zumal die übergroße Zahl der Opfer, die die Gewaltherrschaft der Nazis überlebt hat, ihre späte Gerechtigkeit nicht mehr erleben kann. Dennoch bin ich dankbar, dass es uns nun gelungen ist, gemeinsam mit den Sachverständigen zu einer für uns alle tragfähigen Lösung zu kommen. Ich möchte Sie daher bitten, unserem Antrag Ihre Zustimmung zu geben.
Vielen Dank.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der AfD der Kollege Dr. Marc Jongen.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das NS-Regime hat die von ihm sogenannten „Asozialen und Berufsverbrecher“ in großer Zahl in Konzentrationslagern interniert und dort zu Tode gebracht. Die Koalition, Grüne, Linke und FDP wollen diese jetzt als eigene Opfergruppe anerkannt wissen. Meine Damen und Herren, es steht völlig außer Frage, dass jedem – ausnahmslos jedem –, der in das barbarische Bestrafungs- und Vernichtungssystem der Nationalsozialisten geraten ist, schwerstes Unrecht widerfahren ist.
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Die Frage, um die es hier geht, ist eine andere: Sind alle KZ-Häftlinge wirklich auf eine Stufe zu stellen, oder gebietet es das moralisch sensible Urteil, hier doch zu differenzieren?
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Man muss wissen, dass vor allem die sogenannten Berufsverbrecher überdurchschnittlich oft als Funktionshäftlinge, sogenannte Kapos, eingesetzt wurden und als solche über Leben und Tod ihrer Mithäftlinge entschieden haben. Ich möchte in diesem Zusammenhang einen Zeitzeugen zu Wort kommen lassen. Der Holocaustüberlebende Felix Kolmer schrieb dazu in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 27. Januar 2017 – Zitat –:
Ein kräftiger Mann, der einen anderen Anzug getragen hat als wir, stellte sich vor uns hin: unser Kapo, der hier einsaß, weil er ein Verbrecher war. Er sagte, dies sei das beste Lager der ganzen Welt – man müsse nur Befehlen folgen. Wer nicht folgt, werde schwer bestraft, sagte er. Dann brachte er seinen Schreiber, einen älteren Mann, zu uns. Vor unseren Augen hat der Kapo ihn mit einem Stock totgeschlagen. So zeigte er uns, was mit uns passiert, wenn wir nicht parieren.
Meine Damen und Herren, dieses Verhalten trifft sicher nicht auf alle aus dieser Gruppe zu, insbesondere nicht auf die sogenannten Asozialen, Frau Bernstein. Aber allein, dass es auf nicht wenige Kriminelle zutrifft, die in den Lagern zu Kapos gemacht wurden, macht aus unserer Sicht eine Einzelfallprüfung doch unumgänglich und macht eine pauschale Anerkennung als Opfergruppe, das heißt Gleichstellung mit den rassistisch verfolgten Juden oder den politischen Häftlingen, zu einem Ding der Unmöglichkeit.
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Eine Bemerkung kann ich mir an dieser Stelle nicht verkneifen: Wenn man sich aus Anlass dieser Anträge mit dem zutiefst inhumanen, geradezu teuflischen Lagersystem der Nazis beschäftigt, dann kann man nur sagen: Es ist unerhört, mit welcher Leichtfertigkeit Sie, vor allem von der Linken, den Grünen und der SPD, aber bis in die CDU und die FDP hinein, mit der Nazivokabel um sich werfen und Ihre Parlamentskollegen von der AfD als Nazis und Faschisten beschimpfen. Wir haben es heute in der Aktuellen Stunde zu den Vorgängen in Thüringen wieder erlebt.
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Ich denke auch an Ihre unsägliche Rede in Weimar vom 5. Februar, Frau Grütters – unerträglich!
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Sie beleidigen damit nicht nur uns.
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Sie verharmlosen die Nazis und verhöhnen deren Opfer durch Ihre irrsinnigen Vergleiche. Und Sie instrumentalisieren die Opfer für gegenwärtige Parteipolitik. Man muss sich vor Augen führen, dass der Hauptsachverständige in der Frage „Asoziale und Berufsverbrecher“, der auch bei uns im Kulturausschuss zu Gast war, es nicht für nötig befunden hat, auch die AfD anzuschreiben, weil er sich nur an die demokratischen Fraktionen wende, wie er sich ausdrückte.
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Er übernimmt ganz offen das manipulative Framing der Altparteien, das die AfD aus dem demokratischen Konsens ausgrenzen soll.
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Die Historikerin Ulrike Jureit und der Soziologe Christian Schneider, beide nicht AfD-verdächtig, haben in ihrem lesenswerten Buch von 2010 „Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung“ – hören Sie da einmal zu – zu Recht festgestellt: Die deutsche Gedächtniskultur ist von einer „Wiederholungsphobie“ geprägt, die jeder nachwachsenden Generation eingeimpft wird.
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„Moral-Eliten“, so die Autoren, halten „das Zepter der kulturellen Hoheit fest in der Hand“ und veranstalten eine – Zitat – „Olympiade der Betroffenheit“,
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sie hätten ein „stahlhartes Gehäuse normierten Gedenkens“ etabliert.
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An diesem Gehäuse bauen Sie heute weiter, aber Sie bauen ohne uns. Wir lassen uns unser moralisches Urteil nicht eintrüben, nicht von Ihrer theatralisch zur Schau gestellten Betroffenheit
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und auch nicht von Ihren Drohgebärden.
Vielen Dank.
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Nächste Rednerin ist für die Fraktion der SPD die Kollegin Marianne Schieder.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie alle kennen sie, die kleinen Messingsteine, die uns auf Gehwegen und Plätzen begegnen und an ganz alltäglichen Orten an Opfer des Nationalsozialismus erinnern. Diese Stolpersteine liegen dort, wo Menschen gelebt und gewohnt haben.
Aber wie ist es eigentlich mit Menschen, die keinen festen Wohnsitz hatten? Einen solchen Ort habe ich heute zusammen mit Dr. Eva Högl, Katrin Budde, Susann Rüthrich und Martin Rabanus besucht. Mit dabei war auch Professor Nonnenmacher, den ich heute als Gast mit seiner Frau auf der Tribüne ganz herzlich begrüßen möchte.
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Herr Professor Nonnenmacher stand uns schon mehrfach als Sachverständiger zur Verfügung. Gemeinsam waren wir also heute am Berliner Alexanderplatz, wo ganz in der Nähe der Weltzeituhr fünf Stolpersteine verlegt sind. An diesem Platz war früher das Restaurant Aschinger. Es war bekannt für seine günstigen Speisen und deswegen auch bei Obdachlosen sehr beliebt. Und genau darum befinden sich dort heute Stolpersteine für Obdachlose, die von Nationalsozialisten als sogenannte Asoziale, teilweise auch als Berufsverbrecher verfolgt wurden.
Einer von ihnen war Karl Otto Mielke. Aus seinem Leben wissen wir, dass er in den 1930er-Jahren mehrfach seinen Arbeitsplatz verlor und keinen festen Wohnsitz hatte. Für die Nationalsozialisten galt er als arbeitsscheu und asozial. Gesucht, verhaftet und verurteilt wurde er wegen Bummelns. Diesen Straftatbestand führten die Nazis eigens ein, um Menschen, die nicht den gesellschaftlichen Arbeitsnormen entsprachen, festnehmen zu können. Nachdem er seine Haft verbüßt hatte, wurde Karl Otto Mielke in Vorbeugungshaft genommen, ins Konzentrationslager Sachsenhausen verbracht und dort ermordet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, als Asoziale verfolgten die Nationalsozialisten die unterschiedlichsten Menschen: neben sogenannten Arbeitsscheuen auch Obdachlose und Prostituierte. Berufsverbrecher waren Menschen, die in der Regel mindestens dreimal Haftstrafen für Eigentumsdelikte verbüßt hatten. Auch wenn kein Tatverdacht mehr gegen sie vorlag, wurden viele von ihnen in Konzentrationslager gebracht und ermordet. An der Kleidung mussten sie einen schwarzen bzw. grünen Winkel tragen.
Das Konzentrationslager Flossenbürg in meiner Oberpfälzer Heimat wurde für sogenannte Asoziale und Berufsverbrecher errichtet und hieß nicht umsonst „grünes Lager“. Dort war auch Carl Schrade eingesperrt, nachdem er bereits seine Strafen wegen Diebstahls, Sachhehlerei und Urkundenfälschung verbüßt hatte. Er beschwerte sich öffentlich in einem Café über die Inhaftierung von zwei Freunden durch die Gestapo. Daraufhin wurde er in polizeiliche Vorbeugungshaft genommen und kam über mehrere Konzentrationslager mit dem grünen Winkel schließlich nach Flossenbürg. Von den Nazis wurde er zum Funktionshäftling gemacht, zu einem Kapo, zur Aufsicht über andere Häftlinge verpflichtet und gezwungen. In dieser Position half Carl Schrade seinen Mitgefangenen so gut wie möglich. Selbst nach der Befreiung von Flossenbürg pflegte er freiwillig schwerkranke Mithäftlinge.
Wir haben heute am Alexanderplatz an Menschen wie Karl Otto Mielke und Carl Schrade erinnert. Und jetzt diskutieren wir hier im Parlament über vier Anträge zur Anerkennung dieser bisher wenig beachteten Opfergruppen. Das haben wir bereits im Koalitionsvertrag vereinbart; das ist also schon eine ganze Weile her. Die Anträge eint der Wille, das Leid der Verfolgten anzuerkennen und klarzustellen: Niemand saß zu Recht im KZ!
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Ich zitiere Professor Frank Nonnenmacher, der in unserer Anhörung sagte:
Aufgeklärte Demokraten erkennen alle Menschen, die in den KZ gequält und gemordet wurden, als Opfer des NS-Unrechtsstaats an, unabhängig von Religion, Nationalität, Herkunft und Lebensweise, biografischer Vorgeschichte oder sozialem Status.
Zu diesen aufgeklärten Demokraten gehört die AfD nicht. Das hat sie heute wieder einmal bewiesen.
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Sonst könnten solche Sätze nicht fallen, wie sie Herr Kollege Jongen hier heute gebracht hat.
Unser Antrag hat einen Vorschlag aufgegriffen, der bereits seit ungefähr zehn Jahren vom Beirat der Stiftung „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ gefordert wird. Unser Antrag ermöglicht die Wanderausstellung, in der wissenschaftliche Forschungsergebnisse einer breiten Öffentlichkeit vorgestellt werden können. Hier kann sehr gut herausgearbeitet werden, was die Begriffe „asozial“ oder „Berufsverbrecher“ in der Sprache der Nazis bedeuteten, wie beliebig Menschen stigmatisiert, an den Rand der Gesellschaft gedrängt, gequält und ermordet wurden. Mit einem modularen Konzept soll die Ausstellung fortlaufend erweitert werden können, zum Beispiel durch Rechercheergebnisse von jungen Menschen, die sich in der Schule oder in der Jugendgruppe mit den Geschichten von Verfolgten aus ihrer Heimat auseinandersetzen.
Darüber hinaus sieht der Koalitionsantrag unter anderem eine stärkere Kooperation von Gedenkstätten mit Bildungseinrichtungen und lokalen Akteuren vor. Als Asoziale und Berufsverbrecher Verfolgte werden zudem explizit als Leistungsberechtigte in die Härterichtlinien des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes aufgenommen. Es ist also nicht die vollständige Anerkennung; es ist die Anerkennung im Sinne der Härtefallregeln. Damit wird für alle ersichtlich, dass die Überlebenden einen Anspruch auf finanzielle Leistungen haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich freue mich sehr, dass die vorliegenden Anträge von fünf Fraktionen dieses Hauses im Grunde das gleiche Ziel haben. Man fragt sich: Warum nicht gleich ein gemeinsamer Antrag? Ich sage hier unumwunden: Ich hätte das begrüßt, und die SPD-Fraktion auch.
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Aber es gibt nicht erst seit Thüringen den Beschluss der Unionsfraktion, keine gemeinsamen Initiativen mit der Linksfraktion zu unterstützen.
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Daran ist ein gemeinsamer Antrag letztlich gescheitert.
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„Ihr seid nicht verantwortlich für das, was geschah. Aber dass es nicht wieder geschieht, dafür schon.“ Das waren die Worte meines guten Freundes und KZ-Überlebenden Max Mannheimer, der letzte Woche 100 Jahre alt geworden wäre.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, dass sich die Schrecken des Nationalsozialismus nie wiederholen. Deshalb dürfen wir nicht vergessen, und zwar keine einzige Opfergruppe. Alle müssen wir sie zu ihrem Recht kommen lassen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion der FDP der Kollege Hartmut Ebbing.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 75 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz und dem Ende des Zweiten Weltkrieges befassen wir uns hier im Deutschen Bundestag erneut mit den Opfern dieser Zeit.
Einerseits ist das gut; denn es zeigt, dass uns die Vergangenheit weiter beschäftigt und die Geschehnisse von damals auch unser heutiges Handeln bestimmen. Wir haben nicht vergessen. Das Bekenntnis zum „Nie wieder“ muss sich in unserem täglichen Handeln widerspiegeln.
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Reden und Betroffenheit allein reichen dafür nicht aus.
Andererseits beschämt mich dieser Vorgang auf mehreren Ebenen. Zum einen sollte es eine Selbstverständlichkeit sein, allen Opfern des Nationalsozialismus Gerechtigkeit zukommen zu lassen, wie eben auch von der Kollegin gesagt.
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Die Anerkennung immer noch vergessener Opfergruppen und deren Aufnahme in die deutsche Gedenkkultur können das erlittene Unrecht und Leid niemals beheben. Für die unzähligen Opfer der unbeschreiblichen Gräueltaten kann es keine angemessene Wiedergutmachung geben.
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Aber wir müssen es mit unseren Mitteln versuchen.
Damit bin ich schon beim Zweiten, was mich beschämt. Wenn wir demokratischen Fraktionen nicht einmal bei diesem Thema gemeinsam einen interfraktionellen Antrag hinbekommen: Wann und bei welchem Thema dann?
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Statt ein Zeichen der Solidarität und des Gemeinsinns im Sinne der Opfer zu setzen, wurden Parteigrenzen, insbesondere innerhalb der Großen Koalition, anscheinend für wichtiger erachtet.
So haben wir nunmehr vier verschiedene Anträge mit leicht unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, insbesondere von der CDU, hätten wir besser lösen können und auch besser lösen müssen.
({4})
Zum Abschluss sage ich für alle Skeptiker und Geschichtsvergessenen, was wir in der öffentlichen Anhörung inhaltlich gehört haben. Die als Asoziale und Berufsverbrecher stigmatisierten Menschen sind Opfer des nationalsozialistischen Regimes. Die Verbringung von Menschen in ein Konzentrationslager ist ein Verbrechen. Es gibt keinen rechtlichen oder ethischen Grund, die Opfer, welche mit einem grünen oder einem schwarzen Winkel gekennzeichnet worden sind, anders zu behandeln als andere Opfer des Nationalsozialismus.
({5})
Selbstverständlich mögen unter den zahlreichen Opfern Verbrecher unterschiedlicher Art gewesen sein. Aber wie sagte die Sachverständige Dr. Julia Hörath in der Anhörung eindrucksvoll: Verbrechen, auch die, die an Verbrechern begangen werden, bleiben Verbrechen.
({6})
Wenn die Diskussion um die Anerkennung vergessener Opfergruppen eines deutlich gezeigt hat, dann ist es die Tatsache, dass wir keinen Schlussstrich ziehen dürfen. Geschichte ist Vergangenheit und dennoch anfällig für alternative Wahrheiten der Gegenwart. Um dem entschlossen entgegenzutreten, braucht es weiterhin valide Fakten. Diese können wir nur erhalten, wenn wir das Feld für Forschung, Lehre und Wissenschaft bereiten, um eine Basis für unsere Kultur- und Gedenkstättenarbeit zu haben.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank. – Nächste Rednerin in der Debatte ist für die Fraktion Die Linke die Kollegin Petra Pau.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Erst jüngst haben wir der Opfer des Nationalsozialismus gedacht – hier im Bundestag und bundesweit. Das ist wichtig, nicht allein des Erinnerns wegen, sondern damit sich eine solche Barbarei niemals wiederholt.
({0})
Die Zahl der Naziopfer ist millionenschwer – quer durch alle gesellschaftlichen Schichten. Nicht zu vergessen: die Völkermorde an den europäischen Jüdinnen und Juden sowie an den Sinti und Roma. Das waren einzigartige Verbrechen, an die zu Recht Mahnmale unweit des Deutschen Bundestages erinnern.
({1})
Aber es gibt auch KZ-Opfer, die nicht so bekannt sind. Zu ihnen gehören sogenannte „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“. Das ist natürlich Nazijargon. Zu ihnen zählten die Nazis Obdach- und Arbeitslose, Prostituierte und viele andere mehr, oder auch die Gruppe der Jenischen.
Lange wurden sie ausgeblendet, in der Bundesrepublik alt ebenso wie in der DDR. Nun soll ihr Schicksal endlich ins öffentliche Bewusstsein geholt werden. Es ist höchste Zeit.
({2})
CDU/CSU und SPD haben einen gemeinsamen Antrag eingebracht und Maßnahmen vorgeschlagen, wie die Erinnerung an diese Opfergruppe praktisch gestaltet werden sollte, in der Bildung, im Gedenken, durch Anerkennung und Entschädigung.
Die demokratischen Oppositionsfraktionen haben eigene Anträge eingebracht, also auch die Fraktion Die Linke. Und auch wir unterstreichen: Niemand saß zu Recht im KZ.
({3})
Ganz deutlich: Wir verwahren uns zugleich gegen den Versuch der AfD, KZ-Opfer erster und zweiter Klasse zu schaffen; das ist absurd.
({4})
Die Anträge der Linksfraktion, von Bündnis 90/Die Grünen und der FDP unterscheiden sich von dem der Großen Koalition keineswegs im Grundsatz, wohl aber im Detail. Die drei genannten Oppositionsfraktionen waren bereit, mit der CDU/CSU und der SPD einen gemeinsamen Antrag zu erarbeiten, doch das wollten die Koalitionsfraktionen, namentlich die Union, offenbar nicht. Ich bedaure das ausdrücklich; denn dieses Anliegen taugt einfach nicht zur parteipolitischen Profilierung.
({5})
Wir werden Ihrem Antrag heute zustimmen. Zugleich werbe ich um Zustimmung für den Antrag der Linken, zumal er die Bundesregierung verpflichtet, nicht bei Gelegenheit, sondern sofort konkret tätig zu werden und noch 2020 erste Ergebnisse vorzulegen. Ich finde, das sind wir den Naziopfern schuldig, und uns selbst auch.
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Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Erhard Grundl für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Professor Nonnenmacher und Frau! 1933, mit der sogenannten Notverordnung, entstand der nationalsozialistische Maßnahmenstaat. Er war das Werkzeug zur sozialen Ausgrenzung, um zwischen Volksgenossen und Gemeinschaftsfremden zu unterscheiden, wie Julia Hörath schreibt. Wer den Gemeinschaftsfremden zugeordnet wurde, für den gab es keinen Boden mehr unter den Füßen, keine Rechte, keinen Zufluchtsort. Das betraf einige Zehntausend Menschen. Sie konnten oder wollten nicht funktionstüchtig sein, waren obdachlos, arm, unangepasst. Es traf zum großen Teil Frauen. Vor ihnen sollte die vermeintlich saubere Volksgemeinschaft geschützt werden. Viele Deutsche haben Gestapo und Kriminalpolizei zugearbeitet, haben Nachbarn denunziert. Landratsämter, Bürgermeister, Gesundheits- und Fürsorgeeinrichtungen gaben ihre sozialrassistischen Beurteilungen ab, wissend, was das für die Betroffenen bedeutete: KZ lebenslänglich. Im KZ mussten sie dann den schwarzen oder grünen Winkel tragen, wurden dort gequält oder gar ermordet.
Heute liegt uns die Beschlussempfehlung des Kulturausschusses über vier Anträge vor. Alle vier Anträge greifen die Forderung auf, die wir in unserem Antrag vom April 2018 formuliert haben, nämlich die Anerkennung und Entschädigung der NS-Opfergruppen der sogenannten Asozialen und der sogenannten Berufsverbrecher. Darüber freue ich mich sehr. Das ist ein großer Erfolg. Darum wird meine Fraktion auch allen vier Anträgen zustimmen.
({0})
Es bleibt die Frage: Warum braucht es, wenn man sich in der Sache einig ist, vier Anträge?
({1})
Die Antwort ist leider: weil Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, zur fraktionsübergreifenden Zusammenarbeit nicht fähig waren.
({2})
Seit April 2018 haben wir Grüne für einen interfraktionellen Antrag geworben, gemeint als klares Zeichen an die Opfer und ihre Hinterbliebenen, als klares Zeichen gegen Hass und gruppenbezogene Menschenverachtung – damals wie heute –, als klares Zeichen gegen alle, die einen Schlussstrich unter die Aufarbeitung des Nationalsozialismus fordern. Angesichts der Zunahme von Gewalt gegen Andersdenkende, religiöse Minderheiten oder sozial Benachteiligte wäre das ein starkes, ein wichtiges Zeichen gewesen.
({3})
Dennoch: 75 Jahre nach Kriegsende beschließen wir heute die Anerkennung. Das ist nicht nur gut so, das war überfällig. Die Anerkennung kommt spät, für viele Opfer des Wahnsinns zu spät. Viele haben ein Leben lang geschwiegen; denn auch nach Kriegsende hatten sie weiter mit Vorurteilen und ihren eigenen Schamgefühlen zu kämpfen.
Heute gibt es im Bundestag die, die allen Ernstes fragen, ob nicht doch einige zu Recht im KZ waren.
({4})
Wir machen heute klar: Niemand war zu Recht in einem KZ.
({5})
Wer hier ein Aber hinterherschickt, der zeigt dadurch nur eins: dass er letztendlich der Logik der Täter näher steht als den Opfern.
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Niemand war zu Recht in einem KZ – Punkt, aus.
Der Antrag der Regierungsfraktionen, den wir heute auch mit den Stimmen der Grünenbundestagsfraktion beschließen werden, ist vor allem ein Auftrag an Union und SPD: Setzen Sie ihn schnell in Regierungshandeln um, damit die bisher fehlende Forschung über die Opfergruppen der sogenannten Asozialen und Berufsverbrecher aufgenommen werden kann, damit das Wissen in unserer Bevölkerung über die Verbrechen der Nationalsozialisten gestärkt wird und, vor allem, damit die wenigen hochbetagten Betroffenen ihre Rehabilitation und Entschädigung wenigstens noch erleben können.
Ich danke Ihnen.
({7})
Vielen Dank.- Als letzten Redner in dieser Debatte rufe ich auf: Dr. Volker Ullrich für die Fraktion der CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist heute eine wichtige Stunde für den Deutschen Bundestag. Das ergibt sich daraus, weil wir Opfern der nationalsozialistischen Willkürherrschaft eine Stimme, ein Gesicht und eine Anerkennung geben; Menschen, deren Schicksal zu lange im Schatten stand; Opfern der Nationalsozialisten, die wir nicht nur lange übersehen haben, sondern die dieser Staat auch nicht sehen wollte. Deswegen ist es wichtig, dass ihr Schicksal heute in das Licht gerückt wird und dass wir der Gruppe – und ich spreche ganz bewusst in Anführungszeichen – der sogenannten „Asozialen“ und „Berufsverbrecher“ die Anerkennung geben, die sie verdient hat, meine Damen und Herren.
({0})
Es ist klar: Es darf keine Relativierung der absoluten Schuld des Holocaust, des Völkermords an Jüdinnen und Juden und den Roma und Sinti geben. Jede Opfergruppe verdient ihre differenzierte Betrachtung. Aber dass wir erst 75 Jahre nach Kriegsende im Deutschen Bundestag darüber debattieren und einen Antrag beschließen, zeigt, dass wir bei dieser Frage zu spät handeln. Aber besser jetzt als nie, meine Damen und Herren.
({1})
Wichtig ist, dass deutlich wird, dass hier eine Pervertierung des Rechts durch den NS-Unrechtsstaat vorlag, dass die Aktion zur vorbeugenden Verbrechensbekämpfung seit 1937 und die Aktion „Arbeitsscheu Reich“ Methoden des Unrechtsstaates waren, um Menschen, die eigentlich Hilfe des Staates gebraucht hätten, weiter zu stigmatisieren und damit im KZ der Vernichtung zuzuführen. Das müssen wir uns noch mal vor Augen führen: Es geht darum, dass Menschen, die Hilfe verdient hätten, diese Hilfe damals nicht bekommen haben und dass der Staat diese Menschen vernichtet hat. Das dürfen wir nicht vergessen. Da dürfen wir auch nicht Opfer gegeneinander ausspielen.
({2})
Jeder, der in einem KZ war, war Opfer dieser Willkürherrschaft. Deswegen macht es mich betroffen, wie Sie, Herr Kollege Jongen, argumentiert haben. Ich kann das nicht so stehen lassen. Ihre Rede war eine einzige Heuchelei.
({3})
Ich sage Ihnen auch, warum. Es gibt in Ihrer Partei eine nicht unmaßgebliche Person, die eine sogenannte erinnerungspolitische Wende um 180 Grad gefordert hat. Diese Person steht nach den Worten Ihres Fraktionsvorsitzenden in der Mitte Ihrer Partei.
({4})
Wenn Sie also eine erinnerungspolitische Wende wollen, dann wenden Sie sich von all dem ab, was wir heute gesagt haben, und dann sind Ihre Worte Heuchelei.
({5})
Wenn Sie sich nicht davon abwenden, dann müssten Sie und all Ihre Kollegen sich fragen lassen, und zwar zu Recht, warum Sie noch Mitglied in einer Partei sind, die solche Menschen in ihren Reihen duldet. Diese Frage müssen Sie heute auch beantworten.
({6})
Wir wollen eine Aufarbeitung in der gesamten Gesellschaft. Wir müssen das zur Aufgabe der Gedenkstätten machen und auch zu einer Aufgabe der Zivilgesellschaft. Ich bin froh, dass sich die Initiative einer Petition letztlich auch in diesem Antrag wiederfindet. Ich würde mich freuen, wenn in den Schulen und in den Bildungsstätten über das Schicksal dieser Menschen stärker gesprochen wird, weil auch sie ihre Rehabilitation verdient haben.
({7})
Auch wenn nur noch wenige betroffene Menschen am Leben sind und es vielleicht nur noch ganz wenige persönlich erfahren, dass sich der Staat ihrer annimmt, so tun wir das nicht nur wegen uns selbst, sondern auch wegen der Achtung vor den Werten, die dieses Grundgesetz ausmachen.
({8})
Deswegen freue ich mich – auch wenn „Freude“ vielleicht das falsche Wort ist –, dass wir gemeinsam heute weitere Vergangenheitsaufklärung betreiben und damit die Verbrechen so ins Licht der Öffentlichkeit stellen, dass daraus der Anspruch „Nie wieder“ auch heute ein Stück weit stärker zum Tragen kommt. Deswegen bitte ich um Zustimmung zu dem Antrag.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Über 35 000 US-Soldaten sind in Deutschland stationiert, mehr als in jedem anderen Land Europas.
({0})
Die Linke fordert den Abzug dieser Soldaten aus Deutschland, weil diese militärische Präsenz mit dem Friedensgebot des Grundgesetzes nicht vereinbar ist.
({1})
So steht in Artikel 1 des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Die US-amerikanische Militärbasis in Ramstein aber dient als Relaisstation für die US-amerikanischen Drohnenmorde. Das heißt, Ramstein wird dazu genutzt, um Menschen weltweit ohne jedes Gerichtsverfahren auf Befehl des US-Präsidenten zu töten.
({2})
Das ist mit Artikel 1 des Grundgesetzes nicht vereinbar. Diese Mordzentrale muss deshalb geschlossen werden.
({3})
In Artikel 26 heißt es:
Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig.
Der US-Feldzug gegen den Irak war ein völkerrechtswidriger Krieg, ein brutaler Angriffskrieg. Die beschworenen Massenvernichtungswaffen im Irak wurden nie gefunden, die Öffentlichkeit vom US-Präsidenten belogen. Hunderttausende Menschen verloren ihr Leben. Die Region wurde dauerhaft zerstört, dies alles auch von deutschem Boden aus.
In dieser Logik soll es ja weitergehen. Deshalb sagt Die Linke: Das dürfen wir nicht weiter zulassen.
({4})
Wir Linke sagen: Mr. President Donald Trump, withdraw your troops from Germany now!
({5})
Die US-Soldaten sollten endlich nach Hause gehen können. Ihre Präsenz ist hier mit dem Grundgesetz und auch mit dem Friedensauftrag des Grundgesetzes schlicht nicht vereinbar.
Die US-Militärbasen stehen nicht für mehr Sicherheit, sondern werden aktuell für die Vorbereitung eines Krieges gegen den Iran genutzt. Was die USA hier machen, ist auch eine Verletzung des Stationierungsabkommens von 1954 und des Zusatzabkommens zum NATO-Truppenstatut.
({6})
Die USA selbst haben diesen Vertrag faktisch gekündigt, weil sie ihre Militärbasen für all die Völkerrechtsbrüche, die ich hier genannt habe, nutzen.
({7})
Die Bundesregierung muss diese militärische US-Präsenz beenden und zugleich auch ein Konversionsprogramm für die zivilen Beschäftigten auflegen. Die Ankündigung von Präsident Trump, die US-Truppen aus Deutschland abzuziehen, wenn wir nicht noch mehr Geld für die Stationierung dieser US-Soldaten zahlen, ist uns als Linken herzlich willkommen.
({8})
Nicht zuletzt würde es den deutschen Steuerzahlern allein in diesem Jahr 71 Millionen Euro Stationierungskosten ersparen. Wenn Sie diese US-Soldaten abziehen, sage ich: Herr Trump, nehmen Sie auch gleich Ihre US-Atomwaffen aus Büchel mit nach Hause.
({9})
Massenvernichtungswaffen in Deutschland machen uns nicht sicherer, meine Damen und Herren, sondern unser Land zu einem potenziellen atomaren Schlachtfeld. Der sozialdemokratische Friedensnobelpreisträger Willy Brandt hatte einst deutlich formuliert, was die historische Lehre aus den von Deutschland begonnenen zwei Weltkriegen ist. Er sagte: „Von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen.“ Das ist richtig, und das muss auch heute gelten.
({10})
Ich frage aber die Bundesregierung, warum dies nicht auch für die USA gelten soll, die in Deutschland, von deutschem Boden eben, diese Kriege führen. Diese Militärstützpunkte werden nicht zuletzt jetzt auch noch für das Säbelrasseln gegen Russland genutzt. Für das NATO-Manöver Defender 2020 an der russischen Grenze sind 2 440 deutsche Soldaten eingeplant. Die Kosten der Bundeswehr für dieses größte Manöver der USA und ihrer Verbündeten auf deutschem Boden seit 25 Jahren werden allein auf 2,3 Millionen Euro taxiert, vorerst! Dieses sinnlose Verballern von Steuergeldern verbindet Säbelrasseln mit unverantwortlicher Geldverschwendung. Als Linke sagen wir: Defender 2020 muss gestoppt werden. Wir brauchen stattdessen Dialog und vertrauensbildende Maßnahmen.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat der Kollege Peter Beyer für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
({0})
– Natürlich bin ich ein Amerika-Versteher. Das hat wenig mit Trump zu tun. Lieber Herr Dr. Neu, ich hoffe, dass auch Sie die Amerikaner verstehen. Sonst wäre Ihr Antrag völlig überflüssig, wenn Sie noch nicht mal verstehen, was sich dort abspielt oder was die Amerikaner gerade sagen.
({1})
Ich muss damit beginnen, zu sagen, dass Ihr Antrag genau das widerspiegelt, was die Welt so über Die Linke in diesem Hohen Hause sowieso denkt, nämlich dass Sie rückwärtsgewandt sind, zukunftsverweigernd, und die Anträge sind – verzeihen Sie mir bitte – einfach nur saudämlich. Das muss man einfach sagen.
({2})
Die Kollegin hat gerade auf Englisch gesagt: Amis, go home! – So in der Tat könnte man Ihre Anträge überschreiben. Aber um das gleich am Anfang klarzustellen: Ich und, ich glaube, der Großteil dieses Hauses und der deutschen Bevölkerung sind sehr froh und von Herzen dankbar, dass die Freunde aus den USA uns beschützen. Ich sage und rufe von dieser Stelle aus: Danke, dass wir auch wegen des amerikanischen Schutzes hier in Freiheit und Wohlstand leben können, meine Damen und Herren! Das ist die Wahrheit.
({3})
Und nun kommen wir einmal zu den Fakten der amerikanischen Truppenpräsenz in unserem wunderschönen deutschen Lande. 70 000 Soldaten und Zivilbeschäftigte, davon ungefähr 12 500 deutsche Ortskräfte, bilden das amerikanische Kontingent in Deutschland. Sie waren und sie sind ein wesentlicher Faktor der deutsch-amerikanischen Freundschaft, und zwar generell, aber auch in familiärer Hinsicht, in kultureller Hinsicht. Sie sind in den Regionen, wo sie anwesend sind, natürlich auch ein ganz wesentlicher Wirtschaftsfaktor.
Und was machen nun die Amerikaner hier bei uns und für uns? Zunächst einmal geht es um die gemeinsame Bündnisverteidigung. Ja, es geht auch um den Schutz amerikanischer Interessen in Europa. Bei alledem gilt – das hatte die Kollegin Dağdelen schon gesagt, allerdings unter anderer Konnotation –: Im gesamten NATO-Gebiet sind stationierte NATO-Truppen dazu verpflichtet, ihre Kosten selbst zu tragen. Da haben Sie schon die Ramstein Air Base erwähnt. Die Kostentragung gilt natürlich auch für diese Air Base.
Gerade in Bezug auf die Ramstein Air Base und auch andere Standorte hat das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen mit Sitz in Münster in der zweiten Hälfte letzten Jahres geurteilt, dass die Bundesregierung dazu verpflichtet ist, sich stets zu vergewissern, dass das Völkerrecht eingehalten wird. Die Bundesregierung hat zu Recht Revision eingelegt. Das Urteil ist also nicht rechtskräftig. Trotzdem müssen wir uns natürlich mit diesem Urteil beschäftigen.
Fakt ist ebenso, dass die USA uns, der Bundesregierung, wiederholt bestätigt haben, dass bewaffnete Drohnen von Ramstein aus weder gestartet
({4})
noch gesteuert werden. Meine Fraktion, die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag, und ich persönlich haben keinerlei Veranlassung, an dieser Versicherung der Amerikaner zu zweifeln. Wir haben ebenso wenig Veranlassung, daran zu zweifeln, dass sich die amerikanischen Freunde an das NATO-Truppenstatut halten.
Meine Damen und Herren, der zweite Antrag der Linken beschäftigt sich mit der Übung Defender-Europe 20. Viele Tausende US-amerikanische Soldaten, ungefähr 20 000, machen sich auf den Weg über den Atlantik
({5})
zu uns und werden durch Europa, ja, auch durch Deutschland, ziehen. Worum geht es bei dieser Übung? Es geht darum, dass die NATO-Russland-Grundakte dazu verpflichtet, keine dauerhaften sogenannten Vornestationierungen zuzulassen. Deswegen ist es so wichtig, dass die Mobilität von Truppen für den Krisenfall geübt wird. Das geschieht im Rahmen dieser Mobilitätsübung.
Transparenz ist in diesem Zusammenhang sehr wichtig. Die Amerikaner haben zu Informationsveranstaltungen nach Minsk, nach Wien und auch nach Moskau eingeladen. Da konnte man sich weitgehend darüber informieren, was dort gemacht wird. Da ist also nichts mit Nebelkerzen oder dunklen Hinterzimmern; das ist alles sehr transparent.
Man sieht, meine Damen und Herren: Angesichts dieser Transparenz und des Schutzangebots der amerikanischen Partner braucht man sich nicht vor den durch unser Land ziehenden Truppenteilen und den vielen Tausenden Soldaten zu fürchten. Im Gegenteil: Wir sollten sie willkommen heißen und unterstützen.
Kollege Beyer, Sie können selbstverständlich weiterreden, tun das aber auf Kosten Ihrer Kollegen.
Vielen Dank für den Hinweis, Frau Präsidentin. – Deswegen schließe ich mit dem Satz: Wir dürfen nicht „Ami, go home“ sagen, sondern wir sollten den amerikanischen Freunden zurufen: „American friends, be our guests.“
({0})
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat Dr. Roland Hartwig für die AfD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Antrag der Linken auf Abzug von über 35 000 amerikanischen Soldaten aus Deutschland ist in einer Hinsicht bemerkenswert: Während Sie sonst immer möglichst viele Menschen nach Deutschland holen wollen,
({0})
ist es dieses Mal umgekehrt.
({1})
Von daher stimmt zumindest die Richtung. Nur der Zeitpunkt ist schlecht gewählt.
Fassen wir einmal zusammen: Zunächst hat Deutschland seine eigene Verteidigungsfähigkeit über Jahrzehnte hinweg abgebaut und letztlich auf andere NATO-Staaten ausgelagert. Den versprochenen eigenen Beitrag in Höhe von 2 Prozent des BIP für diesen von Dritten errichteten Schutzschirm hat Deutschland bis heute nicht geleistet. Und jetzt will Die Linke auch noch die hier stationierten US-Soldaten in einer Nacht-und-Nebel-Aktion aus dem Land verweisen.
({2})
Und dann?
Auch die AfD will auf Dauer keine ausländischen Truppen auf deutschem Boden haben.
({3})
Aber vorher müssen wir doch erst einmal klären, wie wir zukünftig unser Land vor militärischen Angriffen schützen wollen.
({4})
Die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands ist keine Aufgabe, die man komplett auf Dritte auslagern kann. Wenn für uns wichtige militärische Entscheidungen in Brüssel, Washington oder Paris, aber nicht mehr in Berlin getroffen werden, dann laufen wir die große Gefahr, dass deutsche Interessen dabei auch keine Rolle mehr spielen. Deshalb müssen wir unsere eigene Armee in einem ersten Schritt wieder aufbauen.
({5})
Der Anfang hierzu ist gemacht, wenngleich etwas halbherzig. Damit spreche ich die amtierende Verteidigungsministerin, Frau Kramp-Karrenbauer, an. Sie hat in den letzten Tagen offensichtlich erkannt, dass sie sich zur Bundeskanzlerin nicht eignet und auch nicht zur CDU-Parteivorsitzenden. Es wäre schön, wenn dieser Erkenntnisprozess vor dem Verteidigungsministerium nicht haltmachen würde.
({6})
Bis zur Wiederherstellung der eigenen Verteidigungsfähigkeit und vermutlich auch darüber hinaus werden wir Bündnisse brauchen, um den weiter steigenden militärischen Anforderungen gerecht werden zu können.
({7})
Deshalb ist auch eine NATO-Mitgliedschaft bis auf Weiteres im deutschen Interesse. Diese NATO hat zwar noch keinen Hirntod erlitten, wie das in Paris voreilig diagnostiziert wurde; sie ist aber stark reformbedürftig. Sie unterliegt dem überragenden Einfluss der Amerikaner, ist immer noch einseitig auf das klassische Feindbild Russland fixiert und steht damit einer Annäherung zwischen Russland und Westeuropa im Wege.
({8})
Durch das auch militärisch aufstrebende China braucht die Welt eine neue Sicherheitsarchitektur. Ich bin mir nicht sicher, ob die NATO in der gegenwärtigen Form dabei in fünf oder zehn Jahren überhaupt noch mit am Tisch sitzen wird. Ein alternatives Sicherheits- und Verteidigungskonzept sollte also erstens die deutsche Bundeswehr wieder auf die Beine stellen,
({9})
zweitens den deutschen Sicherheitsinteressen in der NATO einen wesentlich höheren Stellenwert verschaffen und drittens den europäischen Pfeiler im transatlantischen Bündnis deutlich stärken.
({10})
Ich weiterhole es: Auch wir wollen den Abzug aller ausländischen Truppen aus Deutschland.
({11})
Aber auf diesen Tag müssen wir uns erst noch vorbereiten. Nach dem Niedergang unserer Verteidigungsfähigkeit wird es noch ein langer Weg sein. Dafür brauchen wir viel Zeit und Kraft und vor allem eine andere Bundesregierung.
Vielen Dank.
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Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Katrin Budde das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich gehöre weder zu denen, die den verordneten Antiamerikanismus der DDR absorbiert haben, noch gehöre ich zu denen, die sich von Anti-Russland-Strategien vereinnahmen lassen.
({0})
Ich gehöre zu jenen, die weder alles richtig finden, was in Amerika gemacht wird, noch alles richtig finden, was in Russland gemacht wird. Im richtigen Leben ist es eben nie so einfach; da gibt es nicht nur Schwarz und Weiß, sondern es sind die Grautöne, die das Leben bestimmen.
({1})
Ja, die Äußerungen des US-Botschafters sind ein Affront in Bezug auf die gute Zusammenarbeit der NATO-Staaten. Ich frage mich nur, ob es wirklich Sinn macht, sich auf diesen populistischen Weg des Miteinanders zu begeben, und beantworte es deutlich mit Nein. Denn die NATO wurde als „Wertegemeinschaft freier demokratischer Staaten“, die sich zu Frieden, Demokratie, Freiheit und der Herrschaft des Rechts bekennen, gegründet.
({2})
Das ist sie, und Gott sei Dank gibt es sie seit 70 Jahren.
({3})
Die Westbindung und die Mitgliedschaft in der NATO sind seit Jahrzehnten Grundpfeiler der Sicherheit und des Friedens, und dies auch in Deutschland. Dies in der aktuellen Weltlage aufzukündigen, wäre eine politische Geisterfahrt und absolut unverantwortlich.
({4})
Die NATO ist zuallererst ein Sicherheitsbündnis. Und ja, dazu gehört es auch, dass ausländische Soldatinnen und Soldaten in Deutschland stationiert sind. Diese Präsenz dient nicht nur dem Schutz deutscher und europäischer Sicherheitsinteressen, sondern auch der Bereitstellung einer Drehscheibe für weltweite Krisengebiete, und zwar nicht nur für Einsätze der militärischen Art, sondern auch, wenn es zum Beispiel um die Versorgung von verwundeten Soldatinnen und Soldaten geht.
Deutschland und Europa sind mit Nordamerika eng verbunden. Die Vereinigten Staaten und Kanada sind zentrale Verbündete, und sie sind auch Freunde der Europäischen Union und Deutschlands. Daran sollte sich auch nichts ändern, wenn es verrückte amerikanische Präsidenten gibt.
({5})
Deutschland war 45 Jahre getrennt, hatte auch unterschiedliche Verbündete, wobei die Verbündeten des westlichen Blocks dies freiwillig waren. Im Ostblock waren es nicht wirklich freiwillig Verbündete. Das sieht man auch daran, dass das östliche Bündnis nach 1990 ganz schnell zusammengebrochen ist. Auch ein wiederholtes Verlangen der Linksfraktion nach Abzug der Soldatinnen und Soldaten und die Wünsche nach Schließung einzelner Stützpunkte werden da nichts nützen.
({6})
Gleichwohl heißt das aber nicht, dass wir jede Entscheidung der USA oder jedes Handeln oder jeden Tweet des Präsidenten der USA gutheißen – im Gegenteil! Aber würde dieses Verhalten bzw. Handeln von ihm besser werden, wenn die USA sich noch weiter von Europa und Deutschland entfernten? Mit Sicherheit nicht.
Ihr Antrag, meine Damen und Herren der Linksfraktion, liest sich für mich persönlich wie ein Anschlag an der Wandtafel meiner Schulzeit des Funktionärs für Agitation und Propaganda; er könnte da eins zu eins gehangen haben.
({7})
Die logische Schlussfolgerung ist: Wir lehnen Ihren Antrag ab.
Der zweite Antrag, den wir heute mitbehandeln, hätte gleich neben dem ersten an der Wandtafel hängen können. Er befasst sich mit der logistischen Großübung Defender 2020. Nüchtern beschrieben dient diese Übung dem Test der Belastbarkeit der Logistik. Ziel ist es, eine schnelle Verlegbarkeit größerer Truppenteile über den Atlantik und durch Europa zu üben, um sicherzustellen, dass die entsprechenden Verfahren im Krisenfall funktionieren, und so die Einsatzbereitschaft innerhalb der NATO zu erhöhen. Deutschland dient dabei, auch rein geografisch, als Dreh- und Angelpunkt, als rückwärtiges Einsatzquartier. Sie von der Linken tun in Ihrem Antrag aber so, als würde es sich um die Vorbereitung eines Angriffskrieges gegen Russland handeln. Das ist wirklich absurd.
Sie stellen das auch noch in den zeitlichen Zusammenhang – das ist wirklich mehr als nur bösartig – mit der Befreiung Berlins vor 75 Jahren. Das ist unglaublich! Es handelt sich nicht um ein Manöver der deutschen Wehrmacht, sondern um eine Übung der USA zusammen mit 18 NATO-Partnern. Das sollten Sie dabei immer berücksichtigen.
({8})
Sowohl Amerika als auch Frankreich gehören zu den westlichen Alliierten und waren genauso am Sieg über den Faschismus beteiligt.
({9})
Es ist absurd, diese Übung, dieses Manöver in diesen Zusammenhang zu stellen.
({10})
Lesen Sie Ihren eigenen Antrag! Ihre Wortwahl umfasst Formulierungen wie „Kampftruppen für Kampfübungen“, „Verbringung des Kriegsgeräts“ und „Militäraufmarsch“. Geht’s noch?
({11})
Haben Sie die gleichen Formulierungen für russische und weißrussische Manöver wie das Sapad 2017 verwendet? Oder war das eine „Friedensübung“? Das hätte vor 35 Jahren auf dem Anschlag an der Wandtafel gestanden.
({12})
Erstaunlich, dass Sie nicht die öffentlich zugänglichen Daten und Fakten infrage stellen. Das können Sie auch nicht, weil sie richtig sind – anders als bei Sapad 2017. Es gibt höchste Transparenz. Warum erwähnen Sie nicht die Einladung der russischen Beobachter zu Defender 2020? Auch das ist übrigens anders als bei Sapad 2017.
({13})
Ja, der Blick auf Russland hat sich seit der Annexion der Krim verändert, und die Sicht der Länder, die direkt an Russland grenzen, auf ihre eigene Sicherheitslage hat sich auch verändert. Und ja, es geht darum, zu testen, ob eine Verteidigung der Außengrenzen der EU in Richtung Russland logistisch leistbar ist, und das ist auch gut so. Beabsichtigt ist eine Übung logistischer Möglichkeiten, aber keine Eskalation gegen Russland. Das Manöver ist angemeldet, Russland weiß Bescheid, dass es stattfindet, und ist eingeladen, kann Beobachter schicken. Das ist anders als bei Sapad 2017.
({14})
Es fehlt eigentlich nur noch der Begriff „Kriegstreiberei“.
Ich bin sehr dafür, dass wir mit Russland zu einem besseren Miteinander kommen – und tue alles dafür, was in meinen Möglichkeiten steht –
({15})
und zu gegenseitigen Verabredungen. Mich stören die Sanktionen gegen Russland auch.
({16})
Ich halte eine wirtschaftliche Zusammenarbeit für absolut notwendig, zumal andere Länder diese Sanktionen ganz offen kreativ umgehen. Ich halte es aber für ebenso anmaßend vonseiten der USA, uns das Gasprojekt zu untersagen. Ich bin aber genauso davon überzeugt, dass Defender 2020 im Kreml als genau das gesehen wird – auch wenn Russia Today das anders berichten wird –, was es ist: eine Übung.
({17})
Wissen Sie, Präsident Putin ist wirklich kein Präsident der Wattebällchen. Eine Journalistin hat es für mich in einem Kommentar auf den Punkt gebracht:
In einer idealen Welt regeln Menschen ihre Konflikte ohne Gewalt. In einer idealen Welt sind Soldaten und Armeen überflüssig.
Ich würde mir eine solche Welt wünschen; aber wir leben nicht in dieser idealen Welt.
Vielen Dank.
({18})
Das Wort hat der Kollege Djir-Sarai für die FDP-Fraktion.
({0})
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will direkt zur Sache kommen: Die Präsenz der US-Truppen in Deutschland ist ein Garant für Sicherheit und Stabilität in Deutschland und Europa.
({0})
Wir leben heute in Freiheit und Demokratie, weil sich die US-Amerikaner nach dem Zweiten Weltkrieg für uns eingesetzt haben. Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Berufsfreiheit, Reisefreiheit, all das, was unsere Gesellschaft heute ausmacht, konnte in Deutschland nur wieder entstehen, weil der Westen, allen voran die USA, die junge Bundesrepublik beim Wiederaufbau unterstützt hat.
({1})
Auch heute sind die außen- und sicherheitspolitischen Herausforderungen enorm. Ein Blick nach Osten genügt, um zu verstehen, dass Russland klare machtpolitische Interessen in Europa, im Nahen und Mittleren Osten und in Afrika verfolgt. Die völkerrechtswidrige Annexion der Krim versetzt viele unserer östlichen Nachbarn in Angst und Schrecken. Einige in diesem Parlament können sich offensichtlich nicht vorstellen, welche Ängste in Polen oder in der Ukraine existieren.
({2})
Die Menschen in Polen wollen mehr amerikanische Truppen im Land haben, und die Menschen in der Ukraine wollen mehrheitlich Mitglied der NATO und Mitglied der Europäischen Union sein, meine Damen und Herren.
({3})
Ich möchte an dieser Stelle erwähnen: Während wir hier diskutieren, wird Idlib von russischen und syrischen Truppen bombardiert und vernichtet. Die nächste humanitäre Katastrophe bahnt sich an. Das heißt, wir diskutieren hier nicht über irgendwelche theoretischen Fragen, sondern es gibt eine konkrete Bedrohung durch Russland.
({4})
Der vorliegende Antrag kritisiert auch, dass deutsche Steuergelder in die Präsenz der US-Truppen fließen. Meine Damen und Herren, wir müssten viel mehr in unsere Sicherheit und Verteidigung investieren, wenn die US-Amerikaner nicht da wären. Darüber wird derzeit in den USA eine Debatte geführt, gerade von der aktuellen Administration; darüber muss man sich im Klaren sein. Was würde es eigentlich für uns bedeuten, wenn die Amerikaner auf die Idee kämen, die NATO als Organisation zu verlassen? Wir müssten dann über Dimensionen reden, die sich kein Mensch hier vorstellen kann.
Lassen Sie mich an dieser Stelle auch sagen – der Kollege Beyer hat das ja auch erwähnt –: US-Administrationen kommen und gehen, Bundesregierungen kommen und gehen, aber die deutsch-amerikanische Freundschaft bleibt, und das ist auch gut so.
({5})
Natürlich verfängt antiamerikanische Rhetorik in diesen Zeiten sehr schnell; Präsident Trump tut auch gelegentlich einiges dafür. Auch die Situation der NATO als Organisation ist alles andere als solide. Aber eines kann ich Ihnen am Ende einer solchen Debatte sagen: Solange Europa nicht in der Lage ist, in der Außenpolitik mit einer Stimme zu sprechen, solange Europa nicht handlungsfähig ist, solange werden wir auch US-amerikanische Truppen in Deutschland brauchen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat der Kollege Jürgen Trittin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich beobachte hier eine überraschende Gemeinsamkeit zwischen der CDU/CSU-Fraktion und der Fraktion Die Linke.
({0})
Beide glauben Richard Grenell. Beide glauben, dass, wenn wir nicht 2 Prozent unserer Wirtschaftsleistung für Rüstung spendieren, die Amerikaner abziehen. Deswegen wollen die einen dieses Ziel möglichst schnell erreichen und die anderen es möglichst gar nicht erreichen, damit sie nicht abziehen.
({1})
Ich kann Ihnen aber zur Beruhigung mitteilen: Die Amerikaner werden nicht abziehen – Sie sind aus eigenem Interesse in Europa.
({2})
Das zeigt zum Beispiel der Umstand, dass in der Zeit von Trump, der den Rückzug von sonst was erklärt hat, der auch die NATO für obsolet erklärt hat, die militärische Präsenz der USA in Europa erhöht und nicht etwa gesenkt worden ist.
Wir sollten uns also nicht gar so lange an den USA abarbeiten, sondern vielleicht versuchen, rationaler zu bestimmen, was die europäischen Interessen sind. War der US-Raketenschirm – übrigens an der NATO vorbei – im europäischen Interesse? Ich finde, nicht. Er hat nämlich eine der Begründungen für die Kündigung des INF-Vertrages geliefert.
({3})
Ist es klug, dass in Deutschland immer noch Piloten trainieren, amerikanische Atombomben abzuwerfen? Nein, das ist nicht klug, und das ist nicht in unserem Interesse.
({4})
Aber ist eine gemeinsame Rückversicherung der NATO nach der Annexion der Krim und wegen der anhaltenden kriegerischen Auseinandersetzungen in der Ostukraine sinnvoll? Ja, es ist sinnvoll. Es ist sinnvoll, kollektiv und gemeinsam darauf zu antworten.
({5})
Und wenn die Frage gestellt wird: „Ist es im europäischen Interesse, aus diesem Anlass eine dauerhafte Truppenstationierung in Osteuropa durch die USA zu haben?“, dann sagen wir: Nein, das ist nicht in unserem Interesse, weil das gegen die NATO-Russland-Akte wäre, und die sollten wir hochhalten.
({6})
Deswegen bleibt die einfache Feststellung: Es ist klüger und in unserem Interesse, ein solches Manöver hier zu haben, anstatt eine Truppenstationierung.
Wir Europäer brauchen im Umgang mit den USA, wie ich finde, etwas mehr Selbstbewusstsein. Aber ich muss mich schon fragen: Ist es im Interesse Europas, dass – ich zitiere einmal aus Ihrem Antrag – alle ausländischen Truppen die Bundesrepublik Deutschland verlassen, wie Sie das gefordert haben?
({7})
Man könnte etwas böse sagen: Deutschland den deutschen – Truppen.
({8})
Das ist nicht im Interesse Europas, und das ist nicht im Interesse Deutschlands.
Man kann nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion Die Linke, bei jeder passenden Gelegenheit den Multilateralismus hochhalten, aber dann militärisch die Rückkehr zum Nationalismus fordern. Das geht einfach nicht zusammen.
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Wir haben mit unseren Nachbarn gemeinsame Interessen, und wir haben auch gemeinsame Interessen mit den USA. Deswegen gibt es die NATO. Deswegen ist der Grundsatz der NATO „to keep the Americans in“ nach wie vor richtig.
Ich will zum Abschluss auch sagen: Ich habe von Ihrem Parteivorsitzenden, Herrn Riexinger, neulich gehört, er wolle eine Koalition von Grünen, Sozialdemokraten und Linken. Ich sage Ihnen eines: Spätestens wenn Bernd Riexingers Wunsch nach Grün-Rot-Rot realisiert wird, werden Sie das genauso sehen.
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Das Wort hat der Kollege Eckhard Gnodtke für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Anträge der Fraktion Die Linke enthalten eine Reihe von Fehleinschätzungen, was die angebliche Verletzung des Geistes des Zwei-plus-Vier-Vertrages sowie die Behauptung anbetrifft, jeweils durch Defender 2020 bzw. durch die Anwesenheit von US-Soldaten werde die NATO-Russland-Grundakte zur Disposition gestellt.
Im Einzelnen: Im Vertrag vom 12. September 1990 und der damit zusammenhängenden Erklärung zur Aussetzung der Wirksamkeit der Vier-Mächte-Rechte und ‑Verantwortlichkeiten hat das vereinigte Deutschland sein Bekenntnis zum Frieden bekräftigt und auf atomare, biologische und chemische Waffen verzichtet. Kernwaffen und ausländische Truppen durften und dürfen laut Artikel 5 Absatz 3 dieses Vertrages auf ostdeutschem Gebiet nicht stationiert oder dorthin verlegt werden, was auch nicht der Fall ist.
({0})
– Vielen Danke für die Aufmerksamkeit, meine Damen und Herren. – Die Artikel 4 und 5 befassen sich mit dem Abzug der damals noch in der DDR stationierten sowjetischen Streitkräfte. Beispielsweise durften bis zum Abzug der sowjetischen Truppen vom Gebiet der damaligen DDR dort ausschließlich Verbände der Territorialverteidigung stationiert sein, die nicht in Bündnisstrukturen integriert waren. Das galt aber nur bis zum 31. Dezember 1994.
Bei der Übung Defender 2020 geht es aber ausschließlich um Transitbewegungen und Transporte unter anderem durch einen Teil der neuen Bundesländer; es geht eben nicht um eine Stationierung von was auch immer.
Kurzum: Die Stationierung von US-Truppen im westlichen Teil Deutschlands widerspricht ebenso wenig wie Defender 2020 dem Geist des Zwei-Plus-Vier-Vertrages. – So weit zu diesem Vertrag.
Aber auch die NATO-Russland-Grundakte – weil Sie es auch noch einmal angesprochen hatten, Herr Kollege Trittin – wird respektiert. Sie war 1997 ein Versuch beider Seiten, den Kalten Krieg hinter sich zu lassen und die gegenseitigen Beziehungen auf eine neue, kooperative Grundlage zu stellen. Um Russlands Sorgen vor einem Heranrücken der NATO an seine Westgrenzen abzumildern, erklärte sich die NATO damals zu dem Zugeständnis bereit, Ungarn, die baltischen Staaten und andere Länder aufzunehmen, aber keine nennenswerten militärischen Einrichtungen auf dem Territorium dieser Länder zu schaffen.
Aber nicht, dass Sie, werte Kolleginnen und Kollegen von der Linken, nach diesem Satz schon Morgenluft im Sinne Ihrer Unterstellungen wittern: Möglicherweise hat man seinerzeit schon geahnt, dass Russland seine Truppen nicht vermindern, sondern verstärken könnte. Vielleicht hat man auch schon im Hinterkopf gehabt, dass Russland den INF-Vertrag aushöhlen könnte. Wie auch immer, jedenfalls hat man die Option für Truppenverstärkungen und entsprechende Szenarien quasi eingebaut: Die Konditionierung – Zitat, mit Ihrer Erlaubnis – „in dem gegenwärtigen und vorhersehbaren Sicherheitsumfeld“ sollte spätestens mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim Bedeutung bekommen.
Auch bei der VJTF handelt es sich nicht um „zusätzliche substantielle Kampftruppen“, die „dauerhaft stationiert“ sind. Vielmehr sind VJTF und Defender 2020 nichts weiter als Maßnahmen und Planungen – Transporte, wie es hier beschrieben wurde –, um genau die in der NATO-Russland-Grundakte angesprochene „den genannten Aufgaben gerecht werdende Infrastruktur“ – so damals die Formulierung – zu schaffen.
({1})
Es ist gut, dass wir mit der NATO eine funktionierende Sicherheitsorganisation haben. Es ist gut, dass wir gemeinsam mit unseren Partnern in der Lage sind, unsere Verteidigung kollektiv sicherzustellen. Dazu gehören auch US-Soldaten. Und es ist richtig, dass es in diesem Jahr die Übung Defender 2020 gibt. Ich danke in diesem Zusammenhang den deutschen Soldatinnen und Soldaten, die im Rahmen des Host Nation Support für Defender-Europe 20 unterstützend tätig sind und noch sein werden – es hat ja schon begonnen –,
({2})
und ich danke den 37 000 Teilnehmern aus 18 Nationen, die an Defender-Europe 20 teilnehmen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort hat Dr. Reinhard Brandl für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Man kann sich jetzt zwischen zwei Dingen entscheiden: Man kann sich über den Antrag der Linken aufregen. Aber man kann ihnen vielleicht auch dankbar sein, dass sie das Thema „US-Präsenz in Deutschland“ und das Thema „Defender“ auf die Tagesordnung gesetzt haben. Ich bin ihnen dankbar, dass sie es auf die Tagesordnung gesetzt haben. Das gibt uns nämlich heute die Möglichkeit, über Bündnissolidarität und den Wert von Bündnissolidarität zu reden.
Meine Damen und Herren, das Versprechen, bei einem bewaffneten Angriff gegenseitig Unterstützung und Beistand zu leisten, ist der Kern der NATO. Wenn dieses Versprechen nicht glaubwürdig ist, dann ist die NATO kein Bündnis mehr, sondern dann ist sie nur noch eine leere Hülle, und das müssen wir verhindern.
({0})
Zur Glaubwürdigkeit gehören auch Übungen; denn alles, was man nicht geübt hat, funktioniert im Ernstfall nicht.
Meine Damen und Herren, ich habe lange geglaubt – von 1990 bis 2014 –, dass die Zeit der möglichen Ernstfälle in Europa vorbei ist. Seit 2014 ist es anders. Seitdem Russland die Krim annektiert hat, hat sich die Sicherheitslage in Europa fundamental verändert. Ich kann natürlich die osteuropäischen Länder verstehen, wenn sie Angst haben; ich kann sie verstehen, wenn sie darauf schauen, wie glaubwürdig unsere Bündnissolidarität ist. Denn gerade wir Deutsche haben vier Jahrzehnte massiv davon profitiert, dass die NATO im Ernstfall auch unsere Sicherheit mit garantiert hat.
Damals waren wir noch Grenzstaat, heute sind wir in der Mitte Europas, im Zentrum; wir sind der zentrale Dreh- und Angelpunkt für die Truppenverlegungen im Rahmen dieser NATO-Übung. Wir werden erleben, dass in den nächsten Wochen und Monaten insgesamt 38 000 Soldatinnen und Soldaten durch Europa verlegt werden, davon 20 000 aus den USA. Die meisten davon werden in der Zeit irgendwann einmal auch Deutschland durchqueren. Sie werden sich ein paar Tage bei uns aufhalten, manche ein paar Wochen, manche werden nur durchfahren, manche werden üben. Aber für alle wollen wir guter Gastgeber sein.
Ich würde mir wünschen, dass man die Truppen auch auf den Straßen sieht, damit auch ins Bewusstsein der Bevölkerung wieder kommt, dass diese Soldatinnen und Soldaten auch für unsere Sicherheit üben und da sind. Ich würde mir wünschen in Zeiten von großem Antiamerikanismus, dass auch sichtbar wird, welchen Beitrag – trotz aller Unkenrufe – die USA für die NATO und für die Sicherheit Europas immer noch leisten.
({1})
Meine Damen und Herren, dafür können wir dankbar sein.
Meine Redezeit ist abgelaufen. Ich bin dankbar, dass die Linken dieses Thema auf die Tagesordnung gesetzt haben
({2})
und dass ich das alles gerade im Bundestag habe sagen können.
Schönen Abend!
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mein Bericht über die Integration in Deutschland trägt eine klare Botschaft: Wir können Integration. Sie ist eine harte Währung; denn sie hält unsere Gesellschaft zusammen. Heute hat fast jede und jeder Vierte bei uns im Land eine eigene oder eine familiäre Einwanderungsgeschichte. Deutschland ist für die allermeisten genauso Heimat wie für Sie und für mich. Vielfalt ist längst Realität. Sie prägt unser Land seit Jahrhunderten und tut uns gut.
Aber wir wissen auch: Vielfalt kann ganz schön anstrengend sein,
({0})
und Integration ist auch kein Selbstläufer. Vielfalt braucht Gestaltung und Ordnung mit einer selbstbewussten, strategischen und strukturellen Integrationspolitik.
({1})
Mit Blick auf unsere Demografie und Hunderttausende unbesetzte Arbeits- und Ausbildungsplätze ist klar: Wir müssen alle vorhandenen Potenziale im Land konsequent aktivieren und nutzen. Aber wir wissen auch: Ohne die Einwanderung zusätzlicher Fachkräfte werden wir unseren Wohlstand nicht sichern. Ohne ausländische Pflegekräfte wären unsere Eltern oder Großeltern längst nicht so gut versorgt. Auch unser Mittelstand profitiert von Einwanderung. Wie viele Autos wären ohne die Gastarbeiter und ihre Nachkommen erst gar nicht vom Band gerollt? Sie alle tragen zum Erfolg von „made in Germany“ bei, und darauf können wir stolz sein.
({2})
Wir dürfen uns aber auch nichts vormachen. Heute stehen wir mehr denn je mit anderen Industrienationen im Wettbewerb um die besten Köpfe der Welt, den Softwareprogrammierer aus Indien, die Ärztin aus Osteuropa oder den Ingenieur aus Südamerika. Wir müssen uns als attraktives Einwanderungsland positionieren, und dabei dürfen wir die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen. Darum gibt es das Fachkräfteeinwanderungsgesetz, darum das Ziel der Bundesregierung, auch die Integration von Anfang an systematisch zu fordern und zu fördern.
({3})
Dieser Bericht macht Mut. Er zeigt: Integration gelingt, millionenfach, Tag für Tag, oft geräuschlos, aber sicherlich nicht ohne Anstrengung. Heute sind so viele Menschen wie noch nie zuvor in Arbeit. Der Anstieg geht im Übrigen zum größten Teil auf Ausländerinnen und Ausländer zurück. Heute sind auch rund 450 000 Menschen aus den Hauptherkunftsstaaten der Asylbewerber in Arbeit. Das sind viel mehr, als die Experten erwartet haben. Unsere Betriebe können endlich wieder mehr Ausbildungsstellen besetzen. Auch das geht zum großen Teil auf Geflüchtete zurück.
Deutschland hat bei der Aufnahme von Geflüchteten Großartiges geleistet. Hunderttausende Menschen im Hauptamt, Millionen im Ehrenamt haben das ermöglicht. Sie verdienen Anerkennung statt Anfeindung, und ich danke allen Engagierten von Herzen.
({4})
Neben den Erfolgen zeigt der Bericht aber auch: Es bleibt viel zu tun. Noch immer sind Menschen mit Einwanderungsgeschichte häufiger durch Armut gefährdet und seltener erwerbstätig, ganz besonders Frauen. Sie nehmen seltener an Sprachkursen teil, obwohl Frauen in ihrer Familie eine zentrale Rolle haben. Sie begleiten ihre Kinder, sie leben ihnen Werte vor. Darum habe ich die Förderung von Frauen zu einem Schwerpunkt meiner Arbeit gemacht.
({5})
Wir müssen Frauen stark machen, damit sie ihren Weg in unserem Land selbstbestimmt gehen können.
Viel zu tun bleibt auch bei den Kleinsten; denn noch immer bestimmt die soziale Herkunft eines Kindes über den späteren Erfolg in Schule und Beruf, und das darf nicht sein. Herkunft darf kein Schicksal sein. Deshalb brauchen wir bundesweit Sprachstandtests und anschließend Sprachförderung, wenn erforderlich, schon vor der Einschulung, und zwar überall und verpflichtend.
({6})
Vergessen wir auch nicht die EU-Bürger. Sie stellen seit Jahren die größte Einwanderungsgruppe dar. Auch sie brauchen Deutsch- und Integrationskurse. Auch hier dürfen wir keine Potenziale verschenken.
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Ja, der Bericht mahnt, dass wir die Kriminalität von und gegenüber Einwanderern klar benennen und bekämpfen müssen. Wer hier lebt, muss sich an unsere Regeln und unsere Werte halten. Das gilt für alle, ohne Ausnahme. Wir müssen deshalb genauso Rassismus, Diskriminierung, Antisemitismus und Muslimfeindlichkeit konsequent bekämpfen.
({8})
Gerade nach dem Mordanschlag auf eine Synagoge und einen Dönerimbiss in Halle, nach den Schüssen auf das Wahlkreisbüro unseres Kollegen Karamba Diaby sage ich: Jetzt erst recht!
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Bericht ist eine Bestandsaufnahme. Jetzt geht es um die Zukunft. Für mich ist klar: Die 20er-Jahre müssen das Jahrzehnt der Integration sein. Vielfalt ist Realität, Integration ist eine Entscheidung – von denen, die zu uns kommen, und von uns.
({10})
Wir in der Bundesregierung sagen Ja zu dieser Entscheidung, auch mit dem Nationalen Aktionsplan Integration,
({11})
damit unser Land zusammenwächst und zusammenhält.
Herzlichen Dank.
({12})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Gottfried Curio für die AfD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der 12. Bericht zu Migration, Flüchtlingen und Integration ist ein Dokument der Verschleierung und des Sprachmissbrauchs.
({0})
Als Geflüchtete, um deren Integration es gehen soll, werden da auch alle abgelehnten Asylbewerber bezeichnet, Personen, die nie einen Schutzgrund hatten und den Staat lange Zeit um erhebliche Summen betrogen haben,
({1})
die das Land verlassen müssten, statt integriert zu werden, viele Hunderttausende.
Was zudem fehlt, sind wirksame Rezepte gegen das antiintegrative Wirken des Islam in Deutschland.
({2})
Die Aktivität von über 12 000 Salafisten, die integrationsfeindlichen Predigten in den Moscheen, das Mobbing gegen nichtmuslimische Schüler, die religiös begründete Unterdrückung der Frau,
({3})
das streng verfassungsfeindliche Gewaltaufrufpotenzial im Koran – effektive Lösungsvorschläge: überall Fehlanzeige, meine Damen und Herren.
({4})
In den Hauptkompetenzbereichen Spracherwerb und Ausbildung hat die Integration versagt. Die Ergebnisse der Deutschtests haben sich seit 2016 Jahr für Jahr verschlechtert, von 67 Prozent, die bestanden haben, auf 59, zu 52 Prozent. Die Kompetenz Spracherwerb ist im freien Fall. Auf Nachfrage heißt es, das läge doch nur an den Analphabeten. Das mag ja beruhigend sein.
Und die Ausbildung? Über 40 Prozent der Frauen haben keinen berufsqualifizierenden oder auch nur Schulabschluss, bei Türkinnen mit ihren zahlreichen Zwangsverheiratungen sind es noch weit mehr.
({5})
Über 60 Prozent der jungen Männer beginnen erst gar keine Ausbildung. Durch viele Abbrecher bleiben drei Viertel ganz ohne Ausbildung: Lebensstart als Dauerrentner, vielleicht Schwarzarbeit, Kriminalität. Diese Zahlen zeigen nur eines: eine erschreckende Desintegration, und das zu immensen Kosten.
({6})
– Integrationsbericht.
Derartige Migration rettet nicht den Sozialstaat, sie bedroht ihn. Deutschland ist gerade wegen seines großzügigen Sozialsystems und der entsprechend hohen Steuern kein Zielgebiet für Hochqualifizierte und Fachkräfte, sondern vor allem für Unqualifizierte.
({7})
Der Hartz-IV-Regelsatz ist um die Hälfte höher als das Durchschnittseinkommen in Nordafrika und dreimal so hoch wie in Schwarzafrika.
({8})
Aber im Aktionsplan Integration soll jetzt forcierte Zuwanderung mit Maßnahmen im Herkunftsland vorangetrieben werden, die sogenannte Vorintegration. Das sei Neuland und leite einen Paradigmenwechsel ein. In der Tat! Denn ins Deutsche übersetzt heißt das: Wir kriegen jetzt sogar eine Bewerbung Deutschlands als Zielland von Migration mit weltweit verteiltem Werbematerial, wie toll es hier ist, wie weit die Herzen und die Türen offen stehen und – so dürfen wir ergänzen – das Portemonnaie.
({9})
Aber all das läuft ja längst. Was dort ankommt, ist: Auf nach Germany, Vollversorgung vom ersten Tag an, sofort Bargeld, bald Hartz IV, Bleibeperspektive: ewig. – Das ist der Untergang unserer Sozialsysteme, unserer Bildung, unserer Kultur – jetzt also als Aktionsplan.
({10})
Die Integration von Millionen kulturfremder Ausländer kostet aber schon jetzt Milliarden pro Jahr und überfordert die Gesellschaft. Mit der stetig wachsenden Zahl von Migranten werden die Parallelgesellschaften immer größer und als Rückzugsräume immer komfortabler. Die Integrationsbereitschaft nimmt dementsprechend stetig ab. Zudem ist die Zahl der Migrantenkinder unter fünf Jahren doppelt so hoch wie bei den Einheimischen – eine demografische Zeitbombe.
({11})
Nur eines scheint bestens zu klappen: die Integration in die sozialen Sicherungssysteme.
({12})
Alle wissen es: Ständig weiterer Zustrom und Integration schließen einander aus. Warum wird beides trotzdem weiter betrieben,
({13})
trotz verfassungswidriger Korantexte, trotz Hunderttausender Migrantenstraftaten, trotz Bildungskatastrophe und Justiznotstand, Kosten von jährlich 5 Milliarden und Leistungsverfall? Diese Regierung macht Politik gegen das eigene Volk, aber immer gern für die ganze Welt. Armes Deutschland!
({14})
Unser Land hat eine Alternative verdient: eine Alternative für Deutschland.
Danke sehr.
({15})
Das Wort hat der Kollege Dr. Lars Castellucci für die SPD-Fraktion.
({0})
Herzlichen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will zunächst danken für die Vorlage dieses Berichtes und auch Ihnen, Frau Staatsministerin Widmann-Mauz, ganz herzlich. Nach meinem Eindruck haben Sie sich mit Offenheit, Neugier und viel Fleiß an die Arbeit gemacht. Ich möchte Ihnen im Namen der SPD-Fraktion für die gute Zusammenarbeit danken.
({0})
In meiner Heimatstadt, meine sehr verehrten Damen und Herren, befindet sich eine große psychiatrische Klinik.
({1})
– Sie verhöhnen jetzt gerade. Jetzt hören Sie mal weiter zu, dann könnten Sie was lernen.
({2})
Es gibt dort ein Mahnmal zur Erinnerung daran, dass Patienten während der Nazizeit als „nicht lebenswert“ misshandelt und getötet wurden. Es ist eine Skulptur, die einen Kreis darstellt. Doch diesem Kreis fehlt ein Teil; er ist herausgebrochen und liegt abseits. Das, meine Damen und Herren, ist das entsetzliche Gegenteil von Integration. Und nach der Rede von Herrn Curio lohnt es sich, zu fragen, wie es dazu kommen konnte.
({3})
Denn wo beginnt es? Es beginnt damit, dass Menschen und Gruppen abgewertet werden. Es beginnt damit, dass man diskriminiert. Es beginnt damit, dass man diffamiert, um damit selber politisches Kapital zu gewinnen.
({4})
Es beginnt damit, dass Sündenböcke gesucht werden. Es beginnt damit, dass man den Schwachen vormacht, es könnte eine Lösung für sie sein, wenn man auf noch Schwächere eintritt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Gegenteil ist richtig; jede Sportmannschaft weiß es: Zusammenhalt macht stärker. Und diese Botschaft wird am Ende auch stärker sein als Ihr Hass.
({5})
Integration, liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist, wenn wir ganz sind, wenn alle dazugehören,
({6})
wie wenn wir in einem großen Kreis zusammenstehen. Wenn ich in einen katholischen Kindergarten gehe und die Erzieherin sagt: „Hier kommt es nicht darauf an, ob jemand katholisch ist oder evangelisch oder muslimisch oder sonst etwas“, und wenn sie sagt: „Hier sind alle Kinder“: Das ist Integration.
({7})
Integration ist, wenn es Regeln gibt und wenn diese Regeln schlicht für alle gelten und wenn wir das nicht immer nur betonen, wenn es um Ausländerinnen und Ausländer geht.
({8})
Genauso ist es bei dem Motto, das über dem Integrationsbericht steht: Fördern und fordern. Ja, das ist ein gutes Motto, aber es ist kein Motto, das wir auspacken sollten, wenn es um Menschen mit Migrationshintergrund geht oder wenn jemand arbeitslos geworden ist, sondern es ist ein gutes Motto. Rechte und Pflichten für alle Menschen in diesem Land: Das ist Integration.
({9})
Integration heißt auch – darüber haben wir zuletzt heute Morgen in der Arbeitsgruppe der SPD-Bundestagsfraktion gesprochen –, dass Menschen, die dieses Land Schulter an Schulter mit ihren deutschen Kollegen aufgebaut haben, die volle Anerkennung, die volle Teilhabe verdienen, unabhängig davon, wo ihre Wurzeln sind, und dass sie diese Wurzeln auch nicht verleugnen müssen. Deshalb setzen wir uns über das hinaus, was in diesem Bericht steht, auch weiterhin für die generelle Hinnahme der doppelten Staatsbürgerschaft ein.
({10})
Integration ist natürlich auch manchmal anstrengend, wenn sich viel verändert, wenn einem etwas fremd ist. Das kann so sein; aber das muss nicht so bleiben. Eine Frau sagte mir auf einem Marktplatz: Ich fühle mich fremd im eigenen Land.
({11})
Das zeigt mir: Es geht um Arbeit, Bildung, Sprache; aber vor allem geht es darum, dass wir in Begegnungen investieren müssen, in ein gutes Zusammenleben, dass Beziehungen wachsen müssen; denn Menschen sind sich so lange fremd, bis sie sich kennenlernen. Bei diesem Kennenlernen müssen wir die Menschen in diesem Land viel mehr unterstützen, als wir das bisher getan haben.
({12})
Integration bedeutet: gutes Zusammenleben. Das gelingt schon jeden Tag. Es kann jeden Tag noch besser gelingen. Dann gibt es auch wieder Rückschläge, die gehören dazu; dann fängt man wieder von vorne an. Aber zusammen können wir immer mehr erreichen, wenn wir alle von Neuem immer wieder daran arbeiten.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort hat der Kollege Konstantin Kuhle für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir sprechen über den 12. Integrationsbericht der Bundesregierung. Dazu will ich drei Anmerkungen machen.
Erstens ist es genau richtig, dass wir hier im Deutschen Bundestag über Menschen mit Migrationshintergrund sprechen, ohne dass es in erster Linie um Migration und Sicherheit geht. Vielmehr geht es hier einmal um Sprache, um Arbeit, um sozialen Aufstieg, um diese Themen. Ich will das gerade mit Blick auf die Rede von Herrn Curio sagen: Lieber Herr Curio, die Mehrzahl der Muslime, die heute in Deutschland leben, sind in Deutschland geboren. Die große Zahl der Muslime, die heute in Deutschland leben, hat den deutschen Pass. Wissen Sie, was das Hauptproblem der hart arbeitenden muslimischen Arbeitnehmer und Selbstständigen in Deutschland ist? Dass sie mit ihren Steuern Ihren Faschismus und Rassismus finanzieren müssen, den Sie hier im Deutschen Bundestag ausleben.
({0})
Das ist das größte Problem dieser Menschen. Und ich bin stolz darauf, dass viele Menschen mit Migrationshintergrund ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen,
({1})
als Selbstständige tätig sind, als Arbeitnehmer tätig sind. Diese Menschen sind Teil unserer gesellschaftlichen Realität. Das lassen sie sich auch nicht durch solche Hetzreden hier kaputtmachen.
({2})
Zweitens müssen wir, meine Damen und Herren, darüber sprechen, dass die Bundesrepublik Deutschland einen ganz wesentlichen Teil der Integrationsarbeit noch vor sich hat. Ja, es ist richtig, dass hier über die Integrationsmaßnahmen gesprochen worden ist, die sich an diejenigen richten, die schon nach Deutschland gekommen sind. Aber wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass seit 2015 eine Riesengruppe nach Deutschland eingewandert ist, bei der wir den Großteil der Integration noch vor uns haben.
Liebe Frau Widmann-Mauz, es ist richtig, dass Sie hier über Arbeit sprechen; es ist richtig, dass Sie über Sprache sprechen; es ist richtig, dass Sie über sozialen Aufstieg sprechen. Mir kommt aber ein Thema viel zu kurz: Das ist das Thema Stadtplanung. Das Thema Stadtplanung spielte nämlich weder in Ihrer Rede noch im Integrationsbericht der Bundesregierung irgendeine Rolle. Da müssen wir dringend ran. Denn, meine Damen und Herren, wenn Kommunen wie Salzgitter in Niedersachsen heute schon über alle Maßen verschuldet sind, wenn dort heute schon mehr Menschen mit Migrationshintergrund leben als anderswo, wenn da heute schon ein Strukturwandel am Arbeitsmarkt stattfindet, dann ist die Perspektive zur Integration in solchen Kommunen schwerer. Dann ist auch die Verhinderung von Kriminalität schwerer. Deswegen ist Stadtplanung ein ganz wichtiger Teil von Integrationspolitik. Wir dürfen solche Kommunen wie Salzgitter nicht alleine lassen, meine Damen und Herren.
({3})
Ich will einen dritten Punkt ansprechen; er ist hier schon genannt worden. Das ist die Tatsache, dass der Großteil der Menschen, also die überwiegende Zahl, aus EU-Mitgliedstaaten nach Deutschland eingewandert ist. Das sind Menschen, die im Rahmen der Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Deutschland kommen. Wir werden mit dem Fachkräftezuwanderungsgesetz, das im Laufe dieses Jahres in Kraft tritt, noch weitere Menschen haben, die als qualifizierte Fachkräfte nach Deutschland kommen. Nur muss unsere staatliche Struktur auf diese Menschen vorbereitet sein. Deswegen brauchen wir dringend flächendeckend englischsprachige Ausländerbehörden. Wir brauchen Englisch als Verwaltungssprache,
({4})
damit unsere Verwaltung auch in der Lage ist, darauf zu reagieren, dass Menschen hier schnell aufsteigen wollen und als Teil dieser Gesellschaft tätig sein wollen.
({5})
Ich glaube, da ist gerade im Bereich Verwaltung, gerade im Bereich Stadtplanung noch eine Menge zu tun. Aber wir sind auf einem guten Weg.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
({6})
Bevor wir in der Debatte fortfahren, kündige ich hier erstens an, dass ich die Zwischenrufe, welche während des Redebeitrages des Kollegen Dr. Lars Castellucci hier gefallen sind, anhand des Protokolls, sobald ich es vorliegen habe, prüfen werde. Ich behalte mir ausdrücklich vor, nachträglich entsprechende Ordnungsmaßnahmen zu treffen.
({0})
Zweitens. Ich weise hier zurück, dass ein Ministerpräsident mit dem Attribut „faschistisch“ belegt wird
({1})
in einem Zwischenruf durch Herrn Brandner. Ein Ministerpräsident, ganz egal, welcher parteipolitischen Gruppierung er angehört,
({2})
ist Bestandteil eines Verfassungsorgans und ist nicht mit solchen Attributen zu belegen.
({3})
– So, das weise ich jetzt zurück. Sie wissen, wo Kritik an der Sitzungsführung zu üben ist; jedenfalls nicht hier in der Sitzung. Insofern erteile ich Ihnen einen Ordnungsruf.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Gökay Akbulut für die Fraktion Die Linke.
({5})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielen Dank, Frau Widmann-Mauz, für die Vorstellung des 12. Migrationsberichts. Zunächst muss ich aber bemerken: Es ist absolut heuchlerisch, wie die Bundesregierung die sinkenden Asylzahlen feiert, während gleichzeitig das Elend an den europäischen Grenzen tagtäglich zunimmt. Daran ist die tödliche Abschottungspolitik der Europäischen Union und auch der Bundesregierung schuld.
Im Vorwort Ihres Berichtes schreiben Sie, dass es längst überfällig war, sich als Einwanderungsland zu bekennen. Ja, Deutschland ist ein Einwanderungsland – nach 40 Jahren. Guten Morgen!
({0})
Die derzeitigen Gesetze erschweren jedoch Einwanderung. Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz beispielsweise wird seinem Anspruch nicht gerecht.
({1})
Es werden bei Weitem nicht so viele Menschen aus Drittstaaten einwandern können. Insbesondere die Verfahren zur Anerkennung ausländischer Qualifikationen verhindern Einwanderung.
Es ist an der Zeit, dass die Rosinenpickerei der Staaten um Fachkräfte aufhört. Menschen werden so oder so migrieren.
({2})
Wichtig ist, dass es funktionierende und diskriminierungsfreie Möglichkeiten gibt, nach Deutschland einzuwandern.
({3})
Auf der Suche nach Wohnungen, nach Arbeits- und Ausbildungsplätzen ist Diskriminierung bittere Realität für viele Menschen mit Migrationshintergrund in unserer Gesellschaft. So geht Integration nicht.
({4})
Als Abgeordnete wurde ich von einem jungen Mann aus Großbritannien gefragt, welche Möglichkeiten der Einwanderung hier bestehen. Aufgrund der hohen bürokratischen Hürden, aber auch aufgrund des gesellschaftlichen Klimas hat sich diese Person jetzt für Kanada entschieden, und dies ist kein Einzelfall.
({5})
Es ist richtig, dass Sie in Ihrem Bericht, Frau Mauz, davon sprechen, dass Rassismus auf allen Ebenen bekämpft werden sollte und dass es wichtig ist, Haltung zu zeigen und deutlich zu machen, dass rassistische Einstellungen in unserer Gesellschaft keinen Platz haben.
({6})
Es reicht jedoch nicht, dass Sie sich als Beauftragte nur dafür einsetzen; es reicht auch nicht, nur rechtliche Verschärfungen vorzunehmen, worüber jetzt bei Initiativen wie dem Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität diskutiert wird. Wir brauchen Beamtinnen und Beamte, die sensibel für dieses Thema sind, die Rassismus überhaupt erkennen und einordnen können. Dass es hier große Probleme gibt, zeigt beispielsweise die aktuelle Studie der hessischen Polizei, nach der 27,6 Prozent der Beamten glauben, dass die Gefahr besteht, dass Deutschland ein islamisches Land wird. Das hat aber mit der Realität nichts zu tun,
({7})
sondern ist das Ergebnis der rechten Hetze dieses rechten Vereins. Der Anteil von Muslimen liegt gerade einmal bei 4 Prozent, und sie sind tagtäglich massiv Rassismus ausgesetzt.
Daher fordern wir eine große Offensive,
({8})
einen Aktionsplan gegen Rassismus auf allen Ebenen in unserer Gesellschaft. Nicht Integration oder Migration sind das Problem und die zentrale Herausforderung unserer Gesellschaft, sondern Rassismus.
Vielen Dank.
({9})
Für das Protokoll reiche ich jetzt noch nach: Den Ordnungsruf habe ich dem Abgeordneten Braun erteilt wegen der nicht zulässigen Kritik an der Sitzungsführung in der laufenden Sitzung. Das ist im Ältestenrat zu verhandeln. Das unterscheidet sich von meiner Bemerkung zur Titulierung eines Ministerpräsidenten durch Herrn Brandner. Das habe ich hier zwar kritisiert, aber dafür keinen Ordnungsruf erteilt.
({0})
– Wenn Sie darum bitten, dann tue ich das in anderer Weise; aber das mit dem „schade“ können Sie sich an dieser Stelle bitte auch einfach streichen.
({1})
Nun fahren wir in der Debatte fort. Das Wort hat die Kollegin Filiz Polat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({2})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Staatsministerin Widmann-Mauz! Ihre Botschaft im 12. Migrationsbericht lautet: Deutschland kann Integration.
({0})
Und recht hat die Kollegin Ministerin Widmann-Mauz: Deutschland ja, aber, liebe Kolleginnen und Kollegen der Großen Koalition, diese Bundesregierung und vor allem Ihr Integrationsminister Horst Seehofer definitiv nicht.
({1})
Ihr Anspruch, Frau Widmann-Mauz, und die regierungspolitische Agenda klaffen weit auseinander; das ist Tatsache. Sie fordern eine Integrationsoffensive – sehr gut! Aber das Bundesinnenministerium betreibt eine systematische Integrationsverhinderungspolitik. Einige Beispiele: Menschen werden in AnkER-Zentren bis zu zwei Jahre isoliert, Kinder und Jugendliche dürfen dort keine Regelschule besuchen, Arbeitsverbote sind die Realität Tausender Geflüchteter, und es gibt lange Wartezeiten, insbesondere für Frauen, auf einen BAMF-Integrationskurs. Das ist die Realität in Deutschland.
Dennoch sind die Entwicklungen trotz dieser Verschärfungen positiv. Aber das verdanken wir den Eingewanderten selbst, den Engagierten in der Wohlfahrt und in Flüchtlingsinitiativen und den engagierten Unternehmen, aber sicherlich nicht Horst Seehofer und dieser Bundesregierung.
({2})
Denn wer Migration als „Mutter aller Probleme“ bezeichnet, verhöhnt die Leistung der Einwanderungsgesellschaft, statt sie zu einen.
({3})
Ja, Frau Staatsministerin Widmann-Mauz, Sie schreiben – und Sie haben es hier heute wiederholt – in Ihrer Pressemitteilung: „Vielfalt ist Realität … Sie ist eine Chance, aber auch anstrengend.“ Ich kann noch einmal sagen: Nicht Vielfalt ist anstrengend, meine Damen und Herren, sondern Horst Seehofer und die WerteUnion.
({4})
Die Obergrenzen- und die Abschottungsrhetorik ist der Gestaltung eines Einwanderungslandes wie Deutschland nicht würdig und gehört auch nicht ins 21. Jahrhundert.
({5})
Diese Bundesregierung lässt sich von den ewig Rückwärtsgewandten die Agenda diktieren. Meine Damen und Herren, das bringt uns nicht voran. Auf der Regierungsbank sagt die eine hü und der andere hott. Das steht nicht nur symptomatisch für diese Bundesregierung; das spiegelt auch den aktuellen Zustand und den Richtungsstreit in der Union wider. Denn, meine Damen und Herren, Vielfalt ist nicht nur Realität in Deutschland, sondern sie ist auch unsere Stärke und eine riesengroße Chance.
({6})
Und diese Chance werden wir nur nutzen können, wenn wir das Versprechen einer pluralen Demokratie wirklich einlösen.
({7})
Wer in einer Gesellschaft leben will, in der Rassismus keinen Platz hat, muss die aktive Zivilgesellschaft nicht nur in den Diskurs einbeziehen, Frau Staatsministerin, sondern auch ihre Expertise ernst nehmen. Viele Forderungen der Selbstorganisation werden schon seit Jahren fast mantraartig wiederholt, ohne von der Bundesregierung mit dem angemessenen Respekt bearbeitet zu werden.
Ich komme zum letzten Satz. – Gerade die Tatsache, dass nicht ein Cent in den Haushalt eingestellt wurde, um die Ziele des Nationalen Aktionsplans Integration voranzutreiben, legt offen, dass die Bekenntnisse der Bundesregierung zu gesellschaftlicher Vielfalt nur Worthülsen sind. Packen Sie es endlich an, meine Damen und Herren!
({8})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun die Kollegin Nina Warken das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Regelmäßig wird dieses Haus von der Bundesregierung in Form von Berichten informiert. Die seitenschweren Dokumente verschwinden dann nach der Debatte häufig in der Schublade und werden hier und da wieder herausgeholt, wenn Belege, Quellen oder Zitate gesucht werden.
Mit dem 12. Bericht der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung verhält es sich aber anders. Denn dieser Bericht liefert nicht einfach nur Zahlen und Daten; er sagt vielmehr etwas sehr Grundsätzliches über die Beschaffenheit unseres Landes und über unsere Gesellschaft aus. Der Bericht nimmt die Jahre 2016 bis 2019 in den Blick, also jene Jahre, in denen der hohe Zustrom von Flüchtlingen und Asylsuchenden unser Land auf eine harte Probe gestellt hat, und ebenjene Jahre, in denen wir zugleich bewiesen haben, dass Deutschland diese enorme Herausforderung unterm Strich gut gemeistert hat.
Der Bericht attestiert uns – so heißt es auch in der Überschrift –, dass Deutschland Integration kann. Insofern ist dieser Bericht nicht einfach nur ein Bericht unter vielen, sondern hinter den knapp 400 Seiten steht eine wichtige Botschaft: Deutschland besitzt – anders als viele andere, auch europäische Staaten – die Fähigkeit, Zuwanderer zu integrieren. Darauf können und sollten wir zu Recht stolz sein.
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Meine Damen und Herren, wir haben in unserem Land eine starke Zivilgesellschaft mit Millionen von Menschen, die sich ehrenamtlich engagieren. Wir haben couragierte Amtsträgerinnen und Amtsträger auf kommunaler Ebene. Wir haben engagierte Unternehmerinnen und Unternehmer, eine funktionierende Verwaltung, Verbände, Kirchen usw. Sie alle haben sich während dieser anstrengenden Zeit dafür eingesetzt, dass der Zusammenhalt in unserem Land erhalten bleibt.
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Ja, meine Damen und Herren, Deutschland kann das. Aber – auch das will ich ganz deutlich sagen – nur weil man etwas kann, entsteht nicht automatisch eine Verpflichtung, Tür und Tor zu öffnen.
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Wir müssen uns ganz genau anschauen, wer zu uns kommt. Viel zu oft werden Zuwanderer generell in einen Topf geworfen. Da wird nicht unterschieden, ob jemand über die Freizügigkeitsregelung aus einem anderen EU-Staat zu uns kommt, ob jemand aus berechtigten Gründen einen Asylantrag gestellt hat, ob jemand aus einem Bürgerkriegsland geflüchtet ist, ob jemand aus einem Drittstaat im Rahmen der legalen Erwerbsmigration in unser Land gekommen oder illegal eingereist ist.
Die öffentliche Debatte – sie wird bei diesem Thema auch fünf Jahre später noch emotional geführt – nimmt diese Differenzierung vielfach nicht vor. Das wird jeder bestätigen können, der in seinem Wahlkreis Diskussionen mit Bürgerinnen und Bürgern über dieses Thema führt. Diese Stimmen gibt es, und wir tun gut daran, die Sorgen und Befürchtungen unserer Bürgerinnen und Bürger ernst zu nehmen.
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Sehr geehrte Damen und Herren, zur Wahrheit gehört selbstverständlich auch, dass es bei der Integration noch Luft nach oben gibt. Auch der Bericht deckt Schwachstellen auf: bei den Sprachkenntnissen von Grundschulkindern mit Migrationshintergrund, bei den Bildungserfolgen, bei der Bestehensquote bei Integrationskursen, bei dem vergleichsweise geringen Anteil zugewanderter Frauen in Arbeit und Beschäftigung, um nur einige Beispiele zu nennen.
Zwar ist es gelungen, mehr Schutzsuchende als erwartet in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung oder Ausbildung zu führen; mehrheitlich gehen diese aber einer geringqualifizierten Beschäftigung nach. Da muss man auch ehrlich einräumen: Eine angemessene Altersversorgung ist damit kaum zu erreichen. – Ziel muss es daher sein, diese Menschen in qualifizierte Beschäftigung zu bringen, zum Beispiel mithilfe des Qualifizierungschancengesetzes.
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Beim Fachkräfteeinwanderungsgesetz haben wir daher nicht ohne Grund die Hürden hochgesetzt. Hier geht es um gezielte Anwerbung von Drittstaatsangehörigen mit qualifizierter Berufsausbildung.
Meine Damen und Herren, im Sinne des Förderns und Forderns dürfen also unsere Bemühungen nicht abreißen. Dazu zählt auch, die Frage der Integration in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Ganz dringend benötigen wir einen echten Fortschritt bei der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems. Und wir müssen dafür sorgen, diejenigen, die keine Bleibeperspektive haben, noch konsequenter zurückzuführen. Nur so wird ein Schuh daraus, nur so können wir als Staat unsere Glaubwürdigkeit erhalten und auf die Akzeptanz unserer Bürgerinnen und Bürger bei der Integration hoffen.
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Abschließend, meine Damen und Herren, möchte ich ganz herzlich Staatsministerin Annette Widmann-Mauz, Bundesinnenminister Horst Seehofer und den dazugehörigen Häusern, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, für ihre gute und nicht immer einfache Arbeit danken, ebenfalls den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Behörden, die tagtäglich einen guten Job für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft machen.
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Vielen Dank.
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Letzter Redner in dieser Debatte ist Dr. Karamba Diaby für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ein Klassiker der amerikanischen Migrationsgeschichte aus dem Jahre 1951 beginnt so:
Ursprünglich hatte ich vor, eine Geschichte der Einwanderung in die USA zu schreiben. Dann stellte ich fest, dass die Einwanderer die amerikanische Geschichte waren.
Meine Damen und Herren, das gilt auch für einen Teil der deutschen Geschichte. Ein Teil der Geschichte sind die Einwanderer, die zum Beispiel als Gastarbeiter, als Vertragsarbeitnehmer, als Geflüchtete und Studierende damals wie heute in dieses Land gekommen sind und zum Wohlstand dieses Landes beigetragen haben.
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Alle eint die Hoffnung auf eine bessere Zukunft für sich und ihre Familien. Deutschland hat in vielen Fällen diese Hoffnung erfüllt. Zum Beispiel hat jeder zweite Geflüchtete spätestens fünf Jahre nach seiner Ankunft in Deutschland einen Arbeitsplatz.
Der Bericht zeigt aber auch, dass wir noch einen langen Weg vor uns haben; das wurde von den Vorrednern bereits gesagt. Mit 27 Prozent ist das Armutsrisiko bei Menschen mit Migrationshintergrund mehr als doppelt so hoch wie bei Menschen ohne Migrationshintergrund. Das hat viele Gründe. Ein Grund sind der erschwerte Zugang zum Arbeitsmarkt und die fortlaufende Diskriminierung, die immer wieder in Studien festgestellt wird. Ich sage ganz deutlich: Kein Land auf der Welt kann es sich leisten, eine Gruppe von Menschen auf Dauer auszugrenzen.
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Trotz vieler Anstrengungen in Bildungspraxis und ‑politik besteht der enge Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg in Deutschland fort. Das darf 2020 nicht mehr sein.
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Liebe Damen und Herren, der Bericht zeigt auch, dass die Zahl der Geflüchteten zurückgeht. Ehrlich gesagt kann ich mich nicht darüber freuen, wenn gleichzeitig Hunderte und Tausende von Menschen im Mittelmeer ertrinken.
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Mich erfüllt das nicht mit Freude, sondern mit tiefer Scham. Wir brauchen eine neue europäische Asylpolitik und eine bessere Verteilung der Geflüchteten im Geiste der Solidarität.
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Wir wollen eine sachliche und fundierte Debatte zur Einwanderung und Integration führen. Dafür brauchen wir Fakten und keine Stimmungen.
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Dieser Bericht trägt dazu bei, dass wir ausgehend von Fakten Politik machen können. Gehen wir es also an.
Danke schön.
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Ich schließe die Aussprache.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt keinen besseren Zeitpunkt, über die Stärkung der Friedensforschung zu sprechen, als heute. Die Debatte ist so notwendig wie lange nicht mehr.
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Die Grundsätze des Multilateralismus sind von Nationalisten und Politkraftprotzen wie Trump, Putin und Bolsonaro weltweit infrage gestellt.
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Die Klimakrise zerstört vielerorts Lebensgrundlagen und Heimat und heizt damit bewaffnete Konflikte an. Autonome Waffensysteme ermöglichen eine Kriegsführung, die sich immer mehr der menschlichen Kontrolle entzieht.
In solchen Zeiten braucht deutsche Außenpolitik einen klaren Kompass: wertegeleitet und wissenschaftsgeleitet. Darum sagen wir Grünen im Bundestag: Stärken wir die Friedensforschung und hören wir stärker auf ihre Erkenntnisse!
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Der Wissenschaftsrat hat umfassende Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Friedens- und Konfliktforschung vorgelegt. Hierzulande wird Forschung für den Frieden auf Spitzenniveau betrieben. Der Wissenschaftsrat macht aber auch klar:
Erstens. Politisch müssen bessere Rahmenbedingungen für Forschung in diesem Feld gesetzt werden. Dafür sind wesentlich wir auf Bundesebene zuständig; denn wir prägen ja auch die Grundsätze der Außen-, Verteidigungs- und Entwicklungspolitik.
Zweitens. Der Austausch von Wissenschaft und Politik muss dringend enger werden. Nicht nur Kabinettsmitglied Karliczek, auch Maas, Müller und Kramp-Karrenbauer sollten das Werk des Wissenschaftsrates studieren. Machen Sie die Türen für Impulse aus der Friedensforschung weiter auf!
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Was tut aus unserer Sicht dringend not? Wir wollen Forschung zu Folgen der Klimakrise für gewaltsame Konflikte stärken. Die Erdüberhitzung muss allein schon aus friedens- und sicherheitspolitischen Gründen begrenzt werden. Und es braucht dringend Frühwarnsysteme, um Menschen zu helfen, bevor es zu spät ist.
Friedensforschung hilft, Konflikte beizulegen, bevor Gewalt ausbricht. Die Erforschung von Konfliktursachen ist essenziell für die zivile Krisenprävention, die uns so wichtig ist. Nur wenn wir Gesellschaften und Konflikte verstehen, können wir anderswo Rechtsstaatlichkeit und Entwicklung fördern.
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Wir müssen neben Gesellschaftswissenschaften auch die naturwissenschaftliche und technische Friedensforschung stärken. Wir haben es mit neuen Waffensystemen zu tun. Zugleich bleiben Atom- und Chemiewaffen ganz große Gefahren. Für effektive Kontrolle und Abrüstung brauchen wir die richtige Expertise in unseren Forschungseinrichtungen.
Wir wollen Forschung zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, Extremismus und Deradikalisierung ausbauen. Konfliktforscher warnen seit Jahren vor Gefahren durch rechtsextreme Netzwerke. Unsere Behörden müssen diese wissenschaftlichen Warnungen dringend ernster nehmen.
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Wir wollen auch die europäische und internationale Vernetzung der Friedensforschung voranbringen. Wenn man diese globalen Probleme lösen will, dann müssen das die klügsten Köpfe gemeinsam bewältigen.
Und wir wollen Europa in seiner Rolle als Friedensmacht auch in der Forschung stärken. Einen EU-Fonds für Verteidigungsforschung gibt es bereits; für die Friedensforschung wäre das umso wichtiger. Das wäre ein starkes Signal, das die Bundesregierung in Brüssel setzen muss, gern auch zu Zeiten der eigenen, deutschen EU-Ratspräsidentschaft. Das wäre ein wichtiges Projekt.
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Ergebnisse der Friedens- und Konfliktforschung rütteln regelmäßig auf. Wissenschaft kann politische Entscheidungen natürlich nicht ersetzen, aber sie ist ein ganz, ganz wichtiger Kompass in diesen unruhigen Zeiten. Nehmen wir darum die Empfehlungen des Wissenschaftsrates ernst und – mindestens genauso wichtig – hören wir stärker auf Friedensforscherinnen und Friedensforscher! Damit ließen sich Zerstörungswirkungen von Konflikten und menschliches Leid sicher verringern.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Michael Meister.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir leben in einer Zeit schwindender Gewissheiten, in einer Zeit, in der die Unübersichtlichkeit zunimmt. Konfliktlinien, die wir in der Vergangenheit gewohnt waren, verschieben sich, sie verwischen. Es kommen auch neue Konfliktlinien hinzu. Das gilt sowohl international als auch in unserer Gesellschaft.
Es wäre mit Sicherheit ein Leichtes, vor diesen Konflikten zu kapitulieren. Aber ich glaube, Politik hat den Auftrag, dafür zu sorgen, dass wir nicht kapitulieren; wir haben vielmehr den Anspruch, zu gestalten. Das heißt im Klartext, dass wir versuchen, Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, wie wir mit Konflikten umgehen können, um sie geordnet auszutragen.
Die Bundesregierung hat die Absicht, diese Herausforderungen offensiv anzunehmen. Wir wollen dazu beitragen, dass wir Konflikte besser verstehen. Dazu sind wir auf die Unterstützung der Wissenschaft angewiesen. Und dort, wo Gewissheiten schwinden, sind wir auf neues Wissen angewiesen.
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Zum Ersten. Wir haben, Herr Kollege Gehring, in Deutschland – und da sind wir uns einig – eine exzellente Friedens- und Konfliktforschung.
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Es ist ein Glücksfall für den Standort Deutschland, dass wir sie haben.
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Dies hat uns auch der Wissenschaftsrat im Rahmen seiner Evaluierung bestätigt. Deshalb kann man zunächst einmal mit dem Ergebnis der Evaluierung sehr zufrieden sein.
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– Ich weiß nicht, ob Sie die Evaluierung gelesen haben.
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Das wäre vielleicht hilfreich.
Zum Zweiten. Neben der positiven Bewertung der seitherigen Arbeit werden allerdings auch Empfehlungen ausgesprochen. Wir sind der Meinung, dass wir diesen Empfehlungen des Wissenschaftsrats entsprechen und sie umsetzen sollten. Es werden zielgenaue Maßnahmen vorgeschlagen, damit die Potenziale der Friedens- und Konfliktforschung noch besser genutzt werden können.
Die Bundesregierung ist dabei, diese Empfehlungen zur Umsetzung zu bringen. So steht zum Beispiel ein Förderprogramm zur Stärkung der Friedens- und Konfliktforschung vor der Veröffentlichung. Es soll die Vernetzung fördern – überregional, aber auch international. Es soll Vernetzung zwischen verschiedenen Wissenschaftsbereichen schaffen: Sozialwissenschaften, Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften. Wir glauben, dass man durch Vernetzung die Strategiefähigkeit dieses Forschungsfelds deutlich steigern kann.
Wir werden in Zukunft Konflikte erleben, die wir heute noch gar nicht absehen können. Deshalb müssen wir das Forschungsfeld so aufstellen, dass es auch mit heute noch nicht absehbaren Konflikten umgehen kann und uns dazu Ergebnisse liefert.
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Wir haben für diese Aufgabe in der Ausschreibung 30 Millionen Euro vorgesehen. Ich glaube, das macht deutlich, dass wir die Aufgabe ernst nehmen.
Man muss aber auch sehen: Es gibt die Deutsche Stiftung Friedensforschung. Diese Stiftung finanziert ihre Arbeit aus dem Stiftungskapital. Als Finanzpolitiker weiß ich, dass es momentan mit den Erträgen aus dem Stiftungskapital etwas schwierig ist.
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Deshalb haben wir uns entschieden, die Deutsche Stiftung Friedensforschung mit Projektfördermitteln aus unserem Haus zu unterstützen, damit die Arbeit der Stiftung uneingeschränkt auch in ertragsschwachen Zeiten weitergeführt werden kann.
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Wir haben mit den Kollegen vom Auswärtigen Amt abgesprochen, dass das Auswärtige Amt in den nächsten vier Jahren Zustiftungen zum Stiftungskapital vornimmt, sodass wir nicht nur keinen Verzehr, sondern einen kontinuierlichen Aufbau des Stiftungskapitals haben. Das zeigt, dass wir die Deutsche Stiftung Friedensforschung zukunftsfähig und nachhaltig aufstellen wollen.
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Ich glaube, wir dürfen den Blick aber nicht nur auf die internationalen Konflikte richten, sondern wir müssen auch die Spannungen in unserer Gesellschaft sehen. Wir müssen schauen, dass wir auch darauf Antworten finden. Deswegen wollen wir das Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt aufbauen. Die Vorbereitungen haben etwa 18 Monate gedauert. Wir stehen kurz vor dem Abschluss. Forschungsthemen des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt sind zum Beispiel Hasskriminalität, die wir leider in unserer Gesellschaft erleben, der Einfluss neuer Medien, oder verschiedene soziale Milieus, die sich verändern. Die Liste ließe sich lange fortsetzen.
Diesen Fragestellungen wollen wir in dem neuen Forschungsinstitut nachgehen. Wir werden versuchen, die Frage zu beantworten: Wie können in einer pluralen Gesellschaft Konflikte produktiv ausgetragen werden, damit sie zu einem positiven Ergebnis für die Gesellschaft führen? Für diese Aufgabe haben wir 40 Millionen Euro vorgesehen.
Wir wollen deshalb, dass es nicht bei den Empfehlungen des Wissenschaftsrats bleibt, sondern tatsächlich an deren Umsetzung arbeiten. Ich hoffe, dass wir damit einen Beitrag leisten können, auf wissenschaftlicher Basis Konflikte in unserer Welt einer Lösung zuzuführen. Und ich hoffe, dass wir auch einen Beitrag leisten, dass die großen Vereinfacher, die es in dieser Welt gibt, nicht das Fundament bekommen, um mit ihren einfachen Thesen in unsere Welt hineinzugehen. Wir als Bundesregierung wollen sowohl die Empfehlungen umsetzen, als auch die Beratungsleistungen, die wir dann aus der Wissenschaft bekommen, in unsere Arbeit mit aufnehmen.
In diesem Sinne wünsche ich mir eine gute Beratung des Antrags.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Michael Espendiller für die AfD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen! Liebe Zuschauer im Saal und bei YouTube! Ich muss sagen: Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass wir eine Woche nach dem Putsch in Thüringen
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heute einen Antrag der Grünen behandeln, der sich mit dem Thema Friedensforschung befasst.
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Denn mal ehrlich, liebe Grüninnen und Grünen: Nichts, was Herr Habeck oder Frau Baerbock in der letzten Woche geäußert haben, hat zu einem friedlichen Miteinander in diesem Land beigetragen. Sie haben ein Demokratieverständnis, das Erich Honecker stolz machen würde.
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Mit Ihrem Antrag hier wollen Sie Ihre grausige Vorstellung davon jetzt auch noch weltweit etablieren. Na dann gute Nacht!
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Zum Antrag: Dem Titel nach kommt das alles mal wieder ganz lieblich daher. Gegen Frieden und Forschung kann man ja eigentlich nichts sagen. Hinter der gutmenschlichen Fassade geht es den Grünen aber mal wieder nur ums Geld. Das liebe Geld soll dieses Mal in die Deutsche Stiftung Friedensforschung – kurz: DSF – fließen. Was nobel und honorig klingt, ist im Grunde nichts anderes als eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für regierungstreue Wissenschaftler.
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Schon bei der von Ihnen allen hier so geschätzten Onlineenzyklopädie Wikipedia steht über die DSF – ich zitiere –:
Kritiker sehen in der DSF einen Versuch der Bundesregierung, die Friedensforschung zu vereinnahmen und zu zähmen, indem gezielt solche Projekte und Wissenschaftler gefördert werden, die die deutsche Außen- und Verteidigungspolitik rechtfertigen statt sie zu kritisieren.
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Liebe Zuschauer bei YouTube, die Bundesregierung hat die DSF im Jahr 2000 gegründet und mit einem Startkapital von damals noch 50 Millionen D-Mark ausgestattet. Seither darf diese Stiftung Projekte in der Friedensforschung auswählen und finanzieren, die sie für irgendwie sinnvoll hält. Über Sinn und Unsinn dieser Projekte kann man genüsslich streiten. Die Friedensforschung ist nämlich eine Disziplin, die sich seit ihrem Bestehen dem Vorwurf mangelnder Wissenschaftlichkeit ausgesetzt sieht, und diesen Vorwurf konnte das Fach auch noch nie widerlegen.
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Zugegeben: Im Programm der DSF gibt es einige durchaus interessante Projekte. Es ist aber immer sichergestellt, dass die Stiftung voll auf Regierungslinie ist – und das Personal sowieso. Politische Meinungen werden hier durch eine vorgetäuschte Wissenschaftlichkeit aufgewertet. Das kann man sich seitens der Regierung dann schon mal etwas kosten lassen.
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So verwundert es dann auch nicht, wenn sich Vertreter der DSF dann auch genau so äußern, wie es in das gewünschte Regierungsframing passt. Der Vorsitzende des Vorstandes der DSF, Professor Dr. Ulrich Schneckener, gab in einem Beitrag im Deutschlandfunk im August 2017 zum Beispiel getreu der Regierungslinie zum Besten, dass die bösen Rechtspopulisten an der Radikalisierung schuld sind.
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Das ist eine sehr einseitige Betrachtungsweise von einem Wissenschaftler.
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Besonders interessant an dieser Äußerung ist: Es ging in diesem Beitrag um die grausamen Terroranschlage in Barcelona, Nizza und Berlin, die vom „Islamischen Staat“ begangen wurden.
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In diesem Zusammenhang indirekt die Schuld auf Rechtspopulisten zu schieben, kann man schon als Glanzstück der Regierungspropaganda bezeichnen.
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Das finden offenbar auch die Grünen gut, die das Stiftungskapital der DSF auf 50 Millionen Euro erhöhen wollen.
Liebe Kollegen, für diese Auftragsarbeiten der Bundesregierung möchten wir kein deutsches Steuergeld mehr ausgeben. Freie Wissenschaft geht anders.
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Wenn Sie das Geld in die MINT-Ausbildung, in die Grundlagenforschung oder in die medizinische Forschung geben wollen, dann sind wir hier gerne dabei. Aber gerade jetzt, wo der Coronavirus zeigt, dass wir großen Bedarf an medizinischer und pharmakologischer Forschung haben, wollen Sie mit diesem Antrag Geld in die – Zitat – „Etablierung einer feministischen Außenpolitik“ und in die „Geschlechterforschung“ stecken. Das ist Irrsinn, und Ihr Mangel in Sachen Prioritätensetzung ist lebensgefährlich.
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Wir sollten lieber Geld in Impfstoffe investieren, als Mittel dafür zu verschwenden, nach einigen Monaten vielleicht zu wissen, welches soziale Geschlecht der Coronavirus hat.
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Wir lehnen diesen Antrag ab.
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Das Wort hat Dr. Karamba Diaby für die SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kriegerische Konflikte treffen Kinder am härtesten. Über 415 Millionen Kinder wachsen derzeit in Konfliktgebieten auf. Alleine 2 Millionen Kinder im Jemen leiden unter Hunger. Für 360 000 der unter Fünfjährigen ist dort der Hunger sogar lebensbedrohlich.
Hinzu kommt, dass Hunderttausende von Kindern in der Welt zum Kampfeinsatz gezwungen werden. Viele von uns haben in dieser Woche im Rahmen der Rote-Hand-Aktion an diese Grausamkeit erinnert.
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In diesem Kontext erhält die Friedens- und Konfliktforschung eine noch höhere Relevanz; denn sie beschäftigt sich mit Fragen wie: Wie entstehen Konflikte? Wie können wir sie lösen? Und wie können wir den Frieden in ehemaligen Konfliktregionen dauerhaft sichern? Die Antworten, die die Friedens- und Konfliktforschung auf diese Fragen gibt, sind nicht nur Prosa, sondern sie sind letztendlich dazu da, Menschenleben zu retten.
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Deshalb bin ich froh darüber, dass der Deutsche Bundestag bereits beschlossen hat, dass das Auswärtige Amt zusätzliche Mittel erhält und diese unter anderem für die Deutsche Stiftung Friedensforschung und das Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg zur Verfügung stellt. Deutschland ist also gut aufgestellt.
Das bestätigt auch der Wissenschaftsrat. Ich zitiere: „Die deutsche Friedens- und Konfliktforschung ist durch eine ausgeprägte Praxisorientierung gekennzeichnet, die sowohl in der Forschung als auch in einem sehr engagiert betriebenen Wissenstransfer … zum Ausdruck kommt.“
Meine Damen und Herren, wenn wir heute über Friedens- und Konfliktforschung sprechen, dann sprechen wir nicht über Theorie, sondern dann schlagen wir die Brücke zur Wirklichkeit. Der Philosoph Karl Popper schrieb einmal: „Die Theorie ist das Netz, das wir auswerfen, um die ‚Weltʼ einzufangen.“ Ich ergänze: Die Theorie ist der Rettungsring, den wir ins Meer der Konflikte werfen, um den Frieden zu sichern.
Deshalb werden wir diesen Forschungszweig weiter fördern. Das ist eine gute Maßnahme.
Danke schön.
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Das Wort hat Dr. Thomas Sattelberger für die FDP-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Espendiller, es ist unsäglich, wie Sie nicht nur Attacken auf die Stiftung fahren,
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sondern auch auf den Wissenschaftsrat,
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der diese Stiftung evaluiert hat, und auf die Wissenschaftsfreiheit und am Schluss noch Ihre billigen Witzchen über ein ernstes Thema reißen. Schämen Sie sich!
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Die Deutsche Stiftung Friedensforschung fördert Erkenntnisse über das friedliche Zusammenleben von Menschen und Gesellschaften – auch in unserem eigenen Lande – und über die Eindämmung von Krieg, Gewalt und Unterdrückung – und dies in Zeiten asymmetrischer Konflikte von ungeahntem Ausmaß. Das ist elementar wichtig in einer Zeit, in der einige nur auf Destruktion und Obstruktion setzen.
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Die Deutsche Stiftung Friedensforschung hätte allerdings zudem auch die Aufgabe des Wissenstransfers in die Öffentlichkeit und in die Politik – nicht zuletzt auch in den Bundestag hinein.
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Der Wissenschaftsrat hat schon einige mahnende Worte an das Ministerium und an die Stiftung gerichtet.
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Ministerin Karliczek fordert ja immer den Transfer. Ich glaube schon, Herr Staatssekretär Meister, dass hier ein bisschen Reparaturbetrieb fällig ist, wenn selbst der Wissenschaftsrat das anmahnt.
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Übrigens: Wir Abgeordnete entscheiden über Auslandseinsätze der Bundeswehr, und auch wir sind dringendst auf den neusten Stand der Forschung angewiesen. Es ist deshalb überfällig – und da begrüßen wir den Antrag der Grünen –, die Deutsche Stiftung Friedensforschung zu stärken. Natürlich schießen Sie wie immer ein bisschen über das Ziel hinaus,
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wenn Sie eine feministische Außenpolitik fordern, aber immerhin nehmen Sie die Empfehlungen des Wissenschaftsrates ernst.
Die Bundesregierung lässt hier dagegen mehr Worte als Taten folgen. Der Parlamentarische Staatssekretär Thomas Rachel hat im Sommer 2019 zugesagt, zu prüfen, ob die finanzielle Ausstattung der Stiftung erhöht werden kann. Bis heute wissen wir nicht, wie weit diese Prüfungen gediehen sind. Aber das ist ja nicht nur in diesem Falle Schneckentempo, sondern das spiegelt ja auch das Schneckentempo in anderen Fällen wider.
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Schade, Herr Staatssekretär, dass Sie nicht die Gelegenheit beim Schopf ergreifen, wenn Ihnen der Wissenschaftsrat gute Ideen auf dem Silbertablett serviert. Wir brauchen jetzt zügig mehr Geld für die Stiftung, besseren Transfer der Forschungsergebnisse und eine regelmäßige externe Evaluierung der Stiftungsarbeit. Ich freue mich auf die weitere Debatte im Ausschuss. Bis dahin kann ich immer wieder nur empfehlen: Ran an den Speck, Herr Meister!
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Das Wort hat die Kollegin Nicole Gohlke für die Fraktion Die Linke.
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Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Die Friedens- und Konfliktforschung leistet eine hervorragende Arbeit; das hat auch der Wissenschaftsrat in seiner Evaluation festgestellt. Die Forscherinnen und Forscher in diesem Bereich verdienen dafür unseren Dank und unsere Anerkennung.
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Vor allem bei der Nachwuchsgewinnung und bei der Finanzierung gibt es aber große Baustellen und dringenden Handlungsbedarf. Das Thema „Friedens- und Konfliktforschung“ wurde hier im Haus zuletzt vor drei Jahren diskutiert. Die damalige Große Koalition hatte einen Antrag vorgelegt, der versprach, die Friedens- und Konfliktforschung zu stärken und zu unterstützen. Nun zeigt aber die Evaluation des Wissenschaftsrates ziemlich deutlich, dass die Regierungen in den vergangenen Jahren die zentralen Probleme im Kern nicht angegangen sind. Dafür wird es jetzt endlich Zeit; da haben die Grünen völlig recht.
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Welche Bedeutung die Regierung und die Regierungsfraktionen der Friedensforschung offenbar beimessen, wird aus meiner Sicht an zwei Zahlen deutlich: Das Kapital der Deutschen Stiftung Friedensforschung ist seit ihrer Gründung, also im Laufe von 20 Jahren, von 25,5 Millionen Euro auf 27 Millionen Euro erhöht worden. Der Etat des Verteidigungsministeriums – ja, das kann ich Ihnen jetzt nicht ersparen – stieg im selben Zeitraum von 24 auf 42 Milliarden Euro jährlich. Kolleginnen und Kollegen, ich finde, das sind wirklich traurige Zahlen in dieser Gegenüberstellung.
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Ich will es noch mal sagen: Die Friedens- und Konfliktforschung liefert wichtige Erkenntnisse und auch Warnungen. Was dort erforscht wird, ist ja nicht nur von akademischem Wert, sondern könnte eben auch ganz unmittelbaren Anwendungsnutzen haben und entfalten. Auch wenn das manche ignorieren wollen oder wenn sie lieber den Kopf in den Sand stecken: Die weltweiten Konfliktursachen haben eben Auswirkungen auf Europa und auch auf Deutschland. Deshalb ist Konfliktprävention so wichtig, und sie geht eben weit über die klassischen Mittel der Außen- und der Entwicklungspolitik hinaus.
Ich sage das mal an die rechte Seite des Hauses gewandt: Gerade wenn Sie sich so vor weltweiter Migration fürchten, dann müssten sie sich um Klimapolitik sorgen
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oder um die Schwächung von Volkswirtschaften durch die gewaltigen Exportüberschüsse der deutschen Industrie oder um faire Handelsabkommen. All das gehört nämlich zum Gesamtbild dazu. Wenigstens so konsistent könnten Sie sein.
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Kolleginnen und Kollegen, die Konfliktforschung braucht das Know-how aus den unterschiedlichsten Bereichen. Dass der Wissenschaftsrat hier Nachwuchsprobleme beklagt, ist alarmierend und hat auch ganz wesentlich mit den Beschäftigungsbedingungen in der Wissenschaft zu tun. An den Hochschulen werden die Sozialwissenschaften und gerade deren kritische Ansätze zusammengekürzt. Studierte mit naturwissenschaftlichen Abschlüssen rechnen sich weit bessere Berufschancen außerhalb des Wissenschaftsbetriebs aus, weil es an den Hochschulen eben nur noch Projektmittel und Kurzzeitverträge gibt.
Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen das glatte Gegenteil. Wir brauchen eine Mittelvergabe im Sinne langfristiger Perspektiven für die Wissenschaft, für die Forscherinnen und Forscher und für die Friedensforschung.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Norbert Altenkamp für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das „Friedensgutachten 2019“ der führenden deutschen Friedensforschungsinstitute warnt davor, dass die bewaffneten Konflikte weltweit zunehmen, vor allem durch Rebellengruppen, Dschihadisten und Drogenkartelle, dass dadurch immer mehr Menschen in die Flucht getrieben werden, dass die Gefahr einer nuklearen Katastrophe wieder steigt und dass die internationalen Verträge und Institutionen, die den Frieden sichern, zunehmend missachtet werden.
Unsere Bundeswehr ist weltweit im Rahmen von UN- und EU-Missionen im Einsatz, um dabei zu helfen, bewaffnete Konflikte einzudämmen, den Wiederaufbau zu fördern und den Frieden dauerhaft zu sichern. Mit unserer Außenpolitik versuchen wir, auf allen diplomatischen Kanälen das Gleiche. Der Erfolg ist zunehmend gefährdet, wie das „Friedensgutachten 2019“ zeigt.
Was können wir tun, um das zu ändern? Wie und wo entstehen überhaupt Konflikte, und wie können wir sie verhindern? Welche Regeln müssen wir beachten, um nach Konflikten wieder eine friedliche Gesellschaft aufzubauen? Die Friedens- und Konfliktforschung versucht, Antworten auf genau diese Fragen zu finden. Sie ist deshalb für uns Politiker zu einem wichtigen Ratgeber geworden. Wir müssen diese Forschung weiter fördern und stärken. Das ist das klare Ziel unserer Fraktion, und das ist das klare Ziel der Bundesregierung; das hat Dr. Meister vorhin erläutert. Insofern ist es ja auch das Ziel des Antrags der Grünen, über den wir heute debattieren. Insofern rennen Sie bei uns keine verschlossenen, sondern offene Türen ein.
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– Auf jeden Fall.
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Wie genau aber können wir die Friedensforschung weiter stärken? Der Wissenschaftsrat gibt uns dazu wichtige Empfehlungen in seiner Evaluation, die von den Koalitionsfraktionen im Bundestag 2016 angeregt wurde. Er sagt zum einen, die Friedens- und Konfliktforschung ist in Deutschland bereits sehr gut aufgestellt, gerade auch in Hessen mit der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt, was mich als Hessen besonders freut. Aber der Wissenschaftsrat sagt auch, welche Punkte wir noch optimieren müssen. Ich möchte hier einige Vorschläge herausgreifen, die ich, ebenso wie die Grünen in ihrem Antrag, für sinnvoll halte:
Der Wissenschaftsrat empfiehlt eine stärkere finanzielle Förderung der Friedensforschung, insbesondere für die Deutsche Stiftung Friedensforschung in der Friedensstadt Osnabrück. Das wird bereits adressiert. Wir haben die Mittel für die Friedens- und Konfliktforschung schon seit einigen Jahren in den Etats von BMBF und Auswärtigem Amt erhöht. Der Substanzverlust des Stiftungskapitals der DSF wird in den nächsten Jahren durch Zustiftung des Auswärtigen Amtes mehr als ausgeglichen. Wenn darüber hinaus weitere Mittel im Rahmen der Projektförderung notwendig sind, damit die DFS ihre wichtige Arbeit dauerhaft und ohne Einschränkungen fortsetzen kann, werden wir das in den nächsten Haushaltsplanberatungen berücksichtigen.
Der Wissenschaftsrat empfiehlt darüber hinaus, die Friedensforschung besser als bisher zu vernetzen, und zwar überregional und interdisziplinär. Ein entsprechendes Förderprogramm des BMBF, in dem auch Fragen des Wissenstransfers und zum Beispiel klimabezogene Konfliktrisiken adressiert werden können, ist nach meiner Kenntnis bereits in Planung. Wir werden uns genau ansehen, ob es den Ansprüchen gerecht wird. In Hessen geht man hier mit gutem Beispiel voran: mit interdisziplinären Studiengängen an vier Universitäten, der engen Zusammenarbeit der Hochschulen mit der HSFK und internationalen Kooperationen.
Nachbesserungsbedarf gibt es laut Wissenschaftsrat allerdings bei der naturwissenschaftlich-technischen Friedens- und Konfliktforschung, zum Beispiel im Bereich Cybersicherheit, und bei interdisziplinären Promotionsstudiengängen. Auch diese Herausforderungen werden wir angehen, und damit werden wir die Friedensforschung weiter stärken.
Eine breitere interdisziplinäre Aufstellung der Friedens- und Konfliktforschung ist laut Wissenschaftsrat auch deshalb erforderlich, um Radikalisierungsprozesse in der Gesellschaft besser zu verstehen und um gegensteuern zu können. Das greift der Grünenantrag zu Recht auf. Aber auch hier sind wir bereits aktiv. Das geplante Forschungsinstitut für gesellschaftlichen Zusammenhalt, das Mitte des Jahres starten soll, ist genau der richtige Ort, um auch Fragen im Hinblick auf Extremismus, Rassismus, Radikalisierung und Deradikalisierung, die uns allen am Herzen liegen, weiter zu bearbeiten. Zudem befasst sich das überregionale BMBF-Projekt „Pandora“ mit diesem Thema.
Sie sehen: Wesentliche Empfehlungen des Wissenschaftsrates, auf die Sie sich auch in Ihrem Antrag beziehen, haben wir bereits aufgegriffen. Ob das ausreicht, die Arbeit der Friedensforschung bedarfsgerecht zu unterstützen, darüber werden wir im Ausschuss noch ausführlich beraten. Nicht zielführend sind aus meiner Sicht dabei Forderungen, die über die Empfehlungen des Wissenschaftsrates hinausgehen und die teilweise nur wenig mit dem Thema Friedensforschung zu tun haben. Ich nenne hier nur die Forderung nach einer feministischen Außenpolitik.
Ich freue mich jedenfalls darauf, dass wir die Friedensforschung gemeinsam noch weiter voranbringen werden. Die leidgeprüften Menschen in den Konfliktregionen haben es verdient, dass wir alle Möglichkeiten ausschöpfen, um den Frieden zu fördern.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist Dr. Daniela De Ridder für die SPD-Fraktion.
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Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste auf den Tribünen! Das war bisher ja nicht so ein amüsanter Abend. Lassen Sie mich das ändern. Immer wenn ich über Friedens- und Konfliktforschung reden darf, insbesondere in diesem Saal, dann macht, lieber Kai Gehring, mein Herz ein Hüpferchen. Das hängt auch damit zusammen, dass ich als ehemaliges Mitglied des Stiftungsrates der Deutschen Stiftung Friedensforschung die Stiftung ausdrücklich loben darf.
Herr Meister hat es schon erwähnt: Wir investieren bis 2020 6 Millionen Euro , damit die tollen Forschungsprojekte auch weitergeführt werden können. Sage und schreibe 15 Millionen Euro konnte die Deutsche Stiftung Friedensforschung im Zeitraum 2001 bis 2013 in exzellente Friedensforschungsprojekte investieren. Ist das nicht toll? Das ist klasse!
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Und nicht nur das: Sie konnte auch in Nachwuchsförderung und Lehre investieren, und – Irrtum, lieber Herr Sattelberger – sie hat sich auch dem Transfer gewidmet. Ich lade Sie herzlich ein: Kommen Sie doch einfach, wenn die Deutsche Stiftung Friedensforschung ihren Parlamentarischen Abend macht; da kann man viel lernen. Ich würde mich freuen, Sie da zu sehen; dann diskutieren wir die Ergebnisse, die dort vorgetragen werden.
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Mehr noch: Dr. Thomas Held, Geschäftsführer der vielgenannten Stiftung, wird jetzt eingeladen, lieber Ottmar von Holtz, so uns das gelingt. Wir wollen ja auch Politikberatung durch die Deutsche Stiftung Friedensforschung animieren. Deshalb ergeht an ihn auf meinen Vorschlag – das haben wir so verabredet – auch eine Einladung in den Unterausschuss Zivile Krisenprävention.
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Auch hier leisten wir Transfer. Das ist eine tolle Sache.
Einen Punkt will ich noch in den Fokus nehmen, weil ich das ganz wichtig finde. Der Antrag der Grünen fordert ja, wenn ich das so grosso modo formulieren kann, eine Erweiterung des Portfolios. Aber die Deutsche Stiftung Friedensforschung macht schon ganz viel. Sie blickt zum Beispiel auch auf die Modernisierung von Kriegsführung, etwa durch neue Waffensysteme, durch Drohnen und Ähnliches. Und sie tut noch weitaus mehr: Sie hat auch die historische Friedensforschung im Blick. Kleiner Wermutstropfen an diesem fröhlichen Ende: Ich fürchte, die Herren von der AfD werden auch daraus nichts lernen. An diesem Transfer könnte man schier verzweifeln.
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Frau Müntefering hat gestern den Bereich Science Diplomacy erwähnt. Ich glaube, liebe Michelle Müntefering, das ist auch etwas, was in dieses Friedensforschungsportfolio hineingehört, genauso wie der letzte Punkt. Da will ich ein bisschen variieren. Die Regierungsparteien bereiten zwar keine feministische Friedensforschung vor, aber, lieber Kai Gehring, in unserem gemeinsamen Antrag zur gleichstellungsorientierten Außenpolitik wird es selbstverständlich auch um Frauen und Männer gehen, die es zu beforschen gilt. Es geht darum, sich anzugucken, wie erfolgreich solche Friedensprozesse sind. Das wird dann auch evaluiert und mit Forschung bedacht.
Ich wünsche allen einen fröhlichen Abend. Friedensforschung macht es möglich, dass wir mit einem guten Gefühl auf die Welt schauen können.
Vielen Dank.
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